Erschütternde Anthologie: „Zuflucht in Deutschland“ versammelt Texte verfolgter Autoren aus aller Welt

Unser Gastautor, der Schriftsteller Heinrich Peuckmann (Dortmund/Kamen), über ein Buch mit Texten verfolgter Autorinnen und Autoren aus vielen Ländern:

Das PEN-Zentrum Deutschland ist das einzige von etwa 140 PEN-Zentren weltweit, das ein „Writers-in-Exile“-Programm hat. Acht verfolgte, mit dem Tode bedrohte Schriftsteller, die nicht selten Gefängnisstrafen mit Einzeln- oder Dunkelhaft hinter sich haben, bekommen für ein oder zwei Jahre ein Stipendium, das heißt eine Wohnung und Geld zum Leben. Das sind die Fakten. Doch Anschaulichkeit stellt sich erst ein, wenn man Texte dieser Autoren liest.

Der ehemalige PEN-Präsident Josef Haslinger und die „Writers-in-Exile“-Beauftragte Franziska Sperr haben nun das verdienstvolle Unternehmen gestartet und eine Anthologie mit Texten von zwanzig dieser verfolgten Autoren herausgegeben. Autoren aus vielen Ländern vereinigt dieser Band, aus Tschetschenien, Kuba, Kolumbien, Kamerun, Syrien, der Türkei, Tunesien, Vietnam usw.

So vielfältig die Länder, so vielfältig auch die Texte. Berichtende Beiträge stehen neben Gedichten, Erzählungen und Romanauszügen. Der Aufbau ist immer gleich. Zuerst werden Autorin oder Autor vorgestellt, werden Ausbildung, literarische Schwerpunkte, Erfolge genannt und dann, unausweichlich, ihre Konflikte mit den Autokraten in ihren jeweiligen Ländern, die sie letztlich zur Flucht veranlassten.

Bei jedem neuen Autor ertappt sich der Leser, obwohl er es längst besser weiß, beim Gedanken, dass solche literarische Leistung nun wirklich kein Grund für Verfolgung, sondern für Anerkennung, ja Stolz sein müsste. Aber nach Veröffentlichung irgendeines kritischen Textes folgen stets die gleichen Reaktionen: Beschimpfungen, Verfolgung, Gefängnis, Morddrohungen.

Dass die Tschetschenin Maynat Kurbanova nach kritischer Berichterstattung über den Krieg in ihrem Land 2003 geflohen ist, war eine richtige Entscheidung. Kurz nach ihrer Flucht wurde nämlich ihre Kollegin Anna Politkowskaja brutal ermordet. Beide hatten sich in ihren Texten nicht an die gewünschte russische Lesart über den Krieg gehalten.

Maynat kam mit ihrer kleinen Tochter nach München und es macht betroffen, ihren Bericht über die Ankunft und das schrittweise Einleben in einer völlig fremden Welt nachzulesen. „Hier in meiner kleinen Geborgenheit“ heißt der Erzählbericht, den Maynat auf Deutsch geschrieben hat, so weit hat sie sich inzwischen eingelebt. Aber der Bericht selbst zeigt, wie mühevoll dieser Prozess abgelaufen ist. Darf sie das, was sie da unternommen hat, ihrem Kind zumuten, fragt sie sich. Wie soll das Kind verstehen, dass es über Nacht getrennt ist von den Großeltern, von allen Freunden und Verwandten? Gerade das Kind hilft ihr aber beim Einleben, wobei die kleine Tochter schnellere Fortschritte macht als ihre Mutter. Ein Bericht, der ebenso bedrückend wie beglückend ist.

Najet Adouani kommt aus Tunesien, nach neuer Lesart ein sicheres Herkunftsland, weshalb es schwierig geworden ist, ihre Aufenthaltsgenehmigung zu verlängern. Aber Najet kann nicht zurück in ihre Heimat, in der sie die jetzige Regierung wohl nicht verfolgen würde, doch sie steht wegen des modernen Frauenbildes, das sie in ihren Gedichten und anderen Texten vertritt, auf den Todeslisten der Salafisten. Ihr Leben wäre in höchstem Maße bedroht, müsste sie zurückkehren. Najet berichtet von einem ihrer Erlebnisse im Süden Tunesiens. Da hat sie in einem Dorf von ihrem modernen Frauenbild geredet und viel Zustimmung vor allem von den Frauen erfahren, bis plötzlich ein Mann rief: „Dreckige Kommunistin, gottlose.“ Sofort wendeten sich die Frauen, die sie gerade noch beklatscht hatten, von ihr ab und bespuckten sie.

Es sind wunderbar anschauliche, intime Gedichte, die Najet Adouani zu diesem Buch beisteuert, Gedichte der Erinnerung an ihre Großmutter, über die Heuchelei derer, die sich Revolutionäre nennen, die alles besser machen wollen und doch nur an ihren kleinen, mickrigen Vorteil denken, Gedichte über den Verlust der Heimat.

Ein erschütterndes Gedicht hat auch Enoh Meyomesse aus Kamerun beigetragen. Es handelt von seiner Haft, die nicht einfach nur eine Gefängniszeit war. Enoh wurde monatelang in Einzel- und Dunkelhaft gehalten, er hatte Angst, zu erblinden. Wie man mit ihm umging, schildert sein Gedicht „Ich komme zu dir Deutschland“. Was ihm diese Behandlung einbrachte, war seine Kandidatur zur Präsidentschaftswahl 2011: Enoh ist ein sehr bekannter Autor in Kamerun, er trat an gegen den Diktator Paul Biya, der seit 1982 ununterbrochen das Land unterdrückt. Die Rache Biyas war brutal, aber wer Enoh begegnet, kann nur staunen über seine Freundlichkeit und sein fröhliches Wesen trotz all der Leiden. Ein Romanauszug behandelt die Kolonialzeit Kameruns, das mal deutsches Protektorat war.

Bui Thanh Hieu aus Vietnam schildert in seinem Text die Verhöre, denen er als regierungsunabhängiger Blogger ausgesetzt war. Überhaupt gehören Blogger inzwischen zu den meist gefährdeten Autoren in der Welt. Vietnam, denkt der ältere Leser, haben wir nicht für ein Ende des Vietnamkriegs demonstriert, haben wir dafür nicht Wasserwerfer und Gummiknüppel in Kauf genommen? Das Ende des Krieges wurde auch durch die Demonstrationen im Westen vorbereitet. Mit welchem Recht verfolgen Regierungsstellen in Vietnam nun Kritiker und werfen alles über Bord, was ihnen an westlichen Werten mal zugutegekommen ist?

Es ist fesselndes Buch. Es zeigt, welche Schicksale hinter all diesen Namen verfolgter Autoren stehen. Und es beantwortet ganz nebenbei die oft bei uns so oft gestellte (geschmäcklerische) Frage, ob man mit Literatur etwas bewirken kann. Man muss sich das Handeln der Autokraten und Diktatoren dieser Welt ansehen, dann kennt man die Antwort.

„Zuflucht in Deutschland. Texte verfolgter Autoren“. Herausgegeben von Josef Haslinger und Franziska Sperr. Taschenbuch im S. Fischer Verlag, Frankfurt. 288 Seiten. 9,99 Euro.

 

 

 




„Die Abbieger“ – Thomas Schweres hat den Ruhrgebiets-Krimi zur Stauschau geschrieben

„Und nun die Stauschau. Wir melden alles ab 7 Kilometern“. Keine Seltenheit, diese Ansage. Als Autofahrer ist man da schon dankbar, wenn man auf der A 2 im Stau steht. Muss man sich nicht die ganzen (trotz der Beschränkung auf 7 km immer noch epischen) Verkehrsnachrichten anhören. Kein Geheimnis, dass dies schon fast der Normalzustand auf den Straßen des Ruhrgebiets ist. Bringt wohl so ziemlich jeden Autofahrer an den Rand des Nervenzusammenbruchs.

Klaus-Werner Lippermann, der Anti-Held in Thomas Schweres‘ neuem Krimi „Die Abbieger“, kann es nicht mehr ertragen. Alles war so schön in seinem Leben. Mama Elfriede wusch zuverlässig seine weißen Socken und sorgte auch sonst im gemeinsam bewohnten Zechenhaus für Ordnung. Den Feierabend verbrachte er im Schrebergarten mit den preisgekrönten Kaninchen Molly und Whitey und solange man ihn dort in Ruhe ließ, ließ er auch die anderen in Ruhe.

Ein Kaninchenmörder geht um

Ihm doch egal, wieso Familie Yüksel soviel Strom für ihr Gewächshaus braucht, dass sie dort Tag und Nacht in die Pedale der aufgestellten Trimmräder treten. Umweltfreundlich ist diese Stromerzeugung ja und der Rest ging ihn auch nichts an. Nur diese dauernden Staus auf der A 40, die er nach Verlagerung seines Arbeitsplatzes in Kauf nehmen muss – unzumutbar ist das. Wieviel Lebenszeit diese unfähige Behörde Strassen.NRW ihm raubt!

Doch dann ändert sich alles. Ein Kaninchenmörder geht um, auch Molly und Whitey fallen ihm zum Opfer. Klausi sieht keinen Sinn mehr in seinem Leben und heiraten will er auch nicht, da kann Elfriede noch so verzweifelt kuppeln. Stattdessen schmiedet er Rachepläne, während er zur Untätigkeit verdammt am Steuer seines getreuen VW Jetta sitzt.

Verlorene Lebenszeit auf der A 40

Ganz genau hat er es sich ausgerechnet: 352 Stunden waren es noch zu Lebzeiten von Molly und Whitey selig, die er unfreiwillig auf der im Volksmund Ruhrschleichweg genannten A 40 verbracht hat. 14 Tage und 16 Stunden, die er nicht mit seinen geliebten Karnickeln hat verbringen können. Und Schuld daran war – ganz genau – Straßen.NRW. Diese Fehlplanungen. Baustellen, die eingerichtet, aber nicht bearbeitet werden. Diese unsinnigen Zuflussregelungsampeln, die nur Rückstaus verursachen und dann noch die Radarfallen und Geschwindigkeitsbegrenzungen, die nur der Befüllung der Stadtsäckel dienen. Und da die A 40 jede Menge Städte durchschneidet, gibt es entsprechend viele davon.

Klausi ist es leid, er braucht einen Befreiungsschlag. Genug ist genug. Zunächst einmal weiht er seinen besten, weil einzigen Freund Alfred Kruppel ein, einen bierseligen Schrotti, der genau an der A 40 wohnt. Kruppel ist Feuer und Flamme und beginnt sofort mit der logistischen Planung…

Wo der Manager Möhrchen knabbert

Die beiden entführen Dr. Weissfeld, den Chef von Strassen.NRW. Soll der jetzt mal sehen, wie das so ist mit den Murmeltiertagen im Stau. Sie halten ihn mit einer säurebefüllten grünen Wasserpistole in Schach, so dass dem armen, nur mit rudimentären Fahrkünsten begabten Manager nichts anderes übrig bleibt, als tagsüber Klausi und Kruppel durch die Staus zu chauffieren und nachts im alten Kaninchenstall an Möhren zu knabbern.

Die Forderung der Erpresser geht beim schon alarmierten Kommissar Schüppe ein: läppische 55.000 Öcken will man haben. Das Geld ist für Kruppel, Klausi ist da eher idealistisch unterwegs, auf sein Konto gehen die restlichen Forderungen, die es durchaus in sich haben: Man verlangt die Aufklärung der Kaninchenmorde und die Auflösung der Staus durch diverse von Klausi höchstselbst ausgearbeitete Maßnahmen. Alles muss in der Presse verkündet und als Verdienst des ausgedachten TuS-V (Tierfreunde und Staugegner – vereinigt) deklariert werden. Schnell gewinnt der TUS-V eine beachtliche Fangemeinde, das halbe Ruhrgebiet will in den Verein eintreten.

Schüppe und seinen Mannen ist klar, sie müssen handeln und diesen Fall aufklären, bevor das Ganze vollends außer Kontrolle gerät. Auch der Spürnase Tom Balzack, dem kriminalistisch begabten Reporter ist schnell klar, dass hinter den erstaunlichen Zeitungsmeldungen – die er durchaus erfreut begrüßt – mehr stecken muss. Undenkbar, dass Strassen.NRW plötzlich Einsicht zeigt. Balzack kann sich ja vieles vorstellen, aber das nun wirklich nicht.

Es droht die Autobahnmaut als Standgebühr

Unschwer vorstellen kann man sich hingegen, dass Thomas Schweres mit dem Thema seines schon vierten Krimis um den knorrigen Kommissar Schüppe und den umtriebigen Balzack einen Nerv trifft. Nicht nur Klausi hat wohl das Gefühl, dass die Politik den „Straßenbau als Ersatzdisziplinierungsmöglichkeit“ entdeckt hat und dass die drohende „Autobahnmaut im Ruhrgebiet wohl eher so eine Standgebühr“ sein wird. Man glaubt sofort, dass ein Verein wie der TuS-V schnell begeisterte Anhänger finden würde. Thomas Schweres hat wahrscheinlich in seinem Hauptberuf als oft genug nicht rasen könnender Reporter im Ruhrpott viel Zeit im Dauerstau verbracht.

Schweres benutzt für seine „Stellvertreter-Rache“ das Genre des Krimis, aber „Die Abbieger“ unterscheiden sich erheblich von ihren Vorgängern. Nicht nur, dass man Täter und Motive von Anfang an kennt und eher ihre Verstrickungen sowie die Aufklärungsversuche verfolgt, als mitzurätseln, auch der Stil ist ein anderer. Waren die Vorgänger noch eher Thriller als Krimi, so lesen sich „Die Abbieger“ in weiten Teilen als Satire. Wäre das Buch ein Tatort, dann wäre es mehr Tatort Münster als Tatort Dortmund. Spannung kommt so natürlich selten auf, aber die Lektüre ist kurzweilig und wirklich witzig.

Machte Schweres sonst gerne ein großes Fass auf und brach das kriminelle Weltgeschehen auf das Ruhrgebiet runter, bleibt er diesmal ganz in seinem Revier. Mehr als sonst leben „Die Abbieger“ vom Ruhrgebiet-Kolorit, schon das vorgeschaltete Personenregister ist voller gewollter Klischees. Der heimliche Star des Buches ist Mutter Elfriede, die als echte Ruhrpott-Zechenmutter daherkommt, eine Kreuzung aus Tana Schanzara und Else Stratmann.

Thomas Schweres: „Die Abbieger“. Grafit Verlag, Dortmund. 282 Seiten, 11,00 €.




Weil der WDR hohe finanzielle Hürden setzt: Ruhrgebiets-Hörspiele können nicht im Buchhandel verkauft werden

Unser Gastautor, der Bochumer Schriftsteller und Journalist Werner Streletz, über eine neue Edition mit Ruhrgebiets-Hörspielen, die allerdings einen Schönheitsfehler hat:

Für mich ist es ein Rücksturz in meine literarische Vergangenheit: „Die Sonne ist nicht mehr dieselbe. Ruhrgebiets-Hörspiele 1960 bis 1990“. So lautet der Titel einer facettenreichen Dokumentation (die beiliegende DVD umfasst nicht weniger als 39 Hörspiele), die jetzt von der Literaturkommission Westfalen veröffentlicht worden ist.

Ruhrgebietsspezifische Hörspiele gab es natürlich von jeher im Programm des Westdeutschen Rundfunks, richtig Fahrt hat diese Sparte allerdings erst aufgenommen, als der aus Bottropstammende Frank Hübner Anfang der 1980er Jahre die Ruhrgebiets-Redaktion beim WDR übernahm.

Heimatdönekes, sofern es sie gegeben hatte, waren passé. Wir, Autoren und Autorinnen aus dem Revier, befassten uns mit gegenwärtigen Themen, orientiert an ambitionierten literarischen Qualitätskriterien. Klingende Autorennamen versammelten sich da: Michael Klaus, Jürgen Lodemann, Monika Littau oder Rolf Dennemann.

Ich für meinen Teil habe versucht, mit Formen der Konkreten Poesie den Ruhrgebiets-Slang zum Tanzen zu bringen. Aufbruchstimmung allenthalben, die im zweijährigen Gruppen-Projekt „Blackbox B 1“ gipfelte.

All das kann man in der neuen Doku nachlesen und -hören, wenn, ja wenn es so leicht wäre, an diese empfehlenswerte Veröffentlichung heran zu kommen. Man muss sich bemühen: Aus urheberrechtlichen Gründen kann die Edition nicht im Buchhandel erscheinen.

Der Bezug ist nur möglich über die Literaturkommission für Westfalen, Salzstraße 38 / Erbdrostenhof, 48133 Münster. Warum das? Der WDR hatte vor den regulären Verkauf der Edition so hohe finanzielle Hürden gesetzt, dass die Herausgeber darauf verzichten mussten. Kein Ruhmesblatt für den WDR!




Haben Print-Medien Zukunft? Jubiläumsschrift des Dortmunder Instituts für Zeitungsforschung wägt Chancen und Risiken

„Die weitere technische Entwicklung zur drahtlos übermittelten Zeitung läßt vermuten, dass im Druckgewerbe in den nächsten Jahrzehnten mit revolutionären Entwicklungen zu rechnen ist.“ Der Satz stammt aus Zeiten, in denen wohl niemand an so etwas wie Internet und dessen Folgen für die Medienwelt dachte. Es war Kurt Koszyk, der bereits 1969 den Weitblick besaß und offensichtlich ahnte, dass den Print-Medien grundlegende Veränderungen bevorstehen.

Nachzulesen sind die Worte des Pressehistorikers nicht nur in seinem fast 50 Jahre alten Wörterbuch zur Publizistik, sondern auch in der kürzlich erschienenen Schrift „90 Jahre Institut für Zeitungsforschung“. Er selbst hat dieses Institut von 1957 bis 1977 geleitet.

Herausgegeben hat den Band die jetzige neue Leiterin Dr. Astrid Blome. Ihr Vorwort lässt durchaus erkennen, dass sie gewiss nicht nur einmal mit der Frage konfrontiert war, ob eine Stadt wie Dortmund ein solches Institut überhaupt benötigt. Das Heft liefert nun eine Reihe von Argumenten, weshalb die Stadt gut beraten ist, die Einrichtung auch weiterhin finanziell abzusichern. Doch das ist nicht alles, was die Veröffentlichung zu bieten hat. Die Autoren zeichnen ebenso die spannende Entstehungsgeschichte des Instituts nach, beschreiben Entwicklung und Besonderheiten und richten den Blick in die Zukunft.

Ein Glücksfall für die Stadt

Dass ausgerechnet Dortmund zur Heimat eines Instituts werden sollte, das für die Pressegeschichte immer noch eine Vorreiterrolle spielt, mag aus heutiger Perspektive überraschen, besaß die Stadt doch in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts weder eine Universität noch hatte sie sich in Wissenschaft und Forschung einen Namen erworben. Es war der damalige Leiter der Stadt- und (Landes)bibliothek, Dr. Erich Schulz, der – wie man heute sagen würde – gut vernetzt war, um Förderer für die Bücherei zu gewinnen, und der zudem die Trends der Zeit im Blick hatte.

Als Erich Schulz von dem angesehenen Lehrer Karl d‘Ester, der zudem in Germanistik promoviert hatte, den Hinweis erhielt, doch Zeitungen aus dem Westfälischen zu kaufen und in den Bestand aufzunehmen, weil sie „ein kommendes Thema sind“, war das die Initialzündung für ein ganz neues Arbeitsgebiet der Bibliothek. Dann nahmen die Dinge ihren Lauf: Immer mehr Fachleute und auch schließlich die Zeitungsverleger wurden auf die Dortmunder Sammlung aufmerksam und es dauerte bis zur Geburtsstunde des Instituts nicht mehr lang.

Verdienste des Rundschau-Verlags

Apropos Verleger: Wie dem Buch zu entnehmen ist, sollten sie nicht die Förderer der Dortmunder Einrichtung bleiben. Heute lebt das Institut im Wesentlichen von der Unterstützung der Stadt. Wenig rühmlich ist nach Recherchen von Koszyk auch die Rolle der deutschen Zeitungsverleger nach Hitlers Machtergreifung. Ihr Interesse habe vornehmlich der Besitzstandswahrung unter dem NS-Regime und weniger der Pressefreiheit gegolten. Mit seiner Position hat der Historiker erheblichen Widerspruch geerntet; wohl zu Unrecht, wie aus den Erläuterungen des Buches zu schließen ist.

Zurück zum Institut: Verdient gemacht hat sich für einen Neuanfang nach dem Zweiten Weltkrieg insbesondere ein Verlag, nämlich der der Westfälischen Rundschau. Er sprang finanziell in die Bresche, um die „versprengten Bestände“ wieder unter einem Dach zu vereinen. Das Ringen um Geld und Stellen sollte fortan dem Institut als wichtige Aufgabe bleiben. Und wohl alle Leiter brauchten so etwas wie Erfindergeist, um Fördermittel heranzuschaffen, mit denen sie den Ausbau der Einrichtung vorantrieben, den Bekanntheitsgrad steigerten und vor allem auch Ausstellungen finanzierten.

Reichhaltige Bestände

Während manche anderen Institute nicht überlebten, konnte sich Dortmund behaupten und hat aktuell mit 116.000 Mikrofilmrollen, über 62.000 Zeitungs- und Zeitschriftenbänden, einer Fachbibliothek mit knapp 65.000 Bänden, sowie zahlreichen Plakaten und Karikaturen einen Bestand, der das Institut national und international zu einem „zentralen Spieler im Feld“ werden lässt, wie es im Grußwort heißt, zumal andere Sammlungen wie an der FU Berlin, in Münster oder Bremen entweder aufgelöst wurden oder bald verschwinden werden.

Zum Bestreben des Instituts gehörte es auch von Beginn an, eine wissenschaftliche Expertise vorweisen zu können, was allerdings auch immer vom Stellenplan abhängig ist und war. Alle Leiter, von Schulz über Koszyk, Hans Bohrmann, Gabriele Toepser-Ziegert bis hin zu Astrid Blome, um nur einige Namen zu nennen, haben durch ihr Engagement stets dazu beigetragen, das wissenschaftliche Renommee zu festigen.

Journalistik-Studenten als Nutzer

Zugleich war der Einrichtung aber auch stets daran gelegen, ein größtmögliches Interesse am Pressewesen zu wecken. Denn Zeitungen bieten bekanntlich nicht nur Lesestoff zu den aktuellen Ereignissen ihrer Zeit, sondern sind mit ihren Inseraten, Anzeigenseiten und Beilagen auch immer ein Spiegelbild der jeweiligen Gesellschaft.

Hans Bohrmann, Leiter von 1977 bis 2003, veranschaulicht im Interview, dass es einiger Anstrengungen bedurfte, um neue Benutzer zu werben. Es gelang schließlich, Familienforscher ebenso zu gewinnen wie Studenten unterschiedlichster Fachrichtungen. Dortmunder Journalistik-Studenten waren es nicht per se, denn abgesehen von der räumlichen Entfernung zur Uni, galt ihr Interesse auch nicht nur Printprodukten, sondern allen Medien. Gleichwohl besteht in heutiger Zeit ein großes Bemühen zur Kooperation von Institut und Studiengang.

Beide Einrichtungen setzen sich auch mit einer entscheidenden Frage auseinander: ob Zeitung eigentlich noch Zukunft hat oder ob auch die Einrichtung, die heute in Nähe des Hauptbahnhofes untergebracht ist, bald auf dem Abstellgleis landet.

Strategische Fehler der WAZ-Gruppe

Wie sehr das Zeitungssterben in Dortmund selbst zu spüren ist, darauf kommt Hans Bohrmann zu sprechen. Er wirft der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (WAZ) bzw. der WAZ-Gruppe strategische Fehler vor, die zum Aus für die gesamte WR- und für die Dortmunder WAZ-Redaktion geführt habe. Und er wartet mit einer erstaunlichen Zahl auf: „Wenn ich höre, dass die ,Ruhr Nachrichten‘ eine Druckauflage von 60.000 haben, dann wäre das für eine 600.000-Einwohner-Stdt zu wenig“.

Astrid Blome sieht trotz alledem für die Tagespresse deshalb eine Chance, weil dieses Medium wie kaum ein anderes Informationen ordnen und strukturieren könne. Zeitungen selbst bleiben ein Forschungsobjekt und bieten angesichts einer über 400-jährigen Geschichte noch umfangreichen Stoff für weitere wissenschaftliche Auseinandersetzung.

Astrid Blome (Hrsg.): „90 Jahre Institut für Zeitungsforschung – Rückblicke und Ausblick“. Klartext-Verlag, 104 Seiten, 9,95 Euro.




„Lass mich nicht allein mit ihr“ – das auf Dauer schwer erträgliche Ego-Theater des Tex Rubinowitz

Tex Rubinowitz ist ein großer Bewunderer „kapriziösen Ego-Theaters“. Davon leben zu können, das wäre es doch. Den Rest der Zeit könnte er dann sicher auf der Couch verbringen, wo „alles den Serienfiguren passiert und nicht ihm“.

Um nichts anderes geht es in „Lass mich nicht allein mit ihr“, dem neuen Buch des Ingeborg-Bachmann-Preisträgers: um Thesen von und über Tex Rubinowitz. Wer jetzt stutzt und sich fragt: Wer will das denn lesen? Ist das nicht arg langweilig? Dem sei gesagt: Ja, es ist langweilig, jedenfalls über die Länge eines Romans. Wobei das Buch auch wohl nur in Ermangelung einer treffenderen Klassifizierung Roman genannt wurde.

Der Inhalt ist schnell erzählt: Es geht um die Befindlichkeiten des nicht mehr ganz so jungen Rubinowitz. Der gute Mann ist nicht nur Schriftsteller, er blickt auch auf ein ergiebiges Wirken als Zeichner, Cartoonist, Reisejournalist zurück. Wenn er nicht gerade ein Schriftsteller-Stipendium in London absitzt, lebt er in Wien.

Was ist schon Wirklichkeit?

Tex Rubinowitz ist ein Pseudonym, in Wirklichkeit heißt er ganz anders, aber was ist schon Wirklichkeit? Musikkritiken für den Spiegel schreibt er auch noch und dann war da noch ein Plagiatsskandal um seinen letzten Roman. Oder war es etwa nur eine geschickte Inszenierung? Wer von all dem bisher keine Kenntnis hatte, der weiß nun Bescheid. Darüber und über vieles andere mehr. Zusammenfassbar unter „alles, was Sie nie wissen wollten und nun doch gelesen haben“.

Unser Autor nun befindet sich in einer veritablen Schreibkrise und spielt zunächst alle Stufen des beliebten Gesellschaftsspiels Prokastrination durch. Da strickt man einen Plot um einen Schädel im Wald, klappt nicht so recht, dann philosophiert man ein bißchen über Abba und Pedro Almodóvar; nicht, dass noch einer denkt, man wäre nicht vielseitig interessiert. Schön wäre aber auch eine Liebesgeschichte mit Vorabendserien-Diva Anja Kruse, was den Autor ruckzuck zu seinem verstorbenen Kollegen Abdul bringt, der einen eigenartigen Tod starb, autoerotische Anekdoten inclusive.

Verwirrspiel um Identitäten

Und überhaupt dieser Abdul. Der hat Rubinowitz gestalkt, mehr noch, er hat alles dafür getan, wie Rubinowitz zu sein. Alles wusste er über ihn und plötzlich ist man sich gar nicht mehr sicher: Ist der Autor tatsächlich selber der Ich-Erzähler oder lässt er nicht vielmehr Abdul so tun, als wäre der Stalker der Autor, der hier von einem Gedankenstrang zum anderen mäandert?

So weit, so leider zäh das inszenierte Verwirrspiel um Identitäten. Bei aller Bemühtheit gelingt es Rubinowitz nicht, dieses Sujet um eine neue Variante zu erweitern. Wohlwollend könnte man sagen, das Thema des Romans ist die Suche nach einem Thema. Weniger wohlwollend könnte man es auch unter „regressive Luxusprobleme“ verschlagworten.

Was tut man nicht alles, um eine Schreibblockade zu rechtfertigen und vor allem, um sich selber in einem interessanten Licht darzustellen? Seine eigene Exzentrik möchte er vor allem in den imaginierten Begegnungen mit der Schauspielerin hervorheben, doch beim Leser reicht es so gerade eben zu Mitleid mit der zur Projektionsfläche mutierten Frau Kruse. Humorvoll wäre er gerne, albern trifft es eher.

Auf Sascha Lobos Deckel trinken

Weltgewandtheit und Bildung stehen noch auf der Liste der Dinge, die Rubinowitz zur Vervollständigung des Bildes braucht, das der Leser sich bitte von ihm machen soll. Dafür arbeitet er sich schnell noch an Daniel Kehlmann ab, das machen sie ja alle gerne, die so gerne DIE Stimme deutscher Gegenwartsliteratur wären. Nicht zu vergessen: Auf den Deckel von Sascha Lobo darf er trinken. Na prima. Glückwunsch dazu. Auch eine Leistung.

Einen Protagonisten aber gibt es, der Leistung erbringt: den Lektor. Geplagt, aber geduldig erklärt er dem um minimalistischen Aufwand bemühten Autor „Du hast nichts zu erzählen“. Letzen Endes seien es nur „eklektizistische Splitter“, die er da zustande brächte. Der Autor versteht das alles, er sieht es durchaus ein, alleine – er macht nichts draus. Aus Unlust? Aus Unvermögen? Aus purer Faulheit? Aus dem Wunsch heraus, der Literaturbetrieb wird es schon richten, es wird sich schon jemand finden, der auch das Abstruseste noch hochjazzt?

„Logik ist für Langweiler“

Richtiggehende Bewunderung zeigt der Schriftsteller für die Technik des unzuverlässigen Erzählens, da greift schließlich auch die Entschuldigung „Logik ist für Langeweiler“. Eine beliebte Rechtfertigung, arg simpel zwar, aber man kann es ja mal versuchen. Hätte der Lektor ihm besser mal gesagt, dass der Leser nicht gelangweilt werden will, statt „der Leser will nicht bevormundet und nicht verarscht werden“. Unzuverlässiges Erzählen verzeiht ein Leser, aber was Rubinowitz in seinem Buch macht, ist allenfalls ein schwadronierendes Spiel mit „alternativen Fakten“. Passt immerhin zum Zeitgeist und zum Fake-News-Gegröle.

Die eigentliche Tragik des Buches liegt aber vor allem in der Länge. Rubinowitz kann durchaus unterhaltend schreiben. Zunächst ist das Ganze wirklich noch witzig, man liest es gar nicht so ungern, es gibt spitz formulierte und fein beobachtete Gegenwartsbetrachtungen, die durchaus Spaß machen.

Zunächst amüsiert man sich auch noch über die Selbst-Rechtfertigungen, wenn er auf den Plagiatsskandal eingeht, der von ihm selber gelenkt gewesen sei. Die fraglichen Wikipedia-Einträge habe er unter noch einem Pseudonym selbst verfasst, auch die Berichterstattung darüber hat er selbst geleakt, Letztendlich hat er sich also nur selbst kopiert. Wir verstehen. Oder auch nicht. Ist irgendwann aber auch völlig gleichgültig. Denn spätestens nach der dritten Rechtfertigung, nach der vierten Phantasie einer Verabredung mit Anja Kruse ist man es leid.

Tex Rubinowitz: „Lass mich nicht allein mit ihr“. Rowohlt, 288 Seiten, 19,95 €




Rutger Booß und seine ungebremste Seniorenbeschimpfung

Mit Dr. Rutger Booß, Gründer und damals auch noch amtierender Chef des Dortmunder Grafit-Verlags (führend im Regionalkrimi-Fach), hatte ich für einige Jahre ein kleines Ritual. Kurz vor Abreise von der Frankfurter Buchmesse habe ich jeweils noch auf einen Kaffee beim Grafit-Stand vorbeigeschaut. Es gehörte irgendwie dazu. Dortmunder müssen zusammenhalten, auch auf kulturellem Gebiet. Jetzt steht Rutger Booß, inzwischen 72, auf seine etwas älteren Tage unversehens auf Platz 9 der „Spiegel“-Bestsellerliste (Rubrik Taschenbücher / Sachbuch), und zwar mit einer als Rundumschlag angelegten Seniorenbeschimpfung. Diese Ausgangslage verlockt zum Lesen.

„Immer diese Senioren! 111 Gründe, warum sie uns in den Wahnsinn treiben“ heißt das naturgemäß (selbst)ironisch eingefärbte, aber nicht etwa durchweg unernst gemeinte Werk. Ich gebe freimütig zu: Diese allfälligen 50-, 99-, 100- oder halt 111-Gründe Bücher gehen mir allmählich auf den Geist. Meistes folgen sie einer Masche. Der Verlag Schwarzkopf & Schwarzkopf preist das Buch denn auch als „Stapeltitel“ an und hat massiv die Buchhandlungen damit geflutet.

Immer in Beige, immer drängeln

Schon klar: Die Senioren werden immer mehr und haben schon jetzt enormen Einfluss auf die Politik. Also muss man sie mal verbal verdreschen. Tatsächlich lässt Rutger Booß kein gutes Haar an seinen Generationsgenoss(inn)en. Hier müssen sich die bedauernswerten Durchschnitts-Senioren alles, aber auch alles zurechnen lassen, was irgendwo alte Menschen verzapfen – seien es nun „Eliten“ und Promis jeder Sorte, Einzelne aus der Menge oder die breite Mehrheit, die dümmlich bis kriminell agiert haben. Nun aber `ran an die Beispiele, Feixen hie und da garantiert:

Der Rentner, der gemeinhin in Beige herumtapert, sich rüpelhaft an der Supermarktkasse vordrängelt und dort umständlichst das Kleingeld abzählt oder zittrig Auto fährt, wird ausgiebig verspottet. Bejahrte Menschen hassen Kinderlärm, werfen aber selbst den Laubsauger an, wann immer sie wollen. Sie hocken ständig beim Arzt und klagen über ihre Wehwehchen, fallen auf dämliche Werbung und Nepper, Schlepper, Bauernfänger herein.

Alte Männer: geil, geizig und gierig

Ältere Polit-Darsteller von hohen Fürchterlichkeits-Graden (z. B. Berlusconi, Robert Mugabe, Erika Steinbach, Gauland, Trump) oder betagtere Sportfunktionäre (Blatter, Beckenbauer, Ecclestone) werden wortreich verdammt. Sie haben es ja allesamt verdient. Doch ich konnte bei der Lektüre nicht umhin, beim Thema Senioren gelegentlich (sozialpolitisch korrekt) auch an Altersarmut, Pflegebedürftige und Demenz zu denken. Solche kleinlichen Bedenken muss man entschlossen beiseite schieben, will man ein solches Buch schreiben. Dabei ist Rutger Booß doch eigentlich eher links gestrickt.

Autor Rutger Booß (Foto: Verlag Schwarzkopf & Schwarzkopf)

Autor Rutger Booß (Foto: Verlag Schwarzkopf & Schwarzkopf)

Doch im Buch mag er’s paukenschlagend pauschal. Senioren machen demnach eigentlich nur dummes Zeug. Sie kommen nicht mit dem Internet klar, verhindern durch ihre schiere Beharrungs-Masse Innovationen bei ARD und ZDF, verdingen sich als quasi untote Gestalten (Gunter Gabriel, Rainer Langhans etc.) im „Dschungelcamp“. Alte Männer sind in der Regel geil, geizig und gierig. Ergraute Schriftsteller wie Roth, Updike, Begley und Martin Walser stier(t)en geifernd jungen Mädchen nach.

„Landplagen“, wohin man auch schaut

Seniorenscharen, die überall die Wege versperren, bevölkern Kreuzfahrtschiffe auf Flüssen und Meeren. Und wenn sie erst auf ihre E-Bikes steigen, ist alles zu spät. Alte Herrschaften verfassen peinliche Memoiren, schreien ihren Unmut im Theater auf offener Szene heraus, besitzen offenbar immens viele Waffen, sind Mitglieder in lachhaft vorgestrigen Schützen- und Gesangsvereinen, sind Geisterfahrer, Rechthaber, Unfallflüchtige und Stalkerinnen. Sie alle sind – so ein Lieblingswort in diesem Buch – eine „Landplage“.

„Das alles und noch viel meheeeer“ wird auf mitunter fast penetrante Weise breitgetreten und ausgewalzt. Hat man einmal den eingefahrenen Duktus intus, reichen hernach vielfach die bloßen Kapitel-Überschriften zur Orientierung. Vieles ist ja richtig, doch gar manches ist auch wohlfeil.

Bei den bunten Seiten bedient

Quellen für die üblen Nachreden sind vorwiegend die vermischten Meldungen aus Tageszeitungen bzw. Online-Auftritten, hinzu kommen Wikipedia und Internet-Posts. Nicht jede Herleitung dürfte formal und inhaltlich einer kritischen Überprüfung standhalten. Egal. Man will sich ja in seiner polemischen Absicht nicht bremsen lassen. Auf den bunten Seiten ist ja alles schon so herrlich zugespitzt. Man muss sich nur umsichtig bedienen, die Stellensammlung ordnen und gut verrühren. Ich behaupte mal frech, dass der ebenso sympathische wie kluge Rutger Booß ein Buch deutlich unterhalb seines eigenen Niveaus geschrieben hat.

Apropos Zeitungen: Das muss ich jetzt auch noch loswerden. Booß, der im beschaulichen Herdecke lebt (wo schon Jürgen Klopp sein Domizil hatte), also in unmittelbarer Nachbarschaft von Dortmund, zitiert sehr häufig ausgerechnet die heimische WR = Westfälische Rundschau. Ich finde das ärgerlich, denn die seit Anfang 2013 redaktionslose Zeitung wird nur noch mit fremden Inhalten (WAZ, Ruhrnachrichten) am zombiehaften Leben erhalten und ist als „WR“ eigentlich gar nicht mehr so recht zitierfähig. Das Blatt ist keine Quelle mehr, sondern nur noch Abfüllstation.

Bleibt eine Frage: Wer ist eigentlich mit dem wohlig kollektiven „Wir“ („Warum sie u n s in den Wahnsinn treiben“) gemeint? Alle unter 80, 70, 65, 60? Alle Menschen, die guten Willens sind? Alle Junggebliebenen und solche, die es werden wollen? Da haben wir jetzt was zum Grübeln.

Rutger Booß: „Immer diese Senioren! 111 Gründe, warum sie uns in den Wahnsinn treiben“. Verlag Schwarzkopf & Schwarzkopf. Taschenbuch, 272 Seiten. 9,99 €.




Selten satanisch, meistens aufklärerisch: Umberto Ecos kurzweilige Kolumnen zur „flüssigen Zeit“ der Gegenwart

Wenn prägende Gestalten der Geisteswelt verstummen, so mag man dennoch Denkart und Tonfall nicht missen. Es soll noch etwas bleiben, möglichst sogar bislang Unbekanntes aufscheinen. Also wird der Nachlass durchgesehen oder Fragmentarisches posthum herausgebracht. Im Falle von Umberto Eco (1932-2016) liegt nun ein Buch vor, das er – zumindest im italienischen Original – offenbar noch selbst besorgt hat.

Unter dem etwas kryptischen Titel „Pape Satàn“ (geht auf Dantes „Göttliche Komödie“ zurück, reflektiert wohl allerlei Teufeleien, hat aber laut Eco Interpreten scharenweise verzweifeln lassen) gibt es jetzt weitere „Streichholzbriefe“ zu lesen, jene kurzen Kolumnenbeiträge, für die Eco sich Stichworte just auf den leeren Innenseiten von Streichholzheftchen notiert hat.

Notizen auf Streichholzheftchen

Das Vorwort zur 2016 in Italien erschienen Zusammenstellung stammt noch von Eco selbst, also war er gewiss auch an der Textauswahl beteiligt. Insofern darf das Buch als eine Edition letzter Hand gelten, für die deutsche Ausgabe gilt dies freilich nur sehr bedingt.

In der Einleitung rechnet Eco vor, er habe ab 1985 (zunächst wöchentlich, dann alle 14 Tage) Kolumnen fürs Nachrichtenmagazin L’Espresso verfasst, macht über 400 in den Jahren 2000 bis 2015. Aus diesem neueren Fundus stammen also die vorliegenden Streiflichter, die sich kreuz und quer über die Themenfelder der unübersichtlichen Gegenwart bewegen. Es kann bei dieser Textsorte nicht um den ganz großen Wurf gehen, sondern eher um zugespitzte Denkanstöße. Gerade das garantiert Kurzweil.

Schwund des Verlässlichen

Eco konstatiert den Schwund alles Festen und Verlässlichen, Welt und Zeit hätten sich gleichsam verflüssigt, die Geschichte werde von lauter Jetzigem überschwemmt. Als eine Haupttriebkraft solcher Entwicklungen macht der Autor – nicht allzu überraschend – das Internet aus, das für ihn spürbar „Neuland“ bedeutet.

In Zeiten des Netzes wolle jeder gesehen und oder anderweitig wahrgenommen werden – egal wie. Auch kein sonderlich origineller Befund, möchte man meinen. Doch Vorsicht mit solchen Urteilen. Man sollte stets die Jahreszahl unter den einzelnen (nicht chronologisch geordneten) Beiträgen berücksichtigen. Anno 2000 oder 2002 war manches in der virtuellen Welt noch nicht so sichtbar wie heute. Und auch Schriftsteller vom Schlage eines Umberto Eco müssen sich erst einmal zurechtfinden. Dafür denken sie dann auch gründlicher als so mancher vorlaute „Netzaktivist“.

Rabiat gegen Handymanie

Vor dem Hintergrund eines von ihm behaupteten Generationenkriegs (Alt gegen Jung) kann Eco freilich auch schon mal ziemlich rabiat austeilen. 2015 hat er äußerst aggressiv gegen die allgegenwärtige Handymanie gewettert. Zitat: „Eigentlich müsste man diese hektischen Dauertelefonierer schon als Kinder töten, aber da nicht jeden Tag ein Herodes zu finden ist, empfiehlt es sich, sie wenigstens als Erwachsene zu bestrafen…“ Das klingt wirklich mal ziemlich satanisch…

Nicht ohne Entsetzen stellt Eco fest, dass das Netz so vieles mit sich reißt. Es verändert die Lyrik. Es verlagert alle Magie in die Technik. Es sorgt für permanente Sex-Aufstachelung. Und so weiter. Ein kritischer Umgang mit diesem krakenhaften Medium ist das Mindeste, was demnach anzuraten wäre. So schlägt Eco auch vor, dass Zeitungen regelmäßige Internet-Kritiken veröffentlichen sollen, um ganz allmählich die Spreu vom Weizen zu trennen. Hört sich nach dem Bohren sehr dicker Bretter an. Wahlweise auch nach einer Luftnummer. Aber man könnte es ja mal probieren.

Verschwörung und Verschleierung

Eco steht in bester aufklärerischer Tradition. Sehr zeitgemäß muten seine betont nüchternen Überlegungen zu Verschwörungstheorien an. Eine Erkenntnis: Natürlich gibt es tatsächlich etliche Verschwörungen, aber eben nicht die eine große Weltverschwörung, auf die alles zurückzuführen wäre. Was zu beweisen war.

Ähnlich nüchtern, pragmatisch und unaufgeregt (den Klischees zufolge fast so, als wäre er ein Engländer und kein Italiener) legt Eco beispielsweise dar, was vom Antisemitismus zu halten ist. Auch sinnt er über Verschleierung nach und kommt u. a. zu diesem speziellen Befund: „Versteht man unter Schleier jene Art von Kopftuch, bei der das Gesicht unbedeckt bleibt, dann mag ihn tragen, wer will (zumal er, wenn hier ein unbefangenes ästhetisches Urteil erlaubt ist, das Gesicht veredelt und alle Frauen wie Madonnen von Antonello da Messina aussehen lässt).“ Übrigens spricht sich Eco auch gegen das böswillige Karikieren jeglicher Religion aus…

Was Prosa von Poesie unterscheidet

In den Beiträgen, die summarisch mit „Über Schreiben und Lesen“ betitelt sind, befürwortet Eco kalligraphische Übungen, weil seit Erfindung des Kugelschreibers das hässliche Schreiben überhand genommen habe. Erfreut konstatiert er ein staunenswertes Interesse vieler junger Leute an Literatur und Philosophie (mit Massenpublikum bei Lesungen und Diskussionen), lässt sich über Sinn und Unsinn akademischer Festschriften aus und erläutert den Unterschied zwischen Prosa (erst die Dinge, dann die Worte) und Poesie (erst die Worte, dann die Dinge). Anhand dieser kurzen Aufzählung merkt man schon: Der schmale Band bietet reichlich Abwechslung.

Eins noch, eher nebenbei: Den Anmerkungen des Übersetzers Burkhart Kroeber lässt sich entnehmen, wie viel substanzielle, von Eco angeführte Literatur bisher nicht ins Deutsche übertragen worden ist – und das, wo die Deutschen doch als weltweit fleißigste literarische Übersetzer gelten.

Umberto Eco: „Pape Satàn“. Chroniken einer flüssigen Gesellschaft. Für die deutsche Ausgabe ausgewählt, übersetzt und eingerichtet von Burkhart Kroeber. Hanser Verlag. 222 Seiten. 20 €.

 

 

 




PEN-Vorsitzender Josef Haslinger in Dortmund: Lesung und mahnende Worte zu den Menschenrechten

Josef Haslinger (re.) und sein Schriftsteller-Kollege Heinrich Peuckmann. (Bild: TK)

Josef Haslinger (rechts) und sein Schriftsteller-Kollege Heinrich Peuckmann. (Bild: TK)

Josef Haslinger, prominenter Vorsitzender des PEN-Zentrums Deutschland, las jetzt in der Dortmunder Zeche Zollern (LWL-Industriemuseum) u. a. aus seinem Buch „Jáchymov“ (Fischer Taschenbuch Verlag), in dem er von der Tragödie der tschechoslowakischen Eishockeymannschaft zu Beginn der kommunistischen Herrschaft in dem osteuropäischen Land gegen Ende der 40er und in den 50er Jahren erzählt.

Das Buch ist jedoch keine Dokumentation, sondern es handelt sich um einen Roman, der auf Dokumenten, Fakten und Chroniken beruht. In den Auszügen, die Haslinger vortrug, kam die gesamte Dramatik der damaligen Ereignisse zum Ausdruck.

Protest kann die Lage verschärfen

Im anschließenden Gespräch mit dem Schriftsteller Heinrich Peuckmann (Dortmund/Kamen) ging der Österreicher Haslinger auf das Engagement des PEN-Zentrums für verfolgte und bedrohte Schriftsteller ein. Mit Beispielen aus Mexiko, Kolumbien und Kamerun verdeutliche Haslinger die gesellschaftspolitische Verantwortung der Schriftstellerorganisation. Zudem sprach er auch über die Situation von Deniz Yücel, Türkei-Korrespondenten der Zeitung „Die Welt“, der sich im Gewahrsam der türkischen Polizei befindet. Die momentane Lage sei sehr komplex, erläuterte der Schriftsteller. Man stehe vor der Frage, ob es gut und richtig ist, weiter zu protestieren oder ob sich dadurch die Situation für den in Deutschland geborenen Journalisten noch weiter verschärfe.

Orbán-Berater führt Ungarns PEN

Das PEN-Zentrum sei nicht parteipolitisch gebunden, unterstrich Haslinger, gleichwohl ergreife die Organisation beispielsweise Partei, wenn es um Menschenrechte geht. Unter anderem kritisierte Haslinger, dass Menschen, die Zuflucht in Deutschland suchen, wieder in ihr Heimatland zurückgeführt werden, das als „sicher“ erklärt wird, es aber in Wirklichkeit nicht ist.

Dass in einzelnen Ländern PEN-Organisationen durchaus vom Staat unterwandert werden können, zeigte Haslinger am Beispiel von Ungarn auf. Inzwischen sei ein Berater des Ministerpräsidenten Viktor Orbán dort der Vorsitzende.

Neuer Erzählband „Schichtwechsel“

Zum Abschluss las Josef Haslinger einen Auszug aus seinem Beitrag zum neuen Erzählband „Schichtwechsel“, den Heinrich Peuckmann und Gerd Puls herausgegeben haben. Insgesamt haben an dem Band, der Geschichten aus und über das Arbeitsleben beinhaltet, elf Autoren mitgewirkt. Erschienen ist das Buch im Oberhausener assoverlag.

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Vom 27. bis 30. April hat das PEN-Zentrum Deutschland seine Jahrestagung in Dortmund. Dazu werden rund 200 Schriftsteller erwartet. Das Motto der Tagung stammt vom gebürtigen Dortmunder Autor Peter Rühmkorf und lautet: „Bleib erschütterbar und widersteh“.




Fast alles über die eiskalten Zeiten: Bernd Brunners Buch „Als die Winter noch Winter waren“

Die Samen (Ur-Skandinavier), die es wohl wissen mussten, haben mindestens zwischen Früh-, Mittel- und Spätwinter unterschieden. Ein durchschnittlicher Schneemann besteht aus rund 100 Milliarden Flocken. Anno 1890 mussten Zugpassagiere in Nevada schneehalber volle zwei Wochen in den Waggons ausharren. Und in Rio? Da bibbern sie angeblich schon bei 24 Grad plus.

Man ahnt es schon: Dieses Buch bewegt sich kursorisch kreuz und quer durch alle vorstellbaren Winter- und Kälte-Erfahrungen. Zwar gibt es eine Kapiteleinteilung, doch hin und wieder herrscht trotzdem ein bisschen Durcheinander; ganz so, als hätte sich der Autor bisweilen im Schneegestöber befunden. Der Mann heißt Bernd Brunner, sein Buchtitel ruft die oft ungemütlichen alten Zeiten auf: „Als die Winter noch Winter waren“, das könnte – so oder so – ein Stoßseufzer sein. Heute sind wir in der Hinsicht ja nichts mehr gewohnt. Früher war mehr Minus.

Echte Herausforderungen

Was die etwas Älteren unter uns vielleicht zuletzt im klirrenden Winter 1978/79 erfahren haben mögen, ist hier auf 240 Seiten gang und gäbe: Es geht vornehmlich um die harten Winter von ehedem, in denen man vor lauter Schnee nicht mehr wusste, wo oben und unten war. Über Jahrhunderte war der Winter eine echte, vielfach tödliche Herausforderung für die Menschen, die darob auch ziemlich abergläubisch waren. Und wie hat man eigentlich früher geheizt, welche Probleme gab es dabei? Auch solche gar nicht profanen Fragen werden abgehandelt.

Mjöll und Hundslappadrifa

Überdies geht es – die Jahrtausende überspannend – um Eiszeit und derzeitigen Klimawandel, um winterliche Überlebens-Strategien der Tier- und Pflanzenwelt, um Schönheit und Regelmaß der Schneekristalle, um Eisblumen und Eiszapfen, um entbehrungsreiche Arktis- und Antarktis-Expeditionen, um vielfältig differenzierte Bezeichnungen der Inuit, Norweger und Isländer: Mjöll heißt frischer Schnee auf Isländisch. Wie wohlig weich das klingt. Geradezu verlieben kann man sich ins folgende Wort: Hundslappadrifa bedeutet Schneefall mit großen Flocken…

Die Erfindung des Winterurlaubs und des Wintersports sowie das Aufkommen der Sehnsucht nach „Weißer Weihnacht“ (erst seit Mitte des 19. Jahrhunderts) deuten auf einen tiefgreifenden Wahrnehmungswandel auf Basis des bau- und heiztechnischen Fortschritts hin. Solche Passagen über die Mentalitätsgeschichte hätte man sich etwas ausführlicher gewünscht.

Bloß keinen Aspekt vergessen

Doch Brunner gewichtet nicht so sehr, sondern grast sein Thema mitsamt allerlei Kuriosa und Extremen rundum ab und garniert es mit allerlei literarischen Zitaten, Anekdoten und wissenschaftlichen Streiflichtern. Niemand soll ihm vorwerfen können, er hätte beim Recherchieren oder Aufzeichnen einen Aspekt vergessen.

Doch nichts ist perfekt, auch nicht das Lektorat: Ein ziemlich rätselhafter Fehler in diesem Buch ist mir neulich schon per Zufall begegnet. Wenn man dann z. B. noch einen argen Lapsus wie „Popularität schwedischer Autoren wie Strindberg und Ibsen“ (so wörtlich auf Seite 153) vorfindet, so schmälert dies allmählich das Vertrauen ins ganze Buch. Das mag ungerecht sein, doch wer weiß, was man noch übersehen hat.

Anfangs hatte ich gedacht und gehofft, hier wandle einer auf den Spuren des grandiosen Kulturhistorikers Wolfgang Schivelbusch, der auf wunderbar ergiebige Art alltagsnahe Themen wie etwa die Geschichte der Eisenbahnreise und der Genussmittel aufbereitet hat. Diese Hoffnung ist mir nach und nach etwas abhanden gekommen.

Jetzt lesen, bevor es zu spät ist

Gewiss: Brunner hat gar fleißig gesammelt und angehäuft, doch die Erkenntnisse, die über die puren winterlichen Phänomene hinaus weisen, halten sich denn doch in Grenzen. Angesichts der schieren Fülle des Materials hätte eine strengere Systematik gutgetan. So aber erschöpft sich die manchmal atemlose Darstellung gelegentlich in einem „Und dann war da auch noch…“ Auch lässt sich Brunner via Zitatstellen eine ganze Menge Text liefern.

Aber vielleicht hat sich die ganze Chose in dieser Form für uns eh bald erledigt. In den Abschnitten über Klimawandel hört sich schon manches nach Abgesang auf den europäischen Winter an. Also wird’s wohl hohe Zeit, dieses Buch noch schnell zu lesen – am besten mit Heißgetränk und auf dem Sofa in die Wolldecke eingemummelt.

Wer den Frühling schließlich kaum noch abwarten kann, wird in diesem Buch trostreich mit Zahlen bedient: Demnach kommt der Lenz, wenn er einmal begonnen hat, in unseren Breiten pro Minute 28 Meter und pro Tag 40 Kilometer nordwärts voran.

Bernd Brunner: „Als die Winter noch Winter waren. Geschichte einer Jahreszeit“. Galiani Berlin. 240 Seiten. 18 €.

P. S.: Um schöne Themenfindungen ist Bernd Brunner nicht verlegen. 2012 trat er bereits mit dem Buch „Die Kunst des Liegens. Handbuch der horizontalen Lebensform“ hervor.




Et hätt noch immer jot jejange: Die eitle „lit.COLOGNE“ und ihr Festival-Ableger „lit.RUHR“ (Update)

Nur mal so als Beispiel: Wilhelm Genazino am 23. Oktober 2015 bei einer Lesung des Literaturbüros Ruhr in der Duisburger Stadtbibliothek. (Foto: Jörg Briese)

Eines von Hunderten Beispielen für eine Veranstaltung ohne Kölner Entwicklungshilfe: Wilhelm Genazino am 23. Oktober 2015 bei einer Lesung des Literaturbüros Ruhr in der Duisburger Stadtbibliothek. (Foto: Jörg Briese)

Verwundert rieben sich manche am 27. Januar die Augen, als die WAZ auf ihrer „Kultur & Freizeit“-Seite titelte: „Die ‚lit.COLOGNE‘ kommt als ‚lit.RUHR‘ ins Revier“. Vom 4. bis zum 8. Oktober soll es 2017 losgehen, mit 75 Lesungen in Duisburg, Essen, Bochum und Dortmund.

Muttis Mini im Pott

Wie praktisch: Jovial kürte Rainer Osnowski, lit.COLOGNE-Geschäftsführer, das nur 60, 70 Kilometer entfernte Ruhrgebiet zum Gewinner des Rennens um einen heiß begehrten „Ableger der ‚lit.COLOGNE‘“, an dem auch andere Regionen großes Interesse gezeigt hätten. Er sei beeindruckt „vom unbedingten Willen und vom absoluten Wohlwollen der Reviervertreter“, so Osnowski in der Kölnischen Rundschau. („Reviervertreter“? Wohl eher Zahlmeister aus der Region!) Das Programm werde allerdings erst am 31. August auf der Zeche Zollverein vorgestellt.

Kesse Ankündigungsrhetorik, die in der Kölnischen Rundschau noch selbstbewusster klang als in der WAZ. Die lit.COLOGNE bleibe zwar „die Mutter aller Festivals“, stellte Osnowski dort klar, allerdings eine mit Nachwuchs. Im Oktober beginne „in Essens Philharmonie die fünftägige lit.RUHR mit 40 Veranstaltungen für Erwachsene und 35 für Kinder“.

Alles Gute kommt von oben?

Stolz gab Osnowski bekannt, dass fünf Ruhr-Stiftungen das 500.000 Euro schwere Budget des neuen lit.RUHR-Festivals absichern: die Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung, die Brost-Stiftung, die RAG-Stiftung, die innogy-Stiftung und die Mercator-Stiftung. In der WAZ war am selben Tage noch von sechs Stiftungen die Rede, dazu von einem Landesministerium und fünf Unternehmen, die als Premium-Unterstützer fungieren. Die Funke Mediengruppe und der WDR 5 wurden als Medienpartner genannt.
In der Pressemitteilung der lit.RUHR selbst heißt es, das neue Festival werde „veranstaltet von dem gemeinnützigen Verein lit e.V.  Die Initiatoren des Festivals verantworten auch das Internationale Literaturfestival lit.COLOGNE“ – das allerdings cool über eine GmbH geführt wird.
So oder so: Was soll da – so gepudert & gepampert – noch schiefgehen? Alles too smart to fail.

In Duisburg! Unglaublich! Roger Willemsen (im Bühnengespräch mit Gerd Herholz). Wir vermissen ihn & seine intellektuelle Brillanz – nicht nur in Köln! (Foto: Jörg Briese)

Zu spät! Die ahnungslose Auster-isierung des Ruhrgebiets

Traudl Bünger, Programm-Macherin der lit.COLOGNE, versprach in der WAZ tapfer, dass man an der Ruhr keine kleine Kopie der lit.COLOGNE implantieren wolle, dass vielmehr das Ziel sei, „das Festival an die Besonderheiten des Reviers anzupassen“. Gebetsmühlenartig heruntergeklappert kennt man solche Sprüche bereits von jedem neuen TRIENNALE-Chef. Zum Verwechseln ähnlich schwärmte dann auch Bünger schicklich vom „Schmelztiegel Ruhrgebiet“ – so als ob Berlin, Frankfurt oder der Großraum Köln selbst keine Melting Pots wären.

Osnowski ließ da in der Kölner Berichterstattung Plumperes hören: Da die lit.RUHR vor der lit.COLOGNE SPEZIAL und der Frankfurter Buchmesse stattfinde, erhoffe er sich, Autoren wie Paul Auster zum Beispiel sowohl in Köln als auch in Essen auftreten zu lassen.

Finanziell wie organisatorisch wäre dies ganz sicher ein Vorteil für das erfolgreiche Literatur-Business aus und in Köln. Paul Auster könnte in Köln logieren, der Renault-Limousinenservice führe ihn an die Ruhr und … nähme ihn nach der Lesung gleich wieder mit: zu Interviews mit dem Kölner WDR oder dem Deutschlandfunk. Und die Ruhris hätten Auster immerhin auch einmal gesehen…

Was allerdings nicht das erste Mal wäre: Paul Auster, Don DeLillo oder Siri Hustvedt waren bereits in den 90er-Jahren im Grillo-Theater anregende Gäste des Essener Schreibhefts. So wie später auch Stewart O’Nan, Louis Begley u.v.a. Gäste des Literaturbüros Ruhr e.V.  waren. Aber woher soll man das bei der lit.COLOGNE wissen? Es gibt den rasant Heranwachsenden ja erst seit März 2001.

Literaturdiaspora Ruhr – Missionare aus Colonia

Osnowski in der Kölnischen Rundschau munter weiter: „Im Ballungsraum Ruhrgebiet mit rund fünfeinhalb Millionen Einwohnern sollen ‚erstmals Autoren auftauchen, die daran bislang vorbeigegangen sind“. Das interessiere auch jene Verlage, „für die das Ruhrgebiet bislang noch Diaspora ist.“

Alain Mabanckou (Paris) und Angela Spizig (aus Köln, achherrje!) lachen sich kaputt – beim Abend des Litbüros Ruhr im Centre Culturel in Essen. (Foto: Jörg Briese)

Ja sicher, jedem Jeck jefällt sing Mötz. Aber solches Gerede darf endgültig als hoch subventioniertes, gründlich misslungenes Revier-Marketing aus Olle-Kamelle-Kölle bezeichnet werden. Sollte Osnowski wirklich nicht wissen, dass Literaturveranstalter im Revier wie die Buchhandlung Proust, das Schreibheft, die beiden Literaturbüros, das Deutsch-Französische Kulturzentrum, das Literaturhaus Herne-Ruhr, das Literaturhaus Dortmund, die (deutsch-türkische) Buchmesse Ruhr, die Literatürk, der Verein für Literatur und Kunst in Duisburg, die Exile Kulturkoordination seit Jahrzehnten mit allen guten Verlagen in Deutschland kooperieren und mit vielen internationalen sowieso? Na gut, Salman Rushdie war noch nicht hier, Goethe kann nicht mehr kommen, aber sonst? Some of the best are yet to come – auch ganz ohne lit.COLOGNE.

Wenn die Kölner übers vermeintliche Kuckucksnest Ruhrgebiet weiter so hinwegfliegen, wie sie zurzeit darüber hinwegplappern, helfen auch keine 500.000 Euro, von denen Osnowski ganz bescheiden meinte: „Damit können wir aber gut arbeiten: Wir fangen ja gerade erst an.“

Kleinmut und Mittelmaß

Unterm Strich bleibt aber auch eine andere Fehlleistung festzuhalten. Im Ruhrgebiet haben es sowohl Stiftungen, Unternehmen als auch öffentliche Kultur- bzw. Literaturpolitik in Kommunen oder beim RVR jahrzehntelang versäumt, die regionale Literaturförderung beherzter und intelligent so auszustatten, dass sich hier mehr gute Ideen bis zur Bühnenreife hätten entwickeln lassen. An Konzepten wie dem zum Europäischen Literaturhaus Ruhr oder zum Literaturnetz Ruhr (wichtiger Literaturveranstalter) ist hierzulande niemand interessiert.

Geldgeber an der Ruhr misstrauen Ideen und Programm-Machern, die aus der Region kommen, sowieso. Vielleicht, weil ihnen selbst Mittelmaß so vertraut ist? Warum zum Teufel in der Region Innovatives behutsam aufbauen, wenn man erfolgreichen Mainstream für den Kulturtourismus viel einfacher abkupfern kann? Also ab nach Köln oder anderswo zum Shoppen und eingereiht ins austauschbare Event- und Marketingbusiness der großen Festivals. Und dann demnächst noch dreist von „Alleinstellungsmerkmal“ schwafeln.
Dass allerdings die geschäftstüchtige lit.COLOGNE diese Geistlosigkeit und Marketinggeilheit an der Ruhr nutzt, um an neue Töpfe zu kommen, darf man ihr nun wahrlich nicht vorwerfen.

„Mangel an Großstadtsubstanz“

Dies alles erinnert sehr an Erik Regers Reportage „Ruhrprovinz“ aus „Die Weltbühne“ von 1928: „Eine chaotische Landschaft, in der Handelskammern, Gewerkschaften, Industriellenverbände, Bürgervereine, Pressechefs und Kulturdirektoren am gleichen Strang ziehen, um den düstern Alltag zu verschönern und das barbarische Konglomerat der Einwohner mit Kultur zu beglücken“ (…) Der Mangel an Großstadtsubstanz verursacht jene innere Unsicherheit, die in fieberhaftem Betätigungsdrang einen Ausgleich sucht.“

Und weiter: Im Ruhrgebiet sei man „aus Mangel an eigenen Ideen darauf angewiesen (…), Berlin zu kopieren. Nichts erscheint erstrebenswerter als die Imitation der Weltstadt-Mondänität.“




Transfer-Hammer: Botho Strauß von Hanser zu Rowohlt

Das ist ja mal eine bemerkenswerte Meldung aus dem Verlagsbereich: Botho Strauß, der nicht immer unumstrittene Schriftsteller von außerordentlichem Rang, wechselt von München nach Reinbek bei Hamburg. Will heißen: Seine kommenden Bücher werden nicht mehr im Hanser Verlag erscheinen, sondern bei Rowohlt.

Im deutschsprachigen Literaturbetrieb darf diese Nachricht, die uns als Rowohlt-Pressemitteilung um 16:44 Uhr erreichte, als gelinde Sensation gelten. Eine Blitzmeldung sozusagen.

Blick ins Regal: bei Hanser erschienene Bücher von Botho Strauß. (Foto: Bernd Berke)

Blick ins Regal: bei Hanser erschienene Bücher von Botho Strauß. (Foto: Bernd Berke)

Ich will hier nicht weiter darüber spekulieren, was ihn zu diesem Schritt bewogen haben mag. Auch weiß ich nicht, ob man ihn gar dazu überredet hat. In der Buchbranche werden sicherlich entsprechende Gerüchte wabern.

Nein, ich möchte hier nur ein klitzekleines Gegengewicht setzen, indem ich den Wechsel überhaupt vermelde. Denn bekanntlich werden in anderen Bereichen schon die kleinsten Bewegungen zu Breaking News aufgeplustert.

Da firmiert etwa die Tatsache, dass ein 17jähriger Kicker aus Schweden nach Dortmund wechselt, als „Kracher“. Wenn wiederum einer Dortmund verlässt und in Köln anheuert, ist von einem „Transfer-Hammer“ die dumpfbackig übertreibende Rede. Es klingt ziemlich absurd, wenn man eine solche Diktion in literarische Gefilde verpflanzt, nicht wahr? Gerade deshalb lautet die Überschrift dieses Beitrag so, wie sie lautet.

Jedenfalls dürfte Strauß, der sich aus dem Literatur- und Medienbetrieb seit jeher in die Stille zurückgezogen hat, ein jeglicher Wirbel um seine Person unlieb sein. Also lassen wir mal den unseriösen Sektor hinter uns.

Ob mich denn irgend etwas mit Botho Strauß verbinde, fragt ihr? Nun ja. Irgendwie schon. In grauer Vorzeit, als er noch längst nicht so bekannt war, habe ich meine Examensarbeit über ihn verfasst. Damals durfte ich Strauß – gemeinsam mit einer Germanistin aus Heidelberg, die ebenfalls über ihn schrieb – in Berlin besuchen. Es war eine höchst selten gewährte und somit unvergessliche Gelegenheit, ihn persönlich kennen zu lernen. Jetzt aber genug. Sonst werde ich noch feierlich.




„Zierkissenpest“ und schlechte Leselampen – David Wagners „Ein Zimmer im Hotel“

Zimmer im Hotel„Ein Zimmer im Hotel“ ist für die einen ein Zuhause auf Zeit, für andere eine Durchgangsstation, aber immer ist es ein Ort, an dem der Reisende fern der Heimat ein kleines Stück Geborgenheit zu finden hofft. Über hundert Miniaturen hat Schriftsteller David Wagner zusammen getragen, in deren Mittelpunkt Hotelzimmer stehen.

All diesen Räumen, die Wagner in den letzten drei Jahren während seiner (Lese)Reisen durchlebt und zum Teil auch durchlitten hat, setzt er in seinem neuen Buch ein literarisches Denkmal. Es sind kurze Skizzen, die ihren Fokus nur auf einige wenige, aber wesentliche Dinge richten, die den Charakter des jeweiligen Zimmers pointiert beschreiben. Mal ist es die „Zierkissenpest“, mal das zu „einem Dreieck eingefaltete erste Blatt einer Toilettenpapierrolle“, von dem er sich fragt, welche Botschaft dies dem Gast vermittelt. Mit knappen Worten schafft es Wagner, durch diese räumlich so eng begrenzten Ansichten ungewohnte Einsichten in den in der Literatur so beliebten Kosmos Hotel zu vermitteln.

Für David Wagner (geboren im Rheinland, lebt in Berlin) ist es immer wieder eine spannende Frage, was ihn erwartet, sobald er den Hotelschlüssel in der Hand hat. Diese Spannung teilt der Leser nach wenigen Abschnitten mit ihm. Man liest den Hotelnamen, hat eine leise vorurteilende Vorstellung, welche manchmal bestätigt, manchmal widerlegt wird.

Vielleicht findet man sich im Prunk vergangener Tage wieder, vielleicht auch nur im Ambiente eines Möbelhauses auf der grünen Wiese. Mit Wagner fühlt man sich gestört von unablässig blinkenden Lichtern an Digitaluhren, stört sich mit ihm an blonden Haaren des Vorgängers auf grünen Samtbezügen, fragt sich irritiert, wieso manche Duschkabinen mitten im Zimmer stehen und ob es ein Qualitätsmerkmal ist, wenn Ohrenstöpsel ausliegen.

Wagner wertet nicht, er beschreibt lediglich das Erlebte. Nichts liegt ihm ferner, als sich in die Riege der Hoteltester von Reiseportals Gnaden einzureihen. Das Äußerste, was er sich erlaubt, ist Verwunderung. Gleichwohl sind seine Miniaturen sicher nicht nur interessant für den Reisenden, sondern könnten auch gut als Anregung für die dienen, die heutzutage den Reisenden eine Herberge geben.

Der Stil ist dabei bewusst nüchtern, fast im Duktus einer Gebrauchsanweisung. Der einzig wertende Schluß, den er zieht: Die Qualität eines Hotels erkennt man darin, ob Bleistifte oder Kugelschreiber ausliegen. (Die mit Bleistift sind besser. Bleistifte korrespondieren für gewöhnlich mit Holzböden, Kugelschreiber gibt es eher in den Zimmern mit den wild gemusterten Teppichböden, in denen Flecken schon eingearbeitet zu sein scheinen).

Die präzisen Beobachtungen lassen die Geschichten, die hinter den Zimmern stehen, nur erahnen, aber es ist genau diese Detailtreue, die letztendlich doch soviel mehr erzählt, als es die eigentliche Geschichte je könnte. Wagner beobachtet und beschreibt Unspektakuläres. Die komischen Momente, aber auch die melancholischen ergeben sich ganz von allein. Genau dadurch weckt er beim Leser den Wunsch, seine Umgebung näher zu betrachten und zu hinterfragen.

Da ist es dann letztlich auch in der Tat egal, ob hinter dem Buch eher der Wunsch nach poetischer Alltagsbeobachtung steht, für die Wagner schon in seinen vorhergehenden Werken ausgezeichnet wurde oder ob es einfach nur literarische Zusatzverwertung ist, der Wunsch, wenigstens etwas Kreatives aus seinen Lesereisen mitzunehmen.

Der Autor sagt offen, dass ihm bis zum Schluss nicht klar wird, welche Details in den Zimmern welche Gefühle in ihm hervorrufen. Klar ist, dass er sich manchmal auch sehr verloren fühlt. Der Kampf gegen Klimaanlagen, schlechte Leselampen, fehlendes Internet lässt ihm oft genug nur die Option eines voyeuristischen Blicks nach draußen. Genau damit bleibt auch die Frage offen, ob ihm die unbekannte Umgebung Angst macht oder ob ihm schlicht die Zeit für weitere Erkundungen fehlt.

Der einzige längere Absatz im Buch, der neben dem Zimmer auch die Außenwelt thematisiert, enttäuscht jedenfalls. Den Leser, aber wohl auch den Autor. Er verbringt eine längeren Zeitraum in Bad Aussee und wagt sich dort auch in die Natur, von der er gar nicht weiß, wo und warum genau er da Schönheit suchen soll, die er auch eher uninspiriert beschreibt. Unsicherheiten werden gewahr, Unsicherheiten, die in einem Hotelzimmer so schnell dann doch nicht aufkommen. Mal abgesehen von der Verunsicherung, die ihn bei so manch ausliegender Lektüre überkommt. Von einer antiquarischen Madame Bovary über Aufklärungsschriften aus dem letzten Jahrhundert bis zur Kulturgeschichte der Unterwäsche ist alles dabei. Wagners Miniaturen wären da sicherlich eine schöne Ergänzung für die Nachtkästen der Hotels dieser Welt.

David Wagner: „Ein Zimmer im Hotel. Miniaturen.“ Rowohlt Verlag, 121 Seiten, €18,95
(Die Hotels samt Besuchsdaten sind im Anhang vermerkt. Herdecke war übrigens die einzige Station in der Ruhrregion).




Sind Birnen besser als Äpfel? Hanns-Josef Ortheils Buch „Was ich liebe und was nicht“

Manche Schriftsteller schätzt man auf eine Weise, dass man auch mehr über den Menschen hinter den Büchern erfahren möchte. Hier naht eine Abhilfe: Der 1951 in Köln geborene Autor Hanns-Josef Ortheil versorgt uns in „Was ich liebe und was nicht“ gar reichlich mit Ansichten seiner selbst, mit höchstpersönlichen Bekenntnissen und Reflexionen.

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Einige Beispiele gefällig? Bitte sehr, ich verkürze notgedrungen furchtbar ungerecht, doch im Duktus ist es nicht völlig verzerrt:

Mit dem Autofahren und dem Fliegen hat’s Ortheil nicht so, er nimmt lieber die Bahn – und verrät ausführlich, warum das so ist.

In einem umfangreichen Kapitel übers Essen erfahren wir einiges über seine kulinarischen Vorlieben und Abneigungen. Er mag, wie es sich schon auf dem Buchcover andeutet, z. B. lieber Birnen als Äpfel und ordnet weitere Sorten so zu: „Himbeeren sind das Obst der Maler und Dichter. Kirschen dagegen sind das Obst der Komponisten und Filmemacher.“ Es könnte Leser geben, denen das Jacke wie Hose ist.

Doch weiter: Ortheil bevorzugt jenes Hotel, das alle Wünsche flugs erfüllt, aber auch die spartanische Waldhütte ohne Stromanschluss.

Radio hält er für uneitler als Fernsehen. Telefonieren und Mails sind ihm ziemlich zuwider.

Geradewegs zum Verlieben findet er Kunst-Kuratorinnen – beim gemeinsamen Gang durch deren Ausstellungen.

Filme beeindrucken ihn meist mehr als Theater. Hingerissen ist er beispielsweise von Darstellerinnen wie Isabelle Huppert und Mariel Hemingway.

Auch erfahren wir, welche Sportarten Ortheil vorzieht: Schwimmen, Skilanglauf, Basketball, Tennis, Fußball? Raten Sie mal. Oder lesen Sie nach.

Oasengleiche Lieblingsorte werden ebenfalls aufgesucht und atmosphärisch geschildert – in Stuttgart, Köln und tief im Westerwald. Von Italien mal zu schweigen.

So geht es also kreuz und quer durch Lebens- und Kulturgefilde: Reisen, Liebe, Literatur, Musik, Filme, Kunst, Mode, Sport, Natur, Wohnen und Philosophie. Und noch etliche weitere. Ortheil schreibt quasi ein Kompendium über sich, dabei den Tonfall öfter wechselnd, damit es unterhaltsam bleibt. Mal gerät er ins Plaudern, mal fasst er sich und seine Themen ernster. Letzten Endes dreht sich das Buch um alles, was sich bei ihm festgesetzt hat, was ihn ausmacht.

Auch wenn er hie und da szenische oder lyrische Elemente einstreut, seine Präferenzen vielfach nachvollziehbar begründet, gekonnt ausschmückt und oft süffig beschreibt, so gibt es doch auch eher banal anmutende Passagen. Nicht alles ist ausgearbeitet, es findet sich sozusagen auch unbehauenes Rohmaterial, aus dem vielleicht später Romane oder Essays keimen werden. Wer weiß.

Muss man Ortheils privaten Kanon derart ausgiebig kennen lernen? Sollen denn gar keine Fragen mehr für beflissene Zuhörer(innen) bei seinen öffentlichen Lesungen mehr übrig bleiben?

Nun gut. Die germanistische und die feuilletonistische Zunft werden sich hier künftig bedienen und mehr oder weniger waghalsige Querverbindungen zum literarischen Werk ziehen können. Wer immer eine Ortheil-Biographie verfassen sollte, wird an dieser Buchvorlage schwerlich vorbeikommen.

Es ist ja auch beileibe vieles interessant und anregend, beispielsweise die Innenansichten des literarischen Schreiballtags oder auch der Vergleich des Schriftstellerlebens mit dem des Pianisten, als der Ortheil in seinen jüngeren Jahren sich verwirklicht hat – bis zu einem gewissen Grade.

Reizvoll sind auch Einblicke in den legendären Stipendiaten-Ort, die römische „Villa Massimo“, und Auslassungen über das raumgreifend großspurige Gehabe bildender Künstler dortselbst, neben denen unscheinbare Schriftsteller schier verblassen.

Doch natürlich mündet das Buch in ein beseeltes Lob des Schreibens als Gipfel der Künste. Eine Wendung, die man füglich erwarten durfte. Wie denn überhaupt Hanns-Josef Ortheil längst für Bücher bekannt ist, die für ihn und uns hoffnungsvoll ausgehen. In diesen Zeiten ist das ja fast schon ein Alleinstellungsmerkmal.

Hanns-Josef Ortheil: „Was ich liebe und was nicht“. Luchterhand Verlag. 366 Seiten. 23 Euro.




Irrtum oder Plagiat? – Eine winterliche Spurensuche zwischen Goethe und Rosenkohl

Wir beginnen womöglich mit einem Goethe-Zitat, welches von winterlichen Verhältnissen kündet:

„Mir kommen diese Wintertage manchmal wie seltsam helle Nächte vor, in denen die Sonne zum Mond mutiert, in denen durcheinandergerät, was scheint und was beschienen wird. Vielleicht braucht es solche Tage, die wie Nächte sind, damit uns in einem erfrorenen Garten etwas wie Rosenkohl zum Lebenswert werden kann, der in der lottrigen Hütte unseres Weltvertrauens eine feste Schraube setzt.“

Kann auch keine Auskunft geben: die kleine Goethe-Büste im Regal. (Foto: Bernd Berke)

Kann auch keine Auskunft geben: die kleine Goethe-Büste im Regal. (Foto: Bernd Berke)

Wirklich sehr originell geschrieben, nicht wahr? Aber warum habe ich gesagt, es sei „womöglich“ ein Goethe-Zitat? Weil es zweifelhaft ist.

Die Fundstelle ist ein Buch, das ich gerade lese, genauer: Seite 38 in Bernd Brunners „Als die Winter noch Winter waren. Geschichte einer Jahreszeit“ (Galiani-Verlag; Rezension folgt demnächst). Dort wird obiges Zitat mit der lakonischen Feststellung eingeleitet: „Goethe schrieb:“

Das war mir zu lapidar. Ich wollte es gern etwas genauer wissen. Stammt der Abschnitt aus einem Brief oder aus einem fiktionalen Werk? Passt denn eine Formulierung wie „in der lottrigen Hütte unseres Weltvertrauens“ überhaupt in goethische Zusammenhänge? Ohnehin klingen besagte Zeilen staunenswert modern, als könnten sie vielleicht nicht aus der Goethe-Zeit herrühren (* siehe Schlussanmerkung).

Wegen solcher Fragen bin ich der Textstelle per Internet-Suchmaschine nachgegangen. Als offenbar einziger (!) Fundort tauchte ein Text aus der Wochenendausgabe der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) vom 7. / 8. März 2015 auf. Er stammt vom Feuilleton-Redakteur Samuel Herzog und trägt die Überschrift: „Glücksmomente – In einem vereisten Garten“.

Herzogs Text endet just mit dem gesamten obigen Zitat, das doch angeblich von Goethe stammen soll. In der NZZ wird es nicht in Anführungszeichen gesetzt, müsste also demnach von Samuel Herzog stammen. Wäre dies nicht der Fall, müsste man von einem ziemlich dreisten Plagiat sprechen.

Für den langjährigen NZZ-Mann Herzog (zuständig für Bildende Kunst) kann man jedenfalls einiges ins Feld führen. Vor allem, dass der Absatz wohl nur ein einziges Mal in frei zugänglichen Netz-Quellen zu finden ist (auch das „Projekt Gutenberg“ und Google-Books habe ich durchsucht). Wären es wirklich Sätze von Goethe, so wäre das mehr als erstaunlich. Dessen Zitate werden doch sonst allseits um und um gewendet.

Außerdem hat sich Herzog schon vor der fraglichen Stelle eines ausgesprochen poetisierenden Stils befleißigt. Der Schluss wäre somit nicht unpassend. Und drittens hat er direkt vorher ganz korrekt aus einem Brief von Wilhelm Busch zitiert. Warum sollte er es mit Goethe anders gehalten haben?

Also hätte sich der Buchautor Bernd Brunner einigermaßen gründlich geirrt? Aber wie kann es sein, dass ihm ein Text aus der NZZ als Goethe-Zitat unterkommt? Sind ihm der Zettelkasten bzw. seine Dateien etwas wirr durcheinander geraten?

Fragen über Fragen. Welche Goethe-Kenner wissen Rat? Können eventuell Bernd Brunner oder Samuel Herzog nähere Auskunft erteilen?

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Nachtrag, ohne jeden Zusammenhang mit der Zitat-Frage: Offenbar hat die NZZ ihrem altgedienten Redakteur Samuel Herzog neuerdings gekündigt.

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* Die etwas Älteren wissen ja, welche Folgen ein Anachronismus in Bezug auf Goethe haben kann. Einst musste der frühere „Zeit“-Feuilletonchef Fritz J. Raddatz gehen, weil er in fahrlässiger Weise Goethe mit der Eisenbahn in Verbindung gebracht hatte. Besondere Ironie: Auch damals ging es um einen (parodistischen) Text der NZZ, den Raddatz für bare Münze genommen hatte.




„Wir müssen uns wehren“: Autoren weltweit vor Verfolgung schützen – eine Rede über die Schriftstellervereinigung PEN

Vom 27. bis zum 30. April 2017 wird die deutsche Sektion der internationalen Autorenvereinigung PEN ihre Jahrestagung in Dortmund abhalten. Gleichsam zur Vorbereitung und Einstimmung auf das Ereignis hat unser Gastautor, der Schriftsteller Heinrich Peuckmann (Dortmund/Bergkamen), an verschiedenen Orten die folgende Rede gehalten, in der er darlegt, was der PEN eigentlich ist und will. Peuckmann ist selbst Mitglied des PEN. Wir drucken seine Rede mit geringfügigen Kürzungen ab:

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Historischer Moment am 18. November 1948 in Göttingen: Gründung des (west)deutschen PEN. u.a. mit (von links) Hans Henny Jahnn, Friedrich Wolf, Hermann Kasack, Günther Birkenfeld, Axel Eggebrecht, Dolf Sternberger und Erich Kästner. (Quelle: Wikipedia/Bundesarchiv, Bild 183-1984-0424-504, unverändert übernommen) - Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/

Historischer Moment am 18. November 1948 in Göttingen: Gründung des (west)deutschen PEN. u.a. mit (von links) Hans Henny Jahnn, Friedrich Wolf, Hermann Kasack, Günther Birkenfeld, Axel Eggebrecht, Dolf Sternberger und Erich Kästner. (Quelle: Wikipedia/Bundesarchiv, Bild 183-1984-0424-504, unverändert übernommen) – Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/

Um die Frage zu beantworten, wer oder was der PEN ist, fange ich nicht mit allgemeinen Erklärungen an, sondern wähle einen anderen, anschaulichen Einstieg. Wie wird eigentlich umgegangen mit dem freien Wort in unserer Welt, frage ich mich und damit auch Sie.

Derzeit sind etwa 800 Dichter, Journalisten und zunehmend Blogger in aller Welt mit Verfolgung, Gefängnisstrafe oder Tod bedroht. Und wer jetzt gleich an China denkt und dort den Haupttäter vermutet, denkt zwar an einen Großtäter, das stimmt, aber die Liste wird nicht von China angeführt, sondern von der Türkei.

Selbst in absoluten Zahlen liegt das Land des Herrn Erdogan an der Spitze der Schreckensliste und es gibt doch deutlich weniger Türken als beispielsweise Chinesen auf der Welt. Womit ich für China, ein Land, das ich durch mehrere Lehraufträge an dortigen Unis gut kenne, keine Unschuldserklärung abgeben möchte. Natürlich nicht. Auch Krisenländer in Afrika, Mittelamerika und Asien sind auf dieser Schreckensliste vertreten.

2013 wurden 15 Schriftsteller ihrer Texte wegen getötet, 19 weitere wurden umgebracht, vermutlich ebenfalls, weil sie unbequeme Meinungen vertraten, aber in ihren Fällen lässt sich das Tötungsmotiv nicht eindeutig nachweisen.

Beispiele aus Syrien, Katar, Mexiko und Bangladesch

Wie sieht denn nun Verfolgung von Autoren konkret aus?

Da ist zum Beispiel der syrische Romanautor Fouad Yazij, ein Gegner des Assad-Regimes und ein Christ, der auf diese Weise zwischen alle Fronten geriet. Hier Assads Soldaten, dort der fanatisch islamistische IS. 2014 musste dieses literarische Aushängeschild seines Landes überstürzt aus Syrien fliehen und gelangte nach Kairo, wo er zuerst einmal in einer Garage Unterschlupf fand.

Durch Vermittlung des Goethe-Instituts bekam Fouad Yazij schließlich eine bescheidene Wohnung. Aber er war noch immer völlig mittellos, noch dazu hatte er seine alte Mutter völlig verarmt in Homs zurücklassen müssen. Wenn er Spenden bekam, vom PEN vermittelt oder von der Gießener Gruppe „Gefangenes Wort“, schickte er einen Teil davon an seine Mutter. Über Monate hinweg wurde Fouad mehr schlecht als recht durch Hilfe von außen über Wasser gehalten, zwischendurch war er derart verzweifelt, dass seine Helfer Angst hatten, er könne sich das Leben nehmen.

Schließlich gelang es dem PEN, Fouad in sein „Writers-in-Exile-Programm“ aufzunehmen. Acht Wohnungen hat der PEN in Deutschland in verschiedenen Städten für dieses Programm, dank der Hilfe des Kulturministeriums, zur Verfügung, um dort für ein oder zwei Jahre verfolgte Schriftsteller unterzubringen. Wenigstens für einen kurzen Zeitraum sollen diese Autoren wieder Ruhe haben, um angstfrei zu leben und vor allem um zu arbeiten, also schreiben zu können. Acht von achthundert. Im November 2015 wurde Fouad in dieses Programm aufgenommen, inzwischen ist er sicher in Deutschland angekommen.

Da ist Mohammed al-Adschami aus Katar, dem Land, das im Jahr 2022 eine Fußball-Weltmeisterschaft ausrichten soll. Er hat ein Gedicht geschrieben, das der Emir als Aufruf zum Umsturz wertete. Zu lebenslanger Haft wurde er dafür verurteilt, seit 2012 saß Adschami für vier Jahre im Gefängnis, bis er nach vielen internationalen Protesten, hauptsächlich vom PEN, in diesem Jahr vom Emir begnadigt wurde. Mit den Zeilen „Sie importiert all ihre Sachen aus dem Westen/warum importiert sie nicht Gesetze und Freiheit“ endet sein Gedicht, das ihm diese Strafe einbrachte, denn jeder in Katar wusste, wer mit dem „Sie“ gemeint war. Die Zweitfrau des Emirs nämlich, die sich auf Auslandsfahrten mit ihrem Mann stets luxuriös einzukleiden weiß, die also die Waren des Westens schätzt, aber nicht seine moralischen Werte.

Gefängnis für eineinhalb Gedichtzeilen

Ein Aufruf zum Umsturz soll es also gewesen sein, den Emir auf diesen Widerspruch hinzuweisen und auf diese Anklage steht in Katar eigentlich die Todesstrafe. Lange drohte sie vermutlich, dann wurde Mohammed zu lebenslänglicher Gefängnisstrafe verurteilt. Und lebenslänglich ist in Katar wortwörtlich zu verstehen. Sein ganzes Leben lang sollte Mohammed für dieses eine Gedicht im Gefängnis schmoren, dann wurde er „begnadigt“, zu fünfzehn Jahren Haft. Das bedeutete bei einem Gedicht von 23 Versen ein Jahr Haft für eineinhalb Zeilen. Bis dann die endgültige Begnadigung kam. Gnade wofür? Dafür, dass jemand in einem Gedicht seine Meinung gesagt hat, die noch dazu schwer zu widerlegen ist?

Die mexikanische Journalistin Ana Lilia Pérez hat sich mit der Verstrickung von Mafia und Politik in ihrem Land beschäftigt und ein Buch darüber geschrieben: „Das schwarze Kartell“ heißt es. Unerschrocken hat sie darin aufgezeigt, wie die Korruption vor allem im staatlichen Ölkonzern funktioniert. Danach wurde sie von allen Seiten bedroht, von der Politik und von der Mafia, was in Mexiko mindestens teilweise ein und dasselbe ist.

„Plata o Plomo“ heißt es für die Journalisten in Mexiko, Silber oder Blei. Zu Deutsch: Entweder du lässt dich bestechen oder es fliegen die Kugeln. Ana Lilia ging zum Schluss nur noch mit schusssicherer Weste auf die Straße, mit dem Rücken stets zur Wand, um rechtzeitig sehen zu können, ob sie jemand in sein Blickfeld nahm, bis sie es nicht mehr aushielt und abhaute. Ein Jahr hat sie in Hamburg im „Writers-in-Exile“-Programm des PEN Unterkunft gefunden, eine Frau, deren Mut allen imponierte, die ihr begegneten. Dann entschied sie sich, zurückzukehren nach Mexiko. Was solle sie in Deutschland, sagte sie, sie werde in Mexiko gebraucht, dort sei ihr Engagement wichtig. Es war ein berührender Abschied bei der letzten Begegnung zwischen ihr und den deutschen Schriftstellern, denn niemand sprach aus, was doch alle dachten: Wer weiß, ob wir uns wiedersehen.

„Sie sind gekommen, um dich zu holen“

Der Blogger Ahmed Nadir aus Bangladesch, den ich eine Zeitlang im Auftrage des PEN betreut habe, war dagegen froh, dass er in Deutschland bleiben durfte. Nadir ist Computerspezialist, er hatte eine kleine Firma in Bangladesch und war gerade auf der Cebit in Hannover, als ihn sein Vater anrief und dringend vor einer Rückkehr warnte. „Bleib, wo du bist, Junge, sie sind gekommen, um dich zu holen. Die einen wollen dich einsperren, die anderen umbringen.“

Bei der Suchaktion nach Nadir, um diesen Störenfried endlich zur Strecke zu bringen, haben die Fanatiker dem Vater ein Auge ausgeschlagen. Nadirs Schuld bestand darin, zu Demonstrationen für demokratische Rechte aufgerufen zu haben. Seit ich Nadir betreut habe, kenne ich das deutsche Asylverfahren aus eigener Anschauung. Ich kenne auch seitdem Asylbewerberheime und verschweige den Namen der abgelegenen Stadt, in der Nadir untergekommen ist und sich monatelang gelangweilt hat, denn sie hat sich bemüht, diese Stadt, sie konnte wohl nicht anders. Es war ein uraltes Bürogebäude mit nackten Betonwänden, Eisenbetten darin, immerhin auch mit einem Fernseher.

Die Idee, Nadir mit einem zweiten Asylbewerber aus Bangladesch auf ein Zimmer zu legen, liegt nahe, sie war aber völlig falsch. Nadir ist nämlich Atheist, der andere aber war ein frommer Moslem, der jeden Tag fünfmal in Richtung Mekka betete, und Nadir wusste, wenn der andere von seiner Einstellung erfährt, ist sein Leben in Gefahr, vor allem nachts, wenn er schläft und damit wehrlos ist. Der andere hat es natürlich doch gemerkt, er hat aber nicht Nadir angefallen, sondern das Mobiliar im Zimmer in seiner Panik und Hilflosigkeit kurz und klein geschlagen. Nach monatelangem Warten, nach mehrfachem Drängen des PEN und zweier Bundestagsabgeordneter kam es schließlich zur Verhandlung und Nadir wurde Asyl gewährt. Er hat seither im Rheinland Kontakte gefunden, aber all das ist nichts im Vergleich zum Verlust von Familie, Freunden und Heimat eben.

Inzwischen sind zwei andere Blogger, Freunde oder Bekannte von Nadir, in Bangladesh brutal mit Macheten ermordet worden, weil sie atheistisch dachten.

In diese Reihe passt das Schicksal des saudi-arabischen Bloggers Raif Badawi, inzwischen Ehrenmitglied des deutschen PEN, der für seinen liberalen, antifundamentalistischen Blog zu tausend Stockschlägen verurteilt wurde, die in 20 Wochen, jeweils an einem Freitag, verabreicht werden sollen. Jeden Freitag fünfzig Schläge, eine Strafe, die mittelalterlich zu nennen ich mich scheue. Das Mittelalter hatte freiere Phasen. Der Aufschrei der Empörung in der Welt war groß, beeindruckte die dortige Regierung aber nicht. Nach Saudi-Arabien geht übrigens ein Großteil deutscher Rüstungsexporte, aber das ist dann wohl eine andere Sache, oder?

Diktatoren fürchten das freie Wort

Das freie Wort, wie wird es doch misshandelt in der Welt! Von allen Künstlern, so unsere Erfahrung, sind es zuerst die Schriftsteller, die verfolgt werden, weil ihr Arbeitsmaterial, das Wort nämlich, untrennbar mit Inhalten verbunden ist. Und Inhalte können, wenn sie die Realität schildern, störend sein, für manche Machthaber auch gefährlich.

Dazu fällt mir ein Bezug zur Bibel ein. Gott spricht im Schöpfungsbericht ein Wort nach dem anderen aus und eine ganze Welt entsteht. Auch durch Schriftsteller können, wenn wir Worte schreiben, Welten entstehen, Gedankenwelten nämlich, die aber nicht Gedanken bleiben müssen, sondern zu neuen Realitäten führen können. In Diktaturen sind das oft genug Gegenwelten, die die Unterdrücker um ihre Macht fürchten lassen und zur Verfolgung jener anstacheln, die doch nur von dem Gebrauch machen, was ihnen zusteht: von dem Menschenrecht auf freie Meinung. In Deutschland, das sei hinzufügt, wird das freie Wort nicht unterdrückt. Hier wird es abgehört.

Und frei macht das Wort auch nach der Bibel, zweiter Bezug zu unserem Glauben, denn die Sprachverwirrung beim Turmbau zu Babel ist doch, wenn man es genau liest, keine Bestrafung, sondern sie befreit. Befreit von Hybris, von dem Wahnsinn, einen Turm hoch bis zum Himmel zu bauen. Durch Sprache wird der Mensch davon befreit und vielfältig soll sie auch sein, sagt die Bibel.

Wenn nun Schriftsteller so zahlreich verfolgt werden, ist es gut, dass sie eine Organisation haben, die ein Anwalt an ihrer Seite ist. Die ihnen direkt helfen kann, mindestens so, dass die Verfolgung öffentlich wird. Das ist schon einiges, denn wie alle Verbrecher scheuen auch Diktatoren das Licht der Öffentlichkeit. Hier liegt nun eine der wichtigen Aufgaben des PEN, ein Großteil unserer Arbeit beschäftigt sich damit.

Was bedeutet nun das Wort „PEN“? Es ist, wie leicht zu vermuten, eine Abkürzung aus dem Englischen und steht für Poet, Essayist und Novelist. Der Poet ist der Lyriker, der Essayist der Journalist oder Sachbuchautor, heute zunehmend auch der Blogger, der Novelist der Romanautor. Zusammen ergibt es das Wort PEN, das für Feder steht, obwohl wir alle nicht mehr mit der Gänsefeder schreiben wie unsere berühmten Vorgänger, sondern mit dem Computer.

140 PEN-Zentren in 101 Ländern

140 PEN-Zentren gibt es in 101 Ländern. Der deutsche PEN-Club, wie man das früher nannte, hat etwa 800 Mitglieder. Man kann in den PEN nicht eintreten, sondern man wird hineingewählt, was immer auch für den jeweiligen Autor eine Auszeichnung ist. Zwei Bürgen müssen bei der Jahrestagung einen schriftlichen Antrag einreichen, warum sie diesen oder jenen Autor (oder Autorin) als Mitglied vorschlagen, sie müssen diese Begründung vor den Tagungsteilnehmern vorlesen und dann kommt alles darauf an, ob dies Mehrheit der Teilnehmer überzeugt oder nicht.

Screenshot der Internetseite des deutschen PEN.

Screenshot der Internetseite des deutschen PEN.

Das ist ein wichtiger Unterschied zum Verband deutscher Schriftsteller (VS), der sich mehr um Tariffragen kümmert, um Musterverträge zwischen Verlag und Autor zum Beispiel. Beim Schriftstellerverband kann man selber beantragen, aufgenommen zu werden. In der Regel reicht es, wenn man ein Buch veröffentlicht hat. Die meisten PEN-Autoren sind, genau wie ich, auch Mitglied im Schriftstellerverband, beide Verbände arbeiten gut zusammen.

Es ist kein Zufall, dass der Name aus einer englischen Abkürzung besteht, denn gegründet wurde der PEN 1921 in England, und zwar auf typisch englische Weise, nämlich bei einem Dinner. Am 5. Oktober 1921 lud die Schriftstellerin Catherine Amy Dawson-Scott ihre Schriftstellerfreunde zu sich ein (darunter die späteren Literatur-Nobelpreisträger George Bernhard Shaw und John Galsworthy) und wollte den „To-Morrow-Club“ gründen, den Vorläufer des PEN.

Hintergrund war das schreckliche Erlebnis des Ersten Weltkriegs, Dawson-Scott wollte, dass sich solch ein Verein auch in anderen Ländern gründete, um auf diese Weise beizutragen zur Völkerverständigung, damit es nie wieder Krieg gibt. Warum sollten bei diesem großen Unternehmen nicht die Schriftsteller vorangehen, hat sie gedacht. Tatsächlich gab es beim ersten internationalen PEN-Kongress 1923 schon 11 PEN-Zentren in verschiedenen Ländern.

John Galsworthy als erster Präsident

Erster Präsident des nun internationalen PEN wurde John Galsworthy, auch ein Nobelpreisträger, der berühmt geworden ist für seine Romanreihe „Die Forsyte Saga“. Ich selbst habe in meiner Schulzeit die längere Erzählung „The man, who kept his form“ gelesen, frei übersetzt: Der Mann, der sich selbst treu blieb. Es ist die Geschichte eines Unangepassten, der seinen – freilich etwas konservativen – moralischen Grundsätzen folgt, selbst wenn er dafür Nachteile in Kauf nehmen muss. Sie hat mir gefallen, diese Geschichte und ist mir als ein Hinweis für das eigene Leben im Gedächtnis geblieben: Versuche auch du, deinen Grundsätzen treu zu bleiben! Insofern, denke ich, ist Galsworthy ein guter erster PEN-Präsident gewesen.

Trotz der schnellen Gründungen von Zentren in aller Welt ist der PEN am Anfang doch ein wenig dem Charakter eines Dinnertreffens oder einer Teestunde treu geblieben, denn nach dem Willen von Dawson-Scott sollte es keine politische Autorenvereinigung sein. Völkerverständigung, Freundschaften über die Grenzen hinaus, das ja, aber politisch sollte der PEN sich nicht äußern. Dies ist eine Einstellung zur Literatur, die einem immer wieder begegnet, bis heute. Wie kann man so etwas Schönes wie die Poesie mit der schnöden, hässlichen Politik vermengen? Ich höre das immer wieder, wenn ich einen zeitkritischen Roman veröffentlicht habe, denn ich bin in diesem Punkt ganz anderer Meinung.

Der PEN war in seiner Anfangszeit in diesem Punkt ja auch widersprüchlich. Was ist denn Völkerverständigung anderes als gelungene, geradezu wünschenswerte Politik? Auch ein Satz in der Charta, dem Grundgesetz des PEN, ist hochpolitisch: „Sie (die PEN-Mitglieder) verpflichten sich, für die Bekämpfung von Rassen-, Klassen- und Völkerhass und für die Hochhaltung des Ideals einer in Frieden lebenden Menschheit mit äußerster Kraft zu wirken.“

Das soll unpolitisch sein? Hochpolitisch ist das, geradezu brisant angesichts der Zustände in unserer Welt.

Als Ernst Toller 1933 das Wort ergriff

Spätestens ab 1933 ließ sich die feine, etwas vornehme Zurückhaltung in Sachen Politik für den PEN nicht mehr durchhalten. Da hatten in Deutschland die Nazis die Macht übernommen und hatten alle ihre Kritiker – Sozialdemokraten, Kommunisten, kritische Christen und nicht zuletzt unbequeme Schriftsteller – ins KZ geworfen, gefoltert, manche auch getötet oder ihnen die deutsche Staatsbürgerschaft entzogen und sie so ins Exil gezwungen, u.a. den damaligen deutschen PEN-Präsidenten Alfred Kerr, der bekannteste Literaturkritiker seiner Zeit, der jüdischer Abstammung war.

1933 veranstalteten die Nazis einen Tiefpunkt an Kulturlosigkeit, die Bücherverbrennung. Auf dem Berliner Opernplatz ließen sie all jene Bücher verbrennen, die sie für undeutsch hielten. Es waren die Werke fast aller bekannten deutschen Autoren, so dass man mit Fug und Recht behaupten kann, dass das deutsche Geistesleben verbrannt werden sollte. Heute findet man an der Stelle, wo der Scheiterhaufen stand, ein ebenso einfaches wie überzeugendes Denkmal. Eine Glasplatte ist dort in den Boden eingelassen worden und wenn man hindurchschaut, sieht man unten einen völlig sterilen Raum mit weißen, leeren Bücherregalen.

Was bleibt also übrig, wenn die Kultur vernichtet ist? Leere bleibt übrig, Sterilität und geistige Ödnis. Es erfüllte sich in der Folgezeit, was der großartige Dichter Heinrich Heine knapp hundert Jahre vorher prognostiziert hatte: Wer Bücher verbrennt, der verbrennt auch Menschen. Weiß Gott, das haben sie getan, die Nazis. Millionenfach.

Die Bücher des sozialistischen Schriftstellers Oskar Maria Graf wurden nicht verbrannt, einige wurden von den Nazis sogar empfohlen. Graf floh aus diesem Nazi-Kerker und schrieb einen bewegenden Aufruf, in dem er sich über diese Behandlung durch die Nazis beklagte:

„Nach meinem ganzen Leben und nach meinem ganzen Schreiben habe ich das Recht, zu verlangen, dass meine Bücher der reinen Flamme des Scheiterhaufens überantwortet werden und nicht in die blutigen Hände und die verdorbenen Hirne der braunen Mordbande gelangen.“ Was für eine großartige Haltung eines Schriftstellers!

Und der PEN? Den hatten sich Nazi-Schriftsteller unter den Nagel gerissen. Ja, das gab es leider auch, Schriftsteller, die ihr Wirken in den Dienst einer Verbrecherideologie gestellt haben. Klar, wenn die Großen vertrieben werden, können sich die Mickerlinge aus dem vierten oder fünften Glied ins Licht drängen. Ich habe die Namen mal nachgeschlagen, die nach Hitlers Machtergreifung das Präsidium des PEN bildeten, sie sind, bis auf Hanns Johst, der Romane und Theaterstücke schrieb, völlig unbekannt. Unbedeutend sowieso.

Bei der Tagung des internationalen PEN in Dubrovnik im Mai 1933 tauchte diese Delegation dann auf und wollte nicht, dass über Politik geredet wurde, natürlich nicht, weil sie ja Angst haben musste, dann wegen der Verfolgung und Folterung von Schriftstellern am Pranger zu stehen. Das aber verhinderte der damalige PEN-Präsident H.G Wells („Krieg der Welten“), der Ernst Toller das Wort erteilte, einem bekannten deutschen Schriftsteller, dem die Nazis die deutsche Staatsangehörigkeit aberkannt hatten und der nun im Exil lebte.

Toller klagte in einer flammenden Rede nicht das deutsche Volk an, sondern diejenigen, die es in eine Diktatur gezwungen hatten und die nun alle Andersdenkenden verfolgten, folterten und töteten. Und dann nannte er all die Namen der Schriftsteller und Maler, die die Nazis eingesperrt oder getötet hatten. Er bekam viel Applaus für diese mutige Rede, der Nazivorstand des PEN verließ empört die Tagung und isolierte sich damit selbst.

Nach 1945 spaltete sich der deutsche PEN

Fortan gab es kein PEN-Zentrum mehr in Deutschland, aber einen Exil-PEN mit Sitz in London, in dem die meisten Schriftsteller von Rang und Namen Mitglied waren, denn sie alle mussten ja aus Nazideutschland fliehen. Einer gehörte aber nicht dazu, der bekannte Autor Erich Kästner („Emil und die Detektive“, „Das doppelte Lottchen“), der das Kunststück fertig brachte, die Nazizeit in Deutschland zu verbringen, in innerer Emigration, ohne sich den Nazis anzudienen. Er hatte sogar der Bücherverbrennung in Berlin als Zuschauer beigewohnt und erleben müssen, wie auch seine Bücher verbrannt wurden. Eine Frau hat ihn dabei sogar entdeckt und erschreckt gerufen: „Aber da ist ja der Kästner!“ Zum Glück hat es keiner von den Nazis gehört. Kästner wurde nach dem Krieg einer der prägenden PEN-Präsidenten.

Den Exil-PEN, dies nebenbei, gibt es bis heute, obwohl eigentlich keine Veranlassung mehr dafür besteht. Wir arbeiten gut mit ihm zusammen, aber warum er nicht zu uns übertritt, weiß ich nicht.

Nach dem Krieg machte der PEN die deutsche Spaltung mit. Trotz anfänglicher Bemühungen, sich nicht zu trennen, entstand ein DDR-PEN, genannt PEN Ost, und ein West-PEN. Intensive Kontakte zwischen beiden Verbänden gab es nicht. Also war Deutschland auch im Literaturbetrieb gespalten. Und wer nun glaubt, dass sich nach der Wende die beiden Verbände schnell und vor allem erfreut zusammengefunden haben, der täuscht sich gewaltig.

Die Vereinigung der beiden Länder verlief durch den „Anschluss“ der DDR an die Bundesrepublik, denn das war es ja, vergleichsweise schnell: Die Schriftsteller aber wollten erst mal, wie das ihre Eigenschaft ist, diskutieren. Wie habt ihr euch in der Zeit der Trennung verhalten, welches Erbe bringt ihr ein in unseren Verband und vor allem: Ich will nicht neben einem Stasispitzel bei den Jahrestagungen unseres PEN sitzen! Und Stasispitzel, meinten viele Westler, waren die anderen doch meistens.

Doch Vorsicht! Fritz Rudolf Fries zum Beispiel, ein guter DDR-Autor, war IM bei der Stasi, aber warum? Hauptsächlich, weil ihn die Stasi in der Hand hatte. Seine Tochter war nämlich krank. Medizin, die ihr half, gab es nur im Westen. Die Stasi besorgte ihm die Medizin und half damit seiner Tochter, aber dafür wollte sie eben Informationen haben… Fritz Rudolf Fries hat übrigens hauptsächlich Allgemeinplätze ausgeplaudert, nichts, das anderen hätte Schaden zufügen können. Trotzdem, er hat unter dieser Last, als alles rauskam, schwer gelitten und ist aus allen Autorenverbänden, auch aus dem PEN, in dessen Präsidium Ost er mal gewählt worden war, ausgetreten.

„Wessi“ oder „Ossi“ – heute ist es egal

Es gab Kämpfe, die den PEN fast zerrissen hätten und es dauerte Jahre, bis der PEN unter der behutsamen Führung des damaligen PEN-Präsidenten Christoph Hein, ein „DDR-Autor“, der heute Ehrenpräsident ist, doch zusammengeführt wurde.

Heute spielen die alten Kämpfe keine Rolle mehr und nach der letzten Wahl ins Präsidium, die in Magdeburg, also einer Stadt im Osten stattfand, haben wir im Nachhinein erschreckt festgestellt, dass gar kein „Ossi“ mehr im Präsidium ist, bis sich der Kassierer, mein Freund Matthias Biskupek meldete und sagte: Ich bin doch ein Ossi. Und der Ehrenpräsident Christoph Hein ist es auch.

Eigentlich ist es nicht schlecht, dass der Gedanke Ost – West bei der Wahl überhaupt keine Rolle gespielt hatte, denn das ist ein Zeichen von Normalisierung. Und wenn bei der nächsten Wahl fünf „Ossis“ gewählt werden und uns das auch erst lange nach der Wahl auffällt, ist das ein ebenso gutes Zeichen.

Die Vereinigung war also ein schwieriger Prozess und es ist gut, dass sie geklappt hat, denn nun folgt der PEN wieder mit Macht seinen Zielen aus der Charta und er ist dabei im kulturellen und gesellschaftlichen Leben, wie ich das liebe und wie sich das für Schriftsteller meiner Meinung nach gehört, ein Störfaktor. Denn jene, die gegen die wichtigsten Ziele des PEN, nämlich den Kampf gegen Völker- und Rassenhass, verstoßen, die also Hass verbreiten und damit Kriege rechtfertigen, und die das freie Wort unterdrücken wollen, sollen uns als ihre Gegner verstehen. Als ihre erbitterten Gegner!

Was macht nun der deutsche PEN?

Viermal im Jahr kommt das Präsidium in verschiedenen Städten zusammen und plant die Aktionen. Einmal im Jahr treffen wir uns zu einer großen Jahrestagung, dann können alle kommen, die PEN-Mitglieder sind. In der Regel sind das 150 Schriftsteller, was bei diesen ausgeprägten Einzelgängern schon eine stattliche Anzahl ist.

Zuflucht in acht deutschen Wohnungen

Acht Wohnungen, in Berlin, Darmstadt, München und Hamburg hat der deutsche PEN zur Verfügung, um dort verfolgte Schriftsteller unterzubringen, das ist einmalig innerhalb des internationalen PEN. Wir entscheiden darüber, wen wir für ein oder zwei Jahre aufnehmen und wer hier bei uns wieder unbedroht wohnen und schreiben darf. Natürlich bekommen diese Autoren auch monatlich Geld zum Überleben.

Das Geld für Stipendien und Wohnung bekommt der PEN vor allem vom Ministerium für Kultur, also von der Bundesregierung, dazu gibt es die Städte, die Wohnungen zur Verfügung stellen. Es löst nicht das Problem der Verfolgung von Schriftstellern, aber es lindert sie wenigstens für ein paar von ihnen. Trotzdem, einfach ist das Leben auch für diese acht Autoren nicht bei uns. Sie kommen doch nach jahrelanger Verfolgung oder Haft traumatisiert zu uns, einige sind krank. Sie alle müssen erst mal Schritt für Schritt ins Leben zurückfinden, noch dazu in einem fremden Land. Wie mache ich das mit dem Arztbesuch, wo muss ich Anträge für dieses oder jenes stellen? Einige müssen fast wortwörtlich an die Hand genommen und ins Leben geführt werden.

Dauernd veröffentlichen wir, in welchen Ländern wieder welche Schriftsteller eingesperrt werden oder mit dem Tode bedroht sind. Manchmal hilft es etwas, manchmal erst einmal nicht, dann aber plötzlich doch nach ein paar Jahren. Nach quälenden Jahren in schrecklichen Gefängnissen.

Wir sind aber auch hier im Lande aktiv. Die schrecklichen Todesfälle im Mittelmeer haben den deutschen PEN zu einem Aufruf veranlasst, der eine menschenwürdige Behandlung von Flüchtlingen verlangt. „Schutz in Europa“ heißt der Aufruf, den über tausend Schriftsteller unterzeichnet haben, und den wir in Berlin dem Staatssekretär im Innenministerium übergeben haben, der sich dadurch angegriffen fühlte und nicht besonders freundlich benahm. Wir haben ihn auch in Brüssel an den EU-Parlamentspräsidenten Martin Schulz überreicht, der sehr froh über diese Initiative war und den PEN-Präsidenten, im Moment ist das Josef Haslinger, erfreut empfing. Schulz ist ein Freund der Bücher und damit der Schriftsteller. Er war früher Buchhändler.

Wo immer es Ansätze von Zensur, aber auch Einschnitte in Kulturprogramme gibt, erhebt der PEN seine Stimme. Das Wort muss frei bleiben und es darf auch nicht durch finanzielle Einschränkungen beschnitten werden.

Gegen die Gratismentalität

Im Moment haben wir viel mit Abwehrkämpfen zu tun und kämpfen zum Beispiel gegen die Gratismentalität im Internet, die vor allem durch eine Partei propagiert wird, die für dieses Programm den richtigen Namen trägt und die nun, dazu muss man kein Wahrsager sein, wieder verschwinden wird. Piraten heißt sie und was Piraten tun, wissen wir ja alle. Vielleicht haben sie auch hier ein paar Sympathisanten, denen ich eines zu bedenken geben möchte. Das Internet ist nichts anderes als eine technische Möglichkeit, die erst einmal leer ist. Gefüllt wird sie durch die Geistesleistung von Menschen, durch Musiker, Schriftsteller, Journalisten, die von ihrer Arbeit leben müssen. Deren Produkte kostenlos anzubieten, heißt, sie zu enteignen.

Das sollte man mal mit materiellen Werten tun wollen. Zehn Jahre nach Tod des Firmenchefs geht seine Firma in Gemeineigentum über, das wäre eine vergleichbare Forderung. Den Aufschrei möchte ich mal hören. Aber mit Geistesarbeitern glaubt man, es machen zu können. Nein, alles was in Online-Zeitungen, in kopierten Internetbüchern, an Musik erscheint, muss bezahlt werden, sonst können viele Journalisten, Schriftsteller oder Musiker nicht mehr arbeiten und wir würden geistig ausdünnen.

Kürzlich wollte jemand E-Books, nachdem er sie gelesen hatte, in einem Internet-Antiquariat verkaufen. E-Books veralten aber nicht in ihrem Material, sie bleiben, was sie schon beim Kauf sind. Ein Gericht hat diesen Versuch untersagt. Andernfalls könnten meine Verlage gar keine Bücher mehr produzieren. Es reicht ja, wenn sie ein E-Book herstellen, das dann, was ja auch geschieht, zig mal kopiert wird und dann auch noch im Antiquariat verkauft wird. Wie soll ein Verlag davon leben? Das geht nicht, also würde es ihn nicht mehr geben, also würde er meine Bücher nicht mehr drucken und auch nicht die meiner Autorenkollegen. Also könnten wir nichts mehr veröffentlichen. Eine geistig-literarische Verarmung wäre die Folge.

Wir kämpfen gegen TTIP, das große Handelsabkommen zwischen Europa und Nordamerika, dessen Vertragstext so geheim ist, das ihn nicht mal Politiker lesen dürfen. Wer hat in dieser Welt eigentlich das Sagen? Die gewählten Politiker oder die Großkapitalisten?

Buchpreisbindung beibehalten

Schriftsteller sind vor allem dagegen, weil dann die Buchpreisbindung aufgehoben würde. Anbieter wie Amazon würden Bücher zu Billigpreisen verkaufen, kaum jemand ginge noch in die Buchhandlungen, von denen wir in Deutschland noch etwa 5000 haben, eine gut geordnete Szene also, die dann zu wenig zum Überleben verdienen und folglich verschwinden würde. Und mit ihnen unsere Bücher, vor allem jene, die nicht in den Bestsellerlisten stehen, die aber informierte Buchhändler trotzdem auf Vorrat halten und empfehlen.

Über 500 Schriftsteller haben einen Protestaufruf unterschrieben und sich darin verbeten, dass die NSA in Deutschland alles und jeden abhört. Der PEN war maßgeblich daran beteiligt. 500 Schriftsteller, darunter alle bekannten, Juli Zeh hat diesen Aufruf im Bundeskanzleramt übergeben. Geschehen ist daraufhin…nichts. Die Bundeskanzlerin hat den Schriftstellern nicht einmal geantwortet.

Natürlich organisiert der PEN auch literarische Veranstaltungen, denn wir sind ja dem Wort ganz allgemein verpflichtet, nicht nur dem verfolgten, sondern auch der Schönheit der Sprache. Sich mit Literatur zu beschäftigen, mit wichtigen, auch unbequemen Inhalten, mit schön gebauten Sätzen, mit anregenden Sprachbildern und Metaphern, das ist doch etwas gerade in einer Zeit des Überschwalls von Wörtern und Sätzen, oft ohne oder mit wenig Inhalt. Auch darauf möchte der PEN hinweisen.

Lesungen und Diskussionen

Lesungen mit unseren Stipendiaten finden in Literaturhäusern statt, große Diskussionsveranstaltungen zu wichtigen literarischen Themen werden durchgeführt, bei der letzten Jahrestagung zum Beispiel zu der Frage, ob der Blasphemieparagraph aus dem Gesetzbuch gestrichen werden soll. Jener Paragraph also, der angebliche oder wirkliche Gotteslästerung unter Strafe stellt. Es ist eine Diskussion in der Folge des schrecklichen Attentats auf die französische Satirezeitschrift Charlie Hebdo. Bei der nächsten Jahrestagung in Dortmund wird eine Lesung „Der Klang der Sprache“ heißen. Drei Autoren sollen lesen, es soll einfach um die Schönheit von Sprache gehen.

Einmal im Jahr verleiht der PEN den Hermann-Kesten-Preis an eine Person oder Organisation, die sich gegen Menschenrechtsverletzungen engagiert. Zur Hälfte gibt der PEN das Preisgeld, zur anderen Hälfte das Land Hessen. In diesem Jahr werden diesen Preis Can Dündar und Erdem Gül bekommen, zwei mutige türkische Journalisten, die aufgedeckt haben, dass die türkische Armee Waffen an den IS liefert, an den IS, der damit die kurdische PKK bekämpfen kann. Die Kurden sind für Erdogan wohl der schlimmere Feind als der IS. Natürlich wurden die beiden zu hohen Gefängnisstrafen verurteilt, Dündar konnte aber, bevor eine Revisionsverhandlung vor Gericht stattfand, ausreisen und befindet sich in Deutschland. Dafür hat die Türkei seiner Frau den Pass entzogen und die Ausreise verweigert. Sippenhaft, um ein Faustpfand gegen Dündar in der Hand zu haben!

Es sind also viele Initiativen, die der PEN rund um das geschriebene, das literarische Wort ergreift, denn ja, wir müssen uns wehren. Dauernd gilt es, Gefahren abzuwehren, denn was macht die Welt für die Herrschenden bequemer als das freie Wort mundtot zu machen?

Nachts um 1 Uhr im Ratskeller

Aber all dies macht immer noch nicht den PEN aus, denn es gibt noch ein kleines, schönes Nebenergebnis. Wir sind doch alle, ich sagte es schon, Einzelgänger, die ihre Zeit allein für sich im Zimmer vor dem Computer verbringen, um den neuen Roman, den nächsten Gedichtband fertig zu stellen. Aber wir haben auch gerne Kontakt zu Menschen, weil wir gerne lachen, gerne Anekdoten erzählen. Wir suchen den Meinungsaustausch, der auch ein paar Tipps und Ideen für Projekte mit sich bringt. Und dazu taugen unsere Jahrestreffs.

Die Sitzungen, die heftigen Diskussionen im Plenum, die Veranstaltungen an den Abenden, das alles ist nur der eine Teil. Der andere besteht darin, dass wir uns zu kleinen, oft zufälligen Gruppen zusammenfinden, dass wir ein Bier miteinander trinken, über Gott und die Welt reden, uns dabei kennenlernen und – das nächste Nebenprodukt – so manches Projekt aushecken. Ja, das haben wir auch nötig.

Bei der letzten Jahrestagung in Magdeburg, als wir uns in einer großen Runde im Ratskeller zusammengefunden hatten, fragte ich den Wirt: Warum machen Sie denn plötzlich überall das Licht aus? Er antwortete: Wir schließen immer um ein Uhr nachts.

Da haben wir alle auf die Uhr geschaut und tatsächlich, es war Viertel nach eins. Wir hatten uns wunderbar festgequatscht und jeder von uns hatte einen oder zwei Kollegen neu kennengelernt. Irgendwo, bei einer Gelegenheit, an die wir jetzt noch nicht denken, wird das eine Rolle spielen.

Auch deshalb bin ich gerne im PEN. Wir sind Störenfriede, wir sind unbequem, wir sind politisch, wir lieben schöne Literatur. Das ist gut so. Aber daneben lerne ich immer auch ein paar Schriftsteller kennen, deren Bücher ich mag und mit denen ich nach einer langen Nacht plötzlich befreundet bin. Das ist nicht nur einfach gut so, das ist bestens.




Buchtipps zum Fest: Peter Rühmkorf, Christa Wolf, Wembley-Tor, Krimi und Architektur

Ist da draußen noch jemand auf der Suche nach Weihnachtsgeschenken in Buchform? Hier ein paar empfehlende Hinweise in verschiedenen Geschmacksnoten:

Zunächst die so genannte Hochliteratur, wie es sich konservativ-feuilletonistisch gehört:

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Rühmkorfs funkelnde Lyrik

Das ist wahrlich kein Geheimnis mehr: Der 1929 in Dortmund geborene, später freilich aus hanseatischer Überzeugung in Hamburg ansässige Peter Rühmkorf gehört zu den wichtigsten Lyrikern der bundesdeutschen Nachkriegszeit. Insofern ist eine Gesamtausgabe seiner Gedichte ein besonderes, vielfach funkelndes Juwel der Sprachkunst. Rühmkorfs Tod im Jahr 2008 bedeutet einen immensen Verlust für die Literatur, der immer noch schmerzt.

Er war (ähnlich wie der mit ihm befreundete Robert Gernhardt) einer, der die Überlieferung von Reim und Metrik wach und lebendig gehalten hat – und er hat die althergebrachten Formen mit neuen Inhalten reich gefüllt. Im souveränen Spiel mit gebundenen und freien Versen kommt ihm im hiesigen Sprachraum wohl keiner aus seiner Generation gleich.

Die von Bernd Rauschenbach sorgfältig edierte Ausgabe „Sämtliche Gedichte“ enthält alle Lyrikbände von 1956 bis 2008 und (in Auswahl) ganz frühe Schöpfungen, die ab 1947 im Selbstverlag erschienen sind.

Dies ist ein Buch, das einen Ehrenplatz im Regal verdient und das man als Vademecum stets griffbereit halten sollte. Hier wird ein wesentlicher Teil des Lebenswerks ausgebreitet; hier kann man Sprachfeinheiten geradezu genießerisch schlürfen und wird überdies noch mit luziden Erkenntnissen belohnt. Rühmkorf hat ja nicht nur die ewigen Themen Liebe und Tod bedichtet, sondern war auch ein eminent politischer Kopf mit links geschärften Sinnen. Legendär wurde diese lyrische Essenz: „Bleib erschütterbar – und widersteh.“

Für den unverwechselbaren Klang (in Rühmkorfscher Diktion „einmalig / wie wir alle!“), in dem auch Alltagssprache aufgehoben ist, nur mal ein Beispiel, das Rühmkorf selbst als Bagatelle bezeichnet hat:

Abschiede, leicht gemacht

Denen, die vor Gier nach Ewigkeit entbrennen,
geb ich mich geniert
als sterblich zu erkennen.

Lieber als verhaunen Bällen nachzusinnen,
zieh ich vor,
nochmal von vorne zu beginnen.

Allerdings, statt bieder vor mich hinzuwerkeln,
scheint mir lustiger,
freischaffend loszuferkeln.

Dies als Kunstgesetz gesamt gesehen:
Ein Gedicht, das auf sich hält,
das läßt sich gehen.

Und je tiefer ich empfinde, um so seichter
schmiere ich mich aus,
dann fällt der Abschied leichter.

Da haben wir es also mal wieder: das Leichte, das so schwer zu machen ist. In der Nachfolge von Heine, Benn und Ringelnatz (unter anderen) hat Rühmkorf beileibe nicht nur höheren Jux getrieben, sondern auch die Vergänglichkeit besungen wie nur je einer seit barocken Zeiten. Doch auch die Fährnisse zwischen Geilheit und Vögeln wusste er in sprühend wohlgesetzte Worte zu fassen. Der Mann, der sich zuweilen als (erotischer) Filou gefiel, war intellektuell ein Ausbund an Unbestechlichkeit. An seinem lyrischen Zuspruch konnte und kann man sich nicht nur ergötzen, sondern aufrichten.

Noch ein Zitat, ein vermeintlich unscheinbares, das aber zu denken gibt. Aus dem Gedicht „Zum Jahreswechsel“:

Diese Welt kann doch nicht so gemeint sein
Wie sie aussieht, oder?

Peter Rühmkorf: „Sämtliche Gedichte“ (Hrsg.: Bernd Rauschenbach). Rowohlt Verlag. 621 Seiten. 39,95 €

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Briefe von Christa Wolf

Nun zu einer literarischen Protagonistin, ja Repräsentantin aus dem östlichen Teil Deutschlands, die im selben Jahr geboren wurde wie Rühmkorf: Christa Wolf (1929-2011), Autorin von Büchern wie „Kindheitsmuster“, „Der geteilte Himmel“, „Nachdenken über Christa T.“, „Kassandra“, „Kein Ort. Nirgends“ und „Störfall“, hat auch umfangreiche Konvolute von Briefen hinterlassen, um die es hier geht.

Insgesamt enthält die vorliegende Auswahl der „Briefe 1952-2011“ genau 483 Schriftstücke, die sich an rund 300 Adressaten richten. Abgedruckt sind nur die Briefe von Christa Wolf, nicht aber die Schreiben ihrer Briefpartner. So wirkt das Ganze gelegentlich etwas monologisch, man muss sich einiges hinzu denken. Immerhin sind rund 90 Prozent der abgedruckten Briefe bislang noch nicht veröffentlicht worden. Auch das gibt dieser Sammlung, bei aller wohlweislichen Beschränkung im Einzelnen, einiges Gewicht.

Der Obertitel lautet „Man steht sehr bequem zwischen allen Fronten“ und könnte als Zitat auch etwas sarkastisch gemeint sein. Denn gar so bequem kann es nicht immer gewesen sein für Christa Wolf. Vielfach ereilte sie der Vorwurf, dem SED-Staat doch etwas zu sehr auf den Leim gegangen zu sein.

Über sehr lange Zeit hinweg ist sie zumindest von naiver Gutgläubigkeit gewesen. Spätestens im Gefolge der Biermann-Ausbürgerung aus der DDR (1976) hat auch sie Farbe bekannt. Freilich hielt sie damals immer noch Erich Honecker für eine ansprechbare Instanz: „Sehr geehrter Genosse“ lautete ihre Anrede, und sie bat ihn brieflich darum, inhaftierte Autoren zu begnadigen. Hat sie damit das Menschenmögliche versucht, oder hat sie gar zu sehr laviert? Darüber könnte man noch heute lange streiten. Doch allmählich verblassen die Meinungskämpfe jener Tage.

In der ausgewählten Korrespondenz (insgesamt hat Christa Wolf wohl um die 15.000 Briefe verfasst) tauscht sie sich nicht nur mit Schriftstellern (u. a. Grass, Frisch, Sarah Kirsch, mit der sie sich später heillos überworfen hat) aus, sondern auch mit „ganz normalen“ Lesern. Dafür hat sie viel Geduld aufgebracht. Nur ganz selten wurde sie zornig, so etwa, als sie den Schülerinnen eines Deutsch-Leistungskurses barsch deren absolute Unkenntnis ihres Werkes vorwarf und sich über „absurde“ und „verletzende“ Fragen beschwerte. Wie gesagt, das war eine Ausnahme.

Man muss wissen, dass Christa Wolf wegen der Stasi-Briefzensur häufig nicht offen schreiben konnte, sondern ihre Botschaften und Anliegen allenfalls sprachlich verschlüsselt übermitteln konnte, was der verbalen Kunstfertigkeit mitunter zuträglich war. Besonders ehrlich klingen manche der Briefe, die sie seinerzeit nicht abgeschickt hat, die aber erhalten geblieben sind. Dass Wolfs Werke und Briefe zudem von grundsätzlicher Sprachskepsis durchzogen sind, lässt dieses Zitat aus „Nachdenken über Christa T.“ ahnen: „Wie man es erzählen kann, so ist es nicht gewesen“.

Christa Wolf: „Man steht sehr bequem zwischen allen Fronten – Briefe 1952-2011“. Suhrkamp Verlag. 1040 Seiten, 38 €

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Ein einziges Tor

Dass über eine Mannschaft oder ein Turnier ganze Bücher entstehen, mag angehen. Aber über ein einziges Tor?

Ganz klar, es gibt aus deutscher Sicht nur einen Treffer, der buchfüllend ist: das wohl für alle Ewigkeiten umstrittene 3:2 beim Endspiel der Fußball-WM 1966. Bekanntlich wurde das Tor für England gegeben, obwohl der Latten-Abpraller mutmaßlich vor der Linie aufschlug. So jedenfalls die deutsche Lesart.

Dass man diesen fußballhistorischen Moment in tausend Facetten ausbreiten und anreichern kann, beweist Manuel Neukirchner, Chef des Deutschen Fußballmuseums in Dortmund, mit dem Band „Wembley 1966“, der vor allem von der vielfältigen und großzügigen Bebilderung lebt.

Das 50 Jahre zurück liegende Ereignis spiegelt natürlich auch längst den damaligen Zeitgeist wider, so dass das Match über das rein Fußballerische hinaus interessant ist. Also war es auch dem Deutschen Fußballmuseum eine Sonderausstellung wert. Hier haben wir das Begleitbuch dazu.

Wie simpel die Sache damals im Grunde gewesen ist, formuliert treffsicher der damals beteiligte (und vom 4:2-Endergebnis für England tief enttäuschte) Mittelstürmer Uwe Seeler im Interview für den vorliegenden Band: „Für die Engländer war er drin, für uns Deutsche nicht. So einfach ist das.“

Man darf ergänzen: einfach kompliziert. So, dass man ganze Bücher darüber machen kann… Und somit hätten wir auch ein passendes Geschenk für altgediente Fußballfans.

Manuel Neukirchner: „Wembley 1966. Der Mythos in Momentaufnahmen“. Deutsches Fußballmuseum, Dortmund/Klartext Verlag, Essen. 160 Seiten, großformatiger Bildband (Broschur) mit zahlreichen Abbildungen (Farbe und schwarzweiß). 14,95 Euro.

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Ruhrgebietskrimi

Wer für Ruhrgebietskrimis zu haben ist, freut sich vielleicht über dieses etwas kleinere Geschenk: „Am Boden“ von Lucie Flebbe dreht sich zunächst u.a. um den riskanten Kletter-Trendsport „Roofing“.

Ein Student wird verdächtigt, einem Freund bei einer Klettertour einen Stoß versetzt zu haben – mit tödlichen Folgen. Lucie Flebbes schon mehrfach erprobte Privatdetektivin Lila Ziegler und ihr Partner Ben Danner wollen den Fall aufklären – ein Unterfangen mit ungeahnten Weiterungen. Alsbald geht es auch um häusliche Gewalt (Lila zeigt ihren eigenen Vater an), und schließlich kommt es zu einem spektakulären Showdown im Bochumer Opel-Werk. Merke abermals: Aufgegebene Industrie-Standorte des Reviers (vgl. auch Phoenix West und ähnliche Locations in Dortmunder „Tatort“-Folgen) eignen sich oft bestens als Krimischauplätze.

Lucie Flebbe: „Am Boden“. Kriminalroman. Grafit Verlag, Dortmund. Paperback, 251 Seiten, 11 Euro (als E-Book 9,99 €)

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Architektur der Region

So. Und nun hätten wir noch etwas für die an Kunst und Architektur Interessierten.

Christoph Rauhut und Niels Lehmann stemmen ein wahrhaft ambitioniertes Projekt. Seit einigen Jahren widmen sie sich eingehend der Architektur des Expressionismus, ein Band über herausragende Beispiele in Berlin und Brandenburg hatte den Anfang einer groß angelegten Reihe gemacht. Jetzt liegt ein weiterer Band vor, der sich den einschlägigen Baubeständen an Rhein und Ruhr zuwendet.

Zur ersten Orientierung schaue man am besten gleich ganz hinten nach, nämlich im reichhaltigen Gebäuderegister, das nicht nur Geschäfts-, Büro und Industriebauten auflistet, sondern auch öffentliche Gebäude, Sakralbauten und Wohnhäuser.

Auch wenn so vieles im Krieg zerstört worden ist, so gibt es doch auch in NRW noch eine imponierende Fülle von oftmals monumentaler expressionistischer Architektur (manches freilich nur noch in fragmentarischer Form), wobei gerade im Ruhrgebiet jede Stadt ihr eigenes Profil ausgebildet hat.

Die Textbeiträge in diesem Band (jeweils auf Deutsch und Englisch) sind sehr überschaubar, es handelt sich zwar um ein Ergebnis, nicht aber um die Wiedergabe einer fundierten wissenschaftlichen Aufarbeitung. Den weit überwiegenden Teil des Buches machen Fotografien und Lagepläne aus. Das darf sicherlich auch als Ermunterung verstanden werden, sich das eine oder andere der insgesamt 155 Gebäude einmal selbst anzusehen.

Um nicht ins Uferlose zu geraten, hier nur ganz wenige Beispiele aus dem Ruhrgebiet: Bogestra-Verwaltung (Bochum), Hans-Sachs-Haus (Gelsenkirchen), Union-Brauerei/Dortmunder „U“, Hauptpost (Essen), Polizeipräsidium (Oberhausen), Volkshochschule (Gladbeck), Gebäudeensemble Hauptfriedhof (Dortmund).

Im Vorwort heißt es, die vorgestellten Bauten (vorwiegend aus den 1920er Jahren) ließen samt und sonders künstlerischen Gestaltungswillen erkennen und stünden einer auch damals schon drohenden Banalisierung des Metiers entgegen. Und wie sieht’s damit heute aus? Eine Frage, bei der man unwillkürlich seufzt.

Christoph Rauhut/Niels Lehmann: „Fragments of Metropolis – Rhein & Ruhr. Das expressionistische Erbe“. Hirmer Verlag. 256 Seiten (Format 15,5 x 24,5 cm). 156 Farbabbildungen, 30 Pläne und Karten. 29,90 Euro.




Wie uns das Grusel-Etikett mit der Aufschrift „Donald T.“ auf die Buchseiten locken soll

Die blau unterlegte Ankündigung auf der Titelseite der heutigen „Zeit“ umfasst nur wenige Zeilen, doch hat sie mich irritiert, um nicht zu sagen: verärgert.

Ich zitiere wörtlich, was unter der spätherbstlichen Wer-jetzt-kein-Haus-hat-Überschrift „Bücher für stürmische Zeiten“ steht:

Ausriss aus der heutigen Titelseite der Hamburger Wochenzeitung "Die Zeit".

Ausriss aus der heutigen Titelseite der Hamburger Wochenzeitung „Die Zeit“.

„Donald Trump sagt, schon der Geruch von Büchern mache ihn müde. Uns macht er Lust aufs Lesen…“

Was mich an diesen unschuldigen Sätzchen stört? Zum einen die gar wohlfeile Distanzierung von Donald T. Ach, wie sehr wir uns doch von ihm unterscheiden! Er ist dumpf, wir sind kultiviert. Ebenso gut könnte man sich öffentlich rühmen, kein gottverdammter „pussygrabber“ zu sein.

Außerdem behagt es mir nicht, dass die „Zeit“-Feuilletonisten (oder die Titelseiten-Gestalter?) offenbar meinen, selbst den Buchbesprechungen als Lockmittel noch dieses allgegenwärtige politische Label aus dem Gruselkabinett aufpappen zu müssen, womöglich noch mit dem Holzhammer-Hintergedanken „Wer das liest, setzt ein Zeichen gegen Trump…“

Man weiß ja, dass das mit der autonomen Literatur nicht so ohne Weiteres geht. Und doch wünscht man sich hin und wieder eine von derlei Tageskram entschlackte, (nur vermeintlich) zeitenthobene Kultur, die sich um Einzelheiten solch schrecklich konkreter Gestalten nicht immerzu schert und statt dessen die Tiefenschichten und allzeit gültigen Archetypen aufsucht. Auch und gerade im Literaturteil der „Zeit“ finden sich Bücher besprochen, die sich auf diesen steinigeren Weg begeben. Sie haben den trumpelnden Anreißer auf Seite 1 nun wirklich nicht nötig.

In diesem Sinne hat uns beispielsweise Shakespeare mal wieder ungleich mehr übers Machtgebaren von Trump, Putin, Erdogan und Konsorten zu sagen, als jedes mit Zeitgeist getränkte Analyse-Unterfangen.




Der Literaturpreis Ruhr verdient eine Aufwertung – und kein Sparprogramm

Gastautor Werner Streletz, Bochumer Schriftsteller und 2008 selbst Träger des Literaturpreises Ruhr, mit kritischen Anmerkungen zur Zukunft der Auszeichnung:

Werner Streletz, Aufnahme von 2009 (Foto: privat / Creative Commons)

Werner Streletz, Aufnahme von 2009 (Foto: privat / Creative Commons)

Der Literaturpreis Ruhr soll vielleicht nur noch alle zwei Jahre verliehen werden. Das wäre ein herber Einschnitt.

Die einzige nennenswerte Auszeichnung, die das literarische Image des Reviers ein wenig polieren kann, darf nicht in den Schatten des halbwegs Vergessenen versinken. Eine solche Gefahr bestünde, würde der Jahresrhythmus aufgegeben.

Auch angesichts der schnelllebigen Medienwelt ist der bisherige Verleihungstakt anzuraten. Es wäre zudem blamabel, würde sich die Vermutung verbreiten, im Ruhrgebiet (mit immerhin fünf Millionen Einwohnern) seien nicht alle zwölf Monate preiswürdige KandidatInnen zu finden. Oder AutorInnen, die zwar nicht in der Region leben, aber über das Ruhrgebiet schreiben. Das sind die beiden Auswahlkriterien.

Merke: Auch wenn bedeutsame Namen wie der unlängst verstorbene Wolfgang Welt fehlen, die Liste der Ausgezeichneten zählt doch die allermeisten bemerkenswerten SchriftstellerInnen auf, die im Ruhrgebiet wohnen oder über diese Region Literarisches verfasst haben.

Also weiter wie gehabt? Das nicht unbedingt. Anzuraten wäre ein Begleitprogramm zum Preis, das den jeweils Ausgezeichneten (auf einer Lesetour zum Beispiel) einer breiteren Öffentlichkeit bekannt macht. Ein flankierender publizistischer Schub, u.a. von den Ausrichtern der Auszeichnung animiert, könnte dazu beitragen, Preis, Preisträger und die Literaturszene der Region stärker ins Gespräch zu bringen. Man muss es halt nur wollen …

Ich habe mich nach der Preisverleihung (2008) jedenfalls ziemlich alleingelassen gefühlt. Ein rauschendes Fest – danach Stille. Also war Eigeninitiative angesagt. Aber dazu muss ja nicht jeder Preisträger verpflichtet sein…




Orgien, Harakiri und Kunstblut – Christian Krachts filmischer Roman „Die Toten“

Für alle, die es noch nicht wissen: Christian Kracht hat einen neuen Roman geschrieben. Über das aufstrebende Filmmilieu der dreißiger Jahre zur Zeit der NS-Machtübernahme. Titel: „Die Toten“. Ja, den Titel hat es schon mal gegeben. Bei James Joyce. Anspruch will eben formuliert sein.

Trailer ab. Es treten auf :

In den Hauptrollen:
Emil Nägeli, ein Schweizer Avantgarde-Regisseur, mit einem ausgewachsenen Vaterkomplex behaftet.
Masahiko Amakasu: Japanisches ex-Wunderkind, als Erwachsener vor allem durch sein Faible für deutsches Brauchtum und Mythen auffallend.

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In den Nebenrollen: eine dralle, blonde deutsche Schönheit namens Ida, ferner UFA-Tycoon Hugenberg, Charlie Chaplin, Siegfried Kracauer, Lotte Eisner, Ernst „Putzi“ Hanfstaengl und Heinz Rühmann (geschickter Schachzug, auf nickende Kennermienen der Leser und Kritiker abgestellt).

Schauplätze: das Berlin der Weimarer Republik
Japan vor einer Zeitenwende
Hollywood als vermeintlicher Rettungsanker
diverse Berge und Bauernhöfe

Handlung: Mit deutschem Geld soll in Japan ein Vampirfilm gedreht werden – sozusagen als Zelluloid-Achse, um die faschistoide zu unterstützen. Mit Vampiren, viel Blut und nicht ganz soviel Kultur gegen den amerikanischen Kulturimperialismus, der allerdings schon da ist – in Gestalt des gerade in Japan nahezu gottgleich verehrten Charlie Chaplin.

Dazu gibt’s Fressorgien, Besäufnisse und reichlich historische Ereignisse (die zwar nichts zur Sache tun, aber wenn sie sich schon zum Zeitpunkt der Handlung ereignen. Man will ja nicht umsonst recherchiert haben).

Trailer Ende.

Doch bevor es im Buch um den Plot geht, (sieht man mal vom in allen Details beschriebenen Harikiri eines japanischen Offiziers direkt zu Beginn ab) ist die Hälfte des Buches schon um. Denn zunächst geht es in epischer Breite um die Leiden des jungen Nägeli und des jungen Amasuko. Kann man ja nicht unter den Tisch fallen lassen. Problematische Vater-Sohn-Beziehungen oder frühe Traumata wie der Tod des weißen Nicht-Kuscheln-Wollen-Hasen geben literarisch ja auch richtig was her. Und erst die autoritäre Kadettenanstalt, die das kleine Genie Masahiko den Flammen überlässt.

Das alles taugt zwar nicht als Rahmenhandlung oder gar als roter Faden, ist auch komplett bedeutungslos für die weitere Handlung, aber gepflegtes Leiden ist schließlich auch wichtig. Und das alles schön parallel montiert. Es geht ja um den Film als Kunstform. Im Film ist Parallelmontage sehr gefragt. So kann man gleich ganz klug und beseelt schließen, ah ja, hier ist die filmische Kunstform ins Literarische übersetzt. Und gelitten wird später auch noch. Wenn auch eher kunstblutig. Aber vielleicht ist das ja der rote Faden. Irgendwie will man als Leserin den Kreis ja dann doch geschlossen kriegen.

Kommt man dann zum Plot, treffen sich Nägeli und Amakasu endlich in Japan, wird dummerweise die (gemäß Verlagsbeschreibung „…das Geheimnis des Films als Kunstwerk der Moderne feiernde“) begonnene Handlung schon wieder unterbrochen. Schade. Aber was will man machen, wenn die blonde Ida dem japanischen Genie den Kopf verdreht und auf ganz andere vampirische Art als die geplante saugt.

Dem Nägeli bleibt immerhin noch die „Augenblicklichkeit des Universums“ und die blonde Spielverderberin kriegt ihre Kunstblut-Strafe. Und nicht zu vergessen: die Toten. Die haben wir ja auch noch. Die mischen sich dauernd zwischenrufend ein. Sind wahrscheinlich sowas wie das Kinopublikum für edel leidende junge und ältere Herren. Dass hingegen der Roman der dramatischen Struktur des japanischen No-Theaters folgt, das braucht man gar nicht groß herauszufinden. Kracht ist so stolz drauf, dass er einen mit der Nase draufstößt. Aber schön, oder? Da haben wir doch so einiges, was die Nicht-Rahmenhandlung und den kleinen Plot zusammenhält.

Der Roman schafft das Kunststück, viel zuviel Information bei gleichzeitiger Inhaltslosigkeit zu liefern. Aber immerhin in schön gedrechselten Sätzen, beinhaltend eine wahre Fundgrube für die beliebte Sammlung „Schöne, fast vergessene Wörter“. Die „Ästhetisierung des Schrecklichen“ passt dazu, aber es bleibt eine elegante Spielerei.

Statt Herzblut spritzt einem auch dort nur Kunstblut entgegen und es ist einem ganz unglaublich egal, ob man Gewalt so beschreiben darf, weil diese Passagen so bemüht wirken, dass sie einen nur kalt lassen können. Christian Kracht ist sicherlich ein feinsinniger Autor, aber was nach der Lektüre dieses Romans bleibt, ist der Eindruck, inhaltsleere Manierismen eines klugen Kopfs gelesen zu haben.

Alles, was ich sehe, ist eine Klamotte, eine langweilige noch dazu. Garniert mit dem Muff deutschen Mythen, von denen einem auch nicht im Ansatz erklärt wird, warum sie so toll sind und schon gar nicht, welche Lehren man daraus für die Zukunft ziehen könnte. Irritierend.

Vielleicht ist die Entstehung des Romans mit einem drängenden Bedürfnis des Autors zu erklären, sich mit aller Macht und Gewalt um jeden Preis aus den Schubladen lösen zu wollen, in die man ihn hineingepresst hat: Wunderkind, Popliterat und was da nicht immer alles an überfrachteten Erwartungen zu lesen ist. Dieser Intention und dem ganzen Roman hätte dafür allerdings eine Rückbesinnung auf Krachts Begabung als Satiriker gut getan.

Christian Kracht: „Die Toten“. Roman. Verlag Kiepenheuer und Witsch, 212 Seiten, € 20.




Innenleben einer Bibliothek: Frans Kellendonks „Buchstabe und Geist“ erstmals auf Deutsch

Eine Bibliothek als Schauplatz eines Romans, kann das spannend sein? Auch wenn hinter den Regalen kein Mord geschieht, kein mittelalterlicher Mönch die Bücher vergiftet, keine Kinder gezeugt werden – die ganz alltäglichen Benutzer einer Universitätsbibliothek und das dort beschäftigte Personal reichen zur Ausstattung eines guten Romans völlig aus.

Schreiben und Übersetzen sind einsame Tätigkeiten. Mancher der so Arbeitenden kann auf Dauer der Versuchung nicht widerstehen, seinen Lebensunterhalt in einem geselligeren Arbeitsumfeld zu verdienen. Der niederländische Autor und Übersetzer Frans Kellendonk nahm, wie wir aus dem Nachwort erfahren, von Januar bis April 1979 eine Stelle in der altehrwürdigen Universitätsbibliothek Leiden an. Wenn auch der Name der Stadt im Roman ungenannt bleibt, wenn auch der Protagonist Felix Mandaat zuvor seine freiberufliche Tätigkeit nicht mit literarischen Erzeugnissen, sondern mit der Organisation von Kongressen bestritten hatte, dürfte Kellendonk die Erfahrungen als Bibliothekar für seinen Roman „Buchstabe und Geist“ verwertet haben.

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Das Aufgehen in einer Gemeinschaft – kann ein solcher Wunsch nach Zugehörigkeit nicht eher im Kreis selbstgewählter Freundinnen und Freunde, beim regelmäßigen Stammtisch oder im Verein erfüllt werden? Ist die Hoffnung, sich über eine Institution zu definieren, auf deren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter man als Neuling keinen Einfluss hat, nicht zum Scheitern verurteilt und der Ausgang von Mandaats Selbstversuch voraussehbar? Möglich. Jedoch sind die in einer Bibliothek beheimateten Charaktere – ihre Benutzer gleichermaßen wie die Angestellten – durchaus literaturwürdige Geschöpfe.

In der Universitätsbibliothek trifft man natürlich Studierende, daneben Privatgelehrte, komische Käuze und auch Menschen, die sich aufwärmen möchten und am liebsten über einem Buch einschlafen.

Da ist der Übersetzer, der mit dem Bibliotheksangestellten alle möglichen Synonyme diskutieren will. Unter den Kollegen ist manch einer ein verhinderter Wissenschaftler, dessen sporadische Veröffentlichungen, die gleichwohl seine Eitelkeit nähren, für eine Universitätskarriere nicht ausreichten. Vom Bibliotheksdirektor heißt es, er beherrsche fast fünfzig Sprachen, darunter die in unseren Breiten seltener gehörten wie Oriya, Cebuano, Hiligaynon, aber auch frei erfundene wie Telalog. Kollegen helfen sich gegenseitig mit passenden Ausdrücken aus, wenn einer mal vergessen hat, wie er den Satz beenden wollte.

Bedeutender noch als die Angestellten, mit denen Mandaat tatsächlich zusammenarbeitet, ist für ihn ein dauerhaft Abwesender: Meneer Brugman, der sich auf unbestimmte Zeit hat beurlauben lassen und dessen Lücke Mandaat ausfüllen soll. Gleich bei der Arbeitsaufnahme wird Felix Mandaat als „der Vertreter für unseren Meneer Brugman“ begrüßt, und ein Kurier, der nur Kriegsbücher liest, spricht ihn unumwunden an: „Du bist doch der neue Meneer Brugman?“

Frans Kellendonk (© Stichting Frans Kellendonkfonds)

Frans Kellendonk (© Stichting Frans Kellendonkfonds)

Einmal nimmt sich Mandaat ein Herz und wählt Brugmans Telefonnummer, erreicht aber nur dessen ahnungslose Vermieterin, die ihm rät, es auf der Arbeitsstelle zu versuchen. Mandaats schwangere Assistentin, Mevrouw Qualing, weist ihn immerzu darauf hin, wie Meneer Brugman bestimmte Arbeitsabläufe ausgeführt hat. Gerüchte kursieren, Brugman und nicht etwa ihr Ehemann könnte der Vater des in ihr heranreifenden Kindes sein, aber für den Fortgang der Handlung ist die Antwort (wie so manches) unerheblich.

In seiner Abwesenheit bleibt der Vorgänger zugleich geisterhaft präsent, was den Untertitel „Eine Spukgeschichte“ aber nur vordergründig erklärt. Mag es in dem Magazin der Bibliothek ein bisschen spuken oder auch nicht, unheimlich wird es erst, als ein Kollege dem Protagonisten helfen will, die Geistererscheinung aufzuklären, und sich dabei zu beschämenden Bekenntnissen hinreißen lässt. Doch auch wenn uns der Autor tief in seelische Abgründe blicken lässt, denunziert er seine Figuren nie. Ob er sie mag? Das steht auf einem anderen Blatt.

Beim munteren Fabulieren wird das Erzählen selbst zu einem Thema. In einer der Kaffeepausen erzählt Mandaat die Geschichte seines Großvaters, der auf dem Motorrad, stocksteif vor Kälte und ohne jegliches Gefühl in Armen und Beinen, im Panzer der durch gefrorenen Schweiß starren Kleidung die Maschine weder lenken noch abbremsen kann und an der üblichen Ausfahrt vorbei auf ein ungewisses Ziel zusteuert (Kapitel „Phaeton“). Dabei überlegt der Erzählende unausgesetzt, wie er dem von ihm geschaffenen Erwartungsdruck seiner Zuhörerinnen und Zuhörer am Ende gerecht werden könnte.

Als nach gut drei Monaten klar ist, dass Brugman nicht mehr zurückkommen wird, und Mandaat von seinem Vorgesetzten eine Festanstellung angeboten bekommt, weiß er nichts zu sagen. Im nächsten und zugleich letzten Kapitel befinden wir uns auf Mandaats unspektakulärer Abschiedsfeier in einer gemütlichen holländischen Kneipe. Ein bisher wenig in Erscheinung getretener, ihm nicht unsympathischer Kollege begleitet Mandaat zum letzten Mal zum Bahnhof. Es stellt sich der Eindruck ein, in diesem nicht geradlinig erzählten Roman hätten ebenso gut andere Figuren in den Fokus rücken können.

1982, als der Roman des damals einunddreißigjährigen Autors in den Niederlanden erschien, war viel von postmodernen Erzählkonzepten die Rede. Bei aller Kühnheit der Konstruktion, allen Formexperimenten, Elementen eines Ideenromans und Auflösung des Plots erfüllt „Buchstabe und Geist“ dennoch in hohem Maße Kellendonks Anspruch, unterhaltsam zu sein. Der Erfolg des früh zu einem Kultautor aufgestiegenen Frans Kellendonk, der mit neununddreißig Jahren an AIDS starb, zeugt – trotz aller Fremdheit gegenüber dem Bibliothekspersonal – eindeutig von einer Verbundenheit mit einer größeren Gemeinschaft.

In der gelungenen Übersetzung durch Rainer Kersten ist der Roman jetzt als Band 21 in der schönen Reihe der „Lilienfeldiana“ veröffentlicht worden. Für die Einbandgestaltung hat der Verlag ein Gemälde des in Düsseldorf lebenden Malers Peter Rusam verwendet. In seinem klugen und kenntnisreichen Nachwort erwähnt der Übersetzer einige weitere, noch nicht ins Deutsche übertragene Werke Frans Kellendonks. Bleibt zu hoffen, dass wir – sofern wir des Niederländischen nicht mächtig sind – von diesem stilsicheren Ausnahmeautor demnächst noch mehr auf Deutsch werden lesen können.

Frans Kellendonk: „Buchstabe und Geist. Eine Spukgeschichte.“ Aus dem Niederländischen und mit einem Nachwort von Rainer Kersten. Lilienfeld Verlag, Düsseldorf. 170 Seiten, 19,90 Euro.




Ein Finanzjongleur auf der Flucht – Martin Mosebachs eleganter Roman „Mogador“

978-3-498-04290-5Er ist offensichtlich ganz tief in schmutzige Finanzgeschäfte verstrickt und wurde gerade von der Polizei verhört. Da entscheidet sich der Düsseldorfer Banker Patrick Elff von einem Moment auf den anderen zu einer durchaus filmreifen Flucht.

Der junge Mann, einer der Hauptfiguren in Martin Mosebachs neuem Roman „Mogador“, springt direkt nach seinem Termin auf dem Polizeipräsidium aus dem Fenster, macht sich auf dem Weg zum Flughafen und steigt in einen Flieger mit dem Ziel Marokko. In Mogador (portugiesischer Name der Hafenstadt Essaouira) hofft er, vor den Fahndern in Sicherheit zu sein.

Dass sich der Finanzjongleur ausgerechnet nach Marokko begibt, hat mit seinen weit verzweigten Kontakten zu tun, die angesichts solch heikler Situationen schon mal ganz hilfreich sein können. Die Ungewissheit soll ihn aber noch länger begleiten.

In der Geschichte, die der Autor nun entwickelt, spielen die schmutzigen Bankgeschäfte eher eine Nebenrolle. Spannender sind die Verhältnisse, in denen der getürmte Spitzenbanker nun Unterschlupf findet. Auch seine „Gastgeberin“ Khadija bessert unter anderem mit Geldverleih ihr Einkommen auf und nimmt es bei ihren Geschäften nicht immer ganz so genau. Doch sie allein auf das Finanzgebaren zu reduzieren, würde der Figur nicht gerecht.

Mosebach zeichnet das Bild einer Frau, die lange Jahre ein biederes Leben geführt hat, bis ihr schwere Schicksalsschläge widerfuhren. Zwei Ehemänner starben bei Unfällen, ihr Sohn ist geistig behindert. Doch von wirklichen Zweifeln an sich oder an ihrem Dasein scheint sie nicht geplagt zu sein. Ganz allmählich lässt sie ihr altes Leben hinter sich und ist vor allem darauf bedacht, die Kontrolle über sich und ihre Umgebung, Freunde, Bekannte, Geschäftspartner eingeschlossen, nicht zu verlieren.

Es ist beeindruckend, wie es dem Autor gelingt, den allmählichen Wandel dieser Khadija anschaulich und nachvollziehbar zu beschreiben. Ist sie anfangs noch ein Mensch, dem das Leben zu entgleiten droht, hat sie bald alles im Griff. Sie verdient zunächst ihr Geld als Hure, wird später zur Kupplerin und kümmert sich schließlich sogar um einen sehr eigentümlichen Imam, dem magische Kräfte nachgesagt werden. Sie ist von Eigeninteressen geleitet, denn sie gibt die Hoffnung nicht auf, dass ihr Sohn – durch welche Methoden auch immer – geheilt werden könnte.

Patrick Elff tritt in ihr Leben, weil sie ihm eine Wohnung zur Verfügung stellen kann. Dort hofft er, vor seinen Häschern in Sicherheit zu sein. Doch Mosebach charakterisiert den Banker keineswegs als einen Mann, der ständig in Angst lebt oder mit dem Leben hadert. Vielmehr malt sich der Geflüchtete aus, wie Kollegen in der Bank und vor allem seine Lebensgefährtin Pinar wohl versuchen, ihn irgendwie zu erreichen. Dass man in Sorge um ihn sein könnte, scheint Patrick Elff eher unbedeutend zu sein. Dieser Finanzmensch ist wohl jemand, der – ähnlich wie Khadija – sehr rational den Fährnissen des Lebens begegnet. Doch manche seiner Gedanken an Pinar legen aber die Vermutung nahe, dass es ihm nicht immer gelingt, Herr über seine Emotionen zu sein.

Das Ende der Geschichte ist schließlich sehr überraschend und lässt auch durchaus manche Fragen offen. Lesenswert ist das Buch insbesondere auch deshalb, weil hier spannende Biografien auf sehr ungewöhnliche Art miteinander verwoben werden. Mosebachs Sprache kommt dabei äußerst elegant daher, wirkt allerdings stellenweise auch schon mal antiquiert oder verschnörkelt.

Und übrigens: Dass in diesen Zeiten eine Flucht von Deutschland nach Afrika führt, das hat schon eine besondere Note.

Martin Mosebach: „Mogador“. Roman. Rowohlt Verlag, 367 Seiten, 22,95 Euro.




Leben wird Literatur, Literatur wird Leben: Navid Kermanis Roman „Sozusagen Paris“

Welch eine Überraschung: Gerade hat der Autor in einer Kleinstadt aus seinem neuen Roman gelesen, da steht die Figur, um die sich im Buch alles dreht, vor ihm. Als Schüler war er unsterblich in ein schönes und kluges Mädchen verliebt: das ist jetzt 30 Jahre her. Beide haben sich aus den Augen verloren. Doch bei ihm ist die Sehnsucht nach der Frau, die er im Roman Jutta nennt, geblieben.

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Nun erfährt er, dass sie verheiratet ist und drei Kinder hat. Sie ist Ärztin geworden und Bürgermeisterin in einem Provinz-Kaff. Als sie ihn spätabends in ihr Haus auf ein letztes Glas Wein, einen Joint und ein Gespräch einlädt, sagt der ebenso faszinierte wie irritierte Autor nicht nein. Doch während Jutta bis zum Morgengrauen von ihrem Leben und ihren Ehekrisen erzählt, denkt der Erzähler bereits darüber nach, wie er aus dem unverhofften Wiedersehen einen Roman machen könnte.

„Sozusagen Paris“, der neue Roman des 1967 in Siegen geborenen und heute in Köln lebenden Navid Kermani, ist kein politisches Buch. Das mag manche überraschen. Denn der streitbare deutsch-iranische Autor, Journalist und Orientalist ist zuletzt nur noch als politische Stimme, als Mahner und Warner wahrgenommen worden. In seiner Dankesrede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels hat der bekennende Moslem dazu aufgerufen, den islamistischen Terror militärisch zu bekämpfen, bevor er die versammelten Honoratioren aufforderte, mit ihm gemeinsamen für den Frieden zu beten.

In seinem Buch „Ungläubiges Staunen“ untersucht Kermani aus muslimischer Sicht die Bilder-Sprache des Christentums und versucht, eine Brücke zwischen den Religionen zu bauen. Manchen gilt er gar schon als geeigneter Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten.

Wer nun aber den neuen Roman nach politisch verwertbaren Statements und Debatten fördernden Argumenten im Streit der Kulturen durchforstet, wird das Buch enttäuscht beiseite legen. Denn auf den ersten Blick ist „Sozusagen Paris“ ein Liebesroman, auf den zweiten eine Reflexion über das Schreiben. Doch eigentlich ist es ein Buch darüber, wie sich Schriftsteller ungeniert bei Vorläufern aus der Weltliteratur bedienen und wie sich das Leben in Literatur verwandelt. Oder ist es nicht vielleicht umgekehrt?

Kermani nimmt Themen und Personal seines Romans „Große Liebe“ wieder auf und verwickelt den Leser erneut in ein literarisches Verwirrspiel: Er hantiert furios mit seiner Rolle als Erzähler, fleddert die französischen Ehekrisen-Romane es 19. Jahrhunderts, zitiert Stendhal und Proust, Balzac, Flaubert und Zola, kommt irgendwann auch bei Adorno vorbei und scheut schließlich nicht davor zurück, seine eigenen Bücher ironisch auszuschlachten.

Warum auch nicht. Denn für alles, was Jutta dem Autor (der eine gewisse Ähnlichkeit mit Kermani hat) in dieser langen Nacht über sich und ihre Arbeit, ihre Ehe und ihre aufgehäuften Frustrationen erzählt, gibt es literarische Vorbilder. Wenn in Juttas Bücherregal Flauberts „Madame Bovary“ oder Balzacs „Erinnerungen zweier junger Ehefrauen“ stehen, warum soll der Erzähler dann nicht daraus zitieren? Alles verwandelt sich in Literatur, die Realität ist nur ein Traum und die Wirklichkeit ein Reise in die Welt der Fantasie.

Weil der Erzähler Moslem ist, möchte Jutta natürlich auch über Terror, Flucht und Integration diskutieren. Doch der Autor, der sein frisch entflammtes Begehren nach seinem alten Jugendschwarm kaum zügeln kann, will viel lieber über Sex und Erotik reden, will mehr darüber erfahren, warum sich Jutta dem indischen Tantra verschrieben hat und wie man es anstellt, nicht enden wollende Orgasmen zu bekommen.

Um das literarische Spiel auf die Spitze zu treiben, streitet sich der Autor auch jetzt schon mit dem Lektor des noch gar nicht geschriebenen Romans, versucht bereits, dessen Kritik an einzelnen Formulierungen und den Vorwurf, der Erzähler würde sich allzu sehr in Ehe-Kitsch und Alltags-Klischees suhlen, zu entkräften.

Immer wieder richtet der Autor auch das Wort an den Leser und macht ihn zum Komplizen seiner Wünsche und Ängste. Die Leser, so scheint es, dürfen entscheiden, ob der Autor die sich in Rage redende und in Tränen ausbrechende Jutta nicht nur tröstend in den Arm nehmen, sondern auch ins Bett begleiten soll. Oder ist das Begehren nur eine nostalgische Lüge und die Sehnsucht ein frommes Gift? Darüber darf der intelligent und vergnüglich unterhaltene Leser (bzw. die Leserin) in Ruhe nachdenken, während der Autor bei Jutta auf dem Gästeklo hockt, seine Liebe zu Neil Young wieder entdeckt und sein altes „Buch der von Neil Young Getöteten“ mit neuen Überlegungen ins Heute weiterdenkt.

Navid Kermani: „Sozusagen Paris“. Roman. Hanser Verlag, München 2016, 287 S., 22 Euro.

Infos:
Geboren wurde Navid Kermani 1967 in Siegen, heute lebt der für sein literarisches und essayistisches Werk vielfach ausgezeichnete Schriftsteller, Journalist und habilitierte Orientalist in Köln. Nach dem Kleist- und dem Joseph-Breitbach-Preis erhielt er 2014 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.
Zu seinen bekanntesten Büchern gehören „Das Buch der von Neil Young Getöteten“ (2002), „Wer ist Wir? Deutschland und seine Muslime“ (2009), „Ausnahmezustand. Reisen in eine beunruhigende Welt“ (2013), „Große Liebe“ (2014), „Ungläubiges Staunen. Über das Christentum“ (2015).
Nachdem Joachim Gauck seinen Verzicht auf eine weitere Amtszeit erklärte, wurde Kermani als möglicher Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten ins Spiel gebracht.




In den Iran und nach Syrien: Sonderbarer Journalisten-Verband lädt zu Pressereisen ein

Nein, danke. Auf diese Einladung möchte ich wirklich nicht zurückkommen. (Repro/Ausriss: BB)

Nein, danke. Auf diese Einladung möchte ich wirklich nicht zurückkommen. (Repro/Ausriss: BB)

Da erreicht mich doch dieser Tage eine Einladungs-Mail zur Journalistenreise in den Iran. Aber wer steckt dahinter? Mal schauen…

Nun, mit der Nachfrage beginnen schon die Seltsamkeiten. Die etablierten Journalistenverbände DJV und dju (bei Ver.di) sind mir seit vielen Jahren aus beruflichen Zusammenhängen wohlvertraut, im DJV bin ich selbst Mitglied. Doch von einem vollmundig so benannten „Journalistenzentrum Deutschland e. V.“ hatte ich bis dato noch nichts gehört, auch nicht vom zugehörigen Träger „DPV“ („Deutscher Presse Verband e. V.“) und dessen Schwestergewächs bdfj (Bundesvereinigung der Fachjournalisten).

Für ihr sonderbares „Imperium“ haben sich die Betreiber auch noch die hochtrabend klingende Internet-Adresse www.journalistenverbaende.de gesichert; ganz so, als stünden sie – gleichsam als Dachorganisation – für Deutschlands journalistische Zusammenschlüsse überhaupt. Was natürlich kompletter Unsinn ist. Nebenbei gefragt: Woher haben die eigentlich meine private Mailadresse?

Etliche Ungereimtheiten

Ein wenig Nachforschung im Netz fördert schnell einen lesenswerten Beitrag des Journalisten Ulf Froitzheim zutage, der bereits 2009 für den „BJV Report“ (Zeitschrift des bayerischen Landesverbandes im renommierten Deutschen Journalisten-Verband DJV) auf gründliche Spurensuche gegangen war und derart viele Absurditäten, Ungereimtheiten und zweifelhaftes Gebaren beim „DPV“ vorgefunden hat, dass es kaum zu glauben ist.

Man sollte das nachlesen: Hier ist der Link zu Froitzheims Bericht, der einen Kaufmann namens Christian Zarm als (nahezu einzige) treibende Kraft des „DPV“ ausmacht, welcher offenbar aus einer Art Vespa-Motorroller-Fanclub hervorgegangen ist. Journalismus im eigentlichen und seriösen Sinne scheint demnach nicht gerade das Kerngeschäft des „DPV“ (gewesen) zu sein. Um es mal ganz vorsichtig zu sagen. Auch die auf eine einzige Person zugeschnittene Satzung des Verbandes sorgt, wenn man Frotzheim folgt, für ungläubiges Kopfschütteln. Übrigens hat sich Zarm laut Focus und Froitzheim in den 1990er Jahren auch schon mal als dubioser Doktortitel-Händler verdingt.

Zurück zum „DPV“. Von einem solch undurchsichtigen Vereins-Konstrukt mag ich mich jedenfalls nicht einladen lassen – erst recht nicht in den Iran oder gar nach Syrien. Diese letztere Reise, so heißt es auf der „DPV“-Homepage, sei freilich schon ausgebucht. Behaupten lässt sich ja so manches.

„Terminverschiebung möglich“

Unterdessen ist die Iran-Reise (Teilnehmerzahl von „ca. 8 Personen“ offenbar noch nicht erreicht) bereits einmal verschoben worden und wird nunmehr für 4. Bis 11. November angekündigt, plus/minus 1-2 Tage, wie es heißt. Zusätzliche Anmerkung: „Terminverschiebung möglich“. Da muss sich der interessierte Journalist (welche Zielgruppe wird hier eigentlich angepeilt?) halt mal eine Zeit lang mit gepackten Koffern bereithalten und demütig abwarten, was da kommen mag…

Überhaupt bleibt rätselhaft, was sich wohl hinter diesen beiden, jeweils einwöchigen Reisen verbirgt, deren angeblich (von wem?) subventionierter Pauschalpreis je 1980 Euro beträgt. Laut „DPV“ alias Journalistenzentrum Deutschland werden Details zum Ablauf – „auch aus Sicherheitsgründen“ – erst kurz vor dem Abflug bekannt gegeben. Man habe allerdings so gute Kontakte, dass Treffen mit Vertretern hochrangiger Institutionen „fest eingeplant“ seien. Aha.

Extremistenführer treffen

Damit bei weitem nicht genug: Als „Referenzen“ aus früheren Reisen werden ferner (neben vielen, vielen weiteren Grandiositäten) u. a. Begegnungen mit „lokalen Stammesfürsten, Interviews mit Extremistenführern (Al Qaida, Taliban)…“ genannt. Da schau her. Die trauen sich was. Zumindest verbal.

„Delegationsleiter“ (der „DPV“ und seine Ableger zahlen niemals in kleiner Wortmünze) soll offenbar Shams ul-Haq sein, der aus Pakistan stammende „Fachgruppenleiter für Internationale Beziehungen“, der anderwärts als Journalist und Terrorismusexperte firmiert – beides keine gesetzlich geschützten Berufsbezeichnungen, die sich also notfalls jeder anheften kann.

Apropos bisherige Trips: Es gibt bei YouTube ein reichlich bizarres, rund 20 zähe Minuten langes Video von der „Ersten europäischen Journalistenreise“ (wie gesagt: Sie lieben die prahlerischen Formulierungen) in den Iran – selbstverständlich unter Führung des genannten Shams ul-Haq. Zu orientalischer Musik werden da x-beliebige Filmaufnahmen einer irgendwie gearteten Pressereise gezeigt. Gegen Ende macht Shams ul-Haq dann auch mal ein albernes Späßchen. Was haben wir gelacht.

Schon im Filmvorspann werden als Teilnehmer Christoph Hein von der „Frankfurter Allgemein“ (sic!), Jörg Lau von der „Zeit“ und Daniel Steinworth von der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) genannt. In Sachen medialer Markennamen geht’s im hiesigen Sprachraum schwerlich edler, es fehlt eigentlich nur noch die „Süddeutsche Zeitung“. Und was ist wirklich dran? Das könnten wohl nur die Genannten bezeugen.

Undercover im Flüchtlingsheim

Zum Namen Shams ul-Haq finden sich im Internet einige Verknüpfungen, die zu denken geben. Sie gipfeln vorerst in der Rechtsaußen-Postille „Junge Freiheit“ als angeblichem Auftraggeber einer 2015 entstandenen Undercover-Reportage aus einem Flüchtlingsheim, mit der Shams ul-Haq seinerzeit mächtig hausieren ging. Auch die Netzadresse der außerordentlich „flüchtlingskritischen“ „Epoch Times“, die bei Shams ul-Haq ebenfalls anliegt, ist nicht gerade als fein verschrien.

Und weiter geht’s: Für den 3. Oktober wird in einem Verlag namens SWB Media Publishing ein Haq-Buch über Zustände in Flüchtlingsunterkünften angekündigt, es heißt bezeichnenderweise „Die Brutstätte des Terrors“. Aparte Zuspitzung im Zusammenhang mit Asylbewerbern, nicht wahr? Dabei ist Shams ul-Haq einst selbst als Flüchtling nach Deutschland gekommen.

Schon vorab werden zu dem Buch einige begeisterte Testimonials verbreitet, unter anderem ausgerechnet von Prof. Dr. Frank Überall, seines Zeichens vor allem umtriebiger WDR-Journalist und – Obacht! – Bundesvorsitzender des Deutschen Journalisten-Verbandes DJV, der angeblich geäußert haben soll: „Ein spannendes Werk, das sicherlich viele Debatten auslösen wird.“ Ob mit diesem Zeugnis wohl alles so seine Richtigkeit hat?

Strittiger Wikipedia-Artikel

Besagter SWB (SüdWestBuchVerlag) scheint übrigens längst nicht nur als klassischer Verlag tätig zu sein, sondern vorwiegend mit Books on Demand (BoD) zu handeln und zudem vielfach als „Dienstleister“ aufzutreten, sprich: auf dem Felde des umstrittenen Druckkostenzuschuss-Wesens. In einschlägigen Internet-Foren gehen die Meinungen dazu freilich auseinander.

Unterdessen ist für Shams ul-Haqs (von ihm selbst verfassten?) Wikipedia-Eintrag Löschung beantragt worden. Begründung auf der Diskussions-Ebene des Internet-Lexikons: „Es bestehen erhebliche Relevanzzweifel“. Nanu! Sollte der Mann etwa gar nicht so furchtbar wichtig sein, wie er sich offenbar nimmt? Mal abwarten, wie sich der Vorgang entwickelt.

So weit also die ersten Ergebnisse einer bloßen Internet-Recherche, die noch erheblich ausgedehnt werden könnte. Aber ganz ehrlich: Ich mag mich nicht weiter auf solche Untiefen einlassen. Man wagt sich ja gar nicht auszumalen, was sich mit investigativen Mitteln aus solcherlei Ansätzen noch herausholen ließe.




Wie Borussia Dortmund bei der Integration helfen kann – Migranten aus aller Welt erzählen

Reshat Toshi stammt aus dem Kosovo, floh 1997 nach Deutschland und fand damals dank eines BVB-Fanclub-Vorsitzenden eine langersehnte Wohnung. Daraus entwickelte sich – wie könnte es anders sein – Begeisterung für die Borussia, die bis heute Bestand hat. Das ist eine von vielen Geschichten, die man in dem Buch „Schwarzgelbe Freunde überall auf der Welt“ nachlesen kann.

Zahlreiche Migranten und Flüchtlinge erzählen in dem 160 Seiten starken Band ihre Geschichte, in der der BVB oder einer seiner Fanclubs maßgeblich zur Integration beigetragen haben.

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Das Buch erscheine passend zu einer Zeit, in der Migration und Integration beherrschende Themen seien, sagte BVB-Präsident Dr. Reinhard Rauball, als ihn Moderator Levent Aktoprak bei der der Präsentation im Borusseum nach dem Stellenwert des Buches fragte. Man wolle ein deutliches Zeichen setzen, dass sich Fußball und speziell der BVB als eine große Familie verstehen und dies über alle Religionen, Hautfarben, Sprachen und Kulturen hinweg. Apropos: Moderator Aktoprak, in Ankara geboren, hat an der Publikation auch selbst mitgewirkt und erzählt, wie er als Journalist sich mehr und mehr für den BVB begeisterte, bis er später Vorsitzender eines kulturell und sozial engagierten Fanclubs wurde.

In einer anderen Geschichte berichtet der gebürtige Tunesier Faouzi Bibani, wie er bereits in Afrika sein Herz für den BVB entdeckte hat. Vor inzwischen 23 Jahren kam er in die Bundesrepublik und lernte schnell über einen Fanclub in Werl viele Menschen kennen. Dank dieser großen Zahl an Kontakten habe er sich in Deutschland schnell sehr wohl gefühlt. Die Unterstützung, auf die er bauen konnte, gibt der 43-Jährige heute gerne weiter und hilft Flüchtlingen beim Ausfüllen von Formularen oder erklärt ihnen, was sie über Deutschland wissen sollten.

Mit dem Taxiunternehmer Mustafa Güner kommt ein Mann zu Wort, der sich durch einen besonderen Ortswechsel der Schar der BVB-Fans anschloss. Er zog Ende der 70er Jahre zum Borsigplatz, wodurch sich dann „der Bezug zum BVB entwickelte“. Sein soziales Engagement in heutiger Zeit, das vor allem auch den Kindern gilt, steht in enger Verbindung mit Menschen, die er dank der Borussia kennen gelernt hat.

Viele Nationen, viele Kulturen prägen aber nicht nur das Bild rund um den Borsigplatz, gern auch als Wiege des BVB bezeichnet. Lars Ricken, der von 2003 bis 2007 für den BVB insgesamt 301 Bundesligaspiele absolvierte (mit 41 Toren), schreibt ganz locker und selbstverständlich: „Schon zu meiner aktiven Zeit waren wir eine Multi-Kulti-Truppe“. Es sei vollkommen egal gewesen, ob Europäer, Amerikaner, Asiat, Afrikaner oder Australier: Das Ziel habe stets gelautet, den Sieg für den BVB zu holen.

Down under übrigens ist bislang der einzige Kontinent, auf dem noch kein BVB-Fanclub existiert. Natürlich gibt es die meisten der 750 Clubs in Deutschland. Aber auch in anderen Staaten Europas oder auch in Afrika, Asien oder Amerika haben sich Fans zusammengetan.

Ein früherer Soldat der einstigen britischen Armee im Ruhrgebiet berichtet, dass er „seiner“ Borussia auch der heutigen skandinavischen Heimat die Treue hält. Kinder- und Jugendbuchautor Hermann Schulz, der viel auf Reisen ist, berichtet über die Begeisterung, die er gerade bei jungen Afrikanern angetroffen hat. Solche und andere Passagen werfen allerdings die Frage auf, ob es in dem Buch doch nur um reine PR für den BVB geht.

Für Reinhard Rauball ist indes die Veröffentlichung bestens geeignet, den Wert der Fankultur hervorzuheben. Wenn gerade jetzt wieder, vor Saisonbeginn, über die Millionensummen der bei den Fußballertransfers diskutiert werde, dürfe man nicht vergessen, worauf es im Fußball auch besonders ankomme: „Wir-Gefühl“ und Miteinander.

Uwe Schedlbauer & Andreas Goldberg: „Schwarzgelbe Freunde überall auf der Welt“. Verlag Die Werkstatt, 160 S., 16,90 Euro




Was einfach so geschehen ist – Werner Streletz‘ Roman „Rückkehr eines Lokalreporters“

Ja, so waren sie, die Arbeitsbedingungen im Lokaljournalismus der 70er und frühen 80er Jahre: Der Linienbus oder die Regional-Bahn dienten an entlegenen Orten als Kurierfahrzeuge für Texte und Bilder, die an der mechanischen Schreibmaschine und in der Dunkelkammer entstanden. Es ging bei weitem noch nicht so gehetzt und getaktet zu wie in den flimmrigen Online-Zeiten.

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Michael, die noch recht junge Hauptfigur in Werner Streletz’ Roman „Rückkehr eines Lokalreporters“, arbeitet in jenen Jahren als Einmann-Redakteur auf einem Außenposten, 40 Kilometer von den Kollegen in der Kreiszentrale entfernt. Stets begleitet ihn die vage Furcht, so ganz auf sich allein gestellt in der „Schlossstadt“, wie sie sich nennt, die riesengroße Nachricht zu verpassen.

Aber gemach! Das provinzielle Kleinstadtleben scheint immerzu seinen gewohnten Gang zu gehen. Größter Daueraufreger sind die Pläne eines Kaufhauses, baulich in die Altstadt einzugreifen. Michael müht sich nach Kräften um eine möglichst objektive Berichterstattung und fühlt sich von Politikern ebenso misstrauisch beäugt wie vom zudringlichen Ralph Kindler, der eine Bürgerinitiative ins Leben gerufen hat. Nur Verfolgungswahn oder zutreffender Befund?

Doch nehmt alles nur in allem: Ist es nicht ein einigermaßen bequemes, ja fast beschauliches Leben mit einem Gerüst aus täglichen Routinen, das Michael dort führt? Hinzu kommt der Charme des Unzulänglichen in den frühen Jahren: Mit seiner Freundin Rosemarie duscht er anfangs noch notgedrungen im Hallenbad, dann ziehen sie in ein kuscheliges Dachgeschoss mit Flokati-Teppich im Badezimmer. Manchmal stellen sich schwebende Momente der Leichtigkeit ein. Doch eigentlich ist Michael ein notorischer Grübler.

Geschildert werden die Ereignisse Jahrzehnte später, aus der Rückschau Michaels, der sich für ein paar Wochen ins Haus eines Freundes zurückgezogen hat, und zwar just im Dunstkreis besagter Schlossstadt. Hier begibt er sich auf Spurensuche – nicht systematisch, sondern eher ziellos schweifend. So scheint auch die Geschichte hierhin und dorthin ins Taumeln und Trudeln zu geraten. Und was ist geblieben von der Vergangenheit?

Schon bald wird deutlich, dass – dem vermeintlichen Idyll zum Trotz – „damals“ etwas Düsteres, Schreckliches geschehen sein muss. Doch Genaueres bleibt für eine gewisse Textstrecke im Verborgenen. Wir wollen dieses Spannungsmoment auch hier nicht vollends auflösen und lediglich andeuten, dass Rosemaries Leben im Laufe des Romans auf bestürzend unspektakuläre Weise entgleist – gleichsam wie in Zeitlupe. Zunächst nahezu unmerklich, schleichen sich Depressionen ein, die sodann in unvorhersehbaren Schüben wiederkehren. Und schließlich…

Michael, der ebenso wie Rosemarie unentwegt beim Vornamen genannt und praktisch nie mit dem Personalpronomen „er“ bezeichnet wird (geradezu eine Marotte des Autors), lernt zwischendurch den sinistren Künstler Tobias kennen, der die gewöhnlichen Leute mit ziemlich radikalen und abgründigen Schöpfungen schockiert. Doch Michael weiß den kulturellen Impuls zu schätzen, er fühlt sich angesprochen. Dämmert da aber auch etwas Gefahrvolles herauf? Ist diesem Tobias zu trauen?

Werner Streletz erzählt mit zuweilen etwas umständlich wirkender Sorgfalt, als wollte er kein Detail vergessen, Plaudereien aus dem lokaljournalistischen und kommunalpolitischen Nähkästchen inbegriffen, die den Fortgang der Handlung dann und wann eher aufzuhalten scheinen. Zudem kommen Formulierungen wie „Er hatte sich, solches erahnend…“ ein wenig gestelzt daher.

Nun muss man aber sagen: Der zögerliche, zaudernde Duktus entspricht gewissermaßen der Hauptfigur, die eben alleweil hin und her denkt, sich den Kopf über das eigene Tun und Lassen permanent zerbricht. Mitunter wird da allerdings wohl etwas zu viel und zu restlos erwogen, zu ausgiebig erläutert. Hie und da vermisst man einen Zug oder Sog in der Geschichte, deren Urheber sich gelegentlich sozusagen bereitwillig in unnötigen kleinen Abschweifungen verliert und mehr oder weniger kühne Auslassungen offenbar scheut.

Als erfahrener Schriftsteller verliert Streletz jedoch natürlich nicht den Bauplan seines Romans aus den Augen. Er lässt die vorwiegend melancholisch getönte Erzählung in ein offenes Ende gleiten. Es bleibt die Erkenntnis, dass sich das Geschehene weder ändern noch wirklich ergründen lässt. Das mag betrüblich sein, doch diese Einsicht birgt wohl auch Trost. Und schuldig ist ohnehin niemand. Es ist passiert. Einfach so. Wie das Leben so ist.

Kleine Anmerkung: Das Buch ist passagenweise etwas nachlässig redigiert worden, da geraten auch schon mal Namen und Zeitenfolgen durcheinander, von einigen Setzfehlern zu schweigen. Nachbesserungen für eventuelle weitere Auflagen wären also ratsam.

Der in Bottrop geborene und aufgewachsene, seit vielen Jahren in Bochum lebende Werner Streletz (Jahrgang 1949) gilt manchen immer noch als „Ruhrgebietsautor“. Streletz selbst, brotberuflich langjähriger WAZ-Kulturredakteur (den ich – der Transparenz halber sei’s erwähnt – aus beruflichen Zusammenhängen persönlich kenne), wendet sich entschieden gegen diese Zuschreibung.

Tatsächlich entfernt er sich gerade mit diesem Roman deutlich von etwaigen Revier-Spezifika. Welche sollten das heutzutage auch sein? Die Chose mit Zechen, Malochern, Fußball, Bier und Stahl ist in dieser einst typischen Mischung längst durch. Und so ist Werner Streletz kein Ruhrgebietsautor, sondern einer, der halt im Ruhrgebiet lebt und schreibt.

Werner Streletz: „Rückkehr eines Lokalreporters“. Roman. Projektverlag, Bochum/Freiburg. 261 Seiten. 13,80 Euro.




„The Awful German Language“ – Wie Mark Twain über die deutsche Sprache wetterte

Das überreicht womöglich der feixende Englischlehrer seiner Kollegin vom Fach Deutsch: Das schmucke Geschenkbändchen „The Awful German Language“ enthält Mark Twains legendäres Pamphlet gegen die deutsche Sprache; natürlich nicht im fürchterlichen Deutsch, sondern im nahezu makellosen Englisch.

Nur 40 Seiten schmal ist die No. 1419 der Insel-Bücherei. Mark Twain (1835-1910), dem das Erlernen des Deutschen offenkundig recht schwer gefallen ist, zieht kräftig vom Leder. Er wettert über den Treibsand der Regellosigkeit, der einen an diesem Idiom verzweifeln lasse.

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Wie froh konnte der Mann sein, wäre doch um ein historisches Haar beinahe Deutsch die Kernsprache der Vereinigten Staaten geworden – und nicht dieser seltsame Seemannsdialekt, den ein gewisser Shakespeare und ein paar andere noch halbwegs hochgejazzt haben. (*zwinker, zwinker*).

Besonders die Artikel „der“, „die“ und „das“ regen den literarischen Vater von Tom Sawyer und Huckleberry Finn auf, während es doch im Englischen bekanntlich schon mit „the“ getan ist. Ein deutschsprachiger Mann, so polemisiert der, die oder das Twain, könne sich seiner Geschlechtsmerkmale niemals sicher sein, werde doch jeder Körperteil völlig willkürlich als männlich, weiblich oder sächlich markiert. Auf diese Weise werde der Herr der Schöpfung zur „ridiculous mixture“. Hat Mark Twain etwa unter linguistisch induzierten Kastrationsängsten gelitten?

Um die Sprache Goethes zu demaskieren, pfropft er spaßeshalber einer englischen Geschichte eine vermeintliche deutsche Sprachstruktur auf. Das Resultat klingt wunschgemäß steif und lächerlich. Was zu „beweisen“ war.

Mit Mehrfach-Bedeutungen und irritierenden Anklängen plagt er sich ebenso wie mit dem Satzbau, bei dem die Verben weit hinten zu finden sind. Auch machen ihm schier endlos und offenbar nach Gutdünken gereihte Wörter zu schaffen, die in keinem Lexikon stünden („Kinderbewahrungsanstalten“, „Waffenstillstandsunterhandlungen“). Auch sonst findet er für all seine Behauptungen leidlich witzige Beispiele, ganz nach dem Motto: je ungerechter, umso lustiger.

Andererseits könne man, so Samuel Langhorne Clemens (bürgerlicher Name von Mark Twain) schelmisch, getrost komplette Konversationen mit den Wörtern Also, Zug und Schlag bestreiten, die in allerlei Zusammensetzungen immerzu wiederkehrten.

Überraschend sein Befund, das Englische sei ungleich kraftvoller, während das Deutsche sich geradezu säuselnd sanft anhöre. Als Beispiele führt er „milde“ Ausdrücke wie etwa Schlacht und Gewitter an. Vom Blitzkrieg wusste er freilich noch nichts. So lässt er auch als raren Vorteil des Deutschen gelten, dass es für die Bereiche Natur, Liebe, Frieden und Ruhe passende Worte bereithalte. Hört, hört! Wahrscheinlich hatte Mark Twain noch Dichtungen der deutschen Romantik im Ohr. Ein Vorzug gegenüber dem Englischen sei zudem, dass die deutsche Aussprache weitgehend dem Schriftbild folge. Immerhin.

Schließlich schlägt Mark Twain kurzerhand noch eine reichlich rabiate Reform des Deutschen vor, das andernfalls zur toten Sprache degenerieren müsse: Dativ weg, Verben weiter nach vorn, kürzere Wörter, möglichst viele Vokabel-Importe aus dem Englischen (!) und Abkehr vom verwirrenden Der-die-das. Da müsste man nur noch ein Volk gefunden haben, das sich an diese Vorgaben gehalten hätte. Man hätte nur auf Mark Twain hören müssen – und schon… – ja, was?

Übrigens: Gar so schlimm kann es mit dem Deutschen dann auch wieder nicht gewesen sein. Mark Twain lebte in den 1890er Jahren für einige Monate in Berlin („luminous centre of intelligence […] a wonderful city“) und ließ seine Töchter dort studieren. Hernach zog es ihn auch nach Wien. Man gäbe was für Tonbänder, auf denen zu hören wäre, wie er – verschmitzt und zornig zugleich – im Deutschen radebrecht.

Mark Twain: „The Awful German Language“. Insel-Bücherei No. 1419. Englischer Originaltext. 40 Seiten. 10,95 €.




Rückblick auf einen Lebenslauf, der schon in der Schulzeit auf Literatur hindeutete

Unser Gastautor, der Schriftsteller Heinrich Peuckmann, über menschlich und literarisch prägende Begegnungen in seiner Schüler- und Studentenzeit:

Meinen ersten Lehrer habe ich geliebt. Noch bis zu seinem Tode hatte ich brieflich Kontakt mit ihm, denn er war inzwischen nach England verzogen und hatte dort noch einmal geheiratet.

Der Autor Heinrich Peuckmann (Bild: privat)

Der Autor Heinrich Peuckmann (Bild: Homepage www.heinrich-peuckmann,de / privat)

Als es zu seinem 80. Geburtstag einen Empfang in der nordrhein-westfälischen Staatskanzlei gab, ließ er auch mich einladen und wir hatten unser letztes Gespräch. Er erzählte mir, was er im letzten Jahr von mir gelesen hatte, wir witzelten dabei wie immer. Am Ende wollte er wissen, was unsere gemeinsamen Freunde machten, vor allem mein Autorenkollege Horst Hensel.

Grundschüler beim späteren Kultusminister

Jürgen Girgensohn hieß er, der das kleine I-Männchen Heinzchen Peuckmann 1956 an der Kamener Falkschule in seine Schullaufbahn einwies, der vor allem später, als ich Lehrer wurde, als Kultusminister mein oberster Chef war.

Wenn der Minister Girgensohn meine Schule besuchte, stand meinem Schulleiter der Angstschweiß auf der Stirn, ich dagegen freute mich. Es kam ja mein alter Lehrer und wir hatten immer etwas zu bereden. „Na, du Schlingel!“, rief er mir einmal zur Überraschung meines Schulleiters zu, als er mich auf dem Flur unserer Schule entdeckte. Es war ein guter, kreativer Schulanfang mit ihm, der sich auch so fortsetzte.

Verbindungen zu Hüsch und von Manger

Mein Lehrer im zweiten Schuljahr hieß Wolfgang Bär, und der war nun ein halber Künstler. Neben dem Unterricht baute er die Kamener Volkshochschule auf und gestaltete das Kulturprogramm der Stadt mit, in dem tatsächlich Hanns Dieter Hüsch seine ersten Auftritte hatte. Bevor er als Kabarettist seine großen Erfolge feierte, war Hüsch schon in Kamen gewesen.

Später entdeckte und förderte Bär auch noch Jürgen von Manger, schied für ihn sogar aus dem Schuldienst aus und wurde dessen Manager. Auf manchen Schallplatten, die von Manger veröffentlichte, ist als Ansprechpartner, etwa in „Die Fahrschulprüfung“ auch mein alter Lehrer Wolfgang Bär als Prüfer zu hören. Er war meine erste Begegnung mit einem Lehrer, der literarische Neigungen hatte, wenn auch nicht so ausgeprägte, dass es zu einem eigenen Werk gereicht hätte.

Die Aufsatzmappe des Rektors

Danach übernahm Rektor Ballhausen meine Klasse und es war mit dem Künstlerischen, so schien es mir, endgültig vorbei. Ballhausen war eher der strenge, preußische Lehrertyp mit grauem Anzug und Fliege. Wenn jemand zu laut in der Klasse war, winkte er ihn mit langem Finger aus der Bank, dann ging es in sein Rektorzimmer und es gab drei Schläge mit dem Rohrstock auf den Hintern.

Hans Ballhausen hatte die Eigenart, dass er sich Aufsätze seiner Schüler, die er für gelungen hielt, in eine schwarze Kladde eintragen ließ. „Dann habe ich etwas für meine Pensionszeit“, erklärte er. „Ich kann dann, wenn ich an euch denken will, eure schönen Aufsätze lesen.“

Alle wollten sich gerne in diese Mappe eintragen, alle wollten sich dadurch auszeichnen, auch ich. Aber meine Aufsätze fand er erst ganz zum Schluss für würdig, in seine Mappe eingetragen zu werden, vorher hat er mich nie berücksichtigt. Alle durften sich eintragen und waren entsprechend stolz darauf, ich durfte es nicht.

Oft bin ich später bei Schullesungen von Schülern (vor allem der Grundschule) gefragt worden, warum ich Schriftsteller geworden sei. Ich habe dann immer geantwortet, dass ich es so genau auch nicht erklären könnte, und dass ich es eigentlich gar nicht hätte werden dürfen. Mein Volksschullehrer jedenfalls hätte mich nicht verstanden. „Wahrscheinlich“, habe ich manchmal hinzugefügt, „hat dieser Lehrer nie einen Schüler unterrichtet, der später Schriftsteller wurde. Den einzigen, den er je hatte, hat er nicht verstanden.“

Es war eine Erklärung, bei der ich gut wegkam, die aber den entscheidenden Fehler hatte, dass sie nicht stimmte. Hans Ballhausen war, wie ich sehr viel später in einem westfälischen Autorenverzeichnis feststellte, selber Schriftsteller. Vor allem mit der westfälischen Schriftstellerin Margarete Windthorst, einer Autorin mit deutlich katholischem Anspruch, die 1946 den Annette-von-Droste-Hülshoff-Preis bekam (die sie denn auch neben Kleist als ihr Leitbild angesehen hat), hat er sich ausführlich beschäftigt. Ballhausen gilt als ihr Biograph in ihrer mittleren Lebensphase.

Tradition der Short Story

Zusätzlich gab er Anthologien zur Arbeiterliteratur heraus, ein Thema, mit dem auch ich mich später (zu) lange im „Werkkreis Literatur der Arbeitswelt“ beschäftigt habe. „Wir Werkleute all. Ein Querschnitt durch die soziale Dichtung nach der Jahrhundertwende“, hieß eine dieser Anthologien. Ein anderer Buchtitel lautet „Mutter Erde. Gedichte“. Es sieht ein bisschen so aus, als würde es unheilvoll raunen in seinen Büchern, aber das tut es nicht. Es ist das christliche, nicht das Nazi-Weltbild, das durchschimmert und das ihn wohl zu Margarete Windthorst hingezogen hat, die wegen ihrer christlichen Botschaft von den Nazis aus der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen wurde.

Ich war überrascht, als ich es später, sehr viel später erfuhr. Es war also nicht so, dass Ballhausen einen heranwachsenden Schriftsteller missverstanden hätte, weil er keine Ahnung von künstlerischer Arbeit gehabt hatte. Nein, er war selber ein Schriftsteller gewesen und hatte eine andere Autorin selbstlos gefördert.

Vielleicht, denke ich heute, war wirklich nicht viel dran an meinen ersten Aufsätzen. Vielleicht hatte Ballhausen recht und nicht ich. Er liebte es, das fiel mir wieder ein, wenn Aufsätze unmittelbar begannen, ohne lange Einleitung. Er folgte darin, so kommt es mir im Rückblick vor, der amerikanischen Short Story, während ich vermutlich brav jeden Aufsatz mit einer klaren Einleitung in Zeit, Ort und Handlung begonnen habe, die ich heute selbst bei meinen Schülern bekämpfe: „Es war an einem schönen Sonntagmorgen, als mein Vater die Fahrräder aus dem Keller holte …“

Man weiß, wie solche Aufsätze enden: im Regen am Sonntagnachmittag unter einem Baum stehend. Meine erste Begegnung mit einem Lehrer, der gleichzeitig Schriftsteller war, verlief also gar nicht glücklich.

Als Arbeiterkind nicht zum Gymnasium

Dazu passt auch das Ende unserer Begegnung, denn als es darum ging, welche Schule ich nach der vierten Klasse besuchen sollte, war Ballhausen gegen einen Wechsel zum Gymnasium. Arbeiterkinder (mein Vater war Bergmann) hätten am Gymnasium erfahrungsgemäß Probleme mit dem Englischunterricht. Nein, ich sollte besser zur Realschule wechseln.

Gertrud Bäumer, die große Pädagogin, hat ein paar Jahrzehnte vorher in Kamen unterrichtet und sie schreibt in einem ihrem Bücher sehr liebevoll, aber auch erschreckt über die Bergarbeiterkinder, die sie damals unterrichten musste. Wie mager sie waren, wie ärmlich gekleidet, wie fernab von jeglicher Bildung. Zu meiner Zeit hatte sich daran sicher einiges geändert, wenn auch nicht alles.

Natürlich trug ich, wie meine Mitschüler auch, gestopfte oder geflickte Kleidung, ein paar Mal musste ich sogar Pullover meiner Schwester auftragen, die meine Mutter „schick“ fand. Und unsere Sprache war deftig, mindestens gewöhnungsbedürftig: „Wo wohnst du?“ „Anne Ecke vonne Nordenmauer.“ „Wie heißt das?“ „Auffe Ecke anne Nordenmauer.“ (Originalton Klassenkamerad). Vielleicht war es das, was uns Schüler und speziell auch mich von Ballhausen trennte. Einer sittsam-katholischen Wohlanständigkeit entsprachen wir sicher nicht.

Das Wort eines Rektors galt damals noch etwas, jedenfalls in einer Arbeiterfamilie wie meiner, also wechselte ich zur Realschule Oberaden, wo ich – ein kleiner Trost – wieder auf Girgensohn traf, der sich inzwischen vom Volksschullehrer zum Realschullehrer fortgebildet hatte.

Bloß keine Verwaltungslaufbahn

Aber als ich dort immer öfter den Satz hörte: „Wenn ihr später mal bei einer Verwaltung arbeitet“, die klassische Realschullaufbahn damals, wusste ich, dass ich von dort weg musste. Verwaltung, darunter stellte ich mir dunkle Räume vor mit verstaubten Akten und mit Ärmelschonern womöglich, die ich tragen müsste.

Dabei war ich der ersten dunklen Alternative ja schon fast entkommen, einem Leben als Bergmann nämlich, das alle meine früheren Klassenkameraden erwartete, deren Väter Bergleute waren. Sich aus diesem Kreislauf herauszuarbeiten war damals fast unmöglich. Immerhin, mit der Realschule hatte ich den ersten Schritt dazu getan, jetzt wollte ich auch den nächsten tun. Weg von der Realschule, weg von der Aussicht, Bürokrat zu werden.

Ich machte die Aufnahmeprüfung am Aufbaugymnasium in Unna, bestand und wechselte mit einem anderen Klassenkameraden nach vier Jahren Realschule dorthin. In der neue Klasse wartete Gerd Puls auf mich, Kamener Schriftsteller, der schöne Gedichte und Erzählungen geschrieben hat.

Mit Dieter Pfaff in einer Klasse

Dieter Pfaff kam später hinzu, den ich von allen meinen Klassenkameraden, trotz seines Todes vor drei Jahren, bis heute am häufigsten sehe, nämlich mindestens einmal in der Woche im Fernsehen in allen möglichen Rollen, die bei ihm immer durch eines verbunden sind. Durch eine tiefe Menschlichkeit nämlich, die mich an sein, besser an unser damaliges politisches Engagement für eine humane Gesellschaft erinnert. Dieter ist sich auf seine Weise treu geblieben, vor allem hat er seinen damaligen Plan, Schauspieler zu werden, mit großem Erfolg umgesetzt.

Außerdem traf ich auf den zweiten Lehrer, der gleichzeitig Schriftsteller war, auf den Deutschlehrer Rudolf Schlabach, dessen Höspiele wir abends im WDR hörten und über die wir am nächsten Morgen in der Deutschstunde diskutierten.

Schon wieder ein Schriftsteller als Lehrer

„Herr Schlabach, warum haben Sie die eine Figur so und jene anders gestaltet? Warum haben Sie die eine Szene vorgezogen und die andere nachgestellt?“ Es waren Fragen zum Inhalt, aber auch zur Form, die uns in den Diskussionen bewegten und bei denen ich eines für meine spätere literarische Arbeit lernte: Literatur hat eine dezidiert handwerkliche Seite, es gibt keine feststehenden Regeln, man kann so oder auch anders machen. Wie es richtig ist, das ergibt sich immer neu aus dem Inhalt.

In diesem Sinne besprachen wir nicht nur Schlabachs Hörspiele, mit diesen Fragen gingen wir auch an die Literatur heran, die wir nach dem Lehrplan lesen musste: Kleist, Schiller, Fontane. Es waren anregende, kreative Deutschstunden, die wir erlebten und die nicht nur mich beeinflussten. „Schlabach war ganz wichtig für mich“, hat mir Dieter Pfaff später bestätigt, und er hat ihn auch angerufen, nachdem ich ihm dessen Telefonnummer gegeben habe und hat es ihm gesagt.

Schlabach hat später an der bekannten Hörspielreihe „Papa, Charly hat gesagt …“ teilgenommen, deren beste Texte in gleich mehreren Anthologien bei Rowohlt erschienen sind. Schlabach war an allen beteiligt. Er hat zudem einen Band mit dramatischen Texten veröffentlicht („Glänzende Aussichten“, Asso-Verlag Oberhausen) und den Roman „Die Bauweise von Paradiesen“. In Hude, wo er inzwischen, alt geworden, lebt, schreibt Schlabach weiter, aber es fällt ihm zunehmend schwer, in Verlagen unterzukommen. Ich versuche, ihm den einen oder anderen Tipp zu geben, denn die Verbindung ist nie abgerissen.

An der Ruhr-Uni bei Gerhard Mensching

An der Universität Bochum, im Nachhinein wundere ich mich nicht mehr darüber, traf ich auf dieselbe Konstellation: auf den Uni-Dozenten, der Schriftsteller war. Diesmal war es Gerhard Mensching, der nebenbei eine Puppenbühne betrieb, die Stücke dafür selber schrieb und zusammen mit seiner Frau auf Tournee ging. Eine Zeitlang war er sogar Präsident des deutschen Puppenspielerverbandes. „Lemmy und die Schmöker“ hieß seine Fernsehserie, die auf witzige Weise für Lesekultur bei Kindern warb. Etwas, das heute noch wichtiger wäre als damals, aber leider im Fernsehen der Doku-Soups keine Chance mehr hat.

Mensching lernte ich in seinem Seminar über Kafka kennen. Wir untersuchten Kafkas Erzählung „Beschreibung eines Kampfes“, zu der Kafka zwei Fassungen geschrieben hatte, untersuchten beide Abschnitt für Abschnitt in Form von Referaten, um herauszufinden, wie und warum Kafka die Überarbeitung vorgenommen hatte. Wir wurden auf diese Weise gut in genaue Textarbeit eingeführt.

Der Sohn des Stahl-Managers

Als ich zusammen mit einem Kommilitonen einen Abschnitt untersuchen sollte, haben wir beide den Ansatz des Seminars komplett über Bord geworfen. Es war ein guter Student, mit dem ich zufällig kombiniert worden war, sein Vater gehörte zum Management eines großen Stahlkonzerns und ich musste, wenn ich ihn anrufen wollte, mich über die Zentrale des Konzerns verbinden lassen. Ein Mann mit einer ganz anderen Sozialisation also, wie ich feststellte. Einmal in der Woche ging er zur schlagenden Verbindung, etwas, das in der Zeit der Studentenrevolte verpönt war und das auch er selbst kritisch beurteilte. Aber sein Vater verlangte es von ihm und solange er hinging, bekam er von ihm jede Unterstützung. Im Übrigen war er Marxist, also Materialist, und er konnte nicht verstehen, dass jemand wie ich Theologie studierte, also, in philosophischen Kategorien gedacht, Idealist war.

So diskutierten wir bei unseren Treffen zuerst stets über Feuerbach, Marx und die Bibel, dann gingen wir an die Textarbeit und fanden schnell heraus, dass beide Fassungen von Kafka so unterschiedlich waren, dass man nicht mehr von zwei Fassungen sprechen konnte, sondern dass es zwei unterschiedliche Erzählungen waren. Wir entwickelten Strukturbilder zu den Erzählungen, zeigten auf, welche Punkte in der zweiten Fassung deutlich ausgebaut waren und wie diese neue Schwerpunktsetzung die inhaltliche Aussage grundlegend veränderte.

Als wir vor Mensching das Referat vortrugen, musste ich den größten Teil übernehmen, mein Mitstreiter, der die besten Ideen beigesteuert hatte (schade, dass ich seine Spur verloren habe!) hatte am Abend vorher ein Verbindungstreffen gehabt und stand mit geröteten Augen neben mir. Ich weiß noch, wie Mensching immer erstaunter auf unser Strukturschema blickte, wie er schließlich begann, den Kopf zu schütteln und sagte: „Jetzt müsste unser Seminar neu beginnen. Das ist der Ansatz, nach dem wir eigentlich gesucht haben.“

Von nun an war ich in allen seinen Seminaren ein gern gesehener Student, immer ging es dabei um die Machart von Literatur, um einen ebenso textkritischen wie kreativen Ansatz, für den Mensching unter den Germanistikprofessoren und Dozenten offen oder versteckt kritisiert wurde. Sie wollten über Literatur forschen, dass einer der Ihren selber Literatur schreiben wollte und schrieb, ging ihnen nicht in den Sinn.

Folgenreiche Schreibseminare

Mensching richtete Schreibseminare an der Uni ein, ich weiß nicht, wie viele Studenten, die später Autoren und Journalisten wurden, durch diese Schule gingen. Einmal haben wir bei ihm das Strukturschema eines guten Unterhaltungsromans entworfen. Ein richtiges Rezept für einen solchen Roman haben wir entwickelt. Natürlich musste es ein politisches Thema sein, das gestaltet werden sollte, so etwas passte nicht nur zur 68er-Zeit, das passte auch zu Mensching. Mit Unterhaltung die Menschen aufzuklären, ein wunderbarer Gedanke, von dem wir heute so weit entfernt sind wie nie zuvor.

Am Romananfang, so entwickelten wir, musste eine kriminalistische Szene stehen, in der die Hauptfigur als Opfer vorgestellt wurde, dann musste die Gegenposition dargestellt werden, die aber noch nicht den Täter zeigte, dann sollte etwas Erotisches folgen, so etwas trug immer gut zur Unterhaltung bei, dann musste der eigentliche Täter vorgestellt worden. Es war ein richtiges Drehbuch für einen politischen Unterhaltungsroman, das ich leider danach verloren habe. Aber Mensching hatte es nicht verloren, wie ich viele Jahre später feststellen wollte.

Natürlich machte ich bei ihm Examen, natürlich durfte ich in meiner Examensklausur nachweisen, dass die Erzählhaltung bei einer Siegfried-Lenz-Erzählung viel zu umständlich war, eine verkappte Ich-Erzählung, wo es personal viel besser gegangen wäre, natürlich redeten wir zwischendurch immer wieder über eigene literarische Pläne.

Nach dem Examen verlor ich leider den Kontakt, bekam aber mit, dass Gerhard Mensching sehr erfolgreich begonnen hatte, Romane zu veröffentlichen, gute Unterhaltungswerke mit aufklärerischem Anspruch („Löwe in Aspik“) und auch er hatte irgendwie mitbekommen, dass ich publizierte, wenn auch lange nicht so erfolgreich wie er.

Das literarische Handwerkszeug

In achtziger Jahren nahmen wir wieder Kontakt auf, zuerst brieflich, dann telefonisch. Wir verabredeten, dass ich in einem seiner Schreibseminare, die er noch immer an der Uni veranstaltete, inzwischen mit Zustimmung seiner Fachkollegen, als Referent auftreten sollte, dass ich über das literarische Handwerkszeug referieren und es an eigenen Texten belegen sollte, während er zu meiner Lehrerfortbildung kommen wollte, die ich über viele Jahre für die Bezirksregierung Arnsberg in Hagen veranstaltete und in der ich kreative Schreibformen für den Deutsch- und Literaturunterricht an Gymnasiallehrer vermittelte.

Ich war froh, den Kontakt wieder gefunden zu haben, da starb Mensching ganz plötzlich. Es war eine völlig unerwartete Nachricht, die mich bewegt hat.

Meine Frau schenkte mir für die folgenden Ferien Menschings letzten Roman „E.T.A. Hoffmanns letzte Erzählung“, in der es darum ging, dass Hoffmann als Jurist dem Turmvater Jahn bei der Demagogenverfolgung einen fairen Prozess vermitteln wollte, was der Obrigkeit ganz und gar nicht gefiel und weshalb sie ihn nicht nur mit einem Disziplinarverfahren überzogen, sondern womöglich sogar vergiftet hatten.

Drehbuch für einen Unterhaltungsroman

In Überlingen, im Stadtteil Nussdorf in direkter Nähe zum Wohnhaus von Martin Walser, habe ich den Roman auf einer Wiese am Bodensee liegend gelesen und stellte zu meiner Überraschung fest, dass ich das Konzept des Romans kannte. Mensching hatte unser gemeinsames Drehbuch eines guten Unterhaltungsromans entweder verinnerlicht oder sogar noch schriftlich vorliegen gehabt, jedenfalls las ich einen spannenden, formal gut aufgebauten unterhaltenden Roman, der mich begeisterte. Ich weiß noch, dass meine Frau irgendwann rief: „Lass uns gehen, es zieht ein Gewitter auf!“ und dass ich antwortete: „Einen Moment noch. Jetzt kommt gleich ein erotisches Kapitel!“, was wiederum meine Frau verwunderte. „Kennst du den Roman etwa schon?“ Ich konnte sie beruhigen. Nein, ich kannte ihn nicht, ich kannte und liebte nur seine Machart.

Im Nachhinein bedauere ich es sehr, dass ich den Kontakt zu Mensching über einige Jahre verloren und erst kurz vor seinem Tode wieder gefunden habe. Mit ihm war es immer eine kreative, äußerst fruchtbare Zusammenarbeit, die meine Studentenzeit so sehr bereichert hat.

Die nächsten Generationen

An allen Bildungsinstitutionen, an denen ich gelernt habe, bin ich also auf Lehrer gestoßen, die selber geschrieben haben. Komisch, denke ich im Nachhinein, so viele von diesem Typus gibt es doch gar nicht. Aber während mir meine beiden ersten als Lehrer vorgesetzt wurden, während es mit dem ersten schlecht, dem zweiten dagegen sehr gut lief, habe ich mir den dritten an der Uni selbst ausgesucht. Ich hätte ja auch bei anderen Professoren studieren können, aber ich habe in jedem Semester den Kontakt zu Mensching gesucht.

Inzwischen bin ich das selber geworden, ein Lehrer, der gleichzeitig Schriftsteller ist und aus meiner Schreibschule am Bergkamener Gymnasium sind einige Schüler hervorgegangen, die schriftstellerisch tätig wurden. Vier, die ich unterrichtet habe, haben Bücher veröffentlicht, Jugendromane, Gedichtbände, Science-Fiction-Romane. Eine meiner Schülerinnen ist mit ihren Liebesromanen stets in der Bestsellerliste des Spiegel, bei amazon war sie für einen Tag auf Verkaufsrang 1. Einige sind Journalisten, auch beim Rundfunk, geworden, einer betreibt die bekannteste Internetseite zu Arno Schmidt. Erstaunt stelle ich fest, dass meine Schullaufbahn fast so etwas wie ein Weg durch die westfälische Literaturgeschichte ist. Und sogar noch einer, der sich fortsetzt.




Insider sorgt für Krimi-Spannung: „Das Recht des Geldes“ von Olaf R. Dahlmann

Recht des Geldese Die angehende Juristin Katharina Tenzer beginnt ihr Referendariat in der renommierten Hamburger Kanzlei Hausner, spezialisiert auf Steuerrecht. Katharina stellt sich auf trockenes Aktenfressen ein, doch was sie bekommt, ist ein riskantes Spiel um Leben und Tod. Verschwundene CD’s mit brisanten Steuerdaten, ein ermordeter Anwalt in Liechtenstein und die Spuren weisen zu Friedemann Hausner und seinen Klienten, von denen der Erste ziemlich bald einen Ausweg nur in einer Kugel im Kopf sieht.

Da wird ihr Chef – zufällig? – in einen Autounfall verwickelt und liegt kampfunfähig im Krankenhaus. Aber seine Instinkte funktionieren und so muss er Katharina viel stärker einbinden als geplant. Eigentlich wäre es ihm am liebsten, wenn er die Fäden ziehen und Katharina wie eine Marionette lenken könnte. Doch da hat er die Rechnung ohne die zielstrebige Referendarin gemacht, die ihr eigenes Spiel beginnt. Als ihr klar wird, in welche Gefahr sie sich damit begibt, ist es längst zu spät. Ein Killer ist auf sie angesetzt. Kommt er von der Mafia oder vom Finanzamt? Die Auflösung wird verblüffen.

Mit „Das Recht des Geldes“ hat Olaf R. Dahlmann einen erstaunlichen Debütroman hingelegt. Dahlmann ist in Hamburg ansässig als Seniorpartner einer Rechtsanwaltskanzlei, welche – wer hätte das gedacht – auf Steuerrecht spezialisiert ist. Wie Dahlmann im Nachwort des Romans zu Protokoll gibt, sind zwar die Figuren und die Handlung des Romans frei erfunden, aber sein jahrzehntelanger „Umgang mit Richtern, Staatsanwälten, Steuerfahndern“ haben seine Fantasie nicht unbeeindruckt gelassen.

Hintergründe sind genau recherchiert und zeugen von einer akribisch erworbenen Detailkenntnis. So spannend Dahlmanns erdichteter Plot daherkommt – es ist vor allem diese Realitätsnähe, das Wissen, dass man hier ein Werk eines Insiders liest, welches den eigentlichen Gänsehauteffekt des Buches ausmacht.

Glücklicherweise ging die Liebe zur Realität sprachlich nicht soweit wie der sonstige Blick hinter die Kulissen. Die Loslösung vom trockenen „Juristensprech“ ist Dahlmann ausgesprochen gut gelungen. Er formuliert klar und griffig und sorgt so für einen steten Lesefluss.

Dafür ist er in seinem Erstlingswerk in Punkto Charakterzeichnung auf Nummer Sicher gegangen, da ist noch ziemlich viel Luft nach oben. Schon mit dem schmerbäuchigen Steueranwalt, der davon überzeugt ist, dass Macht alleine ausreicht, um sexy zu sein, hat der Autor tief in die Klischeekiste gegriffen. Gar nicht zu reden vom hölzernen Finanzbeamten, der sich nur mühsam vom Einfluss der verstorbenen Frau Mama befreit und dabei übers Ziel hinausschießt.

Auch die Figur Katharina bleibt in Teilen unbegreiflich. Was genau sie dazu treibt, ihre Zukunft aufs Spiel zu setzen, bleibt unerfindlich. Wird sie zu Anfang noch als kluge Studentin mit ausgeprägtem Gerechtigkeitssinn und Idealismus eingeführt, spielt sie sehr schnell Vabanque und erkennt in all ihrer Klugheit nicht einmal, welcher Gefahr sie die aussetzt, denen sie vertraut.

Man darf gespannt auf weitere Werke sein, vielleicht steht mit Dahlmann ja der deutsche Grisham in den Startlöchern.

Olaf R. Dahlmann: „Das Recht des Geldes“. Grafit-Verlag, Dortmund. 374 Seiten, € 12,00.




Ein Hochstapler als Philosoph: Lars Gustafssons letzter Roman „Doktor Wassers Rezept“

Lars Gustafsson sagte über sich selbst, er fühle sich als Philosoph, dessen Werkzeug die Literatur sei. Wie etliche seiner Werke unterstreicht auch sein letzter Roman „Dr. Wassers Rezept“ dies eindrücklich.

Gustafsson war einer der bekanntesten und bedeutendsten Autoren Schwedens, er verstarb im April diesen Jahres im Alter von 80 Jahren. Erst im letzten Jahr erhielt er den Thomas Mann Preis. Seine Dankesrede zur Verleihung ist noch auf seinem Blog nachzulesen. In dieser Rede bekennt er, dass er Thomas Mann auch deshalb bewundere, weil Mann die Trivialität des absurden Lebens aufheben und ihn in eine ganz andere Sphäre versetzen konnte. Diese Worte muten nun nach Gustafssons Tod an, als hätte sich ein Kreis geschlossen. Umso mehr, als mit seinem letzten Buch ausgerechnet die Geschichte eines modernen Felix Krull zu seinem Vermächtnis wurde.

GustafssonDrWasser

Denn Gustafssons „Dr. Wasser“, der seine medizinische Laufbahn als Generaldirektor einer Klinik beendete und sich einen Namen in der Schlafforschung machte, ist gar kein Doktor med. Er ist „nur“ Bo Kent Andersson aus den schwedischen Wäldern, Fensterputzer und Hilfskraft in einer Reifenwerkstatt.

Zu klug für seine kleine Welt

Der junge Bo Kent merkt früh, dass er klug ist, genau genommen: zu klug. Zumindest für das kleine schwedische Karbenning. In der Welt, in die er hineingeboren wurde, hilft ihm Klugheit nicht. Eigentlich müsste für ihn eine andere Welt her. Da findet er eines Tages die Leiche eines schon vor Monaten tödlich verunglückten Motorradfahrers – und dessen Papiere, die den Verunglückten ausweisen als Dr. Kurth Wolfgang Wasser, DDR-Flüchtling und approbierter Mediziner. Dieser Fund gibt ihm einen zufälligen Moment der Freiheit und er verwandelt den „eigentümlich durchsichtigen, fast unsichtbaren schmalen Typ aus Karbenning, die gläserne Mücke“ in einen angesehenen Wissenschaftler.

Er entschied sich für den Identitätswechsel „nicht, weil ich mir besonders viel von diesem anderen versprach, sondern weil die Verführung, die von der Idee eines eigenen freien Willens ausging, unwiderstehlich war“. Nun verbringt er seinen Lebensabend als Gewinner, zumindest legen das die Ergebnisse seines Hobbys – Preisausschreiben in allen erdenklichen Formen – nahe. Aber hat er auch in seinem Leben gewonnen? Das ist die Frage, die ihn nun mit dem nahenden Lebensende vor Augen umtreibt. Kann es ihm wirklich reichen, dass er sich heiter fühlt und nicht unzufrieden?

„Doktor Wassers Rezept“ ist weit mehr als ein Schelmenroman über einen gewieften Hochstapler. Gustafsson erzählt mit der Geschichte seines Helden eine Geschichte über riskante Lügen, sinnliche Lieben und fragile Identitäten. Er folgt dabei allerdings keiner stringenten Chronik. Die Erzählung folgt – ganz Gustafssons Selbstverständnis entsprechend – einzig und alleine seinen philosophischen Gedankengängen. Die Versatzstücke des Lebens des Dr. Wasser werden dabei fragmentarisch nur zur Untermauerung der philosophischen Überlegungen gebraucht.

Dem Leben einen Sinn geben

Doch auch wenn die eigentliche Romanhandlung immer wieder unterbrochen wird, der doch man neugierig folgen möchte, ist „Dr. Wassers Rezept“ ein ungeheuer spannendes Buch. Spannend schon alleine wegen der Fragen, die das Buch aufwirft. Fragen, die sich wohl jeder zu irgendeinem Zeitpunkt seines Lebens stellt. Die ganz existentiellen Fragen darüber, wer man ist, wie man zu dem wird, der man sein möchte, ob man überhaupt die Freiheit hat, selber zu bestimmen, wer man ist und welche Verantwortung man damit übernimmt. Noch spannender, weil Gustafsson sich nicht scheut, zumindest in Teilen Antworten zu geben: „Nein, einen Sinn hat das Leben nicht. Aber man kann ihm einen Sinn geben, vielleicht war es das, was ich tat“.

Ganz besonders spannend ist noch eine ganz andere Frage, die der Roman allerdings nur am Rande aufnimmt: Wie konnte Dr. Wasser damit eigentlich durchkommen? Wieso hinterfragte nie einer die doch so offensichtlichen Diskrepanzen in seiner Geschichte? Selbst die, die ihn aus seiner Kindheit noch als Bo Kent kannten, schluckten die phantastische Geschichte von der Adoption durch ein DDR-Ehepaar und fragten nie weiter nach.

Wen kennt man eigentlich wirklich?

„Niemand war wirklich daran interessiert, die Fäden zu entwirren“. Gustafsson findet auch darauf eine Antwort: „Die Menschen füllen Lücken gerne aus. Das ist eigentlich nicht so merkwürdig. Leben ist eine sinnstiftende Aktivität. Leben heisst zu deuten.“ Eine Antwort von bestechender Logik, die eine weitere Frage aufwirft: Wen von unseren Mitmenschen kennen wir eigentlich wirklich und wollen wir ihn überhaupt wirklich kennenlernen? Reicht uns nicht vielmehr das Bild, das wir uns von diesen machen?

Immerhin muss man Dr. Wasser zugute halten, dass er gut war auf seinem Gebiet der Schlafforschung. Er hatte diesen Beruf nicht gelernt, aber er war seine Berufung geworden. Sein Fachgebiet hatte er sich schnell ausgesucht, schien es ihm doch eines der wenigen medizinischen zu sein, auf dem er keinen Schaden anrichten konnte. Hat man auch nicht alle Tage – einen Hochstapler, der keinem je geschadet hat. So zeichnet Gustafsson ganz en passant noch das Bild eines Menschen, auf den ihn in Ansätzen durchaus die Bezeichung „Psychopath“ zutrifft, dem man aber seinen friedlichen, verkreuzworträtselten Lebensabend dennoch gönnt.

Lars Gustafsson: „Doktor Wassers Rezept“. Roman. Hanser Verlag. 144 Seiten, €17,90.




Bochum, Buddy Holly und überhaupt: Zum Tod des Schriftstellers Wolfgang Welt

Durch eine Mitteilung des Schauspielhauses Bochum erfahren wir vom Tod des Schriftstellers Wolfgang Welt, der jetzt mit nur 63 Jahren gestorben ist. Wir zitieren im Wortlaut:

„Das Schauspielhaus Bochum trauert um Wolfgang Welt.
Wolfgang Welt war seit 1991 Nachtpförtner am Schauspielhaus Bochum und allen hier arbeitenden Kolleginnen und Kollegen vertraut. Er war im besten Sinne des Wortes ein ,Original‘ des Hauses, jedem Künstler bekannt, umgeben von einer geheimnisvollen Aura, nicht ganz zu durchschauen, mal abweisend beobachtend, dann wieder gesprächig, offen und interessiert.
Vor seiner Tätigkeit als Nachtpförtner war Wolfgang Welt bereits als Journalist und Autor erfolgreich tätig. In den späten 1980er war er einer der wichtigsten Musikjournalisten des Reviers, schrieb für „Sounds“, „Marabo“ und „Musikexpress“. Danach begann er Romane zu schreiben und galt mit Büchern wie „Peggy Sue“, „Buddy Holly auf der Wilhelmshöhe“ oder „Doris hilft“ als Geheimtipp der deutschen Literatur-Szene. (…)
Wolfgang verstarb gestern Morgen nach kurzer schwerer Krankheit.
Wir werden ihn sehr vermissen.“

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Hier noch einmal ein Text über Wolfgang Welt, der am 23. November 2012 erstmals in den Revierpassagen erschienen ist:

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So einen gibt es nur in Bochum, also wird die Geschichte immer wieder gern aufgegriffen, wenn es um Wolfgang Welt geht: Der Mann ist Nachtportier im Schauspielhaus – u n d Autor des hochmögenden Suhrkamp-Verlages, seit der berühmte Peter Handke sich vor Jahren für ihn stark gemacht hat. So. Damit hätten wir das hinter uns gebracht.

Fürsprecher Handke hat jetzt auch ein kurzes Vorwort zu Welts gesammelten (vorwiegend journalistischen) Texten der Jahre 1979 bis 2011 beigetragen.

Der Band führt vor allem in Wolfgang Welts Frühzeit zurück, als er speziell Rockmusik, dann aber auch Literatur fürs Ruhrgebiets-Szenemagazin „Marabo“ besprochen hat. Später ging’s auch in Blättern wie „Musikexpress“ zur Sache.

Man erlebt gleichsam schreiberische Fingerübungen, zunächst vielfach noch unscheinbar oder gar unbedarft, gleichwohl schon vehement meinungsfreudig, ja manchmal sogar eminent präpotent.

Ich bin beileibe weder Grönemeyer- noch Müller-Westernhagen-Fan und gewiss auch kein Anhänger von Heinz Rudolf Kunze, doch darf man diese Leute so beleidigend wie folgt abkanzeln?

„Was sich (…) Grönemeyer (…) hier geleistet hat, ist wie schon bei seinem Debüt vor zwei Jahren unter aller Sau.“

Über das Lied „Von drüben“ von Marius Müller-Westernhagen („musikalisch armseliges Würstchen“): „Dieses Stück Scheiße ist an Erbärmlichkeit nicht zu übertreffen. (…) Hoffentlich verliert Müller-Westernhagen bald seine Stimme.“

„Heinz Rudolf Kunze ist eine Null. Er selber weiß es am besten.“

Ist da etwa ein Drecksack am Werk?

Das liest sich ganz so, als wolle da jemand die Kritisierten ein für allemal „erledigen“ und weghaben. Es hat schon gewisse Drecksack-Qualitäten, oder? Eigentlich kein Wunder, dass er auch schon mal als „Aufsatz-Ayatollah“ bezeichnet worden ist. Immerhin hat sich Welt, ausweislich eines viel späteren Textes, mit Grönemeyer nicht auf ewig zerstritten.

Auch wenn er lobte und pries, erging sich Wolfgang Welt (vielsagendes Power-Autorenkürzel „WoW“) vor allem in wuchtig vorgetragenen Gefühlsurteilen, die er gar nicht großartig begründen mochte, darin fast schon einem Reich-Ranicki vergleichbar. Buddy Holly war und ist demnach der Abgott aller populären Musik. Auch eher entlegene Größen wie Phillip Goodhand-Tait oder der Schlagersänger Willy Hagara gelten ihm viel. Vom „Abschaum“ haben wir ja schon gehört. Übrigens: Auch „Rockpalast“-Macher Peter Rüchel gehört zu den Schimpfierten, wohingegen dessen zeitweiliger Mitstreiter Alan Bangs… Aber lest selbst!

Ein häufig bemühtes, wahrlich dürftiges Hauptkriterium seiner frühen Musikbesprechungen ist, dass Künstler mit über 30 zu alt seien, um richtig zu rocken. Ach, du meine Güte! Auch ahnt man zunächst nicht, dass einem jemand mit abgegriffensten Formulierungen wie „Kafka lässt grüßen“, „Ein Buch, aus dem man viel lernen kann“ oder „Beide Scheiben waren weltweite Hits“ je etwas Wissenswertes mitzuteilen haben würde. Vereinzelte sprachliche Unfälle wie diesen hätte das Buchlektorat nachträglich korrigieren sollen: „Von seinem älteren Bruder hatte er bereits zuvor einige einfache Griffe beibekommen gekriegt…“

Hässlichkeit, Melancholie und Würde des Reviers

Jetzt aber endlich das Positive! Und das ist viel mehr.

Irgendwann, zunächst beinahe unmerklich, sodann mit steigender Frequenz, macht es in den assoziativ aufgeladenen Beiträgen („Ich will jetzt schreiben, was mir einfällt“) sozusagen „Klick“. Es beginnt mit Authentizität signalisierenden Bemerkungen: „Ich gebe zu, ich kann kaum verbalisieren, was ich beim Anhören dieser Platte empfunden habe, dazu hat sie mich viel zu sehr berührt.“ Auf einmal aber findet sich ein ungeahnt neuer Ton, der einen mäandernd mitzieht, der sich ganz eigen anhört. Und dieser Sound wird kräftiger! Es klingen chaotisch bewegte Ruhrgebiets-Nächte mit. Die Sätze nehmen wilde, sehnsüchtige Lebensfahrt auf, künden aber auch immer wieder von Hässlichkeit, Melancholie und Würde des vergehenden Reviers von einst.

Dabei zeigt sich unversehens: Buddy Holly und die Wilhelmshöhe (ehemaliges Zechenviertel in Bochum, Welts engere Heimat zwischen Maloche, Fußball und Suff) sind nicht sternenweit voneinander entfernt, sind keineswegs unvereinbare Gegensätze. Ich bin bestimmt nicht der erste, der das schreibt, doch Wahrheiten darf man gelegentlich wiederholen: Bei Wolfgang Welt findet sich das Ruhrgebiet unversehens als Gelände der weltweiten Bewegung im Gefolge des Rock’n’Roll wieder. Den sinnhaltigen Kalauer von der „Welt-Literatur“ haben auch schon andere losgelassen.

Wo anfangs noch Dilettantismus spürbar war, freilich oft schon von wacher Neugier angetrieben, da zahlt sich nun außerdem die zunehmende Repertoire-Kenntnis aus. Welt wird erfahrener, urteilsfähiger, wohl auch Zug um Zug geschmackssicherer.

Es ist frappierend zu sehen, in welchem Maße und wie schnell sich dabei sein Stil zum Guten und manchmal Genialischen hin verändert. Als jemand vom selben Jahrgang, der etwa zur gleichen Zeit mit dem beruflichen Schreiben begonnen hat, muss ich ihm erst recht Bewunderung zollen. Die Treibsätze seiner besseren Texte hätte man gern auch mal gezündet. Von den Romanen („Peggy Sue“, „Der Tick“) erst gar nicht zu reden.

„It’s better to burn out…“

Einlässlich und mit Gespür für Gewichtungen hat sich Wolfgang Welt mit Kultur-Gestalte(r)n aus der Region befasst. Mit Respekt werden Max von der Grüns Roman „Flächenbrand“ oder Jürgen Lodemanns Theaterstück „Ahnsberch“ besprochen, mit freundschaftlicher Sympathie wird der Dortmunder Schriftsteller Wolfgang Körner erwähnt. Werner Streletz (Marl/Bochum), damals noch am Anfang seines literarischen Schaffens stehend, erhält sogleich das Prädikat „beachtlich“.

Dass Wolfgang Welts Lebensweg zwischenzeitlich auch in psychiatrische Behandlungen führte, könnte tatsächlich innigst mit seiner wildwüchsigen Art des Schreibens zu tun haben und den Titel der Sammlung beglaubigen: „Ich schrieb mich verrückt“. Alles hat seinen Preis. Doch wie sang jener (nicht mehr ganz junge) Rockstar: „It’s better to burn out than it is to rust…“

Neuerdings scheint Wolfgang Welt etwas ratlos und verloren um die alten Themen zu kreisen, ohne ihnen wesentlich Neues abzugewinnen. Ausdrücklich heißt es an einer Stelle, dass sein Interesse an Musik geschwunden sei. Da ist ein Feuer erloschen. Und das kann einen ziemlich traurig machen.

Wolfgang Welt: „Ich schrieb mich verrückt“. Texte 1979-2011 (Hrsg. Martin Willems). Klartext Verlag, Essen. 358 Seiten. 19,95 €

P. S.: In einem lakonischen Interview am Schluss des Bandes nennt Wolfgang Welt den Schriftsteller Hermann Lenz als Vorbild und äußert sich so zum Revier: „Weil ich illusionslos bin, was das Ruhrgebiet anbetrifft. Ich finde, es ist ein Haufen Scheiße.“

Ein weiteres Interview mit Wolfgang Welt (von www.bochumschau.de) findet sich hier.




Als es im Ruhrgebiet noch Arbeiterschriftsteller gab – vier Skizzen aus persönlicher Sicht

Unser Gastautor Heinrich Peuckmann mit einer persönlichen Betrachtung über Begegnungen mit Arbeiterschriftstellern des Reviers:

1. Richard Limpert

Warum Richard Limpert aus Gelsenkirchen bei seinen Straßenlesungen ein Megaphon benutzt hat, habe ich nie verstanden. Mit donnernder Stimme trug Limpert seine Agitpropgedichte vor, in denen es immer um die Verbesserung der Arbeitsbedingungen in den Fabriken und unter Tage ging. Er war auch ohne technische Unterstützung in der gesamten Fußgängerzone zu hören.

In Unna, während einer Landesversammlung des Schriftstellerverbandes, hielt er mal eine solche Lesung, stand oben am Markplatz und war sicher noch die Bahnhofstraße hinunter bis zum Rathaus zu hören. Wir anderen, die an verschiedenen Stellen der Straße lesen sollten, konnten unsere Texte getrost in der Tasche behalten und ihm das Terrain überlassen.

Heute, wenn auf immer neue Rekordmarken bei der Arbeitslosigkeit mit immer neuem Sozialabbau geantwortet wird, sollte wieder einer wie Limpert das Wort ergreifen, denke ich. Aber diesen Typus an Arbeiterschriftstellern gibt es nicht mehr.

"Schichtenzettel" mit Texten von Richard Limpert, Josef Büscher und Kurt Küther erschien 1969 in Oberhausen im Selbstverlag.

„Schichtenzettel“ mit Texten von Richard Limpert, Josef Büscher und Kurt Küther erschien 1969 in Oberhausen im Selbstverlag.

„Rili“, wie wir ihn nannten, hatte kein Auto. Er kam immer mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu den Veranstaltungen und hat dabei einmal eine unglaubliche Leistung vollbracht. Er ist nämlich zu einer Thekenlesung nach Bergkamen mit dem Zug gekommen. Nicht, dass es Bergkamen keinen Bahnhof gäbe, so ist es nun auch wieder nicht. Er befindet sich weit abgelegen neben einem Naturschutzgebiet. Güterzüge fahren vorbei, aber kaum jemals ein Personenzug. Ich glaube, die Strecke war schon damals für den Personenverkehr vollständig still gelegt.

Irgendwie hatte es Limpert trotzdem geschafft, mit dem Zug anzureisen. Vielleicht war er in einem Postwagen mitgefahren und der Zug hatte nur ausnahmsweise und ausschließlich für ihn in Bergkamen gehalten, ich weiß es nicht mehr. Da stand er nun mutterseelenallein auf dem dunklen Bahnhof und konnte weit und breit keinen Menschen entdecken. Rili muss sich gefühlt haben wie in einem Gruselfilm und hinter jeder dunklen Ecke den Mörder vermutet haben.

In einem Wohnhaus in der Nähe hat er schließlich geklingelt, eine Frau hat ihm geöffnet und sich mindestens so sehr über seine Ankunft mit dem Zug gewundert wie Rili über den Bergkamener Bahnhof. Sie rief ihm ein Taxi, mit dem Rili pünktlich zur Lesung kam und mich verwundert fragte, was das denn für ein Bahnhof sei. Ich glaube, so richtig erklären, dass dort niemand mehr aussteigt, konnte ich es ihm nicht.

Die Lesung (Rili hinter der Theke und die Arbeiter von „Monopol“ davor) war dann aber wirklich gut. Die Arbeiter verstanden, dass da einer von ihnen zu ihnen sprach, einer, der aus eigenem Erleben kannte, was er aufgeschrieben hatte.

Rili war ein verträglicher Mann, aber einmal hat er mich doch ausgeschimpft. Horst Hensel hatte den Schulroman „Aufstiegsversagen“ veröffentlicht, in dem ein Arbeiterdichter vor einer Schulklasse auftritt, Fragen der Schüler beantwortet und etwas zu seinem Literaturverständnis erzählt. Der Autor hieß „Milpert“, dreht man die drei ersten Buchstaben um, weiß man, an wen Hensel beim Schreiben gedacht hat.

In Horst Hensels Buch "Aufstiegsversagen" kam Richard Limpert als Figur "Milpert" vor.

In Horst Hensels Buch „Aufstiegsversagen“ (Weltkreis-Verlag, Dortmund) kam Richard Limpert als Figur „Milpert“ vor.

Wir trafen uns einige Zeit nach der Romanveröffentlichung bei einer Buchvorstellung in der Gelsenkircher Bücherei. „Sieben Häute hat die Zwiebel“ hieß die Anthologie, in der wir alle mit Texten vertreten waren. Es gab ein Buffet, wir standen mit dem Teller in der Hand in einer Schlange, Rili vor, Hensel hinter mir.

Plötzlich drehte sich Limpert um, entdeckte mich und fing sofort an zu schimpfen. So blöde sei er nicht, wie ich das behaupten würde, rief er, er könne schon vernünftig auf Schülerfragen antworten. Außerdem würde er über Literatur ganz anders denken, als ich das geschrieben hätte, das hätte er oft erklärt usw. Ich war anfangs sprachlos, bis ich endlich kapierte. „Mensch Richard!“, rief ich, „bist du wahnsinnig! Das war ich doch gar nicht. Das Buch hat doch der Hensel geschrieben.“ Aber Rili ließ sich nicht beirren, schimpfte weiter, bis sein Ärger verraucht war, erkannte dann hinter mir Hensel, lächelte plötzlich freundlich und gab ihm die Hand. „Mensch Horst“, sagte er, „wie geht`s dir.“

Nach seiner Attacke war Limpert übrigens auch wieder zu mir freundlich. Langen Streit konnte er nicht vertragen.

Bei der Landesversammlung des Schriftstellerverbands in Unna hat Rili mal eine unvergessliche Rede gehalten. Es ging hoch her beim Streit um die richtige Verbandsarbeit, als Rili plötzlich erregt das Wort ergriff, aber leider vergaß, dass er sein Gebiss in die Jackentasche gesteckt hatte. Seitdem weiß ich, wie viel Zischlaute es in der deutsche Sprache gibt. Wir waren einen Moment erstaunt, lachten dann, und die Situation war nach Rilis Rede wieder entspannt. Es war übrigens sachlich alles richtig, was Rili erregt und ohne Zischlaute eingeworfen hatte.

Später, ein paar Jahre nach seinem Tod, gab es eine kleine anrührende Szene. Mein kleiner Sohn, damals in der Grundschule, kam zu mir und sagte ein Gedicht auf, das er auswendig lernen musste. Es war ein Gedicht über das Meer, einfach über Nordsee, ganz ohne Agitprop, und es gefiel mir gut. „Rate mal, wer es geschrieben hat?“, fragte er mich. Ich wusste es nicht. Es war von Rili. Da fiel mir auf, wie lange ich nicht mehr an ihn gedacht hatte. Und dass seine Literatur auch Facetten hatte, die ich noch nicht kannte.

2. Rudolf Trinks

Der Bergkamener Rudolf Trinks gehört nicht zu den bekannten Arbeiterdichtern. Er hat auch wenig veröffentlicht, trotzdem war er eine Zeitlang wichtig für die Dortmunder Werkstatt im Werkkreis Literatur der Arbeitswelt. Trinks war Bergmann und füllte angesichts der vielen Studenten, zu denen auch ich gehörte, die Arbeiterlücke in der Gruppe wenigstens halbwegs auf.

Trinks war ein bescheidener Mann, immer kooperativ, hatte einen ganz stillen Humor und hielt sich gerne im Hintergrund. Einmal war er aber ganz gefordert, und diese Situation hat er glänzend gemeistert.

Wir hatten in Bergkamen mit einer Reihe von Thekenlesungen begonnen. Wenn die Arbeiter nicht zur Literatur kommen, kommt die Literatur eben zu den Arbeitern, war unsere Überlegung. Dieter Treeck, damals Kulturdezernent in Bergkamen, hatte die Idee dazu gehabt. Bei der ersten Lesung in dieser Reihe sollte auch Trinks zwei Erzählungen lesen. Geschichten aus dem Bergbau mit dem Titel „Montags morgens, sechs Uhr, Seilfahrt“, wie sie zu Bergkamen passten.

Was wir nicht beachtet hatten, war die Einstellung der Arbeiter, die am Freitagabend in Ruhe ihr Bier trinken und sich daran nicht von irgendwelchen Schreibern hindern lassen wollten. Eine Mikrophonanlage war hinter der Theke aufgebaut worden, Dieter Treeck wollte die Kneipengäste begrüßen, aber es blieb laut in der Kneipe, niemand machte Anstalten, zuzuhören. Unser schöner Versuch schien schon im Ansatz zu scheitern.

Da trat Rudolf Trinks ans Mikrophon, den die meisten Gäste als ihren Arbeitskumpel kannten. „Nun seid mal alle stille!“, sagte er ins Mikrophon. Und tatsächlich verstummten die Leute nach und nach und Trinks begann zu lesen. Er war es, der den Versuch gerettet hat, der sich später zu einer erfolgreichen Lesereihe entwickeln sollte. Meist war ja noch eine Songgruppe engagiert worden, die zwischen den Textlesungen auftrat und manche Veranstaltung später endete mit dem lauten Absingen von Arbeiterliedern.

Eine Zeitlang hatten wir sogar eine kleine Fangruppe, die zu allen Thekenlesungen kam, egal, ob sie in ihrer Stammkneipe stattfand oder anderswo. Und mit der Zeit wurde manche von diesen Zuhörern selbst richtig „literarisch“. Der Göttinger Schriftsteller Manfred Laurin las mal in Bergkamen. „Ich trage jetzt ein paar Gedichte aus meinem neuen Gedichtband vor“, sagte er und fügte stolz hinzu: „Das Buch habe ich selbst verlegt.“ „Hoffentlich hast du es auch wiedergefunden“, antwortete einer der Zuhörer. Laurin, sonst ein begnadeter Spötter über alles Mögliche, konnte darüber gar nicht lachen. Bei seiner eigenen Person hörte der Spott auf.

Trinks wohnte im Begkamener Stadtteil Weddinghofen, in direkter Nachbarschaft zu Hans Henning (genannt „Moppel“) Claer. Der war nun wirklich bekannt, und wenn sich auch mancher nicht mehr an seinen Namen erinnert, so sind doch die Titel seiner Bücher, die alle verfilmt wurden, unvergessen: „Lass jucken, Kumpel“, „Das Bullenkloster“, „Bei Oma brennt noch Licht“. Trinks hat Claers schlüpfrige Darstellung der Arbeitswelt immer abgelehnt. Ich glaube, die beiden haben kaum je ein Wort miteinander gewechselt, obwohl sie fast Haus an Haus wohnten.

Im November bzw. Dezember 2002 sind Trinks und Claer nahezu gleichzeitig gestorben, Trinks hat noch bis kurz vor seinem Tod geschrieben, aber nichts mehr veröffentlichen können. Claer war fast 15 Jahre lang durch einen Schlaganfall bettlägerig und zum Schluss ein Pflegefall.

Thekenlesungen gibt es schon lange nicht mehr. Vielleicht sind die „Poetry Slams“ der zeitgemäße Ersatz, bei dem es aber nicht mehr um politische Aufklärung, sondern weitgehend um „fun“ geht.

3. Emanuel Schaffarczyk

Der Dortmunder Emanuel Schaffarczyk ist längst vergessen. Er war für die Dortmunder Werkstatt in der Anfangsphase sehr wichtig. Viel wurde damals ideologisch diskutiert. Wir vollzogen die Brecht-Lukacs-Debatte nach, wobei ich, dies nebenbei, immer für den gut erzählten, realistischen Roman im Sinne von Lukacs war, ohne freilich dessen „Formalismuseinschränkung“ zu teilen.

Emanuel Schaffarczyks Buch "Als Fußlapp in der Klemme saß" (mit Illustrationen von Gisela Degler-Rummel) in einer Ausgabe von 1975.

Emanuel Schaffarczyks Buch „Als Fußlapp in der Klemme saß“ (mit Illustrationen von Gisela Degler-Rummel) in einer Ausgabe von 1975.

Schaffarczyk war von diesen Diskussionen unberührt, er wollte schreiben und er schrieb. Fast zu jeder Sitzung brachte er eine neue Geschichte mit, in der er die Charaktere stimmig aus der Handlung und dem geschilderten Umfeld heraus entwickelte. Seine Texte hatten Atmosphäre, ich weiß, dass ich jedesmal sehr aufmerksam lauschte, wenn er sie vorlas, weil ich das Gefühl hatte, von Schaffarczyk lernen zu können. Geschickt baute er die Beschreibung der Natur in die Handlung ein, hatte einen Blick für Details und erinnerte mich jedesmal daran, warum ich eigentlich in die Werkstatt gekommen war. Es sollte doch um Literatur gehen, freilich um realistische. Dass die Werkstatt Dortmund später zu den führenden „literarischen“ Werkstätten im Werkkreis gehörte, ist Schaffarczyks beharrlichem Verlangen zu danken, dass bei jeder Sitzung Texte besprochen werden sollten.

Allerdings neigte er zur Idylle (wie so manche Arbeiterdichter), die nach seiner Textvorstellung immer wieder zu Diskussionen in der Gruppe Anlass gab.

Irgendwann saßen wir im jugoslawischen Restaurant direkt gegenüber vom Dortmunder Hauptbahnhof. Wir sprachen lange miteinander. „Du willst doch auch schreiben“, sagte er, „lass uns nicht immer diese langweiligen ideologischen Diskussionen führen. Immer diese Politik.“ Irgendwann blieb er weg. Ein Verlust, sicher, vor allem für den literarischen Anteil unserer damaligen Arbeit.

Schaffarczyk hatte ein Ziel. Als ehemaliger Schlosser wollte er seinem Enkelkind ein richtiges, von ihm geschriebenes Buch hinterlassen. Das war sein Traum. Er hat ihn verwirklicht. Drei Bücher sind von ihm erschienen, das dritte, glaube ich, war aber ein verkappter Eigendruck. „Als Fußlapp in der Klemme saß“, ein Jugendbuch, ist aber im damals bekannten Dortmunder Schaffstein-Verlag erschienen und fand in einigen Rezensionen weit über die Stadt hinaus Beachtung. Ich glaube, Paul Polte hatte ihm den Kontakt vermittelt.

4. Kurt Piehl

Kurt Piehl habe ich erst nach meiner Werkkreiszeit kennen gelernt. Ich war damals Sprecher der VS-Bezirksgruppe Dortmund/Südwestfalen, als er dazu stieß. Er wohnte in Bergkamen, kam zu unseren Treffen in Dortmund mit dem Zug angereist, bei der Rückfahrt habe ich ihn oft mitgenommen und an der Oberadener Jahnstraße, wo er an einer Kreuzung wohnte, abgesetzt.

Wer etwas über die Edelweißpiraten erfahren will, jene Widerstandsgruppe, die im Dortmunder Norden und in anderen Städten eine freie Jugendkultur gegen die Naziideologie setzte, muss Piehls Bücher lesen. „Latscher, Pimpfe und Gestapo“, sein erstes, ist auch sein wichtigstes. Lieber wollten Jugendliche wie Kurt Piehl „rumlatschen“ als für die Nazis marschieren, sie schwänzten die HJ-Veranstaltungen und gerieten mehr und mehr, nicht durch heimlich operierende Organisationen, sondern vielmehr aus eigenem, spontanen Antrieb heraus, in Opposition zu Hitler. Im Grunde sind die „Latscher“ so etwas wie die proletarische Antwort auf die bürgerlichen „Flaneure“, wie sie in den Zwanziger Jahren in der Literatur so modern waren.

Kurt Piehls Buch "Latscher, Pimpfe und Gestapo", erschienen bei Brandes & Apsel.

Kurt Piehls Buch „Latscher, Pimpfe und Gestapo“, erschienen bei Brandes & Apsel.

Einige der Edelweißpiraten haben, erst sechzehn- oder siebzehnjährig, ihre Einstellung mit dem Leben bezahlt. Sie wurden hingerichtet. Piehl wurde auch gefasst und in die berüchtigte Dortmunder Steinwache gesteckt, in der vor ihm, in den Dreißiger Jahren, auch Paul Polte gesessen hatte. Piehl wurde schwer misshandelt, wovon die tiefen Narben in seinem Gesicht zeugten. Er hat über diese Misshandlungen nicht reden können, weder mit seiner Frau noch mit seiner Tochter Gabriele, die eine Schulfreundin von mir war. Er hat sich hingesetzt und aufgeschrieben, was ihm angetan worden war. Irgendwann hat ihn seine Tochter darauf angesprochen. „Ist das eine Biographie, die du da schreibst?“ Kurt Piehl hat nur genickt.

Über den Dortmunder Geschichtsprofessor Hans Müller kam das Manuskript zu Horst Hensel, der für Piehl einen Verlag besorgte, Brandes & Aspel. Dort sind noch zwei weitere Bücher erschienen, die das Schicksal der Edelweißpiraten nach dem Krieg schilderten. Jener brutale Quäler, der Piehl misshandelt hatte, ist später nach dem Krieg nicht zur Rechenschaft gezogen worden, ein Vorgang, der Piehl verbittert hat. Piehl war Arbeiter in einem Baugeschäft und aktiv in der IG Bau, Steine, Erden, die seine Publikationen gefördert hat.

Wie Rudolf Trinks war er ein stiller Kollege, der selten das Wort ergriff, der die VS-Bezirksgruppe aber einmal zu einer Führung durch die Steinwache einlud und uns dort anschaulich erzählte, wie die Gefangenen unter den Nazis misshandelt wurden.

1994 folgte er seiner Tochter nach Schleswig-Holstein, zog in die Nähe von Lübeck, wo er im Jahre 2000 gestorben ist.

Eine meiner Kolleginnen am Städtischen Gymnasium Bergkamen hat im Rahmen einer Projektwoche sein Leben und seine Literatur aufarbeiten lassen. So gab es noch mal einiges an Aufsehen, Zeitungsartikel erschienen und Piehls Bücher wurden wenigstens von einigen wieder gekauft.

Jahre später hat auch die Stadt auf ihn und seine Literatur reagiert und eine kleine Straße nach ihm benannt. Zur Eröffnung der „Kurt-Piehl-Straße“ durch den Bürgermeister bin ich eingeladen worden und habe bei dieser Gelegenheit Kurt Piehls Tochter, meine frühere Schulfreundin Gabriele, nach mehr als vierzig Jahren wiedergesehen.

Die Straße liegt in unmittelbarer Nähe zum KZ in Bergkamen. Dort, im Oberlinhaus, das heute von der freikirchlichen Gemeinde genutzt wird, sind 1933 für ein Jahr über tausend politische Häftlinge von den Nazis eingesperrt und misshandelt worden. Auch ein Peuckmann war darunter, wie ich mal in einer Liste entdeckt habe. An die Nazis erinnert nur eine Gedenktafel, die den Abscheu der Bergkamener vor den verbrecherischen Taten ausdrückt. An Kurt Piehl, ihren jugendlichen Gegner, aber erinnert eine ganze Straße.




Kreuzbrave Lektüre für EM-Pausen: Das Buch zum Deutschen Fußballmuseum

So. Die EM läuft also. Wie wär’s jetzt für die Pausen mit etwas Lektüre zur Geschichte der Nationalmannschaft – und dann auch noch mit gewissem Regionalbezug?

Kein Problem. Schließlich ist im letzten Jahr in Dortmund das Deutsche Fußballmuseum des DFB eröffnet worden. Und just dazu gibt es ein ziemlich üppiges Begleitbuch zum vergleichsweise günstigen Preis. Natürlich kommt auch die Edition aus dem Revier, nämlich aus dem Essener Klartext-Verlag.

9783837509731

Der gewichtige Band im Katalogformat heißt „Mehr als ein Spiel“ und ist selbstredend durchweg positiv gestimmt. Es geht vor allem um die Nachfeier der vier deutschen Weltmeistertitel (bekanntlich 1954, 1974, 1990, 2014). Es gibt weder Kritik am Nationalteam noch etwa an Finanzierung oder Architektur des Fußballmuseums und erst recht nicht am Gebaren des DFB, sondern Lob und Preis bis hin zur Devotionalien-Verehrung („Götzes goldener Schuh“ und dergleichen).

Gelegentliche Leistungstiefs von „La Mannschaft“ werden nicht verschwiegen, sie wirken aber in diesem Kontext nur wie bedauerliche Ausrutscher in der insgesamt triumphalen Historie. Das wesentliche „Narrativ“ (um das Modewort zu verwenden) dieses Buches läuft eben eher auf Girlanden, Gloriolen und Heldentaten hinaus. Freilich: Zwischenzeitliche tragische Momente passen hinein, sie verleihen ja den Siegen zusätzliche Tiefenschärfe.

Den in den letzten Jahren vielfach erfreulich verfeinerten und oft wunderbar ironisierten Fußballdiskurs (besonders gepflegt von der Zeitschrift „11 Freunde“, von Arnd Zeigler etc.) wird man vielleicht hie und da vermissen, aber derlei geistreiches Funkeln gehört wohl auch nicht in ein solch offizielles Buch und hat anderweitig Platz.

Immerhin ergeben die Textbeiträge und die Fotoauswahl ein doch recht großflächiges Gesamtbild, das deutlich über das Nationalteam hinaus reicht und z. B. auch die Entwicklung der Bundesliga, des Vereinsfußballs oder der Fankultur in den Blick nimmt. Weitere (kurze) Kapitel handeln beispielsweise von Frauenfußball, dem Fußball in der einstigen DDR, von Fußball und Kultur oder gar von der Basis des Sports, hier in Gestalt der C-Junioren des Essener Clubs Fortuna Bredeney. Pflichtgemäße Gespräche mit den deutschen Kickergrößen Uwe Seeler, Franz Beckenbauer, Lothar Matthäus und Philipp Lahm kommen sozusagen erschwerend hinzu.

So weit, so kreuzbrav und verbandsfromm. Aber wer will denn auch nachträglich mit errungenen Titeln hadern? Da meckert man doch (als einer von zig Millionen Bundestrainern) lieber zum Exempel ganz aktuell über die „unmögliche“ Aufstellung, die Jogi Löw jetzt gegen die Ukraine…

Manuel Neukirchner (Hrsg.): „Mehr als ein Spiel. Das Buch zum Deutschen Fußballmuseum“. Klartext-Verlag, Essen. 258 Seiten. 19,95 Euro.




Appetithäppchen aus der Fremde – Dennis Gastmanns „Atlas der unentdeckten Länder“

Atlas der unentdeckten Länder Wenn es einer schwer hat in der durchkarthographierten, digitalisierten Welt des 21. Jahrhunderts, dann ist es der Entdecker und Abenteurer. Die Welt ist vermessen, ganz bequem kann man vom Schreibtischstuhl aus per Mausklick allüberall hinreisen. Was also tun, wenn man im Herzen ein Entdecker und Abenteurer ist?

Der Journalist Dennis Gastmann ist so einer, getrieben von der Sehnsucht nach Freiheit und Abenteuer, will er so schnell nicht klein beigeben. Natürlich weiß er, „dass alle Länder dieser Welt längst entdeckt worden waren“, er weiß „aber auch, wie unerreichbar manche von ihnen scheinen.“ Also macht er sich auf und sucht „das Unbekannte, verborgene Königreiche, verbotene Berge, ferne, vergessene, magische Orte“ wie die tausendjährige Mönchsrepublik Athos. Er überwindet Berge und Ozeane, aber auch ungezählte „bürokratische Schützengräben“. An all dem lässt er den Leser in seinem „Atlas der unentdeckten Länder“ teilhaben.

Unter Haien und in der Wüste

Eingerahmt von sorgfältigen Schwarz-Weiß Illustrationen, die Details aus den Geschichten zeigen, erzählt Gastmann in seinen Reportagen von versinkenden Inseln wie dem einstigen Zufluchtsort der Bounty-Meuterer Pitcairn und von deren eigenwiligem Autarkie-Verständnis. Er taucht mit Haien, kämpft gegen Sandstürme in der Wüste und wandelt auf den Spuren von Tom Hanks, als er tagelang in einem Flughafenterminal kampiert.

Wenn es nicht anders geht, arrangiert sich Gastmann für seine Reise auch mit Staatsformen, die durchaus als mafiös zu bezeichnen sind (und das ist noch wohlwollend). Immerhin kann er von sich sagen, die Gastfreundschaft der Karakalpakstaner genossen zu haben. Ihm ist kein Weg zu weit, um seine journalistische Neugier und seine Entdeckerfreude zu stillen.

Sehnsucht nach dem Abenteuer

Aber was genau er bei all dem herausfinden will, wird nicht ganz klar. Die einzig klare Intention ist es, Abenteuer zu erleben, alles andere bleibt im Ungefähren.

Dennis Gastmann ist ein deutscher Reise-Schriftsteller und Moderator, eine erste größere Öffentlichkeit erreichte er mit gleichermaßen witzigen wie entlarvenden Beiträgen für das Satiremagazin „Extra3“, in dem Gastmann in die Rolle der renitent penetranten Reporterfigur „Dennis“ schlüpfte. Gastmann bezeichnet sich selbst als Gonzo-Reporter. Diese Form von Journalismus charakterisiert sich durch die Berichterstattung aus subjektiver Sicht des Autors, der sich und seine Erlebnisse selbst in Beziehung zum Thema setzt.

Und genauso subjektiv muss man sich auch an die Lektüre dieses Buches begeben. Dennis Gastmann geht es allenfalls am Rande um die Vermittlung von Wissen, Vorwissen wird sogar vorausgesetzt. Besser man hat bei Lektüre immer ein Nachschlagewerk der Wahl zur Hand. Oder ein kleines, feines Kulturportal mit Bildungsanspruch – dann weiß man zumindest im Kapitel über Ladonien, worüber genau der Autor da gerade so wehmütig sinniert.

Schmaler Erkenntnisgewinn

Gastmann ist unbestritten ein sehr genauer Beobachter. Umso bedauerlicher, dass er von seinem mühevollen Reisen meist nur Mikro-Ausschnitte wiedergibt. Letzten Endes ist sein Buch nicht mehr als eine Sammlung von zwar amüsanten flott geschriebenen Anekdoten, deren Erkenntnisgewinn aber marginal ist und sich auf Urteile wie „Wilhelm Bligh, der cholerische Kapitän der Bounty, war ein überforderter CEO“ beschränkt.

Wer vorherige Werke von Gastmann wie beispielsweise seinen Ausflug in die „Geschlossene Gesellschaft“ der Superreichen kennt, vermisst auch die leichte Prise Boshaftigkeit, die seine Werke sonst oft begleiteten. Das geht einerseits in Ordnung, weil er mit viel Respekt auf die schaut, denen er begegnet. Andererseits fehlt aber der kritische Blick auf soziale und politische Mißstände. Den muss sich der Leser schon selbst aus erwähnten Versatzstücken zusammenklauben.

Meinung wird schmerzlich vermisst

Schon beim Titel empfindet man leichte Irritation – das Werk enthält weder genauere Ortsbeschreibungen noch wenigstens eine Karte, die den Titel Atlas rechtfertigen würde. Und dieses Gefühl der Irritation bleibt. Wenn man sich als Leser auf Reisereportagen einlässt, dann will man doch etwas lernen, etwas Neues erfahren. Anekdoten wie die gebotenen bekommt man auf jeder Familienfeier und da ist es irgendwo auch egal, ob sie vom öffentlichen Nahverkehr am Chiemsee oder in Palästina handeln.

Nun könnte man argumentieren, dass die Berichte über unterschiedlichen Lebensstile immerhin die Frage aufwerfen, was uns das über den Rest unserer durchorganisierten Welt sagt. Auch Gastmann stellt diese Frage, aber er geht ihr auch nicht im Ansatz nach. Da ist er – Gonzo hin oder her – klassicher Journalist. Er berichtet und fertig. Dabei wäre die Meinung desjenigen, der wirklich vor Ort war, schon interessanter gewesen als die Meinung, die man sich als Leser nach den servierten Häppchen selber bildet.

Dennis Gastmann: „Atlas der unentdeckten Länder“. Illustrationen von Harry Jürgens. Rowohlt Berlin. 267 Seiten, €19,95.




Boxlegende Muhammad Ali – mythische Momente auf der Frankfurter Buchmesse 2003

Muhammad Ali (ehedem Cassius Clay), der größte Boxer aller Zeiten, ist mit 74 Jahren gestorben. Dazu ein Artikel-Auszug als kleine Erinnerung von der Frankfurter Buchmesse 2003:

Gar keine Frage: Es war d e r Auftritt der Buchmesse überhaupt. Als die Boxlegende Muhammad Ali sich endlich zeigte, drängelten sich Hunderte von Journalisten aus aller Welt. Als er dann bedächtig in einen vorbereiteten Boxring stieg und durchs Geviert zwischen den Seilen tappste, jubelte ihm die Menge der Messebesucher zu wie einem Messias.

Da könnte einer wie Dieter Bohlen tausendmal „titanenhaft“ zur Tür `reinkommen – und hätte nicht den Bruchteil jenes Schauders ausgelöst, wie er sich gestern in Frankfurt unfehlbar einstellte. Man weiß nicht, wie und warum. Doch für Sekunden fühlte man sich plötzlich, als befinde man sich näher am Herzen der Dinge. So wirkt der geheimnisvolle Stoff, aus dem wirkliche Mythen sind.

Dabei war es eine überaus zwiespältige Angelegenheit. Der schwer kranke Ali, der bekanntlich seit Jahren unter Parkinson leidet, kann sich gleichsam nur noch in Zeitlupe regen – welch ein betrüblicher Kontrast zu seinen großen Boxerzeiten! Dennoch hat man ihn zwecks Werbung für ein sündhaft teures Huldigungsbuch eingeflogen. Es war gewiss eine Strapaze, als die zahllosen Kamera-Teams ihn und seine Frau zu immer neuen Posen animierten: Fäuste ballen, Küsschen geben usw. Doch vielleicht hat es seiner müden Seele auch noch einmal gutgetan. Wie aus einer anderen Sphäre herbeigezaubert, kam das eine oder andere Lächeln auf sein Gesicht…

Mehr Rummel geht nicht. Damit verglichen hat es auch Doris Schröder-Köpf, immerhin Ehefrau des Bundeskanzlers, schwer, die Aufmerksamkeit auf ihr Anliegen zu lenken. Im Lesezelt der Buchmesse startete sie gestern mit weiteren Prominenten (Amelie Fried, Petra Gerster) die Aktion „Deutschland liest vor“…

(Der komplette Bericht stand am 10. Oktober 2003 in der Westfälischen Rundschau, Dortmund)




„Opi paddelt nach Panama“ – Komik und Poesie aus dem Grundschul-Übungsheft

Vor mir liegt ein Schreibschrift-Übungsheft für die 1. Klasse der Grundschule. Das heißt, man kann das viel gewichtiger sagen; so, wie es die Ruhrgebietszeitung WAZ gern tut, wenn sie betonen will, wie nah sie an den aufregenden Dingen dran ist: „Das Schreibschrift-Lehrbuch liegt den Revierpassagen vor…“ Klingt immer so, als hätte man sich Dokumente unter größten Recherche-Mühen besorgt. Aber ich schweife ab.

Mir geht’s eigentlich um die Poesie, die unversehens aus dem Umstand erwächst, dass man bestimmte Buchstabenfolgen eng zueinander zwingen muss, um taugliche Beispielsätze zu generieren. Sodann muss man nur alles hübsch aus dem eh nur losen linguistischen Kontext reißen, dann wird’s ziemlich komisch.

"Füchse fressen Frikadellen." - Manchmal ziehen sie aber auch arglose Hasen vor - wie hier bei Ikea in Dortmund. (Foto: Bernd Berke)

„Füchse fressen Frikadellen.“ Manchmal ziehen sie aber auch arglose Hasen vor – wie hier bei Ikea in Dortmund. (Foto: Bernd Berke)

Fügungen wie „Omi turnt an einem Ast“ und „Opi paddelt nach Panama“ klingen zwar wenig wahrscheinlich, haben aber noch eine gewisse Rest-Plausibilität für sich. Hoffentlich hat Opi keine Briefkastenfirma.

Bei „Lilo malt neun Läuse“ beginnt schon das weite Reich des Absurden und Surrealen, dessen Abglanz den Kindern gleichsam nebenher aus der Ferne gezeigt wird, wenn auch sicherlich nicht willentlich.

Angesichts der rätselhaften Aussage „Alis Laster rollt im Leim“ mögen korrekte Geister Diskriminierung wittern, doch es ist eine unschuldige Sprachübung, die nicht über ihren unmittelbaren Lernzweck hinaus weist. Obwohl Veganer den Lehrsatz „Wer will eine Wurst?“ wahrscheinlich auch als Affront betrachten. Tja, wer weiß. Später findet man ja auch noch die provokante Behauptung „Geier fressen kein Gemüse.“

„Hummeln heiraten nie.“ – „Lurche lachen nicht.“ – „Acht Chinesen tauchen.“ Das sind Feststellungen, die einfach keinen Widerspruch dulden. Es ist, wie es ist. Knallharter Realismus.

Je weiter die Übungen fortschreiten, umso mehr höherer Nonsens ist zu finden. „Mein Name ist Ente.“ – „Ich habe einen Rüssel.“ – „Ich bin ein Hosenknopf.“ – „Füchse fressen Frikadellen.“ – „Auf dem Zeh ist Zimt.“ – „Eine Nixe sitzt im Taxi.“ Nicht schlecht, wie?

Sogar die Abfalltonnen fangen an zu sprechen. Eine von ihnen sagt: „In mir ist der Müll.“ Da habe ich an Samuel Beckett denken müssen.

Aber was ist das? „Bernd bürstet seine Beine.“ Kann ich nicht bestätigen. Wirklich nicht. Nur zwei Seiten später: „Ich bin ein Brot.“ Schon wieder so eine Anspielung auf meinen Vornamen. Was soll das? Freilich bekommen auch andere ihren Spott ab: „Klara küsst einen Kobold.“

Für solche kleinen Ausrutscher entschädigen allerdings die wahrhaft dichterischen Sätze. Mal filigran: „Frankas Finken flöten fein.“ Oder vollends gewaltig: „Wale weinen in der Wüste.“

Wenn das nicht erhaben ist, dann weiß ich auch nicht.

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Alle zitierten Satzbeispiele aus: „Schreibschrift. Das Selbstlernheft in VA“. Jandorf Verlag, Brühl (8. Auflage, 2015)
(Im Schulbürokratendeutsch heißt die Schreibschrift offiziell VA = vereinfachte Ausgangsschrift).




„Nichts als gegeben hinnehmen“ – Der Schriftsteller Max von der Grün wäre jetzt 90

Unser Gastautor Horst Delkus aus Kamen (u. a. Ex-Wirtschaftsförderer von Unna, Bildhauer und Historiker) erinnert an den Schriftsteller Max von der Grün, der vor 90 Jahren geboren wurde und 2005 in Dortmund gestorben ist:

Er war ein Zugereister. Wie viele im Ruhrgebiet. Auch hat er im Bergbau gearbeitet, auf Zeche Königsborn in Kamen. Dann wurde er als freier Schriftsteller erfolgreich.

Er lebte in bescheidenen Reihenhäusern, erst in Kamen-Heeren, danach im äußersten Nordostzipfel von Dortmund, in Lanstrop. Im „alten Dorf“, in der Bremsstraße. Mit Kneipe um die Ecke, bei „Ötte“ in der „Alten Post“, wo sich heute ein Steakhouse befindet. Max von der Grün war in Lanstrop zuhause. „Leben im Ruhrgebiet“, schrieb er 1979 im „Spiegel“, „heißt für mich: Leben in einem Vorort.“ Soweit es seine Zeit zuließ, beteiligte er sich auch am kulturellen und gesellschaftlichen Leben in Lanstrop. Max von der Grün war ein Lanstroper, mit Abstand der berühmteste.

Der Schriftsteller Max von der Grün (© Pendragon Verlag/Jennifer von der Grün - https://commons.wikimedia.org/wiki/File%3AMax_von_der_Gr%C3%BCn.jpg - Lizenz:

Der Schriftsteller Max von der Grün (© Pendragon Verlag/Jennifer von der Grün – https://commons.wikimedia.org/wiki/File%3AMax_von_der_Gr%C3%BCn.jpg – Lizenz: http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/)

Rund 30 Bücher hat er geschrieben, zunächst vor allem über die Arbeit unter Tage: „Männer in zweifacher Nacht“ (1962) erschienen zuerst im katholischen Paulus-Verlag. Über „Irrlicht und Feuer“ (1963) sagte der damalige Vorsitzende der Bergarbeitergewerkschaft – und spätere Bundesarbeitsminister – Walter Arendt, das Buch sei „gewerkschaftsfeindlich“ und gehöre „verbrannt“…

Max von der Grün schrieb Gastarbeiterportraits über das „Leben im gelobten Land“ (1975). Und natürlich das Kinder- und Jugendbuch „Vorstadtkrokodile“ (1976). In „Späte Liebe“ (1982) geht es um eine Liebesromanze zwischen zwei älteren Menschen. Ein literarisches Denkmal für seine Mutter.

Früh vor Rechtsradikalen gewarnt

Nicht zu vergessen die autobiografischen Texte, zum Beispiel „Wie war das eigentlich? – Kindheit und Jugend im Dritten Reich“ (1979). Das Buch endet mit Sätzen, die heute geschrieben sein könnten: „Leider gibt es diese Unbelehrbaren immer noch. Ich fürchte, sie haben sich nie informiert oder sie wollen sich nicht informieren lassen. Über alte und neue rechtsradikale und neofaschistische Kräfte liest man heute beinahe wieder jeden Tag in den Zeitungen. Viele nehmen das nicht so ernst, weil es, wie sie meinen, nur eine kleine verschwindende Minderheit sei. Aber Hitler hat auch nur mit sieben Leuten angefangen.“ In „Flächenbrand“ machte Max von der Grün schon 1979 die Bewaffnung der Rechtsradikalen zum Thema.

1988 erschien das Bändchen „Das Revier. Eine Liebeserklärung.“ Darin steht die vielleicht beste Kurzfassung der Geschichte des Ruhrgebietes: “Es kamen Männer, sie teuften einen Schacht ab. Später kamen wieder Männer und bauten nahe des Schachtes ein Hüttenwerk. Um beides zu betreiben, brauchte man Menschen. Die Menschen aber brauchten Wohnungen. So entstanden um Schacht und Hütte Häuser, die man Zechensiedlung oder Werkswohnung nannte, so entstanden die Vororte und Kleinstädte, die letztlich zu Großstädten wuchsen, später wiederum wuchsen die Großstädte zu einer einzig großen Stadt zusammen…“

Immer wieder flocht von der Grün Erlebnisse und Bebachtungen aus seinem Vorort Lanstrop ein. Zum Beispiel in den Erzählungen von „Friedrich und Friedrike“ (1983): „Hinter der Siedlung `Neue Heimat`, in der sie wohnten, lag ein See, der vor mehr als zwanzig Jahren, als unter Tage noch Kohle abgebaut wurde, durch Bodensenkung entstanden war. Er war nicht allzu tief, aber so groß, daß im Winter, wenn der See zugefroren war, mehr als tausend Leute auf dem Eis Schlittschuh laufen konnten, ohne sich gegenseitig zu behindern. Der See war fischreich, ein Fischerverein pflegte und hegte ihn und setzte, wenn nötig, neue Brut aus: Forellen, Barsche und Aale.“

Max von der Grüns Werke wurden in über 20 Sprachen übersetzt. Allein in Deutschland erreichten seine Bücher eine Gesamtauflage von über 4 Millionen Exemplaren. Elf seiner Werke wurden erfolgreich von ARD und ZDF verfilmt.

Gegen jede Korruption

Die Protagonisten seiner Romane und Erzählungen waren – wie er selbst – Moralisten, Menschen mit einem aufrechten Gang. Korruption und Kumpanei von Gewerkschaft und Sozialdemokratischer Partei sind dort ebenso Thema wie Schilderungen des Lebens als Arbeitsloser in Zeiten, als noch niemand Hartz IV kannte. Max von der Grün beschrieb das Leben der Erniedrigten und Beleidigten, der vielzitierten „kleinen Leute“. Bedenkenswert sein Ausspruch: „Es gibt nicht nur den lesenden Arbeiter sondern auch den nicht-lesenden Akademiker“. Von der Grüns Motto lautete: „Nichts als gegeben hinnehmen.“

Geboren wurde Max von der Grün vor 90 Jahren, am 25. Mai 1926, als Sohn eines Schuhmachers in Bayreuth. Nach seinem Schulbesuch, einer kaufmännischen Lehre und drei Jahren in amerikanischer Kriegsgefangenschaft zog er 1951, weil arbeitslos, ins Ruhrgebiet. Von 1951 bis 1964 arbeitete er bis zu seinem Rausschmiss als Bergmann auf Zeche Königsborn II/V in Kamen-Heeren.

Er starb am 7. April 2005 im Alter von 78 Jahren an einer Herzerkrankung, an der er schon länger litt. Zu seiner Trauerfeier in der Friedenskirche kam so viel Prominenz nach Lanstrop wie nie zuvor. Auf seinen Wunsch erklang „I did it my way“ von Frank Sinatra.

Dortmunder Platz trägt seinen Namen

Der Verfasser dieser Zeilen regte 2006 an, die Lanstroper Straße in Dortmund-Lanstrop – eine Durchgangsstraße – in „Max-von-der-Grün-Straße“ umzubenennen. Begründung: „Der Schriftsteller Max von der Grün (1926 – 2005) zählt zu den bedeutendsten Bürgern der Stadt Dortmund, des Stadtbezirks Scharnhorst und vor allem des Stadtteils Lanstrop. Mit der Umbenennung der Lanstroper Straße in ,Max-von-der-Grün-Straße‘ wird nicht nur ein bedeutender Schriftsteller, Humanist und Aufklärer geehrt, sondern auch der Stadtteil Lanstrop und der Stadtbezirk Scharnhorst nachhaltig aufgewertet.“

Die Bezirksvertretung Scharnhorst (mit satter SPD-Mehrheit) lehnte dies am 5. Dezember 2006 ab – mit der Begründung, man solle lieber „eine Straße mit überörtlichem Charakter oder einen Platz im Zentrum der Stadt“ nach ihm benennen. Der Vorgang wurde an den Rat der Stadt Dortmund verwiesen. Wie zu erwarten, passierte erst einmal nichts. Fünf lange Jahre.

Nach kontroverser Diskussion um einen geeigneten Ort beschloss die Bezirksvertretung Innenstadt-West dann im November 2011, den „Platz“ zwischen Dortmunder Hauptbahnhof und Katharinentreppe – an dem die Stadt- und Landesbibliothek steht und wo sich vor vielen Jahren noch ein Teich befand – Max-von-der-Grün-Platz zu nennen. Das Straßenschild wurde am 20. Dezember 2011 von Jennifer von der Grün, der Witwe des Schriftstellers, enthüllt. Ein Denkmal für Max von der Grün war ebenfalls versprochen und angekündigt. Es steht dort bis heute nicht.




Bochumer Schauspielhaus als Krimi-Schauplatz

Kriminalromane, die in einer identifizierbaren Stadt oder Region spielen, gibt es inzwischen in großer Menge, und auch das Ruhrgebiet als Schauplatz böser Taten kommt nicht zu kurz. In diese Gruppe reiht sich auch der Germanist und pensionierte Lehrer Rainer Küster mit einem Bochum-Krimi ein. Diese „Schuldenspiele“ ereignen sich überwiegend im Schauspielhaus, das wir doch sonst nur als trauten Ort der schönen Künste kennen.

Schuldenspiele

Als Gast-Star hat in einer „Wilhelm-Tell“-Inszenierung ein berühmter Schweizer Schauspieler die Hauptrolle übernommen, und dieser Star ist in der Nacht nach einem seiner umjubelten Auftritte plötzlich verschwunden. Angekündigte Vorstellungen müssen abgesagt werden, Unruhe unter Kolleginnen und Kollegen und größte Besorgnis bei der Intendantin sind selbstverständlich.

Der Hauptkommissar Erich Rogalla, ein etwas mürrischer Mann aus Wattenscheid, wird mit der Untersuchung beauftragt. Er findet zunächst nur Blut auf der Treppe des Gästehauses, aber keinen Schauspieler. Erst später kommen die Leiche und Erklärungen hinzu, und entsprechend wird der zweite Teil des Buches nach und nach spannender – natürlich gibt es hier nicht die Auflösung, aber am Titel kann man schon sehen, in welche Richtung es geht.

Auch bei Rainer Küster liegt ein Reiz der Lektüre am Schauplatz. Nicht nur das Schauspielhaus, auch die genannten Straßen und Plätze Bochums und die markanten Gebäude lassen den Ortskundigen in sein eigenes Bild dieser Stadt eintauchen.

Eher störend wirkt, dass Küster mit seinem Hauptkommissar immer wieder Klischees über das Ruhrgebiet und über die Westfalen sowie Vorurteile über Theaterkultur transportiert, die der Krimi-Atmosphäre eher schaden. Man wird den Verdacht nicht los, dass hier ein Autor seine eigenen Vorstellungen projiziert. Trotzdem: Für Freunde eines recht spannenden Lokalkrimis lohnt sich dieses Taschenbuch.

Rainer Küster: „Schuldenspiele“. Universitätsverlag Dr. Brockmeyer Bochum, 272 Seten, 12,90 €. (ISBN 978-3-8196-1015-8)




Roman von Michael Köhlmeier: „Das Mädchen mit dem Fingerhut“ kämpft ums Überleben

Es ist ein faszinierender und zugleich verstörender Roman, den der Österreicher Michael Köhlmeier geschrieben hat. Er erzählt die Geschichte eines kleinen Mädchens, von dem man annehmen kann, dass es sich um ein Flüchtlingskind handelt.

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Doch es wäre viel zu kurz gegriffen, den recht schmalen Band (140 Seiten) nur als eine Sozialparabel zu verstehen. Anklänge daran sind sicherlich vorhanden, wenn „Das Mädchen mit dem Fingerhut“, vollkommen auf sich allein gestellt, irgendwo auf einem Marktplatz in Westeuropa auftaucht.

Der Onkel, der sich um sie gekümmert hat, scheint verschwunden zu sein oder die Kleine findet ihn nicht mehr. Woran es auch immer liegen mag, dass die beiden nicht mehr zusammenkommen, wird mehr und mehr zur Nebensache. Jedenfalls muss sich das Kind nun selbst durchschlagen, es übernachtet im Müllcontainer, wird schließlich von der Polizei aufgegriffen und kommt in ein Heim.

Während das Mädchen anfangs noch namenlos bleibt, ändert sich das, als es sich mit zwei Jungen anfreundet und einen Namen für sich erfindet. Die drei sind fortan ein festes Trio, das durch die Wälder streift, gern auch mal unter freiem Himmel schläft und sich seine Gedanken macht, wie es den Menschen in beheizten Häusern ergehen mag.

Köhlmeier beschreibt solche Erlebnisse in einer Art, die an Abenteuergeschichten wie „Die drei ???“ oder an Bücher von Enid Blyton erinnern. Diese Vergleiche haben wiederum auch nicht allzu lange Bestand. Spätestens, wenn Arian, Schamhan und Yiza sich entschließen, auf Diebestour zu gehen, erfährt der Roman eine deutliche Wendung.

Bevor allerdings die Geschichte mit einer folgenschweren Tat ihren traurigen Tiefpunkt erreicht, scheint es das Leben doch plötzlich mit dem Mädchen gut zu meinen. Eine Frau nimmt sie bei sich auf, worauf sich aber schon bald zeigt, dass scheinbar wohlwollende Helfer auch ihre hässlichen Seiten zeigen können. Yizas Flucht aus dem Hause ihrer vermeintlichen Gönnerin gerät allerdings zu einer dramatischen Aktion, die das Trio noch mehr aneinander schweißt und vor allem Yizas Bindung an Arian verfestigt.

Köhlmeiers wählt eine einfache Sprache mit kurzen Sätzen und oft knappen Dialogen. Bei den Figuren des Romans bleibt manches eher schemenhaft, wie beispielsweise die eigentliche Herkunft des Mädchens und der beiden Jungen. Dafür schreibt der Verfasser eher aus der Perspektive der Kinder. Eine kindliche Sicht ist das aber nicht.

Michael Köhlmeier: „Das Mädchen mit dem Fingerhut“. Hanser Verlag, München. 140 Seiten, 18,90 Euro.




Nüchterner Blick auf die Ursachen und Folgen der „Flüchtlingskrise“

Kaum ein Problemfeld ist so stark von Emotionen geprägt oder genauer mit ihnen belastet wie die sogenannte Flüchtlingskrise.

Oft naive Hilfsbereitschaft auf der einen Seite, starke Ablehnung oder nur leichte Überfremdungsängste auf der anderen Seite bestimmen die Diskussion in Europa, seitdem Millionen Menschen aus Krisen- und Armutsgebieten in die reiche Europäische Union migrieren. In dieser Situation tut eine Versachlichung, wie sie der Politikwissenschaftler Stefan Luft jetzt vorgelegt hat, sehr gut.

Fluecht

In der Taschenbuchreihe Beck Wissen fasst der bereits einschlägig mit ähnlichen Veröffentlichungen hervorgetretene Bremer Privatdozent „Ursachen, Konflikte und Folgen“ der massenhaften Wanderung von Menschen in aller Welt zusammen, natürlich mit dem Schwerpunkt der Flüchtlingsströme nach Mitteleuropa seit dem Spätsommer 2015.

Stefan Luft liefert klare Definitionen der einzelnen Migrationsgruppen und bedient sich auch zahlreicher Statistiken. Er relativiert damit so manche in der Größenordnung überschätzte Zuwanderer-Zahl. Weltweit, zum Beispiel, beträgt der Anteil der grenzüberschreitenden Migration nur 0,6 Prozent der Bevölkerung. Das soll aber auch bei Luft nicht heißen, dass die derzeitige Situation in Deutschland zum Beispiel problemlos wäre.

Der Privatdozent geht auch auf die emotionale Belastung der Bevölkerung in den Aufnahmeländern ein. Er kritisiert, dass die Politik in der EU im vergangenen Jahr trotz deutlicher Hinweise der UNO nicht rechtzeitig reagiert hat, und er sagt auch, dass ein Gelingen von Integration ganz deutlich von der Größe der zugewanderten Gruppe abhängt. Das kann man auch als Argument für eine sogenannte „Obergrenze“ lesen.

Auch auf die Rolle der Religion geht der Wissenschaftler ein, und in seinem Ausblick referiert er die Forderungen des UNHCR: Genau wie zum Beispiel in der Verteidigungspolitik müsse es dringend einen europäischen Konsens über die Aufnahme und Integration derjenigen Migranten geben, die nicht in ihre Herkunftsländer zurückkehren können oder die nicht in andere Länder umgesiedelt werden, zum Beispiel nach Kanada oder in ähnliche Zielgebiete. „Die Unterstützung durch ökonomisch starke Staaten ist in jedem Fall unumgänglich“ schreibt er, und das heißt: Es wird sehr viel Geld benötigt.

Stefan Luft: „Die Flüchtlingskrise. Ursachen, Konflikte, Folgen“. Reihe Beck Wissen, München 2016. 128 Seiten, 8,95 €




Heinz Strunks Roman über Fritz Honka – die schreckliche „Normalität“ eines Serienmörders

Schon der Name Fritz Honka erzeugt Grusel, zumindest bei allen, die schon etwas älter sind und die 70er Jahre bewusst miterlebt haben. Über den Mann, der mindestens vier Frauen ermordete und die Leichen zerstückelte, hat der Autor Heinz Strunk ein aussagekräftiges Buch geschrieben.

Der mit etwas über 250 Seiten eher schmale Band nähert sich literarisch einer Person, die aus den untersten Gesellschaftsschichten stammte und im Laufe des Lebens immer mehr verrohte. Doch der Schriftsteller Strunk scheint eigentlich weniger erklären als vielmehr erzählen und die Geschichte eines Mannes nachzeichnen zu wollen, dessen Taten die Boulevardpresse auch in allen Einzelheiten ausbreitete.

HonkaStrunk geht indes weniger chronologisch vor, sondern arbeitet meist mit Versatzstücken, die sich am Ende aber zu einem Bild zusammenfügen lassen. Sexbesessen, pervers, gewalttätig, versoffen sind alles treffende Begriffe, mit denen man diesen 1935 in Leipzig geborenen Serienmörder beschreiben könnte. Doch es gab da auch einen Fritz Honka, der sich nichts sehnlicher wünschte, als ein ganz normales Leben zu führen, mit einer Frau, mit einer Familie, mit Kindern.

Ganz nah dran, den Dingen eine Wendung zu geben, scheint er zu sein, als man ihm das Unternehmen Shell als Nachtwächter einstellt. Er erhält endlich eine Uniform, der Alltag bekommt eine feste Struktur. Der Hamburger Kiez-Kneipe „Der Goldene Handschuh“ versucht er zu entfliehen. Hier ist er Dauergast und dort wird er später seine Opfer abschleppen, samt und sonders (Gelegenheits)-Prostituierte aus dem Trinkermilieu. Doch noch ist es nicht soweit. Vielmehr versucht er ein bürgerliches Dasein zu beginnen, er besucht die touristischen Attraktionen der Hansestadt.

Recherchen in der Kiez-Kneipe

Wenn Strunk die Welt in der Wahrnehmung von Honka beschreibt, scheint dieser schrecklich normal zu sein. Doch seine Alkoholsucht in Kombination mit den seelischen und körperlichen Verletzungen, die er seit frühester Kindheit erlitten hat, bieten offensichtlich keine Chance, ganz von vorn zu beginnen. Versuche, so schimmert es durch, hat es wohl auch vorher gegeben, allerdings ebenfalls erfolglose.

Den Taten selbst widmet der Verfasser nicht allzu viel Raum, wobei er allerdings den Leser keineswegs schont, sondern durchaus die brutalen und verstörenden Details der Morde darstellt. Ohnehin sollte sich der Leser auf eine Sprache gefasst machen, die schockieren kann. Sie wirkt herb und schroff, nicht anders als die Menschen, denen man hier begegnet. Manchmal scheinen auch Sätze zunächst unverständlich zu sein. Doch man muss dann eben noch einmal ansetzen, es ist halt der Umgangston, der in diesem Milieu herrscht.

Strunk hat für sein Buch den „Goldenen Handschuh“ nach eigenem Bekunden rund 150 Mal besucht, um den Leuten von heute, aber auch speziell diesem Fritz Honka von damals nahe zu kommen. Der Serientäter unterscheidet sich dabei keineswegs von all den anderen Besuchern, die nicht in der Lage sind, dem Suff zu entrinnen. Ab und an erscheint auch der einzige Bruder, der offenbar nicht ganz so tief gesunken ist. Den Fiete (Strunk bezeichnet die Hauptfigur fortwährend mit diesem doch Vertrauen erweckenden Kosenamen) kann aber offensichtlich niemand aus der Gosse herausholen.

Dass die Kneipe nicht nur zum Ziel der gesellschaftlich total Abgestürzten geworden ist, sondern dass hier gern auch Bessergestellte auftauchen, ist ein Erzählfaden, der zweierlei verdeutlicht: Die Trinksüchtigen versinken keineswegs in einer Parallelwelt, sondern sind Teil des Alltags. Zudem zeigt sich einmal mehr, dass der Besitz von Geld keineswegs auch bedeutet, das Glück gepachtet zu haben.

Mit seinem Buch, für das der Autor umfangreiches Studium der Prozessakten betrieben hat, ruft Heinz Strunk zwar die gesellschaftlichen Debatten der damaligen Zeit in Erinnerung. Gleichzeitig konzentriert sich der Verfasser aber auch auf die juristische Aufarbeitung. Von „Persönlichkeitsabbau“ ist in dem Urteil des Hamburger Landgerichts die Rede, der sich in dem Umstand verdeutlichte, dass der Angeklagte mit den verwesten Leichen in einem Raum zusammengelebt habe.

Heinz Strunk: „Der goldene Handschuh“. Rowohlt Verlag, 255 Seiten, 19,95 Euro.