Expressive Eleganz: Neuer Essener GMD Netopil dirigiert in Dresden Halévys „Die Jüdin“

Tomás Netopil, der neue Chefdirigent der Essener Philharmoniker. Foto: TUP

Tomás Netopil, der neue Chefdirigent der Essener Philharmoniker. Foto: TUP

Jacques Fromental Halévys große historische Oper „Die Jüdin“ („La Juїve“) ist, was den Dirigenten betrifft, ein echtes „Chefstück“: Wer sich diesem Meilenstein der französischen Oper widmen will, muss einen untrüglichen Sinn für musikalische Kontraste mitbringen.

Halévy setzt das gesamte musikdramatische Arsenal seiner Zeit ein: Pompöse Aufmärsche, von denen Wagner profitierte („Rienzi“). Brillantes Koloraturfeuerwerk und verinnerlichte Lyrismen. Geradliniges Pathos und existenzielle Gebrochenheit. Halévy versteht das Handwerk des Musik-Magiers, kann satztechnisch dicht und mitreißend populistisch schreiben, kann in Melodie schwelgen oder mit exquisiten Harmonien frappieren.

Dresden: Halevys "La Juive": Der Tenor Ragon Gilles in der Rolle des Juden Eléazar. Foto Matthias Creutziger

Dresden: Halevys „La Juive“: Der Tenor Ragon Gilles in der Rolle des Juden Eléazar. Foto Matthias Creutziger

Für Tomáš Netopil war „Die Jüdin“ an der Sächsischen Staatsoper Dresden also keine leichte Fingerübung. Der neue Essener Generalmusikdirektor, der in diesen Wochen in der Philharmonie und am Aalto-Theater durchstartet, hatte im Juni die Premiere geleitet und stand jetzt in der Wiederaufnahme am Pult. Was ihm herzlichen Beifall, aber auch einige deutliche Buhs einbrachte. Netopils Zugang zur Musik des Franzosen jüdischer Herkunft mit familiären Wurzeln in Fürth in Bayern war hörbar nicht unumstritten.

Die Suche nach dem Grund für das Missfallen ist nicht einfach: Denn der Dirigent aus Tschechien hat nichts falsch gemacht. Zügig und elegant führte er die Sächsische Staatskapelle; tadellos signalisierte er Einsätze, trug er die Sänger mit, unterstützte er den prächtigen Chor der Semperoper. Zwischen den groß angelegten Szenen und der von Phrase zu Phrase changierenden Ausdruckswelt der Musik Halévys fand er die richtige Balance: Lektüre der Partitur mit Augenmaß, kein Verzetteln in reizvollen Details, aber auch kein großzügiges Übersehen charakteristischer Momente. Die Bläser des Orchesters klangen so, als fühlten sie sich mit dieser Leitung pudelwohl. Die Streicher zeigten nicht nur ihre gerühmte samtige Dunkelheit, sondern auch lichte Brillanz, geschmeidiges Reagieren auf die Wechsel der „Beleuchtung“ in der Musik.

Netopil ist ja mit 38 Jahren auch kein Newcomer mehr, sondern ein erfahrener Opern-Dirigent. In Prag, seiner bisherigen künstlerischen Heimat, hat er viel Mozart dirigiert: „Don Giovanni“, „Die Entführung aus dem Serail“, aber auch „Idomeneo“ und „La finta giardiniera“ („Die Gärtnerin aus Liebe“). In Dresden gastiert er bereits seit 2008, u. a. mit „Don Giovanni“ und „Le Nozze di Figaro“. Da hat man ihn nur zu gerne für eine neue „Rusalka“ geholt – ihn, der zu Hause nicht nur Janáčeks „Katja Kabanova“ dirigierte, sondern auch die im Westen zu Unrecht unbekannten Werke Dvořáks und Smetanas: „Jakobin“ oder „Libuše“. Und es gab in Antwerpen Camille Saint-Saëns „Samson et Dalila“ (2009) oder Offenbachs „Hoffmanns Erzählungen“ in Paris (2012) – und im Frühjahr, in Amsterdam, Prokofjews „Die Liebe zu den drei Orangen“.

Seit 2008 gastiert Netopil in Dresden an der Semperoper, einem Haus mit großer Tradition. Foto: Matthias Creutziger

Seit 2008 gastiert Netopil in Dresden an der Semperoper, einem Haus mit großer Tradition. Foto: Matthias Creutziger

Was fehlte also dem Dresdner Publikum? Der geliebte Christian Thielemann am Pult? Der wird wohl lieber bei seinen Leisten bleiben. Vielleicht war es Netopils relativ kühle Sicht auf das Werk, die zum Unmut führte: Sattfarbige Schwelgereien sind offenbar nicht sein „Ding“; auch hütet er sich, Halévy allzu nahe an die koloristische Pracht und die wehmütigen Legati der Italiener zu rücken. Bei aller differenzierten Kunst der musikalischen Charakterisierung: Halévy steht dem agilen Esprit eines Auber und dem marmornen Klassizismus seines Lehrers Cherubini näher als der Herzensglut Bellinis oder Donizettis. Netopil hat das berücksichtigt; ob es seine Kritiker so sehen, lassen die Dresdner Missfallenskundgebungen bezweifeln – so sie denn keine anderen als musikalische Gründe hatten.

Nach dieser beeindruckenden „La Juїve“ kann Essen mit doppelter Spannung die erste Premiere Netopils am Aalto-Theater erwarten: „Macbeth“ von Giuseppe Verdi am 19. Oktober.




Ruhrtriennale: Seltsame Rituale in Harry Partchs Instrumenten-Wunderland

"Zeit des gemeinsamens Vergnügens" heißt diese Szene des Partch-Theaters. Foto:

„Zeit des gemeinsamens Vergnügens“ heißt diese Szene des Partch-Theaters. Foto: Wonge Bergmann/Triennale

Das erste Wort gönnen wir Karl Valentin: „Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit.“ Die Erkenntnis des Münchner Komikers und Sprachkünstlers kommt uns alsbald in den Sinn, wenn wir vor dem Bühnenbild stehen, das vor allem eine Anordnung überwiegend riesiger, seltsamer Instrumente zeigt, das „Orchester“ des amerikanischen Komponisten Harry Partch.

Darin wuseln Solisten herum, die gleichzeitig Musiker, Sänger, Schauspieler und Pantomimen sind. Die bisweilen winzig klein wirken, wie Arbeiterfiguren in einem Baukasten fürs experimentierfreudige Kind.

Zumal sie hauptsächlich in bunter Werktätigenkluft, teils hübsch-hässlich den Prekariatsstandard erfüllend, sich an ihren klingenden „Maschinen“ zu schaffen machen. Auf dass eine wahrhaft un-erhörte, sirrende, flirrende, motorische Musik erklinge. Mit Anlehnungen an asiatische und afrikanische Exotismen. Was alles einem großen Ritual gleichkommt, das Partch „Delusion oft the Fury“ betitelt hat. Integrales Theater heißt diese Mixtur aus Klang, Sprache, Szene und Licht im Fachjargon – Richard Wagner hatte 100 Jahre zuvor vom Gesamtkunstwerk gesprochen.

Und die Ruhrtriennale, Heiner Goebbels’ Experimentallabor des Theatralischen, hat dem Amerikaner nun in Bochums Jahrhunderthalle ein Podium gegeben. Wir staunen, horchen auf ob verquerer Rhythmen und neuer Tonwelten, ergeben uns einem exzessiven Ritual, das indes alsbald tönende Züge der amerikanischen Minimalisten trägt. Kurzum: Die anfängliche Faszination weicht dem Wunsch, nun doch zum Ende zu kommen.

Der amerikanische Komponist Harry Partch. Foto:

Der amerikanische Komponist Harry Partch. Foto: Schott-Archiv/Andersen

Wer war Harry Partch? Einer jener amerikanischen Komponisten, die, fernab der Traditionen des alten Europa, eine eigene musikalische Sprache suchten. Der dabei mindestens so radikal zu Werke ging wie sein Landsmann John Cage. Der das wohltemperierte System, das eine Oktave in fünf schwarze und sieben weiße Tasten unterteilt, scharf ablehnte und eigene Skalen entwickelte. Zugleich tüftelte und baute Partch an einem neuen Instrumentarium. Allem voran ein „Chromelodeon“, ein Harmonium, bei dem eine Oktave 43(!) Tonhöhen zählt. Andere Skurrilitäten heißen „Gourd Tree“, ein baumartiges Gebilde aus Kürbisflaschen, oder „Marimba Eroica“, ein riesiges Marimbaphon mit nur vier wuchtigen Klangplatten.

Schon dies lässt erahnen, dass es sich bei Partch um einen Freak der Musikszene handelte. Wie denn auch die meisten Figuren in seinem zweiteiligen Instrumentaltheaterstück „Delusion oft he Fury“ äußerst freaky daherkommen. Obwohl doch ernste Dinge verhandelt werden, einerseits der reuevolle Bußgang eines Mörders, zum anderen der aus einem Missverständnis herrührende Konflikt, der vor Gericht schiedlich-friedlich gelöst wird – wenn auch von einem nahezu taubblinden Richter.

Triennale-Intendant Heiner Goebbels erlaubt sich hier als Regisseur eine amerikakritische Spitze, indem er den Richter als übergroße „Kentucky Fried Chicken“-Pappfigur zeichnet. Die Anspielung, dass auch im Land der unbegrenzten Möglichkeiten das Fressen vor der Moral kommt, hätte Partch gewiss gefallen. Er selbst, 1901 geboren, erlebte in den USA die „Große Depression“ der 30er Jahre, schlug sich zeitweise als Hobo durch. Solcherart Landstreicher wird im zweiten Teil von „Delusion“ übrigens zur Hauptfigur. Dort mümmelt er, taub und arm, im Wasser sitzend, sein karges Mahl. Im Disput mit einer Ziegenhirtin kommt es zum oben erwähnten Konflikt. Am Ende aber wird der große Versöhnungsgesang angestimmt: „Pray for me“. Ob die rot ausgeleuchtete Bühne (Klaus Grünberg) nebst kleiner Flämmchen eine Art Vorhölle sein soll?

Das Instrumentarium als Werkbank. Foto:

Sonderbares Instrumentarium als Werkbank im hellen Licht. Foto: Wonge Bergmann, Triennale

Manches mag nach geschäftiger Aktion klingen, doch alles geschieht in höchster Strenge. Die Buße und Läuterung eines Mörders lässt Elemente des japanische No-Theaters erkennen – Klangfarben, die Gewandung der Hauptfigur und die rituelle Bedeutung fließenden Wassers deuten darauf hin. Der zweite Teil trägt hingegen afrikanische Züge. So gesehen, hat auch Partch nicht im luftleeren Raum gearbeitet.

Schwer zu tun hat zudem, in vielfältiger Funktion, das Ensemble musikFabrik. Anziehen, umziehen, schreiten, umherhuschen, singen, sprechen, musizieren – ein Mammutprogramm. Damit nicht genug: Partchs Original-Instrumentarium musste Stück für Stück nachgebaut werden – für Thomas Meixner und sein Team eine Herkulesarbeit.

So steht an diesem Abend Bewunderung neben Verstörung. Das letzte Wort geben wir dem Rockmusiker Frank Zappa: „Ich mag den Klang der Instrumente … aber gleichzeitig denke ich, das Zeug läuft und läuft und läuft und läuft und läuft zu lange.“




Eine Ära geprägt: Der Dirigent Stefan Soltesz nimmt Abschied von Essen

Der Mann wirft einen prüfenden Blick ins Parkett des Aalto-Theaters, dreht sich um, schaut scharf in die Runde. Ruhe. Jeder Atemzug scheint kontrolliert. Spannung. Erwartung. Dann ein kurzes Anspannen der Schultern, ein Schlag – und die ersten dunklen Akkorde von Richard Strauss‘ „Frau ohne Schatten“ fluten den Raum: transparent, untergründig, mit dräuendem Nachdruck.

Stefan Soltesz. Foto: Matthias Jung

Stefan Soltesz. Foto: Matthias Jung

Stefan Soltesz beim Dirigieren: Das war stets eine Studie wert. Zu beobachten, wie er über den Rand seiner Brille eisblaue Blicke wirft. Zu verfolgen, wie der Finger hochschnellt, einem Sänger „Achtung“ signalisiert, im Abtauchen den Einsatz markiert. Mitzufiebern, wie er bald hundert Frauen und Männer im Orchestergraben antreibt, mitreißt, befeuert. Oder wie er mit unendlicher Geduld eine Innenspannung in der Musik aufbaut, einen schwerelosen Bogen trägt, eine Entladung vorbereitet.

Wucht und Macht: Nur sehr dosiert setzt Soltesz diese Mittel ein. Er weiß, dass sich die Riesengebärde, der massierte Klang schnell abnutzen. Gerade bei Richard Strauss, der so viele Dirigenten zu knalliger Koloristik verführt, setzt Soltesz auf Transparenz, auf Präzision, auf luftiges Acryl statt auf fettes Öl. Er hat damit einen Trend gesetzt, den andere inzwischen auch entdeckt haben. Ähnlich arbeitet er mit Partituren Puccinis: „Tosca“ oder „La Bohème“ sind bei ihm Chefstücke. Da gibt es keine hingeschmierte Kapellmeister-Routine, keine zuckersüße Opulenz. „Madama Butterfly“ gewinnt bei ihm emotionale Intensität aus einem – fast möchte man es so nennen – emotionsgedrosselten Zugang: Sehr nah am Notentext, mit allergrößter Sorgfalt gelesen.

Auch der üppige Orchesterzauber liegt ihm

Auf diese Weise setzte Stefan Soltesz am Aalto-Theater auch Vincenzo Bellinis „I Puritani“ mit einer suggestiven Qualität um, die das schnell vergebene Prädikat „einzigartig“ wirklich einmal verdient hat. Wer weiß, wie hilf- und lieblos Bellini-Opern abgewedelt werden, musste bei Soltesz ins Schwärmen geraten: So präzis, nuanciert, gleichzeitig auf die kantable Entwicklung geachtet und mitgeatmet sind die scheinbar einfachen, in Wahrheit unendlich sensiblen Notenbilder des sizilianischen Meisters selten in klingender Musik vollendet worden. Soltesz kennt nicht nur die Noten – er kennt auch die Tradition, wie sie zu lesen sind. So hat er die weiten, schwermütigen Seelenlandschaften Bellinis erschlossen,

Na gut: Auch Soltesz will sich dem Glanzvollen, dem Üppigen, der saftigen Entfaltung orchestralen Zaubers nicht entziehen. Sonst würde er Strauss nicht so lieben – obwohl er nicht als „Strauss-Dirigent“ gelten will. In der „Frau ohne Schatten“ ist er mit solchem Streben in seinem Element: Da klingen das Leuchtende und das Fahle, die schwelgerischen Aufschwünge und die harten Attacken, die sorgsam ausbalancierten Mischungen und die aggressiven Tutti. In der Wiederaufnahme im Aalto-Theater gibt es schon nach dem ersten Aufzug Bravi, nach dem zweiten Begeisterung, nach dem dritten eine herzliche, enthusiastische Ovation.

Szenenfoto aus der Inszenierung von Strauss' "Die Frau ohne Schatten" am Aalto-Theater Essen. Foto: Bernd Schmidt

Szenenfoto aus der Inszenierung von Strauss‘ „Die Frau ohne Schatten“ am Aalto-Theater Essen. Foto: Bernd Schmidt

Das Publikum in Essen liebt den Dirigenten, jubelt ihm zu, bereitet ihm in diesen Tagen bei seinen Abschiedsvorstellungen einen herzlichen, von Zuneigung und Hochachtung geprägten Empfang. Ein Flug der Herzen. Aber auch eine Ovation, die in der Stadt merkwürdig wenig Widerhall findet: Die Frage nach der Form von Soltesz‘ Abschied nach sechzehn Jahren Intendanz in Essen, die Kabale um den Titel des „Ehrendirigenten“: seltsame, hinter vorgehaltenen Händen geführte Debatten. Es scheint zur Unkultur unserer Zeit zu gehören, dass man Menschen wie Soltesz nicht mehr mit großzügiger, freier Anerkennung verabschieden kann.

Vielleicht hat er es seinen Partner auch nicht einfach gemacht: „Mal will er, mal will er nicht“, seufzte Hans Schippmann, Aufsichtsratsvorsitzender der Theater und Philharmonie, in der WAZ. Soltesz selbst hat seinen Abschied aus der machtvollen und in Deutschland seltenen Kombination des Intendanten und Generalmusikdirektors gern mit feinem Humor leichter dargestellt, als er ihm vielleicht fällt. Es ist nicht einfach, nach sechzehn Jahren äußerst erfolgreicher Arbeit in der letzten Saison den komplexen Betrieb zusammenzuhalten und bis zum letzten Tag zu motivieren.

Kämpferischer Theatermensch mit eindeutigen Positionen

Sicher: Soltesz war kein einfacher Chef, kein unkomplizierter Partner. Seine Wutausbrüche sind legendär. Dass seine Musiker auf der Stuhlkante spielen, wenn er dirigiert, ist ein offenes Geheimnis. Es gab heftige Worte, aber im Endeffekt war allen klar: Ohne Soltesz` unerbittliches und manchmal auch mit harten Bandagen durchgesetztes Regiment wäre die Qualität nicht möglich gewesen, die Essen über Häuser vergleichbarer Größe hinaushebt. Das hat dem Aalto-Theater beispielsweise 2008 das ehrenvolle Doppel des „Opernhauses des Jahres“ und des „Orchesters des Jahres“ eingebracht.

Und wer den Betrieb kennt – und der „Theatermensch“ Soltesz kennt ihn wie kaum ein zweiter – weiß, dass Koordination, Minimierung von Reibungsverlusten, aber auch der Kampf an den Fronten von Verstiegenheit oder Schlendrian aufreibend sind: Ein „netter Kerl“ erreicht da wenig. Dass er vor der Politik nicht kniff, muss man ihm hoch anrechnen. In der Debatte um die katastrophale Finanzlage der Städte und die notwendige Haushaltskonsolidierung bezog er eindeutig Position. Was er in einem offenen Brief vom 7. Januar 2010 in die Diskussion warf, ist ein ebenso schlüssiges wie notorisch nichtbeachtetes Argument:

„Die Kultur wird … zu einem Hauptverantwortlichen für die finanzielle Malaise der Kommunen gestempelt. Dass die Kultur dies nicht ist, wissen Sie genau. Selbst bei völliger Streichung der Kulturförderung wäre eine Haushaltskonsolidierung auch nicht ansatzweise erreicht. Die Staatsausgaben für Kultur in Deutschland betragen über alle öffentlichen Haushalte hinweg 0,8 Prozent der Etats. Ich appelliere daher dringend an Sie, das Thema Kultur weit hintanzustellen, wenn Sie über Haushaltssanierung diskutieren.

Als Stefan Soltesz mit der Spielzeit 1997/98 seinen Posten antrat, war noch nicht klar, mit welchem hingebungsvollen Einsatz er sich künftig seinem Stammhaus widmen würde. War er doch bereits ein Dirigent mit weitreichendem Aktionsfeld und hoher Reputation: von Hamburg bis Berlin, von München bis Amsterdam. Er brachte Leitungserfahrung mit, war in Braunschweig Generalmusikdirektor und in Antwerpen Chefdirigent. In Wien steht er seit seinem Debüt mit Rossinis „Barbiere di Siviglia“ 1983 regelmäßig am Pult, leitet in der kommenden Saison erneut den „Barbiere“ und Puccinis „Tosca“.

Entrée und Abschied mit Richard Strauss

Für Essen wählte er sich als Entrée ein Strauss-Werk, das nicht häufig gespielt und gerne gering geschätzt wird: „Arabella“. Das Publikum ging mit, erinnert sich der Dirigent, und so kam 1998 die „Frau ohne Schatten“ in der heute noch tragfähigen Regie von Fred Berndt heraus. Soltesz setzte auf Strauss: 1998, im 50. Todesjahr des Komponisten, folgte noch die Rarität „Daphne“ in einer Inszenierung Peter Konwitschnys, später „Elektra“, „Ariadne“, dann eine ehrgeizige „Ägyptische Helena“ und „Der Rosenkavalier“. Mehr Strauss gab es nicht einmal in München oder Dresden – und irgendwie ist es schade, dass ausgerechnet im Strauss-Jahr 2014 diese spezielle Essener Tradition abbricht: das sensible Alterswerk „Capriccio“ oder die Petitesse „Intermezzo“, von Soltesz dirigiert, wären das Schlagobers auf dieser feinen, reichen Tafel gewesen.

Der "Parsifal" Joachim Schloemers in Essen. Szene aus dem ersten Aufzug im Bühnenbild von Jens Kilian. Foto: Thilo Beu

Der „Parsifal“ Joachim Schloemers in Essen. Szene aus dem ersten Aufzug im Bühnenbild von Jens Kilian. Foto: Thilo Beu

Soltesz ist ein Pragmatiker: Die großen Stücke des gängigen Repertoires gehören für ihn zu jedem publikumsfreundlichen Spielplan: Mozart, Verdi, Puccini, Wagner. In Essen machte sich Soltesz 2008 an seinen allerersten „Ring“. Seine letzte eigene Premiere war Wagners „Parsifal“: musikalisch krönender, szenisch verunglückter Schlussstein der Reihe der zehn Opern des Bayreuther Kanon, die er im Lauf der Jahre in Essen dirigiert hat. Ausgrabungen waren seine Sache nicht – auch wenn er sich einen Meyerbeer durchaus auf der Aalto-Bühne hätte vorstellen können.

Gelegentlich ließ er sich auf Ausflüge ein: Verdis „Luisa Miller“, Umberto Giordanos „Andrea Chenier“, Alexander Borodins „Fürst Igor“ oder Händels „Hercules“ kamen unter seiner Intendanz heraus – und vor kurzem zum Verdi-Jahr „I Masnadieri“ nach Schillers „Die Räuber“. Soltesz machte sich auch für Aribert Reimanns „Lear“ stark und erinnerte an Hans Werner Henzes kluge Reflexion über das Künstlerdasein: „Elegie für junge Liebende“. Dass er sich 2008 mit Christian Josts „Die arabische Nacht“ abplagte, zeigte, wie undankbar der Einsatz für Zeitgenössisches sein kann.

Alles was ist, endet, sagt Erda im „Rheingold“. Das ist für sterbliche Menschen auch gut so. Mit dem Weggang von Stefan Soltesz geht eine lange, stabile und künstlerisch fruchtbare Ära am Aalto-Theater zu Ende. Seine Nachfolger werden die Akzente anders setzen. Die Zeiten, in denen eine starke Persönlichkeit Orchester und Ensemble prägte, sind wohl auf absehbare Zeit vorbei. Gastdirigenten kommen, neue Regisseure, andere Schwerpunkte im Spielplan. Soltesz‘ Erbe ist eine Herausforderung: Das hohe Niveau will gehalten sein. Die Zuversicht ist groß, dass es gelingt.

Als Dirigent wird Soltesz dem Essener Publikum erhalten bleiben: Am 10. November leitet er die Wiederaufnahme von „Tristan und Isolde“; weitere Vorstellungen der „Zauberflöte“, des „Fliegenden Holländer“, von „La Traviata“, „Ariadne auf Naxos“ und „Madama Butterfly“ sind geplant. Seine „riesige Musizierlust“ kann er wieder außerhalb Essens ausleben – bei Gastspielen, die er zugunsten seines Stammhauses stets zurückgestellt hat. In der kommenden Saison steht er u.a. in Wien, Budapest („Der Rosenkavalier“ und „Elektra“), Warschau („Lohengrin“) und Hamburg („Arabella“) am Pult.

Die letzten Vorstellungen: Strauss, Die Frau ohne Schatten, am 21. Juli (ausverkauft); Puccini, Tosca, am 14. Juli (Restkarten); Mahler, Sinfonie Nr. 2, am 18. und 19. Juli in der Philharmonie (ausverkauft).




Der neue Papst setzt Zeichen: Mit dem Bus ins Gästehaus

Bei den Fernsehleuten herrschte eher Gelassenheit: Eine Diskussionsrunde mit der spekulativen Frage nach persönlichen Favoriten, ein paar Bilder von Menschen unter Regenschirmen auf dem Petersplatz, immer wieder der Schornstein über der Sixtinischen Kapelle, von Scheinwerfern angestrahlt. Und dann, um 19.05 Uhr, Rauch, dichter weißer Rauch. Eine schnelle Entscheidung, mit der kaum jemand unter den Wartenden gerechnet hatte: Schon im fünften Wahlgang war der neue Papst gewählt – eines der kürzesten Konklave der Kirchengeschichte.

Rom hat einen neuen Bischof - und die Weltkirche einen neuen Papst. Blick auf S. Pietro. Foto: Werner Häußner

Rom hat einen neuen Bischof – und die Weltkirche einen neuen Papst. Blick auf S. Pietro. Foto: Werner Häußner

Eine gute Stunde nach dem Rauchzeichen folgte die noch größere Überraschung: Keiner der „heißen“ Kandidaten trat da auf die Loggia des Petersdoms, angekündigt mit den Worten „Habemus Papam“. Mit Jorge Mario Bergoglio hatte keiner der Auguren gerechnet. Der Kardinal von Buenos Aires stand nicht auf der Liste der medialen Favoriten.

Die Wahl des argentinischen Jesuiten, Indiskretionen zufolge der Konkurrent Joseph Ratzingers im Konklave von 2005, dürfte eine klare Entscheidung der 115 wählenden Kardinäle gewesen sein: Kein Mann der Kurie wurde Papst. Kein Europäer. Keiner, der für eine ungebrochene Fortsetzung des Pontifikats Benedikts XVI. steht – da mögen die Harmonisierer noch so bemüht sein: Bergoglio verkörpert wohl nicht die „Kontinuität“, die der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Erzbischof Robert Zollitsch aus Freiburg, in seiner ersten Stellungnahme beschwor. Eher dürfte zutreffen, was der Würzburger Bischof Friedhelm Hofmann feststellte: „Die Entscheidung verspricht etwas Neues.“

Franziskus I.: Der Name ist Programm

Welche Richtung der neue Papst einschlagen wird, darüber dürfte in nächster Zeit viel spekuliert werden, bis er seine ersten inhaltlichen Positionen formuliert und seine ersten Personalentscheidungen getroffen hat. Ein Akzent ist allerdings jetzt schon deutlich: Jorge Maria Bergoglio hat sich den Papstnamen „Franziskus I.“ gewählt. Ein neuer Name in der Liste der nun 266 Päpste der Katholischen Kirche. Der Name eines Heiligen, der für seinen einfachen Lebensstil, für seine radikale Zuwendung zu den Armen und Ausgegrenzten, für seine tiefe Christusfrömmigkeit bis heute viel geliebt wird. Und ein Heiliger, der den Auftrag Gottes hörte, seine Kirche neu aufzubauen.

Das ist ein Ruf, der Franziskus I. ganz irdisch von vielen entgegenschallen wird. Festzustellen, die Katholische Kirche habe den Neuaufbau nach den Pädophilie- und Vatileaks-Skandalen bitter nötig, ist wohl richtig, greift aber zu kurz. Denn die Krise der Kirche liegt tiefer: in ihrem gebrochenen Verhältnis zu einer rasch sich wandelnden Welt, in ihrem Ringen um Tradition und Fortschritt, in ihren – etwa in der Einstellung zur Homosexualität deutlich sichtbaren – Problemen mit einer zeitgemäßen Anthropologie, im innerkirchlichen Umgang mit Pluralität und Autorität. Die deutschen Reizthemen wie Frauenpriestertum oder Zölibat sind da eher Randfragen: Kein Papst wird sie per Federstrich im Sinne der Kirchenkritiker hierzulande entscheiden können. Selbst wenn er es wollte. Er würde eine Spaltung der Kirche riskieren.

Warnung vor der Übermacht des Geldes

Franziskus I. wird sich mit vielerlei Erwartungen konfrontiert sehen. Wir wird sich der „stille Intellektuelle“ – wie ihn die „Zeit“ 2005 beschrieben hat – den Herausforderungen seines Amtes stellen? Sein bescheidener Lebensstil, seine Nähe zu den Armen, seine politische Entschiedenheit etwa in sozialen und ökologischen Konflikten sind bekannt. Ein erstes Zeichen hat er auch als Papst schon gesetzt: Statt mit der bereitgestellten Limousine fuhr der Eisenbahnersohn kurz vor Mitternacht mit den Kardinälen im Bus ins Quartier S. Marta.

Aber auch seine Vergangenheit dürfte dem neuen Papst zu schaffen machen: Hatte er tatsächlich irgendeinen Anteil am skandalösen Verhalten der als besonders konservativ geltenden argentinischen Kirchenspitze in der Zeit der Militärdiktatur? Bergoglio wurde beschuldigt, zwei seiner Ordensbrüder nicht ausreichend vor der Verfolgung durch die Militärs geschützt zu haben. Auch soll er Kontakte mit einem Mitglied der Junta gepflegt haben. Auf der anderen Seite der Bilanz steht der Kampf des Kardinals gegen das soziale Elend und die Korruption in seinem Land. Vor einigen Wochen erst warnte er vor der alltäglichen Übermacht des Geldes, prangerte Menschen- und Kinderhandel an. Man wird, das dürfte sicher sein, von diesem Papst deutliche Worte hören.

Erste Reaktionen aus Essen

Für das in Essen ansässige Bischöfliche Hilfswerk Adveniat ist Franziskus I. „ein Papst, der die Armen kennt“. Prälat Bernd Klaschka, Adveniat-Geschäftsführer, sagte kurz nach der Wahl: „Ich glaube, dass die von den lateinamerikanischen Bischöfen getroffene Option für die Armen und für die Jugend einen wichtigen Stellenwert in seinem Pontifikat einnehmen wird.“

Eine weitere Reaktion aus Essen kam von Bischof Franz-Josef Overbeck: Die Wahl „berührt und bewegt mich sehr“, sagt der Ruhrbischof in einem Beitrag auf YouTube. Die Namenswahl des ersten Papstes aus Lateinamerika sei für ihn „ganz bedeutsam“. Franziskus sei ein großer Reformer der Kirche gewesen, mit einer „großen Einfachheit des Lebensstils und einer großen Tiefe im Glauben. Das ist auch heute ganz wichtig“. Der frühere Ruhrbischof und jetzige Bischof von Münster, Felix Genn, sieht in der Namenswahl „eine Botschaft für die Armen“.

Für die Katholische Kirche könnte das nun anbrechende Pontifikat von Franziskus I. ein Schritt von erheblicher Tragweite werden. Jetzt schon vergleichen Kommentatoren die Wahl Bergoglios zum Papst mit derjenigen von Papst Johannes XXIII. Deutlich zeigt sich der Wunsch nach Veränderung.

Nicht durchgesetzt haben sich diejenigen, die wieder einen Italiener an der Spitze der Weltkirche sehen wollten. Auch die Kardinäle, die auf eine Reform der Kurie und ein kollegialeres Verhältnis zwischen der römischen Zentrale und den Ortskirchen drängen, werden ihre Erwartungen in dieser Wahl manifestiert haben. Schließlich dürfte auch der Eurozentrismus mit diesem ersten lateinamerikanischen Papst der Kirchengeschichte und ersten Nicht-Europäer seit dem Syrer Gregor III. (731 bis 741) beendet sein.




Frohe Weihnachten!

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Gemein: Welt geht heute unter!

P1030951_1Die Revierpassagen verabschieden sich hier schon mal vorsorglich von ihren Leserinnen und Lesern. Es war schön mit Ihnen und mit Euch. Aber nun heißt es wohl Abschied nehmen, denn am 21. Dezember 2012 geht bekanntlich mal wieder die Welt unter. Ach ja. Mit Frau Welt war es ja – cum grano salis gesprochen – oft auch recht schön.

Wie man’s auch wendet: Das Thema ist der Internet-Hype dieser Tage und hat sich hie und da bis zur Hysterie gesteigert. Indem man mehr oder weniger treffliche Scherze über den Untergang macht, verschafft man sich und anderen womöglich einen wohligen Schauder. Denn man kann sich doch sicher fühlen, oder? Andererseits ist dieser Planet ja ziemlich aus den Fugen. Und manche Staatenlenker sind schon reichlich verrückt…

Ich bin borniert oder auch vernünftig genug, mich jetzt nicht mehr großartig mit dem Maya-Kalender zu befassen, auf den sich die apokalyptischen Vorhersagen stützen. Es lohnt sich ja eh nicht mehr. Jedenfalls soll besagter Kalender für die Zeit nach dem 21. Dezember des laufenden Jahres keine Daten mehr vorrätig haben. Also finito.

Auf Facebook wurde neulich schon überlegt, wie man sich am besten für den speziellen Anlass anziehen soll. Fein oder eher leger? Der Verfasser dieser Zeilen gesteht freimütig, zu jener Debatte auch noch den Anstoß gegeben zu haben. Dies sei daher gleichfalls geweissagt: Auch die Albernheit hat in den Tagen bis zum 21. Dezember ungeahnte Ausmaße erreicht. Oder soll man sagen: geahnte Ausmaße? Zur Kleidungsfrage schrieb eine junge Frau übrigens, sie wolle dem Verhängnis lieber nackt entgegen gehen, finale Wollust inbegriffen. Ja, auch das Orgien-Mysterien-Theater hat seine Pforten wieder geöffnet. Nur hereinspaziert!

Um kurz auf den Boden der so genannten Tatsachen zurückzukommen. Richtig gemein finde ich die Terminierung des Weltendes. Da lässt man uns noch die ganze Woche über schuften – und am Freitagabend soll dann Sense sein! Das heißt: Vielleicht ist die Chose ja auch schon beim Frühstück durch. Denn eine konkrete Uhrzeit ward uns nicht verheißen. Und wer am Wochenende Dienst hat – Gott befohlen!

Ganz zu schweigen von Heiligabend! Da sind die Schlunzis klar im Vorteil, die die Geschenke immer erst in letzter Minute besorgen. Denn alles, was vorher gekauft wird, stürzt ja wohl mit in den Orkus. Nun, immerhin hätten wir kurz vor Schluss noch mal die Wirtschaft angekurbelt. Hauptsache!

Und was macht der Überbau?

Werfen wir rasch einen Blick ins TV-Programm des 21. Dezember. Und siehe: Der Kulturkanal arte ist verdammt nah dran. Um 20.15 Uhr beginnt dort ein veritabler Themenabend über „Das Ende der Menschheit“ – mit drei schonungslosen Dokus und einem abschließenden Monster-Horrorfilm („Formicula“, USA 1954), der laut optimistischer Sendeplanung freilich um 0.30, also am 22. Dezember, anfängt. RTL hält sich mit einer Hochzeitsshow auf (Vielleicht unter dem Motto: „Bis dass der Untergang euch zügig scheidet“?), während das ZDF vollends auf Ewigkeits-Dimensionen abhebt und den Dino Claus Theo Gärtner in „Ein Fall für zwei“ antreten lässt.

Die Bundesliga ist bereits am 16. Dezember in die Winterpause gegangen. Man versäumt also vorerst keine Spiele, wenn am 21. Dezember eh der große Abpfiff ist. Allerdings lauert hierin auch ein besonderer Schrecken: Die Herbstmeisterschaft des FC Bayern München wäre nach Lage der Dinge der letzte Stand für alle Zeiten. Und das ist wirklich hart.




Traumhaus, später: Lutz Hübners „Richtfest“ am Schauspielhaus Bochum uraufgeführt

Szene mit Henrik Schubert (Mick), Roland Riebeling (Frank) (Bild: Thomas Aurin, Schauspielhaus Bochum)

Szene mit Henrik Schubert (Mick), Roland Riebeling (Frank) (Bild: Thomas Aurin, Schauspielhaus Bochum)

Wohnst du noch oder lebst du schon zusammen? Die Baugemeinschaft als soziales Experiment eignet sich perfekt als Stoff für die Bühne.

Von sozialbewegt über großbürgerlich bis yuppiehaft reichen die unterschiedlichen Lebensstile der sechs Parteien, die sich unter dem Dach ihres neuen Traumhauses harmonisch vereinen wollen. Das Desaster ist selbstredend programmiert, denn zum „Richtfest“, so der Titel des neuesten Stückes von Lutz Hübner, kommt es nicht. Vorher haben sich die Mitglieder der Eigentümergemeinschaft unter der Regie von Anselm Weber am Schauspielhaus Bochum längst heillos zerstritten.

Dabei hätte alles so schön sein können: Der aufstrebende Architekt Philipp (Felix Rech) hat sein Traumhaus geplant, das Professorenpaar (Anke Zillich und Bernd Rademacher) strebt nach kultivierter Gemeinschaft mit Gleichgesinnten wie den sympathischen homosexuellen Musikern Frank (Roland Riebeling) und Mick (Henrik Schubert). Schon nicht so ganz ins Bild passen Birgit (Katharina Linder) und Holger (Michael Schütz), sie Leiterin einer Jugendhilfe, er spießiger Finanzbeamter, dem es zu Hause zu langweilig ist und der jetzt eine Spur zu aufdringlich Anschluss an neue Kreise sucht. Gestraft sind beide mit einer pubertierenden Tochter (Zenzi Huber), die sich gleich beim ersten Treffen an den Architekten ranschmeißt und mit schlechtem Geschmack: Statt großzügige Glasfassaden zu goutieren, wollen sie sich vor den Blicken der Welt lieber hinter Klinkern einkuscheln.

Den ersten handfesten Streit aber lösen die Kleinkindmutter Mila (Kristina-Maria Peters) und der junge Assistenzarzt Christian (Marco Massafra) aus. Ihre Finanzierung mit höchst geringer Eigenbeteiligung von 12 % steht ohnehin auf wackligen Beinen, da stellt das Paar fest, dass wieder Nachwuchs unterwegs ist. Und haut die übrigen Mitbewohner um Geld an. So lodern in der Baugemeinschaft die gesellschaftlichen Konflikte wie unter einem Brennglas auf: Familien mit Kindern werfen arrivierten Gutverdienern Egoismus vor, freiheitsliebende Kreative wollen sich ihren ästhetisch perfekten Lebenstraum nicht durch Hüpfburgen im Hinterhof verschandeln lassen. Die lebenslustige Rentnerin will nicht als günstige Betreuungsomi missbraucht werden. Sie hat ein ganz anderes Problem: Charlotte (Henriette Thimig) ist Messie und keiner soll es merken, doch das schwule Pärchen ist ihr schon längst auf den Trichter gekommen. Die Lage spitzt sich zu, als die alte Dame einen Schlaganfall erleidet und die Gemeinschaft mit einem Pflegefall konfrontiert ist. Jetzt erweist sich, dass ein Zusammenleben, das über die bloße Zweckgemeinschaft hinausgeht, bedeutend mehr Solidarität erfordert als anfangs vermutet. Will ich wirklich für alte Menschen oder die Kinder anderer Leute die Verantwortung übernehmen?

Kommt die Anfangsszene noch etwas hölzern über die Rampe, gewinnt die Aufführung mit zunehmender Konfliktschärfe deutlich an Tempo. Hinter den Rollen treten Charaktere hervor. Am überzeugendsten agiert Henriette Thimig als ehemalige Kneipenwirtin Charlotte, die sich von der netten Omi von nebenan erst in einen abgründigen Messie und dann in eine hilflosen Pflegfall verwandelt.

Doch warum ist diese Uraufführung so betont karg ausgestattet? Sicher, das Traumhaus ist vorläufig nur eine Vision, realisiert wird es nie. Hübners Stück ist als satirische Milieustudie konzipiert, aber die leere Bühne und einige auf eine weißgraue Plane gekritzelte Grundrisse bieten dem Zuschauer wenig Anknüpfungspunkte.

Etwas abstrus gerät auch die Schlussszene: Vom Text behauptet wird eine Gartenparty auf der Terrasse. Dass sich alle im letzten großen Streit mit dem Gartenschlauch nassspritzen, mag noch angehen. Auch, dass sie die Bauplanen herunterreißen und sich vor einsetzendem Regen schützen. Doch warum fängt es zu allem Überfluss an zu schneien? Dann pustet auch noch die Nebelmaschine Rauchschwaden auf die Bühne. Das ist wohl philosophisch gemeint: Ohne Haus ist der Mensch eben allen Elementen hilflos ausgesetzt. Und da er sich mit seinem Nachbarn nicht vertragen will, kann er sich auch kein neues Haus mehr bauen. Er ist allein und wird es lange bleiben…

Infos: http://www.schauspielhausbochum.de/de_DE/calendar/detail/10789227




Misstöne und orchestrale Pracht – Die Jubiläumsgala der Dortmunder Philharmoniker

Generalmusikdirektor Jac van Steen (Foto: Dortmunder Philharmoniker)

Selten dürfte einem Festredner weniger zu seinem Thema eingefallen sein. Ullrich Sierau, Oberbürgermeister der Stadt Dortmund, schien das heimische Philharmonische Orchester fremder als der Mond, als er die Jubiläumsgala im Konzerthaus mit einem Grußwort eröffnete.

Dabei hätte es zum 125-jährigen Bestehen dieses Klangkörpers viel zu sagen gegeben. Sierau hätte über die Bedeutung der Philharmoniker für die Stadt sprechen können, hätte würdigen können, wie viel die Profimusiker auch abseits von Operngraben und Konzerthausbühne leisten und wie viele von ihnen bereitwillig Schulen besuchen, an denen kaum mehr Musikunterricht stattfindet. Er hätte Auslandsreisen des Orchesters erwähnen können und dessen Funktion als kulturelle Visitenkarte der Stadt. Er hätte auch der Frage nachgehen können, warum Musik und Kunst gerade in wirtschaftlich schwierigen Zeiten wichtig sind.

Aber nein, nichts dergleichen. Er sei – oh verräterische Wortwahl! – öfter mit Konzerten des Philharmonischen Orchesters „konfrontiert“ gewesen, sagte Sierau. Begriffe wie Stolz und Tradition führten ihn flugs zu einem ganz anderen Thema, das ihm offenkundig lieber war: zum Ballsportverein Borussia Dortmund. Das wohlmeinende, aber zusammenhanglose Gefasel über „gute Vorlagen“ und die „Championsleague“ wurde gekrönt von einem Loblied auf den derzeitigen Generalmusikdirektor Jac van Steen, das schmerzhaft falsch in den Ohren klang: Hatte die Stadt dem derart Gepriesenen doch jüngst überraschend den Stuhl vor die Tür gesetzt.

Von den Misstönen der Politik führte die sinfonische Dichtung „Also sprach Zarathustra“ von Richard Strauss zurück zum Wahren und Schönen. Das von Friedrich Nietzsche inspirierte Werk, berüchtigt für seine extremen Anforderungen an alle Instrumentengruppen, forderte die Philharmoniker bis an die Grenzen – und dies nur drei Tage nach der kräftezehrenden Premiere der Oper „Boris Godunow“. Aber das Orchester stemmte die schwergewichtige Tondichtung bemerkenswert souverän. Über alles Orgelbrausen, über alles titanische Ringen widerstreitender Prinzipien hinweg blieb der Gesamtklang geschmeidig, der Streicherklang süffig. Jac van Steen zelebrierte fließende Übergänge und ließ keine unschönen Fortissimo-Exzesse zu. So gelang der Blick ins Strauss’sche Kaleidoskop, in dem jede noch so widerborstige Fuge und jedes noch so vertrackte Solo mit größter orchestraler Pracht einhergeht.

Mehr Substanzverlust musste das „Konzert für Orchester“ hinnehmen, in dem alle charakteristischen Züge von Béla Bartóks Schaffen zu einer großartigen Synthese finden. Diese voll auszuprägen, fehlte den Philharmonikern an diesem Abend dann doch die Kraft. Trotz vieler subtiler Farben – erwähnt seien vor allem die feinen Holzbläser-Soli – baute sich im Kopfsatz nicht genug nervöse Erregung auf. Die Strahlkraft der Blechbläser zeigte Einbußen; die Geigen machten das wirbelnde Presto-Finale durch nachlassende Präzision zu einem leicht holprigen Husarenritt.

Als Intermezzo zwischen den beiden orchestralen Schwergewichten wurde Mozarts Klavierkonzert B-Dur KV 595 beinahe erdrückt, zumal Solist Ronald Brautigam einen wolkig-romantischen, mithin wenig konturierten Zugriff auf das Werk wählte. Gleichwohl verströmte Mozarts Musik eleganten Esprit und sprühenden Charme. Ach, könnte dies doch auch einmal stilbildend wirken – und nicht immer nur der BVB.




Vom Fluch frühen Ruhms: Der Pianist Jan Lisiecki im Konzerthaus Dortmund

Jan Lisiecki (17) gab im Konzerthaus Dortmund seinen Einstand in der Nachwuchsreihe "Junge Wilde" (Copyright: DG/Mathias Bothor)

Scheu vor seinem Publikum kennt Jan Lisiecki offenbar nicht. Mit volltönender Stimme, die im Konzerthaus Dortmund auch ohne Mikrofon bis in die letzten Reihen dringt, erläutert der 17-jährige Pianist kurz sein Programm, bevor er sich an den Flügel setzt. Das wirkt souverän und weckt Sympathien, die der Blondschopf als neuer Nachwuchskünstler in der Reihe „Junge Wilde“ ohnehin auf seiner Seite haben dürfte.

Ein Kinderspiel ist Lisieckis Auftritt deshalb noch lange nicht. Denn er stellt sich im gleichen Moment übergroßen Erwartungen, geweckt von der künstlich aufgeregten Werbekampagne einer Plattenindustrie, die den im kanadischen Calgary geborenen Sohn polnischer Eltern so hartnäckig wie bedenkenlos als „Wunderkind“ vermarktet. Da wird das „ausgereifte und poetische Spiel“ des Kanadiers bejubelt, da wird ohne nähere Begründung der Name einer Jahrhundertkünstlerin wie Martha Argerich in den Raum geworfen, als dränge sich dieser abstruse Vergleich auf. Welche Hypothek dies für die Zukunft eines jungen Musikers bedeutet, interessiert wohl sekundär.

Auf der Konzerthaus-Bühne wirkt Lisiecki erfrischend unbefangen. Nicht belehrend, sondern locker und charmant wendet er sich an sein Publikum. Als er am Flügel Platz nimmt, verwandelt er sich vom Moderator in einen Träumer. Mit feinen Fingern und viel Poesie versucht er sich an einige Préludes des Franzosen Olivier Messiaen heran zu tasten. Diese Clarté weist stark zurück in Richtung eines Claude Debussy. Der von Glaubensgewissheit erhellten Musik Messiaens, von manchen zu Unrecht der Nähe zum Kitsch verdächtigt, tut dieser Zugriff nur bedingt gut.

Johann Sebastian Bachs Partita Nr. 1 B-Dur sei das Schlüsselwerk für die Konzeption der ersten Programmhälfte gewesen, hatte Lisiecki im Vorfeld erklärt. Um Klarheit der Stimmen und tänzerischen Schwung bemüht, leidet seine Interpretation unter schwankendem Zeitmaß. Ludwig van Beethovens 24. Klaviersonate, lyrisch und zurückhaltend im Tonfall, kommt Lisiecki mit seinem zarten Zugriff nicht bei. Die Themen gewinnen keinen eigenen Charakter, keine glaubhafte Entwicklung. Hoffen lassen die „Variations sérieuses“ von Felix Mendelssohn Bartholdy: Da der Variationssatz hier den Weg vorgibt, kann Lisiecki ihm mit Hingabe folgen und einiges an Feuer entwickeln.

Frédéric Chopins Études op. 25 verdeutlichen noch einmal Lisieckis Schwierigkeiten, sinnstiftende musikalische Bezüge zu schaffen. Die Mittelteile der überwiegend in ABA-Form komponierten Etüden klingen bei Lisiecki wie herausgeschnitten, stehen isoliert neben dem Rest des Werks. Beachtliche Fingerfertigkeit kann der junge Pianist jedoch demonstrieren, was ihm den herzlichen Applaus seiner Zuhörer sichert.

In den Tagen nach seinem Dortmunder Einstand tourt Lisiecki durch Japan, tritt dann in Deutschland, Italien, Kanada und New York auf. Sein Terminkalender ist zum Bersten gefüllt. So geht es wohl zu in der Welt des frühen Ruhms und der gut gefüllten Kassen. Wen kümmert es da schon, wer am Ende die Zeche zahlt.





Wagner, Maazel, Tristan: In Essen feiert man den „Meister“ etwas anders

Richard Wagner wird 2013 erwartungsgemäß groß gefeiert. Ringe beginnen und Ringe enden, allenthalben eifern Regisseure zu zeigen, was noch nie erschaut, versuchen Dirigenten aus den Partituren zu lesen, was noch nie erlauscht. Staatsopern beschäftigen sich mit den Haupt- und Staatsaktionen der Wagner-Bühne. Den Rest überlässt man den Kleinen und schürt damit das von den Wagner-Vergötterern der Bayreuther Kreise propagierte Vorurteil, erst ab dem „Holländer“ beginne der „echte“ Wagner.

So wird es grad ein wenig „Rienzi“ geben – obwohl ein Experte wie Egon Voss dafür plädiert, in diesem Werk sei das Wagner’sche Idiom erstmals zweifelsfrei durchgehend hörbar. Die Rhein-Ruhr-Region kann ab 9. März 2013 in Krefeld Wagners Versuch erleben, die zeitgenössische französische und italienische Oper zu übertreffen (Regie: Matthias Oldag). Keinen Anwalt finden „Das Liebesverbot“ oder gar „Die Feen“ – mit Ausnahme von Leipzig, das mit Bayreuth kooperierend beide Werke szenisch bringt –, obwohl die Lebenskraft dieser frühen Opern in den letzten Jahren immer wieder auch auf der Bühne zu bestaunen war – zuletzt beim „Liebesverbot“ in Meiningen, das ab 2. Februar 2013 dort wieder dem Spielplan steht.

Dass Hinrich Horstkotte vor den Toren Dresdens, in Radebeul, das „Liebesverbot“ inszenieren darf (Premiere am 8. Dezember 2012), zeichnet nicht nur dieses Mini-Opernhaus aus, sondern ist auch eine schallende Ohrfeige für die keine halbe Stunde Straßenbahnfahrt entfernte Semperoper, der statt des überall gespielten „Tristan“ ein „Rienzi“, uraufgeführt 1842 in Dresden, gut gestanden hätte.

So hebt sich die Essener Philharmonie unter ihrem scheidenden Intendanten Johannes Bultmann aus dem meist überflüssigen Wagner-Gefeiere durchaus mit einem Programm der klügeren Sorte heraus: Unter dem Titel „Tristan Akkord“ rückt Wagners folgenreiches harmonisches Experiment in den Blickpunkt. Der „Tristan-Akkord“ avancierte zum Fanal für den Aufbruch in die musikalische Moderne und hielt Generationen von Musikern in seinem Bann. Wobei die Folge von fünf Sinfoniekonzerten auch die Rolle von Franz Liszt beleuchtet, den man mit Fug und Recht als den kühneren Neuerer bezeichnen darf. Hat er doch schon 1854 in seiner „Faust-Sinfonie“ ein Zwölftonthema verwendet. Aber an Wagner schieden und schärften sich die Geister der kommenden Generationen, und der Akkord aus „Tristan und Isolde“ wurde zur Chiffre für das Neue.

Dieses Neue faltet sich auf bei sonderbaren Hitzköpfen wie Alexander Skrjabin, den das Russische Nationalorchester am 11. November mit seiner Sinfonie „Poème de l’extase“ vorstellen wird. Auch Rachmaninow und Elgar – die beiden anderen Komponisten im Programm – wären ohne Wagner nicht denkbar. Liszt und Skrjabin sind dann die Eckpfeiler einer Klaviermatinee von Evgeny Bozhanov am 14. April. Und am 18. Mai spielt das WDR-Sinfonieorchester Liszts „Faust-Sinfonie“.

Bereits am 6. Oktober ist das hr-Sinfonieorchester zu Gast in der Philharmonie. Auf dem Programm: Arnold Schönbergs „Pelléas et Mélisande“ op.5, 1905 uraufgeführt. Das eher durch seine Verwendung von Leitmotiven mit Wagner korrespondierende Werk ist eine hervorragende Ergänzung zu Claude Debussys Oper „Pelléas et Mélisande“ von 1902, die – leider am gleichen Tag – im Aalto-Theater Premiere hat.

Dass die weit verzweigten Verästelungen des französischen „Wagnérisme“ unbeachtet bleiben; dass von Emmanuel Chabrier bis Vincent d’Indy und Ernest Chausson nichts zu hören ist; dass auch die deutsche musikalische Wagner-Rezeption zwischen kritikloser Imitation und kreativer Transformation durch seinen Sohn Siegfried Wagner unbeleuchtet ist, lässt das Konzept rudimentär bleiben. Für solche konsequente Durchformung eines Programm-Gedankens fehlt dann wohl das Geld und – bei vielen Mainstream-Musikern – auch der Wille.

Den „Tristan-Akkord“ selbst brachte zur Eröffnung der Konzertreihe kein Geringerer als Lorin Maazel zum Klingen: Kaum im Amt als Chefdirigent der Münchner Philharmoniker, kam er mit seinem neuen Orchester, den Münchner Philharmonikern, in den Alfried-Krupp-Saal. Immer wieder war er in Essen gern gesehen: 2005 und 2008 mit dem New York Philharmonic Orchestra, 2010 mit den Wiener Philharmonikern, 2011 mit Mahlers Fünfter und dem Philharmonia Orchestra London. Nach glänzendem Erfolg mit Mahler in München und Bruckner beim Lucerne Festival brachte Maazel nun Schubert, Wagner und Strauss mit – und die Münchner Philharmoniker zu ihrem Debüt in Essen!

Lorin Maazel in der Philharmonie Essen, 16. September 2012. Foto: Philharmonie Essen

Lorin Maazel in der Philharmonie Essen, 16. September 2012. Foto: Philharmonie Essen

Maazel hat viele unvergessliche Abende dirigiert – und auch dieser wird im Gedächtnis bleiben. Allerdings nicht, weil die Interpretation des 82jährigen überzeugt hätte. Denn Maazel scheitert im „Tristan“-Wunschkonzertstück an einem ins schier Endlose gedehnten Tempo; in Strauss‘ „Also sprach Zarathustra“ an seinem Verständnis von „sehr breit“, das er nicht endenwollend dehnt. Als wolle er in die Spuren von Sergiu Celibidache treten, mit dem die Münchner legendär langsame Konzerte spielten, zerstückelt er die Erregungskurve des „Tristan“-Vorspiels in statische Klangfarbinseln, lässt das Orchester auf der Stelle brodeln, nimmt der Musik das Sehrende, Strebende, Sehnsuchtsvolle.

Dafür entdeckt der klarsichtige Analytiker im „Liebestod“ Begleitfiguren, die sonst im Fieber untergehen, als seien sie ein Welt-Ereignis. Und wenn sich die Musik vor dem ekstatischen Höhepunkt endlich in Bewegung setzt, baut Maazel noch schnell ein Ritardando ein und nimmt dem Schwung die Kraft. Immerhin: Der „Tristan-Akkord“ selbst erklingt in sezierter Klarheit, wie man es von Maazel nicht anders erwartet hat.

Lorin Maazel und die Münchener Philharmoniker, Philharmonie Essen, 16. September 2012. Foto: Philharmonie Essen.

Lorin Maazel und die Münchener Philharmoniker, Philharmonie Essen, 16. September 2012. Foto: Philharmonie Essen.

Auch die Fanfare aus Strauss‘ „Also sprach Zarathustra“, vielen bekannt aus Stanley Kubricks Film „2001 – Odyssee im Weltraum“, verliert so ihre Dynamik und ihre rhythmische Schärfe. Die Bläser winden sich auf Schneckenbahnen, die Celli grummeln, bis ein Fagott Erlösung verheißt. Maazel kostet aber auch die phänomenalen Spieleigenschaften der Münchner aus und lässt hören, mit welcher musikalischen Weltklasse er die nächsten drei Jahre zusammenarbeitet.

Schuberts Vierte zu Beginn war zum Glück kein Einspielstück, sondern eine farbige Demonstration, was der 19jährige Komponist von Mozart, Gluck und seinem Lehrer Salieri abgelauscht und in aufkeimender Individualität verarbeitet hat.




Im dunklen Bauch der Sprache: Orffs „Prometheus“ bei der Ruhrtriennale

Selten ist man einer fremden Sprache so ausgesetzt wie an diesem Abend: Vielleicht kennen einige das Gefühl, wie schwierig es auf Reisen sein kann, sich in einem unbekannten Zeichensystem zurechtzufinden. Doch die Erfahrung, im dunklen Bauch einer ehemaligen Industriehalle zu sitzen und zwei Stunden mit der fremdartigen Melodie des Altgriechischen von Carl Orffs „Prometheus“ konfrontiert zu werden, ist relativ einzigartig. Die Ruhrtriennale ermöglicht den eigentümlichen Selbstversuch noch bis zum 27. September in der Kraftzentrale des Landschaftsparks Duisburg Nord.

Carl Orff/Lemi Ponifasio: Prometheus © Paul Leclaire

Carl Orff/Lemi Ponifasio: Prometheus © Paul Leclaire

Doch wie geht man nun damit um? Abwehr ist kein probates Mittel, denn wer ohne die Bedeutung der Worte zu verstehen nicht leben kann, der wird sich langweilen. Eher empfiehlt es sich, zumal vom Komponisten so intendiert, die Sprache als eine Art Musik, als rhythmisches Element auf sich wirken zu lassen. Denn tatsächlich entfaltet sie gerade im Zusammenspiel mit Orffs wuchtiger Musik (Musikalische Leitung: Peter Rundel) eine vibrierende Kraft und transportiert all die archaischen Emotionen wie Wut, Hass, Grausamkeit und Schmerz in einer stilisierten Form.

Überhaupt zeichnet sich die Inszenierung des samoaischen Regisseurs Lemi Ponifasio durch hohes Stilbewusstsein aus: Der Boden ist mit indirekt beleuchteten Glasplatten ausgelegt unter denen grünlich das Wasser schimmert. Der gewaltige Raum der Kraftzentrale wird bis zur hintersten Wand bespielt, so dass die Tänzer der MAU Company aus Neuseeland dort hinten verschwindend klein erscheinen. Prometheus selbst (Wolfgang Newerla) ist mitnichten an einen Felsen gefesselt: Er sitzt im Vordergrund auf einer schlichten Holzbank und deklamiert während sein Alter Ego (Ioanne Papalii/MAU) in der Mitte des Raumes auf einer Art beleuchtetem Operationstisch der Qualen harrt, die da kommen mögen. Das weitere Personal von Hephaistos bis Hermes ist in martialische dunkle Kostüme geschnürt, die Frauen wirken wie Amazonen. Die Okeaniden tragen hellblonde Perücken und durchsichtige Gewänder und sind die nahezu einzigen, die wirklich singen dürfen.

Die eigentümlich stillen Tänze der MAU Company tragen leise Gesten in den von lauten Tönen wiederhallenden Saal, meist bleibt der Blick an ihren bloßen Füßen hängen, auf denen sie über das Glas mehr schleichen als gehen.

Das nimmt sich so ganz anders aus als bei der Uraufführung des Orffschen Werks 1968, von der der Kritiker Werner Oehlmann seinerzeit im Tagesspiegel schrieb: „Der Regisseur Gustav Rudolf Sellner und der Bühnenbildner Teo Otto überrennen den Zuschauer geradezu mit einer Fülle vitalen Theaters, mit einem Überfluss an Formen und Farben, Kostümen und Masken“. Hier dagegen: Kein Hephaistos, der Ketten schmiedet und Keile durch Prometheus Brust treibt. Keine Flügelrösser, nirgends. Stattdessen gibt es kaum Interaktion zwischen den Figuren, sie deklamieren den Text, aber sie beziehen sich nicht aufeinander. Doch hier geht es auch nicht um Menschen, sondern um Götter. Trotzdem: Der Freiheitskampf des Prometheus, der den Menschen das Feuer brachte und nun von Zeus dafür bestraft werden soll, sein Aufbegehren, sein Stolz, seine Unbeugsamkeit und auch seine Siegesgewissheit, dass er eines Tages von seinen Qualen gerettet werde: Für all das hat Wolfgang Newerla nur ein Ausdrucksmittel zur Verfügung: Altgriechisch! Verdammt dazu, auf seiner Bank zu sitzen, kann er sich nur ab und zu die Kehle befeuchten, was aussieht, als trinke er einen – Ouzo…

Das dramatische Element dagegen übernehmen Raum, Licht, Musik und die Füße der Tänzer. Und ein Publikum, von dem Hingabe gefordert ist. Gewähren wir die Gnade? Das muss jeder selbst entscheiden…

18., 21., 23., 25. und 27. September
Kraftzentrale, Landschaftspark Duisburg-Nord
www.ruhrtriennale.de




Wir sind alle Kafka: Saisonauftakt im Düsseldorfer Schauspielhaus

70 „Kafka“-Figuren im charakteristischen schwarzen Anzug, Hut und Mantel strömen aus den ersten Sitzreihen des Zuschauerraums auf die Bühne und nehmen an der Rampe Aufstellung. Unter ihnen Josef K. „Ich bin Josef K., Prokurist“, sagt er – diesen Satz wird man in den nächsten drei Stunden noch öfter von ihm hören. Denn viel mehr weiß er nicht über sein Leben…

Zum Auftakt der Saison zeigt das Düsseldorfer Schauspielhaus eine Adaption von Kafkas Romanfragment „Der Prozess“ in der Inszenierung des russischen Regisseurs Andrej Mogutschi, der sich offenbar in Dreh- und Hebebühne verliebt hat. In einem wilden Reigen wirbeln die Kafka-Statisten (im Programmheft ausgewiesen als Chor) herum, fahren hinauf und hinab, wobei Josef K. (weltentrückt gespielt von Carl Alm) gleichzeitig noch das Kunststück zu bewältigen hat, sich mehrmals umzukleiden. Das erzeugt Stress, das erzeugt Zeitdruck. „Zu spät“, ruft Josef K., „ich komme zu spät.“ Das stimmt: Denn seine Verhaftung ist schon erfolgt, die Gerichtsbarkeit hat ihn in den Klauen. Doch was ihm vorgeworfen wird, weiß er nicht.

Dafür finden Mogutschi und seine Bühnenbildnerin Maria Tregubova seltsame, beinahe surrealistische Bilder: Auf schiefer Ebene ist Josef K.s Kammer mit in den Proportionen verzerrtem Mobiliar aufgebaut, es könnte auch das Zimmer von Gregor Samsa sein. Verzweifelt klammern sich die Schauspieler an die spärlichen Möbel, doch es hilft nichts: Sie stürzen buchstäblich in den Abgrund. In einer anderen Szene sitzt Josef K. leblos, gestützt von seinen Wächtern (Moritz Löwe und Jonas Anders), in einem schwarzen Oldtimer, die Statisten streuen rote Rosen und unversehens wird die Szenerie zum Leichenzug. Am Bühnenhimmel hängen Wattewölkchen und zum Advokaten (Sven Walser) rudert man im weißen Bötchen durch im Raum schwebende Türen. Die Musik (Alexander Monotskov) verstärkt die varietéhafte Anmutung des Ganzen. So bebildert die Inszenierung zwar ausführlich, manchmal witzig und leider auch etwas langatmig den Alptraum, in dem sich Josef K. befindet. Doch ihr Zentrum findet sie nicht. Sie kreiert eher ein Kafka-Abziehbild.

„Zum letztenmal Psychologie“ skandiert der Chor, obwohl am ehesten noch eine psychologische Deutung angeboten wird: Besteht Josef Ks. Schuld etwa in uneingestandener sexueller Begierde? Der nackte Advokat und seine Gespielin Leni (Betty Freudenberg) im monströsen Ganzkörpernacktanzug sowie die hohen Herren der Gerichtsbarkeit allesamt unten ohne sprächen dafür. Ebenso Fräulein Bürstners (Patrizia Wapinska) durcheinandergewirbelte Blusen. Doch nimmt man dem somnabulen Josef K. den Tausendsassa gar nicht ab. Soll er etwa das Riesenbaby gezeugt haben, das plötzlich über die Bühne geistert? Am Ende gar mit seiner Mutter?

Antworten gibt es naturgemäß nicht. Im Grunde ist Josef K. gesamtes Leben ein Prozess, den er nicht gewinnen kann, denn der unglückliche Ausgang ist vorprogrammiert. Da kann er sich noch so viele Advokaten auf dieser Lebensreise nehmen, irgendwann endet sie. In diesem Sinne sind wir wohl alle ein bisschen Kafka.

„Der Prozess“ nach Franz Kafka
Karten und Termine: www.duesseldorfer-schauspielhaus.de




Ahnung und Geheimnis: Franz Schrekers „Der Schatzgräber“ in Amsterdam

Den großen Schatz, des Lebens Hort, alles Sehnens Ziel: Elis, der Schatzgräber, grüb‘ ihn gern. Doch: Was dieser Schatz auch sei, Franz Schreker lässt den Zuschauer seiner Oper mit dem Rätselwort allein. Ein typischer Zug der Zeit und seiner selbst geschriebenen Libretti: Der Komponist, der zwischen 1915 und 1933 zu den Stars des deutschen Musiktheaters gehörte, hüllt seine Sujets gerne in Ahnungen, gibt dem deutenden Geist Raum, lädt dazu ein, ihnen ihr Geheimnis zu entreißen. Wer es zu greifbar zu erklären strebt, bleibt im Geflecht der Symbole, der Traumbilder, der raunenden Andeutungen hängen.

Ob „Der singende Teufel“ oder „Irrelohe“, ob „Der ferne Klang“ oder „Die Gezeichneten“: Franz Schrekers Werke fordern den beherzten Interpreten. John Dew war das in seinen guten Jahren in Bielefeld; Hans Neuenfels hat mit „Die Gezeichneten“ in Frankfurt vor dreißig Jahren ein Schlüsselwerk der immer wieder stockenden Schreker-Wiederentdeckung geschaffen. Andere folgten, so Martin Kušej 2002 mit den Stuttgarter „Gezeichneten“, aber auch Klaus Weise in Bonn mit „Irrelohe“. Jetzt hat sich Ivo van Hove in Amsterdam an „Der Schatzgräber“ gemacht und ist mit seinem Team – Jan Versweyveld (Bühne und Licht), An D’Huys (Kostüme) und Tal Yarden (Video) aufrichtig gescheitert.

Van Hove ortet Schrekers 1920 uraufgeführte Oper im künstlichen Realismus eines Raumes, der Märchenbuch-Skizze oder minimalistische Filmkulisse sein könnte: Ein Dreieck aus Holz öffnet sich in weitem Winkel zum Zuschauer hin. Die beiden Schenkel tragen je eine hausförmige Öffnung, durch die sich Schauplätze wie Puppenhäuser schieben: Kneipe, Hütte, Todeskammer, Tribüne, Palast. Stets bleibt das „Spiel“ bewusst; Illusion soll nicht keimen.

"Der Schatzgräber" in Amsterdam: Szenenbild. Foto: Monika Rittershaus

"Der Schatzgräber" in Amsterdam: Szenenbild. Foto: Monika Rittershaus

Aber die feine Balance zwischen der nacherzählten Handlung und einem der Realität entschwebenden, halb träumerischen, halb symbolischen Spiel gerät immer wieder aus dem Gleichgewicht: Dann kommen die Szenen daher wie handwerklich routiniert am Libretto entlang inszeniert. Und der hybride Realismus der Bühne erweist sich als Falle, aus der auch die Videos keinen Ausweg bieten. Ihre „Herr der Ringe“ – Ästhetik, vermischt mit explodierendem kosmischem Farbennebel und softig beleuchteter nackter Haut, funktioniert anders als im Kino in der Oper nur schwer: Die Träume der Hauptfigur Els, einer Mischung aus traumatisiertem Missbrauchsopfer, männermordenden Besessenen, jugendstilhaftem Symbolweib und wagnerischer Erlösungs- und Liebesikone sind zu konkret: Man könnte meinen, es gehe um guten Sex und glückliche Familie.

Videos in "Herr-der-Ringe-Ästhetik": Schrekers "Schatzgräber" in Amsterdam. Foto: Monika Rittershaus

Videos in "Herr-der-Ringe-Ästhetik": Schrekers "Schatzgräber" in Amsterdam. Foto: Monika Rittershaus

Unter all den zauseligen gesellschaftlich Gestrandeten und eleganten Anzugträgern, mit denen Hove das Schreker’sche Figurenkabinett bevölkert, gelingen jedoch beeindruckende Einzelstudien: Graham Clark verkörpert mit seinem nach wie vor unverwechselbar schneidenden Charaktertenor den Narren als hinkenden alten Mann mit Witz und Wehmut. Wund vom Leben hat er sich längst der Gesellschaft bei Hofe entfremdet. Er weiß, dass ihm die Liebe versagt ist, gewinnt aber aus Erkenntnis Stärke. Er scheint die Fäden, wenn auch nicht zu ziehen, doch zu kennen: ein „Loge“ des Symbolismus.

Manuela Uhl als Els in Schrekers "Der Schatzgräber". Foto: Monika Rittershaus

Manuela Uhl als Els in Schrekers "Der Schatzgräber". Foto: Monika Rittershaus

Manuela Uhl hat die Figur, die weibliche Attraktion und die Spiel-Erfahrung, um die Els glaubhaft zu verkörpern. Das Vibrato ihres Soprans schlägt diesmal weniger schwer als sonst, die Höhe gleißt, das Zentrum strahlt klangsatt, die Artikulation bleibt immerhin nicht ständig auf der Strecke. Für die Sängerin ein starker Abend. Raymond Very kommt mit der kraftraubenden Partie des Elis stimmlich zurecht; könnte aber eine Szene wie die Liebesnacht differenzierter gestalten statt stämmig durchzustehen. Er hat glückliche Momente, aber auch manchen „Durchhänger“, der wohl auch der unentschiedenen Regie zuzuschreiben ist. Andere Darsteller sind herausgefordert, in kurzen, manchmal nur episodischen Momenten alles zu geben, etwa Gordon Gietz als Albi oder Andrew Greenan als Wirt. Nur Tijl Faveyts als König und Kay Stiefermann – der Wuppertaler „Holländer der vergangenen Spielzeit – als Vogt haben etwas mehr Raum, Charakter zu entwickeln.

Im Orchestergraben lässt Marc Albrecht Schrekers magische Klänge glitzern und gleißen. Er betont den schwankenden Boden einer aufgelösten Tonalität, indem er Reibungen ausmodelliert, die irisierenden Harmonien leuchten lässt. Das Nederlands Philharmonisch Orkest folgt seinen Impulsen en détail, mit Finesse in den dynamischen Valeurs und, wo gefordert, in der weit ausholenden Phrasierung ebenso wie im ziselierten solistischen Engagement. Alan Woodbridges Chor steht dem nicht nach: Musikalisch ein durch und durch überzeugender Schreker!




Festspiel-Passagen III: Liebe in Zeiten der Datenströme

Jan Philipp Gloger ist 31 und damit aus einer Generation, die mit Matrix, Modem und Microsoft aufgewachsen ist. Er war noch ein Kind, als die alten Blöcke des Kalten Krieges von den neuen Fronten der Globalisierung und des Neoliberalismus abgelöst wurden. Die Welt, die ihm sein Bühnenbildner Christof Hetzer für den „Fliegenden Holländer“ auf der Bayreuther Festspielbühne gestaltet, ist die Welt dieser Kinder. Ein magisch flackerndes Gefängnis, gebildet aus Prozessoren und Platinen, Lichtbändern und Zählwerken. Winzig klein sitzen zwischen den energetischen Entladungen Menschlein in einem anachronistischen Holzboot: Daland und der Steuermann, autoritärer Chef und beflissener Angestellter. Sie sind beide so cool. Aber wenn sich Herr Daland unbeobachtet fühlt, schnupft er eine Prise Koks, und fühlt sich ertappt, wenn jemand guckt.

Gestrandet im Meer der Daten: Daland (Franz-Josef Selig, rechts) und der Steuermann (Benjamin Bruns). Foto: Enrico Nawrath

Gestrandet im Meer der Daten: Daland (Franz-Josef Selig, rechts) und der Steuermann (Benjamin Bruns). Foto: Enrico Nawrath

Gloger will, das macht das Einstiegsbild des „Fliegenden Holländer“ deutlich, Wagners Geschichte einer utopischen, einer „wahren“ Liebe in der Welt der vom Zeitgeist Getriebenen erzählen. Ihr Horizont ist die Vernetzung, die scheinbar Alle mit Allen verbindet. Aber dieses Netzwerks der Produzierenden und Kommunizierenden macht unendlich einsam: Der Holländer, der zwischen dem Datenblinken auftaucht, hat mit dem Rollkoffer und dem Kaffee-Pappbecher die Embleme des global ökonomisch getriebenen Ahasvers von heute bei sich.

Ein weiteres Prinzip, das sich der aus Hagen stammende Regisseur als Deutungsmuster zu eigen macht, ist das der Verkleinerung: In dieser Welt wird auf verwertbares Format heruntertransponiert. Der Sturm wird zum domestizierten Strom frischer Luft aus dem Ventilator, der in Dalands Produktionsstätte hergestellt wird: Summ und brumm, du Rädchen … Reduziert wird auch die Liebe: Der Holländer fragt in seinem Monolog nach dem gepries‘nen Engel Gottes, der seines Heils Bedingung ihm gewann. Die Antwort gibt eine Kaffee-Mamsell mit lasziver Bewegung: konsumierbarer Sex, ökonomisch relevante Gefühlsprodukte. Der Steuermann hält sich gleich an dem fest, was man greifen kann: Der Geldkoffer liegt in seinen Armen.

Mit dem Zuschnitt auf das, was man „in Zahlen darstellen kann“ – ein Lieblingskriterium von Unternehmensberatern und Controllern – endet Glogers Geschichte auch: Der Steuermann fotografiert mit seinem Handy die Vereinigung von Senta und Holländer im Tode – und zur nachkomponierten Verklärungsmusik Wagners verpacken eifrige Arbeiterinnen das neue Produkt: Kitschfiguren des Paares, von innen zu beleuchten. Der heftig ausgebuhte Coup der Inszenierung erfasst sehr genau die ökonomische Banalisierung großen Ideen und geistiger Entwürfe. Die „wahre Liebe“ Wagners, eine transzendentaler Begriff, kommt in solch schlichtem Materialismus nur als herziger Abklatsch vor.

Der Wagner’sche Liebesbegriff ist in den letzten Jahrzehnten in der Inszenierungsgeschichte des „Fliegenden Holländers“ oft genug reduziert, korrumpiert oder desavouiert worden. Zu erinnern ist an Harry Kupfers grandiose Bayreuther Deutung von 1978, der das Transzendierende in Wagners „Holländer“ aus einem materialistischen Ansatz konsequent als Wahn zu entlarven versuchte. Es gab psychologisierende Deutungen in jeder Spielart; in jüngerer Zeit wuchs die Sensibilität für das mythische Potenzial der Oper.

Pietá: Symbol für Wagners "wahre Liebe". Adrienne Pieczonka als Senta und Samuel oun als Holländer. Foto: Enrico Nawrath

Pietá: Symbol für Wagners "wahre Liebe". Adrienne Pieczonka als Senta und Samuel Youn als Holländer. Foto: Enrico Nawrath

Udo Bermbach zitiert im Programmheft des Bayreuther „Holländers“ nicht umsonst Max Horkheimer, der für die Bestimmung der „wahren Liebe“ ihre Richtung auf ein „künftiges glückliches Leben aller Menschen“ für unverzichtbar gehalten hat. Ein Ziel, das nur als Utopie oder in religiös begründeter Perspektive gedacht werden kann.

Gloger zeigt in seiner Inszenierung nun keine Offenbarung, aber er lässt seine Deutung auf eine solche hin offen. Das Romantisch-Übersinnliche, für das der Holländer steht, löst weder Widerstand noch Erschrecken aus; es hat in dieser Welt einfach keinen Platz. Wo es auftaucht – etwa durch die Mannen des Holländers in der Chorszene des dritten Aufzugs – wird es einfach absorbiert. Doch Senta, das „Kind“, das „nicht weiß, was es singt“, erschafft sich eine Welt, gibt ihrem Suchen eine Richtung, die sie mit der Sehnsucht des Holländers „nach dem Heil“ verbindet.

Haus, Schiff und Himmel bildet sie nach. Eine Puppe aus Pappe steht auf der Höhe des Hügels aus Schachteln, den sie sich als Flucht- und Rückzugsort errichtet hat. Genau an dieser Stelle erscheint der Holländer in Dalands Haus, eine Verkörperung dessen, was Senta sich in ihrem Inneren erträumt. Solche Momente der Inszenierung stellt Gloger ziemlich lapidar und kaum erläutert auf die Bühne – vielleicht die größte Schwäche der Produktion, die gerade in den intimen Szenen zwischen Senta und dem Mann ihrer Ideale zugespitzter interpretieren müsste. Aber um an solchen Momenten weiterzuarbeiten, ist Bayreuth ja eine „Werkstatt“.

Mit dem Dirigenten der einzigen Premiere dieser Festspiel-Saison am Grünen Hügel, Christian Thielemann, war sich Gloger einig, nicht auf die derzeit beliebte „Urfassung“ des „Holländers“ zuzugreifen, sondern den nachkomponierten „Erlösungsschluss“ als weitergehenden Willen Wagners zu akzeptieren und szenisch zu integrieren. Wenn sich Senta am Ende mit selbstgebastelten Papp-Engelsflügelchen zu ihrem Holländer auf die Sehnsuchts-Burg flüchtet und zum harfenlichtdurchfluteten Pathos des Finales die Plastikfigürchen verpackt werden, könnte dieser Moment als rabenschwarzer Kommentar zu Wagners scheinbar irrealem, psychologisch verstiegenem Konzept gesehen werden. Doch dem steht die Musik im Wege: Thielemann lässt sie in solchem Ernst, solch brennender Identifikation aufleuchten, dass sie einen unüberwindlichen Kontrapunkt zum Zynismus der Szene setzt: Klingende Hoffnung, Rettung der Wahrheit und ungebrochene Hoffnung auf die verwandelnde Kraft der Liebe.

Thielemann hat sich des „Holländers“ in einem höchst ästhetischen Orchesterklang angenommen, ist aber nicht immer in der Tiefe angekommen. In der Ouvertüre bricht er in Sentas Balladenmotiv den Bogen und radikalisiert die Punktierungen zum dezidierten Non-Legato. „Schöne Stellen“ kostet er wieder einmal bis zur Grenze des Zerfallens aus. Oft achtet er mehr auf die Brillanz der Melodiestimmen als wichtige Farben aus der Tiefe der Partitur zu heben und zu gewichten. Das ist schwelgerisch musiziert und – die Ovationen beweisen es – höchst publikumswirksam. Aber hinter der Glätte ist es schwer, Abgründe zu orten.

Adrianne Pieczonka als Senta. Foto: Enrico Nawrath

Adrianne Pieczonka als Senta. Foto: Enrico Nawrath

Unter den Sängern überzeugen alleine der schönstimmige und sichere Steuermann von Benjamin Bruns und die Senta Adrianne Pieczonkas. Ihr gelingen balsamische Piani, aber auch die aufflammende Leidenschaft und der zu allem entschlossene Furor des Finales. Dass sie nicht alle Töne konstant durchstützt, macht ihr bei manchen, von Thielemann noch verlangsamten Bögen Probleme. Aber als lyrisch grundierte Senta mit der nötigen Expansionskraft und stimmlich abgesicherter Farbpalette ist Pieczonka ihren Vorgängerinnen seit den achtziger Jahren überlegen.

Der Sänger des Titelhelden, Evgeny Nikitin, musste wegen seiner unglücklichen Tattoo-Affäre weichen. Sein Cover Samuel Youn, in Köln engagiert und dort auch als „Holländer“ erfolgreich gewesen, schlug sich tapfer. Er beginnt mit entspannter Tiefe, doch die Stimme verkrallt sich, je höher sie steigt, immer heftiger in einer klanglich limitierten Position, wird fest und unflexibel. Dann verliert der Sänger auch die Freiheit, verständlich zu artikulieren. Die hat Michael König als Erik: Als Hausmeister im grauen Kittel versucht er vergeblich, seinen braven, ambitionslosen Liebes-Begriff der zum Höchsten gestimmten Senta zu erklären. Dennoch könnte das alles freier, unverfärbter und mit Schmelz gesungen sein; schließlich sind Eriks Gefühle ja aufrecht und lauter.

Franz-Josef Selig, bis 1995 am Aalto-Theater Essen, singt den Daland. Foto: Enrico Nawrath

Franz-Josef Selig, bis 1995 am Aalto-Theater Essen, singt den Daland. Foto: Enrico Nawrath

Franz-Josef Selig, von 1989 bis 1995 im Ensemble des Essener Aalto-Theaters, ist einer jener kraftvollen, aber wüst orgendeln Bässe, die für einen noch nie überzeugenden Wagner-Stil stehen. Und Christa Mayer hinterlässt als Mary stimmlich wenig Eindruck. Wie immer eine sichere Bank: Der Chor der Bayreuther Festspiele hat unter Eberhard Friedrich Glanz, Wucht und Präzision wie eh und je. Obwohl die Regie-Sensation, die sich viele Beobachter erwarten, am Grünen Hügel diesmal ausgeblieben ist, kann sich Glogers ausgewogene Arbeit behaupten; neben Herheims überbordenden „Parsifal“-Assoziationen, Hans Neuenfels‘ „Lohengrin“-Zuspitzungen und Sebastian Baumgartens überkandidelter Installations-Belebung im „Tannhäuser“ hat sie als solide erarbeitetes Musiktheater durchaus ihre Chance.




Grandiose Deutung: „Don Giovanni“ an der Rheinoper

Wer – oder was – ist Don Juan? Die Frage hat die geistige Welt schon umgetrieben, als Tirso de Molina sein barockes Spiel vom bestraften Wüstling verfasst und auf die Bühne gestellt hat. Seither hat Don Juan eine Weltkarriere gemacht: Es gibt tausende von literarischen Werken, Dutzende von Opern und hunderte von Büchern über die Gestalt, deren historisches Werden ebenso im Dunkel liegt wie die inneren Schichten seiner Seele.

Spätestens seit Wolfgang Amadé Mozart, seit E.T.A. Hoffmann und Søren Kierkegaard ist der Don-Juan-Stoff mit Musik verbunden. Don Giovanni ist ein idealer Opernheld, denn seine Uneindeutigkeit und sein wesenloses Sein, seine symbolische Kraft und seine sinnliche Existenz lassen sich in und mit Musik – zumal, wenn ein Mozart am Werke ist – am sinnenfälligsten einkreisen. Kein Wunder also, dass sich die geistige Auseinandersetzung mit dem unsterblichen Mythos Don Juan immer wieder an Mozarts und da Pontes Oper entzündet und zu ihr zurückführt.

Kein Wunder auch, dass die Welt der Oper nicht müde wird, die Geschichte von dem Mann mit den tausendunddrei spanischen Geliebten in immer neuen Inszenierungen auf seine Relevanz für das Heute zu befragen. Das geschieht nicht selten in ratlos erzählender Kapitulation vor dem gewaltigen Stoff, nicht selten auch in hysterischer, fundamentloser Zuspitzung, hin und wieder – wie jetzt in Duisburg – aber auch in einer grandios gekonnten, auf der Grenze zum Abgründigen balancierenden Deutung.

Dabei muss man Karoline Grubers gedanklichen Ansätzen nicht in allem folgen: Don Giovanni ist nämlich keineswegs, wie die Regisseurin im Interview des Programmhefts meint, ein Prinzip der Freiheit, sondern eher das Gegenteil. Er ist – zumindest bei Mozart – kein Träger einer lustvoll-erotischen Anarchie, die den moralischen oder kirchlichen Autoritäten so lange amüsante Schnippchen schlägt, bis ihn endlich der Teufel (oder bloß die Theater-Hölle) holt. Dazu finden wir in der Oper zu viele Personen, die an Don Giovanni einfach nur leiden. Aber die Regisseurin, die der Deutschen Oper am Rhein endlich einmal einen klugen und eminent theatralischen Don Giovanni geschenkt hat, weist in ihrer Durchdringung des Mythos auf eines der entscheidenden Elemente hin: Don Giovanni ist Träger einer unbedingten erotischen Energie. Sie setzt in allen Menschen, die mit ihr in Kontakt kommen, unwiderstehliche, anarchische Kräfte frei.

Ihr bisheriges Dasein zwischen den Polen einer beherrschten, gesellschaftlich eingebundenen Sexualität und den von sozialer Zuordnung und moralischen Prinzipien geregelten Lebensformen wird gesprengt. Die Wucht ist ungeheuer und entwurzelt die Menschen: Donna Anna wird von der dunklen erotischen Kraft Giovannis auf ewig verwundet und zu einer „geregelten“ Liebesbeziehung nicht mehr fähig sein; Donna Elvira wird ihren heroischen Kampf, der Existenz Don Giovannis humane Züge zu geben, im Kloster beenden, sich also von der Welt ab und Gott zuwenden. Zerlina und Masetto werden vielleicht äußerlich unversehrt, aber innerlich gebrochen in ihr Bauern-Dasein zurückkehren. Und für Don Ottavio gilt: Wie er war zu aller Zeit, so bleibt er in Ewigkeit; eine Figur, die sich jedem Wandel in unerschütterlicher Resistenz entzieht. Ein starres Gegenbild zu Don Giovannis ewig geschmeidiger Wendigkeit, das ebenso erschreckende Züge trägt.

Gruber realisiert das magnetische Prinzip von Anziehung und Abstoßung in einem Bühnenbild von Roy Spahn, das sich konsequent durchgeformt jedem opulenten Dekorationswillen entzieht. Arnold Böcklins Bild „Odysseus und Kalypso“ als – immer wiederkehrendes – Element signalisiert, dass mythische Bezüge und seelische Abgründe in dieser Inszenierung ihren Platz finden. Hinter Türen, die an Blaubarts Kammern erinnern, hausen Gespenster: weiße Frauen, bleiche Bräute, von Don Giovanni ihres Lebens beraubt – ein kluger Hinweis auf die Verschränkung von Sex, Tod und Teufel, wie wir sie etwa in Heinrich Marschners „Der Vampyr“, einer Schlüsseloper der Romantik, wiederfinden.

Unverzichtbar für Grubers tiefgründige Arbeit am „Don Giovanni“ erweisen sich die bedeutungsvollen Kostüme Mechthild Seipels. Endlich einmal keine Kostümbildnerin, die sich in Designer-Klamotten oder Disco-Fetzchen flüchtet, sondern Epochen und Stile in den Dienst einer Deutung stellt. Donna Annas Robe erinnert an Madame Bovary oder Anna Karenina; Donna Elvira trägt den – stellenweise anzüglich geschürzten – barocken Aufwand einer Heroine zur Schau; Don Ottavio tritt in blauem Morgenmantel als getreue Kopie des ermordeten Komturs, später mit dem unauffälligen Anzug der Arrivierten und der Mütze einer Burschenschaft auf. Leporello verweist mit zerbrochenen Handschellen auf eine spezielle Beziehung zu seinem Herrn; Masetto und Zerlina sind in der Gegenwart verortet: Sommerkleidchen und Handtasche, Hornbrille und Karo-Pullover. Vielsagende Kostüme also, die mit der Dynamik oder Statik der Figuren im Verlauf des Stücks korrespondieren.

Dass der Komtur am Ende mit einer angedeuteten Mitra und einer monströs verunstalteten Gesichtshälfte wiederkehrt, wird der Figur gerecht: Er ist Vertreter der Hölle ebenso wie Symbolfigur für die göttliche Ordnung der Welt. Dass der finale Übergriff Don Giovannis – die Herausforderung des Göttlichen – seinen Untergang auslöst, spielt in Grubers Lesart freilich kaum eine Rolle; der blasphemische Zug der Figur Don Giovannis wird nur einmal in einer Parodie des geneigten Hauptes Jesu am Kreuz angedeutet.

Gruber zeigt die Personen des Stücks im Bannkreis eines Don Giovanni, der seinerseits seltsam ungreifbar bleibt – und damit bildet die Regisseurin den Charakter des Bühnenhelden präzis ab. Mozart hat ihm keine selbstreflektierende Musik gegeben, nur einen musikalischen Rausch, ein „perpetuum mobile“, und ein verlogenes Ständchen. Zutreffend beschreibt Dramaturg Alexander Meier-Dörzenbach im lesenswerten Programmheft Don Giovanni als „seelisches Sinnbild“, das vor allem ex negativo in den anderen Figuren zu finden ist. Don Giovanni als Nicht-Existenz, als Kraftfeld, als Chimäre – die perfekte Chiffre des Bösen.

Auf diesen „Don Giovanni“ sich einzulassen, lohnt sich; er ist auch der verästelten Inszenierung Stefan Herheims in Essen überlegen, weil Karoline Gruber die Bild- und Bewegungswelt bündelt statt sie assoziativ schweifen zu lassen. Auch musikalisch beschert diese – für die Nikikai Opera Foundation in Tokio entstandene und an die Deutsche Oper übernommene – Produktion viel Mozart-Glück. Friedemann Layer, ans Pult der Duisburger Philharmoniker zurückgekehrt, durchschwimmt zwar das Adagio der Ouvertüre eher, bekommt aber schnell Boden unter die Füße und entfaltet einen kernigen, nervigen, klarsichtigen Mozart-Sound. Die Tempi sind nicht übertrieben; das Cello lässt in der Begleitung der Rezitative aparte Farben zu.

In der Sängerliste überwiegen Namen aus dem Osten; entsprechend hört man eine gesangliche Stilistik, die mit Mozarts Eleganz wenig anzufangen weiß. Roman Polisadov orgelt sich durch die paar Sätze des Komturs; Olesya Golovneva bringt zwar die dramatische Substanz für die Donna Anna mit, findet aber erst in der – dann aber meisterlich gestalteten – Arie „Non mi dir, bell‘ idol mio“ zu ausgeglichenem Singen und einer flüssigen Tonproduktion. Nataliya Kovalova müht sich mit flach hupenden Tönen um die Donna Elvira, ohne für eine ihrer Arien die technische Façon zu gewinnen. Alma Sadé treibt zwar den einen oder anderen Ton ohne Leichtigkeit in die Höhe, versteht sich aber auf gut phrasiertes Singen mit unverkrampften Linien. Darin tut es ihr Torben Jürgens als Masetto gleich: ein musikalisch erfreuliches Paar. Corby Welch scheint nicht seinen besten Abend gehabt zu haben; sein Tenor ist zwar präsent und treffend timbriert, bleibt aber seltsam schwammig in der Tonemission, als fehle ihm die rechte Fokussierung.

Laimonas Pautienius verfügt über einen flexiblen Bariton, fast immer leicht ansprechend und schlank geführt, beweglich im Rezitativ: ein überzeugender Don Giovanni, der die Farben der Ironie und der Willensstärke ebenso hat wie einen träumerischen voix mixte – Klang für das Ständchen („Deh, vieni alla finestra“). Nur in seiner Arie kommt er an die Grenze seines Atems. Den vokalen Glanzpunkt des Abends setzt Adam Palka als Leporello mit einer sicher positionierten, im Klang fülligen, konturscharfen Stimme, die nicht nur sauber artikulierend, sondern auch rhetorisch brillant und charakterisierend eingesetzt wird.

Der „Don Giovanni“ ist wieder ab 7. Dezember in Düsseldorf zu erleben. Hingehen!




Wahl-Düsseldorfer Bildhauer Imi Knoebel ausgezeichnet

Der deutsche Maler und Bildhauer Imi Knoebel wird mit dem Kythera-Preis der gleichnamigen Kulturstiftung unter dem Vorsitz ihrer Gründerin Gabriele Henkel ausgezeichnet. „Es käme Verkennung gleich, in den Arbeiten Knoebels das formal Unbeschwerte, ein reines Spiel der Flächen, Figuren und Formen oder gar das Dekorative und ästhetisch Unverbindliche absolut zu setzen“, so die Jury. Sie hebt insbesondere seine für die Kathedrale von Reims entworfenen sechs Fenster hervor, die 2011 fertig gestellt wurden und sich in der Nord- und Südkapelle seitlich des 1974 geschaffenen Chagall-Fensters befinden. Mit Knoebel wird erstmals ein bildender Künstler ausgezeichnet, der in direktem Bezug mit dem Stiftungsort Düsseldorf steht.

Die in Düsseldorf ansässige Kythera-Kulturstiftung wurde 2001 gegründet und würdigt mit ihrem Preis Künstler, die einen Beitrag zur Vermittlung der romanischen Kultur in Deutschland und umgekehrt geleistet haben. Die Auszeichnung ist mit 25.000 Euro dotiert. Geehrt wurden bisher unter anderem der Architekt Renzo Piano, die Kunsthistorikerin Sylvia Ferino und zuletzt der Grafikdesigner, Verleger und Kunstsammler Franco Maria Ricci.

Imi Knoebel, der eigentlich Klaus Wolf Knoebel heißt, stammt aus Dessau. 1964 kam er an die Düsseldorfer Kunstakademie. Zunächst in der Gebrauchsgrafik-Klasse von Walter Breker, wechselte er 1965 zu Joseph Beuys, wo er und sein Künstlerfreund Rainer Giese im legendären Raum 19 u.a. auf Jörg Immendorff und Blinky Palermo trafen. Knobel wurde seit 1972 mehrfach zur „documenta“ nach Kassel sowie zu Ausstellungen und Werkschauen u.a. nach Leipzig, Amsterdam, Rom und Valencia, nach Sao Paulo, San Francisco und New York geladen. Er wird den Preis am Mittwoch, 23. Mai, in K21 in seiner Wahlheimat Düsseldorf entgegennehmen.

(Mit freundlicher Genehmigung von http://www.kunstmarkt.com)




Essen und gegessen werden

Das Verfahren hat sich bewährt: Man nehme einen ortsspezifischen Ort und rufe Kunstschaffende zur Einreichung ortspezifischer Werke auf. Dem Ort tut das gut, weil er in der Regel nicht gerade im Brennpunkt öffentlichen Interesses steht. Vielmehr gilt häufig das Prinzip „bring in the Clowns.“ Mit andern Worten: Wenn die Abrissbirne bereits Anlauf nimmt, holt die Künstler! So kommt man nochmal in die Zeitung und wird vieler schöner Synergieeffekte teilhaftig.

Den KünstlerInnen tut das auch gut, weil die Aufforderung zur Reaktion auf ungewohnte Gegebenheiten entweder zur Erweiterung des eigenen Aktionsradius verleitet, oder aber Gelegenheit bietet, bestehende Arbeiten umzuetikettieren – will sagen: „einer Revision zu unterziehen“.

Türsteher mit Wutzn, Foto CL

Türsteher mit Wutzn, Foto CL

Entgegen dieser fahrlässigen Verallgemeinerung findet die neunte Ausgabe der Ausstellung „Vogelfrei“ in keiner zum Abschuss freigegebenen Asbestfabrik statt, sondern in einem Schloss und dessen Park. Letzterer ist traumhaft schön, Ersteres, ist was ortspezifische Orte nun mal sein müssen: eine Herausforderung. Gebildete BesucherInnen schätzen es als fürstliches Jagdschloss aus dem 16. Jh., weniger gebildete Gutmenschen als Beinhaus, das über die gewöhnungsbedürftige Freizeitgestaltung dekadenter Feudalherren Aufschluss gibt.

"Rucksack" im Schlossmuseum, Foto CL

"Rucksack" im Schlossmuseum, Foto CL

Wo nämlich Fachleute Zeugnisse waidmännischer Großtaten erblicken, sieht das unbewaffnete Auge Gemächer voll Leichenteile. Dabei müssen Jagdtrophäen gar nicht derart bizarre Formen annehmen, um an die Opferriten zu erinnern, in deren Verlauf Tiere mit viel Erfindungsgeist nieder gemetzelt wurden.

Hinter jedem Geweih verbergen sich Hetzjagd und Todeskampf – Tatsachen, denen Werner Henkels Installation die Anschaulichkeit zurückgibt, welche die heroischen Ziegen an der Wand vermissen lassen.

Werner Henkel "5 Rotwild-Silhouetten", 11, © Ute Ritschel & Zentrum f. Kunst u. Natur e.V.Einige der 20 TeilnehmerInnen hat die von Kuratorin Ute Ritschel ausgegebene Losung „Jäger und Sammler“ auf die einfallsreichen Vorrichtungen aufmerksam gemacht, die den Herren zu Kranichstein das sportliche Massaker erleichterten – sogenannte Jagdschirme z.B, die den Schützen ungestörtes Zielen außerhalb des Einzugsgebiets ungehaltener Wildschweine erlaubten.

Die in diese Barrikaden eingelassenen Schießscharten bildet Anjali Göbel aus geflochtenem Holz nach, suggeriert aber durch deren Anordnung eine zeitgenössische Variante der einstigen Treibjagd. Schließlich erinnern die in alle Richtungen weisenden Trichter an primitive Lautsprecher, wie sie noch heute zwecks Verbreitung öffentlicher Botschaften zur Anwendung kommen (egal ob politische Agitation, oder auch nur „57, bitte an die 10“).

Anjali Göbel "Sautod", 11, Foto CL

Anjali Göbel "Sautod", 11, Foto CL

Auch das für Jagdhunde damals gebräuchliche Stachelhalsband, das diese ebenfalls vor unerwünschter Annäherung seitens besagter Wildschweine schützte, empfindet die Künstlerin auf vieldeutige Weise nach.

Göbel, ohne Titel (Gleditschienendornen), 11, Foto CL

Apropos vieldeutig: Eine gewisse Bedeutungsoffenheit kennzeichnet etliche Arbeiten, die eine differenzierte Haltung der KünstlerInnen gegenüber dem Phänomen des Jagens von Tieren erkennen lassen. So sind sich viele der Bedeutung der Jagd als Kulturtechnik bewusst – und damit umso deutlicher der Diskrepanz zwischen der Jagd als Kampf ums Überleben auf Augenhöhe, und ihrer Perversion, bei dem eingepferchtes Wild vom Balkon aus erlegt wurde.

Claudia Kappenberg & Dorothea Seror "Trophäen", 11, Foto CL

Claudia Kappenberg & Dorothea Seror "Trophäen", 11, Foto CL

Kappenberg & Seror "Trophäen", 11, Foto CL

Kappenberg & Seror "Trophäen", 11, Foto CL

Tatsächlich verdankt sich ihre kopflastige Körperlosigkeit einer Veranstaltung am Eröffnungswochenende, in deren Verlauf die Künstlerinnen das Publikum aufforderten, aus den von ihnen mitgebrachten Stofftieren jeweils ein Opfer auszuwählen, das darauf hin „geschlachtet“ und „zubereitet“ wurde. Die Ergebnisse dieser in Gastronomie und so mancher Religion gängigen Prozedur finden sich über das gesamte Anwesen verteilt.

Henkel "6-Schädel". 06. Foto CL

Henkel "6-Schädel". 06. Foto CL

Eine wohltuend unseriöse Variante der Schädelstätte hingegen installierte Henkel inmitten der Totenkopf-Galerie.

Das Ganze nochmal aus der Nähe. Foto CL

Das Ganze nochmal aus der Nähe. Foto CL

So präzise die erste Hälfte des Ausstellungsthemas, so vage die zweite: das Sammeln. Die semantische Unschärfe des dehnbaren Begriffs erleichterte den TeilnehmerInnen die Auswahl geeigneter Arbeiten keineswegs, weil irgendwie halt irgendwie alles irgendwie irgendwas mit Sammeln zu tun hat.

Waltraud Munz "Cloud-Areas", 11, Foto CL

Waltraud Munz "Cloud-Areas", 11, Foto CL

Umso bemerkenswerter, dass kaum jemand angesichts dieser nichts und alles sagenden Arbeitsanweisung ins Archiv griff. Waltraud Munz etwa reichert die ortsansässige Pilzansammlung mit Blech-Pilzen an.

Waltraud Frese "Rindenbüsten", 08, Foto CL

Waltraud Frese "Rindenbüsten", 08, Foto CL

Waltraud Frese versammelt Rindenstücke auf menschlichen Torsos – eine Reminiszenz an Daphne und die viel zitierte Verwandtschaft von Mensch und Baum.

Helina Hukkataival lädt zum Mineral-Orakel, indem sie von BesucherInnen mitgebrachte Lieblingssteine mit Grafit auf Papier frottiert und die BesitzerInnen die Zeichnung nach Art des Bleigießens interpretieren lässt.

Wem sich hierbei der Zusammenhang zum Stichwort Sammeln nicht auf Anhieb erschließt, sei getrost: Mir auch nicht.

Aber das ist ja das Interaktive an Themenausstellungen. Denn wo der Bezug zwischen aktuellem Thema und bewährtem Vorgehen nicht sofort ersichtlich ist, ist die Kreativität der BetrachterInnen gefordert, sie herbei zu fantasieren.

Bis 2. Oktober kann man sich bei Darmstadt persönlich davon überzeugen, wie unverzeihlich es von mir ist, ausgerechnet die dreizehn hier nicht erwähnten KünstlerInnen nicht zu erwähnen.

Harry van der Woud "Selbstbildnis ex aequo", 11, Foto CL

Harry van der Woud "Selbstbildnis ex aequo", 11, Foto CL

 





Und ewig grüßt das Facebook-Tier

Es ist Morgen.

Computerlogdaten: Web 0, 17690

Langgezogene Breitengrade. Rotweinreste im System.

Schwerkraft beträchtlich.

Die Vögel pfeifen trotzdem.

Zur Untermalung, prasselnder Regen.

Auf Facebook gibts  quasselnden Regen.

Da trommelts auf die Festplatte.

Manchmal fühlt man sich wie Spock.

Vulkanisiert.

Da geht nichts mehr durch.

Man ist dicht.

Eine gummierte Haut schottet einen ab.

Was hat man mit der Welt zu tun?

Welche Welt überhaupt?

Man spricht so leicht von Welt.

Als ob man wüsste, was das sei.

Man gibt sogar vor zu wissen,

was das ist.

„Die Welt zu Gast bei Freunden“ – hieß das nicht so?

Das wäre eng geworden.

Weltfußballer. Weltmeister. Weltbaumeister. Weltschriftsteller.

Welthausfrau. Weltpolitiker. Weltbademeister…

Wir sind getitelt.

Wir sind sowas von getitelt, dass uns manchmal etwas fehlt.

Etwas mehr Tiefenschärfe, bitte !

Ich bitte Sie, ich bitte mich.

Dann kann ich auch gleich die Welt bitten…

Stefan Dernbach ( LiteraTour )

http://www.stefandernbach.kulturserver-nrw.de/




Schubladen

Schublade auf, Schublade zu.

Nochmal auf, gucken, und wieder zu.

Kompaktes Format.

Sehr überschaubar.

Das gibt Sicherheit.

Noch ein paar Nägel in die Rahmung.

Man weiß ja nie was kommt.

Aber man weiß, was sich in der Schublade befindet.

Das weiß man.

In der Schublade liegt das Vermächtnis.

Man hat uns etwas vermacht,

oftmals völlig ungefragt.

Eine Gabe.

Milde Gabe, lustige Gabe, langweilige Gabe, ärgerliche Gabe, liebevolle Gabe …

Alles in die Schublade …

Dort gibt es Fächer wie in Besteckkästen.

Für das Süße, gibt es Kuchengabeln. Kleine Gäbelchen.

Die Messer liegen rechts, damit kann geschnitten, wenn nötig getötet werden.

Aber meistens schaut man auf die Löffel.

Schublade auf, Schublade zu.

Die Teller sind nicht besonders groß,

aber dennoch fällt es schwer, über ihren Rand zu schauen…

Stefan Dernbach ( LiteraTour )

http://www.stefandernbach.kulturserver-nrw.de/




FAZ: Kopf-Gevögel?

FAZ-Sonntagszeitung: Sexueller MissbrauchDas gewichtige Blatt liegt vor einem,
ein paar Seiten umdrehen, anhalten, schauen.

„Von Tätern und Opfern“…29. Mai 2011 – FAZ – Sonntagszeitung

Die Protagonisten: Christoph Röhl & Tilman Jens.

Der Röhl hat einen Film gemacht & der Jens ein Buch geschrieben. Das klingt dann zunächst mal alltäglich, ja wäre da nicht die Odenwaldschule. Wer sich etwas mit der Gesellschaft befasst, bei dem klingelt es sofort. Aber warum ist dieser Artikel in der Rubrik – Politik – gelandet?

Eine Debatte, na ja, eher ein Streit zweier Kulturschaffender.

Man hat sich in den Haaren, zieht und zerrt.

Wer hat denn nun geschlampt? – der Röhl oder der Jens – oder beide? Auf jeden Fall haben sich beide Protagonisten an das Thema – Missbrauch – gewagt, der eine ( Tilman Jens ) befasst sich mit den Tätern, der andere ( Christoph Röhl ) – legt sein Augenmerk auf die Opfer.
Da ist die Reibung schon programmiert.

Wer hat was erwähnt, wer hat was weggelassen?
Fakten, Fakten, Fakten.
Was lebt sich da nach außen?

Ein Tanz auf dem Vulkan der Rechthaberei?

Es lebt die Projektion.

Zwei Autoren im Sumpf der Übertragung.

Da kann man  ins Schleudern geraten.

Wer verdrängt hier was? Wer unterschätzt die Tragweite?

Kaum zu glauben, dass sich zwei Kultur-Profis wie Amateure verhalten,
wenn es um ein solch gewichtiges Thema geht. Noch schlimmer wären Dilettantismus
und Erbsenzählerei. Geht es um Verstehen und Erhellung der Umstände, oder erleben
wir einen neuen medialen Schaukampf, der die Verkaufszahlen fördert?

Christoph Röhl schreibt also in der FAZ über Tilman Jens und dessen Buch „Freiwild“.

Die vermeintlichen Täter – noch schlimmer – die tatsächlichen Täter – in Verbindung mit Freiwild
zu bringen, da betritt Tilman Jens ganz dünnes Eis.




Bad Painting. Zu den Offenbacher „Kunstansichten“

Wieder eine dieser konzertierten Aktionen, bei denen sich die sonst Konkurrierenden versöhnlich in die Arme sinken, um sich ein Wochenende lang als würdig zum Empfang kommunaler Zuwendungen zu erweisen. Dies ist keinesfalls so polemisch gemeint, wie es klingt – ich persönlich liebe solche Wimmelveranstaltungen und fahre stoisch alles ab (nicht um!), was sich mir in den Weg stellt: Galerien beim Galerien-Wochenende, Ateliers beim Atelier-Wochenende.

Das einzige Auswahlkriterium meines planlosen Besichtigungsrausches, die verkehrstechnische Machbarkeit, führt mich in – sagen wir mal „abwechslungsreiche“ Umgebungen. Es gibt halt solche und solche, und letztere überwiegen zuweilen bei solchen Gemeinschaftsevents.

Sämtliche Bilder sind keine Negativbeispiele sondern veranschaulichen das für den Text zentrale Thema der Vernetzung. Mark Bradford "And Off They Went", 2010, Foto CL

Sämtliche Bilder sind keine Negativbeispiele sondern veranschaulichen das für den Text zentrale Thema der Vernetzung. Mark Bradford "And Off They Went", 10, Foto CL

Harmoniebedürftig wie ich bin, verschone ich euch mit visuellen Belegen der beachtlichen Spannbreite des künstlerischen Niveaus. Weniger, um unsere Bildschirme nicht mit diesen ganz besonderen Werken (sprich Sondermüll) zu belasten, als vielmehr, da die Tatsache, dass ich etwas überflüssig finde, nicht bedeutet, dass es das ist. Lieber beschreibe ich das Grauen, wohlwissend, dass ihr über einen ausreichenden Vorrat an ähnlichen „Großer Gott!“-Erlebnissen verfügt, um meine Schilderungen aus eurem persönlichen „Nee, oder?“-Ordner zu schmücken. Denn wenn es eine aller Kunst gemeinsame Eigenschaft gibt, ist es die Unverbindlichkeit individueller Urteile. Ungeachtet aller noch so tragfähigen Kriterien hängt ihre Anwendung von den EndverbraucherInnen ab, die ihre Entscheidung über Daumen rauf oder runter aufgrund einer individuellen Kombination vergangener und gegenwärtiger Bedingungen treffen: Prägungen und Erinnerungen, körperliche und geistige Verfassung, sowie Hoffnungen und Ängste hinsichtlich der Zukunft.

Begeistertes Gespräch: Rinus van de Velde, o.T., 10, Foto web

Begeistertes Gespräch: Rinus van de Velde, o.T., 10, Foto web

Ich habe mir angewöhnt, vor der Bekanntgabe eigener Urteile die Meinung des Gegenübers in Erfahrung zu bringen. Wenn diese positiver ausfällt als meine, bin ich heilfroh, rechtzeitig den Schnabel gehalten zu haben und schmarotze probeweise an der Wahrnehmung meines Gesprächspartners. Manchmal eröffnet mir dieses Ausleihen anderer Leute Augen und Hirne Neuland, manchmal wird es gewogen und zu leicht befunden. Immer aber bestätigt es mich darin, dass das Einholen verschiedener Ansichten der Meinungsbildung immer zuträglich, vorlautes Watschen hingegen Kunstzerstörung ist.

Daher auch das hiesige Bildfasten. Denn würde ich jeden geifernden Satz mit entsprechendem Anschauungsmaterial krönen, würde diese negative Programmierung jegliche andersgeartete Sichtweise erschweren und somit das aller Kunst eigene Potential auf Emoticon-Format schrumpfen.

Insofern geht es mir hier nicht darum, eine Aufzählung persönlicher Zu- und Abneigungen zu bebildern, als vielmehr um das grundsätzliche Phänomen des Angebots ohne Nachfrage.

In diesem Fall waren es also die sog. „Kunstansichten Offenbach“, bei denen ca. 45 Ateliers einer mittelgroßen Stadt mit Kunsthochschule zwei Tage lang das Volk über sich ergehen ließen.

Naturgemäß werde ich, das Volk, auf diese Weise mit einem bemerkenswerten Qualitätsgefälle konfrontiert. Dass KünstlerInnen Schrott produzieren, ist nicht weiter bedrohlich – Shit happens. Beklemmend ist vielmehr, dass manche es so hartnäckig tun. Und mit dieser Feststellung begeben wir uns auch schon vom kunstspezifischen Terrain auf die kosmische Ebene, denn die Investition von Zeit und Energie in Aktivitäten, die niemand braucht, ist ein uns alle verbindendes Hobby.

Dass in einem Atelier mehrere bunte Probleme nebeneinander hängen, ist allein noch kein Grund zur Sorge. Das kann in jeder Ausstellung geschehen, ohne die Befürchtung nahezulegen, der Täter könne nicht anders. Vielmehr mag es sich einem Augenleiden der KuratorInnen oder einem treudoofen thematischen Schwerpunkt verdanken. Jedenfalls besteht Anlass zur Hoffnung, bei den Exponaten möge es sich um Entgleisungen handeln, die immerhin Entwicklungspotential ahnen lassen.

Stehe ich aber inmitten eines Ateliers, in dem nur ein Teil des Grauens die Wände ziert, während ein identischer Rest aus Regalen, Schränken und Mappen lugt, beginne ich über die Vergeblichkeit menschlichen Mühens zu sinnieren.

Ina Juretzek u.a., Relikt einer Performance vom Eröffnungsabend in der Heyne Kunstfabrik, Foto CL

Ina Juretzek u.a., Relikt einer Performance vom Eröffnungsabend in der Heyne Kunstfabrik, Foto CL

Vergangene Woche zeigte Tacita Dean, eine meiner Lieblingskünstlerinnen, Ausschnitte aus einem Film über Claes Oldenburg. Entsprechend ihres Prinzips, Personen in einem für deren Lebenswerk bezeichnenden Kontext zu dokumentieren, hatte sie Oldenburg vorgeschlagen, er möchte seine umfangreiche Sammlung kleiner Gegenstände namens „Mouse Museum“ abstauben und sortieren. Bereits 1972 auf der Documenta 5 präsentiert, füllte diese Masse von manuell und industriell gefertigtem Klimbim – Spielzeug, Werbemittel, Ziergegenstände – ein ganzes Wandregal in Oldenburgs Studio.

So schrullig das klingt, ist eine umfangreiche Sammlung aus Sicht der Außenwelt nur bedingt wertvoller Objekte keinesfalls selten, sondern fast die Regel innerhalb einer Bevölkerungsschicht, deren Grundbedürfnisse gesichert ist. M.a.W. verfallen viele Menschen außerhalb der Notstandsgebiete irgendeiner Art von Gegenständen, deren Attraktivität sich anderen nicht zwangsläufig erschließt.

Ein gemeinsames Merkmal von Deans Filmen ist ihre Fähigkeit, das Aufgezeichnete durch kommentarlose Dokumentation über sich selbst hinausweisen zu lassen. Landschaften, Architektur, Objekte, Personen – sie alle entfalten eine über größere und tiefere Dimension durch den schnörkellosen Blick der spektakelfreien Kamera.
So auch im Fall von Oldenburgs Pflege seines archivierten Unsinns. Nach kurzer Zeit gerät das Abstauben und Ordnen persönlicher Kleinodien zur beklemmenden Metapher für menschliche Aktivität allgemein – von Misanthropen schon mal als „Stühlerücken auf der Titanic“ bezeichnet.

Während die Kamera dem Künstler näher kommt, nimmt der Betrachter dessen Perspektive ein – die mikroskopische Sicht auf dieses jahrzehntelang vervollständigte Universum aus Bling. Der Anblick der Versenkung einer Person in eine Aktivität einerseits, und das Wissen um deren Bedeutungslosigkeit für anderen andererseits1 gibt Anlass zur Frage nach ähnlich absorbierenden, dabei aber objektiv verzichtbaren Aktivitäten im eigenen und anderer Leute Alltag.

Mateo López "Changing-Matter", 10, Foto CL

Mateo López "Changing-Matter", 10, Foto CL

Den gleichen Effekt hat der Anblick des erhöhten Kunstaufkommens in den Ateliers derer, die am vergangenen Wochenende Einblick in ihre Arbeits- und Lagerstätten gewährten. Seit Jahrzehnten hat der weltweit steigende Ausstoß von Kunst vormalige ProduzentInnen von der Erzeugung zusätzlicher Objekte zu prozessorientierten oder konzeptuellen Arbeiten wechseln lassen. 2010 fand Michael Landys Art Bin – ein Plexiglas-Container, der KollegInnen erlaubte, misslungene Werke vor aller Augen und in aller Form in die Tonne zu treten, begeisterte Zustimmung, schien er doch die zeitgenössischste aller zeitgenössischer Kunst in einer Phase, da das Angebot die Nachfrage in beängstigendem Ausmaß übersteigt.

Die Gründe für das Missverhältnis sind zu vielschichtig, um sie im Rahmen eines Blogbeitrags zu behandeln. Dass es sich aber so verhält, liegt auf der Hand angesichts des anhaltenden Verteilungskriegs um die knappe Ressource Aufmerksamkeit. Scharen von kurz- oder langfristigen Zusammenschlüssen, On- und Off-Spaces, kommerziellen Galerien, Bi-, Tri- und Quatriennalen usw. versuchen durch gemeinsame Initiative dem Schicksal der EinzelkämpferInnen „divided we stand, together we fall“ zu entgehen.

Das wichtigste Werkzeug dabei ist – wie überall – Kommunikation und Bildung. Denn nur durch das Bekanntmachen des Produkts, zusammen mit der Vermittlung des zur Rezeption erforderlichen Wissens lässt sich die Klientel erweitern.

Steve Lambert "I Will Talk With Anyone", 06, Foto web

Steve Lambert "I Will Talk With Anyone", 06, Foto web

Darin liegt der Sinn solcher Gemeinschaftsaktionen, wie sie in unterschiedlichen Formaten zwischen Klein- und Groß-Posemuckel stattfinden. Und da ich mir öfter mal vorstelle, es ist wasauchimmerfürein „Weekend“, und keiner geht hin, gehe ich überall hin. Das ist meine Art donquichotiger Graswurzelarbeit gegen Blockbuster-Shows und prominente Bösewichter, wie sie als Star-KünstInnen oder allesfressende Mega-SammlerInnen durch die Medien geistern.

Ja klar, wie eingangs erwähnt, ist die Palette bei diesen basisdemokratischen Ereignissen ziemlich bunt, aber, wie ebenfalls erwähnt – es gibt halt nicht nur solche, sondern auch solche.




Verbrieft – Bekenntnisse eines Briefschreibers

Die Sondermarke prangt glänzend auf dem Umschlag.
Man denkt kurz an Ringelnatz und verabschiedet sich.
Ein Kulturwelt-Erbe befindet sich auf dem Rückzug.

Letzte Gefechte?

Noch ein Brief, nochmal an den Schreibtisch,
der diesen Namen auch verdient. Freies Sichtfeld.
Ein weißes Blatt Papier, jungfräulich schön.
Das Schreibgerät liegt gut in der Hand. Das sollte so sein.
Man hat ein paar Stunden zu tun. Das ist nicht immer so,
aber es ist eine Option, mit der man rechnen muss.

Man kann von einer langen Tradition sprechen.
Unzählige Kulturschaffende standen in Briefkontakt und pflegten ihn.
Schriftsteller schrieben Briefe, die den Vergleich mit Büchern nicht scheuen mussten.
Es ist hier nicht die Rede von Geschäftsbriefen, sondern von persönlichen Kunstwerken,

intimen Mitteilungen und „archäologischen“ Unternehmungen.

Die Reise zum Mittelpunkt des Ichs.

Es gibt Etappen-Briefe, es geht hinauf, es geht hinunter.
Einige Briefwechsel dauerten Jahre.
In solch kurzlebigen Zeiten wie heute, undenkbar.
Das ist Nostalgie, meinen manche, das sei längst überholt.
Was das Tempo anbetrifft, keine Frage.
In Sachen Qualität, siegt der Brief in mehrfacher Hinsicht,
ist dem Medium Internet überlegen.
Der Brief ist ein Akt der Wertschöpfung, auch wenn der Kurs dieser Währung im Keller liegt.

Dort liegt bekannterweise auch der gute Wein.
Man sieht ihn kaum, er darf ruhig reifen.

Und kommt er dann ans Tageslicht,
ist man betört von seinen Düften und Aromen.
Man geht behutsam mit ihm um.
Er verträgt kein Geschwätz.
Nein, es umgibt ihn eine mitunter feierliche Aura,
frei von Kreditkarten-, Auto- und War-Game-Werbung.

Der eigene Charakter steht im Mittelpunkt,
nichts von der Stange, keine Kopie.
Der Brief steht für sich, steht für das Wort,
steht für Qualität.
Geschmückt durch eine Marke, darf er in Ruhe verreisen.

Aber wer nimmt sich heute noch die Zeit, einen Brief zu schreiben?

Das ist nicht cool. Das ist out.
Wie lange, das wird man sehen…

Stefan Dernbach ( LiteraTour )




Lang lebe das Lichtbild

Weil es in diesem Beitrag etwas dauert, bis ich zum Punkt komme, hier eine kurze Einordnung: Es geht um einen Lichtbild-Vortrag der Bochumer Gruppe „Dunix“ mit dem Titel „Sex & Schimmel oder als Oma noch laufen konnte“, kürzlich zu sehen im Sissikingkong, und um Dia-Karaoke im Rasthaus Fink am Nordmarkt – zwei gelungene Versuche, eine sterbende Form der gepflegten Abendunterhaltung, eben die Dia-Schau, am Leben zu erhalten. Eingeflochten sind dabei Betrachtungen über die (Dia-)Fotografie im Allgemeinen und Besonderen. Und los geht’s!

Dia aus der Dunix-Schatzkiste

Glückliche Kindheit, dokumentiert im Dia - aus der Dunix-Schatzkiste

Es gibt eine Menge Erlebnisse, die unsere Kindern vermutlich vorenthalten werden. Zum Beispiel der Moment, in dem man ungeduldig noch im Laden die zugeklebte Tüte mit den selbst fotografierten, frisch entwickelten Fotos aufreißt. Zum Beispiel das Bezahlen solcher Fotos. (Wie, jedes einzelne Foto hat Geld gekostet?) Zum Beispiel das Gefühl, mit anderen mehr oder weniger interessierten Bekannten in einer Diashow zu sitzen, ermüdend schlecht fotografierte Landschaftsimpressionen zu betrachten und das Klicken des Projektors als hochwillkommene Abwechslung vom langatmigen Vortrag des Fotografen zu empfinden.

Dia-Shows! Für jüngere Leser: Das funktioniert so ähnlich wie eine Slideshow im Internet. Oder nein: So, als würde man sich mit einem Beamer auf die Leinwand geworfene Fotos anschauen, nur dass die Dia-Positive jeweils in kleinen Plastikrähmchen stecken und in einem Karussell auf Knopfdruck weiter und weiter, bis ins Licht befördert werden. Manchmal steckten die Dias auch falsch herum im Karussell, dann musste der Dia-Vortragende sie erst umdrehen. Manchmal war ein Steckfach leer, dann konnte man sich die feinen Unebenheiten und Kratzer auf der Linse ganz genau auf der Leinwand anschauen. „Die praktischen Vorteile des Diafilms liegen vor allem in der hohen Schärfe und Farbtreue sowie dem großen Tonwertumfang des Diapositivs. Diese Vorteile treten in der Projektion klar zu Tage“, weiß Wikipedia. Es ist nicht überliefert, ob die  fotografierende Menschheit in ihrer Masse in den 1960er, 1970er Jahren von diesen Vorteilen wusste. Überliefert ist nur, dass sie massenhaft Dias produzierte, vermutlich aus einem anderen Grund: Weil man dann so prima Dia-Shows veranstalten konnte. So kommt es, dass sich auf Flohmärkten und in Trödelhallen heute sorgfältig sortierte Dias in ihrem zierlichen Plastikrahmen in Holz- oder Plastikkisten stapeln.

Sport oder Trinken? Sporttrinken. Aus der Dunix-Schatzkiste.

Sport? Trinken? Sporttrinken - aus der Dunix-Sammlung.

Gottseidank gibt es Menschen, die damit noch etwas anzufangen wissen. Mindestens zwei Veranstaltungsreihen im Revier beleben derzeit das Format Dia-Show neu. Die Bochumer Alex Schwegl und Florian Biedermann haben irgendwann damit begonnen, Flohmarkt-Dias zu sammeln und zu sortieren – in Kategorien wie „Urlaub“, „Tiere“, „Weihnachten“ oder „Menschen vor Blumen“. Dann haben sie Serien zusammengestellt, Dramaturgien ersonnen und Musik dazu ausgesucht. Schon seit Jahren zeigen sie ihre Shows, bevorzugt im Dortmunder Sissikingkong und in Bochumer Kneipen und Cafés. Die aktuelle Show heißt „Sex & Schimmel oder als Oma noch laufen konnte“ und zeigt genau das: privatpornografische Aufnahmen aus der Zeit vor Youporn, feucht gewordene und angeschimmelte Dias (die, auf die Leinwand projiziert, von ganz erstaunlich abstrakter Originalität sind, sowohl farblich als auch kompositorisch) und Dias, in denen die Fotografen familiäre Ereignisse rund um Krankheit und Tod festhielten. Außerdem eine sensationelle, mit Avantgarde-Musik unterlegte Serie von der Riesen-Baustelle Brasilia, der futuristischen Hauptstadt Brasiliens, aufgenommen während der Bauarbeiten Ende der 1950er Jahre. Gequatscht wird während des Dunix-Lichtbildvortrags nicht – dazu ist die liebevoll ausgewählte Musik auch viel zu laut. Wenn Death Metal zu Bildern von Buffet-Schlachten läuft oder ein Liebeslied aus den 1920er Jahren zu den Szenen einer Rentner-Ehe, braucht es keine weiteren Erläuterungen.

Das ist beim Dia-Karaoke, einer Erfindung des Rasthaus Fink auf dem Dortmunder Nordmarkt, ganz anders. Hier ist das Quatschen Programm, hier kann man damit sogar einen Preis gewinnen. Dia-Karaoke ist keine durchkomponierte Show, jeder Abend verläuft anders. Dia-Serie an die Wand geworfen, die allen Anwesenden völlig fremd ist. Fremde Menschen in einer nicht näher bestimmten Zeit tun Dinge an einem unbestimmten Ort. Dazu improvisiert der Vortragende nun spontan eine Geschichte, so überzeugend, wie er nur kann. Gleiches tun die anderen Kandidaten mit Zunächst braucht es einige Freiwillige, die gegeneinander antreten wollen. Dann wird eine jeweils anderen Dia-Serien. Am Ende entscheidet das Publikum, wer die überzeugendste, verrückteste, unterhaltsamste Geschichte ersonnen hat.

Beide Veranstaltungen sind toll – weil sie Erinnerungen zurückholen und sie zugleich ironisch brechen. Und weil sie vor Augen führen, dass der Wandel von der analogen zur digitalen Fotografie weit mehr bedeutet als nur eine technische Neuerung.

Wer um 1900 fotografierte, schuf mit der Fotografie sein Bild für die Ewigkeit – ein Foto war so teuer (und so umständlich herzustellen), dass es mit heiligem Ernst zelebriert wurde. Als das Fotografieren in den 1950er Jahren erstmals für den Normalbürger bezahlbar wurde, änderte sich das Fotografierverhalten nur langsam. Zwar wurde nun viel mehr fotografiert, doch der Gedanke dahinter war der Alte geblieben: Fotografieren ist Verewigen. Fotos konnte sich zwar jedermann leisten, doch hinter jedem „Klick“ lag noch immer eine bewusste Entscheidung, eine Komposition („Stell dich mal da hin!“). Ich hinterlasse der Nachwelt ein Bild von mir und meinem Leben, so wie ich von anderen gesehen werden möchte.

So erklären sich all die Aufnahmen von Landschaften und Städten (Seht her, dort war ich!), von Ehemännern und -frauen, Kindern und Haustieren vor bunten Blumen (So harmonisch ist mein Familienleben!), von Statussymbolen wie Autos, Wohnwagen, Fernsehern und Schrankwänden (Das kann ich mir leisten!) und Feierlichkeiten (So beliebt bin ich, so lustig ist mein Leben!).

Wer ist das? Und wieso so bunt? Aus der Dunix-Schatzkiste.

Der Umbruch, den die digitale Fotografie mit sich bringen wird, ist vielleicht noch revolutionärer als der zwischen den Anfängen der Fotografie und ihrer Massentauglichkeit. Wenn man für Bilder nicht mehr zahlen muss und Speicherplatz fast unbegrenzt vorhanden ist, wird viel, viel, viel mehr fotografiert. Gleichzeitig sind die Fotografien erst mal nicht greifbar, sondern bleiben Daten in privaten Speichermedien – so lange, bis sie zum Beispiel in Communities veröffentlicht werden. Dass diese Umstände Auswirkungen auf die Motivwahl, auf das Fotografieren selbst haben, liegt auf der Hand. Welche, das werden wir vielleicht in einem halben Jahrhundert erfahren. Dann, wenn unsere Enkel oder Urenkel unser Fotomaterial kreativ weiterentwickeln.




Am Morgen

Es ist nur wenig Zeit vergangen.
Eben räkelten sie sich noch auf weichen Matratzen, spürten die Ausläufer ihrer Träume und schauten mit zerzaustem Haar in bleiche Spiegel. Jetzt sitzen sie hier mit anderen Gesichtern.
Keine Spur mehr von nächtlichen Verfolgungen, Schlaflosigkeit, Lust.

Sie reden über das Wetter, beklagen die Politik, erzählen von Filmen, die sie am Vorabend gesehen haben. Manche verbergen ihr Gesicht hinter Zeitungen, andere zupfen an Frisuren herum. Jenseits der Scheibe rennen, stolpern, warten die anderen. Einige halten Mobiltelefone an gerötete Ohren.

Die drinnen sitzen, schauen nach draußen.
Gleich werden auch sie sich einreihen. Uhren werden hervorgeholt, ungläubig angeschaut, dann schnell wieder aus dem Blickfeld verbannt. Die Bedienung spielt Melodien auf der Tastatur der elektronischen Kasse. Draußen werden Busmotoren gestartet.
Aus der Kaffemaschine zischt heißer Dampf. Schaumkronen werden mit pulverisierter Schokolade bestreut.
Ein älterer Herr schaut hinter seiner Zeitung hervor. Sein Kopf bleibt starr, aber seine Pupillen wandern aufgeregt hin und her.
Ein junges Paar küsst sich zum Abschied…

Stefan Dernbach ( LiteraTour ) ©2011

http://www.stefandernbach.kulturserver-nrw.de/




Ein Kulturblog? Aber ja!

Herzlich willkommen bei www.revierpassagen.de

Wer gehört zum Autorenteam der „Revierpassagen“? Es sind weit überwiegend Journalistinnen und Journalisten mit langjähriger Erfahrung im Kulturbetrieb und speziellen Sparten-Kenntnissen. Die allermeisten leben im Ruhrgebiet oder haben hier längere Zeit gewohnt. So ergeben sich gewisse Schwerpunkte wie von selbst.

Die „Revierpassagen“ handeln also vom Ruhrgebiet („Revier“) und von Kultur, aber längst nicht nur davon.

Mit „Revier“ ist denn auch generell ein Gelände gemeint, durch das man Streifzüge unternehmen oder flanieren kann.

Im Wort „Passagen“ schwingt das Vorübergehen mit, letztlich auch das Vergängliche. Passagen von hier nach da, mal mit, mal ohne konkretes Ziel, doch mit möglichst offenen Sinnen. Text-Passagen können ebenfalls gemeint sein. Und wenn man ganz weit nach oben schaut, gibt es da als leuchtendes Gestirn das „Passagen-Werk“ von Walter Benjamin.

Außerdem kann man per Suchmaschine herausfinden, dass „Revierpassagen“ offenbar ein anderer Ausdruck für Flusskreuzfahrten sind. Warum nicht? Alles ist im Fluss…

Wir erheben keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit. Termin-Journalismus kommt vor, muss aber nicht sein. Ähnlich verhält es sich mit kulturellem Nachrichtenstoff. Auch der wird gern gebracht, aber wir gieren nicht danach.

Themen und Texte ergeben sich nicht zuletzt durch Vorlieben der Autorinnen und Autoren. Die Mehrstimmigkeit kann, muss aber keine Harmonie erzeugen. Klassische Rezensionen zu diversen Kultursparten haben hier ebenso ihren Platz wie die frei schwebende oder gar ausschweifende Phantasie und die kleine Randbeobachtung aus alltäglichen Gefilden.

Genug gefaselt. Die Wahrheit ist konkret: Auf zu den Beiträgen!

Bernd Berke




Die Deutschen bleiben auf Sinnsuche – Über Richard David Prechts vergnügliche Philosophie-Geschichte „Wer bin ich und wenn ja, wie viele?“

Von Bernd Berke

Da stellt einer gleich reihenweise die ganz großen Fragen: Gibt es Gott? Was ist Liebe? Hat das Leben einen Sinn? – Spontan möchte man ausrufen: Hat er’s nicht ein paar Nummern kleiner? Doch der Mann ist beileibe kein Spinner, er hat durchaus Bodenhaftung.

Nicht von ungefähr hat Richard David Precht mit seiner lebendig und vergnüglich geschriebenen Philosophie-Geschichte „Wer bin ich und wenn ja, wie viele?“ den „ewigen“ Spitzenreiter bei den Sachbuch-Bestsellern überholt: Hape Kerkelings achtbaren Pilgerbericht „Ich bin dann mal weg“.

Prechts Buch hat sich langsam, dann aber gewaltig nach oben gearbeitet. Bereits im September 2007 erschienen, erhielt es einen ersten Schub durch Elke Heidenreichs Empfehlung in „Lesen!“ (ZDF). Seither muss jede Menge Mundpropaganda hinzu gekommen sein.

Vielleicht kann man aus der Hitlisten-Abfolge gar auf die Gemütslage vieler Deutscher schließen. Denn auch mit der neuen Nummer eins begeben sie sich wieder auf Sinnsuche. Nur mögen sie’s dabei abermals nicht so gern mögen sie’s dabei abermals nicht so gern pathetisch oder tiefgründelnd. Warum auch, wenn es doch diese fröhliche Wissenschaft gibt, die Bildungsgut wie im Fluge verabreicht.

Die sonst üblichen Philosophiegeschichten kommen oft professoral und gravitätisch daher. Epoche für Epoche da abgehandelt, all die großen Geister ziehen im Widerstreit ihrer Thesen vorüber. Trocken genug.

Mit wachem Sinn für die Gegenwart

Precht hingegen durchpflügt die Geistesgeschichte mit wachem Sinn für unsere Gegenwart. Er überprüft die Gedanken der Philosophen stets auf Lebenstauglichkeit. An ihren Alltagsfrüchten soll man sie erkennen.

Der Autor überschreitet zudem leichtfüßig die Grenzen zur Naturwissenschaft und bezieht beispielsweise Charles Darwins Evolutionslehre, Sigmund Freuds Psychoanalyse, physikalische Fakten und vor allem neueste Ergebnisse der Hirnforschung in seine Überlegungen ein.

Drei Hauptkapitel geben die Reiseroute vor, ganz im Sinne des altvorderen Denkers Immanuel Kant heißen sie: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Es geht also um die Grundlagen der Erkenntnis, um Moral und Ethik – und um die Metaphysik, die auf ein Jenseits verweist. Alles drin, alles dran. Die Sache ist fundiert, schließlich ist Precht selbst studierter Philosoph.

Die Hauptlinien seiner Untersuchung verzweigen sich in wahrhaft spannende Fragen, die jeden angehen. Darf man in bestimmten Fällen (etwa in der Sterbehilfe) töten? Darf man abtreiben? Darf man Tiere essen? Darf man Menschen klonen?

Dazu werden jeweils die wichtigen Philosophen „einvernommen“. Sie erscheinen als Menschen aus Fleisch und Blut, die halt nur den Kopf etwas mehr angestrengt haben als andere. So kommt Jean-Jacques Rousseau zum Zuge, wenn es um die Frage geht, ob der Mensch „von Natur aus“ eher gut oder schlecht sei. Das Denken an sich ist Fachgebiet von René Descartes, zum Thema Sprache gibt Ludwig Wittgenstein Auskunft, und Arthur Schopenhauer ist die „erste Adresse“, wenn der menschliche Wille zur Debatte steht.

Für anderes gelagerte Fragen sind zum Beispiel Kant, Nietzsche oder Sartre zuständig. Etliche andere stimmen nach und nach mit ein in den Chor oder werden von Precht sogar zu munteren Dialogen angestiftet. Hie und da wird zugespitzt, doch es werden keine Abstriche gemacht.

So gut jedenfalls glaubt man die klugen Herrschaften noch nie verstanden zu haben. Es ist ein Philosophiebuch, wie man es sich schon lange gewünscht hat. Nah an den Denkern, vor allem aber: nah auch an uns allen.

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ZUR PERSON

Doktorarbeit über Robert Musil

  • Richard David Precht wurde am 8. Dezember 1964 in Solingen geboren.
  • Er studierte Philosophie, Germanistik und Kunstgeschichte in Köln, schrieb seine Doktorarbeit über den Schriftsteller Robert Musil („Der Mann ohne Eigenschaften“).
  • Precht ist verheiratet mit der TV-Journalistin Caroline Mart. Sie leben in Köln und Luxemburg.
  • Prechts autobiographisch inspirierter Roman „Lenin kam nur bis Lüdenscheid“(Kindheit mit „68er“-Eltern) wurde verfilmt und startete kürzlich im Kino.
  • Sein Bestseller: „Wer bin ich und wenn ja, wie viele?‘ Goldmann-Verlag, 400 Seiten, 14,95 €.
  • Bedenkenswerter Rat am Schluss dieses Buches: „Und wenn sie mich fragen: (…) füllen Sie Ihre Tage mit Leben und nicht ihr Leben mit Tagen.“



Die Welt besteht aus Zahlen – eine anregende Ausstellung in Paderborn

Paderborn. „Am Anfang war das Wort”. Wirklich? An dem biblischen Satz könnte man zweifeln, wenn man diese Ausstellung gesehen hat: „Zahlen, bitte!” zeigt unsere Welt als Ansammlung berechenbarer Verhältnisse. Wie schon der alte Grieche Pythagoras gesagt haben soll: „Die Zahl ist das Wesen aller Dinge.”

Viele kokettieren ja gern mit ihrer Unkenntnis auf diesem Felde: „In Mathe war ich immer schlecht!” Doch 2008 ist nun mal hochoffiziell zum „Jahr der Mathematik” ausgerufen worden. Und nicht nur der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger mahnt seit längerem, diesen Teil der Kultur bloß nicht zu vernachlässigen. Also ist tätige Reue fällig: Auf nach Paderborn, auf ins Heinz Nixdorf Museum!

Da merkt man rasch: Was immer uns ästhetisch erfreut, hat letztlich mit Zahlen zu tun. Der Aufbau schöner Kristalle, die Symmetrie der Tiere, überhaupt die Schauspiele der Natur – mathematisches Regelmaß. Musikalische Klänge – im Grunde lauter Zahlenwerk. Gemälde und Architektur nach dem „goldenen Schnitt” – kaum denkbar ohne rechnerische Basis.

Reichlich Gelegenheit
zum Ausprobieren

Immer wieder gibt es Gelegenheit zum Mitmachen und Ausprobieren, vor allem im „Zahlenzirkus”, der Kinder begeistern soll. Doch diese auch für Erwachsene anregende Schau begnügt sich nicht damit, Staunen und Spieltrieb zu bedienen. Mit sinnlichen Belegstücken dringt sie hie und da auch etwas tiefer in die Materie ein.

Es gibt knappe Einführungen in Geheimnisse der so genannten irrationalen und der komplexen Zahlen, auch die Kreiszahl Pi oder Fibonacci-Zahlenreihen werden näher betrachtet. Man begegnet den großen Rechenkünstlern und Zahlenjongleuren der Geschichte. Hinzu kommen völkerkundliche Exkursionen: Ganz unterschiedliche Zahl- und Zählsysteme gab es auf dem Erdenrund. Im alten Babylon etwa pflegten die Menschen ein 60er-System, dessen Relikte uns heute noch durch Stunden- und Minuteneinteilung geläufig sind. Und das gedankliche Vordringen in den Null- und Minus-Bereich ist ein echtes geistiges Abenteuer.

Vollends verblüffend ist die in Paderborn gezeigte „Unendlichkeitsmaschine”, deren erstes Zahnrad sich noch sichtlich schnell bewegt. Es übersetzt seine Kraft aufs nächste, das sich schon deutlich langsamer dreht. Und so weiter, bis das letzte Rad erreicht ist. Für eine einzige Rotation, so die mathematische Vorausberechnung, würde es 2,3 Billionen Jahre brauchen. Bis dahin ist manches vorbei.

Besonders alltagsnah ist die Abteilung, die sich dem Zufall (sprich: Wahrscheinlichkeitsrechnung) und dem Glücksspiel widmet. Spielgeräte, (gezinkte) Würfel und die alte ARD-Lottotrommel (bis 1965 in Gebrauch) sind Blickfänge.

Beim Glücksspiel wird
es häufig kriminell

Stellenweise wird’s hier kriminell. Oft gab es Versuche, das Zahlenglück zu überlisten, beispielsweise mit Magnetwellen per Handy die Roulettekugel zu lenken. Der Croupier musste sie allerdings vorher ausgetauscht haben. Mathematisch betrachtet, kommt jede Zahl auf Dauer in etwa gleich häufig, ob beim Lotto oder am Spieltisch. Würde man theoretisch ewig spielen, wäre ein Reingewinn unmöglich. Man muss eben rechtzeitig aufhören.

Schon zu Beginn der Schau wird man – noch auf der Rolltreppe – mit einem gesprochenen Countdown empfangen: 5, 4, 3, 2, 1, 0. Am Schluss erfährt man noch einmal in geballter Form, dass schier alles zählbar zu sein scheint und daher auch gezählt wird. Statistiker haben errechnet, dass im Schnitt stets 0,7 Prozent der Weltbevölkerung volltrunken sind. Diverse Geräte vermessen nicht nur die ganze Erde oder den Stromverbrauch, sondern es gibt auch Zählwerke, die Springseil-Umdrehungen ermitteln.

Eine mathematisch inspirierte Kunst-Installation rechnet schließlich Gestalt und Bewegungen der Besucher in wabernde Zahlenwolken um und zeigt sie auf der Leinwand – fürwahr ein seltsamer Blick in den „Spiegel”.

„Zahlen, bitte! – Die wunderbare Welt von null bis unendlich”. Heinz Nixdorf MuseumsForum, Paderborn, Fürstenallee 7 (umfangreiches Begleitprogramm – Tel.: 05251/30 66-00). Eintritt 4 Euro, Familie 8 Euro. Bis 18. Mai. Di-Fr 9-18, Sa/So 10-18 Uhr. Internet: http://www.hnf.de/

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AM RANDE:

Ein Gedankenspiel der Ausstellung betrifft das so genannte „Hilbert-Hotel”: Angenommen, ein Hotel hätte unendlich viele Zimmer, aber dann kämen auch unendlich viele Gäste. Wie kann man sie unterbringen? Wir verraten nur dies: Das Zauberwort heißt „Zimmerwechsel”.

An anderer Stelle können Besucher Stäbchen auf eine Fläche mit vorgezeichneten Linien werfen. Voraussage für die Summe aller denkbaren Zufallswürfe: Aus sämtlichen Schnittpunkten ergibt sich auf Dauer das Maß der Kreiszahl Pi. Verblüffend!




Kultur besteht nicht nur aus „Leuchttürmen“ – Gespräch mit NRW-Staatssekretär Grosse-Brockhoff

Von Bernd Berke

Düsseldorf. Nicht noch mehr kulturelle „Leuchttürme“ errichten, sondern die wertvolle Substanz im Lande erhalten und pflegen. Das ist eine kulturpolitische Leitlinie der neuen Landesregierung. Die WR sprach gestern in Düsseldorf mit dem für Kultur zuständigen Staatssekretär Hans-Heinrich Grosse-Brockhoff (CDU).

Der neue Mann für die Landeskultur, bislang Schul- und Kulturdezernent der Stadt Düsseldorf, versichert, dass das Wahlversprechen umgesetzt werde: Mittelfristig soll demnach der NRW-Kulturetat von etwa 67 auf 135 Mio. Euro verdoppelt werden. Was heißt „mittelfristig“? Grosse-Brockhoff: „In den nächsten fünf Jahren.“ In welchen Schritten dies geschieht, ist noch offen.

Grosse-Brockhoff ist davon überzeugt, dass NordrheinWestfalen „die dichteste und reichste Kulturlandschaft der Welt ist“. Er wolle dafür sorgen, dass dies endlich auch in Berlin oder München wahrgenommen werde – und international. Eine Idee, die sein Vorgänger Michael Vesper (Grüne) aus Finanzgründen fallen ließ, will Grosse-Brockhoff eventuell aufgreifen: eine gemeinsame Präsentation von NRW-Museen in den USA oder etwa auch in China.

Blankoscheck auch nicht für die RuhrTriennale

Vorstellbar sei dies auch im Zusammenspiel mit der heimischen’Wirtschaft. Kultur als „Türöffner“ für Unternehmen? Grosse-Brockhoff: „Die Kultur als Vorreiter! Das gab es schon im Mittelalter und zur Zeit der Hanse.“ Solange Kultur nicht vereinnahmt werde, sei das in Ordnung.

GRosse-Brockhoff, der sich just gestern im neuen Büro (Weitblick aus der 12. Etage des Stadttor-Hochhauses) einrichtete, fungiert beim neuen NRW-Ministerpräsidenten Jürgen Rüttgers als Leiter der Staatskanzlei. Nach eigenem Bekunden kann er etwa ein Drittel seiner Arbeitszeit der Kultur widmen. Genügt das? Grosse-Brockhoff: „Michael Vesper hatte noch weniger Zeit für Kultur, sein Ministerium war auch für Wohnen, Städtebau und Sport zuständig, außerdem war er stellvertretender Ministerpräsident.“ Vesper habe insgesamt gute Arbeit geleistet, aber: „Wenn man gewollt hätte, hätte man die Kultur von Sparmaßnahmen ausnehmen können.“

Bestehende „Leuchttürme“, wie etwa die RuhrTriennale, sollen nicht angetastet werden. Der studierte Jurist und Historiker Grosse-Brockhoff, der sich durch bisherige Ämter auch mit Finanzfragen auskennt, will freilich auch den Triennale-Etat überprüfen: „ Einen Blankoscheck gibt es nicht.“ Und die mögliche Kulturhauptstadt Ruhrgebiet? Grosse-Brockhoff steht voll und ganz hinter der Essener Bewerbung. Jedoch: „Da müssen wir uns noch ganz schön ins Zeug legen, dass wir’s auch werden…“

Ebenso wichtig wie solche Highlights sei indes die Substanz-Erhaltung. In Depots, Bibliotheken und Archiven seien viele Bestände gefährdet. Hier müsse das Land helfend eingreifen. „Stadt und Land Hand in Hand“, lautet Grosse-Brockhoffs gereimte Losung. Er wolle viel intensiver mit den Kommunen zusammenarbeiten, und zwar ohne Ansehen von politischen Mehrheitsverhältnissen. Und der Rheinländer stellt klar, dass er auf Gerechtigkeit zwischen den Landesteilen achten werde: „Ich mahne schon seit Jahren, dass Westfalen genügend gefördert wird.“

Weitere „Baustellen“ gibt es mehr als genug: Einen engen Zusammenhang will GrosseBrockhoff zwischen Kultur- und Bildungspolitik stiften. Er möchte Projekte anregen, bei denen Künstler in die Schulen gehen, denn: „Ästhetische Erziehung hat in NRW stark gelitten.“

Zudem sollen die gemeinsamen Kultursekretariate der NRW-Städte (in Wuppertal und Gütersloh) im Sinne einer regionalen Kulturpolitik gestärkt werden. Und auch der Erhalt der finanziell gebeutelten NRW-Landestheater (u. a. des WLT in Castrop-Rauxel) liege ihm am Herzen, so GRosse-Brockhoff. Vielleicht kommt diesen Bühnen ja ein Teil der angepeilten Etat-Erhöhung im Lande zugute?

 

 

 

 




Der Zeitgeist als Bermuda-Dreieck – Bottroper „Quadrat“ zeigt Bilder des US-Künstlers Kimber Smith

Von Bernd Berke

Bottrop. So sind die Mensehen und die Künstler: Der eine will umsichtig sein Leben planen, der andere überlässt sich dem Getümmel.

Bezogen auf die Malerei: Manche brauchen das Gerüst einer Komposition. Andere verlieren sich gleich im Spiel der Formen und Farben. So wie Kimber Smith (1922-1981), der letzt mit einer Werkauswahl der Jahre 1956 bis 1980 im Bottroper „Quadrat“-Museum vorgestellt wird. Seit 1962 der Düsseldorfer Kunstverein Smith präsentierte, hat sich in Deutschland kein Haus mehr um ihn gekümmert. In der Schweiz fand dieser Maler stets mehr Beachtung. Die Bottroper Schau ist denn auch eine Übernahme aus Winterthur.

Amerikaner mit europäischen Vorlieben

Als US-Weltkriegssoldat geriet Smith erstmals nach Frankreich. Irgendwann entwickelte er ein Faible für europäische Kunst der klassischen Moderne. Besonders Henri Matisse und Pierre Bonnard hatten es ihm angetan. Hingegen missfiel ihm, dass sich in den USA eine junge Künstlergeneration (um Mark Rothko, Barnett Newman und Jackson Pollock) bewusst von europäischer Überlieferung lossagte und sich als „rein amerikanisch“ gerierte.

Seiner Leidenschaft folgend, zog Smith 1954 nach Paris. Doch das Zeitklima wollte es, dass auf dem alten Kontinent just die gestisch-abstrakte Richtung in der Malerei (Informel, Tachismus) triumphierte, während er nach geometrischen Formen strebte. Rhomben, Quadrate, klare Farben. So schwebte es ihm damals vor.

Als Smith 1966 in die USA zurückkehrte, nahm auch dort kaum jemand Notiz von ihm. Es herrschten abermals neue Kunst-Moden, die Pop-Art war übermächtig. Zuweilen gleicht der Zeitgeist einem Bermuda-Dreieck, in dem Künstler unversehens verschwinden. Bottrops Museums-Chef Heinz Liesbrock bringt es auf die Formel: „Zerrieben zwischen Frankreich und Amerika“ sei Smith gewesen. Klingt bündig und deutet fast auf heutige Polit-Konflikte voraus.

Kein unterkühlter „Mathematiker“

Geometrischer Neigung zum Trotz: Smith ist eben keiner dieser unterkühlten „Mathematiker“ der Kunst. Sogar Quadrate werden bei ihm zu Spielelementen. Mit willkürlicher Lust setzt er die zuweilen zittrig verschwimmenden Formen hin, ohne vorab ersonnene Konstruktions-Stützen. Das Bild entwickelt sich, strömend oder stockend, aus sich selbst heraus, es fügt sich erst während des Malvorgangs. Ein schwierige, allzeit labile Balance.

Seelische Stimmungen scheinen hier unverfälscht einzufließen. In mutmaßlich glücklichen Zeiten teilt sich sogleich eine sorglos schwebende Heiterkeit mit. Als Kimber Smith an Krebs erkrankt, dominieren dann kantig gegeneinander gestellte Farbblöcke. schmerzlich verengte Gitter-Strukturen.

Gewiss: Es sind auf den ersten Blick „gestaltlos“ wirkende Bilder, bei denen einige Leute denken mögen, dies könne doch jedes Kind. Nur zu! Pädagogisches Begleitprogramm ist die Aktion „Malen nach Kimber Smith“. Gut vorstellbar. dass der Künstler (selbst Vater zweier Söhne) am hurtigen Vergleich seine Freude gehabt hätte. Schade, dass es eine solche Ausstellung nicht geben wird.

Museum „Quadrat“, Bottrop, Im Stadtgarten 20 (Tel. 02041/ 996-808). 5. Dez. 2004 bis 6. Feb.2005. Di bis So 10-18 Uhr. Eintritt 5 Euro, Katalog 24 Euro.




Im Sandkasten beginnt das Lebensdrama – Gerhard Henschels „Kindheitsroman“

Schon bald erfasst einen bei Lektüre ein gewisser Unmut. Seite um Seite werden kleine und kleinste Begebenheiten beschworen, etwa solche Erlebnisse bei einer Bahnfahrt: „Für uns hatte Mama Schnitten mit Jagdwurst und Käse eingepackt und zwei Flaschen Sprudel. Den kriegten wir in unseren Kababechern zugeteilt. Wiebkes Becher war rot… Als ich aufs Klo mußte, brachte Mama mich hin, aber das Klo war besetzt. Im nächsten Waggon war noch eins.“

Warum soll uns dieser Kleinkram interessieren? Weil sich mit zunehmender Lesedauer ein Sog entwickelt, dem man nur schwer entrinnen kann. Dies wiederum liegt daran, dass wir alle jene Dinge erlebt haben, die hier äußerst detailfreudig in quasi anekdotischen Häppchen ausgestreut werden.

Heißer Atem des unmittelbaren „Jetzt“

Der „Kindheitsroman“ von Gerhard Henschel (Babyboomer-Jahrgang 1962; zeitweise Satiriker bei „Titanic“) versammelt Hunderte, ja Tausende von Bruchstückchen aus dessen eigener Frühzeit zwischen 1964 und 1975. Da war Henschel zwischen zwei und dreizehn Jahre alt und wuchs in Koblenz auf.

Der Weg führt vom Brabbeln bis zur Pubertät, vom herzigen Sandkasten-Drama bis zum onanistischen Gekritzel ins Schulheft. Einige Phänomene (Plattenhits, TV-Sendungen, Fußball-ldole) sind zwar zeitgebunden, doch es strömt ein Fluidum, das wohl jeglicher Kindheit eigen ist – weit übers Individuelle hinaus. Also taucht man doch tief ein in diese scheinbar läppischen Einzelheiten. Und man fragt sich, warum noch kein Autor diese Jedermann-Idee mit jener (fast penetranten) Konsequenz umgesetzt hat.

Das gesamte Inventar des Alltags

Nach und nach wird das gesamte Inventar eines Kinderalltags aufgerufen; mit allen möglichen Streichen, Verfehlungen, fiebrigen Peinlichkeiten, naiven Sprüchen, doch auch mit ersten Liebesregungen, unbändiger Daseinsfreude und wacher Neugier. Zwischen Krabbelgruppe, Spielplatz, Schulhof und Kinderzimmer weht der heiße Atem des unmittelbaren, ach so vergänglichen „Jetzt“. Wohl jeder Leser dürfte spezielle Klangnuancen aus dem „Sound“ des Familienlebens wiedererkennen.

In all dem verbirgt sich auch Zeitgeschichte. Allein die langen Listen über Geschenke, die der Ich-Erzähler, sein Bruder und seine beiden Schwestern zu Weihnachten oder zu Geburtstagen erhalten haben, zeugen von materiellen und lebensweltlichen Entwicklungen des ganzen Landes; teils schmerzlich kommt die spielerische Einübung der Geschlechterrollen hinzu.

Eltern und Lehrer als Karikaturen

Henschel, dessen Familienroman „Die Liebenden“ viele Kritiker entzückt hat, gibt sich erneut lebensnah und bodenständig. Gänzlich verzichtet er auf eine Reflexion aus Erwachsenensicht. Statt dessen arbeitet er sich, just aus der jeweiligen Kinderperspektive, gleichsam Tag für Tag vor. Jede Altersstufe hat ihr eigenes Recht, ihre eigenen Stunden der wahren Empfindung.

Dafür zahlt Henschel einen Preis: Vor allem die Großen, aber auch kindliche Freunde und Feinde aus der Nachbarschaft erscheinen klischiert. Doch selbst darin steckt innere Wahrheit. Die „Mama“ löst beim Fernsehen jede knifflige Quizfrage, ihre Kinder aber nervt sie mit vorgestanzten Ermahnungs-Sätzen. Erst recht tapern die Lehrer als Karikaturen einher, so wie man sie als Kind eben wahrnimmt.

Staunenswert, dass da jemand noch so genau über seine Kindheit Bescheid weiß und derart viel Sammelfleiß investiert. Henschel muss ein präzises Gedächtnis haben; einiges hat er sich vielleicht nachträglich erzählen lassen, auch konnte er auf zeitig geführte Tagebücher zurückgreifen. Ein kundiger „Reiseführer“ jedenfalls, mit dem der Leser in Gefilde der eigenen Kindheit gelangen kann.

Gerhard Henschel: „Kindheitsroman“. Hoffmann und Campe. 494 Seiten, 22,90 Euro (ab heute im Buchhandel).




Neuer Ruhrfestspiel-Chef Frank Castorf: Mehr Osten in den Westen bringen

Von Bernd Berke

Köln. Der Mann aus Berlin gehört zum Jetset der Kultur: Neulich eine Stippvisite in Sao Paulo, demnächst Los Angeles. Jetzt bat Frank Castorf (52), neuer Leiter der Ruhrfestspiele, zum eiligen Pressetreff – nicht etwa nach Recklinghausen, sondern ins feine Kölner Hyatt-Hotel. Die Domstadt hat schließlich einen Flughafen.

Man ist schwer beeindruckt. Auch dann, wenn Castorf über seine Festspiel-Ideen redet – und gar nicht mehr aufhören mag. Doch trotz Nachfragen wird nicht recht klar, was wir nun ab 1. Mai 2004 in und um Recklinghausen wirklich erleben werden. Die Sache ist wohl noch im Werden. Der zur Selbstironie fähige Kreativ-Chaot Castorf wird’s schon richten. Er verspricht originäre, aufs Festival zugeschnittene Produktionen, nennt aber allerlei Koproduktions-Orte wie Berlin, Zürich, Barcelona, Hannover, Avignon, Rotterdam und so fort. Allerorten einzigartig?

Kein Interesse an Zielgruppen

Der in der einstigen DDR aufgewachsene Berliner Volksbühnen-Chef Castorf befindet fürs Ruhrgebiet, nicht nur wegen Zuwanderung und EU-Erweiterung: „Es gibt immer mehr Osten im Westen!“

Also will Castorf das Recklinghäuser Festspielhaus, das ihn an den Berliner Ostbahnhof erinnert (warum nur?), mit blauer Neonschrift verzieren, die da lauten soll: „Ostbahnhof West.“ Der als „Stücke-Zertrümmerer“ etikettierte Regisseur: „Ich will den Ort nicht zerstören, sondern nur anders zurichten.“ Ansonsten hat er sich im Ruhrgebiet (gute Erinnerung aus DDR-Jahren: TV-„Rockpalast“ aus der Essener Grugahalle) noch nicht umgesehen. Ohnehin sagt er: „Zielgruppen interessieren mich nicht.“ Er wolle Impulse setzen, dann werde man sehen. „Nur Vorhang auf. Beifall, Vorhang zu – das ist doch langweilig.“ ‚

Sein Festivalmotto für 2004 soll „No Fear“ (Keine Angst) heißen. Castorf möchte gegen die Furcht beim Wegbrechen alter Strukturen im Revier angehen. Etwaigem Gejammer will er mit der Euphorie Südamerikas beikommen. Theatralische Truppen aus Brasilien und Kolumbien stehen für körpersprachliche Lebenslust, die sich von keinem Elend unterkriegen lässt. Und so, wie es dort Theaterprojekte mit Favela-Kindern gibt, will Castorf mit hiesigen, etwa türkischen Migranten arbeiten. Doch Genaues weiß man nicht. „Soziale Bewegung“ und Kampfgeist wolle man jedenfalls anregen – wie sich denn auch Castorf selbst als „guter Boxer“ versteht.

Projekte mit Marthaler, Schlingensief und Bondy

Etwas konkreter: Als große Festspielproduktion will Castorf selbst eine Dramatisierung von Erich von Stroheims legendärem Stummfilm „Gier“ („Greed“, 1924) unter dem Titel „Gier nach Gold“ präsentieren. Die genialisch-monströse Ur-Fassung dauerte damals rund 13, die fürs Kino abgespeckte Version zweieinhalb Stunden.

Amerika zum Zweiten: Christoph Marthaler schmiedet ein „Texas“-Projekt um Öl-Milliarden, Country-Musik und die Heimat des US-Präsidenten Bush. Franz Wittenbrink gestaltet einen Arbeiterlieder-Abend („Brüder zur Sonne, zur Freiheit“). Derweil soll sich der allzeit putzmunter provokante Christoph Schlingensief auf „Ruhrpott-Rallye“ mit Musik von Richard Wagner begeben. Weiteres Bildungsgut: Luc Bondy (Castorf: „Hohepriester bürgerlichen Theaters“) soll „Die Troerinnen“ nach Sophokles in Szene setzen.

Was sonst noch aus Castorfs Füllhorn quillt: Autokino (Lebensgefühl!), Publikums-Schlafsaal, polnischer Wochenmarkt, Container und Casting. Irgendwie, irgendwo, irgendwann…

Mehr soll dann am 5. Februar 2004 verraten werden – und zwar in Recklinghausen.




Am Abgrund der Angst – aufregende Schau mit Graphik von Edvard Munch im Münsteraner Landesmuseum

Von Bernd Berke

Münster. Gute Laune verspürte der ansonsten oft schwermütige Edvard Munch (1863-1944) schon beim bloßen Anblick einer Kupferplatte. Die Freude, in die „jungfräuliche“ Fläche zu ritzen, übertraf mitunter selbst seine drangvolle Lust an der Malerei. Also zeigt das Landesmuseum in Münster etwas Wesentliches, wenn es jetzt den Graphiker Munch würdigt.

Die fast 200 Exponate stammen aus dem Berliner Kupferstichkabinett. Dort verwahrt man den (nach Oslo) weltweit größten Fundus an Munch-Druckgraphik meist im Dunkel des Depots, auch wegen konservatorischer Bedenken.

In Münster werden die Holzschnitte, Lithographien und Radierungen so großzügig präsentiert, als wären es Ölgemälde. Man muss nicht zentimeternah heranrücken, um filigrane Einzelheiten zu erspähen. Munch war ein Meister der höchst prägnanten Formen, die schon aus der Distanz ihre Wirkung ausüben.

Leitsatz des Künstlers: „Ich male nicht, was ich sehe, sondern das, was ich gesehen habe.“ Bilder der Erinnerung also, die die Realität eher schattiert herbeizitieren und psychologisch umso genauer treffen. Von Munchs Motiven fühlt man sich direkt, existenziell und exemplarisch angesprochen.

Ein sterbenskrankes Kind schaut ins Jenseits

Ein Beispiel: „Das kranke Kind“ (1894/1896), in mehreren Fassungen entstanden nach dem Tod seiner Schwester Sophie, die mit 15 Jahren an Tuberkulose starb. Zunächst wacht noch die untröstliche Mutter bei dem Mädchen, das später gänzlich aus dem Zusammenhang des Zimmers gelöst wird und (buchstäblich sterbensallein) dem Betrachter optisch ganz nahe rückt, während es sich seelisch schon weit entfernt hat. Traumverloren und körperlich schon transparent, schaut es in den Vorschein eines gleißenden Jenseits.

Auch die vermeintlich in vollem Saft Lebenden zeigt Munch oft als isolierte Figuren, wie ausgestanzt aus ihrer Umgebung. Selbst die Bilder aus seinen wilden Bohème-Jahren in Oslo und Berlin geraten düster, etwa nach dem Motto: Auch mitten im Saufen und Herumhuren sind wir vom Tod umfangen.

Überhaupt regiert die Angst: Die „Pubertät“ (vor Zukunftsschauer frierendes nacktes Mädchen) erscheint als allenfalls bang hoffendes Weh und Ach. „Eifersucht“, „Trennung“ oder auch „Die Geisteskranke“ sind so gültig verdichtet, dass man die Titel nicht lesen muss. Ungemein zielsicher auch die Porträts, so von Strindberg oder Ibsen.

Frauenbildnisse zwischen Madonna und „Sünderin“

Im Zentrum der aufregenden Münsteraner Schau aber stehen die Frauen; mal madonnenhaft, dann wieder sündig, zuweilen beides zugleich. Bestürzend, dass Munch eine Geliebte (Geigerin aus England) als verrucht schöne „Salome“ zeigt und sich selbst als Johannes. Biblisch gedeutet, hieße das: Sie hat ihn Kopf und Kragen gekostet.

Auf anderen Bildern erscheint das gefährlich lockende Weib als Vampir. Ein weiteres Mädchen küsst den knochigen Tod, eine Nackte ihren Liebhaber – mit inbrünstiger Gier, als ginge es danach ans Sterben. Lechzen am Rande des Abgrunds. Weniger bekannte Tierbilder geben dem kreatürlichen Dasein einen Drall ins Groteske. Und Munch hat einen umfangreichen Zyklus geschaffen, der die Schöpfungsgeschichte noch einmal neu mit Szenen aus dem modernen Seeleleben aufrollt. Statt Adam und Eva leiden hier Alpha und Omega als aus dem Paradies vertriebenes Paar.

Zu jener Zeit hatte Munch seine Kopenhagener Therapie (Angstzustände, Alkoholismus) bereits hinter sich. Die späteren Werke nähern sich wieder der realen Welt. Harte Arbeit, einfache Verrichtungen in karger Landschaft, manchmal am Rande des Genre-Idylls. Vielleicht Balsam für des Malers wunde Seele.

Edvard Munch – Graphik. Westfälisches Landesmuseum Münster (Domplatz). 9. November 2003 bis 1. Februar 2004. Di-So 10-18 Uhr. Katalog 25,50 Euro.




Die Macht der Kriegsfotografie – Susan Sontags neues Buch „Das Leiden anderer betrachten“

Von Bernd Berke

Morgen bekommt Susan Sontag den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. In ihrem aktuellen Buch widmet sich die amerikanische Essayistin der zwiespältigen Schaulust angesichts fremden Leids.

Das Thema lässt sie nicht los: Schon 1977 hat es Susan Sontag in ihrem Buch „Über Fotografie“ aufgegriffen. Damals war die Kriegsfotografie nur ein Bereich unter vielen. Jetzt richtet die hellsichtige Essayistin, die an diesem Sonntag in der Frankfurter Paulskirche den Friedenpreis des Deutschen Buchhandels bekommt, ihren medienkritisehen Blick ganz auf die bildlich erfassten Greuel.

„Das Leiden anderer betrachten“ heißt der Band. Schon im Titel schwingt Unbehagen mit, das wahrlich angebracht ist: In aller Regel sind wir räumlich so fern von den schrecklichen Geschehnissen, dass es fast obszön anmutet, Fotografien fremden Leidens anzuschauen.

Rütteln Fotos auf oder stumpfen sie ab?

Andererseits, so Susan Sontag, muss immer wieder auf Kriege und Völkermorde aufmerksam gemacht werden, damit man nicht vergisst und sich vielleicht sogar engagiert. Denkt man noch eine Windung weiter, erhebt sich freilich die Frage, ob solche Bilder tatsächlich nur aufrütteln oder ob sie nicht irgendwann durch Fülle und Allgegenwart abstumpfen. Kaum zu leugnen sei doch diese sehr zwiespältige Schau-Lust, die seit jeher den nackten und den geschundenen menschlichen Körper betrifft.

Selbst neueste Fotografien beziehen sich oft auf christliche Traditionsmuster. Die Vergegenwärtigung menschlichen Leides geht letztlich zurück auf religiöse Bildnisse: Christus am Kreuz, die Qualen der Märtyrer.

In früheren Jahrhunderten, so legt Susan Sontag dar, diente die (zeichnerische und malerische) Darstellung des Krieges der Heldenverehrung. Im Krimkrieg und anderswo waren dann Fotografen im staatlichen Auftrag unterwegs und hatten beruhigende Botschaften zu liefern. Von Leiden keine Spur. Neuerdings musste man im Irak-Krieg erleben, wie versucht wurde, den Strom der Bilder wieder stärker zu lenken.

Bilder im kollektiven Gedächtnis

Etwa seit der Zeit, als Francisco Goya (im 17. Jahrhundert) das organisierte Morden in seiner berühmten Bilderserie „Die Schrecken des Krieges“ denkbar drastisch und fratzenhaft zeigte, gibt es jedoch den nie mehr ganz zu unterdrückenden Impuls der Mahnung und Anklage, der sich später auch auf die Fotografie übertrug. Seither haben sich viele Bilder ins kollektive Gedächtnis eingebrannt, so etwa Robert Capas fallender Soldat aus dem Spanischen Bürgerkrieg der 1930er Jahre, so auch der Kopfschuss aus nächster Nähe oder die entblößten, schreiend vor dem Napalm-Inferno flüchtenden Kinder im Vietnamkrieg.

Susan Sontag kommt zu°dem Schluss, dass solche fürchterlich prägnanten Einzelaufnahmen nachdrücklicher wirken als Femsehbilder. Ihr Buch gibt die Fotografien nicht wieder, wohl weil die Autorin annimmt, sie seien präsent genug. Auch will sie etwaige Schaulust nicht bedienen, sondern ihre Bedingungen erkunden.

Gegen die Simulations-These von Jean Baudrillard

Anhand zahlreicher Beispiele macht sie klar, dass selbst gänzlich objektiv wirkende Dokumentarfotografie noch Elemente der Inszenierung enthält – und sei es nur durch den subjektiven Blickwinkel des Fotografen. Manche berühmte Kriegsfotografie entstand erst nach den Kämpfen und war gestellt, was ihren inneren Wahrheitsgehalt nicht unbedingt mindert. Technische Tricks oder auch Bildunterschriften könnten ein Foto manipulieren. Naive Betrachtung verbietet sich also.

Gänzlich verwirft Susan Sontag jedoch die Thesen des französischen Philosophen Jean Baudrillard, der letztlich alle Ereignisse und deren Abbildung als bloße Simulation auffasst. Einfacher Grund: Jene, die leiden, leiden schmerzhaft wirklich.

Eine würdige Friedenspreisträgerin

Simple Antworten gibt es auf diesem Felde nicht. Susan Sontag führt uns denn auch durch ein Labyrinth der Widersprüche. Gelegentlich muss auch sie eine gewisse Ratlosigkeit eingestehen. Doch man merkt in jeder Zeile, dass sie eine würdige Friedenspreisträgerin ist, so umsichtig und verantwortungsvoll geht sie zu Werke. Nicht jede ihrer Ideen ist neu oder originell, doch in der Summe ergibt sich eine Gedanken-Bewegung, die einen in jeder Hinsicht mitnimmt.

Susan Sontag: „Das Leiden anderer betrachten“. Hanser-Verlag, 151 Seiten, 15,90Euro.




Mit Ross und Reiter auf der Formensuche – Ruhrfestspiel-Schau über Marino Marini

Von Bernd Berke

Recklinghausen. Mit seinen zahllosen Ross- und Reiterfiguren hat er ehedem so manche Schulbuchseite geschmückt. Offenbar war dem Werk des italienischen Bildhauers Marino Marini (1901-1980) etwas Gefälliges und Verträgliches eigen.

In der Kunsthalle Recklinghausen, die jetzt einen Marini-Überblick als Ausstellungs-Beitrag zu den Ruhrfestspielen offeriert, finden sich gleichfalls etliche Beispiele für derlei harmonischen, allseits genehmen Sinn. Die Präsentation hat über weite Strecken etwas vom spröden, verblassten Charme der 1950er Jahre. Man mag das auf zweierlei Weise bewerten: Hat Marini den damaligen Zeitgeist zuinnerst erfasst, oder gelangte er nicht über dessen Grenzlinien hinaus?

Die Schau ist mit 120 Arbeiten bestückt. Die Bronze-Skulpturen, Zeichnungen und Gemälde stammen überwiegend aus dem Nachlass, der in Marinis Geburtsort Pistoia verwahrt wird. Hie und da wird ein Hang zu sperrigen, sich tendenziell auflösenden Formen des Zerfalls sichtbar – eine verkannte Seite Marinis.

Spektrum umfasst nur wenige Motive

Dieser Künstler hat sich zeitlebens auf wenige Themenfelder beschränkt. Mit Porträts, Akten, Reiterdarstellungen und Gauklern ist sein Spektrum nahezu erschöpft. Diese Figurationen hat er allerdings unermüdlich durchbuchstabiert. Allein die Vielfalt der Oberflächen-Strukturen, über die das Licht immer wieder anders gleitet, ist frappant.

Ästhetisch auf den alten Spuren der Etrusker wandelnd, drang der Toskaner immer wieder zu urtümlichen Formfindungen vor, die gleichzeitig den Geist traditionsgebundener Moderne atmen. Man findet hier beispielsweise das allgegenwärtige Pferd mitunter äls recht gerundetes Abbild der Natur, doch auch als zeichenhaftes Wesen, als Essenz. Abgemagerte, ja nahezu skelettierte Tiere, im steilen Sturze begriffen oder schon zu Boden gesunken, könnten auf eine skeptische (doch nie verstörende) Weltsicht hindeuten. Giacomettis dürre Gestalten sind hier ziemlich nahe.

Nennenswerten Widerstand gegen Italiens Faschisten hat Marini zwar nicht geleistet, er durfte lehrend tätig bleiben. Doch er hat sich auch nicht vereinnahmen lassen. Vielleicht waren die Etrusker sein Fluchtpunkt aus der Gegenwart. Der Versuch, über den Zeiten zu stehen.. .

Abstraktion ist kein Königsweg

Vor allem in den 50er Jahren genoss Marini dann weithin ausstrahlenden Ruhm, er galt damals als einer der größten Plastiker neben Henry Moore und Alberto Giacometti. Wohl auch deshalb saßen ihm für Porträtbüsten Kulturgrößen wie etwa Marc Chagall, Oskar Kokoschka oder auch Henry Miller Modell. In der Reihung wirken diese Köpfe nun so, als habe Marini die Physiognomie des Künstlertums an sich ergründen wollen.

Was von heute aus gesehen vernünftig anmutet: Die Abstraktion war nie Marinis höchstes Ziel. Sie ist nur eine Möglichkeit, kein Königsweg. Gelegentlich hat Marini ihre Ränder gestreift. Auch in diesen Gefilden ließ er sich von Naturvorbildern leiten. Er hat den Pfad des Gegenstands nie ganz verlassen.

Marino Marini. 4. Mai bis 22. Juni. Kunsthalle Recklinghausen (am Hauptbahnhof). Di-So 10-18 Uhr. Katalog 19 Euro.




Verloren in der grauen Tiefe – Strindbergs „Fräulein Julie“ im Wuppertaler Schauspielhaus

Von Bernd Berke

Wuppertal. Ein paar karge Podest-Planken bedeuten hier die Welt, ein Bühnenbild im eigentlichen Sinne gibt es nicht. Wer nach bildkräftigem Theater hungert, der findet mit August Strindbergs Dreipersonendrama „Fräulein Julie“ in Wuppertal (Regie: Kathrin Sievers) keine Nahrung.

Grafentochter Julie ist das unechte Adelsdasein leid und will ihre Triebe nicht länger unterdrücken. Dem ebenso virilen wie aufstiegswilligen Kammerdiener Jean ist’s genehm. via Sex auch noch ans Startkapital für eine Hoteleröffnung heranzukommen. Doch finanziell hat Julie leider nichts zu bieten. Also lässt Jean die Gestrauchelte fallen und wendet sich wieder seiner treudümmlichen Alltagsgespielin z, der Köchin Kristin. Julie wählt als düpierte „Domestiken-Dirne“ den Freitod.

Nun könnte der (auch durch Sparsamkeit erzwungene?) Verzicht auf alle optischen Reize für eine Konzentration auf den Text und dessen Wesenskern stehen. Leitgedanke: Nur nichts Überflüssiges, nichts Ablenkendes zeigen. Doch dazu hätte man das Stück ganz anders ergreifen, gliedern oder umwenden müssen. So aber gibt’s weder ein Traumspiel noch harten Realismus, weder kunstvolle Stilisierung noch differenzierte Textauslotung oder Zertrümmerungs-Ästhetik. Dem Ganzen fehlt ein charakteristischer Umriss. Kein Profil, nirgends.

Eine Szene sieht folglich aus wie die andere, das Geschehen verliert sich in der öden grauen Tiefe des Bühnenraumes, nur in ganz raren Momenten rückt es uns etwas näher. Für Sekunden leuchtet da die Utopie eines Liebesverhältnisses jenseits der Standesschranken auf – und erlischt sogleich. Es regt sich kaum ein erotisches Knistern in dieser angeblichen Mittsommernacht und auch kein allmähliches Schweben.

Sascha Icks als Julie im luftigen Tanzkleidchen trippelt zwischen herkunftsgemäßer Strenge und emotionaler Bedürftigkeit nur schemenhaft durch die Rolle. Thomas Braus als Jean gibt erst den devoten Diener mit strategischen Hintergedanken, sodann das reißende männliche Raubtier, doch beides ohne wahre Konturen. Pirkko Cremer als Köchin Kristin wirkt wie ein reichlich naives, folkloristisch getöntes Anhängsel.

Termine: 4., 13., 16., 27. April. Karten: 0202/569-44 44.




Ein Rest von Unbehagen: Rundgang durch die Frankfurter Buchmesse / Erhöhte Sicherheits-Maßnahmen

Aus Frankfurt berichtet Bernd Berke

„Öffnen Sie bitte Ihre Tasche!“ heißt es freundlich aber bestimmt am Eingang. Erst nach eingehender Prüfung darf ich das Gelände der Frankfurter Buchmesse betreten. Später, an den Pforten zur Halle 8, erledigen die Sicherheitskräfte die Durchsieht nochmals – jetzt ganz ohne meine Mitwirkung. Hier geht’s noch bedeutend gründlicher zu. Es ist nur allzu verständlich, denn in diesem Bereich stellen u. a. Verlage aus den USA, Großbritannien und Israel aus.

Die sichtbare Polizei-Präsenz bei den folgenden Messerundgängen hält sich in Grenzen. Man ist jedenfalls froh, dass Vorkehrungen getroffen werden. Beispiel: Es gibt keine Schließfächer, in denen jemand Explosives deponieren könnte. Um Punkt 19 Uhr müssen alle Hallen menschenleer sein, am anderen Morgen werden sie erneut durchkämmt. Trotz alledem bleibt ein haarfeiner Rest von Unbehagen. Heuer in Frankfurt zu sein, ist etwas anders als ehedem.

Branchenthemen rücken in den Hintergrund

Der Terror des 11. September hat eben auch das altvertraute Buchmessen-Feeling nicht ganz unberührt gelassen. Branchenthemen wie Euro-Umstellung oder Urhebervertragsrecht rücken in den Hintergrund. Und Editionen, die sonst vielleicht Trends markiert hätten, wirken auf einmal läppisch, beispielsweise die nun zahlreich erschienenen Bände, die im Gefolge des Fernseh-Quizbooms die Lust an raschen und eindeutigen Antworten nähren. Doch das Leben ist leider kein Quiz.

Akutere Relevanz besitzen hingegen viele der eilig in den Vordergrund geschobenen Bücher über den Islam. Allseits sehen sich nun Schriftsteller unter Erwartungsdruck gesetzt, dem bitteren Ernst der Weltlage gerecht zu werden. Manche wehren sich schon gegen derlei Ansinnen, so etwa gestern am Messestand der Wochenzeitung „Die Zeit“ der prominente Dramatiker Moritz Rinke.

Der Druck, jetzt Bücher über Terror zu schreiben

Bis man ein Buch zum Thema geschrieben und herausgebracht habe, hätten die Journalisten doch schon alles abgegrast, befand der Autor. Der „hohe Geräuschpegel“ mancher Darstellung gehe ihm schon jetzt auf die Nerven. Dennoch fürchtet auch Rinke, dass alle anderen Stoffe jetzt unter Nichtigkeits-Verdacht geraten. Im WR-Interview (ausführlich in einer der nächsten Ausgaben) äußerte sich auch Wilhelm Genazino ablehnend. Wer von Autoren jetzt nur noch dieses eine Thema fordere, der übe geistigen Zwang aus.

Heute, genau einen Monat nach den Attentaten, soll in den Messehallen eine Schweigeminute zum Gedenken an die Opfer eingelegt weiden. Ohnehin geht es spürbar gedämpfter zu als sonst. Mag sein, dass sich dies im Lauf der Messetage normalisiert. Doch gestern hielten sich notorische Marktschreier für Druckwaren merklich zurück, und wo ein Werbefilm-Monitor lief, da hatte man den Ton zumeist auf Schwundstufe gedreht. Das gilt nicht zuletzt für die Hallenbezirke der US-Verlage. Wegen einiger Absagen klaffen hier denn doch ein paar empfindliche Lücken in den Reihen der Kojen.

Griechenland – nicht allzu lektürefreundlich

Orts- und Szenenwechsel: Mit dem Griechenland-Schwerpunkt ist das so eine Sache. Das Land so vieler antiker Klassiker ist heute nicht gerade lektürefreundlich. Nur 19 Prozent der Griechen lesen regelmäßig Zeitung. Zwar gibt’s in der Hauptstadt Athen eine ruhmreiche Straße mit Dutzenden von Buchladen, doch nur rund 700 000 von 10 Mio. Einwohnern des Staates dürfen als verlässliche Buchkonsumenten gelten. Ein wenig spiegelt‘ sieh dies auch in der Frankfurter Sonderschau, die mit vielen touristischen Reminiszenzen, Musik und bildender Kunst durchaus sinnlich garniert ist. Fast könnte man die Bücher aus und über Griechenland für Nebensachen halten. Dennoch kann man nicht nur von Homer bis Platon, sondern auch bei den griechischen Gegenwartsautoren einiges entdecken; zumal auf dem Felde der lyrischen Produktion.

Ein Kompliment muss man den Messegestaltern machen. Sie haben einiges verändert. Die Messe ist deutlich kompakter geworden, die neue Halle 3 (hier und in Halle 4 konzentrieren sich die deutschsprachigen Verlage) lässt reichlich Tageslicht zu den Büchern, man fühlt sich nicht mehr wie in einem großen Lesebunker. Neu sind auch das „Forum“ (Griechenland-Schwerpunkt) und ein großes Parkhaus, das etwaiges Anfahrts-Chaos mildert. All das könnte man als Besucher ungetrübt genießen. Wenn denn die Begleit-Umstände anders wären…

Bis Freitag nur für Fachbesucher. Sa/So. (13. und 14. Oktober) ist die Messe für alle zugänglich (jeweils 9 bis 18.30 Uhr). Tageskarte 14 DM.




Aus dem Baukasten der modernen Kunst – Dortmunder Ostwall-Museum zeigt die „Sammlung Hoh“

Von Bernd Berke

Dortmund. Da musste selbst Ingo Bartsch, der Direktor des Ostwall-Museums, passen. Eine ganz Reihe von Künstlernamen aus der Sammlung des Fürther Ehepaares Hoh war ihm vormals nicht geläufig. Die offenkundig begüterten Leute, über deren finanzielle Hintergründe nichts verlautet, lassen sich bei ihren Kunstkäufen weniger von berühmten Namen als von Marktlage und Geschmacks-lmpulsen leiten.

Nicht immer beweisen sie dabei eine glückliche Hand. Wie man jetzt anhand von rund 100 Exponaten am Ostwall überprüfen kann, enthält die Sammlung auch etliche kraftlosere Stücke aus der „zweiten Reihe“ der Moderne. Es gibt wenige Gipfel, eher die Mühen der Ebene.

Man sieht also Werke von weniger bekannten, gelegentlich, auch weniger begabten Konstruktivisten, Futuristen, Expressionisten, Surrealisten und so weiter. Böswillig könnte man sagen, dass die Kollektion Beispiele fast aller stilistischen „-Ismen bis zur Mitte des Jahrhunderts wie Kraut und Rüben versammelt. Eine sinnvolle Hängung war gewiss nicht einfach. Sie ist aber erstaunlich gut geglückt und stiftet den einen oder anderen Zusammenhang zwischen den Bildern und Skulpturen.

Freiraum für „Entdeckungen“

So wird aus dem Sammelsurium denn doch ein lehrreicher Baukasten der Moderne. Hier lässt sich manche bildnerische Essenz des Jahrhunderts noch einmal nachvollziehen. Doch vieles ist nur ein fernes Echo der eigentlichen Beweger. Nun gut, nicht jeder kann ein Picasso sein.

Da die Sammlung erst ab Mitte der 80er Jahre entstanden ist, muss man zudem berücksichtigen, dass absolute Spitzenwerke der Klassischen Moderne seither so gut wie unbezahlbar sind. Auch kommt nicht immer alles nach Belieben auf den Markt. Es bleibt abzuwarten, welche Schwerpunkte sich mit den Jahren in dieser Sammlung entwickeln. Sie ist im Werden. Dies ist spannender als eine allseits „abgesicherte“ Auswahl.

Nicht den neuesten Moden nachhecheln

Sympathischer Zug, dass die Sammler nicht den neuesten Moden der Westkunst nachhecheln. Gut auch, dass sie die Aufmerksamkeit sonst weniger beachteten Ländern wie Schweden, Dänemark, Ungarn oder Mexiko widmen. Vor allem aber: Gerade der Umstand, dass sie sich abseits der ausgetretenen Pfade umgesehen haben, öffnet den Blick des Betrachters für Nebenwege. Hie und da kann man seinen Horizont erweitern.

Rings um das eine oder andere Nebenwerk der Prominenz (Feininger, Hoetger, Jawlensky, Kirchner oder Morgner, Zadkine) bleibt also viel Freiraum für „Entdeckungen“.

Einen starken Eindruck hinterlassen beispielsweise die Arbeiten von Walter Gramatté (1897-1929). Besonders sein Einsamkeits-Bildnis „Mann im Schlitten“ (1920) übt einen ungeheuren Sog aus, aber auch „Der Abschied“ (1920) kündet nachhaltig von Wärme- und Kältezonen einer Liebesbeziehung. Das Selbstbildnis des Dietz Edzard (1893-1963), mit Palette und wie zur Abwehr eines Angriffs erhobenem Malpinsel, hat gleichfalls bannende Kraft.

Es fällt auf, dass motivische Vorlieben das Sammlerinteresse prägen. Gleich dreimal sind (in unterschiedlichster Ausprägung) paradiesische Szenen mit Adam und Eva vertreten. Auch die melancholischen Momente der Liebe kehren auf einigen Bildern wieder.

Sammlung Hoh. Museum am Ostwall, Dortmund. Bis 13. Februar 2000. Di-So 10-17 Uhr. Eintritt 4 DM, Katalog 39 DM.




Satelliten über dem Kuhstall – Hagen: NS-Kunst mit bäuerlicher Wirklichkeit konfrontiert

Von Bernd Berke

Hagen. Osthaus-Museumsleiter Dr. Michael Fehr ist kein Freund des Augenschmauses ohne Hintersinn. Lieber zeigt er Bilder-Folgen, die Gedankenspiele anregen. Darauf zielt auch die Schau „Landschaft und bäuerliches Leben in Südwestfalen“ ab.

Ausgangspunkt sind jene Bilder, die zwischen 1938 und 1944 in den Hagener Museums-Fundus eingingen und seit Kriegsende aus gutem Grund im Depot blieben. Quelle der Ankäufe waren seinerzeit die „Großen Sauerländischen Frühjahrsausstellungen“. Dort gab es Kunst, die den NS-Machthabern genehm war: Bruchlos wurde der Mythos vom treudeutschen Landmann bedient. Das war verlogen, denn gerade in jener Zeit wurde die Rationalisierung bäuerlicher Betriebe vorangetrieben.

Das Schlagwort „Nazi-Kunst“ trifft nur bedingt. Nicht alle diese Werke, die vielfach tradierte Formen aufgreifen, sind gleich schlecht. Ja, es ergeben sich gelegentlich gar ästhetische Anklänge an Arbeiten etwa einer Käthe Kollwitz, die als Kontrast gezeigt werden. Doch bei Kollwitz ist bäuerliche Arbeit kein heroischer Akt für Blut und Boden, sondern irdische Mühsal. Und wenn ein Ewald Mataré ein Rind zur Skulptur formt, so. kommt die behutsame Abstraktion dem Wesen des Tieres ungleich näher als jene muskulösen Wunder-Viecher der meisten NS-Maler.

Der beherrschende Blick von oben

Minder begabte Künstler hielten sich oft an die Überlieferung eines von oben herab beherrschenden Blicks auf die Landschaft. Gespenstisch, wie diese Sicht heute technisch auf den Begriff gebracht wird: Man sieht einen Lehrfilm zur Satelliten-Navigation, mit der aus dem All sämtliche Anbaugebiete der EU metergenau kontrolliert werden. Eine Museumswand ist mit Formularen tapeziert, die ein Bauer heute ausfüllen muss. Sein Hauptarbeitsplatz ist nicht der (automatisierte) Kuhstall, sondern der Computer. Der- Dortmunder Landwirt Erhard Freudenberger, der die Schau mitgestaltet hat, bestätigt es seufzend.

Nicht nur die ausgestellten Schulbücher und Schautafeln lassen es ahnen: Trotz aller Technik wird unsere Vorstellung immer noch vom Rösslein geprägt, das der Bauer im Märzen anspanne. Mit solch grotesken Bewusstseins-Verspätungen geht man am besten ironisch um. Der Künstler Bernd Gutzeit (vormals Karikaturist der WR) hat es getan. Seine raumgreifende Installation mit ausgestopften Tieren und allerlei altem bäuerlichem Gerät lässt uns schmunzeln, aber auch wehmütig spüren, dass diese Welt längst im Meer der Zeit versunken ist.

Osthaus-Museum. Hochstraße 73. Vom 19. Sept. bis 31. Okt.




Was ist echt, was ist falsch? – Vom Unbekannten mit Schlapphut und der Essener „Jawlensky-Ausstellung“

Von Bernd Berke

Essen. Ein richtiger kleiner Kunst-Krimi verbirgt sich hinter der neuen Ausstellung im Essener Folkwang-Museum. Man stelle sich vor: Da tauchte vor Jahren ein anonymer Herr mit tief ins Gesicht gezogenem Schlapphut auf und führte dem deutschen Markt Hunderte von Aquarellen des modernen Klassikers Alexej von Jawlensky (1864-1941) zu. Von der Existenz einer solchen Werkgruppe hatte bis dato auch die Fachwelt nichts gewußt oder auch nur geahnt.

Spurlos ist der „große Unbekannte“ mit dem Schlapphut dann wieder verschwunden – und er hat ein bisher ungelöstes Rätsel hinterlassen: Sind die angeblich zwischen 1906 und 1920 entstandenen Aquarelle echt, oder handelt es sich um raffinierte Fälschungen?

Die Frage konnte nicht einmal naturwissenschaftlich geklärt werden. Stichprobenartige Materialuntersuchungen (Papier- und Farbsorten usw.) ergaben zwar keine Hinweise auf Fälschungen, doch die Herkunft des Riesenkonvoluts von 600 Aquarellen (waren sie in Revolutions- und Kriegswirren versteckt worden?) ist nun einmal höchst dubios. Einige Experten haben die Echtheit heftig bestritten.

Ein Wagnis fürs renommierte Museum

Es bedeutet also ein gewisses Wagnis, wenn jetzt das renommierte Folkwang-Museum diese Dinge ausstellt. Das Unterfangen könnte den guten Ruf ankratzen. Andere Häuser mochten dergleichen nicht riskieren, die Ausstellung hat keine weitere Station.

Museumsdirektor Georg-W. Költzsch sah sich denn auch zu Klarstellungen genötigt: Keinesfalls werde die Schau von Privat-Galerien mitfinanziert, die an einer Aufwertung der Aquarelle interessiert sein könnten. Man wolle selbst an der Klärung mitwirken und sei für alle Thesen empfänglich. Eine hochkarätig besetzte Fachtagung könne womöglich erste Aufschlüsse geben. Im Falle eines Nachweises werde man auch Fälschungen zugestehen. Költzsch: „Wir stellen uns dem Härtetest.“

„Wir wollen es wissen!“ sagt auch Prof. Michael Bockemühl (Kunsthistoriker an der Privatuni Witten/Herdecke), der die Ausstellung maßgeblich mitbetrieben hat und die Bilder für echt hält. Bockemühl: „Bisher gibt es kein stichhaltiges Argument dagegen.“ Man habe einen Briefwechsel zwischen Alexej von Jawlensky und seinem Bruder aufgefunden, in dem von einer Vielzahl von Aquarellen die Rede sei.

Ratlose Parole: „Das Auge ist der Richter“

Die Ausstellung führt eine Auswahl von 37 Ölgemälden (darunter Leihgaben aus dem Hagener Osthaus- und dem Dortmunder Ostwall-Museum), welche unstreitig von Jawlensky stammen, mit 150 der zweifelhaften Aquarelle zusammen. Motto der Auswahl: „Das Auge ist der Richter“. In aller Ratlosigkeit stellt man die Frage nach Original und Fälschung jetzt auch subjektiver Betrachtung anheim.

Es befinden sich ersichtlich einige dermaßen unausgereifte Aquarelle in der Ausstellung, daß sie wohl schwerlich von Jawlensky stammen können. Zugleich sind solche minderen Stücke aber auch ein Argument gegen die Fälschungs-Hypothese. Welcher Nachahmer würde solche Werke in die Welt setzen, wenn er doch den Eindruck erwecken will, sie stammten von einem großen Künstler? Und welcher Kopist würde überhaupt 600 Aquarelle produzieren und damit die Preise per Überangebot wieder nach unten drücken?

Etliche Aquarelle zeugen aber von meisterlichem Duktus, der auf Jawlensky hindeutet. Hier und da weist die Strichführung auf den sicher zugeschriebenen Ölbildern und den motivisch vergleichbaren Aquarellen (Porträts, Mittelmeer-Landschaften usw.) frappierende Ähnlichkeiten auf. Nur: Auch dies könnte auf einen geschickten Fälscher schließen lassen…

Museum Folkwang, Essen (Goethestraße / Tel.: 0201 / 884 53 14). Bis 22. März. Di-So 10-18, Do 10-21 Uhr. Katalog 45 DM.

 




Wenn jeder Gestaltungswille erlischt – Willem de Koonings Spätwerk in Bonn

Von Bernd Berke

Bonn. Wenn in den letzten Jahren von Willem de Kooning die Rede war, dann weniger von seinen Bildern als von seinem Leiden. Der 1904 geborene Künstler lebt mit der Alzheimer-Krankheit und ist gar entmündigt worden.

Man denkt dieses Schicksal unweigerlich mit, wenn man jetzt seine Bilder aus den 80er Jahren im Bonner Kunstmuseum betrachtet.

Die Arbeiten tragen allesamt keine Titel, und sie sind denkbar abstrakt; jedoch nicht von einer souveränen, alles Überflüssige aussparenden Art, sondern seltsam vage im Gestus. Impulsive Farbschleier und Spuren-Verläufe, meist in leuchtendem Gelb, Rot und Blau, ziehen und schlängeln sich durch all diese 35 Großformate. Wenig einprägsam. Man könnte glauben, unvollständige, zwischendurch aufgegebene Puzzles vor sich zu haben.

Ist es eine Kunst des Weglassens auf dem Weg zum Wesentlichen, oder sind es nicht doch bestürzende Protokolle der Resignation, eines fortschreitenden Verlustes? De Kooning ist hier wohl nicht mehr auf der früheren Höhe seiner bildnerischen Kräfte, und vielleicht hätte man ihm diese museale Bloßstellung ersparen sollen, gegen die er sich nicht mehr wehren kann.

Der vormals so machtvolle Künstler scheint in dieser späten Schaffenszeit beseelt vom Drang zu einer nur noch auflodernden Helligkeit, die irgendwann jeden Umriß und jeden Gestaltungswillen auzulöschen droht. Es wirkt so, als seien die völlig weiße Leinwand, Zeit- und Ortlosigkeit seine Ziel- und Fluchtpunkte. Es fällt sehr schwer, ihm in solche Fernen zu folgen.

Nur am Anfang dieser Phase, im Jahr 1981, hat De Kooning noch seine Signatur hinterlassen. Namenlos gemalt, sehen die weiteren Arbeiten dann zunehmend tatsächlich wie anonyme Hervorbringungen aus. Wüßte man nicht, von wem sie stammen, würde man wohl unnachsichtiger und respektloser urteilen.

Parallel zu de Kooning sind im selben Hause (bis 22. September) illustrierte Bücher von der Hand Pablo Picassos zu sehen. Hier kann man spüren, was rege künstlerische Inspiration vermag. Und gleich gegenüber gastiert in der Bundeskunsthalle das großartig bestückte „Moderna Museet“ aus Stockholm (die WR wird darauf zurückkommen). Bonn ist zwar nicht mehr politische Hauptstadt, mausert sich aber zur Kunst-Kapitale.

Willem de Kooning: Das Spätwerk – Die achtziger Jahre. Kunstmuseum Bonn (Friedrich-Ebert-Allee 2 („Museumsmeile“). Bis 18. August. Di-So 10-18 Uhr. Katalog 49 DM.