100 Jahre Fake – Dortmunder „Hartware MedienKunstVerein“ zeigt berühmte Fotofälschungen der Russischen Revolution

»Sturm auf den Winterpalast«, unretuschierte Variante und vermutetes Original des theatralen Reenactments auf dem Palastplatz, Sankt Petersburg, 1920, von Regisseur Nikolaj Evreinov u.a. (Foto: HMKV/CGAKFFD SPb, Katalognummer Ar 86597)

Die Oktoberrevolution feiert, wie wohl hinlänglich bekannt, in diesem Jahr ihren 100. Geburtstag, und gerade noch rechtzeitig ist das Thema nun auch im Dortmunder „U“ angekommen – im „Hartware MedienKunstVerein“ (HMKV), der im nämlichen ehemaligen Brauereigebäude residiert und dem man ein gerüttelt Maß an Fleiß nicht absprechen kann, auch wenn Medienkunst, zumal die hier präsentierte, manchmal keinen leichten Zugang gewährt.

Sturm auf den Winterpalast

Nun also, kuratiert von Sylvia Sasse und Inke Arns, der „Sturm auf den Winterpalast“, genauer eine Auseinandersetzung mit dem möglicherweise berühmtesten Fotodokument, das dieses Kernereignis der Oktoberrevolution zum Thema hat. Das Bild ist im „U“ gleich zweimal wandtapetengroß zu sehen, einmal als Original, einmal so retuschiert, daß es den Vorstellungen der Bolschewisten von einer in jeder Hinsicht „richtigen“ Revolution entsprach.

Riesenspektakel

Original und Fälschung? Nun, die Entstehungsgeschichte dieser und etlicher weiterer Fotografien vom Sturm auf den Winterpalast ging im Jubiläumsjahr 2017 kräftig durch die Medien, und so ist wohl relativ bekannt, daß beide Bilder das sind, was wir heute „Fake“ nennen – Fake und retuschierter Fake (ist Fake männlich, grammatisch gesehen?).

Das unretuschierte Bild entstand nämlich keineswegs 1917, sondern erst am 7. November 1920, und es war Bestandteil einer gigantischen Theaterinszenierung anläßlich des dritten Jahrestages der Revolution. Regisseur Nikolaj Evreinov (1879 – 1953) inszenierte das Spektakel vor dem Palast auf drei riesigen Bühnen, und die Zahl der Mitwirkenden schwankt je nach Quelle zwischen 60.000 und 150.000. Ein revolutionärer Film entstand, und die Revolutionäre träumten ihren Traum vom Palaststurm, den es tatsächlich – so oder so ähnlich – nie gegeben hat.

Auch „La liberté raisonnée“ von Christina Lucas  (2009) wird in der Ausstellung „Sturm auf den Winterpalast gezeigt (Foto: HMKV, Courtesy of Cristina Lucas)

Zuschauer stören

Doch Wirklichkeit läßt sich gestalten; das denkt der amerikanische Präsident, und das sahen auch schon die Bolschewisten so. Deshalb wurde der inszenierte Palaststurm – die Noch-einmal-Inszenierung, das „Reenactment“ – per Retusche passend gemacht und in den folgenden Jahrzehnten als authentisches Bilddokument verbreitet. Man entfernte einen hölzernen Regieturm aus dem Bild sowie eine große Gruppe von Zuschauern, weil eine Revolution keine Zuschauer haben darf, sondern nur entschlossen voranstürmende Kämpfer. Die putzige Bezeichnung für diese Art von Historienbild ist „Als-Ob-Reenactment“, also quasi erfundener Fake, sozusagen doppelt gemoppelt. Und warum soll uns das interessieren? und warum interessiert sich ein Museum dafür?

Lästige Wirklichkeit

Nun, weil es hier, bei diesem Weltereignis, um frühe verfremdende Eingriffe am (Modewort!) revolutionären Narrativ geht, um die Erzählung sozusagen, die sich an Wunschvorstellungen eher orientiert als an der lästigen Wirklichkeit. Die Revolution mußte ja den naturwissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten des Marxismus folgen, und die Bilddokumente hatten dies zu belegen. Und möglicherweise, aber das ist natürlich spekulativ, findet sich in diesem unseriösen Umgang mit der Wirklichkeit schon der Keim des Scheiterns. Bezüge zur Gegenwart, zu „alternativen Fakten“ und unseriösen populistischen Verkürzungen liegen auf der Hand. Doch zurück in die Ausstellung des HMKV.

Noch kein Bildjournalismus

Die Dortmunder Ausstellung reichert die Gegenüberstellung der beiden Großabzüge mit vielen detailhaften Fotografien an, Kämpfer, Barrikaden, Kampffahrzeuge usw. – links welchen von der Inszenierung, rechts welchen von der „richtigen“ Revolution. Das ist gut gemeint, offenbart aber schnell das Dilemma, daß die Fotos jener Jahre zwangsläufig fast immer Inszenierungen waren und sich ästhetisch deshalb eigentlich nicht unterscheiden. Das war der damaligen Fototechnik geschuldet, die mit Plattenkameras und wuchtigen Stativen noch wenig geschmeidig war. Ein Bildjournalismus nach heutigem Verständnis etablierte sich erst 10, 20 Jahre später.

Mit dickem Strich

Ein weiterer, großartiger Teil dieser Präsentation indes ist die Wiedergabe von Teilen des revolutionären Films Evreinovs. Vorrevolutionäre Gesellschaft, mit ganz dickem Strich gezeichnet: hungernde Arbeiter, kämpferische Bauern, Plutokraten, die hastig ihre Geldsäcke beiseite schaffen. Es galt, ein Volk, dem wenig Bildung zuteil geworden war, von einer besseren Zukunft im Kommunismus zu überzeugen; dieser Impetus wirkt redlich und rührt an.

Eine Aktion der Gruppe Chto Delat erinnert an die revolutionären Matrosen: „Palastplatz 100 Jahre danach. Film-Vortrag ,Vier Folgen von Zombie'“ (Foto: HMKV/Courtesy of Chto Delat and KOW Berlin)

Die Matrosen sind fort

Angereichert wird die Auseinandersetzung mit dem Winterpalast-Sturm durch einige aktuelle Arbeiten jüngerer Künstler, von denen zwei prominent präsentierte Videos in besonderer Erinnerung bleiben. Das eine stammt von der russischen Gruppe „Chto Delat“, was übersetzt „Was tun“ heißt.

Natürlich stand Lenins kämpferische Schrift gleichen Titels bei der Namensfindung des Künstlerkollektivs Pate, für das sich die Frage „Was tun“ stellte, als es sich auf dem Platz vor der Eremitage in St. Petersburg den alltäglichen Menschenauftrieb anguckte und sich fragte, wo denn die Matrosen geblieben seien – jene, deren Meuterei auf dem Kriegsschiff „Aurora“ am Anfang der Revolution gestanden hatten. In ihrem Video gaben sie den verschwundenen, vergessenen Kämpfern von damals gleichsam als lebenden Toten Gestalt, langsam und wortlos rückwärts den Platz beschreitend. Dabei tragen sie Transparente, auf denen nichts steht. „Palastplatz 100 Jahre danach. Film-Vortrag ,Vier Folgen von Zombie’“ ist der sperrige Titel dieses 34-Minuten-Videos, das so intensiv historische Aufrichtigkeit einfordert, im „U“ seine Deutschlandpremiere erlebt und die Auseinandersetzung mit dem Sturm auf den Winterpalast ganz hervorragend ergänzt.

Pseudo-Parlamentarismus

Das zweite Video stammt von dem Schweizer Milo Rau, der behauptet, der Welt mangle es an demokratischer Repräsentanz, um die wirklich wichtigen Probleme zu behandeln und zu lösen. Deshalb hat er sich ein handverlesenes 60-Personen-Plenum in die Berliner Schaubühne eingeladen und dort Parlament gespielt – stellvertretend für alle, „die von der deutschen Politik betroffen sind, jedoch kein politisches Mitspracherecht haben“. Eine recht autistische Veranstaltung; nur ganz leise und bar jeder Hoffnung auf Verständnis möchte man fragen, wie es denn um die Mandatierung der Abgeordneten steht, ob weltweit agierende NGOs oder die Vereinten Nationen für diesen Künstler nicht existieren. Aber das ist wahrscheinlich sinnlos. Trotzdem paßt diese Arbeit gut in die Ausstellung, weil sie den Pseudo-Parlamentarismus des untergegangenen real existierenden Sozialismus geradezu genial paraphrasiert.

So schon viel zu viel geschrieben. Deshalb muß der Aufsatz über die Winterpalast-Ausstellung jetzt mit dem Hinweis sein Bewenden haben, daß neben dem historischen Komplex insgesamt neun Arbeiten von sechs zeitgenössischen Künstlerinnen und Künstlern zu sehen sind.

Ausstellung „Die Grenze“: Taus Makhatcheva (Rußland), „19 a Day“, Photo 2014, Photograph: Shamil Gadzhidadaev (Foto: HMKV/Taus Makhatcheva)

An der Grenze zu Asien

Neben dem Winterpalast gelangt ein Ausstellungsprojekt des Goethe-Instituts zur Präsentation. Es heißt „Die Grenze“ und behandelt, geographisch wie auch kulturell, die Grenze zwischen Europa und Asien. Die ist nach dem Zerfall der Sowjetunion ja wieder deutlicher hervorgetreten, und das veranlaßte Deutschlands nationales Kulturinstitut, junge Künstler der Region zur Auseinandersetzung mit dem Thema aufzufordern.

Es entstand eine Reihe mehr oder minder origineller Arbeiten, etliche Videos zumal, die sich mit den großen und kleinen regionalen Eigenheiten und mit kultureller Identität beschäftigen. Man begegnet einem „interaktiven“ asiatischen Karaoke-Automaten, texanischen Cowboys in Fernost oder auch Sammeltassen aus Samarkand, die die Moskauer sich als Reisesouvenirs mitbrachten, die aber in einem Kombinat 70 Kilometer von Moskau entfernt gefertigt wurden.

Das Ausstellungsdesign wird beherrscht von blauen hölzernen kubischen Transportkisten mit einer Kantenlänge von etwa einem Meter, und das ist so, weil diese Kisten, wie Kurator Thibaut de Ruyter erläutert, auch für den Transport der Schau verwendet werden. An sechs Orten hat das Goethe-Institut „Die Grenze“ in diesem Jahr bereits gezeigt, Moskau, St. Petersburg, Krasnojarsk, Kiew, Tiflis, Minsk. Dortmund ist die Nummer sieben.

Und außerdem:

Noch bis 3. Dezember steht auf dem Platz vor dem „U“ ein 20-Fuß-Container, in dem der englische Künstler Sam Hopkins (Jahrgang 1979) seine Installation „Ministry of Plastic“ aufgebaut hat. Sie präsentiert in edlen Vitrinen Dinge und Scheußlichkeiten des täglichen Bedarfs und spielt mit dem Gedanken, daß der (heute als minderwertig betrachtete) Kunststoff das Gold der Zukunft sein könnte, edel und wertvoll.

Man ahnt, daß es um Recycling, Upcycling, Ressourcenschonung oder Urban Mining gehen könnte, und damit ist diese Arbeit auch schon recht vollständig erklärt. Während des Klimagipfels stand der Container übrigens vor dem Bonner Kunstmuseum; vor das Dortmunder „U“ hat ihn jetzt die „innogy Stiftung“ gestellt, die jüngst im „U“ tagte und deren Stipendiat Sam Hopkins ist.

  • „Sturm auf den Winterpalast“ und „Die Grenze“
  • Hartware MedienKunstVerein im Dortmunder U, Ebene 6, Leonie-Reygers-Terrasse, Dortmund
  • Bis 8. April 2018
  • Geöffnet tägl. 11-18 Uhr, Do+Fr 11-20 Uhr, Mo geschl.
  • Eintritt 5 Euro
  • Zur Ausstellung „Sturm auf den Winterpalast“ gibt es ein Begleitheft
  • www.hmkv.de/



Eine Begegnung mit dem großen Journalisten Georg Stefan Troller (96) – und ein verdienstvoller Verleger aus Köln

Unser Gastautor Heinrich Peuckmann über eine Begegnung mit dem vorbildlichen Journalisten Georg Stefan Troller, der inzwischen 96 Jahre alt ist. Anlass war die Verleihung des Hermann-Kesten-Preises in Darmstadt:

Diesjähriger Träger des Hermann-Kesten-Preises, gestiftet von der Autorenvereinigung PEN und vom Land Hessen, ist der Kölner Verleger Thomas B. Schumann, der in seinem Verlag Edition Memoria ausschließlich Bücher verfolgter Schriftsteller herausbringt, die vor den Nazis fliehen mussten und die nach dem Ende der Nazizeit oftmals nicht mehr die Anerkennung fanden, die sie vorher gehabt hatten.

Von links: der legendäre Journalist Georg Stefan Troller, der Verleger Thomas B. Schumann und unser Gastautor, der Schriftsteller Heinrich Peuckmann. (Foto: Tanja Kinkel)

Von links: der legendäre Journalist Georg Stefan Troller, der Verleger und Kesten-Preisträger Thomas B. Schumann und unser Gastautor, der Schriftsteller Heinrich Peuckmann. (Foto: Tanja Kinkel)

Es ist eine höchst verdienstvolle Arbeit, die Schumann da für die deutsche Literaturgeschichte leistet und die ihn oft genug an finanzielle Grenzen gebracht hat. Die Laudatio bei der Preisverleihung in Darmstadt war etwas ganz Besonderes, denn sie hielt zur Freude der Veranstalter der Fernsehjournalist Georg Stefan Troller, der, inzwischen 96 Jahre alt, extra aus Paris angereist war.

Troller ist unter den Journalisten eine Institution, sein „Pariser Journal“ im Fernsehen ist unvergessen. Der Bezug zwischen Preisträger und Laudator ist schnell geklärt. Troller veröffentlicht noch jedes Jahr ein neues Buch, gerne in Schumanns Edition. Entsprechend persönlich fiel Trollers Rede aus, in die er das Schicksal einiger der verfolgten Schriftsteller einflocht. Eingeleitet hat er sie aber mit einem schönen Zitat. Nach viel Lob bei seiner Vorstellung zitierte er seinen Vater, einen jüdischen Pelzhändler, der mal zu ihm gesagt hat: „Also Georgie, dass aus dir noch was geworden ist, ich hätte es nicht gedacht.“

Für die US-Army gegen die Nazideutschland gekämpft

Troller ist als österreichischer Jude selbst ein Opfer der Nazis, musste über die Tschechoslowakei und Frankreich in die USA fliehen, wurde dort eingezogen und kämpfte in der US-Army gegen Nazideutschland. Nach dem Krieg blieb er in Europa, fand aber, wie viele Exilierte, keinen Anschluss mehr in seiner alten Heimat und blieb daher in Frankreich. Auch dies ist ein Faktum, dass es zur Kenntnis zu nehmen gilt, genau wie die Tatsache, dass hauptsächlich im Westen die Exilautoren wenig bis gar nicht beachtet wurden, in der DDR dagegen schon.

In der Reihe seines Pariser Journals, in dem er mit sonorer Stimme seine Kommentare vortrug, hat er großartige Sendungen produziert und dabei oft verfolgte Autoren vorgestellt. Dazu gehörte Georg K. Glaser, dessen großartiger Roman „Geheimnis und Gewalt“ etwa alle zwanzig Jahre wiederentdeckt wird. Seine kommunistische Jugend schildert Glaser darin in einer großartig-kraftvollen Sprache, die an Luther erinnert. Von den Nazis wurde er in Abwesenheit zum Tode verurteilt, floh nach Frankreich, kam als französischer Soldat in deutsche Gefangenschaft, aber die Nazis fanden nicht heraus, wer dieser vermeintliche Franzose in Wirklichkeit war. Später blieb auch er in Frankreich und betrieb bis zu seinem Tod 1995 eine Silberschmiede in der Nähe der „Place de la Concorde“.

An Glasers Roman ist die Schilderung seiner Abkehr vom Stalin-Kommunismus besonders interessant, die er beeindruckend schildert. Auch entlarvt er anhand von eindrucksvollen Erlebnissen diese Ideologie. Eines der wenigen Bilddokumente über diesen völlig unterschätzten Autor hat Troller produziert.

Gespräche mit Ezra Pound und William Somerset Maugham

Troller war es auch, dem der große Ezra Pound ein Interview gab, das einzige nach Pounds vielen Jahren in der Psychiatrie. Groß war Pound in zweifacher Hinsicht, in seiner Lyrik nämlich, den Pisaner Elegien – und in seinem schrecklichen Irrtum bei seinen Hetzreden im italienischen Rundfunk für Mussolini. Wie ein solcher Autor beides zusammen bringen konnte, diese großartigen Gedichte, dazu seine absolute Hilfsbereitschaft für andere Autoren und dann die rassistischen Nazireden, wird vielleicht nie ganz zu klären sein. Troller hat er gesagt, dass er nach seinem Irrtum schweige, das sei es, was ihm übrig geblieben sei. Aber er hätte das Schweigen nicht gesucht, es sei zu ihm gekommen. Nach der Preisverleihung hatte ich Gelegenheit, mit Troller darüber zu sprechen. Eine tiefere Erklärung für Pounds Handeln hat auch Troller bis jetzt nicht.

Die ehemaligen Autorenfreunde, die Pound vor der Nazizeit hatte, haben ihn übrigens alle fallen gelassen, Ausnahmen waren William C. Williams, obwohl Pound ihn in seinen Hetzreden auch noch verleumdet hatte – und Ernest Hemingway. Was dann doch für die Menschlichkeit dieser beiden Autoren spricht.

Somerset Maugham hat Troller ebenfalls ein Interview gegeben und dabei tiefe Einblicke in sein Seelenleben gegeben. Das war halt die Stärke von Troller, dass er den Nerv seiner Interviewpartner traf und sie ihm vertrauten. Maugham, der über 80 Bücher schrieb, die fast alle Bestseller wurden, vertraute Troller an, dass er selten in seinem Leben glücklich gewesen sei. An ihm nagten bis ins hohe Alter (auch er wurde über 90) die Demütigungen aus der Jugendzeit, denn Maugham war Stotterer. Der Spott, den er als Kind deswegen ertragen musste, hat ihn lebenslang verletzt.

Wenn das Gegenüber tiefes Vertrauen fasst

Das war es, was Trollers Reportagen so einzigartig macht, der tiefe Einblick in die porträtierten Menschen. Es war seine große Kunst, sein Gegenüber so gut zu verstehen, dass der Vertrauen zu ihm fasste.

Troller ist den damaligen Verantwortlichen in den Sendern dankbar, dass sie ihm die Chance gaben, bei ihnen mitzuarbeiten. Wenigstens hier hat der Exilautor wieder Tritt fassen können. Er hat es den verantwortlichen Redakteuren mit unvergesslichen Reportagen gedankt. Troller hat sich immer dem deutschen Sprachraum zugehörig gefühlt, nur hier wieder heimisch zu werden, das hat er nicht geschafft.

So bleibt ein geteilter Blick auf Troller. Einmal die Freude über seine journalistische Arbeit und der Respekt davor, dann die Wehmut, dass solche Sendungen heute fehlen. Einen zweiten Georg Stefan Troller müsste es geben, habe ich gedacht, als ich ihm in Darmstadt begegnete. Der Original allerdings, das konnten alle Zuhörer bei der Darmstädter Preisverleihung erleben, ist trotz des hohen Alters noch erstaunlich fit. Weitere Bücher in Schumanns Edition Memoria sind bestimmt noch zu erwarten.




Operetten-Passagen (6): Rauschender Erfolg, tragischer Fall – Leben und Werk des „Operettenkönigs“ Paul Abraham

Der junge Paul Abraham auf einer historischen Fotografie.

Der junge Paul Abraham auf einer historischen Fotografie.

Vor 125 Jahren (am 2. November 1892) erblickte, wohl im ungarischen Apatin, eine der prägenden Gestalten der Berliner Operette des 20. Jahrhunderts das Licht der Welt: Paul Abraham, um dessen Leben sich zahllose Mythen und Legenden ranken, hat mit „Viktoria und ihr Husar“, „Die Blume von Hawaii“ und „Ball im Savoy“ in der kurzen Zeitspanne zwischen 1930 und 1932 drei Meisterwerke der „leichten Muse“ geschaffen, bevor er von den Nazis ins Exil getrieben wurde.

In Witten/Ruhr lebt der Journalist Klaus Waller, der seit seiner Jugend von Abrahams Musik und seinem farbigen, selbst an eine Operette erinnernden Leben fasziniert ist.

Der Autor einer Abraham-Biographie erzählt in einem exklusiven Interview mit Werner Häußner über das Leben des „tragischen Königs der Operette“.

Frage: Herr Waller, wie kam es bei Ihnen zu der Begeisterung für den Komponisten Paul Abraham?

Klaus Waller: Für heutige Ohren mag das merkwürdig klingen: In den fünfziger Jahren war es unvermeidlich, den Melodien Paul Abrahams in den Rundfunkprogrammen zu begegnen. Da ich nach dem Krieg aufgewachsen bin und ein begeisterter Radiohörer war, kannte ich alle seine Melodien. Die Filme, die nach seinen Operetten gedreht wurden, habe ich damals allerdings nicht gesehen.

Den Anstoß zur näheren Beschäftigung mit Abrahams Leben gab mir viele, viele Jahre später eine Zeitungsnotiz anlässlich einer Tourneeaufführung von „Die Blume in Hawaii“. In dieser Meldung wurde über seine psychiatrische Erkrankung in New York berichtet. Ich versuchte, mich über Abraham zu informieren, aber es gab nichts. So habe ich mir Literatur besorgt und bin in das Thema ‚reingerutscht‘.

Der Autor und Abraham-Forscher Klaus Waller. Foto: Werner Häußner

Der Wittener Autor und Abraham-Forscher Klaus Waller. (Foto: Werner Häußner)

2012 habe ich dann eine Webseite erstellt. Dort habe ich Fakten gesammelt, die durch veröffentlichtes Material zur Verfügung standen. Die Recherchen zu meinem Buch haben mir gezeigt, dass die Materialien nicht nur lückenhaft, sondern vielfach fehlerhaft waren.

Was hat Sie auf die Spur der Quellen zu Paul Abraham gebracht?

Waller: Das Nachprüfen der Informationen war ein mühevolles Geschäft. Ich entdeckte zunächst viele Widersprüche, auch in den Aussagen von Abraham selbst. Mein wichtigstes Arbeitsmittel beim Mangel an zuverlässigen Quellen war die Prüfung jeder Aussage auf Plausibilität. Die Internet-Seite eröffnete mir neue Kontakte; außerdem bekam ich neues Archivmaterial, etwa von der Franz-Liszt-Akademie in Budapest, das mir dankenswerterweise Magdolna Wiebe von der Ruhr-Uni Bochum übersetzt hat. Dabei zeigte sich: Vom ‚Wunderkind‘ Abraham, als das er sich selbst stilisiert hat, kann keine Rede sein.

Gerade die Zeit, in der Abraham in Budapest studierte und seine ersten Schritte in eine berufliche Existenz startete, liegt im Dunkel. Was haben Sie herausgefunden?

Waller: Die Merkwürdigkeiten beginnen schon mit der Geburt. Alle Quellen und auch Abraham selbst geben das damals ungarische Apatin – heute im Nordwesten Serbiens – als Geburtsort an. Aber ich fand auch heraus, dass in seiner Heiratsurkunde die dortige Kreisstadt Sombor als Geburtsort genannt wurde. Dort wiederum gibt es aber keinen Eintrag im jüdischen Geburtsregister. Abraham ist jedenfalls in Apatin aufgewachsen, wo seine Familie seit Generationen lebte.

Auch die Zeit zwischen 1923 und 1927 bleibt dunkel. Sicher ist, dass Abraham als Börsenmakler gearbeitet hat und nach einem Konkurs im Januar 1924 verhaftet wurde. Keine Belege habe ich dafür gefunden, dass er mit Jazzbands musiziert oder in Kneipen Klavier gespielt habe, wie oft berichtet wird.

1927 taucht er als Kapellmeister am Hauptstädtischen Operettentheater Budapest wieder auf, schreibt 1928 für die Operette „Zenebona“ einige Lieder und führt mit „Der Gatte des Fräuleins“ seiner erste eigene Operette auf – unter anderem mit dem späteren Ufa-Star Marta Eggerth.

Waren seine ersten Operetten erfolgreich?

Waller: Die Rezension zu „Zenebona“ füllt eine ganze Zeitungsseite. Das deutet auf einen großen Erfolg hin. Abraham steht auch als Autor der Operette im Verzeichnis des ungarischen Operettentheaters. Aber der erste internationale Theatererfolg stellte sich erst mit „Viktória“ 1930 ein. Seinen ersten Hit landete Abraham allerdings schon 1929 mit dem Lied „Bin kein Hauptmann, bin kein großes Tier“ aus dem Film „Melodie des Herzens“. Danach hat er in rascher Folge bis 1940 – zuerst in Berlin, nach 1933 in Ungarn – eine Reihe von Filmmusiken geschrieben.

Wie kam es zur Übersiedlung nach Berlin im Sommer 1930? Spielte da der Film eine Rolle?

Waller: Der näherliegende Weg aus Ungarn wäre tatsächlich der nach Wien gewesen, um das Talent aus der ‚ungarischen Provinz‘ zur Geltung zu bringen. Offenbar hatte ihn Erich Pommer nach Berlin empfohlen. Pommer, der Entdecker Marlene Dietrichs und 1930 Produzent von „Der blaue Engel“, hatte in den USA für Paramount und MGM gearbeitet und war bei der UfA als Produzent verpflichtet. Erich Pommer hatte „Melodie des Herzens“ produziert, der als erster deutscher komplett vertonter Spielfilm gilt.

Es folgten knapp drei Jahre rauschhaften Erfolgs in Berlin, bis Abraham im Februar 1933 vor dem Nazi-Terror ziemlich überstürzt aus seiner großzügigen Wohnung in der Berliner Fasanenstraße nach Budapest flüchtete. Wie waren für Abraham die Jahre in Ungarn zwischen 1933 und 1939?

Waller: Auch für diese Jahre ist die Quellenlage dürftig. Nach Auskunft von Abrahams Frau Charlotte war Budapest ihr Lebensmittelpunkt. Abraham fuhr allerdings häufig nach Wien, schrieb die Operette „Märchen im Grand Hotel“, die 1934 im Theater an der Wien uraufgeführt wurde, und landete mit „Roxy und ihr Wunderteam“ 1936 in Budapest und ein Jahr später in Wien noch einmal einen großen Erfolg. Darüber, wie seine weiteren ungarischen Operetten, die nicht übersetzt wurden, aufgenommen wurden, kann ich nicht berichten: Die dortigen Kritiken konnte ich bisher nicht einsehen.

1939 verließ Abraham Ungarn und ging über Paris in die USA. Dort erlitt er nach Jahren der Erfolglosigkeit 1946 einen völligen psychischen Zusammenbruch und verbrachte die Jahre bis zu seiner Rückkehr nach Deutschland 1956 in der Psychiatrie. Was ist über diese Zeit bekannt?

Waller: Abraham schrieb in den USA die Operette „Tamburin“ nach einem Libretto von Alfred Grünwald, die bis heute niemand kennt. Sie ist nie aufgeführt worden; das Material liegt in der Nationalbibliothek in New York. Ich kann nicht einmal sagen, bis zu welchem Grad dieses Werk überhaupt vollendet ist. Mehr würde ich gerne auch über die Jahre nach 1956 wissen, als ein Kreis von Freunden Abraham nach Deutschland zurückgeholt hat. Er kam ja zunächst in die Eppendorfer Psychiatrie, lebte danach aber mit seiner Frau in einer Wohnung in Hamburg. Sicher ist: Er wurde nie wieder in der Öffentlichkeit gesehen. Und der Erzählung nach soll er bis zu seinem Tode geglaubt haben, in New York zu sein.

Wie würden Sie Paul Abraham als Person charakterisieren?

Waller: Abraham war eine einzigartige, ausgesprochen schillernde Person.  Er war wohl äußerst gewinnend, aber auch prahlerisch. Über sein Leben hat er viele widersprüchliche, auch erfundene Angaben verbreitet. Er musste sich selbst stets größer machen, als er war. Und er lebte immer in der Angst vor dem Fall. Seine Tragik ist, dass er höher gestiegen ist, als er es sich je erträumt hätte, aber dafür auch tiefer fiel, als er sich das in seinen schlimmsten Albträumen ausmalen konnte.

Und Abrahams Bedeutung als Komponist? Woher kommt seine Aktualität, die Renaissance seiner Werke?

Waller: Wie bedeutend Abrahams Musik ist, möchte ich nicht beurteilen, da ich kein Musikwissenschaftler bin. Für herausragend halte ich seine melodische Erfindungsgabe. Abraham hat Melodien geschrieben, die nach 100 Jahren immer noch gültig sind. Er hat den Sprung geschafft aus der Walzerseligkeit der alten Wiener Operette in die Moderne mit ihren Jazz-, Show- und Folklore-Elementen.

Das Jazzige, Revuehafte seiner Operetten trifft das Herz unserer Zeit. Die Unruhe und Unsicherheit der Zeit Abrahams, die sich in seinen Werken spiegelt, scheint uns anzusprechen. Heute erkennen wir: Seine Musik ist fetzige Unterhaltung; sie muss raus aus dem Seniorenprogramm.

________________________________________________________

Im 125. Geburtsjahr Paul Abrahams gibt es an einigen wenigen deutschen Bühnen Neuinszenierungen und Wiederaufnahmen seiner Operetten:

Nach der deutschen Erstaufführung von „Roxy und ihr Wunderteam“ 2014 in Dortmund zeigt das Theater Augsburg ab 9. Dezember eine neue Produktion der Fußball-Operette. Das Theater Koblenz setzt die Aufführungsserie von „Ball im Savoy“ der letzten Jahre (u.a. in Hagen) fort und bietet bis 18. März 2018 noch 13 Vorstellungen.

Die Komische Oper Berlin, an der sich Barrie Kosky – unter anderem mit einer viel beachteten Inszenierung von „Ball im Savoy“ – sehr für Paul Abraham einsetzt, eröffnet mit einer konzertanten Aufführung von „Märchen im Grand Hotel“ am 17. und 30. Dezember eine Serie, die in den nächsten Jahren unbekannte Abraham-Operetten vorstellen soll.

Die Westfälischen Kammerspiele Paderborn zeigen ab 27. Januar in einer Regie von Ingmar Otto Abrahams Hit „Die Blume von Hawaii“. Auch in Hildesheim hat die turbulente Operette am 5. Mai 2018 Premiere; es dirigiert Florian Ziemen, der sich mit historisch-kritischen Aufführungen von Operetten einen Namen gemacht hat. Ab 27. Januar 2018 spielt das frisch renovierte Gärtnerplatztheater in München Abrahams ersten internationalen Erfolg, „Viktoria und ihr Husar“.

Zur ausführlichen Information über das Leben des Komponisten:

Klaus Waller: „Paul Abraham. Der tragische König der Operette“. 240 Seiten. Erschienen 2017 in zweiter Auflage als book on demand und für 14,90 im Buchhandel erhältlich (ISBN 978-3-7431-4328-9).

 




Helles Malz, Aroma-Hopfen, weiches Wasser: Vor 175 Jahren erfand der Bayer Josef Groll in Böhmen das Pilsener Bier

Mit dem Bier, das unsere Vorfahren vor mehr als 5000 Jahren schon im vorderen Orient brauten, haben unsere modernen Industriebiere kaum mehr etwas gemeinsam. Doch der Grundprozess des Vergärens mit Wasser, Malz, Hefe sowie würzenden und konservierenden Beimischungen – heute fast ausschließlich Hopfen – ist gleich geblieben. Eines der erfolgreichsten Biere der Neuzeit, das Pils, wurde vor genau 175 Jahren im böhmischen Pilsen von einem bayerischen Braumeister erfunden.

Vor 175 Jahren zum ersten Mal ausgeschenkt: Das Pilsner Bier ist nach wie vor die beliebteste Biersorte in Deutschland. Foto: DBB

Vor 175 Jahren zum ersten Mal ausgeschenkt: Das Pilsner Bier ist nach wie vor die beliebteste Biersorte in Deutschland. Foto: DBB

Josef Groll aus Vilshofen in Niederbayern wurde damals nach Pilsen geholt, um im neu erbauten Bürgerlichen Brauhaus ein qualitätsvolles Bier zu brauen. Am 5. Oktober 1842 setzte er seinen Sud erstmals an, am 11. November, dem Festtag des heiligen Martin, wurde das neue Bier ausgeschenkt – und überzeugte die Pilsener Bürger auf Anhieb. Dass er eine folgenreiche Bier-Erfindung gemacht hatte, dürfte Josef Groll damals noch nicht bewusst gewesen sein.

Schlankes Bier mit goldgelber Farbe

Noch heute ist die historische Sudpfanne im Museum auf dem Gelände der riesigen Brauerei von „Pilsner Urquell“ erhalten. Josef Groll braute sein Bier nicht wie die Pilsner Hausbrauer vorher mit obergäriger, sondern mit untergäriger Hefe. Sie heißt so, weil sie sich nach dem Gärvorgang am Boden des Gärbottichs absetzt.

Josef Groll auf einem Foto vor 1887.

Josef Groll auf einem Foto vor 1887.

Das untergärige Brauverfahren ist erst seit dem 15. Jahrhundert bekannt. Es braucht niedrige Temperaturen und war deswegen nur in den Wintermonaten oder mit dem aufwändigen Einsatz von Natureis möglich. Groll hatte in der väterlichen Brauerei bereits mit der untergärigen Methode experimentiert, die sich in Bayern seit Beginn des 19. Jahrhunderts zunehmend verbreitete.

Für sein neues Bier verwendete Groll ein nur leicht gedarrtes, sehr helles Malz und den aromareichen Saazer Hopfen. Entscheidend für den Geschmack ist auch das weiche Wasser Pilsens. Das feine, spritzige Bier mit seiner goldgelben Farbe und seiner weißen Schaumkrone, der bitter-aromatischen Hopfennote und seinem abrundenden, leicht karamellartigen Malzton kam außerordentlich gut an. Groll selbst verlor bereits 1845 seinen Posten, angeblich wegen seiner rüpelhaften „bairischen“ Manieren, sein Bier jedoch begann einen Siegeszug durch die ganze Welt.

Ein historisches Etikett für das Pilsner Urquell. Bild: Asahi Brands Europe

Ein historisches Etikett für das Pilsner Urquell. Bild: Asahi Brands Europe

Verbesserte Kühl- und Lagermethoden und die Ausbreitung der Eisenbahn begünstigten die Verbreitung. Das „Pilsner Bier“ – zunächst nur eine Herkunftsbezeichnung – wurde zum Exportschlager, erreichte 1863 Deutschland und später Großbritannien und Nordamerika. 1913/14 wurden erstmals über eine Million Hektoliter gebraut. Heute produziert Plzeňský Prazdroj rund zehn Millionen Hektoliter und exportiert in 60 Länder. Seit 2016 ist die Brauerei im Besitz eines japanischen Konzerns.

Durchbruch in Berlin und im Ruhrgebiet

Sehr bald fanden sich Nachahmer des erfolgreichen neuen Biertyps, zunächst in Nordböhmen, dann in Sachsen. In Bayern war wohl die Fürther Brauerei Geissmann der Vorreiter, der zum ersten Mal „Bayrisch Pilsner“ anbot. Vor allem in Franken fasste das Pilsener schnell Fuß.

Zum deutschlandweiten Durchbruch verhalfen dem neuen Biertyp allerdings die Preußen: In Berlin, später auch in den großen industriellen Brauzentren im Ruhrgebiet verbreitete sich der schlanke, helle Biertyp mit seiner bitteren Hopfennote rasch. Das „Pils“ wandelte sich von der Herkunfts- zur Sortenbezeichnung. Die Pilsener Brauer versuchten, diesen Prozess zu verhindern. Doch ihre Unterlassungsklage gegen eine Münchner Brauerei hatte keinen Erfolg: 1899 genehmigte ein Gericht die Sortenbezeichnung „Pilsener“.

Wichtiger Bestandteil des Pilsner Urquells ist der Saazer Aromahopfen. Foto: Asahi Brands Europe

Wichtiger Bestandteil des Pilsner Urquells ist der Saazer Aromahopfen. Foto: Asahi Brands Europe

Im Norden Deutschlands, aber auch im Ruhrgebiet und in Westfalen ist „dat Pilsken“ nach wie vor das gängigste Bier, obwohl sich fast alle Brauereien mittlerweile mit mehr Vielfalt auf den veränderten Geschmack der Biertrinker einstellen.

In Deutschland kommen nach Angaben des Deutschen Brauer-Bundes etwa 53 Prozent des Bierausstoßes von gut 96 Millionen Hektolitern (2016) als Pils auf den Markt. Damit liegt das Pils weit an der Spitze vor dem Export (rund 9 Prozent) und dem Weizenbier (rund 8 Prozent). In Bayern dagegen ist Pils nur eine Biersorte unter anderen – hier haben das Münchner Helle, das traditionelle dunkle Bier, das Weizenbier, das Märzen und Spezialbiere wie das Nürnberger Rotbier oder das Bamberger Rauchbier ihre treue Anhängerschaft.

Vilshofen würdigt den Bier-Pionier

Josef Groll starb am 22. Oktober 1887 in Vilshofen. Lange war über sein Leben kaum etwas bekannt, nun rückt sein Heimatort den Bier-Pionier wieder etwas mehr ins Licht der Öffentlichkeit: Im Juli 2017 eröffneten dort die „BierUnterwelten“ in einem erst vor kurzem wiederentdeckten Felsenkeller mit einem 90 Meter langen Gewölbegang. Zu einem Ausstellungsraum restauriert, informiert diese Unterwelt über alles rund um die Wirtshauskultur, die städtische Brauereigeschichte und den berühmten Sohn Vilshofens, Josef Groll. Der Rundgang endet in der Wolferstetter Brauerei, in der ein Teil der früheren Groll’schen Brauerei aufgegangen ist und die mit einem „Josef Groll Pils“ an den Braumeister erinnert.

Holzfässer im Brauereikeller in Pilsen. Foto: Asahi Brands Europe

Holzfässer im Brauereikeller in Pilsen. Foto: Asahi Brands Europe

In Pilsen lässt sich das Prazdroj heute noch unfiltriert und nicht pasteurisiert aus dem riesigen Holzfass im historischen Lagerkeller genießen. Auch in der Bierstube „Na parkanu“ beim Brauereimuseum wird der traditionsreiche Gerstensaft in dieser ursprünglichen Form ausgeschenkt – und die Pilsener sind stolz, den Geschmack so erhalten zu haben, wie ihn Josef Groll 1842 entwickelt hat.

Bis heute, so heißt es, wird ein Abkömmling des Hefestamms verwendet, den Groll damals mitgeführt hat. Allerdings gibt es in Pilsen noch eine andere Tradition: Ihr zufolge soll Groll schon 1840 als Lohnbrauer in Pilsen tätig gewesen und seinen Sud eingebraut haben. Die Hausbrauerei Groll Pivovar erinnert an diese Geschichte – ob Wahrheit oder Legende, wird sich wohl nie mehr entscheiden lassen.




Gedenktag von großem Gewicht: Im nächsten Jahr werden wir an die 1918 ausgerufene Weimarer Republik erinnert

Gedenktage gibt es ja mittlerweile in Unmengen, und dank Wikipedia kann man sich für jeden Tag des Jahres ein Gedenken aussuchen. Allerdings sind diese Anlässe nicht alle in ihrer Bedeutung gleichwertig, und deshalb ist ihre historische und faktische Einordnung auch die Aufgabe guten Journalismus‘.

Grabmal der beiden 1920 im Kapp-Putsch erschossenen Männer aus Ennepetal. (Foto Pöpsel)

In diesem Jahr sind besonders drei historische Ereignisse hervorzuheben, weil sie nachhaltige Auswirkungen hatten. Das ist zum einen Martin Luthers Anti-Papst-Handlung vor 500 Jahren, die inzwischen fast bis zum Überdruss erörtert wurde.

Das Zweite Ereignis von Bedeutung war vor hundert Jahren, im Sommer 1917, der Eintritt der Vereinigten Staaten von Amerika in den Ersten Weltkrieg und damit die Wende zur endgültigen Niederlage der deutschen Reichswehr.

Als Drittes muss man die Oktoberrevolution 1917 in Russland nennen, die letztlich in der mörderischen Stalin-Diktatur endete und in deren Folge später die DDR entstand – ein erst 1989 überwundener undemokratischer Polizeistaat.

Und wo bleibt das Positive? Das kommt bestimmt im nächsten Jahr, denn dann können wir den Beginn der ersten echten Demokratie auf deutschem Boden vor einhundert Jahren feiern, die von den Sozialdemokraten am 9. November 1918 ausgerufene Republik, die später wegen des Tagungsortes des Parlaments „Weimarer Republik“ genannt wurde.

Die SPD bereitet sich auf Bundesebene bereits auf das Jubiläum vor – schließlich spielte sie damals die Hauptrolle, und ihr Vertreter Friedrich Ebert wurde der erste Reichspräsident.

Auch auf regionaler Ebene gibt es historische Forschungen, zum Beispiel über das Wirken der Arbeiter- und Soldatenräte, die sich im Laufe der Novemberrevolution bildeten und die Anfang 1919 gewaltsam ausgeschaltet wurden.

In Großstädten wie Dortmund bestimmten die Räte wochenlang das öffentliche Wirken, in Kleingemeinden findet man nur Randnotizen über ihre Arbeit. Im Protokollbuch der Gemeindevertretung Milspe zum Beispiel, heute Teil der Stadt Ennepetal, gibt es nur einmal eine Eintragung vom 18. November 1918, als neben den Gemeindevertretern auch der spätere Reichstagsabgeordnete Walter Öttinghaus „als Arbeiter- und Soldatenrat“ das Sitzungsprotokoll mit unterschrieb.

Die neue demokratische Republik war natürlich gefährdet, und als im März 1920 mit dem Kapp-Putsch der Angriff von rechts begann, gab es auch im Ruhrgebiet zahlreiche Tote. Zwei junge Männer aus Milspe, Max Fuchs und Artur Klee, wurden bei Kämpfen mit den Putschisten am Bahnhof in Remscheid erschossen. Die Gemeindevertretung ließ sie in einem Ehrengrab bestatten, und als Rechtsnachfolgerin hat sich auch die Stadt Ennepetal zur weiteren Grabpflege verpflichtet – als sichtbares Zeichen für eine Demokratie, die mit der Ausrufung der Republik in Berlin vor beinahe 100 Jahren begann und die mit der NS-Diktatur schon 1933 ihr Ende fand.




Gott, der Konsum, Kafka, das Kino und die Tiere – ein paar Buch-Hinweise, ganz en passant

Es muss nicht immer die ausufernde Einzel-Rezension sein. Hier ein paar knappe Buch-Hinweise, gleichsam en passant; damit die kostbare Zeit nicht beim Lesen der Kritik verrinnt, sondern dem Buch vorbehalten bleibt:

Götterdämmerung und Glaubenswille

Der wohl prominenteste Philosoph der Nation (wenn man von Jürgen Habermas absieht und Richard David Precht gar nicht in Erwägung zieht) heißt Peter Sloterdijk, er wurde zuerst mit seiner legendären „Kritik der zynischen Vernunft“ weithin bekannt und ist nun nicht nur bei Gott, sondern „Nach Gott“ angelangt.

Doch mit einem bloßen Abgesang auf Gott gibt er sich keineswegs zufrieden. Ein zentraler Gedankengang: Auch nach Nietzsches berühmtem Diktum, dass Gott tot sei, sei die Geschichte der Menschheit mit „ihm“ noch lange nicht ans Ende gekommen. Der verstorbene Weltenlenker schaue uns neidisch beim Sein zu, bedaure uns jedoch auch. Nanu, sollte er also doch irgendwie existieren?

Sloterdijk untersucht Gottesbilder diverser Epochen und Kulturen. Eindeutige Resultate sind dabei schwerlich zu haben. Sloterdijk fasst nicht zuletzt auch die Gegenbewegung zur Götterdämmerung und zur Säkularisation, nämlich den „Willen zum Glauben“, in den Blick.

Peter Sloterdijk: „Nach Gott“. Suhrkamp Verlag, 364 Seiten. 28 Euro.

_____________________________________________________________

Wir haben Dinge, die Dinge haben uns

Dieses wuchtige Buch kündet von der „Herrschaft der Dinge“. Der heute in London wirkende Geschichtsprofessor Frank Trentmann (vormals Hamburg, Harvard, Princeton und Bielefeld) unternimmt nichts weniger, als die aufregende Geschichte des Konsums seit dem 15. Jahrhundert nachzuzeichnen.

Zwischen dem China der Ming-Zeit, italienischer Renaissance und Globalisierung habe die käufliche Dingwelt zunehmend alle Verhältnisse dominiert, so dass heute z.B. ein Deutscher im Schnitt zehntausend Gegenstände besitzt – fürwahr eine imposante bis bestürzende Zahl. Man könnte (mit Blick auf Sloterdijks oben vorgestelltes Buch) durchaus meinen, die Objekte hätten Gott ersetzt. Haben wir die Dinge, oder haben die Dinge uns?

Lang ist’s her, dass die „Achtundsechziger“ den „Konsumterror“ geißelten und verweigern wollten. Sie haben den Kampf wohl verloren – und ausgerechnet der Hedonismus mancher Leute aus ihren Reihen hat dafür den Boden bereitet. Heute wird rund um die Uhr geshoppt.

Anhand zahlloser Beispiele geht es in Trentmanns Wälzer ebenso um exzessiven, entgrenzten Konsum wie um allmähliche Geschmacks- und Genussbildung. Und natürlich spielen auch die Folgen des alles und jedes verbrauchenden Lebensstils für die Erde eine zentrale Rolle, wie denn überhaupt die Entwicklungslinien der Historie auch bedrohlich auf die Zukunft verweisen.

Ein weit ausgreifendes, voluminöses, ebenso detailfreudiges wie gedankenreiches Werk zur Alltags- und Wirtschaftsgeschichte, das beim Großthema Konsum einen Standard für künftige Debatten setzen dürfte.

Frank Trentmann: „Herrschaft der Dinge. Die Geschichte des Konsums vom 15. Jahrhundert bis heute“. Deutsche Verlags-Anstalt (DVA), 1104 Seiten, 40 Euro.

_____________________________________________________________

Als Franz Kafka ins Kino ging

„Im Kino gewesen. Geweint.“ Wohl jeder halbwegs ambitionierte Kinogeher dürfte diesen berühmten Satz von Franz Kafka wenigstens einmal gehört oder gelesen haben. Viel intensiver hat man sich dann freilich nicht mit Kafka und dem Kino befasst. Ganz anders der Filmschauspieler, Regisseur und Essayist Hanns Zischler, der sich seit rund 40 Jahren wie kein anderer in den Themenkreis vertieft hat.

1996 ist Zischlers Buch „Kafka geht ins Kino“ erstmals herausgekommen. Schon damals hat es Maßstäbe gesetzt und das Kafka-Bild um eine vorher ungeahnte Dimension bereichert. Zischler hat sehr penibel rekonstruiert, wann Kafka welche Filme gesehen hat und wie er sich dazu geäußert hat. Und wer wollte bezweifeln, dass Kafkas recht häufige Kinobesuche auch sein Schreiben mitgeprägt haben?

Die jetzige, noch einmal wesentlich erweiterte und reichhaltig illustrierte Neuauflage, geht auf den seither grundlegend veränderten Stand der Kafka-Forschung ein. Überdies sind die Filme, die Kafka kannte, durch Restaurierung und Digitalisierung inzwischen ungleich besser verfügbar, so dass dem Band auch eine einschlägige DVD beigegeben werden konnte.

Manche Stummfilme, die 1996 als verschollen galten, wurden inzwischen ans Licht geholt und sind wieder greifbar. Auch Programme, Fotos und Plakate ergänzen die deutlich verbesserte Quellenlage. Doch auch nach all den neuen Funden sieht Zischler die Arbeit am Thema noch nicht als abgeschlossen an…

Hanns Zischler: „Kafka geht ins Kino“. Galiani, Berlin. 216 Seiten. Mit DVD. Zahlreiche Abbildungen. 39,90 Euro.

_____________________________________________________________

Mit Tiermeldungen auf menschlichen Spuren

Die aus Wien stammende Schriftstellerin Eva Menasse sammelt seit vielen Jahren mehr oder weniger kuriose Tiermeldungen – beispielsweise über Raupen, die ihr eigenes Grab schaufeln oder über Bienen und Schmetterlinge, die gelegentlich die Tränen von Krokodilen trinken. Außerdem als Anreger für Erzählstoff tätig: Igel, Schafe, Opossum, Haie, Schlangen und Enten.

Frau Menasse sammelt freilich nicht einfach drauflos, sondern lässt sich durch derlei kurze Mitteilungen auf die Spur menschlichen Verhaltens in existentiellen Situationen bringen. Das ist nicht minder denkwürdig und zuweilen grotesk, traurig oder tragisch.

So scheint eine Gattung die andere zu spiegeln. Doch so leicht wie ehedem die lehrreichen Tierfabeln gehen die (Ver)gleichungen selbstverständlich nicht auf. Auch nähren sich die Geschichten nicht etwa von falscher Vermenschlichung und schon gar nicht von Verniedlichung der Tiere.

Schillernde Mehrdeutigkeiten eignen sich ja auch viel eher für Romane und Erzählungen. Und so haben wir hier eine anregende, durchaus mit erhellendem Witz gewürzte Lektüre – auch, aber nicht nur für Fortgeschrittene.

Eva Menasse: „Tiere für Fortgeschrittene“. Erzählungen. Kiepenheuer & Witsch. 320 Seiten. 20 Euro.




Aus der Hammer Wunderkammer – Museum zeigt Querschnitt durch die Sammlung seines Namensgebers Gustav Lübcke

Sie haben am Ende gar nicht mehr genau nachgezählt. Ungefähr 500 Exponate sind jetzt in einem großen Saal des Hammer Gustav-Lübcke-Museums zu sehen. Doch gemach, man schafft das Pensum in ein bis zwei Stunden: Denn zur imposanten Anzahl der Exponate tragen auch etliche Vitrinenobjekte wie Münzen, Kunsthandwerk (Gläser, Keramik) oder kleinteilige archäologische Fundstücke bei. Der Namensgeber des Hauses, Gustav Lübcke (1868-1925), hat nach dem Wunderkammer-Prinzip gar vieles erworben, was dem gehobenen Bürgertum seiner Zeit zusagte. Ein wahres Sammelsurium.

Auch Heiligenfiguren hat Gustav Lübcke gleichsam en gros gesammelt. (Foto: Bernd Berke)

Auch Heiligenfiguren hat Gustav Lübcke gleichsam en gros gesammelt. (Foto: Bernd Berke)

„Hereinspaziert!“ lautet der etwas unbedarft und geradezu circensisch klingende Titel der Ausstellung, die einen historischen Anlass hat: Fast genau 100 Jahre ist es nun her, dass die Stadt Hamm Gustav Lübcke diese denkbar breit gefächerte Kollektion als gesamtes Konvolut abgekauft hat. Im April 1917 wurde der Vertrag aufgesetzt.

Im Gegenzug erhielt der in Düsseldorf ansässige Antiquitätenhändler, der hinfort in seine Geburtsstadt Hamm zurückkehrte, eine lebenslange Jahresrente von 6000 Mark – damals eine passable bis ordentliche Summe. Nach Lübckes Tod erhielt seine 20 Jahre ältere Frau Therese geb. Nüsser (1848-1930) die Rente weiter. Beide hatten sich für Hamm entschieden, weil sie die Sammlung in den Wirren des Ersten Weltkriegs in Düsseldorf stärker bedroht sahen.

Gestrenge Dienstanweisungen 

Praktischerweise ließ sich Lübcke, eigentlich gelernter Buchbinder, 1917 gleich auch zum ersten Direktor der nach Hamm umgezogenen Sammlung ernennen und verfügte, dass ein künftiges Museum seinen Namen tragen solle. Eingangs der jetzigen Rückschau findet sich eine seiner strengen Dienstanweisungen, die zur Wachsamkeit vor Kunstdieben auffordert (auf Menschen mit weiten Mänteln achten!) und die tägliche gründliche Reinigung seines Arbeitsbereichs anordnet. Der Tonfall ist recht barsch und unduldsam. Ob Lübcke ein angenehmer Chef gewesen ist?

Unsigniert und namentlich nicht zuzordnen: filigraner Scherenschnitt "Leichenzug der Tiere". (© Gustav-Lübcke-Museum / Foto: Bernd Berke)

Unsigniert und namentlich nicht zuzuordnen: filigraner Scherenschnitt „Leichenzug der Tiere“. (© Gustav-Lübcke-Museum / Foto: Bernd Berke)

Und was hat der Mann gesammelt? Nun, wie schon angedeutet: alles Mögliche. Neben den stichwortartig erwähnten Beständen zählen beispielsweise auch wertvolle alte Möbel (Truhen, Schränke etc.), Heiligenfiguren und weitere sakrale Kunst, Scherenschnitte, Malerei (Düsseldorfer Schule, niederländische Genrebilder aus der „zweiten Reihe“ des 17. Jahrhunderts), Schnupftabaksdosen, ägyptologische Objekte, koptische (also christliche) Kunst aus Altägypten und kostbare Bücher zum Gesamtumfang, der in die zigtausend Stücke gehen dürfte.

Immer noch keine Inventarlisten

Und so hat sich in all den vielen Jahrzehnten bisher niemand gefunden, der es geschafft hätte, auch nur halbwegs komplette Inventarlisten zu erstellen. Die jetzige Ausstellung, kuratiert von Diana Lenz-Weber, die immerhin ein paar Schneisen durchs Dickicht geschlagen hat, könnte ein Anstoß zur Katalogisierung sein. Erstmals überhaupt befasst man sich so eingehend mit den Hinterlassenschaften Lübckes. Doch um eine präzise Erfassung der Bestände zu bewerkstelligen, bräuchte man mehr Personal, das möglichst eigens dafür eingesetzt wird. Hoffen darf man ja, es kostet nichts.

Tiroler Truhe aus dem 15. Jahrhundert, darüber zwei Gemälde von Adriaen van de Venne (17. Jhdt.). (Foto: Bernd Berke)

Eine mächtige Truhe, darüber zwei Gemälde von Adriaen van de Venne (17. Jhdt.). (Foto: Bernd Berke)

Man wird in dieser Retrospektive keine Sensationen finden, aber doch einen soliden, bewahrenswerten Grundstock, der freilich zu weiten Teilen etwas „altfränkisch“ anmutet. Schon zu seiner Zeit gehörte Gustav Lübcke nicht zu den Leuten mit avantgardistischen Neigungen. Spätimpressionistische Ausläufer sind schon das höchste der Gefühle, Symbolismus und Jugendstil sucht man bereits vergebens. Lübcke hatte mit einem Mann wie Karl Ernst Osthaus, der damals von Hagen aus die neuesten Strömungen aufspürte, praktisch keine Gemeinsamkeiten – außer der westfälischen Herkunft und der schieren Sammelleidenschaft.

Konservativer Geschmack

Gustav Lübcke hat also ausgesprochen konservativ gesammelt. Ein besonders gewichtiges Stück ist z. B. jener mit Geheimfächern ausgestattete, machtvolle Tiroler Büffetschrank im gotischen Stil aus dem 15. Jahrhundert, den Lübcke damals auf einen Wert von 5000 Mark taxiert hat – annähernd seine eigene jährliche Leibrente also.

Auch die liebevoll restaurierten Stoffstücke koptischer Kunst oder allerfeinstens ausgeführte Scherenschnitte („Leichenzug der Tiere“) sind mehr als einen Blick wert. Von kulturgeschichtlichem Interesse sind zudem Gemälde wie die lebensprall-derben Genrebilder eines Adriaen van de Venne („Bauerntanz“), die „Winterlandschaft“ des Anthonie (van) Beerstraaten oder Einzelbeispiele der Düsseldorfer Malerschule. Ansonsten gilt die Devise: Wer vieles bringt, wird jedem etwas bringen.

Schätze blieben lange „heimatlos“

Im Vorfeld dieser Ausstellung hat das Museum einige Restaurierungs-Aufträge vergeben können. Doch zugleich zeigte sich, dass manche Stücke höchstwahrscheinlich gar nicht mehr zu retten sind. Einige beklagenswert ramponierte Exponate sind nun – bewusst in einer zerbrochenen Glasvitrine präsentiert – beisammen. Ein Bild des Jammers. Und nebenher eine eindringliche Mahnung zum sorgsamen Umgang mit Kunst und Kunsthandwerk.

Freilich war die Sammlung lange Zeit „heimatlos“ und irrte gleichsam durch diverse, unter konservatorischen Gesichtspunkten ungeeignete Gebäude. Erst 1993 (!) wurde, mit Fertigstellung des jetzigen Museumsbaus, Gustav Lübckes Forderung nach einem eigenen Ort für seine Schätze wahr. Gut Ding will manchmal sehr viel Weile haben.

„Hereinspaziert! 100 Jahre Sammlung Gustav Lübcke“. 16. Juli (Eröffnung 11.30 Uhr) bis 15. Oktober 2017. Geöffnet Di-Sa 10-17, So 10-18 Uhr. Eintritt 5 Euro (ermäßigt 2,50 Euro). Kinder bis 15 Jahre freier Eintritt. Gustav-Lübcke-Museum, Hamm, Neue Bahnhofstraße 9. Tel.: 02381 / 17-57 14. www.museum-hamm.de




Him und Brom, Glimpf und Toffel

Doch, doch, ich erinnere mich an Momente oder gar Phasen im Studium, die wirkliche Aha-Erlebnisse beschert haben. Freilich geschah dies eher abseits vom Hauptweg.

Him und Brom, hübsch sortiert. (Foto: Bernd Berke)

Him und Brom, hübsch ordentlich sortiert. Und wer knipst nun den Glimpf? (Foto: Bernd Berke)

Zuerst aber kurz zum Zeitgeist, der damals in der Germanistik herrschte: Es war Brauch, zunächst einmal alles als bloßen und blanken Text (im Sinne eines sprachlichen Gewebes, einer Textur) zu verstehen – von der Boulevard-Schlagzeile bis zum Rilke-Gedicht, vom Flugblatt bis zum Toilettenspruch und zum Werbeslogan.

Die Parole hieß: Bloß keine grundlegenden Unterschiede, keine Hierarchien! Selbst der beste Roman wäre demnach auch nur ein textueller Sonderfall. Alles sollte herunter von den imaginären Denkmalssockeln.

Das Wort „Dichtung“ war verpönt

Man ließ es sich angelegen sein, „Texte“ noch und noch zu zergliedern, bis nur noch ein Skelett übrig blieb. Liebe zur Dichtung wurde auf diese Weise nicht unmittelbar befördert. Auch nicht mittelbar. „Liebe“ und „Dichtung“ durfte man eigentlich überhaupt nicht sagen oder denken. Das galt als hoffnungslos romantisch, bürgerlich und veraltet. Das war soooo Benno von Wiese… Bertolt Brechts „Glotzt nicht so romantisch!“ wurde derweil zu Tode zitiert. Es war die Zeit, als bei den Historikern kaum eine Seminararbeit denkbar war, in der nicht ausgiebig aus MEW (Marx-Engels-Werke) zitiert wurde. Die Herren hatten ja den Weltenlauf schon vorhergesagt…

Kafka hielt es nicht mit den Proletariern

So kamen manche, schwerstens und gröbstens linke Kommilitonen zu irrwitzigen Urteilen wie dem, dass etwa Franz Kafka es nicht ausdrücklich mit den Proletariern seiner Zeit gehalten habe und somit für den Fortgang der Historie nur von minderer Bedeutung sei. Wie denn überhaupt alle Interpretation verpönt war, die der Literatur immanent blieb und nichts sofort aufs Gesellschaftliche, am besten gleich auf den Klassenkampf abhob. Unter solchen Auspizien blieben nicht viele Schriftsteller übrig, die man gelten lassen durfte. Wie gut, dass man durch mancherlei Lektüre gegen solchen Schwachsinn „geimpft“ war – allem Zeitgeist zum Trotz.

Herz- und lieblos zergliedert wurden nicht nur kunstvolle Werke, sondern das Gerüst der Sprache selbst. Linguistik in Form der Generativen Transformationsgrammatik gehorchte eher dem mathematischen Denken und war für jeden Wortfex eine Quälerei, die just auch mit Liebe zur Sprache nichts mehr gemein hatte. Solche nichtsnutzigen Gefühle sollten einem offenbar gründlich ausgetrieben werden.

Als der Prof über Ich-Schwäche redete

Und schon komme ich zur anfangs angedeuteten Sache. Natürlich gab es in allen Fächern auch Professoren und Dozenten, die derlei engstirnige geistige Begrenzungen bei weitem überstiegen haben. Sie haben einem unverhofft unvergessliche Momente beschert. So etwa ein Dozent, der sich phantasiereich über Zeit- und Raumkonstruktionen in Romanen ausgelassen hat. Oder ein anderer, höchlich renommierter Geschichts-Professor, von dem bei mir am meisten seine Suada haften geblieben ist, unsere Generation (also die der Studenten) sei ausgesprochen ich-schwach. Darüber hätte man diskutieren sollen.

Überhaupt ist es seltsam, was man über all die Jahre hinweg so bei sich behalten hat: Das unscheinbare Beispiel mit den Him- und Brombeeren wird mir nicht mehr aus dem Kopf gehen. Isoliert man die Bestandteile Him und Brom, so hat man Silben, die im Deutschen mutmaßlich einmalig sind (wenn man mal vom chemischen Element Brom absieht).

Im Randbereich des Absurden

Wie ich gerade jetzt darauf komme? Nun, in den letzten Tagen sind mir zwei vergleichbare sprachliche Sinn- und Unsinns-Einheiten wie von selbst beigekommen. Zum einen der/die/das „Toffel“, wie es in Kartoffel und Pantoffel vorkommt – und sonst wohl nirgends, außer bei Zusammensetzungen wie Kartoffelsalat oder Pantoffeltierchen. Zum anderen wäre da der/die/das „Glimpf“, wie wir es in glimpflich oder verunglimpfen finden – und sonst an keiner Stelle.

Mit der Frage, was denn wohl „Glimpf“ und „Toffel“ besagen, gerät man in die Randbereiche des Absurden. „Glimpf“ scheint etwas glückhaft Harmloses zu bedeuten, „Toffel“ ist noch kryptischer. Wäre am Ende der Pan-Toffel ein allumfassender Toffel und die Kar-Toffel ein Trauer- oder Schmerzens-Toffel? Nee, hier wird nicht gegoogelt. Vor manchen erhabenen Rätseln sollte man demütig schweigen.

Fast möchte man wetten, dass begnadete Satiriker, Komiker und Parodisten wie Heinz Erhardt, Loriot oder Robert Gernhardt sich zuweilen mit solcherlei Fragen befasst haben. Auch der unvergessene SPD-Poltergeist Herbert Wehner hätte wohl am „Toffel“ Gefallen gefunden, hat er sich doch mit dem artverwandt klingenden (und übrigens auf Helmut Kohl gemünzten) „Düffeldoffel“ im Bundestag sprachlich verewigt. Aber das, liebe Kinder, ist eine ganz andere Geschichte.




Polemik gegen den „närrischen“ Reformator: Thomas Murner, Luthers katholischer Widersacher von Format

Unser Gastautor, der Schriftsteller Heinrich Peuckmann, über eine prägende Gestalt der Reformationszeit:

Jedes Luthergedenkjahr zeigt uns nicht Luther, wie er war, sondern ein Spiegelbild der jeweiligen Zeit. Nun also, zur 500. Wiederkehr des Thesenanschlags, der politisch korrekte Blick auf Luther, dessen Antijudaismus nicht verschwiegen oder beschönigt, sondern klar und als Makel herausgestellt wird. Immerhin.

TItelseite der Murner-Schrift "Von dem großen lutherischen Narren" (Straßßburg/Grüninger, 1522) (Public Domain/gemeinfrei)

Titelseite der Murner-Schrift „Von dem großen lutherischen Narren“ (Straßburg/Grüninger, 1522) (Public Domain/gemeinfreies Bild)

Das war zum 450. Geburtstag im November 1933 insofern anders, als die gerade an die Macht gekommenen Nazis sich in ihrem Antisemitismus auf Luther beriefen und ihn für seine Haltung lobten. Und ein Antijudaist (diese Bezeichnung zieht die Forschung dem Begriff Antisemit, was gleichbedeutend mit Rassist wäre, vor) war Luther ganz gewiss. Er stand damit in einer erkennbaren Tradition seiner Kirche, aber es stimmt nicht, dass seine Haltung aus diesem Faktum und dem Zeitgeist heraus erklärbar, schon gar nicht entschuldbar wäre. Es gab genügend Theologen (Bernhard von Clairvaux), die anders dachten, die Juden verteidigten und Pogrome verurteilten.

Antijudaische Schriften

Luthers Schrift „Jesus Christus ein geborener Jud“ verfolgte denn auch nicht die Absicht, die Wurzel des Christentums aus dem Judentum heraus aufzuzeigen und damit dem Antijudaismus jegliche Grundlage zu entziehen. Es war im Gegenteil eine an die Juden gewandte Schrift, damit sie endlich die Messianität Jesu anerkannten. Als sie das nicht taten, war Luther umso enttäuschter und wurde umso drastischer in seinen Formulierungen.

Dieser Aspekt wird nun von der Kirche offen dargestellt, etwas anderes ist auch  nicht mehr möglich. Ein anderer, spannender Aspekt taucht bisher noch viel zu wenig auf, nämlich die lebhafte Publizistik zur Zeit der Reformation, vor allem auf lutherischer Seite, dem aber auf katholischer Seite ein Franziskaner, nämlich Thomas Murner, als gleichwertig gegenüber gesetzt werden kann. Auch an ihn sollte  in diesem Jubiläumsjahr unbedingt erinnert werden.

Blüte des Buchdrucks und neue Debattenkultur

Die damals herrschende Stellung der Kirche wird durch die reformatorische Publizistik erschüttert, bisweilen sogar an den Rand gedrängt. Die Kirche des Mittelalters vertrat noch die Position des abgestuften Wissens, sie unterschied streng zwischen Geistlichen und Laien und beschränkte die theologische Diskussion auf den Kreis der Geistlichen.

Luther folgte diesem Denken anfangs, daher die Abfassung seiner 95 Thesen in lateinischer Sprache. Aber dabei blieb es nicht. Das Aufblühen des Buchdrucks eröffnete neue Möglichkeiten der Auseinandersetzung. Spätmittelalterliche Formen der Predigt und Literatur verbanden sich mit reformatorischen Inhalten und wirkten so auf die Massen, die wiederum in die Diskussion eingriffen. Dialoge wurden geschrieben und publiziert, Satiren und Parodien in teilweise erbitterter Schärfe und Polemik. Eben an Massen gerichtet und daher massenwirksam. Es fand, wenn man so will, eine Demokratisierung der Debattenkultur statt.

Die Gefahr der Kirchenspaltung

Die katholische Kirche tat sich noch lange schwer mit dieser Umstellung, aber einen, der es der reformatorischen Seite gleichtat, der die neuen Möglichkeiten ebenfalls nutzte und ihr in seinem wichtigsten Werk „Vom großen lutherischen Narren“ ebenbürtig war, hatte sie eben doch. Das war Thomas Murner.

Thomas Murner, "Cantzler der geuchmatt(en)" (Kanzler der Gauchmatt), Holzschnitt von Ambrosius Holbein, Basel 1519

Thomas Murner, „Cantzler der geuchmatt(en)“ (Kanzler der Gauchmatte), Holzschnitt von Ambrosius Holbein, Basel 1519 (Public Domain/gemeinfreies Bild)

Er wurde 1475 in Oberehnheim, heute Obernai in Frankreich, geboren, besuchte im nahen Straßburg eine Klosterschule und trat mit 15 Jahren dem Franziskanerorden bei. An verschiedenen Universitäten studierte er Philosophie, Theologie und Jurisprudenz, promovierte zum Magister der freien Künste in Freiburg und Doktor der Theologie in Krakau. Mit 22 Jahren wurde er zum Priester geweiht.

Ab 1512 erschienen seine ersten Hauptwerke, unter anderem „Die Narrenbeschwörung“, „Der Geuchmatt“ (eine Wiese der Lüstlinge – Worterklärung im Grimmschen Wörterbuch) usw., in denen er Missstände des feudalen Systems, aber auch der Kirche anprangerte. Murner war also kein betriebsblinder Verteidiger des alten Glaubens, im Gegenteil, er sah die Gefahr, in der sich eine Kirche befand, die losgelöst von den Problemen der Menschen agierte. Auch er wollte Reformen, aber er wollte eines nicht, nämlich die Spaltung.

Als dann Luther mit seinen Thesen kam, erkannte Murner schon früh diese Gefahr einer Spaltung, die die katholischen Würdenträger noch lange nicht sahen. Er bezog Stellung und nahm dafür in Kauf, was auch viele Reformatoren erdulden mussten, nämlich Verfolgung, Ausweisung, Schreibverbot und einmal, als Bauern seine Heimatstadt belagerten, Gefahr für sein Leben. Im letzten Augenblick gelang ihm die Flucht.

„Wie wohl er ganz daneben sticht…“

Schon 1522 erschien „Vom großen lutherischen Narren“. Die Schrift belegt, wie früh Murner die Gefahr für die Kirche erkannte, zu einer Zeit, als Luther wohl selber noch nicht die gesamten Folgen seines Thesenanschlags überschaute.

Zuerst ist Murner in seinem Umgang mit Luther noch sehr moderat. 1520 erschien seine Schrift „Christliche und briederliche ermanung an den hoch gelerten doctor Martino Luter“, in dem er „den herzallerliebsten Bruder in Christo“ bittet, von seinen Irrtümern abzulassen und sich wieder mit der Kirche zu vereinigen.

Luther nahm ihn anfangs nicht ernst, Murner war nur einer von vielen Gegnern. Aber als Murner nach Luthers Verbrennen der Bannandrohungsbulle „Exurge domine“ (Erhebe dich, Herr) mit einer wüsten Polemik, einer Glosse antwortet, nimmt auch Luther ihn zur Kenntnis und fügt in einer Verteidigungsschrift gegen einen anderen Gegner einen Anhang gegen Murner hinzu. Dabei zitiert er zum Schluss einen Reim, der ihm zugeschickt worden war:

„Doktor Murner, wie ich bericht
Hat aber ein Nacht geschlafen nicht
Zwei neuer büchlein zugericht
Darzu er sich fast hoch erbricht
Doctor Luthers Schriften anficht
Wie wohl er ganz daneben sticht …“

Das ging jetzt doch zu weit, das musste eine Antwort geben. Und sie kam in Form des „Großen lutherischen Narren“, der alle erprobten und erfolgreichen Formen reformatorischer Schriften aufgriff, Satire, Glosse und vor allem wüste Polemik.

Murner greift das Narrenmotiv auf, ein weit verbreitetes Motiv, vor allem durch Sebastian Brants „Narrenschiff“ (1494). Wenn Murner am Anfang seiner Schrift auch betont, dass er nicht Luther direkt angreifen wolle, sondern vor allem seine eigenen Gegner, die ausdauernd gegen ihn polemisiert hatten, so lässt er diese Absicht jedoch schnell fallen.

Am Ende geht es nur noch gegen Luther. Dessen Gegner, der ihn widerlegen und als gefährlich darstellen will, ist niemand anderer als Murner selbst, wodurch die Reformation auf Luther reduziert wird, die Angriffe gegen die katholische Kirche als Angriffe auf Murner wahrgenommen werden. Eine Personalisierung des Problems findet also in Murners Buch statt.

Ein Exorzist mit Katzenkopf

Im Mittelpunkt steht der große Narr, der durch Exorzismus beschworen werden muss. In ihm stecken viele andere Narren, die alle möglichen Aspekte der Reformation verkörpern, u.a. die Buntschuhgefahr, vor der Murner besonders warnte. Der beschworene „Großnarr“ gibt seine Geheimnisse anfangs nur unter Zwang preis, später wird er vertrauensselig und warnt seinen Beschwörer sogar vor den in ihm steckenden Narren. Der Exorzist, der mit Katzenkopf auftritt, hat ebenfalls keine einheitliche Haltung, mal ist er fürsorglich, mal zornig. Der Katzenkopf symbolisiert Murner selber, denn so haben ihn seine Gegner in ihren Pamphleten dargestellt, und indem er ihnen nun darin folgt, zeigt er eine gehörige Portion Selbstironie.

Es geht bunt zu in diesem Buch, Exorzismus, Hochzeit Murners mit Luthers Tochter, am Ende sterben sie, das müssen sie nach Murner auch, Luther und der große Narr. Und Luthers Leiche wird in einer Latrine versenkt, scheinheilig von vielen Katzen beweint, also, wenn man so will, von vielen kleinen „Murners“. Luther tot, Reformation entlarvt und vernichtet, das Buch schafft das, was in Wirklichkeit eben nicht gelingt.

Rücknahme der Sozialkritik

Etwas verbiegen musste sich Murner allerdings in seinem wichtigen Werk. Er hatte in früheren Schriften eine sozialkritische Tendenz verfolgt, hatte die Probleme der feudalen Gesellschaft durchaus gesehen. Nun kämpfte er für die alten Mächte. Da die Missstände jedoch offensichtlich waren, konnte er, um glaubwürdig zu bleiben, es sich nicht erlauben, die von den Reformatoren genannte Sozialkritik zu leugnen. Vielmehr versuchte er, sie zu bagatellisieren. Er kennzeichnet sie als perspektivlos und ohne sinnvolle Zielrichtung. Allenfalls, meint er, könne daraus eine Ordnung entstehen, in der die Reformatoren eigennützige Ziele verfolgen:

„Wir woln einmal auch selbs regieren,
wie das unß dunkt den buntschu schmieren
und haben einen guten mut
mit der reichen Kargen gut.“

Aus Veränderung könne nur Chaos entstehen, meint Murner, und davor warnt er.

Autor des Pamphlets auf der Flucht

Das Werk besteht aus 4800 Versen. Die Silbenzahl folgt nicht der strengen Form mit acht bis neun Silben, wie das etwa zeitgleich Hans Sachs tut, sondern der volkstümlichen Form des Sprechverses, dem es allein auf den Reim ankommt. Die Silbenzahl schwankt also zwischen sechs und elf Silben, ein alternierender Rhythmus wird weitgehend durchgehalten. Alles ist dem Inhalt untergeordnet.

Das Buch wurde schon kurz nach Erscheinen verboten, man begriff schnell seine Sprengkraft, und Murner erging es nicht gut. In Straßburg, das den reformatorischen Ideen zuneigte, durfte er sich nicht mehr sehen lassen, er musste nach Luzern ausweichen, wo er Aufnahme fand und nach neueren reformatorischen Streitigkeiten ebenfalls ausgeliefert werden sollte. Also erfolgte die nächste Flucht, bis er schließlich wieder in seinem Geburtsort ankam, wo er 1537 starb.

Wer 500 Jahre Reformation feiert, sollte auch an einen der profiliertesten Widersacher Luthers erinnern. Mit der Qualität seiner Gegner, das weiß man doch, wächst die eigene Bedeutung. Murner hatte Qualität, und dazu noch ein Schicksal, das er mit vielen Reformatoren teilte.




Alle zehn Jahre neue Ortsbestimmungen durch die Kunst: Die immer wieder spannenden „Skulptur Projekte“ in Münster

Fürwahr, die Skulptur Projekte in Münster machen sich äußerst rar. Mit ihrem zehnjährigen Rhythmus (bislang: 1977, 1987, 1997, 2007) kommen sie an diesem Wochenende gerade mal in fünfter Auflage heraus. Damit verglichen, ist selbst die Kasseler documenta (die gleichfalls just jetzt startet) mit ihren Fünfjahres-Abständen eine nahezu inflationäre Veranstaltung.

Skulpturen verschiedener Art: Soll der von Cosima von Bonin aufgestellte Lastwagen etwa die Plastik von Henry Moore abholen? Die Antwort heißt: Nein! (Foto: Bernd Berke)

Skulpturen von grundsätzlich verschiedener Art: Soll der von Cosima von Bonin aufgestellte Lastwagen etwa die Plastik von Henry Moore (Teilansicht links) abholen? Die Antwort lautet, entgegen dem bedrohlichen Anschein: Nein! (© Skulptur Projekte 2017 / Foto: Bernd Berke)

Scherz beiseite und dem Mann der ersten Stunde die Ehre: Seit Anbeginn ist der große Spritus rector der Skulptur Projekte, Prof. Kasper König, wegweisend dabei; ursprünglich im Verein mit dem Miterfinder Klaus Bußmann, diesmal flankiert von den beiden Kuratorinnen Britta Peters und Marianne Wagner.

Das Prinzip ist gleich geblieben: Künstler(innen) – anfangs waren es ausschließlich Männer – werden nach Münster eingeladen, wo sie sich mit Orten ihrer Wahl auseinandersetzen und Projektvorschläge einreichen. Damit beginnt ein langwieriger Prozess bis zur Realisierung. Rund drei Dutzend neue künstlerische Orts-Umschreibungen sind diesmal entstanden. Hinzu kommen etwa ebenso viele Skulpturen, die von früheren Projekten übrig geblieben sind. Mit anderen Worten: Es lagern sich von Mal zu Mal gleichsam immer neue Zeit-Schichten mit anderen ästhetischen Valeurs an. Daraus ergibt sich eine hochinteressante Historie.

Interventionen im Stadtbild

Auch 2017 stiften – unter gesellschaftlich veränderten Vorzeichen – die Künstler an einigen Orten der Stadt wieder erhellende Widersprüche, Einsprüche, Korrespondenzen, Assoziationen und was dergleichen Fühl- oder Denkanstöße mehr sind. Mal sind die Interventionen im Stadtbild erst allmählich wahrnehmbar, mal kommen sie mit weiter ausholenden Gesten oder überfallartig daher.

Man mag sich das alles, versehen mit einem speziellen Stadtplan oder per Navigations-App, in aller Ruhe erlaufen oder münstertypisch erradeln. Da kein Eintritt erhoben wird (man kann ja den Zugang zur Stadt schwerlich mit einer Gebühr belegen), sollte man getrost auch mehrmals wiederkommen. Und mit kundiger Führung hat man eventuell mehr von alledem.

Im Zeichen der digitalen Welt

Was ist mit den veränderten Vorzeichen gemeint? Selbstverständlich vor allem die seit 2007 noch einmal erheblich vorangeschrittene Digitalisierung und Globalisierung unseres Lebens. Auf solche umwälzenden Veränderungen, das war klar, mussten auch die Skulptur Projekte antworten und reagieren, wenn auch längst nicht immer explizit oder gar „eins zu eins“ abbildend. Das wäre denn doch zu simpel.

Im Münsteraner Hafen übers Wasser gehen: Ayse Erkmen, "On Water". (© Skulptur Projekte 2017 / Foto: Henning Rogge)

Im Münsteraner Hafen übers Wasser gehen: Ayse Erkmen, „On Water“. (© Skulptur Projekte 2017 / Foto: Henning Rogge)

In der heißen Arbeitsphase, also seit etwa zweieinhalb Jahren, kristallisierten sich in zahllosen Diskussionen die Befragung von Ort, Zeit und Körperlichkeit im digitalen Zeitalter als Leitthemen heraus. So manches, was derzeit ringsumher geschieht, könnte ja auf eine Auflösung von Raum, Zeit und Leiblichkeit hinauslaufen. Und wenn schon der Körper in Spiel kommt, ist es nicht nur der unbewegte. Der Performance als Gattung an der Grenze zur darstellenden Kunst kommt diesmal besondere Bedeutung zu.

Ein von jeher gültiges Thema stellt sich zudem in größerer Schärfe als ehedem: die Schaffung und Behauptung von öffentlichen, also nicht privat vereinnahmten Plätzen. Und zum Faktor Zeit: Manche Werke sind ganz bewusst darauf angelegt, nur temporär vorhanden zu sein, also allmählich zu vergehen oder schließlich abrupt zu verschwinden.

Mächtiger Truck und eine Wasserwaage am Museum

Jetzt aber endlich zu ein paar konkreten Beispielen, wie sie bei einer zweistündigen Presseführung vor der Eröffnung zu erleben waren:

Auf dem Vorplatz des LWL-Museums für Kunst und Kultur hat die Künstlerin Cosima von Bonin einen wahrhaft monumentalen Truck geparkt, auf dem sich ein großer schwarzer Container ihres Kollegen Tom Burr befindet, die ganze Chose heißt denn auch alliterierend „Benz Bonin Burr“. Es sieht ganz so aus, als solle mit dem Lastwagen demnächst die schon „klassische“ Skulptur von Henry Moore abtransportiert werden, die dort steht. Tatsächlich war es vor Ort ein Thema, ob Moores Arbeit während der Skulptur Projekte dort verbleiben dürfe.

Kein Bestandteil der Skulptur Projekte, aber skandalträchtiges Lokalgeschehen: Der LWL hat sein Buchstaben-Logo direkt auf eine Fassadenarbeit von Otto Piene aufgesetzt. (Foto: Bernd Berke)

Kein Bestandteil der Skulptur Projekte, aber umstrittenes Lokalgeschehen, auf das Bezug genommen wird: Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) hat sein Buchstaben-Logo am LWL-Museum für Kunst und Kultur direkt auf eine Fassadenarbeit von Otto Piene aufgesetzt. (Foto: Bernd Berke)

Zugleich verweist die riesige Truck-Installation indirekt auf ein Problem an der Fassade des Landesmuseums. Dort hat der Landschaftsverband LWL sein Dreibuchstaben-Logo direkt auf eine Arbeit von Otto Piene aufgesetzt, der dies wohl unter mehr oder weniger sanftem Zureden akzeptiert hat. Sein eigentlich urheberrechtlich geschütztes Werk ist jedenfalls am Rande verfälscht worden.

Auf der anderen Seite des Museums, am Domplatz, geht es unscheinbarer her. Dort hat John Knight eine Wasserwaage an das Gebäude angesetzt, als wolle er erneut Maß nehmen oder etwas ins Lot bringen. Ganz buchstäblich könnte man von einer künstlerischen „Maßnahme“ sprechen, die sich innig auf die Architektur bezieht.

Die Privatwohnung des Herrn N. Schmidt

Im Innern des öffentlichen Museums hat Gregor Schneider quasi eine Privatwohnung eingebaut, die man (jeweils höchstens zu zweit) durch einen Seiteneingang erreicht. In diesem Wohnraum ist ein gewisser „N. Schmidt“ daheim. Eine Kollegin versichert, ihr sei – nach eineinhalb Stunden Wartezeit in der Schlange – drinnen Gregor Schneider höchstselbst begegnet, aber eher wie ein Geist. Man lasse sich überraschen. Auch Enttäuschungen sind nicht ausgeschlossen.

Koki Tanaka hat in einem Gebäude der Johannisstraße seine „Provisional Studies“ aufgebaut. In unwirtlich gekachelten Räumen zeigt er Videos von einem Workshop, an dem acht Bewohner(innen) Münsters von ganz unterschiedlicher Herkunft teilgenommen haben. Ein „Dschungelcamp“ für Intellektuelle? Das nun doch beileibe nicht. Die intensive Begegnung stand unter der Frage „How to live together?“ Es geht also ums Zusammenleben an und für sich. Eine raumgreifende, begehbare „Skulptur“, die den ohenhin längst fließend gewordenen Gattungsbegriff beherzt erweitert.

Parodistisches Spiel mit der typischen Münsteraner Giebelform: "Sculpture" von Pelese Empire, wohinter sich Barbara Wolff und Katharina Stöver verbergen. (Foto: Bernd Berke)

Parodistisches Spiel mit der typischen Münsteraner Giebelform: begehbare Arbeit „Sculpture“ von Pelese Empire, wohinter sich Barbara Wolff und Katharina Stöver verbergen. (© Skulptur Projekte 2017 / Foto: Bernd Berke)

Anspielung auf die Giebelform

Schon eher der konventionellen Vorstellung von Skulptur bzw. Architektur enspricht die Arbeit von Pelese Empire (Barbara Wolff / Katharina Stöver). Sie heißt schlicht und einfach „Sculpture“ und greift parodierend und anverwandelnd die in Münster so häufige Giebelform auf, außerdem wurde das erschröcklich-bizarre rumänische Karpatenschloss Peles auf die Außenhaut projiziert. Auch diese Skulptur kann man betreten, sie enthält sogar eine Bar und kann zum Begegnungsort mutieren. Insgesamt kommt diese bauliche Skulptur auch als eine Art „Fake“ daher und greift somit ein politisch virulentes Thema der Internet-Ära auf.

Wenn man so will, ist das Projekt von Justin Matherly noch skulpturenförmiger. Er hat ein Gebilde geformt, das dem Nietzsche-Felsen im schweizerischen Sils Maria nachempfunden ist. Dieser Felsen soll den Philosophen zur Idee einer „ewigen Wiederkunft des Gleichen“ angeregt haben. Eine Figuration mit Hintergedanken, die man kennen muss, um das Ganze zu würdigen. Der sehr brüchig wirkende „Fels“ ist übrigens innen hohl und steht auf seltsamen Stützen. Es handelt sich um medizinische Gehhilfen.

Wird nach der Ausstellung vernichtet: Lara Favarettos "Momentary Monument". (Foto: Bernd Berke)

Wird nach der Ausstellung vernichtet: Lara Favarettos „Momentary Monument“. (© Skulptur Projekte 2017 / Foto: Bernd Berke)

Rein äußerlich betrachtet, hat auch Lara Favaretto ein steinernes Monument nach herkömmlichem Verständnis geschaffen. Doch weit gefehlt. Wir unterliegen einer kunstvollen Täuschung. Auch dieses scheinbar so massive Werk ist innen hohl, es hat sogar einen Schlitz zum Geldeinwurf (der Erlös kommt Menschen in Abschiebhaft zugute). Das „Momentary Monument“ ist, wie der Titel ahnen lässt, nicht auf Dauer angelegt, sondern soll mit Ende der Skulptur Projekte geschreddert und recycelt werden. Einstweilen aber bezieht es sich als Gegenüber und kritischer Gegenentwurf auf ein kolonialistisches Ehrenmal vis-à-vis.

Subtile Geste vor dem Erbdrostenhof

Im berühmten Erbdrostenhof (barockes Palais) haben bei früheren Skultur Projekten Richard Serra und Andreas Siekmann ihre unübersehbaren Zeichen gesetzt, Letzterer mit einer Arbeit, die sich über städtische Tier-Maskottchen mokierte und bei Stadtwerbern nicht allzu gut ankam. Serras Arbeit hätten die Münsteraner hingegen liebend gern behalten, doch sie wurde zu ihrem Leidwesen für gutes Geld in die Schweiz verkauft.

Trotz der Größe ungeahnt feingliedrig: "Beliebte Stellen" von Nairy Baghramian vor dem Erbdrostenhof. (Foto: Bernd Berle)

Trotz der Größe ungeahnt feingliedrig: „Beliebte Stellen“ von Nairy Baghramian vor dem Erbdrostenhof. (© Skulptur Projekte 2017 / Foto: Bernd Berke)

Ein Platz mit alter und neuerer Vorgeschichte also, der beispielhaft zeigt, wie bestimmte Stätten insgeheim nachhaltig durch die Projekte geprägt werden, selbst dann, wenn die Einzelwerke nicht mehr am Ort sind. Genau hier findet sich nun die eher zurückhaltende Arbeit „Beliebte Stellen“ von Nairy Baghramian, die den Raum gleichwohl neu „besetzt“. Ihre Skulptur windet sich als große, doch feine und aparte Geste über den Platz, sie ist – ganz planvoll – „unfertig“ und müsste noch verschweißt werden, auch wirkt die stellenweise tropfenförmige Oberfläche ganz so, als sei sie noch im Werden (oder schon im Vergehen). Ein Beispiel dafür, wie man äußerlich „groß“ agieren und dennoch subtil bleiben kann.

Übers Wasser gehen und sich am „Lagerfeuer“ versammeln

Ein paar spektakuläre Ortsbezüge kenne ich (noch) nicht aus eigener Anschauung, man kann sich jedoch anhand der Beschreibungen schon Vorfreude bereiten: Für „On water“ (Auf dem Wasser) hat Ayse Erkmen am Münsteraner Hafen knapp unter der Wasseroberfläche einen Steg gebaut, auf dem Besucher sozusagen übers Wasser gehen können – jedenfalls beinahe. Wer jetzt an Christo und den Lago d’Iseo denkt, liegt vielleicht nicht völlig daneben.

Am "Lagerfeuer" des digitalen Zeitalters: Aram Bartholl, "5 V" (© Skulptur Projekte 2017 / Foto: Henning Rogge)

Am „Lagerfeuer“ des digitalen Zeitalters: Aram Bartholl, „5 V“ (© Skulptur Projekte 2017 / Foto: Henning Rogge)

Auf andere Art staunenswert ist der Beitrag von Aram Bartholl, der geheimnisvolle thermoelektrische Apparaturen ersonnen hat, so dass man an einer Art Lagerfeuer wirklich und wahrhaftig den Akku seines Smartphones aufladen kann. Dieser Vorgang soll zwar ziemlich lange dauern, erzeugt aber sicherlich ein besonderes Gemeinschaftserlebnis und verknüpft älteste mit neuesten Erfahrungen der Menschheit.

Dependance in der Revierstadt Marl

Mit dem Ruhrgebiet hat all das aber nichts zu tun, oder? Wie man’s nimmt. Die Skulptur Projekte haben diesmal unter dem Titel „The Hot Wire“ (Der heiße Draht) einen „Ableger“ in Marl, wo rund ums Skulpturenmuseum Glaskasten schon seit langer Zeit Kunst im öffentlichen Raum eine wichtige Rolle spielt.

Im Austausch aus Marl nach Münster gelangt: Ludger Gerdes' vielsagender Fassaden-Schriftzug. (Foto: Bernd Berke)

Im Austausch von Marl nach Münster gelangt: Ludger Gerdes‘ vielsagender, sparsam „illustrierter“ Schriftzug. (© Skulptur Projekte 2017 / Foto: Bernd Berke)

Marl ist ein harsches Gegenstück zu Münster, nach dem Krieg entstand hier ein künstliches Stadtzentrum in teilweise brutal anmutender Moderne, während man im eher lieblichen Münster bekanntlich Teile der Altstadt rund um den Prinzipalmarkt wieder aufgebaut hat.

Folglich haben Skulpturen in Marl auch eine ganz andere Funktion. Dort gilt es jedenfalls nicht in erster Linie, womöglich konservative Strukturen aufzubrechen. Aber inzwischen sind ja auch viele Leute in Münster mental weiter.

Die Autonomie und der touristische Faktor

Zurück nach Münster. Längst sind die dortigen Skulptur Projekte auch zum touristischen Magneten geworden. Bei der Eröffnungspressekonferenz, zu der mehrere Hundertschaften von Medienvertretern angerückt waren, schwärmte denn auch Münsters OB Markus Lewe geradezu euphorisch, man sehe sich nunmehr wieder in einer Reihe mit Kassel (documenta) und Venedig (Biennale), gern auch in einer Abfolge mit Münster an der Spitze…

Gegen derlei wohlmeinende, doch auch begehrliche Vereinnahmung müsste man sich fast schon wieder wehren und auf künstlerische Autonomie, wenn nicht gar Sperrigkeit pochen. Doch die allermeisten Objekte und Installationen der Skulptur Projekte entziehen sich auch so schon der bloßen „Eventisierung“ und erst recht der schnöden Indienstnahme.

Gleichwohl sind die Skulptur Projekte nach etlichen Skandalen und Skandälchen der frühen Jahre (als sich die bürgerlich geprägte Stadt über vieles erregte, was heute selbstverständlich anmutet) etabliert und in gewisser Weise auch populär – freilich alles andere als „populistisch“. Inzwischen finden sich, neben den Hauptträgern (Stadt Münster und Landschaftsverband Westfalen-Lippe / LWL), etliche potente Sponsoren, die das Budget heuer nahe an die Acht-Millionen-Grenze hieven.

Skulptur Projekte Münster. Vom 10. Juni bis zum 1. Oktober 2017.

Offizielle Öffnungszeiten Mo bis So 10-20, Fr 10-22 Uhr. Freier Eintritt. Katalogbuch (430 Seiten) 15 Euro.

Allgemeine Infos:
www.skulptur-projekte.de
Tel. 0251 / 5907 500

Infos zu Touren und Workshops (auch Online-Buchung möglich unter www.skulptur-projekte.de): 0251 / 2031 8200, Mail: service@skulptur-projekte.de

Navigations-App zu den Werken: apps.skulptur-projekte.de




Das Grab des Kaisers Jingdi – über eine ungeahnte archäologische Sensation in Xi’an

Unser Gastautor, der Schriftsteller Heinrich Peuckmann (Dortmund/Kamen), der in China schon mehrmals als Dozent für deutsche Literatur gewirkt hat, berichtet aus eigener Anschauung von einer noch weitgehend unbekannten archäologischen Sensation in Dortmunds Partnerstadt Xi’an:

Grabbeigaben ohne Arme (die aus Holz waren und verfault sind) und ohne Seidenkleidung, die ebenfalls verwittert ist. (Foto: Heinrich Peuckmann)

Zwei von rund 10.000 Grabbeigabe-Figuren – ohne Arme (die aus Holz waren und verfault sind) und ohne Seidenkleidung, die ebenfalls verwittert ist. (Foto: Heinrich Peuckmann)

Shanghai ist die Zukunft, sagen die Chinesen, Beijing die Gegenwart und Xi´an, ihre alte Kaiserstadt, die Vergangenheit. Bezogen auf Xi´an, Partnerstadt von Dortmund,  ist diese Einschätzung sicher richtig, steht hier doch die weltberühmte Tonkriegerarmee des ersten chinesischen Kaisers Chen She Huang Di, die Terrakotta-Armee, die von Archäologen zu den Weltwundern gezählt wird.

Aber Xi´an hat noch viel mehr zu bieten als diese Armee, deren vollständige Ausgrabung langsam voranschreitet und sicher noch Jahrzehnte dauern wird, zumal immer mehr Tonkriegertruppen im Umfeld der Hauptarmee entdeckt werden: die Generalität, die Bogenschützen, die dem Kaiser vor allem seine militärische Überlegenheit sicherten usw.

Blick von der alten Stadtmauer

Die alte, breite Stadtmauer steht noch. Auf insgesamt 12 Kilometern umgrenzt sie den inneren Bereich der alten Kaiserstadt, die damals, während der Tangdynastie (618-907), noch Chang´an hieß und über eine Million Einwohner gehabt haben soll. Man kann wunderbar auf ihr spazieren gehen und hat einen schönen Blick auf traditionelle Wohnhäuser, die in vielen anderen Städten abgerissen wurden, in Xi´an aber noch erhalten sind. Der Betrachter freut sich, dass dies alles nicht in  der Zeit der schrecklichen Kulturrevolution vernichtet wurde. Von der Stadtmauer kann man auch den Trommelturm sehen, der früher bei Nacht die Urzeit angab, und den Glockenturm, der es am Tage tat.

Direkt im Anschluss an den Trommelturm erstreckt sich das Wohnviertel der Hui-Minderheit mit ihren kleinen Läden und Garküchen, in dem man alles Mögliche kaufen und schmackhafte Spezialitäten essen kann. Die Huis sind Moslems, sie sind nicht besonders gut in die Xi´aner Gesellschaft integriert, aber zum Essen gehen die Chinesen gerne dorthin. Das Essen ist gut und preiswert. Mitten im Viertel liegt ihre Moschee in chinesischem Baustil, die man besichtigen kann. Ein Stück entfernt davon, aber noch im Innenstadtbereich, liegt die Künstlergasse, in der Gemälde im traditionellen chinesischen Stil angeboten werden.

Wie soll man die Schätze konservieren?

Genug zu sehen also, um unbedingt mal nach Xi´an zu fahren. Aber seit ein paar Jahren hat Xi´an eine weitere archäologische Sensation zu bieten, die noch weitgehend unbekannt ist. Rund um die Stadt liegen die Grabhügel früherer Kaiser und Beamter, alle noch ungeöffnet, weil man nicht weiß, wie man  die Schätze konservieren soll. Bis auf ein Grab allerdings, das Grab des vierten Han-Kaisers. Jingdi hieß er und regierte von 157 – 141 vor Chr., also gut 50 Jahre nach dem ersten chinesischen Kaiser.

Es sind zwei Grabhügel (damals noch – wie alle Kaisergräber – von einer hohen Mauer umgeben und von Soldaten bewacht), die sich vor dem Auge des Besuchers erheben. Im westlichen liegt der Kaiser begraben, im östlichen seine Kaiserin Wang. Sie war ursprünglich mit einem reichen Kaufmann verheiratet gewesen, hatte auch schon eine Tochter, aber ihre Mutter hatte wegen ihrer Schönheit große Pläne mit ihr, brachte sich an den Kaiserhof, wo Jingdi sich prompt in sie verliebte, sie zuerst zur Hauptkonkubine machte, dann zur Kaiserin. Sie gebar ihm einen Sohn, der auf ihr Drängen hin zum Thronfolger gemacht wurde, nicht sein erstgeborener Sohn von der ursprünglichen Kaiserin, der zurückgestuft wurde, worauf dessen Mutter vor Gram erkrankte und früh starb.

Ein Museum unter dem Erdboden

Es gibt ein Museum ein wenig abseits von dem Grab. Hier stehen Figuren, Schalen und Töpfe, die bei der Ausgrabung gefunden worden sind. Die eigentliche Sensation aber ist das unterirdische Museum, also der Hügel des Kaisergrabes, in dem die Grabbeigaben freigelegt worden sind und das man betreten kann. Allerdings wurde die Grabkammer selbst nicht geöffnet, aus demselben Grund, aus dem auch die Grabkammer von Chin She Huang Di bis heute unberührt geblieben ist. Man kann nämlich die Leiche und all die Kostbarkeiten, die  dort den nach Vermutungen zu finden sind, nicht konservieren.

Aber die Grabbeigaben des Jingdi können besichtigt werden und dem Besucher bietet sich ein unglaublicher Anblick. Es ist deshalb so wertvoll, weil sich in den Beigaben das höfische Leben der Hanzeit spiegelt und es damit ein unschätzbares Zeugnis für Chinas Vergangenheit darstellt. Töpfe, Krüge, Schminkkästen sind ausgegraben worden, die zeigen, wie das Alltagsleben am Hofe ausgesehen haben muss. In einem der Gänge lagerte, wie man an der Verfärbung des Bodens erkennen kann, Getreide, Weizen vor allem, der der Ernährung des Kaisers und seiner Bediensteten im Jenseits dienen sollte.

Rund 10.000 Figuren – Soldaten, Beamte, Eunuchen

In den folgenden Gräben sieht man die vielen Tonfiguren, die das damalige Leben darstellen. Vierzig Zentimeter hoch sind sie, und es sind etwa 10.000 Stück: Beamte, Eunuchen, denen das gesamte Geschlecht fehlt, das ihnen in einer blutigen und lebensgefährlichen Prozedur weg geschnitten wurde, dazu Frauen und Soldaten. Alle ohne Arme, weil die damals aus Holz gefertigt wurden, das inzwischen verfault ist.

Nach Faserresten rekonstruiert:

Die Stoffe wurden nach Faserresten rekonstruiert: prachtvolle Parade mit Pferdewagen, Dienern und Soldaten. (Foto: Heinrich Peuckmann)

Verfallen sind auch die Seidenkleider, die die Figuren getragen haben, aber an einer Stelle sind welche in der ursprünglichen Kleidung, wie man sie aus Faserresten rekonstruieren konnte, aufgestellt worden. Eine prachtvolle Parade mit Pferdewagen, Dienern und Soldaten ist dort zu sehen. Dazu gibt es Tierfiguren in den Gräben: Hunde, Pferde, Rinder, Schafe, Schweine. Tiere, die bei der kaiserlichen Hofhaltung eine Rolle spielten.

Bestens erhaltene Farben

Die Farben sind besser erhalten als bei der Terrakotta-Armee, weil die Figuren zweimal gebrannt wurden. Erst wurde der Ton gebrannt, dann die angemalten Figuren.

Auch hier gibt es individuelle Gesichter wie bei der Terrakotta-Armee, chinesische, aber auch  rundliche Mongolengesichter mit jeweils feiner Mimik.  Wäre nicht der Größenunterschied und würden die Figuren nicht eine tiefe Friedfertigkeit ausstrahlen, man könnte von einer zweiten Terrakotta-Armee sprechen.

Viele Gräber sind noch gar nicht geöffnet

Das Museum ist sehr schön aufgebaut worden. Ein Gang aus Plexiglas ist quer über die Gräben gelegt worden, so dass der Besucher den Figuren sehr nahe kommt. Direkt unter seinen Füßen sieht er sie. An einer Stelle ist die Erde zwischen den Beigabengräben abgetragen worden, stattdessen wurde auch hier ein Gang aus Plexiglas eingebaut, so dass man, nun auf gleicher Höhe, die Figuren links und rechts von sich genau sehen kann. Ein staunenswertes Museum, das bei uns noch kaum bekannt ist, bei den Chinesen aber immer beliebter wird. Inzwischen werden gerne Schulklassen hierher geführt.

Früher war das Gelände, das ganz in der Nähe des Flughafens von Xi´an liegt, militärisches Sperrgebiet. Als in den neunziger Jahren die Beschränkung aufgehoben wurde, begannen die Ausgrabungen und der Aufbau des Museums. Angesichts der vielen noch ungeöffneten übrigen Gräber ist für den Touristen unvorstellbar, welche Schätze  noch in der Erde rund um Xi´an ruhen müssen.

 




Dem „göttlichen Claudio“ zum 450. Geburtstag: Monteverdi bringt in seinen Opern die Seele zum Singen

Claudio Monteverdi auf einem Stich aus dem 19. Jahrhundert. Alle Abbildungen des Komponisten sind dem einzigen überlieferten Porträt von Bernardo Strozzi nachempfunden, das im Tiroler Landesmusem Innsbruck hängt.

Claudio Monteverdi auf einem Stich aus dem 19. Jahrhundert. Alle Abbildungen des Komponisten sind dem einzigen überlieferten Porträt von Bernardo Strozzi nachempfunden, das im Tiroler Landesmusem Innsbruck hängt.

Über seine Heimat Oberitalien ist Claudio Monteverdi nie hinausgekommen. Aber seine Wirkung als Erneuerer in der Zeit eines gewaltigen Umbruchs war in der gesamten Welt der Musik zu spüren. Vor 450 Jahren in dem damals minder bedeutenden Städtchen Cremona geboren, hat Monteverdi in der Entwicklung der Musik eine Rolle gespielt, die höchstens noch mit Namen wie Georg Friedrich Händel, Ludwig van Beethoven, Richard Wagner oder Arnold Schönberg zu vergleichen wäre.

Dabei hat sich der Sohn eines Baders – damals ein Beruf, der sich zwischen Medizin und Körperpflege bewegte – nie als musikalischer Rebell verstanden. Aber seine geistlichen und weltlichen Kompositionen und vor allem seine Opern haben Geschichte geschrieben.

Cremona, damals eine Stadt im Herzogtum Mailand, hatte kaum politischen Einfluss, aber ein reges geistiges Leben. Die Gebildeten trafen sich in einer Akademie, an einem Priesterseminar wurde moderne Theologie gelehrt. Die Instrumentenbauer Andrea Amati, Andrea Guarneri und Antonio Stradivari hatten den Ruf Cremonas als Stadt exzellenter Geigen in ganz Europa verbreitet. In der Pfarrei SS. Nazzaro e Celso wurde der erste Sohn von Baldassare Monteverdi, am 15. Mai 1567 auf den Namen Claudio getauft.

Der Dom von Cremona, Geburtsort Claudio Monteverdis. Foto: Werner Häußner

Der Dom von Cremona, Geburtsort Claudio Monteverdis. Foto: Werner Häußner

Der Vater wollte seinen Kindern den gesellschaftlichen Aufstieg durch Bildung ermöglichen und förderte ihre Begabungen. Die Bedingungen waren günstig, die katholischen Reformer legten großen Wert auf Bildung. Monteverdi selbst bezeichnet sich als Schüler des „herausragenden Ingegneri“. Der erfahrene Domkapellmeister gab ihm umfassende Grundlagen mit, zu denen Singen und das Spielen von Instrumenten gehörte, und bildete ihn planmäßig in Komposition heran. Als Fünfzehnjähriger veröffentlichte Claudio Monteverdi seine „Sacrae Cantiunculae“, kleinere geistliche Gesänge. Ein Jahr später erschienen vierstimmige Madrigale und wieder nach einem Jahr sein Probestück in der weltlichen Musik, eine Sammlung vierstimmiger „Canzonette“.

Die folgenden Jahre seines Lebens liegen im Dunkeln; offenbar perfektioniere sich Monteverdi in der Kunst des Komponierens. Das Ergebnis waren zwei Madrigalbücher, von denen das zweite von 1590 Monteverdi auf der Höhe seiner Kunst zeigt: „Hätte Monteverdi nur dieses Madrigalbuch hinterlassen – er hätte sich gleichwohl in die Geschichte der Musik eingeschrieben“, urteilt die Musikwissenschaftlerin Silke Leopold in ihrer erst vor wenigen Wochen erschienenen Biografie. Denn die Gesänge zeigen bei „außerordentlicher musikalischer Sensibilität“ eigene künstlerische Ideen. In ihnen entwickelt Monteverdi, was sein Schaffen und vor allem seine Opern kennzeichnen sollte: Die musikalische Erfindung steht konsequent im Dienst des Textes.

Trotz der bedeutenden Komposition erhielt Claudio Monteverdi seine erste Stelle, weil er gut Viola da gamba spielen konnte. Am Hof des kunstliebenden Herzogs Vincenzo Gonzaga in Mantua begann er seine Karriere: In der Widmung seines dritten Madrigalbuchs 1592 lobt er die „glückliche Tür“, die ihm sein Spiel geöffnet habe. 22 Jahre blieb er in Mantua, heiratete und verlor seine Frau nach nur acht Jahren Ehe. Monteverdi spielte bei Festen und Gottesdiensten, an der Tafel und bei repräsentativen Anlässen. Zehn Jahre veröffentlichte er kein neues Werk, aber sein Ruhm verbreitete sich: In Venedig, Nürnberg und Antwerpen wurden seine Noten gedruckt.

Ab 1601 Kapellmeister, machte er Mantua zu einem Zentrum moderner Musik, dessen Glanz bis heute nachwirkt. Jetzt entstanden zahlreiche Kompositionen, die weitgehend ungedruckt blieben und verschollen sind. Hier schrieb Monteverdi aber auch die erste seiner Opern, uraufgeführt unter der Schirmherrschaft des Thronfolgers Francesco Gonzaga am 14. Februar 1607 – ein „künstlerisches Großereignis und ein Meilenstein der Operngeschichte“.

Monteverdi hat zwar die Oper nicht erfunden. Dieser Ruhm gebührt dem Florentiner Jacopo Peri mit seiner 1598 entstandenen „Dafne“, mit der die antike Theatertradition wiederbelebt werden sollte. Aber ohne Monteverdis „L’Orfeo“ wäre – so Silke Leopold – die Entwicklung der Oper vielleicht gar nicht richtig in Gang gekommen. Auch seine ein Jahr später geschriebene Oper „L’Arianna“, aus der nur der weltberühmte Trauergesang, das „Lamento“, überliefert ist, wurde ein riesiger Erfolg. Monteverdi war überzeugt, darin den Ausdruck menschlicher Emotionen am besten getroffen zu haben. Er blieb aber auch als geistlicher Komponist aktiv: 1610 entstand mit der „Marienvesper“ sein wohl bekanntestes sakrales Werk.

Venedig, letzter Wirkungsort von Monteverdi. Foto: Werner Häußner

Venedig, letzter Wirkungsort von Monteverdi. Foto: Werner Häußner

Ruhm und Können halfen jedoch nicht, als 1612 Francesco die Nachfolge des verstorbenen Herzogs von Mantua antrat und sich daran machte, die zerrütteten Staatsfinanzen zu sanieren. Monteverdi wurde regelrecht hinausgeworfen und war mit 45 Jahren arbeitslos. Bis Oktober 1613 sollte es dauern – dann aber erreichte ihn ein Angebot aus Venedig und er erhielt eine der angesehensten Stellen im Bereich der Kirchenmusik: Monteverdi wurde Kapellmeister von S. Marco.

Es begann seine produktivste Zeit: Er reformierte die Kirchenmusik, erneuerte das Repertoire, sorgte sich um die soziale Stellung seiner Musiker und komponierte geistliche wie weltliche Musik, darunter drei neue Madrigalbücher. Für die damals einzigartigen öffentlichen Opernhäuser Venedigs schrieb er Opern und Ballettmusik, erhalten sind aber nur „Die Heimkehr des Odysseus“ und „Die Krönung der Poppea“. 1643 starb Claudio Monteverdi, begraben liegt er in der Kirche S. Maria Gloriosa dei Frari in Venedig.

Monteverdis drei erhaltene Opern gehören seit den bahnbrechenden Aufführungen durch Nikolaus Harnoncourt in den siebziger Jahren wieder zum Repertoire und werden in diesem Jubiläumsjahr u.a. in Berlin, in Venedigs Teatro La Fenice und bei den Festivals in Luzern, Innsbruck, Salzburg und Schwetzingen aufgeführt. In der Region planen die Theater Bielefeld und Aachen, Monteverdi mit „L’Incoronazione di Poppea“ zu würdigen. Die Premieren sind am 10. Juni (Bielefeld) und am 24. September (Aachen).




„Essen außer Haus“ damals und heute – drei Dortmunder Museen tischen ein populäres Thema auf

Hoesch-Küche, um 1960. (© ThyssenKrupp Konzernarchiv / Hoesch-Archiv)

Hoesch-Küche, um 1960. (© ThyssenKrupp Konzernarchiv / Hoesch-Archiv)

Essen außer Haus – na und? Das machen wir doch alle ziemlich oft. Eben! Und früher war das noch ganz anders. Also haben wir hier ein populäres Alltagsthema im historischen Wandel. Folglich ist es museumsreif. Drei Dortmunder Häuser haben sich zusammengetan, um je eigene Aspekte darzustellen: das Hoesch-Museum, das Brauereimuseum und das Museum für Kunst und Kulturgeschichte (MKK). Das zeitliche Spektrum der lokalen und regionalen Schlaglichter reicht ungefähr von 1880 bis in die Gegenwart.

Den Anfang macht jetzt das Hoesch-Museum. Der spätere Dortmunder Stahlriese Hoesch hatte 1871 mit gerade einmal 300 Arbeitern begonnen, zu Spitzenzeiten um 1966 beschäftigte man an drei Standorten in der Stadt fast 50.000 Arbeitskräfte. Heute sind es unter dem Konzerndach von ThyssenKrupp nur noch 1400. Doch hier und jetzt geht es weniger um den radikalen Strukturwandel, sondern um die Frage, wie so viele Menschen sich in den Fabriken ernährt haben. Es war ja die grundlegend veränderte Arbeitswelt mit ihren strikten Zeittakten, die das (nicht selten hastige) „Essen außer Haus“ mit sich brachte.

Schlichte Suppen aus dem „Henkelmann“

Museumsleiter Michael Dückershoff weiß beim Rundgang durch die kleine Ausstellung Spannendes zu berichten. Anfangs brachten die Hoesch-Arbeiter meist ihren Henkelmann mit, das waren (oft emaillierte) Blechbehälter, in denen sie meist sehr einfache Suppen transportierten. Selbst Butterbrot war damals noch zu teuer, von Fleischgerichten ganz zu schweigen. Häufig brachten auch Frauen und Kinder der Arbeiter die Henkelmänner zum Stahlwerk. Außerdem wurden so genannte Wärmewagen bereitgestellt, auf denen die Nahrung in nummerierten Fächern warm gehalten und zu den Produktionsstätten gefahren wurde.

Hoesch-Werksschänke, 1960er Jahre (© ThyssenKrupp Konzernarchiv/Hoesch-Archiv)

Großkantine: Hoesch-Werksschänke, 1960er Jahre (© ThyssenKrupp Konzernarchiv/Hoesch-Archiv)

Zur Jahrhundertwende, im Januar 1900, eröffnete die so genannte Werksschänke (zunächst unter dem Namen „Werksschenke“), in der massenhaft Mahlzeiten aus der Großküche kamen. Auch dies ein Zeichen des Wandels: In den frühen Jahren gab es täglich ein einziges Gericht, in den 1960er Jahren standen vier verschiedene zur Auswahl, darunter auch die Option „salzlose Diät“.

Bierverkauf gegen Schnapskonsum

Heute würde man solche Saalbetriebe „Kantinen“ nennen, damals bezeichnete dieser Begriff jene vielen Kioske, die sich übers Werksareal verteilten und bei denen man Essen, Tabakwaren und irgendwann auch Bier der Marke Kronen kaufen konnte. Zu früheren Zeiten waren die Werksdirektoren froh, wenn wenigstens nur Bier statt Schnaps getrunken wurde. Später wurden die Regeln – wie überall – ungleich strenger.

Zweifellos mussten in einem Stahlwerk („Heißbetrieb“) jede Menge Getränke her. Also fuhren auch Lieferwagen mit „Hüttentee“ (süßer Pfefferminzgeschmack) übers Gelände, zudem wurde etwa seit den 1930er Jahren Milch angeboten.

Ein edler Weinkeller für die Chefs

Für sich selbst richteten die Chefetagen 1920 einen recht edlen Weinkeller bei Hoesch ein, in dem rund 200 Sorten lagerten, darunter feinste Tröpfchen. Hier wurden denn auch wichtige Gäste bewirtet. Überdies galt der Weinkeller als „abhörsicher“, worauf die Bosse (wohl vor allem wegen Industriespionage) großen Wert legten.

Die klassenlose Gesellschaft wurde bei Hoesch nicht erfunden. Für lange Zeit hatten die Angestellten einen eigenen Speisesaal – getrennt von den Arbeitern.

Freilich konnten alle Beschäftigten in einem Großbetrieb wie Hoesch die Notzeiten nach den Weltkriegen etwas besser überstehen. Solche Unternehmen kauften zeitweise sogar eigene Bauernhöfe, um ihre Belegschaft zu versorgen. Auch so erklärt sich die außerordentliche Anhänglichkeit, mit der Arbeiter dem Werk lebenslang treu blieben.

Und jetzt? Ein paar Fotos lassen es ahnen: Die verbliebenen Mitarbeiter versorgen sich vielfach in den umliegenden Imbiss-Betrieben rings um den Borsigplatz mit Döner, Currywurst und Artverwandtem. Nichts Besonderes mehr.

Stimmen von Zeitzeugen sind gefragt

All dies wird erst in Erzählungen halbwegs lebendig, die Exponate auf der überschaubaren Ausstellungsfläche des Hoesch-Museums geben von allein nicht ganz so viel her. Texttafeln und historische Fotografien werden mit relativ wenigen Schaustücken ergänzt, die das Ganze mit etwas Aura anreichern.

Gut also, dass zur Schau auch ein 15minütiger Film gehört, in dem Zeitzeugen nähere Auskunft geben. Sehr willkommen wäre es den Machern, wenn sich weitere Leute meldeten, die aus eigener Anschauung von damals berichten können. Wie man sich denken kann, wird es höchste Zeit, solche Stimmen zu sammeln. Eine öffentliche Kostprobe wird es am 6. April (18:30 Uhr) im Hoesch-Museum geben, wenn sich ältere Augenzeugen zu einer Podiumsrunde versammeln.

Die Ära der prachtvollsten Restaurants

Wann, wenn nicht dann? Genau am Tag des deutschen Bieres (23. April) werden das Brauereimuseum und das Museum für Kunst und Kulturgeschichte, ebenfalls mit zwei kleineren Ausstellungen, in den Reigen einsteigen. Im Brauereimuseum wird die regionale Geschichte der Speisegaststätten in den Blick genommen. Museumsleiter Heinrich Tappe erläutert, dass das Essen im Restaurant gegen Ende des 18. Jahrhunderts in Paris aufgekommen ist und erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in deutschen Großstädten üblich wurde – zuerst nicht für die breiten Massen, sondern für ein bürgerliches Publikum.

Alte Pracht: Innenansicht des Restaurants Unionbräu, um 1910. (© Stadtarchiv Dortmund)

Alte Pracht: Innenansicht des Restaurants Unionbräu, um 1910. (© Stadtarchiv Dortmund)

Die Leute mussten überhaupt erst lernen, was es hieß, „draußen“ zu essen und wie man sich dabei zu benehmen hatte. In seiner Ausstellung will Tappe u. a. zeigen, dass bereits in den Jahren zwischen 1890 und 1914 die prächtigsten Gaststätten entstanden sind, die später nie mehr übertroffen wurden. Weitere Leitlinie: Von den 1920er bis in die 1950er Jahre wird das Essen außer Haus (auch in Ausflugslokalen) immer selbstverständlicher, bis in den 1960ern mit Cevapcici, Pizza und mehr allmählich die Internationalisierung des Speisenangebots einsetzt.

Besucher dürfen eigene Objekte mitbringen

Im Museum für Kunst und Kulturgeschichte (MKK) wird man sich mit einer Studioschau begnügen. Die Fläche wird gastweise bespielt vom Deutschen Kochbuchmuseum, das seinen angestammten Ort im Westfalenpark aufgegeben hat und seither – durch missliche Umstände bedingt (statisch gefährdeter „Löwenhof“, in den man nun doch nicht einziehen kann) – immer noch nach einer dauerhaften Bleibe sucht; möglichst unter demselben Dach wie die Volkshochschule, die den „Löwenhof“ verlassen muss.

Es ist angerichtet: das Ausstellungsteam (von links: Michael Dückershoff vom Hoesch-Museum, Jens Stöcker vom MKK, Heinrich Tappe von Brauereimuseum und Isolde Parussel vom Kochbuchmuseum) an einem historischen Herd.

Es ist angerichtet: das Ausstellungsteam (von links: Michael Dückershoff vom Hoesch-Museum, Jens Stöcker vom MKK, Heinrich Tappe von Brauereimuseum und Isolde Parussel vom Kochbuchmuseum) an einem historischen Herd. (Foto: Katrin Pinetzki / Stadt Dortmund)

Im MKK kann Isolde Parussel, Leiterin des Kochbuchmuseums, also demnächst an die Existenz ihres derzeit heimatlosen Instituts erinnern. Hier soll die Perspektive noch einmal geweitet werden. Neben Kantinenessen und Schulspeisungen geht es dabei auch um neuere Entwicklungen wie Lieferdienste. Der Ansatz reicht über die bloße Präsentation von Exponaten hinaus: Im Rahmen der Ausstellung können und sollen Besucher(innen) von eigenen Erfahrungen berichten und passende Fotos oder Objekte einbringen.

Kooperation als Modellfall

MKK-Direktor Jens Stöcker deutete an, dass die jetzige Kooperation dreier Dortmunder Museen ein Modellfall sein könnte. Wenn es sich anbietet, kann man auch andere Themen gemeinsam anpacken. Von Fall zu Fall und je nach Sachlage könnten dabei auch das (seit Langem im Umbau befindliche) Naturkundemuseum oder das Westfälische Schulmuseum einbezogen werden.

So weit, so durchaus interessant. Wenn man denn Kritik an der dreifachen Schau „Essen außer Haus“ üben wollte, so allenfalls deshalb, weil man sich das Ganze größer angelegt wünschen würde. Mit mehr Vorbereitungszeit und mehr Ressourcen hätte man aus dem Thema wohl noch weitaus mehr herausholen können, es wäre noch schmackhafter geworden. Bundesweite Aufmerksamkeit wäre einem solchen Unterfangen gewiss gewesen. Schade. Aber es kann halt nicht immer ein Fünf-Gänge-Menü sein.

„Essen außer Haus. Vom Henkelmann zum Drehspieß.“ In diesen drei Dortmunder Museen:

Hoesch-Museum (Eberhardstraße 12) vom 2. April bis 9. Juli. https://www.dortmund.de/de/freizeit_und_kultur/museen/hoesch_museum/start_hoesch/index.html
Museum für Kunst und Kulturgeschichte (Hansastraße 3) 23. April bis 1. Oktober. www.mkk.dortmund.de
Brauerei-Museum (Steigerstraße 16) 23. April bis 31. Dezember 2017. www.brauereimuseum.dortmund.de

 




Der Vater der Luftschiffe: Vor 100 Jahren starb Ferdinand Graf von Zeppelin

Graf Zeppelin als Hauptmann und Adjudant des Königs von Württemberg auf einer Abbildung um 1870.

Graf Zeppelin als Hauptmann und Adjudant des Königs von Württemberg auf einer Abbildung um 1870.

Hin und wieder sieht man sie noch, die fliegenden Zigarren: Sie tragen Werbeaufschriften und schweben lautlos über dem Getümmel von Großstädten. Ihr eigentlicher Ruhm als Luftschiffe an der Schwelle des modernen Verkehrszeitalters ist verblasst. Auch ihr Entwickler, Graf Ferdinand Adolf Heinrich August von Zeppelin, ist 100 Jahre nach seinem Tod am 8. März 1917 in Berlin weitgehend vergessen. Noch in der Kinderzeit unserer Großväter war das anders: Zeppelin war damals ein Star. Das „Zeppelinbuch für die deutsche Jugend“ schwärmte 1909, das Luftschiff sei „ein in der ganzen Weltgeschichte unerhörtes Werk“.

So stimmte das freilich nicht: Vom Ballon der Gebrüder Montgolfier über Lenkballons bis hin zum motorgetriebenen Ballon des Leipzigers Friedrich Hermann Wölfert und den ersten Gleitfliegern und Flugzeugen gab es viele Versuche, die Luft zu erobern. Aber der württembergische Graf hatte wohl die richtige Idee zum passenden Zeitpunkt – und er war hartnäckig und ausdauernd, trotz vieler Rückschläge. „Man muss nur wollen, daran glauben, dann wird es gelingen“, war eine Richtschnur seines Handelns. Den „dümmsten aller Süddeutschen“ beschimpfte Kaiser Wilhelm II. den Luftfahrtpionier. Gegen Zeppelins „Wunderwaffe“ herrschte in Berlin Skepsis – obwohl das Berliner Kriegsministerium selbst seit 1886 eine Abteilung für „Luftschiffer“ unterhielt.

Ein Wunder schwebt über dem Bodensee

Als sich am Abend des 2. Juli 1900 eine riesige, 130 Meter lange Wurst über dem Bodensee bei Friedrichshafen in den Himmel hob, stand Zeppelin kurz vor seinem 62. Geburtstag. Geboren in Konstanz, aufgewachsen auf Schloss Girsberg im Schweizer Emmishofen, hatte er bis dahin einen für einen Adligen seiner Zeit typischen Lebensweg durchlaufen: Erst von Hauslehrern unterrichtet, nach dem Besuch des Polytechnikums Stuttgart Kriegsschule in Ludwigsburg. Als junger Leutnant Studium in Tübingen, u.a. Maschinenbau und Chemie. Militärlaufbahn bis zum General. Als Beobachter im amerikanischen Bürgerkrieg erlebte Zeppelin zum ersten Mal den militärischen Einsatz von Ballons und nahm selbst an einer Ballonfahrt teil – ein Erlebnis, das ihn tief geprägt hat.

Das "Zeppelinbuch für die deutsche Jugend" (ca. 1909) lässt den Kult erkennen, der damals um den Luftfahrtpionier entstand.

Das „Zeppelinbuch für die deutsche Jugend“ (ca. 1909) lässt den Kult erkennen, der damals um den Luftfahrtpionier entstand.

Erst nach seinem nicht ganz freiwilligen Abschied 1891 – Zeppelin hatte durch eine Denkschrift den Unwillen des Kaisers hervorgerufen – widmete er sich ganz seinen Visionen vom Luftschiffbau. Eine Kommission von Sachverständigen und das Berliner Kriegsministerium lehnten seine Projekte ab, in der Öffentlichkeit wurde Zeppelin verspottet. Trotzdem gelang es ihm, sich die Unterstützung des Vereins Deutscher Ingenieure zu sichern und 1898 die „Aktiengesellschaft zur Förderung der Luftschiffahrt“ zu gründen. Die Hälfte des Stammkapitals steuerte er aus seinem Privatvermögen bei.

Der Durchbruch kam mit einem Unglück

Finanzielle Schwierigkeiten, technische Probleme und Unfälle: Die nächsten Jahre waren für Zeppelin und sein Unternehmen hart. Letztlich brachte ein Unglück die Wende: Am 5. August 1908 musste der Prototyp LZ 4 in Echterdingen bei Stuttgart notlanden und wurde durch ein Gewitter zerstört. Das Luftschiff war auf einem Probeflug, von dem es abhing, ob die Reichsregierung die weitere Entwicklung der Zeppeline finanzieren würde. Noch am Unglücksort hielt ein Unbekannter eine offenbar flammende Rede, erste Geldspenden wurden gesammelt. Reichsweit lösen die Sympathie für den unbeirrbaren Grafen und die Begeisterung für die Luftfahrt eine Welle der Hilfsbereitschaft aus: Die „Zeppelinspende des deutschen Volkes“ erbrachte sechs Millionen Mark. Jetzt war es Zeppelin möglich, die „Luftschiffbau Zeppelin GmbH“ und die „Zeppelin-Stiftung“ zu gründen. Er kaufte bei Potsdam ein Gelände und begann mit dem Bau der fliegenden Zigarren.

Der jubelnde Empfang des "Graf Zelppelin" auf dem Luftschiffhafen in Berlin-Staaken im Juni 1930. Foto: Bundesarchiv, Bild 102-09992 / CC-BY-SA 3.0

Der jubelnde Empfang des „Graf Zelppelin“ auf dem Luftschiffhafen in Berlin-Staaken im Juni 1930. Foto: Bundesarchiv, Bild 102-09992 / Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/

Als Offizier hatte Zeppelin vor allem die militärische Nutzung im Visier, begonnen hat die Karriere des Flugfahrzeugs aber im zivilen Bereich: Die „Deutsche Luftschifffahrts AG“ beförderte bis 1914 auf 1588 Fahrten 34.028 Menschen unfallfrei durch die Lüfte. Die erste Fluggesellschaft der Welt bot der Oberschicht ein mondänes Vergnügen: Die Passagiere schwebten mit dem Komfort einer Erste-Klasse-Zugreise über die Landschaft.

Als 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, nutzte das deutsche Heer zunächst drei Zeppeline als Aufklärer. Bald wurden Kriegsluftschiffe gebaut: In Friedrichshafen produzierten rund 17.000 Menschen 100 Luftschiffe, später auch Flugzeuge. Sie warfen Bomben auf Antwerpen, London und Edinburgh. Zeppelin träumte von einer Tausend-Kilo-Bombe, die über der britischen Hauptstadt abgeworfen den blutigen Krieg verkürzen solle. Der schwäbische Pietist wusste um die Ambivalenz des Bombenkriegs und lehnte zivile Opfer ab. Der Kaiser verhing ein Redeverbot.

Das Kriegsende erlebt Zeppelin, der an den Folgen eines operativen Eingriffs starb, nicht mehr – ebenso wenig den Aufstieg seiner Luftschiffe zu Verkehrsmitteln und das jähe Ende durch den Brand der LZ 129 in Lakehurst/USA 1937, bei dem 36 Menschen ums Leben kamen. Das Unglück markiert auch das Ende der großen Passagier-Zeppeline.

Reichhaltige Ausstellung in Friedrichshafen

Im Zeppelin Museum in Friedrichshafen am Bodensee sind Entwicklung, Höhepunkt und eine mögliche Zukunft der Zeppeline in einer reichhaltigen Ausstellung thematisiert. Mit der nach eigenen Angaben weltweit größten Sammlung zur Technik und Geschichte der Luftschifffahrt und mit einer Kunstsammlung bedeutender Künstler Süddeutschlands vom Mittelalter bis zur Neuzeit eröffnete  das Museum 1996 in der unverkennbaren Bauhaus Architektur im Hafenbahnhof von Friedrichshafen. Das Museum zieht heute jährlich über 250.000 Besucher an.

Mit der Ausstellung „Kult! Legenden, Stars und Bildikonen“ vom 2. Juni bis 15. Oktober 2017 hinterfragt das Zeppelin Museum (ausgehend vom Kult um die ersten Luftschiffe) kritisch die Entstehung, Verbreitung und Rezeption des Phänomens Kult. Der zweite Teil der Ausstellung setzt sich mit den unterschiedlichen Strategien der „Verkultung“ und „Entkultung“ in der Kunst auseinander. Mechanismen des Kults in Gesellschaft, Politik und Populärkultur werden reflektiert und machen deutlich, wie sehr das Phänomen „Kult“ heute relevant ist. Die Ausstellung wird gefördert von der Kulturstiftung des Bundes.

Info: www.zeppelin-museum.de




Packende Reisen in der Fantasie: Vor 175 Jahren wurde der erfolgreichste deutsche Autor geboren

Karl May auf einem Foto von Erwin Raupp aus dem Jahr 1904. (Foto: Karl-May-Museum, Radebeul bei Dresden

Karl May auf einem Foto von Erwin Raupp aus dem Jahr 1904. (Foto: Karl-May-Museum, Radebeul bei Dresden)

Seine Bücher sind weiter verbreitet als die jedes anderen deutschen Autors: Schätzungen sprechen von 200 Millionen in mindestens 33 Sprachen. Karl May, der arme Webersohn aus Hohenstein-Ernstthal in Sachsen, hat wie kein zweiter Generationen von jugendlichen Lesern in seinen Bann gezogen. Von Theodor Heuss bis Helmut Kohl, von Hermann Hesse bis Utta Danella reicht die Liste seiner Bewunderer.

Der Schriftsteller und Literaturfachmann Hans Wollschläger fasst in einem Satz zusammen, was Karl May ausmacht: „Er war ein Mensch, der ungezählten Millionen das Unglück erleichtert, das Glück vermehrt hat, und er war letzten Endes auch ein großer Schriftsteller.“

Wer verschlang nicht nächtens unter der Bettdecke die grünen Bände aus dem Karl-May-Verlag? Wer bebte nicht vor Spannung, wenn es der edle Winnetou (gemeinsam mit Old Shatterhand) mit den Feinden seines Volkes aufnahm? Wem stockte nicht der Atem, wenn Kara Ben Nemsi durch die Schluchten des Balkan und von Bagdad nach Stambul ritt? Wer lachte und fieberte nicht zusammen mit Hadschi Halef Omar, mit dem May 1892 seinen Durchbruch erreichte? Wer den vollen Namen des charaktervollen Dieners aus dem Wüsten-Zyklus auswendig konnte, galt als Kenner: Hadschi Halef Omar Ben Hadschi Abul Abbas Ibn Hadschi Dawuhd al Gossarah.

Viel Prügel und wenig Brot

Wir eifrigen May-Leser zogen mit dem „blauroten Methusalem“ durch China, amüsierten uns über den dicken Mijnheer und das umwerfende Chinesisch des Käpt’n Turnerstick, lernten das Erzgebirge und die düsteren wie lichten Gestalten in seinen Wäldern und Tälern kennen – aber was wussten wir über den Autor? Dass er ein Hochstapler war? Ein Phantast, der seine Reisen und ihre Schauplätze erfunden hat, aber als wirklich und wahrhaftig ausgab? Ein Kleinkrimineller aus ärmlichen Verhältnissen? Ein Kolportage-Vielschreiber mit Werken ohne tieferen Sinn oder höheren Wert? All das wurde Karl May vorgeworfen. All das trifft zu, trifft aber nicht den wirklichen Karl May.

Geboren vor 175 Jahren, am 25. Februar 1842, hat Karl May eine Kindheit mit viel Prügel und wenig Brot. Der Vater erkennt seine Begabung, weiß aber nicht damit umzugehen: Der arme Weber lässt das Kind alles auswendig lernen, was er an „Bildungsgut“ erreichen kann. Karl muss sein Geld als Kegeljunge in der Gastwirtschaft verdienen; dort entdeckt er Räubergeschichten wie die von Rinaldo Rinaldini.

Als 17-jähriger Schulamtskandidat schafft er sechs Kerzen beiseite, um seiner Familie an Weihnachten ein paar Lichter mitzubringen, wird entdeckt und wegen Diebstahl entlassen. Er bekommt eine Stelle als Fachlehrer. An Weihnachten fährt er nach Hause, versäumt es, die alte Taschenuhr seines Mitbewohners wieder im gemeinsamen Zimmer aufzuhängen: Am Ersten Weihnachtstag wird er wieder verhaftet.

Wilder Westen, geheimnisvoller Orient

Skurrile Betrügereien, falsche Identitäten, Flucht nach Böhmen, Zuchthaus: Mays Karriere ist die eines Entwurzelten, den eine unsensible Justiz aus nichtigen Anlässen zum Kriminellen macht. Immerhin: In der Haft in Waldheim begegnet er dem katholischen Anstaltskatecheten Kochta, der ihm Mut macht: May beginnt zu schreiben; 1872 entstehen die ersten Publikationen. Der Verleger Heinrich Gotthold Münchmeyer sucht solche „Subjecte“ für seine neu gegründeten, für die breite Masse bestimmten Zeitschriften. Er heuert May 1874 an. May heiratet, hofft auf eine bürgerliche Existenz.

Fantasie, dargestellt als Wirklichkeit: Karl May als Old Shatterhand, fotografiert 1896 von Alois Schießer. Foto: Karl-May-Museum Radebeul bei Dresden

Fantasie, dargestellt als Wirklichkeit: Karl May als Old Shatterhand, fotografiert 1896 von Alois Schießer. (Foto: Karl-May-Museum, Radebeul bei Dresden)

1875 taucht erstmals Winnetou auf. In den nächsten fünf Jahren entwickelt sich May zum professionellen Schriftsteller für Unterhaltungsliteratur. Sein Figuren-Kosmos steht: Old Shatterhand, Old Firehand, Kara Ben Nemsi oder der skurrile Sam Hawkens bevölkern seinen Wilden Westen und seinen Orient.

Später sollte er diese Gegenden bereisen und bitter enttäuscht werden: Fantasie und Realität klafften allzu weit auseinander. Aber in seiner Fantasie hat May – gestützt auf weitreichende Recherchen – die exotischen Ziele seiner inneren Reisen treffend erfasst: „Bei Allah, dieser Karl Ben May hat den Orient im Hirn und Herzen mehr verstanden als ein Heer heutiger Journalisten, Orientalisten und ähnliche Idiotisten“, urteilte der syrische Schriftsteller Rafik Schami.

Empor ins Reich des Edelmenschen

Karl May lebt dennoch in seiner Welt. Realität und Fantasie auseinanderzuhalten, fällt ihm schwer. Er behauptet, Abenteuer aus seinen Büchern selbst erlebt zu haben. Die „Villa Shatterhand“ in Radebeul, 1896 gekauft, ist voll von angeblichen Souvenirs seiner Abenteuer.

Gleichzeitig wird er bekämpft und verunglimpft. Schwer trifft es ihn, als seine Vorstrafen bekannt werden. Sensationslüsterne Journalisten und bigotte Moralapostel überziehen ihn mit Polemik und Prozessen. Er gewinnt sie alle, stirbt dennoch am 30. März 1912 als gebrochener Mann – wie vor kurzem erst durch eine Untersuchung festgestellt wurde, vermutlich an den damals verbreiteten Umweltgiften Blei und Cadmium.

Der letzte Triumph des tief gläubigen Christen war ein Vortrag in Wien: „Empor ins Reich des Edelmenschen“. Inmitten einer kriegslüsternen Welt, in einem Deutschland, das sich als Kolonialmacht wenig um Menschenrechte schert, legt er ein Credo ab zum Frieden  zwischen Völkern, Rassen und Religionen und ein Bekenntnis zu einem christlich inspirierten Humanismus.

May hat diese Gedanken in seinem wenig bekannten Spätwerke „Ardistan und Dschinnistan“ entwickelt. Heute haben es seine Bücher schwer, sich gegen Fantasy und virtuelle Spielwelten zu behaupten. Der Wilde Westen oder ein exotisch eingefärbter Orient sind keine Sehnsuchtsorte für träumende junge Menschen mehr. Die Abenteuer seiner Helden wirken heute zahm und ein wenig altbacken. Dennoch: Mays psychologisch komplexe Persönlichkeit, sein erzählerischer Kosmos und seine visionären Gedanken lohnen bis heute die Lektüre.

Ausstellungen zum Geburtstag

Karl May. Collage: Karl-May-Museum Radebeul bei Dresden

Karl May. (Collage: Karl-May-Museum, Radebeul bei Dresden)

Das Andenken Karl Mays wird in zwei Museen hoch gehalten, die sich zum 175. Geburtstag des Autors mit Ausstellungen und Veranstaltungen in Position bringen. Im Karl-May-Museum in Radebeul in Mays ehemaligem Wohnhaus, der „Villa Shatterhand“, ist nicht nur sein Arbeitszimmer zu besichtigen, sondern auch jede Menge Erinnerungsstücke und Sammlungsobjekte – bis hin zu den berühmten Gewehren seiner Romanhelden, dem „Bärentöter“ oder dem „Henrystutzen“. In der „Villa Bärenfett“ ersteht der romantische Wilde Westen neu, wie ihn May beschrieben hat. Das Museum ist dabei, sich zeitgemäß weiterzuentwickeln und sucht dafür „Blutsbrüder“, die seine Visionen finanziell unterstützen.

Derzeit bietet das Museum noch bis Ende 2017 die Sonderausstellung „Verborgene Schätze – Aus dem Depot des Karl-May-Museums“. Dort sind seltene Kostbarkeiten aus nahezu allen Teilen der Erde zu sehen, die teils aus dem privaten Nachlass des Schriftstellers und seiner zweiten Ehefrau Klara stammen, teils durch den Artisten Patty Frank und weitere von Karl May begeisterte Sammler ihren Weg in die Bestände fanden – darunter eine wertvolles Lederhemd, das dem Sioux-Häuptling Red Cloud gehört haben soll.

Auch in Mays Geburtsort Ernstthal wird der Geburtstag gefeiert. Sein Geburtshaus kann besichtigt und soll demnächst durch einen modernen Service- und Ausstellungsbereich erweitert werden. Eine am Geburtstag Mays eröffnete Sonderausstellung zeigt unter dem Titel „Stehaufmännchen Winnetou – Karl May und die literarischen Adaptionen“, wie Mays Figuren von anderen Autoren weiterverwendet und –entwickelt wurden.

Schließlich zeigt noch das Haus der Stadtgeschichte in Offenbach am Main eine Jubiläums-Ausstellung: „Durch die Wüste in den Westen“ präsentiert vom 25. Februar bis zum 19. März  Zeichnungen aus dem Nachlass von Klaus Dill (1922–2000). Der Western-Zeichner illustrierte unzählige Szenen aus den Werken Karl Mays. Ausgewählte Blätter aus diesen Beständen werden mit Leihgaben aus überregionalen Karl May-Sammlungen gezeigt.




Ein Rathaus kündet vom guten Leben bei Wein und Gesang

Rathäuser als Zentralen der kommunalen Politik können das unterschiedlichste Aussehen und die seltsamste Geschichte haben. Wenn es sehr gut kommt, dann wurden sie direkt als Rathaus gebaut wie das wunderschöne spätmittelalterliche Fachwerkhaus in der Altstadt von Hattingen oder das Rathaus von Michelstadt – angeblich das älteste seiner Art in Deutschland.

Rathaus Ennepetal, früher ein Wohnheim für junge Fabrikarbeiterinnen. (Foto HH Pöpsel)

Weniger schön finden die meisten Bürger ihre als Neubauten errichteten Rathaus-Betonschachteln, wie man sie in Lüdenscheid oder Essen findet. Wieder andere Rathäuser zogen in ein Gebäude, das ursprünglich für einen ganz anderen Zweck gebaut wurde. Zu dieser Art gehört auch die Stadtverwaltung in der Industrie-Kleinstadt Ennepetal am Südrand des Ruhrgebietes.

Die Stadt gab es bis 1949 noch gar nicht. Zwei Gemeinden – Milspe und Voerde – schlossen sich damals freiwillig zusammen. Sie waren schon zuvor als ein gemeinsames Amt Milspe-Voerde locker verbunden gewesen, und diese Amtsverwaltung residierte seit 1937 in einem großen Altbau, der schon Ende des 19. Jahrhunderts von einem Fabrikanten als Wohnheim für seine jungen Fabrikarbeiterinnen gebaut worden war. War schon die Beschäftigung von Frauen in dieser Größenordnung in einer Schraubenfabrik damals ungewöhnlich, so war es die fürsorgliche Unterbringung nicht minder.

Neckische Putten mit Weinreben am alten Rathaus. Prost. (Foto HH Pöpsel)

Als einige Jahrzehnte später das Gebäude für diesen Zweck nicht mehr gebraucht wurde, wechselte es den Besitzer, der es zu einem Hotel umbaute. Auf diese Weise kamen auch die Stuckelemente an die Vorderfront, die vom guten Leben bei Wein und Gesang berichten. Als dann später die Amtsverwaltung einzog, ließ man den Außenschmuck unangetastet, und so blieb es auch, als nach der Stadtgründung im April 1949 ganz folgerichtig das Rathaus der neuen Stadt dort eingerichtet wurde.

Auch heute noch dient es als Verwaltungsgebäude, und im Sitzungssaal tagen noch immer die Politiker – wenn auch nicht mehr bei Bier und Wein. Das gibt es nur noch nach Dienstschluss in der Kantine, und die liegt immerhin im Untergeschoss dieses seltsamen Rathauses.




Fast alles über die eiskalten Zeiten: Bernd Brunners Buch „Als die Winter noch Winter waren“

Die Samen (Ur-Skandinavier), die es wohl wissen mussten, haben mindestens zwischen Früh-, Mittel- und Spätwinter unterschieden. Ein durchschnittlicher Schneemann besteht aus rund 100 Milliarden Flocken. Anno 1890 mussten Zugpassagiere in Nevada schneehalber volle zwei Wochen in den Waggons ausharren. Und in Rio? Da bibbern sie angeblich schon bei 24 Grad plus.

Man ahnt es schon: Dieses Buch bewegt sich kursorisch kreuz und quer durch alle vorstellbaren Winter- und Kälte-Erfahrungen. Zwar gibt es eine Kapiteleinteilung, doch hin und wieder herrscht trotzdem ein bisschen Durcheinander; ganz so, als hätte sich der Autor bisweilen im Schneegestöber befunden. Der Mann heißt Bernd Brunner, sein Buchtitel ruft die oft ungemütlichen alten Zeiten auf: „Als die Winter noch Winter waren“, das könnte – so oder so – ein Stoßseufzer sein. Heute sind wir in der Hinsicht ja nichts mehr gewohnt. Früher war mehr Minus.

Echte Herausforderungen

Was die etwas Älteren unter uns vielleicht zuletzt im klirrenden Winter 1978/79 erfahren haben mögen, ist hier auf 240 Seiten gang und gäbe: Es geht vornehmlich um die harten Winter von ehedem, in denen man vor lauter Schnee nicht mehr wusste, wo oben und unten war. Über Jahrhunderte war der Winter eine echte, vielfach tödliche Herausforderung für die Menschen, die darob auch ziemlich abergläubisch waren. Und wie hat man eigentlich früher geheizt, welche Probleme gab es dabei? Auch solche gar nicht profanen Fragen werden abgehandelt.

Mjöll und Hundslappadrifa

Überdies geht es – die Jahrtausende überspannend – um Eiszeit und derzeitigen Klimawandel, um winterliche Überlebens-Strategien der Tier- und Pflanzenwelt, um Schönheit und Regelmaß der Schneekristalle, um Eisblumen und Eiszapfen, um entbehrungsreiche Arktis- und Antarktis-Expeditionen, um vielfältig differenzierte Bezeichnungen der Inuit, Norweger und Isländer: Mjöll heißt frischer Schnee auf Isländisch. Wie wohlig weich das klingt. Geradezu verlieben kann man sich ins folgende Wort: Hundslappadrifa bedeutet Schneefall mit großen Flocken…

Die Erfindung des Winterurlaubs und des Wintersports sowie das Aufkommen der Sehnsucht nach „Weißer Weihnacht“ (erst seit Mitte des 19. Jahrhunderts) deuten auf einen tiefgreifenden Wahrnehmungswandel auf Basis des bau- und heiztechnischen Fortschritts hin. Solche Passagen über die Mentalitätsgeschichte hätte man sich etwas ausführlicher gewünscht.

Bloß keinen Aspekt vergessen

Doch Brunner gewichtet nicht so sehr, sondern grast sein Thema mitsamt allerlei Kuriosa und Extremen rundum ab und garniert es mit allerlei literarischen Zitaten, Anekdoten und wissenschaftlichen Streiflichtern. Niemand soll ihm vorwerfen können, er hätte beim Recherchieren oder Aufzeichnen einen Aspekt vergessen.

Doch nichts ist perfekt, auch nicht das Lektorat: Ein ziemlich rätselhafter Fehler in diesem Buch ist mir neulich schon per Zufall begegnet. Wenn man dann z. B. noch einen argen Lapsus wie „Popularität schwedischer Autoren wie Strindberg und Ibsen“ (so wörtlich auf Seite 153) vorfindet, so schmälert dies allmählich das Vertrauen ins ganze Buch. Das mag ungerecht sein, doch wer weiß, was man noch übersehen hat.

Anfangs hatte ich gedacht und gehofft, hier wandle einer auf den Spuren des grandiosen Kulturhistorikers Wolfgang Schivelbusch, der auf wunderbar ergiebige Art alltagsnahe Themen wie etwa die Geschichte der Eisenbahnreise und der Genussmittel aufbereitet hat. Diese Hoffnung ist mir nach und nach etwas abhanden gekommen.

Jetzt lesen, bevor es zu spät ist

Gewiss: Brunner hat gar fleißig gesammelt und angehäuft, doch die Erkenntnisse, die über die puren winterlichen Phänomene hinaus weisen, halten sich denn doch in Grenzen. Angesichts der schieren Fülle des Materials hätte eine strengere Systematik gutgetan. So aber erschöpft sich die manchmal atemlose Darstellung gelegentlich in einem „Und dann war da auch noch…“ Auch lässt sich Brunner via Zitatstellen eine ganze Menge Text liefern.

Aber vielleicht hat sich die ganze Chose in dieser Form für uns eh bald erledigt. In den Abschnitten über Klimawandel hört sich schon manches nach Abgesang auf den europäischen Winter an. Also wird’s wohl hohe Zeit, dieses Buch noch schnell zu lesen – am besten mit Heißgetränk und auf dem Sofa in die Wolldecke eingemummelt.

Wer den Frühling schließlich kaum noch abwarten kann, wird in diesem Buch trostreich mit Zahlen bedient: Demnach kommt der Lenz, wenn er einmal begonnen hat, in unseren Breiten pro Minute 28 Meter und pro Tag 40 Kilometer nordwärts voran.

Bernd Brunner: „Als die Winter noch Winter waren. Geschichte einer Jahreszeit“. Galiani Berlin. 240 Seiten. 18 €.

P. S.: Um schöne Themenfindungen ist Bernd Brunner nicht verlegen. 2012 trat er bereits mit dem Buch „Die Kunst des Liegens. Handbuch der horizontalen Lebensform“ hervor.




Auch in der DDR gab es Spielräume – 66 Facetten eines Lebens in Matthias Biskupeks „Der Rentnerlehrling“

Gastautor Heinrich Peuckmann über einen Erzählband, der manchen Aufschluss über das Leben in der einstigen DDR gibt:

Wer mit 65 Jahren ins Rentenalter eintritt, beginnt eine neue Lehrzeit, meint der Rudolstädter Schriftsteller Matthias Biskupek, er wird nämlich ein „Rentnerlehrling“.

Als er selber in diesen Lehrlingsrang kam, hat Biskupek, wie Schriftsteller das eben tun, ein Buch geschrieben, um sich seines bisherigen Lebens zu vergewissern und von dieser Plattform aus die restlichen Schritte zu gehen.

In 66 Geschichten, die weitgehend Lebenserinnerungen sind, hat Biskupek sein Leben rekapituliert. Für jedes Jahr eine Geschichte, dazu als Einleitung ein kurzer Bericht über das, was er genau erlebt hat mit Bezügen zum allgemeinen Weltgeschehen.

Der sachliche Vorspann ist deshalb notwendig, weil Biskupeks Geschichten keine bloßen Berichte sind, sondern Erzählungen, mal ironisch, mal satirisch zugespitzt, mal literarisch verdichtet. Und dies ist eine glückliche Kombination, denn der Leser kann einerseits Biskupeks Lebensweg nachvollziehen, in den Geschichten andererseits sehr viel über den DDR-Alltag und über die Literaturszene des untergegangenen Landes insbesondere erfahren. Je mehr der Leser eintaucht in das Buch, desto mehr merkt er, dass er vieles über die DDR ungenau, undifferenziert oder gar nicht gewusst hat.

Die Schriftstellerszene, die Biskupek aus der Innensicht heraus genau gekannt hat, steht dabei als eine Art Gradmesser für die allgemeine Entwicklung. Natürlich hat die Stasi versucht, auch ihn als IM zu rekrutieren, es fanden Gespräche statt, von denen er erst nach der Wende erfahren hat, dass die Stasi sie als informelle Gespräche gewertet hat. Aber er ist dort nicht gelandet, sondern hatte, weil er nicht stromlinienförmig mitschwamm, ein gerüttet Maß an Nachteilen in Kauf zu nehmen.

Kleine Perlen sind in diesem Zusammenhang die Berichte über interne Kämpfe. Wer kennt im Westen noch den Magdeburger Schriftsteller Wolf Brennecke? Er leitete dort eine Gruppe junger Autoren an, zu denen auch Brigitte Reimann und Rainer Kunze gehörten. Brennecke hat den demokratischen Anspruch, den ja auch die DDR für sich in Anspruch nahm, bitterernst genommen. Einmal mehrheitlich gefasste Beschlüsse hat er eisern versucht durchzusetzen. Er war nicht gegen den Staat, er hat nur manches Mal seinen eigenen Anspruch gegen ihn selber verteidigt. Als Brigitte Reimanns Mann im Gefängnis saß, hat die Stasi sie erpresst und angeworben. Als Brennecke das erfuhr, ist er zu den Ämtern gestürmt, hat sie dort verteidigt und dem Staat vorgeworfen, dass er dabei sei, eine solche Autorin in den Westen zu vertreiben.

Solche Haltungen waren also möglich, es gab Spielraum und es lag an der Tapferkeit des einzelnen, ob und wie er sie nutzte. Natürlich gab es Grenzen, das darf nicht vergessen werden. Eine Zeitlang arbeitete Biskupek, der eigentlich ein Ingenieurstudium abgeschlossen und diesen Beruf auch ausgeübt hat, am Theater in Rudolstadt. Mit viel sanftem Humor schildert er die Erlebnisse der Schauspieler und Autoren untereinander, auch die regelmäßigen Mühen, dieses oder jenes Stück überhaupt auf die Bühne zu bekommen. Aber mit List und Tücke war eben doch manches möglich.

Es macht Freude, diesen Lebenserinnerungen zu folgen. Man nimmt etwas mit und man muss beim Lesen sehr genau aufpassen, wie Biskupek diese oder jene Passage wirklich meint. Seine Ironie ist gut dosiert, sie verwässert nicht, aber fordert den Leser.

Matthias Biskupek: „Der Rentnerlehrling. Meine 66 Lebensgeschichten“. Mitteldeutscher Verlag, Halle. 352 Seiten, 19,95 Euro.




Der ewige Zwiespalt: Gehört die Stadt Dortmund eher zu Westfalen oder zum Ruhrgebiet?

Vor einigen Tagen gab es ein mächtiges Rumoren im Ruhrgebiet. Oder war’s eher ein klägliches Jammern und Jaulen? Thomas Westphal, Chef der Dortmunder Wirtschaftsförderung, hatte es offenbar gewagt, am gelingenden Strukturwandel des Ruhrgebiets zu zweifeln.

Westfalen oder Ruhrgebiet? Impression aus der Dortmunder Innenstadt, rechts die von Mario Botta entworfene Stadt- und Landesbibliothek. (Foto: Bernd Berke)

Westfalen oder Ruhrgebiet? Impression aus der Dortmunder Innenstadt, vorn die von Mario Botta entworfene Stadt- und Landesbibliothek. (Foto: Bernd Berke)

Der übrigens in Lübeck geborene und also des hiesigen Stallgeruchs ermangelnde, jedoch namentlich für Westfalen prädestinierte Westphal belobhudelte (etwas penetrant pro domo) die von ihm mitverantwortete Entwicklung in Dortmund, das er als digitales Zentrum für Westfalen ausschilderte. Laut WAZ fuhr er in diesem distanzierenden Sinne fort: „…obgleich wir öffentlich immer gerne zum Bestandteil des niedergehenden Ruhrgebiets gemacht werden, sind wir in Wirklichkeit ein Motor der westfälischen Boomregion.“

Das böse Wort vom Niedergang

Oha! Niedergehendes Ruhrgebiet. Bei diesen Reizworten bekamen sie beim Regionalverband Ruhr (RVR), der es sich allzeit angelegen sein lässt, das Revier in günstigem Licht darzustellen, Anfälle von Schnappatmung: Und das uns! Und das vom Wirtschaftsförderer der größten Ruhrgebiets-Kommune, der noch dazu vorher selbst beim RVR gearbeitet hat. Roland Mitschke (Bochum), CDU-Fraktionschef im so genannten Ruhrparlament, sprach deshalb von „Mangel an nachlaufender Loyalität“. Eine hübsche Formulierung, fürwahr.

Besonders aus den Reihen der Ruhrgebiets-CDU wurde vom Dortmunder OB Ullrich Sierau (SPD) nicht nur sofortige, „öffentlich sichtbare Distanzierung“ von den garstigen Worten gefordert, sondern gleich auch noch Westphals Amtsverzicht. Kleine Münze wird da halt nicht ausgezahlt.

Der Westen ist nur eine Richtung

Gewiss, Westphals Sätze waren in der Tat unglücklich zugespitzt. Doch nun mal halb lang. Man schaue sich die Lage von Dortmund auf einer handelsüblichen Landkarte an. Im Westen geht die Stadt zwar ins Ruhrgebiet über, jedoch im Süden ins Sauerland, nordwärts in die Ausläufer des Münsterlandes, östlich nach Unna und ins Vorfeld der Soester Börde. An drei Seiten ist also nicht so sehr die industrielle, sondern vornehmlich eine ländliche Umgebung prägend. Das unterscheidet die Stadt sehr wohl von Gemeinden, die in drangvoller Enge mitten im Pott liegen. Und das wiederum hat Einfluss aufs lokale Bewusstsein.

Nicht zuletzt aus Imagegründen ist es daher langjährig geübte Dortmunder Praxis, sich weniger als Revierkommune zu gerieren, sondern in erster Linie als „Westfalenmetropole“, was sich freilich etwas geschwollen anhört. Hätte man gewisse Gebäudeensembles nach dem Krieg nicht abgerissen, so wäre der historische Zusammenhang vielleicht noch sinnfälliger. So aber hat der übliche sozialdemokatische Betonwust der „autogerechten Stadt“ auf hässliche Weise die Oberhand gewonnen. So richtig westfälisch sieht das nicht mehr aus. Auf dem Gebiet sammelt Münster eindeutig mehr Punkte.

Trotzdem: Immer wieder hat sich die vormalige Freie Reichsstadt und Hansestadt Dortmund gern westfälisch bespiegelt. Namen wie die Westfalenhalle, Westfalenstadion oder Westfälische Rundschau (*1946 †2013) und viele andere künden davon. Richtig, andererseits erscheinen in der Stadt die Ruhrnachrichten. Aber die gehören schon zu den Ausnahmen von der Regel.

Absetzbewegungen

Immer mal wieder hat es auch Absetzbewegungen vom Ruhrgebiet gegeben, um 2007/2008 drohte der damalige Dortmunder Oberbürgermeister Gerhard Langemeyer (SPD) gar brüsk mit dem Austritt aus dem Regionalverband Ruhr (RVR). Der Zwiespalt bewegte ihn auch noch im Herbst 2015. Da referierte der Ex-OB gemeinsam mit dem einstigen NRW-Städtebauminister Christoph Zöpel über das Thema „Heimat Dortmund – Großstadt in Westfalen oder Metropole Ruhr?“

Niemals hat man sich in Dortmund so mit dem „Pott“ als Ganzes identifiziert wie etwa in Essen, wo sie zwar weniger Einwohner haben als in Dortmund, sich aber gleichwohl als Revier-Kapitale sehen. Auch die Phantasien von einer künftigen „Ruhrstadt“ fielen in Dortmund am wenigsten auf fruchtbaren Boden.

Anzeichen eines „Niedergangs“ gibt es indessen nicht nur im mittleren und westlichen Revier. Da nützt alle geflissentliche Berufung auf Westfalen nichts: Auch Dortmund hat arge Probleme, die eben nicht mit landsmannschaftlich getönter Symbolpolitik zu bewältigen sind.




Kein Recht auf Vergessen: Gelsenkirchen überzeugt mit Mieczysław Weinbergs erschütternder Oper „Die Passagierin“

Alfia Kamalova und Bele Kumberger als Katja und Yvette in Mieczyslaw Weinbergs "Pasazerka" - zwei Frauen, die Opfer der Brutalität der Vernichtungsmaschinerie Auschwitz werden. Foto: Forster

Alfia Kamalova und Bele Kumberger als Katja und Yvette in Mieczyslaw Weinbergs „Pasazerka“ – zwei Frauen, die Opfer der Brutalität der Vernichtungsmaschinerie Auschwitz werden. (Foto: Forster)

Namen. Die Menschen haben Namen. Sie heißen Hannah, Yvette, Bronka, Tadeusz. Und sie erzählen Geschichten, Lebens-, Sehnsuchts-, Erinnerungsgeschichten. Ganz im Gegensatz zu ihren Peinigern. Bei denen sind sie Nummern. Die Menschen, die ihre Fäuste, Schlagstöcke und Pistolen gegen ihre Mitmenschen richten, erzählen nichts. Sie räsonieren nur über ihre Ideologie. Und als die Geschichte in das Leben einer der Uniformierten einbricht (durch eine stumme Begegnung, nur einen Blick), offenbart sich die ganze Erbärmlichkeit ihrer Existenz.

Ja, man könnte Mieczysław Weinbergs „Pasażerka“ („Die Passagierin“) auf eine „KZ-Oper“ eingrenzen. Ein tief berührendes Zeugnis dafür, dass Kunst sich selbst diesem furchtbarsten aller Schreckensorte des Bösen nähern kann. Wie erschütternd die Konfrontation wirkt, war nach der Premiere im Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen spürbar: Betroffenheit und Beklemmung lasteten geradezu greifbar im Raum.

Beim Beifall stand auf der Bühne, mitten unter den Künstlerinnen und Künstlern, eine zierliche Frau: die 93-jährige Zofia Posmysz. Sie hat Auschwitz überlebt und in einer durch ein persönliches Erlebnis angeregte Novelle die fiktive Begegnung einer Täterin mit einem ihrer Opfer beschrieben. Die Erzählung bildet die Grundlage für Weinbergs Oper.

Aber das bis 2010 in der westlichen Welt unbekannte Werk des 1919 in Polen geborenen jüdischen Komponisten will nicht zuerst die Vernichtungsmaschinerie der Nazis dokumentieren. Als „Hymne an den Menschen, an ihre Solidarität, die dem fürchterlichen Übel des Faschismus die Stirn geboten hat“, bezeichnet Weinbergs enger Freund und Förderer Dmitri Schostakowitsch die Oper.

Das Libretto von Alexander Medwedew fügt in die Erzählung Zofia Posmysz‘ Frauen ein, die aus Polen, Frankreich, Russland kommen, die ihre Leiden und Hoffnungen ins Lager mitgebracht haben, die dulden, beten, weinen, sich empören und lieben. Und die auf diese Weise Menschlichkeit im Verborgenen weiterleben lassen, kleine Inseln der Humanität schaffen. Die aber auch die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes stellen, nach seiner Anwesenheit in der Hölle von Auschwitz. Vielleicht, so eine der Frauen, sei Gott in Auschwitz noch einmal Mensch geworden und hier gestorben.

Beklemmende Bilder in Gabriele Rechs Inszenierung von Mieczyslaw Weinbergs "Die Passagierin" am Musiktheater im Revier. Foto: Forster

Beklemmende Bilder in Gabriele Rechs Inszenierung von Mieczyslaw Weinbergs „Die Passagierin“ am Musiktheater im Revier. (Foto: Forster)

Die kalten Zahlen, die in einer Projektion die Namen zu verdrängen suchen, triumphieren nur in der Ideologie der Peiniger: Die Menschen im Lager lassen sich nicht enthumanisieren – auch wenn es die Denunziantin, den weiblichen „Kapo“ in gestreifter Kluft mit Schlagstock gibt. „Abstrakter Humanismus“ wurde Weinberg vorgeworfen, die Oper daher erst 2006, zehn Jahre nach seinem Tod, konzertant in Moskau erstmals aufgeführt. Was für ein abstruser Vorwurf, aber er enthüllt in seiner perversen Form eine Wahrheit: Worauf Weinberg besteht, ist das Überleben der Menschlichkeit selbst dort, wo nur noch Tod und Teufel zu regieren scheinen. Eine Botschaft, die über die Bedingungen der historischen Konkretion in Auschwitz hinaus beansprucht, gültig zu sein.

Weinberg lässt die „Passagierin“ mit einem Appell für die Erinnerung enden. „Wenn das Echo eurer Stimmen verhallt, gehen wir zugrunde“, zitiert er einen Paul Eluard zugeschriebenen Satz. In ihrem sanften, lyrischen Schlussgesang nennt die überlebende Marta noch einmal die Namen ihrer Mitgefangenen im Lager.

Es geht nicht um ein abstraktes, formalisiertes Gedenken. Es geht um Menschen. Keiner der Ermordeten geht in der Opferrolle auf. Jeder hat Charakter, Geschichte, Beziehungen, Herkunft und Ziel. Der Namen hält das Leben fest. Nicht umsonst sind in der Gedenkstätte Yad Vashem in Israel die Namen der Holocaust-Opfer in Stein graviert, können auch im Internet recherchiert werden. Und daher noch einmal: Hannah, Yvette, Bronka, Tadeusz, Katja, Krystina, Vlasta …

„Die Passagierin“ wurde erst 2010 bei den Bregenzer Festspielen szenisch uraufgeführt und seither in Europa und Amerika mehrfach, in Deutschland in Karlsruhe und Frankfurt wieder inszeniert. Gelsenkirchen nimmt die Herausforderung an, dieses wichtige und schwierige Werk erneut zur Debatte zu stellen. Die Premiere – einen Tag nach dem Internationalen Gedenktag der Opfer des Nationalsozialismus  – ist begleitet von einem umfangreichen Rahmenprogramm, das am 1. Juli mit einem Gastspiel des Theaters Hof mit George Taboris „Mein Kampf“ endet.

Sorgfältige Menschenstudien: Tadeusz (Piotr Prochera) und L;isa (Hanna Dora Sturludottir). Foto: Forster

Sorgfältige Menschenstudien: Tadeusz (Piotr Prochera) und L;isa (Hanna Dora Sturludottir). Foto: Forster

Regisseurin Gabriele Rech legt Wert auf sorgfältige Menschenstudien, von der eilfertig prügelnden Aufseherin (Patricia Pallmer), die sich durch Anbiederung zu retten hofft, über die resignierten, aber nicht gebrochenen Frauen, die wie Yvette (Bele Kumberger) sogar noch zu träumen wagen, bis hin zu dem Musiker Tadeusz (Piotr Prochera), der bis zur Hingabe des eigenen Lebens entschlossen ist, sich und sein Gewissen nicht brechen zu lassen: Als der Lagerkommandant, ein „Musikkenner“, von ihm einen trivialen Walzer fordert, spielt er ein Beispiel universaler Musik, Johann Sebastian Bachs Chaconne.

Das Einheitsbühnenbild von Dirk Becker macht es der Regisseurin nicht leicht, die filmähnlichen Rückblenden zu inszenieren. Der Raum, durch dunkel vertäfelte Holzportale gegliedert, mit einem Podium im Hintergrund und einer Bar an der Seite, ist anfangs der moderne Salon eines Schiffes, auf dem der Diplomat Walter und seine Frau Lisa nach Brasilien reisen. Im eleganten Cocktailkleid der ausgehenden fünfziger Jahre – die historisch verorteten Kostüme sind von Renée Listerdal – versuchen die beiden, ihr Recht auf Vergessen zu behaupten, aber die „schwarze Todeswand“ von Auschwitz widerspricht: Der Chor singt aus dem Rang und vergegenwärtigt, was verdrängt werden soll.

Täterin und Opfer: Lisa (Hanna Dora Sturludottir) und Marta (Ilja Papandreou) in der Gelsenkirchener Inszenierung von Mieczyslaw Weinbergs "Die Passagierin". Foto: Forster

Täterin und Opfer: Lisa (Hanna Dora Sturludottir) und Marta (Ilja Papandreou) in der Gelsenkirchener Inszenierung von Mieczyslaw Weinbergs „Die Passagierin“. (Foto: Forster)

Als Lisa – die KZ-Aufseherin Anna-Lisa Franz war das Vorbild – in einer Passagierin die ehemalige Auschwitz-Gefangene Marta zu erkennen glaubt, schiebt sich die Vergangenheit in die elegante Wirtschaftswunder-Kulisse. Aus dem Salon wird der Schauplatz des Totentanzes, Uniformierte marschieren auf. Dass der Raum genauso gut als SS-Kasino durchgehen könnte, weist subtil darauf hin, dass es zwischen der Nazizeit und der jungen Bundesrepublik mehr Kontinuitäten gegeben hat als fassbar waren: Die Letzten, die als Täter in Frage kommen, stehen erst heute vor Gericht.

Rech lässt das blonde Lieschen zur „arischen“ Frau in Uniform mutieren, die nicht prügelt oder tötet, sondern mit ihren Opfern ein subtiles Spiel einfädelt: Sie gewährt scheinbar Momente der Menschlichkeit, etwa, wenn sie Marta und ihrem Geliebten Tadeusz ein heimliches Treffen ermöglicht. Aber ihr Ziel dabei ist die innere Demütigung der Gefangenen, wenn sie sich selbst verraten, um aus ihren Händen die Gunst zu empfangen. Dass sie damit an der charakterlichen Festigkeit von Marta und Tadeusz scheitert, irritiert sie zutiefst: In sinisterer Verwunderung beklagt Lisa den Hass, den ihr die Gefangenen entgegengebracht haben.

Hanna Dóra Sturludóttir zeigt, wie diese Frau den Halt verliert, der ihr das Verdrängen und ihre konstruierten Rechtfertigungen gegeben haben – und wie die Beziehung zu dem karrierebewussten Walter (Kor-Jan Dusseljee) zerbricht. Ihre letzten Klagen hört der Mann überhaupt nicht mehr; er blättert teilnahmslos am Tresen in der Zeitung. Das Ende der Oper – und des Selbstbetrugs Lisas – kommt mit dem dämonisch verzerrten Walzer und einem träumerischen Lied Martas. Ilia Papandreou singt es mit anrührender Einfachheit, nachdem sie drei intensive Stunden lang die schweigende, allein durch ihre Präsenz wirkende Passagierin und die auch angesichts des sadistischen Hohns der „Aufseherin Franz“ starke, mutige Frau im Lager verkörpert hat.

Auch wenn die Frankfurter Inszenierung Anselm Webers vor zwei Jahren nicht zuletzt wegen der überzeugenden Bühne von Katja Haß für das Verschmelzen von Realität und Erinnerung eine noch prägnantere Bild-Lösung gefunden hat: Gelsenkirchen kann sich neben den bisherigen Produktionen der „Pasażerka“ anstandslos behaupten und punktet mit einem alles in allem großartigen Ensemble, zu dem die zahlreichen, in mehreren Sprachen singenden Darsteller ebenso beitragen wie der von Alexander Eberle sattelfest einstudierte Chor und die Statisterie des Hauses.

Valtteri Rauhalammi festigt den Eindruck, ein präsenter, genauer, sensibler Orchesterleiter zu sein; die Neue Philharmonie Westfalen bestätigt den Aufwärtstrend der vergangenen Jahre erneut eindrucksvoll in den vielen genau ausgehörten kammermusikalischen Abschnitten der Musik Weinbergs, aber auch in den an Schostakowitsch erinnernden schrägen Zitaten von Unterhaltungsmusik, den unheimlich präzisen Schlägen und den harmonisch verdichteten Stellen, an denen der Klang des ganzen Orchesters gefordert ist.

Mit solchen ambitionierten Produktionen lässt Intendant Michael Schulz das Musiktheater im Revier in einer Liga spielen, in der es die im Mainstream erstarrende Deutsche Oper am Rhein Christoph Meyers deklassiert und das Aalto-Theater in Essen ernsthaft herausfordert. Und auch in Dortmund wird sich der Nachfolger Jens-Daniel Herzogs ab 2018 einiges einfallen lassen müssen, um gleichzuziehen.

Vorstellungen am 5., 18. Februar; 2., 17. März; 2., 23. April 2017.
Info: https://musiktheater-im-revier.de/#!/de/performance/2016-17/die-passagierin/

_____________________________________

Das Rahmenprogramm des Musiktheaters im Revier in Kooperation mit Partnern aus Stadt und Land Nordrhein-Westfalen läuft bis zum Ende der Spielzeit mit Konzerten, Ausstellungen, Lesungen, Vorträgen und Zeitzeugen-Begegnungen. Seit 29. Januar zeigt das Kunstmuseum Gelsenkirchen eine Ausstellung mit Arbeiten von Michel Kichka, die das Holocaust-Trauma seiner Familie verarbeiten. Am 7. Februar erzählen Zeitzeugen aus Gelsenkirchen in der Neuen Synagoge ihre Geschichten vom Überleben und der Rückkehr in die Heimatstadt.

Bei einem Liederabend mit Almuth Herbst am 12. Februar im Kleinen Haus der Musiktheaters erklingen unter anderem die in Theresienstadt entstandenen von Victor Ullmann. Am 12. März spielt das Danel-Quartett im Kleinen Haus Werke von Mieczysław Weinberg und Dmitri Schostakowitsch. Und am 26. März kommt der Geiger Linus Roth, der unter anderem Weinbergs Violinkonzert auf CD eingespielt hat, zu einem Gesprächskonzert ins Musiktheater und stellt Kompositionen Weinbergs für Violine und Klavier vor. Das Rahmenprogramm gibt es als Download unter https://musiktheater-im-revier.de/assets/files/068cb1d4-e1ba-395b-9357-0fa76433c69f.pdf

Weitere Informationen zu Mieczysław Weinberg gibt es auf der Webseite der Internationalen Mieczysław Weinberg Society: http://www.weinbergsociety.com/index.php?article_id=16&clang=0




Mit beißendem Spott gegen Scheinmoral: Vor 150 Jahren wurde der bayerische Schriftsteller Ludwig Thoma geboren

Ludwig Thoma auf einem Gemälde von Karl Klimsch aus dem Jahr 1909

Lederhose, Trachtenjanker, Pfeife im Mund: Kaum jemand hat das Bild des „Ur-Bayern“ so geprägt wie Ludwig Thoma, vor allem im nichtbayerischen Ausland. Kaum einer hat den Widerwillen seiner Landsleute gegen die „Preußen“ so zugespitzt wie der Schriftsteller, der heute vor 150 Jahren, am 21. Januar 1867, als Sohn eines Försters in Oberammergau geboren wurde. Kaum jemand aber hat sich auch so gewandelt wie der einst viel gelesene Satiriker: vom spitzzüngigen Kritiker des bier- und tabakdunstumwaberten Bürgertums seiner Zeit zum nationalistischen und antisemitischen Hetzer.

Die Kindheitsjahre im einsamen Forsthaus in Vorderriß dürften Ludwig Thoma geprägt haben: seine Liebe zur Natur hat hier wohl ihre Wurzeln. Ebenso sein kritischer, unabhängiger Geist: Thoma überzog ein Leben lang alle Autoritäten mit beißendem Spott, entlarvte die Bigotterie und Heuchelei der wilhelminischen Gesellschaft, hatte einen scharfen Blick für die Armut und Ohnmacht der „kleinen Leute“.

Die Scheinmoral des Großbürgertums, aber auch den spießigen Moralismus der Kleinstädter, die schnarrende Arroganz des preußischen Protestanten gegenüber den „zurückgebliebenen“ Katholiken aus dem Süden, aber auch die missbrauchte Autorität der Geistlichen und die geheuchelte Frömmigkeit der guten Gläubigen: Vor Thomas spitzer Feder war nichts und niemand sicher.

Auch nicht die politischen Autoritäten: In seinem heute vielleicht noch bekanntestem Sketch, „Der Münchner im Himmel“ von 1911, begehrt der Dienstmann Alois Hingerl nicht nur gegen die göttliche Majestät auf, sondern erfüllt auch den himmlischen Auftrag nicht, die Ratschläge des Herrn auf die Erde zu übermitteln, weil er ihn im Hofbräuhaus beim Bier einfach vergisst. Thomas Schlusssatz: „Und so wartet die bayerische Regierung bis heute auf die göttlichen Eingebungen“ brachte ihm eine Geldstrafe ein.

Mit der „Lokalbahn“ auf dem Weg zum Ruhm

Thomas erster literarischer Erfolg war „Die Lokalbahn“ von 1902. Der Jurist, ganz auf der Höhe seiner Zeit, schildert, was er beim Bau der Bahn zwischen Dachau und Altomünster – heute gern „Ludwig-Thoma-Bahn“ genannt – selbst erlebt haben dürfte: einen Streit um den Bau einer Anschlussstrecke im ländlichen Raum, ausgetragen mit deftigen, nicht salonfähigen Mitteln.

Davor jedoch ereigneten sich der Tod des Vaters, als das Kind sieben Jahre alt war, häufige Schulwechsel des renitenten, vergeblich um die Liebe seiner Mutter kämpfenden Knaben, Abitur in Landshut, erster vergeblicher Versuch in der Forstwissenschaft, Jura-Studium in München. Dann eine juristische Laufbahn, die Thoma 1894 als Rechtsanwalt nach Dachau führte.

Die Erlebnisse aus diesen Lebensabschnitten spielen in seinem literarischem Werk eine Rolle: In den einst viel gelesenen „Lausbubengeschichten“ von 1905 dürften sich die Erinnerungen an seine Jugend finden. Und in seinen „Kleinstadtgeschichten“ tauchen ebenso wie in „Josef Filsers Briefwexel“ und in vielen seiner Theaterstücke und Geschichten Charaktere auf, die er mit den Erfahrungen aus seinem Alltag geformt hat. Einige der Werke Thomas kamen zu Film- und Fernsehehren. „Moral“ etwa wurde schon 1928 als Kinofilm herausgebracht und 1958 für das Fernsehen neu gedreht.

Sechs Wochen Haft für ein Schmähgedicht

Als Autor und – ab 1900 – als Chefredakteur der Münchner Satire-Zeitschrift „Simplicissimus“ kannte Thoma kein Pardon. So wurde er 1906 wegen „Beleidigung und der öffentlichen Beschimpfung einer Einrichtung der christlichen Kirche mittels Presse“ zu sechs Wochen Haft verurteilt. Thoma hatte ein Spottgedicht „An die Sittlichkeitsprediger in Köln am Rheine“ verfasst, in dem er einen evangelischen Prediger, der offenbar über die Unmoral in ehelichen Schlafzimmern gewettert hatte, niedermacht: „Was wissen Sie eigentlich von der Liebe, mit Ihrem Pastoren-Kaninchentriebe, Sie multiplizierter Kindererzeuger, Sie gottesseliger Bettbesteuger?“

Wieder erhältlich im Allitera Verlag: Martha Schads Buch über Ludwig Thoma und die Frauen. Bild: Buchcover

Wieder erhältlich im Allitera Verlag: Martha Schads Buch über Ludwig Thoma und die Frauen. Bild: Buchcover

1908 zog Ludwig Thoma in sein neues Haus am Tegernsee. Mit Beginn des Krieges 1914 ist bei dem Satiriker eine Anpassung an die Stimmungslage in der Bevölkerung zu bemerken: Er teilte die Kriegsbegeisterung des Anfangs, meldete sich freiwillig, erkrankte an der Front schwer und wurde felddienstuntauglich.

In seinem Privatleben belastete ihn das Scheitern seiner Beziehung zu der von den Philippinen stammenden, „exotischen“ Mariette de Rigardo, 1904 von Max Slevogt gemalt und heute in der Galerie Neue Meister in Dresden zu sehen, und die Enttäuschung, die Geliebte seiner letzten Jahre, Maidi von Liebermann, nicht heiraten zu können. Nachzulesen ist Thomas widersprüchliches Verhältnis zu den Frauen in einer jetzt neu aufgelegten Studie von Martha Schad: „Weiberheld und Weiberfeind. Ludwig Thoma und die Frauen“. Sie offenbart auch die andere, dunkle Seite eines Lebemanns, der politisch und emanzipatorisch aktive Frauen verachtete und verhöhnte.

Der Zusammenbruch von 1918 traf ihn schwer: Ludwig Thoma zog sich verbittert zurück. 1919 erschienen die „Erinnerungen“, in denen Thoma versucht, die Brüche und Widersprüche seiner Biografie zu einer dichterisch beschönigten Lebenserzählung zu verbinden. in seinem Todesjahr 1921 erschienen „Der Jagerloisl“ und mit „Der Ruepp“ Thomas letzter großer Bauernroman, noch 1979 vom Bayerischen Fernsehen verfilmt.

Die Entdeckungen des Regensburger Historikers Wilhelm Volkert haben ab 1989 das Bild des scharfzüngigen Linksliberalen getrübt: Thomas Artikel für den „Miesbacher Anzeiger“ hetzen gegen alles, was mit der neuen Demokratie verbunden ist. Auch in seinen Schriften aus dem Nachlass wütet er gegen Juden, Demokraten, Sozialisten, Frauenrechte. Sein latenter Antisemitismus trat nun offen zutage. 1917 unterzeichnete er den Gründungsaufruf der nationalistischen „Deutschen Vaterlandspartei“. Aus dem scharfzüngigen Satiriker ist ein bösartiger Polemiker geworden. Am 26. August 1921 starb er in seinem Haus am Tegernsee.




„Zeit-Räume Ruhr“: Orte der Erinnerung im Revier gesucht

Jetzt mal Butter bei die Fische: An welchen Ort im Ruhrgebiet erinnern Sie sich besonders intensiv, ob nun gern oder ungern?

Das Plakat zum Projekt "Zeit-Räume Ruhr": Zechenkumpel wird zum... IT-Experten, Hipster oder was auch immer. (© Zeit-Räume Ruhr / Gestaltung: Freiwild Kommunikation)

Das Plakat zum Projekt „Zeit-Räume Ruhr“: Zechenkumpel wird zum… IT-Experten, Hipster oder was auch immer. (© Zeit-Räume Ruhr / Gestaltung: Freiwild Kommunikation)

Wenn Ihnen dazu jetzt oder demnächst etwas einfällt und Sie vielleicht auch noch eigene Fotos vom besagten Ort beisteuern können, dann sollten Sie vielleicht an einem neuen Projekt mitwirken. Es heißt „Zeit-Räume Ruhr“ und soll revierweit ortsbezogene Erinnerungen sammeln, später dann sichten und werten.

Texte und Bilder einfach hochladen

Es ist ganz simpel: Texte und Bilder bis zum 31. Dezember 2017 auf der Internetseite www.zeit-raeume.ruhr hochladen – und schon ist man dabei, wenn denn der Beitrag Netiquette und Gesetze nicht verletzt. Ansonsten gilt selbstverständlich: „Eine Zensur findet nicht statt“.

Treibende Kräfte sind das Ruhr Museum auf dem Gelände der Essener Kulturwelterbe-Zeche Zollverein, der Regionalverband Ruhr (RVR) und das zur Ruhr-Uni Bochum (RUB) gehörige Institut für Soziale Bewegungen. Wie in derlei Fällen landesüblich, soll es im Gefolge der Internetseite einen Fachkongress und eine Buchpublikation geben.

Bisher noch sehr übersichtlich

Und wie schaut’s jetzt auf der Seite aus? Bisher noch sehr übersichtlich. Gewiss, erst heute ist die Aktion auf einer Pressekonferenz in Essen vorgestellt worden, also kann sich seither nicht allzu viel getan haben. Die benannten Orte kann man einstweilen noch an zwei Händen abzählen. Abwarten.

Was bisher (Stand 18. Januar, 18 Uhr) zu finden ist, entspricht im Wesentlichen den Glaubensbekenntnissen des Regionalverbandes, dass nämlich der Strukturwandel an der Ruhr auf dem besten Wege sei. So gilt etwa das „Dortmunder U“ ebenso als Ort des geglückten Umschwungs wie auch die einstige Hertener Zeche „Schlägel und Eisen“. Um es zuzuspitzen: Man erinnert sich ans kohlenschwarze Gestern und freut sich am bunteren Heute. Wenn die allerersten Äußerungen nicht als bloße Anreize im redaktionellen Auftrage entstanden sind, sollte es mich wundern. Künftig kann es eigentlich nur interessanter werden.

Rivalität der Städte

Überdies träumt man beim RVR immer noch von einer Vernetzung der ganzen Region, der manche am liebsten den Kunstbegriff „Ruhrstadt“ und entsprechende Verwaltungsstrukturen überstülpen würden. Sie sind noch allemal am Rivalitäts- und Kirchturmdenken der einzelnen Städte gescheitert, was man bedauern mag. Doch mal ehrlich: Wenn ich „meine“ Erinnerungsorte aussuche, so liegen sie weit überwiegend in Dortmund und eben nicht in Bottrop, Herne, Oberhausen oder Gelsenkirchen. Unter veränderten Vorzeichen wird es den meisten ähnlich gehen. Isso, woll?

Nach Möglichkeit sollen es beim „Zeit-Räume“-Projekt kollektive Erinnerungsorte sein und wohl weniger Locations wie die eigene Schule (obwohl sich da manche Erinnerungen bündeln) oder der Arbeitsplatz – es sei denn, es handele sich um eine Zeche bzw. ein Stahlwerk. Denn von den einstigen Verhältnissen geht man immer noch aus. Auch das Plakat hebt auf die Kumpel-Zeiten ab.

Wandel der Ansichten

Einigermaßen spannend und anregend könnte die allmählich anwachsende Sammlung werden, wenn sich zu bestimmten Orten viele, womöglich konträre Erinnerungen „anlagern“ und sich dabei auch verschiedene zeitliche Perspektiven ergeben. Die Siebzigjährige erinnert sich halt anders als ein 25jähriger. Genau diesen Wandel der Ansichten soll das Projekt ja auch spiegeln. Derselbe Ort kann eben auf ganz unterschiedliche Weise Erinnerungen prägen.

Es wäre außerdem gut, wenn tatsächlich nicht nur die üblichen Sehenswürdigkeiten und „Landmarken“, sondern auch verborgene oder vergessene Ecken des Reviers auf der bislang noch so spärlich gefüllten Landkarte der Homepage auftauchten.

Steilvorlage vom Schalke-Fan

Übrigens sind die „Orte“ nicht nur wortwörtlich zu verstehen. Im Anfangsbestand der Netzseite finden sich auch überörtliche Themen wie „Flucht/Vertreibung“ (aus dem Osten ins Ruhrgebiet) und „Kohlenkrise/Zechensterben“, die nur beispielhaft in Bochum verankert werden. Einer nennt gar Herbert Grönemeyers Schallplatte „4630 Bochum“ als seinen liebsten Erinnerungsort. Wenn man auf der Scheibe mal keinen Drehwurm kriegt!

Ein anderer Revierbewohner gibt schon mal mit Schalker Kindheitserinnerungen an die Gelsenkirchener Glückauf-Kampfbahn eine Steilvorlage. Es ist wahrscheinlich nur eine Frage der Zeit, dass Dortmunder mit „Rote Erde“ oder Westfalenstadion kontern und sich das Ganze ein bisschen hochschaukelt.

Um die Leute zu animieren, haben die Projektemacher schon mal vorab ein paar Orte vorgeschlagen: An den Phoenixsee (Dortmund) dürften sich freilich nur neuere Erinnerungen ergeben, ans Bochumer Schauspielhaus schon deutlich tiefer reichende. Und ans Bochumer Kneipenviertel Bermuda3eck? Nun ja. Was heißt hier Erinnerungen? Jedenfalls nicht an gestern Abend…

www.zeit-raeume.ruhr

_____________________________

Nachtrag, 19. Januar, 10:30 Uhr: Inzwischen sind schon über 20 Erinnerungsorte verzeichnet. Es scheint zu werden…




Silvester-Predigt handelte vor 70 Jahren auch vom Kohlenklau: Wie im Winter 1946/47 das Wort „fringsen“ entstand

Joseph Kardinal Frings. Foto: Historisches Archiv des Erzbistums Köln AEK, Bildsammlung

Joseph Kardinal Frings. Foto: Historisches Archiv des Erzbistums Köln AEK, Bildsammlung

Winter 1946/47: Die deutschen Städte sind zerstört, die Menschen hausen in Baracken und Ruinen. Ein stabiles russisches Hoch sorgt für eisige Kälte, Tiefdruckgebiete bringen meterhohen Schnee. Die Versorgung mit Lebensmitteln und Brennmaterial ist schlecht, bricht vor allem in den großen Städten des Ruhrgebiets und des Rheinlands zeitweise zusammen. In dieser Situation spricht der Kölner Kardinal Joseph Frings ein wegweisendes Wort. Es sollte in die Geschichte eingehen. Das „Fringsen“ wurde in der Nachkriegs-Not zum geflügelten Begriff.

Auch Köln lag in Schutt: Vier Fünftel der Gewerbebauten, so eine zeitgenössische Statistik, waren total verwüstet oder stark zerstört. So predigte der Kölner Erzbischof an Silvester 1946 in der modernen, 1930 von dem bekannten Architekten Dominikus Böhm entworfenen Kirche St. Engelbert in Köln-Riehl. Sein Thema: die zehn Gebote. Da ging es auch um „Du sollst nicht stehlen“. Frings, ein sozialpolitisch fortschrittlicher Kopf, kannte die Not der Zeit, die katholische Moraltheologie und die Soziallehre der Kirche. Sein Predigtmanuskript, erhalten im Archiv des Erzbistums Köln, zeigt, wie er um die richtige Formulierung rang. Was er dann sagte, machte ihn populär:

„Wir leben in Zeiten, da in der Not auch der einzelne das wird nehmen dürfen, was er zur Erhaltung seines Lebens und seiner Gesundheit notwendig hat, wenn er es auf andere Weise, durch seine Arbeit oder Bitten, nicht erlangen kann“.

"Klüttenklau" in der Nachkriegszeit in der Britischen Zone. Foto: Bundesarchiv, Bild 183-R70463 / CC-BY-SA 3.0

„Klüttenklau“ in der Nachkriegszeit in der Britischen Zone. Foto: Bundesarchiv, Bild 183-R70463 / Link zur Lizenz: CC-BY-SA 3.0

Für die Menschen, die damals um ihr Überleben kämpften, war dieser Satz eine moralische Entlastung. Vor allem in den schwer zerstörten Städten hatten sie oft keine andere Wahl, als sich die Kohle zum Heizen zu stehlen.

Der „Klüttenklau“ war verbreitet: Um Klütten (Briketts) zu besorgen, sprangen Jugendliche oder Männer auf haltende Kohlenzüge, füllten Säcke mit Brennstoff und warfen sie an vorher vereinbarten Punkten ab. Andere bestiegen Lastwagen und warfen Kohlen ab. Ein gefährliches Treiben; Verletzungen oder sogar Todesfälle konnten die Folge sein. Berichtet wird von Kindern, die nicht mehr aus den Güterwagen klettern konnten und während der eisigen nächtlichen Fahrt erfroren.

Keine Rechtfertigung für Diebstahl

Sehr schnell bürgerte sich im Volksmund für diese Art von Mundraub der Begriff „fringsen“ ein. Das Wort schaffte es bis hinein ins „Lexikon der Umgangssprache“. Dem Erzbischof ging es freilich nicht darum, Diebstahl zu rechtfertigen, im Gegenteil. Die mahnenden Worte nach dem berühmten Satz wurden überhört oder verdrängt. Denn Frings legte seinen Zuhörern auch ans Herz:

„Aber ich glaube, dass in vielen Fällen weit darüber hinausgegangen worden ist. Und da gibt es nur einen Weg: unverzüglich unrechtes Gut zurückgeben, sonst gibt es keine Verzeihung bei Gott.“

Kardinal Frings hat damit eine präzise Auslegung der katholischen Lehre gegeben: Er war sich bewusst, dass Eigentum sozialpflichtig sei. Was der Mensch braucht, um sein Leben und seine Gesundheit zu erhalten, darf er sich unter Umständen größter Not auch nehmen. Aber der Erzbischof wandte sich zugleich scharf dagegen, die Notlage auszunutzen. Zu plündern, um sich zu bereichern, war schon in den zerbombten Städten während des Krieges, aber auch in der unmittelbaren Nachkriegszeit, nicht selten. Dazu zählte auch der Kohlenklau über den eigenen Bedarf hinaus. Ein Verhalten, das Frings in seiner Predigt verurteilte.

Der „Weiße Tod“ forderte hunderttausende Opfer

Eine Seite des Manuskripts der Predigt. Foto: Archiv des Erzbistums Köln.

Eine Seite des Manuskripts der Predigt. Foto: Archiv des Erzbistums Köln.

Dass der Erzbischof die Lage richtig eingeschätzt hatte, erweist der Rückblick auf diesen Winter 46/47. Er ist als der kälteste Winter des 20. Jahrhunderts im Nordseeraum in die Wetterkunde eingegangen. Die Temperatur-Mittelwerte lagen im Januar 1947 bei minus 4,7 Grad, im Februar bei minus 6,6 Grad. Heute schätzt man, dass allein in Deutschland Hunderttausende an den Folgen von Hunger und Kälte und an Krankheiten wie Lungenentzündung und Typhus gestorben sind.

Der „weiße Tod“ grassierte unter Menschen, denen im britischen Teil von „Trizonesien“ – so die geflügelte Bezeichnung für die drei Besatzungszonen der Westmächte – gerade einmal 900 Kilokalorien pro Tag zustanden. Zum Vergleich: Ein Erwachsener mit durchschnittlichem Gewicht braucht am Tag – je nach Tätigkeit – zwischen 2.000 und 3.500 Kilokalorien.

Frings machte sich damals zum Fürsprecher der Notleidenden und entlastete ihr Gewissen. Bei der britischen Besatzungsmacht kam das nicht gut an: Der Kardinal wurde vorgeladen, aber weil der alliierte Gouverneur, William Ashbury, unpünktlich war, fuhr Frings wieder ab. In seinen Memoiren erinnert sich Frings: „Es gab eine höchstnotpeinliche Untersuchung.“ Er habe den Text seiner Silvesterpredigt sogar bei den Briten einreichen müssen. „Alles war aufs höchste gespannt, und es schwebte wirklich Unheil über mir“.

Frings veröffentlichte am 14. Januar 1947 – nach Zeitungsberichten über seine Predigt – eine Erklärung über die „Grenzen der Selbsthilfe“. Die Alliierten erwogen sogar eine polizeiliche Vorführung, ließen Frings aber dann in Ruhe, wohl weil sie den Unmut der Bevölkerung fürchteten. Es ist also, wie der Kölner sagt, „noch immer jot jejange“.




Von bedrückender Aktualität – Brechts „Furcht und Elend des Dritten Reiches“ in Dortmund

Fiederike Tiefenbacher Bettina Lieder Frank Genser

Eine einsame Frau (Friederike Tiefenbacher) packt die Koffer für Amsterdam. Im Hintergrund, heftig verliebt und sportlich: SS-Mann Theo (Frank Genser) und seine Anna (Bettina Lieder). (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Gerade ist jemand abgeholt worden, und das Ehepaar in der Nachbarwohnung hat es mitgekriegt. Das Treppengeländer hätten sie nicht kaputtmachen sollen, befinden sie, der Mann war ja schon bewußtlos. Und seine Jacke hätten sie nicht zerreißen sollen, „so dicke hat’s unsereiner nämlich auch nicht“.

Die gruselige Szene aus Bertolt Brechts „Furcht und Elend des Dritten Reiches“, ist jetzt im Dortmunder Theater zu sehen, in der Ausweichspielstätte „Megastore“, wo Sascha Hawemann die Alltagsbilder aus Nazi-Deutschland in lockerer Reihung inszeniert hat. Die 24 Szenen, von denen 11 in Dortmund zur Aufführung gelangen, schrieb Brecht zwischen 1935 und 1938, im selben Jahr wurden sie in Paris uraufgeführt.

Episches Theater

Seinen Brecht hat der Regisseur, Jahrgang 1967 und in der DDR aufgewachsen, fleißig studiert, weiß um episches Theater und V-Effekt: Verfremdung schafft Verständnis, und ein besonderer Kunstgriff von Sascha Hawemann besteht darin, Bert Brecht als den Inszenierer seiner Szenen auf der Bühne selbst auftreten zu lassen.

Uwe Schmieder, ein zierlicher Mensch mit Hornbrille und staubgrauer Jacke, gibt dem klarsichtigen Dichter Gestalt, doch wenn er manche Szenen wiederholen läßt, wenn er sein Schauspielpersonal zu höchster Perfektion antreibt und erst nach dem dritten, wütenden Durchgang halbwegs zufrieden ist, dann ähnelt er mehr als Brecht fast Woody Allen, einem ganz anderen und doch erstaunlich ähnlichen großen Dramatiker.

Carlos Lobo Frank Genser Bettina Lieder Uwe Schmieder Alexander Xell Dafov

Man übt sich im Schlange stehen. Von links: Carlos Lobo, Frank Genser, Bettina Lieder, Uwe Schmieder und Alexander Xell Dafov (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Moralverlust

Ein an Aktualität kaum zu überbietender Stoff: Was für die einen Furcht und Elend bedeutet, ist für die anderen nationalistische Verheißung, Genugtuung nach historischer Schmach, allfälliges Herrenmenschentum.

SS-Mann Theo mit seinen blitzblank polierten Stiefeln ist so ein Verblendeter, ihm ähnlich seine Verlobte Anna, hörig aus Liebe und blind für alles andere. Vielleicht kann man jungen Menschen wie ihnen noch ihre intellektuelle Unbedarftheit zugutehalten. Bei anderen, Älteren jedoch erodieren Werte, Recht, Haltungen ins Bodenlose, sie sind es schon längst.

Auf gespenstische Weise gemahnt dieser kollektive Moralverlust an heutige Zeiten mit erfolgreichen „Populisten“, mit Pegida, Doppelpaßverbot und „Das wird man ja wohl noch sagen dürfen“.

Uwe Schmieder

Uwe Schmieder, Bert Brecht (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Wortloser Abschied

Mutige Helden gibt es bei Brecht nicht, eher durchschnittliche Menschen, die glauben, mit etwas Wegducken und Weggucken durchzukommen. Die Jüdin Judith Gold, die die Flucht nach Amsterdam vorbereitet und sich telefonisch von einigen Freunden verabschiedet, ahnt, daß sie keinem dieser „arischen“ Deutschen fehlen wird. Ist sie auch ihrem Mann nur Last? Ihrer beider Abschied jedoch, wortlos, schmerzlich, wissend, gehört zu den stärksten Momenten dieses Theaterabends. Andreas Beck und Friederike Tiefenbacher geben das bürgerliche Ehepaar, dessen letzte 60 Trennungssekunden von „Brecht“ Uwe Schmieder qualvoll langsam abgezählt werden.

Merle Wasmuth Andreas Beck Uwe Schmieder

Szene im Amtsgericht mit Merle Wasmuth und Andreas Beck (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Hilfloser Richter

Beck brilliert auch in der Rolle des Amtsrichters, der über drei Nazis urteilen soll, die ein jüdisches Schmuckgeschäft verwüstet haben. Skrupel oder gar Handlungsethik sind diesem mißratenen Nachfahren des Richters Adam fremd, fachlich angezeigtes Ermitteln und Bewerten sowieso. Und trotzdem reitet er sich in die Grütze, weil er seinen Opportunismus nicht zu kanalisieren weiß.

Hat der Jude die Nazis vielleicht provoziert, oder ist es besser für dessen „arischen“ Kompagnon, wenn es anders war? Welche Rolle spielt der mächtige Hausbesitzer, und wie soll man das Abhandenkommen von Schmuck erklären? Wenn er was falsch macht, wird er nach Hinterpommern strafversetzt, aber nichts falsch zu machen scheint unmöglich, trotz aller charakterlichen Geschmeidigkeit. Uwe Schmieder macht sich als Zuträger von verstörenden Gerüchten aller Art wiederum verdient, eine herrliche Posse, bestens gegeben – und erschütternd wegen ihres vermutlich nicht geringen Wahrheitsgehalts.

Angst vor den eigenen Kindern

Carlos Lobo und Merle Wasmuth sind – unter anderem – das ängstliche Elternpaar eines in der Hitlerjugend radikalisierten Sohnes (Raafat Daboul), dem sie zutrauen, daß er sie wegen unvorsichtiger Äußerungen denunziert. Es sei „nicht ganz sauber im braunen Haus“ hat der Vater unvorsichtigerweise gesagt, so oder ähnlich, und nun wissen sie nicht, wohin sich der Sohn im Regen wortlos verabschiedet hat. Schließlich Erleichterung, er hat nur etwas eingekauft.

Fiederike Tiefenbacher Uwe Schmieder Bettina Lieder Frank Genser

„Brecht“ (Uwe Schmieder) legt Judith Gold Friederike Tiefenbacher) einen Mantel um. Im Hintergrund Bettina Lieder und Frank Genser (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Frank Genser und Bettina Lieder schließlich, der SS-Mann Theo und das Dienstmädchen Anna, heiraten gegen Ende des Theaterabends. Was dann kommt, ist nicht mehr von Brecht: Ein Bericht über Massenermordungen von Juden in der Schlucht von Babyn Jar in der Ukraine im Jahr 1941. 33.000 Menschen wurden hier erschossen. Theo und Anna erinnern sich (angeregt durch eine Schmalfilmvorführung am Tag der Hochzeit?) im heiter palavernden Dialog, und was sie da ohne jegliches Bewußtsein für die Ungeheuerlichkeit des Geschehens erzählen, ist schrecklich und bedrückend.

Bettina Lieder Frank Genser

Heitere Erinnerungen an den Massenmord: Szene mit Bettina Lieder und Frank Genser (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Kroetz folgt Brecht

Ob dieser Theaterabend indes die Abrundung mit Geschehnissen jenseits der Brechtschen Vorlage braucht – auch die Andeutung eines nahöstlichen Luftangriffs gelangt audiovisuell noch zur Vorführung, bevor das Stück zu Ende ist – sei dahingestellt.

Als Nächstes folgt in einer Woche im Megastore sinnfälligerweise „Furcht und Hoffnung der BRD“ von Franz-Xaver Kroetz, das 1984 seine Uraufführung im Bochumer Schauspielhaus erlebte und die Methode der Szenencollage aufgreift. Fast muß man befürchten, daß Bert Brechts düster-klarsichtige Vorahnungen der 30er Jahre aktueller sein könnten als Kroetz’ bundesrepublikanische Bestandsaufnahme.

  • Termine: 16.21.12.2016, 14., 19.1., 5., 19., 24.2., 4., 15.3., 2.4.2017
  • Karten Tel. 0231 50 27 222
  • www.theaterdo.de



Wenn Bin Laden noch leben würde – Leon de Winters Roman „Geronimo“

Dieser Roman könnte Stoff für Verschwörungstheorien liefern: Demnach ist Osama bin Laden nicht am 2. Mai 2011 von Eliteeinheiten der CIA in seinem Unterschlupf im pakistanischen Abbottabad umgebracht worden, sondern bei dieser Geheimdienstoperation ist ein Doppelgänger gestorben.

geronimo-9783257069716

In Leon de Winters Roman „Geronimo“ (Codename für die Ergreifung von Bin Laden) lebt der Chef der Terrororganisation Al Kaida weiter, allerdings an einem von Militärs streng abgeschirmten Ort. Die USA und ihre Verbündeten möchten doch noch mehr über den Mann selbst, islamistische Gruppierungen sowie ihre Hintermänner in Erfahrung bringen. Es geht auch um einen geheimnisvollen USB-Stick. Der wiederum soll Informationen enthalten, dass der (scheidende) Präsident Obama in Wirklichkeit Muslim ist und nicht dem Christentum angehört.

Mal abgesehen von der Frage, wie geschickt es sich anlässt, gerade die religiöse Identität Obamas, die Rechtspopulisten immer wieder gern als Zielscheibe nutzen, in den Handlungsverlauf einzubeziehen, wirkt diese Episode auch sehr aufgesetzt und fügt den ohnehin schon zahlreichen und teils auch verwirrenden Handlungssträngen noch einen weiteren hinzu. Zudem lässt Leon de Winter auch vollkommen offen (wenn er denn schon bin Laden überleben lässt), wie es denn dann mit dem einst meistgesuchten Mann der Welt weitergegangen ist.

Der Autor bevorzugt es stattdessen, eine Geschichte zu erzählen, die den Terroristenchef als Menschenfreund erscheinen lässt. Durch Zufall trifft Osama eines Nachts, als er sein Versteckt verlässt und im Schutz der Dunkelheit Eis für seine Geliebten besorgen will, ein Mädchen namens Adana. Ihr haben Taliban (!) Ohren und Hände abgehackt, weil sie westliche Musik gehört hat, genauer gesagt Glenn Goulds Goldberg-Variationen. Die Kompositionen hat die aus Afghanistan stammende Jugendliche kennen und lieben gelernt, nachdem sie der US-Soldat Tom Johnson bei sich aufgenommen hatte. Ihre Eltern waren bei einem Angriff der islamistischen Milizen getötet worden. In die Hände der Terroristen gerät sie, weil die Taliban den US-Stützpunkt von Tom überfallen und sie mitnehmen. Adana schafft es aber, sich zu befreien und gelangt – wie es der Zufall will – nach Abbottabad. Die erste Begegnung mit Osama ist sehr spannungsgeladen, fragt er sich doch, ob er das Mädchen, das ihn trotz Verkleidung zweifellos erkannt hat, töten soll um seiner Sicherheit willen. Aber sie kann seine Sympathie gewinnen und er versteckt sie schließlich in einer Garage, versorgt sie mit Lebensmitteln.

Nachdem nun Bin Laden den Amerikanern ins Netz gegangen ist, beginnt für die junge Afghanin ein neuer und nicht weniger komplizierter Lebensabschnitt, mit dem der Autor die komplexen politischen und religiösen Gegebenheiten im mittleren Asien in den Blickpunkt rückt und zugleich auch auf internationale Verflechtungen eingeht.

Eine christliche Familie würde zwar gern Adana aufnehmen, fürchtet sich aber vor den Reaktionen einer überwiegend muslimischen Gesellschaft. Toms Bemühen, Adana außer Landes zu bringen, ist mit unüberwindbar scheinenden bürokratischen Hürden verbunden. Als er schließlich erfährt, dass sie nochmal Opfer eines Attentates geworden sein könnte, geraten alle Versuche, sein eigenes Lebensschicksal aufzuarbeiten, ins Wanken. Tom hat in Folge des Attentats von Madrid 2004 seine Tochter verloren. Und ihn plagen gegenüber Adana große Schuldgefühle, da er sie nicht ausreichend vor den Taliban hat schützen können.

Leon de Winters Buch lebt von Dynamik und Dramatik. Manchmal scheinen auch die Grenzen von Realität und Fiktion zu verschwimmen. Der Leser steht vor der Herausforderung, die Orientierung nicht zu verlieren.

Leon de Winter: „Geronimo“. Roman. Aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers. Diogenes Verlag, Zürich. 442 Seiten, 24 Euro.




Buchtipps zum Fest: Peter Rühmkorf, Christa Wolf, Wembley-Tor, Krimi und Architektur

Ist da draußen noch jemand auf der Suche nach Weihnachtsgeschenken in Buchform? Hier ein paar empfehlende Hinweise in verschiedenen Geschmacksnoten:

Zunächst die so genannte Hochliteratur, wie es sich konservativ-feuilletonistisch gehört:

U1_978-3-498-05802-9.indd

Rühmkorfs funkelnde Lyrik

Das ist wahrlich kein Geheimnis mehr: Der 1929 in Dortmund geborene, später freilich aus hanseatischer Überzeugung in Hamburg ansässige Peter Rühmkorf gehört zu den wichtigsten Lyrikern der bundesdeutschen Nachkriegszeit. Insofern ist eine Gesamtausgabe seiner Gedichte ein besonderes, vielfach funkelndes Juwel der Sprachkunst. Rühmkorfs Tod im Jahr 2008 bedeutet einen immensen Verlust für die Literatur, der immer noch schmerzt.

Er war (ähnlich wie der mit ihm befreundete Robert Gernhardt) einer, der die Überlieferung von Reim und Metrik wach und lebendig gehalten hat – und er hat die althergebrachten Formen mit neuen Inhalten reich gefüllt. Im souveränen Spiel mit gebundenen und freien Versen kommt ihm im hiesigen Sprachraum wohl keiner aus seiner Generation gleich.

Die von Bernd Rauschenbach sorgfältig edierte Ausgabe „Sämtliche Gedichte“ enthält alle Lyrikbände von 1956 bis 2008 und (in Auswahl) ganz frühe Schöpfungen, die ab 1947 im Selbstverlag erschienen sind.

Dies ist ein Buch, das einen Ehrenplatz im Regal verdient und das man als Vademecum stets griffbereit halten sollte. Hier wird ein wesentlicher Teil des Lebenswerks ausgebreitet; hier kann man Sprachfeinheiten geradezu genießerisch schlürfen und wird überdies noch mit luziden Erkenntnissen belohnt. Rühmkorf hat ja nicht nur die ewigen Themen Liebe und Tod bedichtet, sondern war auch ein eminent politischer Kopf mit links geschärften Sinnen. Legendär wurde diese lyrische Essenz: „Bleib erschütterbar – und widersteh.“

Für den unverwechselbaren Klang (in Rühmkorfscher Diktion „einmalig / wie wir alle!“), in dem auch Alltagssprache aufgehoben ist, nur mal ein Beispiel, das Rühmkorf selbst als Bagatelle bezeichnet hat:

Abschiede, leicht gemacht

Denen, die vor Gier nach Ewigkeit entbrennen,
geb ich mich geniert
als sterblich zu erkennen.

Lieber als verhaunen Bällen nachzusinnen,
zieh ich vor,
nochmal von vorne zu beginnen.

Allerdings, statt bieder vor mich hinzuwerkeln,
scheint mir lustiger,
freischaffend loszuferkeln.

Dies als Kunstgesetz gesamt gesehen:
Ein Gedicht, das auf sich hält,
das läßt sich gehen.

Und je tiefer ich empfinde, um so seichter
schmiere ich mich aus,
dann fällt der Abschied leichter.

Da haben wir es also mal wieder: das Leichte, das so schwer zu machen ist. In der Nachfolge von Heine, Benn und Ringelnatz (unter anderen) hat Rühmkorf beileibe nicht nur höheren Jux getrieben, sondern auch die Vergänglichkeit besungen wie nur je einer seit barocken Zeiten. Doch auch die Fährnisse zwischen Geilheit und Vögeln wusste er in sprühend wohlgesetzte Worte zu fassen. Der Mann, der sich zuweilen als (erotischer) Filou gefiel, war intellektuell ein Ausbund an Unbestechlichkeit. An seinem lyrischen Zuspruch konnte und kann man sich nicht nur ergötzen, sondern aufrichten.

Noch ein Zitat, ein vermeintlich unscheinbares, das aber zu denken gibt. Aus dem Gedicht „Zum Jahreswechsel“:

Diese Welt kann doch nicht so gemeint sein
Wie sie aussieht, oder?

Peter Rühmkorf: „Sämtliche Gedichte“ (Hrsg.: Bernd Rauschenbach). Rowohlt Verlag. 621 Seiten. 39,95 €

_________________________________

42573

Briefe von Christa Wolf

Nun zu einer literarischen Protagonistin, ja Repräsentantin aus dem östlichen Teil Deutschlands, die im selben Jahr geboren wurde wie Rühmkorf: Christa Wolf (1929-2011), Autorin von Büchern wie „Kindheitsmuster“, „Der geteilte Himmel“, „Nachdenken über Christa T.“, „Kassandra“, „Kein Ort. Nirgends“ und „Störfall“, hat auch umfangreiche Konvolute von Briefen hinterlassen, um die es hier geht.

Insgesamt enthält die vorliegende Auswahl der „Briefe 1952-2011“ genau 483 Schriftstücke, die sich an rund 300 Adressaten richten. Abgedruckt sind nur die Briefe von Christa Wolf, nicht aber die Schreiben ihrer Briefpartner. So wirkt das Ganze gelegentlich etwas monologisch, man muss sich einiges hinzu denken. Immerhin sind rund 90 Prozent der abgedruckten Briefe bislang noch nicht veröffentlicht worden. Auch das gibt dieser Sammlung, bei aller wohlweislichen Beschränkung im Einzelnen, einiges Gewicht.

Der Obertitel lautet „Man steht sehr bequem zwischen allen Fronten“ und könnte als Zitat auch etwas sarkastisch gemeint sein. Denn gar so bequem kann es nicht immer gewesen sein für Christa Wolf. Vielfach ereilte sie der Vorwurf, dem SED-Staat doch etwas zu sehr auf den Leim gegangen zu sein.

Über sehr lange Zeit hinweg ist sie zumindest von naiver Gutgläubigkeit gewesen. Spätestens im Gefolge der Biermann-Ausbürgerung aus der DDR (1976) hat auch sie Farbe bekannt. Freilich hielt sie damals immer noch Erich Honecker für eine ansprechbare Instanz: „Sehr geehrter Genosse“ lautete ihre Anrede, und sie bat ihn brieflich darum, inhaftierte Autoren zu begnadigen. Hat sie damit das Menschenmögliche versucht, oder hat sie gar zu sehr laviert? Darüber könnte man noch heute lange streiten. Doch allmählich verblassen die Meinungskämpfe jener Tage.

In der ausgewählten Korrespondenz (insgesamt hat Christa Wolf wohl um die 15.000 Briefe verfasst) tauscht sie sich nicht nur mit Schriftstellern (u. a. Grass, Frisch, Sarah Kirsch, mit der sie sich später heillos überworfen hat) aus, sondern auch mit „ganz normalen“ Lesern. Dafür hat sie viel Geduld aufgebracht. Nur ganz selten wurde sie zornig, so etwa, als sie den Schülerinnen eines Deutsch-Leistungskurses barsch deren absolute Unkenntnis ihres Werkes vorwarf und sich über „absurde“ und „verletzende“ Fragen beschwerte. Wie gesagt, das war eine Ausnahme.

Man muss wissen, dass Christa Wolf wegen der Stasi-Briefzensur häufig nicht offen schreiben konnte, sondern ihre Botschaften und Anliegen allenfalls sprachlich verschlüsselt übermitteln konnte, was der verbalen Kunstfertigkeit mitunter zuträglich war. Besonders ehrlich klingen manche der Briefe, die sie seinerzeit nicht abgeschickt hat, die aber erhalten geblieben sind. Dass Wolfs Werke und Briefe zudem von grundsätzlicher Sprachskepsis durchzogen sind, lässt dieses Zitat aus „Nachdenken über Christa T.“ ahnen: „Wie man es erzählen kann, so ist es nicht gewesen“.

Christa Wolf: „Man steht sehr bequem zwischen allen Fronten – Briefe 1952-2011“. Suhrkamp Verlag. 1040 Seiten, 38 €

___________________________________

01_DFM-Buch-Wembley_Umschlag(817,5x300) RZ_2.qxp_DFM_Wembley_Buc

Ein einziges Tor

Dass über eine Mannschaft oder ein Turnier ganze Bücher entstehen, mag angehen. Aber über ein einziges Tor?

Ganz klar, es gibt aus deutscher Sicht nur einen Treffer, der buchfüllend ist: das wohl für alle Ewigkeiten umstrittene 3:2 beim Endspiel der Fußball-WM 1966. Bekanntlich wurde das Tor für England gegeben, obwohl der Latten-Abpraller mutmaßlich vor der Linie aufschlug. So jedenfalls die deutsche Lesart.

Dass man diesen fußballhistorischen Moment in tausend Facetten ausbreiten und anreichern kann, beweist Manuel Neukirchner, Chef des Deutschen Fußballmuseums in Dortmund, mit dem Band „Wembley 1966“, der vor allem von der vielfältigen und großzügigen Bebilderung lebt.

Das 50 Jahre zurück liegende Ereignis spiegelt natürlich auch längst den damaligen Zeitgeist wider, so dass das Match über das rein Fußballerische hinaus interessant ist. Also war es auch dem Deutschen Fußballmuseum eine Sonderausstellung wert. Hier haben wir das Begleitbuch dazu.

Wie simpel die Sache damals im Grunde gewesen ist, formuliert treffsicher der damals beteiligte (und vom 4:2-Endergebnis für England tief enttäuschte) Mittelstürmer Uwe Seeler im Interview für den vorliegenden Band: „Für die Engländer war er drin, für uns Deutsche nicht. So einfach ist das.“

Man darf ergänzen: einfach kompliziert. So, dass man ganze Bücher darüber machen kann… Und somit hätten wir auch ein passendes Geschenk für altgediente Fußballfans.

Manuel Neukirchner: „Wembley 1966. Der Mythos in Momentaufnahmen“. Deutsches Fußballmuseum, Dortmund/Klartext Verlag, Essen. 160 Seiten, großformatiger Bildband (Broschur) mit zahlreichen Abbildungen (Farbe und schwarzweiß). 14,95 Euro.

_____________________________________

475_flebbe_boden_rgb_743b567328_4f0e028d0d

Ruhrgebietskrimi

Wer für Ruhrgebietskrimis zu haben ist, freut sich vielleicht über dieses etwas kleinere Geschenk: „Am Boden“ von Lucie Flebbe dreht sich zunächst u.a. um den riskanten Kletter-Trendsport „Roofing“.

Ein Student wird verdächtigt, einem Freund bei einer Klettertour einen Stoß versetzt zu haben – mit tödlichen Folgen. Lucie Flebbes schon mehrfach erprobte Privatdetektivin Lila Ziegler und ihr Partner Ben Danner wollen den Fall aufklären – ein Unterfangen mit ungeahnten Weiterungen. Alsbald geht es auch um häusliche Gewalt (Lila zeigt ihren eigenen Vater an), und schließlich kommt es zu einem spektakulären Showdown im Bochumer Opel-Werk. Merke abermals: Aufgegebene Industrie-Standorte des Reviers (vgl. auch Phoenix West und ähnliche Locations in Dortmunder „Tatort“-Folgen) eignen sich oft bestens als Krimischauplätze.

Lucie Flebbe: „Am Boden“. Kriminalroman. Grafit Verlag, Dortmund. Paperback, 251 Seiten, 11 Euro (als E-Book 9,99 €)

______________________________________

fragments_of_metropolis_rr

Architektur der Region

So. Und nun hätten wir noch etwas für die an Kunst und Architektur Interessierten.

Christoph Rauhut und Niels Lehmann stemmen ein wahrhaft ambitioniertes Projekt. Seit einigen Jahren widmen sie sich eingehend der Architektur des Expressionismus, ein Band über herausragende Beispiele in Berlin und Brandenburg hatte den Anfang einer groß angelegten Reihe gemacht. Jetzt liegt ein weiterer Band vor, der sich den einschlägigen Baubeständen an Rhein und Ruhr zuwendet.

Zur ersten Orientierung schaue man am besten gleich ganz hinten nach, nämlich im reichhaltigen Gebäuderegister, das nicht nur Geschäfts-, Büro und Industriebauten auflistet, sondern auch öffentliche Gebäude, Sakralbauten und Wohnhäuser.

Auch wenn so vieles im Krieg zerstört worden ist, so gibt es doch auch in NRW noch eine imponierende Fülle von oftmals monumentaler expressionistischer Architektur (manches freilich nur noch in fragmentarischer Form), wobei gerade im Ruhrgebiet jede Stadt ihr eigenes Profil ausgebildet hat.

Die Textbeiträge in diesem Band (jeweils auf Deutsch und Englisch) sind sehr überschaubar, es handelt sich zwar um ein Ergebnis, nicht aber um die Wiedergabe einer fundierten wissenschaftlichen Aufarbeitung. Den weit überwiegenden Teil des Buches machen Fotografien und Lagepläne aus. Das darf sicherlich auch als Ermunterung verstanden werden, sich das eine oder andere der insgesamt 155 Gebäude einmal selbst anzusehen.

Um nicht ins Uferlose zu geraten, hier nur ganz wenige Beispiele aus dem Ruhrgebiet: Bogestra-Verwaltung (Bochum), Hans-Sachs-Haus (Gelsenkirchen), Union-Brauerei/Dortmunder „U“, Hauptpost (Essen), Polizeipräsidium (Oberhausen), Volkshochschule (Gladbeck), Gebäudeensemble Hauptfriedhof (Dortmund).

Im Vorwort heißt es, die vorgestellten Bauten (vorwiegend aus den 1920er Jahren) ließen samt und sonders künstlerischen Gestaltungswillen erkennen und stünden einer auch damals schon drohenden Banalisierung des Metiers entgegen. Und wie sieht’s damit heute aus? Eine Frage, bei der man unwillkürlich seufzt.

Christoph Rauhut/Niels Lehmann: „Fragments of Metropolis – Rhein & Ruhr. Das expressionistische Erbe“. Hirmer Verlag. 256 Seiten (Format 15,5 x 24,5 cm). 156 Farbabbildungen, 30 Pläne und Karten. 29,90 Euro.




Gebrauche Deine Zeit: Zum 80. Geburtstag von Wolf Biermann

Es ist ein seltsames Phänomen um Wolf Biermann, der ein glühender Liebhaber des Kommunismus war und doch mit ungehorsamen Liedern die DDR in Aufruhr versetzte.

Wolf Biermann am 16. November 2008 beim Hamburger Festival "Lauter Lyrik" (Foto: © Marco Maas / fotografirma.de - Quelle: https://www.flickr.com/photos/qnibert/3035298792/) - Link zur Lizenz von Creative Commons: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/

Wolf Biermann am 16. November 2008 beim Hamburger Festival „Lauter Lyrik“ (Foto: © Marco Maas / fotografirma.de – Quelle: https://www.flickr.com/photos/qnibert/3035298792/) – Link zur Lizenz von Creative Commons: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/

Wenn man von ihm spricht, diesem schnauzbärtigen Helden deutsch-deutscher Kultur, da erhebt sich schnell ein Missmut: „Den mag ich nicht. Der ist so selbstgerecht, so eitel!“ Ja, Leute, der Biermann ist nicht berühmt für seine Bescheidenheit. Er weiß um seine Bedeutung. Aber, mit Verlaub, das darf er auch. Denn er hat mit Poesie und Pathos am Rad der deutschen Geschichte gedreht.

Von seinem Leben, das am 15. November 1936 in einer Hamburger Arbeiterfamilie begann, erzählt er uns zum 80. Geburtstag selbst. 544 Seiten lang ist Biermanns Autobiografie mit dem Titel eines Liedes: „Warte nicht auf bessre Zeiten“. 200 Tagebücher und Stapel von Stasi-Akten wurden da verarbeitet – von einem, der nur in Liebesdingen locker lässt. Viel Zorn steckt darin. Aber auch viel Zärtlichkeit, nicht nur für seine Frauen und insgesamt zehn Kinder. Am Ende wird keine fiese Abrechnung aus dem Buch, sondern ein Stück süffiger Literatur mit geschichtlich-politischem Mehrwert. Der Meister der lyrisch-prägnanten Kurzform – „Du, lass dich nicht verhärten in dieser harten Zeit …“ – bleibt seiner Sprache auch auf der Langstrecke treu.

„Weggerissen wurde der Vater mir, als ich vier Monate alt war …“ Dagobert Biermann, Werftarbeiter jüdischer Herkunft, Kommunist und aktives Mitglied einer Widerstandsgruppe, wird 1937, kurz nach der Geburt seines Sohnes, zum zweiten Mal von den Nazis verhaftet. Er stirbt, nach qualvollen Jahren, im Februar 1943 in Auschwitz. Sein letzter Brief – „Warte nur, Wölflein, wenn ich wieder komme, dann bauen wir uns ein großes Schiff …“ prägt Biermanns Kinderseele bis ins hohe Alter. Im Juli 1943 überlebt der Kleine an der Hand seiner Mutter Emma die Zerstörung Hamburgs durch Fliegerbomben – den „Feuersturm“. Er sieht verbrannte und erstickte Menschen, registriert entsetzliche Details. Doch er weint nicht: „Der Schrecken war zu übermächtig.“

Vielleicht hat das große Trauma den erwachsenen Biermann unempfindlich gemacht gegen die kleinlichen Schikanen des SED-Regimes. Er ist in den Ostapparat hinein geraten, weil seine Mutter Emma Biermann, mutig-naive Witwe des Widerstandshelden Dagobert und überzeugt vom Segen des Kommunismus, ihr Bübchen zu den Jungen Pionieren und schließlich in die junge DDR schickt, den Hoffnungsstaat der westdeutschen Genossen.

Ab 1953 geht Wolf Biermann auf ein Mecklenburger Internat und fühlt sich am rechten linken Platz. Als Student und Regieassistent des Berliner Ensembles ist er Ende der 1950er-Jahre intellektuell ganz vorn dabei. 1961 begrüßt er sogar den Mauerbau als Reaktion auf die massenhafte Westflucht der Eliten. Und er bekennt heute: „Ich habe an diesem 13. August die verfluchte Mauer mitgebaut“.

Hinter der schützenden Grenze entwickelt sich der junge Biermann, gefördert vom Brecht-Komponisten Hanns Eisler, zum Liedermacher mit Gitarre. Er tritt auf als „Troubadour de Berlin“, beachtet auch von der Linken im Westen. Für den Osten ist sein Ton nicht unverfänglich genug. Er verärgert die „Alten Genossen“ mit Versen über seine Unzufriedenheit. Schon bald gibt es Auftrittsverbote wegen „Klassenverrat“ und Obszönität“.

Wolf Biermann beim Konzert in Leipzig am 1. Dezember 1989 (Foto: © Waltraud Grubitzsch geb. Raphael - Bundesarchiv Bild Nr. 183-1989-1201-046) - Link zur Lizenz von Creative Commons: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en

Wolf Biermann beim Konzert in Leipzig am 1. Dezember 1989 (Foto: © Waltraud Grubitzsch geb. Raphael – Bundesarchiv Bild Nr. 183-1989-1201-046) – Link zur Lizenz von Creative Commons: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en

Mitte der 1960er-Jahre gehört Biermann zu den Geistern des Widerstands, ununterbrochen bespitzelt. „Die Stasi ist mein Eckermann“, so kommentiert Biermann bissig die eifrigen Mitschriften der Lauscher. Die westliche Studentenbewegung liebt ihn und seinen eingängigen Song von der „Ermutigung“ (1966): „Du, lass dich nicht verbrauchen, gebrauche deine Zeit …“. Sie liebt auch sein wehmütiges Barlach-Lied: „Vom Himmel auf die Erden falln sich die Engel tot …“. Die Langspielplatte „Chausseestraße 131“, zu Hause aufgenommen mit einem von Mutter Biermann geschmuggelten Mikrofon, wird 1969 hüben verkauft und mit dem Fontane-Preis ausgezeichnet. Sie bringt dem Regime und dem Barden erstaunliche Devisen.

Biermann hat sich recht kuschelig eingerichtet im Gesinnungsgefängnis DDR, wo er Beachtung findet an der Seite des Chemikers und Dissidenten Robert Havemann, dessen Tochter Brigitt zu seinen zahlreichen Amouren gehört. Er inszeniert sich poetisch als preußischen Ikarus, „mit grauen Flügeln aus Eisenguss“. Wegen seines westlichen Ruhms wagen die Behörden nicht, Biermann einzusperren, sie lassen ihn 1976 sogar auf Westtournee gehen (siehe Video am Schluss des Beitrags), und er wäre wohl artig zurückkommen, wenn man ihn nicht nach seinem triumphalen Konzert in Köln ausgebürgert hätte. Aus Protest verlassen etliche Kunstgenossen, darunter auch die Filmstars Manfred Krug und Eva-Maria Hagen, die DDR. Das System erzittert nachhaltig. 13 Jahre später wird die Mauer fallen.

Der Vertriebene selbst verliert in der Freiheit seinen Status. Die Fans reagieren gelangweilt auf klassenkämpferische Parolen und belehrende Konzerte. Sie sind genervt von den Streitigkeiten, die er vom Zaun bricht. Biermann zieht sich zurück nach Frankreich, in den „Bernstein der Balladen“ und in den Kreis seiner wachsenden Familie.

Der schönen Pamela, Mutter der letzten drei Kinder, ist er immerhin seit 1983 verbunden. Er ist weich geworden. Geehrt mit Preisen im Namen deutscher Dichter von Hölderlin bis Heine, kommt der alte Wolf Biermann zu ziemlich liberalen Einsichten. Er lobt die bürgerliche Demokratie als „das am wenigsten Unmenschliche, was wir Menschen als Gesellschaftsmodell bisher erfunden und ausprobiert haben“. Ist doch wahr. Drum: „Lass dich nicht erschrecken in dieser Schreckenszeit!“

Wolf Biermann: „Warte nicht auf bessre Zeiten!“ Die Autobiografie. Propyläen Verlag. 544 Seiten. 28 Euro.

Wolf Biermann: „Im Bernstein der Balladen – Lieder und Gedichte“. Propyläen. 240 Seiten. 24 Euro.

„Warte nicht auf bessre Zeiten“ – Wolf Biermann 1976 beim legendären Auftritt in der Kölner Sporthalle:
https://www.youtube.com/watch?v=GSw5H4tY29A




Orgien, Harakiri und Kunstblut – Christian Krachts filmischer Roman „Die Toten“

Für alle, die es noch nicht wissen: Christian Kracht hat einen neuen Roman geschrieben. Über das aufstrebende Filmmilieu der dreißiger Jahre zur Zeit der NS-Machtübernahme. Titel: „Die Toten“. Ja, den Titel hat es schon mal gegeben. Bei James Joyce. Anspruch will eben formuliert sein.

Trailer ab. Es treten auf :

In den Hauptrollen:
Emil Nägeli, ein Schweizer Avantgarde-Regisseur, mit einem ausgewachsenen Vaterkomplex behaftet.
Masahiko Amakasu: Japanisches ex-Wunderkind, als Erwachsener vor allem durch sein Faible für deutsches Brauchtum und Mythen auffallend.

die-toten

In den Nebenrollen: eine dralle, blonde deutsche Schönheit namens Ida, ferner UFA-Tycoon Hugenberg, Charlie Chaplin, Siegfried Kracauer, Lotte Eisner, Ernst „Putzi“ Hanfstaengl und Heinz Rühmann (geschickter Schachzug, auf nickende Kennermienen der Leser und Kritiker abgestellt).

Schauplätze: das Berlin der Weimarer Republik
Japan vor einer Zeitenwende
Hollywood als vermeintlicher Rettungsanker
diverse Berge und Bauernhöfe

Handlung: Mit deutschem Geld soll in Japan ein Vampirfilm gedreht werden – sozusagen als Zelluloid-Achse, um die faschistoide zu unterstützen. Mit Vampiren, viel Blut und nicht ganz soviel Kultur gegen den amerikanischen Kulturimperialismus, der allerdings schon da ist – in Gestalt des gerade in Japan nahezu gottgleich verehrten Charlie Chaplin.

Dazu gibt’s Fressorgien, Besäufnisse und reichlich historische Ereignisse (die zwar nichts zur Sache tun, aber wenn sie sich schon zum Zeitpunkt der Handlung ereignen. Man will ja nicht umsonst recherchiert haben).

Trailer Ende.

Doch bevor es im Buch um den Plot geht, (sieht man mal vom in allen Details beschriebenen Harikiri eines japanischen Offiziers direkt zu Beginn ab) ist die Hälfte des Buches schon um. Denn zunächst geht es in epischer Breite um die Leiden des jungen Nägeli und des jungen Amasuko. Kann man ja nicht unter den Tisch fallen lassen. Problematische Vater-Sohn-Beziehungen oder frühe Traumata wie der Tod des weißen Nicht-Kuscheln-Wollen-Hasen geben literarisch ja auch richtig was her. Und erst die autoritäre Kadettenanstalt, die das kleine Genie Masahiko den Flammen überlässt.

Das alles taugt zwar nicht als Rahmenhandlung oder gar als roter Faden, ist auch komplett bedeutungslos für die weitere Handlung, aber gepflegtes Leiden ist schließlich auch wichtig. Und das alles schön parallel montiert. Es geht ja um den Film als Kunstform. Im Film ist Parallelmontage sehr gefragt. So kann man gleich ganz klug und beseelt schließen, ah ja, hier ist die filmische Kunstform ins Literarische übersetzt. Und gelitten wird später auch noch. Wenn auch eher kunstblutig. Aber vielleicht ist das ja der rote Faden. Irgendwie will man als Leserin den Kreis ja dann doch geschlossen kriegen.

Kommt man dann zum Plot, treffen sich Nägeli und Amakasu endlich in Japan, wird dummerweise die (gemäß Verlagsbeschreibung „…das Geheimnis des Films als Kunstwerk der Moderne feiernde“) begonnene Handlung schon wieder unterbrochen. Schade. Aber was will man machen, wenn die blonde Ida dem japanischen Genie den Kopf verdreht und auf ganz andere vampirische Art als die geplante saugt.

Dem Nägeli bleibt immerhin noch die „Augenblicklichkeit des Universums“ und die blonde Spielverderberin kriegt ihre Kunstblut-Strafe. Und nicht zu vergessen: die Toten. Die haben wir ja auch noch. Die mischen sich dauernd zwischenrufend ein. Sind wahrscheinlich sowas wie das Kinopublikum für edel leidende junge und ältere Herren. Dass hingegen der Roman der dramatischen Struktur des japanischen No-Theaters folgt, das braucht man gar nicht groß herauszufinden. Kracht ist so stolz drauf, dass er einen mit der Nase draufstößt. Aber schön, oder? Da haben wir doch so einiges, was die Nicht-Rahmenhandlung und den kleinen Plot zusammenhält.

Der Roman schafft das Kunststück, viel zuviel Information bei gleichzeitiger Inhaltslosigkeit zu liefern. Aber immerhin in schön gedrechselten Sätzen, beinhaltend eine wahre Fundgrube für die beliebte Sammlung „Schöne, fast vergessene Wörter“. Die „Ästhetisierung des Schrecklichen“ passt dazu, aber es bleibt eine elegante Spielerei.

Statt Herzblut spritzt einem auch dort nur Kunstblut entgegen und es ist einem ganz unglaublich egal, ob man Gewalt so beschreiben darf, weil diese Passagen so bemüht wirken, dass sie einen nur kalt lassen können. Christian Kracht ist sicherlich ein feinsinniger Autor, aber was nach der Lektüre dieses Romans bleibt, ist der Eindruck, inhaltsleere Manierismen eines klugen Kopfs gelesen zu haben.

Alles, was ich sehe, ist eine Klamotte, eine langweilige noch dazu. Garniert mit dem Muff deutschen Mythen, von denen einem auch nicht im Ansatz erklärt wird, warum sie so toll sind und schon gar nicht, welche Lehren man daraus für die Zukunft ziehen könnte. Irritierend.

Vielleicht ist die Entstehung des Romans mit einem drängenden Bedürfnis des Autors zu erklären, sich mit aller Macht und Gewalt um jeden Preis aus den Schubladen lösen zu wollen, in die man ihn hineingepresst hat: Wunderkind, Popliterat und was da nicht immer alles an überfrachteten Erwartungen zu lesen ist. Dieser Intention und dem ganzen Roman hätte dafür allerdings eine Rückbesinnung auf Krachts Begabung als Satiriker gut getan.

Christian Kracht: „Die Toten“. Roman. Verlag Kiepenheuer und Witsch, 212 Seiten, € 20.




Eindrücke aus der Budapester Musikszene zum 60. Jahrestag des Ungarn-Aufstands

Das Müpa-Kulturzentrum in Budapest. Foto: Werner Häußner

Das Müpa-Kulturzentrum in Budapest. Foto: Werner Häußner

Vor 60 Jahren gingen in Budapest Studentinnen und Studenten der Technischen Universität auf die Straße. Sie forderten demokratische Veränderungen. Der Studentenprotest weitete sich in Windeseile aus: Am 23. Oktober 1956 versammelten sich rund 200.000 Ungarn vor dem Parlament. Die Menschen forderten Meinungs- und Pressefreiheit, freie Wahlen und Unabhängigkeit vom stalinistisch geprägten Sowjetsystem.

Die Regierung ließ in die Menge der versammelten Bürger schießen. Noch in der Nacht weitet sich die Demonstration zum Volksaufstand auf. Zehn Tage später bereitet die Sowjetarmee dem ungarischen Volksaufstand ein blutiges und brutales Ende. 2600 Ungarn kommen ums Leben, 200.000 verlassen das Land, allein gut 15.000 gehen nach Deutschland, 8000 nach Österreich. Seit 1989 ist der 23. Oktober ungarischer Nationalfeiertag.

Das ist der Hintergrund für ein musikalisches Gedenken an die Erhebung und ihre Opfer. Vor zehn Jahren, zum 50. Gedenktag, wurde die Kantate uraufgeführt. Jetzt, zum 60. Jahrestag, erklang sie wieder im Rahmen des Contemporary Arts Festivals – abgekürzt CAFe – im beeindruckenden, akustisch ausgezeichneten Großen Saal des Müpa Budapest, des 2005 eröffneten Kulturzentrums an der Donau, gegenüber des neuen Nationaltheaters. Zwei Konzert- und Theatersäle, ein Konferenzzentrum und das Museum Ludwig für zeitgenössische Kunst sind in dem imposanten Komplex vereint.

„Istenkép“ (Gottesbild) nennt sich die Kantate für großes Orchester, Chor und zwei Solisten, komponiert von Levente Gyöngyösi. Der 1975 in Cluj in Rumänien geborene Komponist kam 1989 nach Ungarn, studierte am Bartók-Konservatorium Komposition und Klavier, und hatte seinen ersten großen Erfolg mit der 2000 uraufgeführten Oper „Kalif Storch“, die seit 2005 im Repertoire der Ungarischen Nationaloper geführt wird. Gyöngyösi schrieb außerdem zwei Sinfonien, eine Sinfonia concertante, das Oratorium „Missa Vanitas Vanitatum“ und eine große Anzahl geistlicher Werke für Chöre. Zur Zeit, so ist auf seiner Homepage zu lesen, arbeitet Gyöngyösi an einem Musical nach Bulgakows „Der Meister und Margarita“.

Die fünfteilige Kantate, beginnend mit einem unbegleiteten Flötensolo, zeigt sich als ein Werk voll Pathos und Melancholie, abwechslungsreich gegliedert, gekonnt instrumentiert und in einer die Möglichkeiten und Grenzen der Tonalität ausschreitenden Schreibweise. Zu hören sind hektisch-dramatische Repetitionen im Orchester, Bläserattacken, komplexe Akkorde, die an Mussorgsky und Schostakowitsch erinnern. Aber auch ein bassloser, verklärter Frauenchor nach dem von Polina Pasztircsák mit klarer, unangestrengter Stimme vorgetragenen „Gebet für die Gefallenen“, dem Mittelteil des Werks. Im spröden, expressiven Solo des Bassbaritons Géza Gábor geht es um János Kádár, den Chef der prosowjetischen Regierung nach der Niederschlagung der Freiheitsbewegung.

Solche Musik des Gedenkens wird es schwer haben, nationale Grenzen zu überwinden, weil sie (zu) stark an ein konkretes historisches Ereignis gebunden ist. Aber die Musik spricht für den Komponisten Gyöngyösi – und vielleicht gelingt es, auf sein Schaffen aufmerksam zu machen: In einem hoffentlich weiter zusammenwachsenden Europa sollte die Musik der Nachbarn nicht unbeachtet bleiben. Das Budapester Festival ist dafür ein Anlass. Der Besucher, der nicht vertraut ist mit dem ungarischen Kulturleben, wünscht sich allerdings mehr Information, als dem knappen Programm-Faltblatt zu entnehmen ist: Will das Festival internationales Publikum anziehen, bräuchte es – gerade bei dieser Kantate – einen Text mit einer Übersetzung.

Das Konzert, das die Kantate „Istenkép“ abgeschlossen hat, stand unter dem Titel „Zeitgenössische Romantiker“. Die Ungarn haben offenbar keine Probleme mit einer Stilrichtung, die so vielfältig wie rückwärtsgewandt, so ungenau zu definieren wie unter Umständen ideologisch belastet ist. Im Programm des Festivals stehen die „Romantiker“ von heute neben Uraufführungen junger Komponisten und den inzwischen zu „Klassikern“ der (Post-)Moderne gewordenen Tonschöpfern Krzysztof Penderecki und Steve Reich – letzterer gewürdigt in einem Konzert zum 80. Geburtstag in der Liszt-Akademie.

Was diese neuen „Romantiker“ ausmacht, ist kaum zu beschreiben. Der Begriff ist wohl weder an der literarischen Romantik des frühen 19. Jahrhunderts festzumachen, noch bezieht er sich auf „romantische“ philosophische Begriffe. Der Rückgriff auf spätromantische musikalische Elemente oder der neue Stellenwert der Melodie sind ebenfalls keine verlässlichen Kriterien: Solches findet sich bei modernen amerikanischen Komponisten ebenso wie bei einem traditionsbewussten Zeitgenossen und Klangsucher wie Wolfgang Rihm.

Am einfachsten noch lässt sich klären, was „Romantiker“ bedeuten soll, wenn man László Dubrovay zu Wort kommen lässt. Der 1943 geborene Komponist hat sich früher mit experimenteller und elektronischer Musik beschäftigt und war von 1972 bis 1975 als Austauschstudent des Deutschen Akademischen Auslandsdienstes bei Karlheinz Stockhausen und Hans-Ulrich Rumpert. Von 1976 bis 2008 lehrte er an der Musikakademie Budapest Musiktheorie. Seit den 1990er Jahren wandte sich Dubrovay der Tonalität und der Melodie zu. Mit einem neuen harmonischen System will er nach eigenen Worten melodisches Denken und Singen wieder ermöglichen. Nach den „Abweichungen“ der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, so seine Überzeugung, könne die Musik nun wieder zum vollständigen Reichtum menschlichen Denkens und Fühlens zurückkehren.

Hört man sein Zweites Klavierkonzert, betitelt „Concerto romantico“, identifiziert sich diese musikalische „Romantik“ als historistisch und rückwärtgewandt. Drei Sätze in der üblichen Folge Schnell-Langsam-Schnell, überkommene Formschablonen. Das Konzert ist eine nostalgische Beschwörung: Fortschrittsgedanke, hebe dich hinweg! Materialidee, entfleuche! Stattdessen wird dem Solisten gehuldigt, als hätte es Johannes Brahms nie gegeben: János Balázs spielt wie ein auferstandener Liszt Ferenc. Hier perlende Läufe, dort rauschende Arpeggien und donnernde Parallelen, ein „träumerisches“ Seitenthema im ersten, grummelnde Bass-Bedeutung im zweiten Satz. Alles ist wie früher – nur Dubrovays melodische Erfindung kann leider weder mit Schubert noch mit Grieg mithalten. Der zweite Satz mag die Aufmerksamkeit länger fesseln: Da hat Dubrovay mit Bläsersoli und Streicherglissandi das „romantische“ Klangklischee ein bisschen verfremdet. Und das Eingangsthema des dritten Satzes ist so gestrickt, dass ein Komponist des 19. Jahrhunderts etwas daraus hätte machen können.

Die postmoderne Egalität, die Gleichstellung aller Ästhetiken, die Unfähigkeit, Kriterien zu benennen, kommt solchen Entwicklungen durchaus entgegen. Vielfalt wird ermöglicht, Qualitätsurteile geraten ins Zwielicht. In der Bildenden Kunst ist dieser Prozess schon lange im Gang; was Scharlatanerie ist und was Genie, entscheiden meist Museumsdirektoren, renommierte Galerien und ein kaufkräftig-exquisites Sammlerpublikum. In der Musik ist das Ziel der Reise noch nicht absehbar. Es gibt ja sogar Stimmen, die vom Ende der (klassischen) Musik sprechen. Ein Mann wie László Dubrovay dürfte trotzdem – auch wenn etwa in der Malerei das „Altmeisterliche“ eine gewisse Nische besetzt – mit seiner Imitation der Vergangenheit keine Chance haben. Vorbei ist eben vorbei, die Zeit lässt sich weder ignorieren noch zurückdrehen.

Dann geht man schon eher mit György Orbán mit: 1947 in Siebenbürgen geboren und als Kompositionsprofessor an der Liszt-Akademie eine der einflussreichen Personen in der ungarischen Musikszene, hat in seiner „Serenade Nr. 4“ eine üppig instrumentiertes Capriccio geschaffen, melodisch attraktiv, rhythmisch zupackend, mit Elementen aus Ragtime und Jazz, äußerst virtuosen Hornstellen und neckisch gestopfter Trompete. Das fähige Dohnányi Orchester Budafok unter Gábor Hollerung hat in diesem – wie in der anderen Werken des Abends – dankbare Aufgaben und sorgt für den glatten, widerstandslosen Klang. Béla Bartók jedenfalls, wie nachdrücklich er auch beschworen werden mag, ist weit entfernt.

Hinweis: Die Deutsch-Ungarische Gesellschaft in der Auslandsgesellschaft NRW e. V. in Dortmund lädt aus Anlass des Gedenkens an den 60. Jahrestag der Revolution von 1956 zu einem Filmabend ein: Am Dienstag, 25. Oktober, 19 Uhr, wird in der Steinstraße 48, (44147 Dortmund) der Film „Liebe“ von Károly Makk gezeigt. Eintritt frei.




Als man in Unna um die Kirchenkanzel kämpfte: Philipp Nicolai – Dichter, Pfarrer, Lutheraner

Unser Gastautor Heinrich Peuckmann erinnert an den streitbaren Theologen und Dichter Philipp Nicolai (1556-1608), der zur frühen Literaturgeschichte Westfalens gehört:

Die Unnaer Stadtkirche kenne ich aus meiner Schulzeit. Am dortigen Ernst-Barlach-Gymnasium (damals Aufbaugymnasium) habe ich Abitur gemacht. Jeden Mittwoch morgen fand in der Stadtkirche ein Schülergottesdienst statt.

Natürlich sind wir, als wir älter wurden, oft nicht hingegangen, haben uns am Bahnhof getroffen, Cola getrunken und geredet, aber kurz vor Schluss des Gottesdienstes haben wir uns doch in die Stadtkirche geschlichen, haben oben auf der Empore gesessen und das Schlusslied laut mit geschmettert, so dass sich unsere Lehrer, die natürlich vorne, in der Nähe des Altars saßen, zufrieden umblickten. Ja, es war schön für sie, fromme Schüler zu haben.

Vertont von Bach und Händel

Dass es in dieser Kirche mal eine folgenschwere Schlägerei zwischen zwei Pfarrern gegeben hatte, die noch dazu literarische Folgen hatte, habe ich damals nicht gewusst. Wer weiß, vielleicht hätte ich die Gottesdienste sonst aufmerksamer verfolgt.

Philipp Nicolai, Darstellung aus dem 17. Jahrhundert. (Wikimedia/Public Domain - Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum) Porträt-Index: http://www.portraitindex.de/documents/obj/33800342

Philipp Nicolai, Darstellung aus dem 17. Jahrhundert. (Wikimedia/Public Domain – Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum). Digitaler Portrait-Index: http://www.portraitindex.de/documents/obj/33800342

Es gibt zwei Kirchenlieder, die nahezu jeder kennt. „Wie schön leuchtet der Morgenstern“ lautet das eine und das andere beginnt: „Wachet auf, ruft uns die Stimme.“ Gedichtet wurden sie um 1598 von dem damaligen Pfarrer der Unnaer Stadtkirche, Philipp Nicolai.

Kein Geringerer als Johann Sebastian Bach hat diesen beiden Texten Kantaten gewidmet, und Georg Friedrich Händel hat ein Motiv des so genannten „Wächterliedes“ in den Halleluja-Chor seines „Messias“ übernommen. Größere Anerkennung konnten die Lieder wohl kaum finden – und das, obwohl man sie eher als Gelegenheitsschriften ihres Verfassers ansehen könnte. Er hat sie nämlich 1599 erstmals im Anhang seines Buches „Freudenspiegel des ewigen Lebens“ veröffentlicht, und durch sie ist er zu Lebzeiten auch nicht bekannt geworden.

Zu einem der berühmtesten Pfarrer seiner Zeit haben ihn vielmehr religiöse Streitschriften gemacht, in denen der glühende Lutheraner vehement den Calvinismus bekämpfte. Heute sind diese Streitschriften nur noch von religionsgeschichtlichem Interesse. Umso einziger ragen aus seinem umfangreichen literarischen Werk die beiden Kirchenlieder heraus.

Eltern stammten aus Hagen und Herdecke

Was hat diesen streitbaren und umstrittenen Theologen nach Unna geführt? Da ist einmal seine westfälische Herkunft zu nennen. Geboren wurde er zwar am 10. August 1556 in Mengeringhausen in der Grafschaft Waldeck, aber beide Eltern stammten aus Westfalen: Vater Dietrich Rafflenboel aus Hagen und Mutter Katharina Meyhan aus Herdecke.

Die Rafflenboels waren eigentlich Bauern, aber Dietrich brach mit der Tradition, begann ein Theologiestudium und wurde zuerst, wie später auch sein berühmter Sohn Philipp, Pfarrer in Herdecke. Einer damaligen Mode folgend übertrug er den Vornamen seines Vaters Klaus ins Lateinische und nannte sich mit Nachnamen Nicolai.

1552 musste er wegen der Kämpfe zwischen Katholiken und Protestanten aus Herdecke fortziehen – sein Sohn sollte ihm drei Jahrzehnte später auch darin folgen – und übernahm eine Pfarrstelle in Mengeringhausen, das einige Kilometer entfernt von Kassel liegt, wo Philipp als eines von acht Kindern geboren wurde. Philipp Nicolai hatte also eine enge Beziehung zu Westfalen, als er 1596 ein Angebot aus Unna erhielt.

Wichtiger für dieses Angebot aber war seine strenge lutherische und anticalvinistische Grundhaltung. In einem Streitgespräch 1590 hatte er zwar noch Mohammed und den Papst als schlimmste Helfershelfer des Teufels ausgemacht und das als strenger Lutheraner womöglich sogar von der Bibel her begründet. Später aber hat er in hitzig-polemischen Schriften nur noch den Reformator Calvin und seine Anhänger bekämpft.

Gegen den Calvinismus

Hitzige Kämpfe zwischen Lutheranern und Calvinisten gab es kurz vor seiner Berufung auch in Unna. Einige Kaufleute und ein Teil des Rates um die Altbürgermeister Winold von Büren, Ernst Brabender und Hinrich zum Broch wünschten 1592 eine enge Anlehnung an die Niederlande, die damals – nach der Vernichtung der spanischen Armada – den Welthandel kontrollierten und wirtschaftlich in Blüte standen. Man wollte deshalb die Stelle des Vizepastors mit dem Rotterdamer Pfarrer Hermann Grevinckhoff besetzen, der jedoch, durchaus passend für das aufstrebende Bürgertum, ein Calvinist war.

Vordergründig ging es im Streit zwischen Calvinisten und Lutheranern um die Abendmahlsfrage. Luther, in dieser Frage durchaus in katholischer Tradition, wollte der Abendsmahlsfeier weiter Heilscharakter zubilligen. Er vertrat zwar nicht mehr die so genannte Transsubstantiationslehre, nach der sich Wein und Brot direkt in Blut und Leib Christi verwandeln, lehrte jedoch, dass sich Wein und Brot bei der Abendmahlsfeier durch die Einsetzungsworte auf geheimnisvolle Weise damit verbinden. Für Calvin (und auch für Zwingli) war sie dagegen eine reine Symbolhandlung.

Wichtiger für das aufstrebende Bürgertum war allerdings Calvins Lehre von der doppelten Prädestination. Ob ein Mensch reich oder arm war, ob er der Seligkeit teilhaftig würde oder nicht, das alles hatte Gott vorherbestimmt. Deshalb brauchten reiche Kaufleute wegen der Armut der anderen Menschen auch kein schlechtes Gewissen zu haben, während sie selbst in ihrem Reichtum eine Bestätigung für Gottes Auserwähltheit sehen konnten. Sozialpolitisch war damit die Nächstenliebe ausgehebelt, ein glänzendes Ruhekissen für die Besitzenden.

Wüste Rauferei im Gotteshaus

Die Abt von Deutz lehnte jedoch Grevinckhoffs Berufung wegen dessen calvinistischer Einstellung ab und berief statt dessen den jungen Lutheraner Joachim Kersting. Der aber wollte zuerst seine theologischen Studien in Jena fortsetzen und schickte als Vertreter den lutherischen Kaplan Uphoff, eine Schwäche, die die calvinistische Fraktion sofort ausnutzte. Sie berief den aus Essen stammenden Magister Berger, der sofort, in strenger calvinistischer Tradition, die Bilder aus der Stadtkirche entfernen ließ. Kersting, alarmiert, eilte von Jena nach Unna und dort soll es in der Stadtkirche zu einem tollen Zweikampf gekommen sein.

Altbürgermeister Brabender gab Berger vor einem Gottesdienst die Anweisung, Kersting auf jeden Fall von der Kanzel fern zu halten und befahl dem Küster, die Kirchentüren zu schließen. Während draußen die herbeigerufenen Lutheraner gegen die verschlossenen Kirchentüren trommelten, kämpfte Kersting drinnen einen heroischen Kampf. Es war ihm gelungen, sich am Aufgang zur Kanzel festzuklammern, und so sehr Berger auch zerrte, riss und schimpfte, Kersting ließ nicht los. Der Mantel wurde ihm dabei zerrissen, aber was ist schon Kleidung im Kampf um den richtigen Glauben?

Kersting jedenfalls verteidigte die Kanzel, die auch sein Gegner nicht besteigen konnte, bis die Lutheraner sich über eine kleine Seitentür Zutritt verschaffen konnten und Berger mitsamt seinen Helfern vertrieben. Ein feste Burg ist unser Gott…

Über Schimpfwörter und handfeste Auseinandersetzungen in Glaubensfragen zu dieser Zeit darf man sich nicht wundern. Es war das Zeitalter der Orthodoxie, da galt: Es gibt nur einen richtigen Glauben. Und da es natürlich der jeweils eigene war, mussten die Anhänger des anderen, falschen Glaubens überzeugt werden. Zur Not mit Gewalt.

„Freudenspiegel des ewigen Lebens“

In Unna wollten die Lutheraner ihren Sieg festigen. Unnas neuer Bürgermeister, ein aus Köln zugezogener Patrizier namens von Westfalen, hatte gehört, dass Philipp Nicolai in der waldeckschen Landessynode calvinistische Irrlehrer exkommunizieren ließ, er hatte wohl auch dessen bekannteste Schrift „Nothwendiger und gantz vollkommener Bericht von der gantzen calvinistischen Religion“ gelesen. Wenn d a s nicht der richtige Mann für Unnas Lutheraner ist, muss er wohl gedacht haben.

Zwei Angebote aus Unna lehnt Nicolai noch ab, dann fuhr Bürgermeister von Westfalen selbst ins Waldecksche und überredete ihn. Sein Verdienst war ansehnlich: 50 Mütte reinen Korns, dazu 60 Reichstaler, sechs Fuder Holz sowie freie Wohnung mit großem Garten (eine Mütte Korn hatte den Wert von 4 Talern).

Man scheint in der ganzen Grafschaft Mark an Nicolais Kommen interessiert gewesen zu sein, denn einen Teil der Kosten für seinen Umzug übernahm die Stadt Soest, der Nicolai dann auch sein schönstes Buch, eben den „Freudenspiegel des ewigen Lebens“ widmete.

In den furchtbaren Zeiten der Pest

In Unna aber traten kurz nach seinem Amtsantritt die religiösen Streitfragen in den Hintergrund. 1597 brach über Nacht die Pest aus. Nicolai stellte den Kirchenkampf hintan und beschränkte sich auf die Seelsorge. Er ging zu den Sterbenden, sprach ihnen Trost zu, hatte bis zu 30 Beerdigungen am Tag und musste miterleben, wie auch der tapfere Kanzelverteidiger Kersting der Seuche erlag.

Nicolai selbst fürchtete die Pest nicht. Er vertraute seinem Gott und fuhr – zur medizinischen Unterstützung dieses Vertrauens – zu einer Apotheke nach Dortmund, um sich Medizin zu besorgen.

Wie kann man die allgegenwärtige Todesgefahr, den vergeblichen Kampf gegen den Tod, den Zuspruch des Trostes für Hunderte von Sterbenden psychisch durchstehen? Nicolai schaffte es, indem er am Tage unbeirrt und unermüdlich seine Pflicht tat und sich abends in den erlösenden Trost der himmlischen Herrlichkeit flüchtete, in der es keinen Tod, keine Seelennot mehr gab. Während immer mehr Menschen der Pest erlagen, schrieb er seinen „Freudenspiegel“ als Trost für die Sterbenden und Hinterbliebenen, als Stärkung aber auch für sich selbst. Und im Anhang des Buches, das viele Auflagen erlebte, veröffentlichte er – wie erwähnt – seine berühmt gewordenen Lieder.

Auf dem Friedhof in der Nähe seines Gartens wurden die Leichen aufgeschichtet, Pest- und Verwesungsgeruch lag über der Stadt, Philipp Nicolai aber konnte in der Gewissheit seines Glaubens singen: „Wie schön leuchtet der Morgenstern.“ Die Musik zu seinen Liedern hat er übernommen und nicht selbst geschrieben, obwohl er das vermutlich auch gekonnt hätte. Er hat nämlich eine sehr gute Schulbildung genossen, die ihn u.a. nach Mühlhausen in Thüringen führte, wo später Bach Organist gewesen war. Dort hat Nicolai im Gymnasialkirchenchor mitgesungen und ist von dem fähigen Musiklehrer Joachim Müller a Burck unterrichtet worden, der selbst auch komponieren konnte.

Gottesreich für 1670 vorhergesagt

„Wie schön leuchtet der Morgenstern“ ist ebenso wie „Wachet auf“ ein Zeugnis barocker Brautmystik, in der, im Bild des Bräutigams, vom Kommen Christi und damit vom Jüngsten Tag die Rede ist. Der 45. Psalm, das Hohe Lied der Liebe und das Gleichnis von den klugen und törichten Jungfrauen im Matthäusevangelium haben mit ihrer Hochzeitsmetaphorik den biblischen Anstoß zu beiden Liedtexten gegeben.

Nicolai stand übrigens wirklich unter dem Eindruck der Naherwartung. In einer anderen Schrift, der „Historie des Reiches Christi“, hat er das Kommen des Gottesreiches sogar genau vorausberechnet und auf das Jahr 1670 datiert. Vorsichtig hat er allerdings hinzugefügt, dass es „wegen des Elends und der Bedrängnis der auserwählten Kinder Gottes“ auch früher kommen könne.

Dieses Denken ist spätestens seit der Aufklärung überwunden. Wenn Nicolais Lieder trotzdem bekannt blieben, das „Wächterlied“ sogar stetig populärer wurde, dann müssen Text und Musik wohl viel ausdrücken. Glaubensstärke und Zuversicht, Optimismus angesichts von Tod und Krankheit (in den Liedern metaphorisch ausgedrückt durch die Überwindung von Nacht und Schlaf) sprechen die Menschen auch heute an. Als König und Königin des Gesangbuchs wurden beide Lieder gelegentlich bezeichnet. Regelmäßig werden sie im Gottesdienst gesungen und Bachs Kantaten sprechen auch Nichtchristen an. In Unna sind also die Texte entstanden, in der Not einer bedrängenden Pestzeit.

Dem Ruf nach Hamburg gefolgt

Philipp Nicolai ist aber nicht in Unna geblieben. 1600 heiratete er noch in Unna die Witwe eines Dortmunder Pfarrerkollegen, eine Katharina von der Recke. Doch schon 1601 folgte er einem Ruf als Hauptpastor in der Katharinengemeinde in Hamburg. Dort wurde sein einziger Sohn Theodor geboren, dort schrieb er noch weitere 17 theologische Abhandlungen, aber schon 1608, im Alter von gerade 52 Jahren, ist er gestorben.

Vor dem Altar der Katharinenkirche hat man ihm ein Ehrengrab gegeben. Als die Kirche 1856 jedoch umgebaut wurde, hat man seine Gebeine aufgenommen und auf dem Katharinenfriedhof vor dem Dammtor beigesetzt. In Hamburg also liegt Philipp Nicolai begraben, in Unna aber hat er seine beiden schönen Kirchenlieder geschrieben.

Und wenn wir Schüler schon damals von dem tollen Zweikampf zweier Pfarrer in der Stadtkirche gewusst hätten, die Voraussetzung für seine Berufung nach Unna waren, wären wir bestimmt pünktlich zum Schulgottesdienst erschienen. Glaube ich jedenfalls.




Gilgamesh muss erwachsen werden: Eröffnung der Theatersaison in Düsseldorf

Das Schauspielhaus Düsseldorf im Zelt Foto: Eva Schmidt

Das Schauspielhaus Düsseldorf im Zelt
Foto: Eva Schmidt

Der Mann in Unterhose rennt über die Kö. Er ist mit verkrustetem Schlamm bedeckt und schreit.

Es handelt sich aber nicht um ein Shopping-Victim, sondern um Gilgamesh (Christian Erdmann), dem Theaterzelt entsprungen, das am Anfang der Düsseldorfer Königsallee aufgebaut ist. Hier eröffnete das Schauspielhaus unter der neuen Intendanz von Wilfried Schulz die Saison und öffnete sich gleichzeitig zur Stadt hin – mit einer sehr lebendigen, witzigen, aber nicht unbedingt tiefschürfenden Inszenierung des archaischen Gilgamesh-Mythos (übertragen von Raoul Schrott) von Roger Vontobel.

Uruk hieß diese erste City, 5000 vor Christus. Sie lag im Zweistromland. Bei Vontobel liegt Uruk in der Zirkusmanege , die großen Leuchtlettern, die einem Hollywood-Schriftzug nacheifern, sind zerbrochen, der Grund ist sandig, der Herrscher Gilgamesh verkommen, grausam, egomanisch. Er hurt herum, plustert sich auf, ein eitler Nichtsnutz.

Aus Sorge um die Stadt erflehen die Bürger Hilfe und diese kommt in Gestalt von Enkidu, dem Naturmenschen. Sehr tänzerisch ist die Schöpfung dieses Wesens aus Lehm umgesetzt, das zunächst wie ein Tier unter Tierherden lebt und nach und nach zu einem Menschen, sogar einem besseren Menschen wird. Eine kraftvolle und körperbetonte Performance liefert dabei der Tänzer Takao Baba, später übernimmt André Kaczmarczyk den Sprechpart der Rolle und erinnert eher an Jesus, den Propheten. Er findet den Weg unter die Menschen, in die Stadt und liefert sich mit Gilgamesh einen Zweikampf, der zum Glück in Freundschaft endet.

Als Freunde, die niemand trennen kann, wollen beide nun die Welt erobern und haben es zunächst auf den Beherrscher des Waldes Humbaba abgesehen. Ein Abenteuertrip für Halbwüchsige, es fehlt eigentlich nur noch der Campingkocher. Klar, dass sie den Waldkönig besiegen und erfolgreich wie nie zuvor nach Uruk zurückkehren.

Doch die Story wäre nicht stimmig, würde nicht doch noch das Schicksal zuschlagen: Enkidu wird krank und kränker, schließlich stirbt er und lässt einen fassungslosen, fast traumatisierten Gilgamesh zurück. Die neue Aufgabe lautet nun: Werde erwachsen! Ganz unmissverständlich macht seine Mutter Ninsun (Michaela Steiger) ihm das klar. Die blonde Diva im Glitzerkleid ist schon etwas länger Königin und weiß, wo die Reise hingeht: heiraten, Kinder kriegen, ordentlich regieren. Das soll der nichtsnutzige Spross jetzt mal endlich lernen und nun sieht er es auch selber ein. Über die Kö kann er dann ja immer noch laufen, vielleicht in gemäßigterem Tempo: Am Samstag, zum Shoppen.

Karten und Termine: www.dhaus.de

____________________________________

Grußwort des Intendanten Wilfried Schulz zur Situation des Theaters in Düsseldorf:
http://www.dhaus.de/home/willkommen/




Vor 50 Jahren hob das Raumschiff „Orion“ ab

Der folgende Beitrag ist erstmals am 13. August 2013 in den Revierpassagen erschienen. Anlass der neuerlichen Veröffentlichung: Gestern (17. September) vor 50 Jahren hat die Ausstrahlung der legendären Reihe begonnen. Hier also nochmals der Text von 2013:

So hat man sich vor 47 Jahren die Zukunft vorgestellt: Die Menschen leben in einer keimfreien Unterwasserwelt. Das Mobiliar sieht poppig und furchtbar avantgardistisch aus. Leute in Einheitskluft vollführen schon mal seltsam roboterhafte Tänze. Vor allem aber brechen sie tagtäglich in die unendlichen Weiten fremder Galaxien auf.

Dietmar Schönherr, Wolfgang Völz und Eva Pflug in der Auftaktfolge von "Raumpatrouille". (Screenshot von http://www.youtube.com/watch?v=FGcIy76N9sY)

Dietmar Schönherr, Wolfgang Völz und Eva Pflug in der Auftaktfolge von „Raumpatrouille“. (Screenshot von http://www.youtube.com/watch?v=FGcIy76N9sY)

Willkommen bei der „Raumpatrouille“, der legendären Science-Fiction-Spielserie aus den 1960er Jahren! Willkommen an Bord des Raumschiffs „Orion“!

Der „alte Adam“ ist noch lebendig

Als „Märchen von übermorgen“ wird das Ganze schon im Vorspann der einstündigen Auftaktfolge bezeichnet, die ich mir jetzt noch einmal angesehen habe. Unter den Erdbewohnern herrscht Frieden, es gibt keine Nationalstaaten mehr. Doch der blaue Planet muss sich unentwegt gegen extraterrestrische Angreifer wehren – allen voran die geheimnisvoll glitzernden, ungreifbaren „Frogs“, gegen die auch Laserpistolen nichts ausrichten können. Trotzdem sind sie an einem Punkt verwundbar…

Auch der „alte Adam“ ist in dieser fernen Zukunft noch lebendig. Es gibt immer noch Hierarchien und Intrigen, aber auch Teamgeist und Freundschaft. Und es gibt immer noch diese uranfängliche, zuweilen etwas komplizierte Sache zwischen Männern und Frauen.

Dietmar Schönherr als smarter Kommandant

Im Zentrum der am 17. September 1966 gestarteten, siebenteiligen ARD-Reihe schwebt natürlich das Raumschiff „Orion“ unter dem Kommando des smarten Allister McLane (Dietmar Schönherr). Weil der oft allzu husarenhaft und eigenmächtig vorgegangen ist, degradieren ihn die Chefs für eine Bewährungsfrist von drei Jahren. Auch stellen sie ihm als Aufpasserin die rigide Sicherheitsoffizierin Tamara Jagellovsk (Eva Pflug) zur Seite, was der eingeschworenen „Orion“-Besatzung gar nicht in den Kram passt. Ein Hauptstrang der Serie schildert denn auch gruppendynamische Prozesse.

Der „Kalte Krieg“ und die Verweigerung

Man beachte den russisch klingenden Namen Jagellovsk und stelle sich vor, dass das alles mitten im Kalten Krieg (und vor der ersten Mondlandung) gesendet wird. Da ist es schon eine kleine Sensation, dass jene Tamara gelegentlich menschliche Seiten durchschimmern und mit sich reden lässt. Das Dauerthema Gehorsams-Verweigerung deutet, wenn man so will und genau hinhört, schon zaghaft auf die Rebellion von 1968 voraus. Jedenfalls ist es sozusagen sternenweit entfernt vom „Kadavergehorsam“ im Zweiten Weltkrieg, der damals gerade erst 21 Jahre zurücklag.

So erlesen auch das Darsteller-Ensemble war (außer Schönherr und Pflug u. a. Wolfgang Völz, Benno Sterzenbach, Friedrich Joloff usw.), wurde es doch beinahe in den Schatten gestellt, nämlich von den ungemein kreativ ausgeklügelten Spezialeffekten, die mit einfachsten Mitteln bewerkstelligt wurden. Computer im heutigen Sinne gab es halt noch nicht. Aber Phantasie und Tüftlergeist waren reichlich vorhanden!

Spezialeffekte mit Reis, Rasierklinge und Bügeleisen

So wurde ein interstellarer Lichtsturm mit Hilfe hochgeworfener Reiskörner erzeugt. Kosmische Strahlen? Die ritzte man mühsam in die einzelnen Filmbilder ein – per Handarbeit mit einer gewöhnlichen Rasierklinge. Berühmtheit erlangte das Bügeleisen, aus dem im Handumdrehen ein Bestandteil der futuristischen Raumschiff-Armaturen wurde. Oft halfen bewusst unscharf aufgenommene Bilder, viele aufgeregt blinkende Glühbirnchen oder wallende Nebelschwaden, um den galaktischen Budenzauber zu inszenieren. Und dabei haben wir noch gar nicht die futuristische Geräuschkulisse mit ihren bizarren Halleffekten erwähnt.

Es wurde spannend erzählt, doch keineswegs ohne Humor und einen Schuss Selbstironie. Der technische Jargon wurde bis zur Parodiereife ausgereizt, menschliche Schwächen geradezu wonnewoll ausgekostet. Trotz tollster Raumfahrttechnik lebten die uralten Instinkte aus Verfolgungsjagden in Dialogen dieser Art fort: „Sie kommen!“ – „Nichts wie weg hier!“ So ähnlich muss sich das schon in der Steinzeit angehört haben.




Alles fließt: Der Rhein im Strom der Zeit – eine gedankenreiche Ausstellung in Bonn

Warum ist es am Rhein so schön? Etwa, „weil die Mädel so lustig und die Burschen so durstig“? Nee, du gutes altes Stimmungslied, es gibt noch etwas Anderes als das nervige Partygetümmel an den Promenaden von Düsseldorf, Köln oder Rüdesheim.

Der "Vater Rhein" in seinem Bett, umgeben von Städten und Nebenflüssen - so malte es 1848 Moritz von Schwind. (Foto: Raczynski-Stiftung, Poznan)

Der „Vater Rhein“ in seinem Bett, umgeben von Städten und Nebenflüssen – so malte es 1848 Moritz von Schwind. (Foto: Raczynski-Stiftung, Poznan)

Abseits, auf den Uferwiesen, da fließen die Gedanken und Gefühle. An den windigen Stränden, wo die Kinder des Rheins lernen, flache Kiesel so über das Wasser zu werfen, dass sie hochhüpfen, ehe sie versinken. Dort, wo sich die Pänz nasse Füße holen und den Schiffen hinterherträumen, die aus Basel oder Rotterdam kommen und mit ihren langen Lasten und fremden Leuten so leicht und fast lautlos vorüberfahren.

Es kam zu allen Zeiten etwas Neues mit dem Strom, und etwas Altes wurde fortgespült, bis es weiter oben im Meer verschwand. Vielleicht sind die Menschen am Rhein deshalb tatsächlich etwas offener und toleranter und, ja, manchmal auch etwas weniger treu und beharrlich als ihre Mitbürger, die tief verwurzelten Westfalen. In Bonn, der (typisch Rhein) verflossenen Hauptstadt der Republik, präsentiert die Bundeskunsthalle in den nächsten Monaten das große Thema „Der Rhein“ und zwar, wie der Untertitel heißt, als „Eine europäische Flussbiografie“. Das klingt ein wenig anstrengend und ist es auch.

Krieg und Kirche, Macht und Wacht

Zwischen leuchtend blauen Wellenwänden wird dem Betrachter einige Wissbegier abgefordert. Eine Fülle an Fakten und neuerer Forschung muss durchgearbeitet werden. Zahlreiche Bücher, Dokumente und historische Exponate erfordern mehr als beiläufiges Interesse für flussrelevante Themen wie Hochwasserregulierung, Kriegs-, Kirchen- und Industriegeschichte, die Macht und die Wacht am Rhein. Der Gesamteindruck ist irgendwie halbtrocken wie der Wein vom Drachenfels, den Kalauer konnten wir uns jetzt nicht verkneifen.

Nüchtern betrachtet: "Der Rhein I", Fotografie von Andreas Gursky. (Foto: Gursky / VG Bild-Kunst)

Nüchtern betrachtet: „Der Rhein I“, Fotografie von Andreas Gursky. (Foto: Gursky / VG Bild-Kunst)

Aber es lohnt sich, artig hinzusehen, zumal Kuratorin Mare-Louise Gräfin von Plessen eine kunstvolle Idee zur Einstimmung hatte. Unter den Klängen von Schumanns „Rheinischer Symphonie“ werden da drei Rheinbilder zusammengeführt. Die nüchtern-rätselhafte Fotografie eines nicht identifizierbaren Uferstreifens aus dem Werk des Starfotografen Andreas Gursky (1996) hängt gegenüber Moritz von Schwinds schwärmerischer Darstellung von „Vater Rhein“, der anno 1848 in den grünblauen Fluten sitzt und seinen Töchtern, den Flüssen und Städten, ein rheinisches Liedchen fiedelt. Daneben bannt uns der alienhafte grüne Kopf, den Max Ernst, der Surrealist und Weltbürger, 1953 seinem „Vater Rhein“ gegeben hat.

Nach Jahren im Exil war der in Brühl geborene Künstler zurückgekehrt an den heimischen Fluss und besang ihn auf seine Weise: „Hier kreuzen sich die bedeutendsten europäischen Kulturströme, frühe mediterrane Einflüsse, westliche Regionalismen, östliche Neigung zum Okkulten, nördliche Mythologie, preußisch-kategorischer Imperativ, Ideale der französischen Revolution und noch manches mehr“, stellte er fest.

Der Flussgott trägt zwei Hörner

Und das belegt die Ausstellung mit Bildungsgut. Die Chronologie beginnt bei den alten Römern, die den Rhenus fluvius als Flussgott sahen, mit zwei Hörnern, bicornis, wegen der Gabelung an der Mündung. Der Fluss, nicht so leicht zu überqueren, galt als natürliche Grenze zwischen Gallien und Germanien. Hier spielten sich über Jahrhunderte, bis hin zum Zweiten Weltkrieg, die Konflikte zwischen Franzosen und Deutschen ab, der Machtkampf zwischen Marianne und Germania. In nicht allzu schlechter Erinnerung hat man die sogenannte Franzosenzeit zwischen 1794 und 1814, als die nachrevolutionären Truppen aus Paris auf ihrem Eroberungszug nicht nur ein geregeltes Rechtssystem (Code Napoléon), sondern auch ein gewisses savoir vivre an den Rhein brachten.

Aufwallung: der "Vater Rhein" von Max Ernst, 1953. (Foto: Kunstmuseum Basel / VG Bild-Kunst)

Aufwallung: der „Vater Rhein“ von Max Ernst, 1953. (Foto: Kunstmuseum Basel / VG Bild-Kunst)

Heute bemüht man sich im europäischen Geist, die friedliche Einigkeit der Nationen zu betonen. Die Verbundenheit mit den Rhein-Nachbarn Schweiz, Frankreich und den Niederlanden wird auch in der Bonner Ausstellung beschworen, aber, Hand aufs Herz, die westlichen Anwohner sind nie zu solchen Rheinromantikern geworden wie es die angereisten Engländer schon im 19. Jahrhundert waren, als sie die Romantik und die erbauliche Flussfahrt entdeckten. The river Rhine is so lovely, Ladies and Gentlemen!

Die Geschichte der fatalen Loreley

Doch halt! Da sind wir wieder mal zu schnell im Strom der Zeit vorausgetrieben. Zunächst einmal baute die christliche Kirche auf den Stätten der Antike ihre Kathedralen, und das Heilige Römische Reich breitete sich aus. Kaiser und Ritter residierten bevorzugt am Rhein, und es entstanden die Burgen, deren Ruinen sich noch heute so malerisch erheben, und es entstanden die Sagen und Märchen, die sogar disziplinierten japanischen Touristen die Tränen in die Augen treiben. Am Felsen der Loreley, die mit ihrem Gesang und ihren goldenen Haaren so manchen Schiffer ins Verderben lockte, da singen sie im Chor: „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, dass ich so traurig bin …“.

Zum Fürchten: Lorenz Clasens "Germania als Wacht am Rhein", 1880. (Foto: Kunstmuseen Krefeld)

Zum Fürchten: Lorenz Clasens „Germania als Wacht am Rhein“, 1880. (Foto: Kunstmuseen Krefeld)

Heinrich Heine schrieb die berühmten Verse, denn selbst scharfsinnige Spötter werden sentimental, wenn sie nur lange genug auf die Fluten schauen. Und nicht nur Richard Wagner suchte mit ganz großem Pathos nach dem Rheingold. Über Kopfhörer kann man allerlei vom Rhein inspirierte Musik hören.

Ansonsten ist in der Ausstellung relativ wenig Platz für sinnliche Erlebnisse. Sie hat einfach zu viel zu erzählen: vom Strom der Händler, von den Waren und Menschen, die über den Rhein kamen, von wachsenden Städten und von glanzvollen Höfen wie dem des Kurfürsten Johann Wilhelm von der Pfalz, genannt Jan Wellem, der in Düsseldorf die erste Gemäldegalerie für das Volk eröffnete und von dessen ganzer Prachtentfaltung nur noch ein kleiner übriggebliebener Schlossturm zeugt. Das Türmchen ist heute Domizil eines hübschen kleinen Schifffahrtsmuseums und steht gleich vorn in der Altstadt an der Promenade der immerwährenden Party. Womit wir wieder beim Stimmungslied wären: „Warum ist es am Rhein so schön?“ Ich empfehle, einen kleinen Spaziergang zu machen, ein wenig abseits, und sich den Wind des freien Rheins um die Nase wehen zu lassen.

„Der Rhein. Eine europäische Flussbiografie“. Bis 22. Januar 2017 in der Bundeskunsthalle Bonn, Friedrich-Ebert-Str. 4, Museumsmeile. Di und Mi. 10 bis 21 Uhr, Do.-So. 10 bis 19 Uhr. Eintritt: 12 Euro (ermäßigt 8 Euro). Katalog (Hrsg. Marie-Louise von Plessen), Prestel-Verlag, 336 Seiten, 39,95 Euro. Es gibt ein umfangreiches Begleitprogramm. www.bundeskunsthalle.de




Als Balzac im Zug saß – Heinrich Peuckmann auf den Spuren des ruhmreichen Romanciers

Er war ein Lebemann, ein Draufgänger und zugleich hat er der Nachwelt ein beeindruckendes literarisches Erbe hinterlassen. Die Rede ist von Honoré de Balzac.

Dem französischen Schriftsteller (1799-1850) hat Heinrich Peuckmann sein neues Buch gewidmet. Er greift dazu eine Episode aus der Biographie des bereits zu Lebzeiten populären Romantikers heraus und legt ein pointiertes Portrait des Literaten vor.

peuckmannbalzac

1847 begab sich Balzac auf eine lange Zugfahrt von Paris nach Wierzchowia in der heutigen Ukraine, um dort seine Geliebte, die reiche Großgrundbesitzerin Evelina Hanska, zu besuchen. Sie hatte schon Jahre vorher den Kontakt zu Balzac aufgenommen, doch seine Hoffnung, sie würde ihn nach dem Tod ihres Gatten heiraten, hatten sich (zunächst) nicht erfüllt. Umso mehr hoffte Balzac nun, dass der bevorstehende Aufenthalt endlich zum Ziel führen wurde.

Seine Heimat Paris hatte er aber nicht nur der Liebe wegen Hals über Kopf verlassen, einmal mehr waren seine Geldgeber dem chronisch verschuldeten Balzac auf den Fersen. Sich in damaliger Zeit auf eine Zugreise zu begeben, war für jeden Gast strapaziös, erst recht für einen Mann wie Balzac, den man heute wohl als Workaholic bezeichnen würde. Tag und Nacht arbeitete er an seiner Romanreihe „Menschliche Komödie“ und ruinierte sich nicht zuletzt durch seinen massenhaften Kaffeegenuss die Gesundheit. So litt er unter häufigen Hustenanfällen, die ihn auch auf der mehrwöchigen Reise plagten, wie es Heinrich Peuckmann eindrucksvoll schildert.

Balzacs Gedanken kreisen während der Fahrt aber nicht nur um das eigene literarische Schaffen, er ruft sich auch die Begegnungen mit seiner geliebten Evelina in Erinnerung und denkt zudem gern an die vielen anderen Frauengeschichten, die ihn schon als jungen Erwachsenen in die höchsten Adelskreise führten. Die Eindrücke und Erlebnisse in dieser gesellschaftlichen Umgebung hat er in zahlreichen Werken verarbeitet und dabei den Menschen gern mal den Spiegel vorgehalten. Trotzdem oder auch gerade deshalb erreichte er bereits zu Lebzeiten eine hohe Popularität, wie es auch auf der Zugreise deutlich wird. In Peuckmanns Buch trifft Balzac zahlreiche Zeitgenossen, die ihn schätzen und auch ihre Bewunderung zum Ausdruck bringen.

Das Verhältnis zu Dichtern und Denkern seiner Zeit beschäftigt Balzac stets auf Neue. Das belegen die Zwiegespräche mit Victor Hugo oder Heinrich Heine. Nicht immer sind es die großen philosophischen Diskurse über die Zukunft der Welt, manchmal auch ganz praktische Überlegungen. Heine empfiehlt Balzac, doch mehr Theaterstücke zu schreiben. Mit schnell verdientem Geld könne er sich doch von seinen Schuldnern loseisen.

Wenn Balzac sich in Kindheit und Jugend versetzt, kommt er nicht um das schwierige Verhältnis zu seiner Mutter herum, die ihn nicht leiden konnte und ihn zu einer Amme gab. Mit dieser Entscheidung haderte Balzac wohl bis zum Tod.

Dass Heinrich Peuckmann intensiv für das Buch recherchiert hat, zeigt sich nicht nur an den vielen Details aus dem Leben Balzacs, sondern auch bei der Beschreibung der Zugfahrt in der Pionierzeit der Eisenbahnen. In Köln mussten die Fahrgäste zu Fuß eine Rheinbrücke passieren, um danach ihre Fahrt mit einem anderen Zug fortzusetzen. In Madgeburg stand zur Überquerung der Elbe eine Fähre für die Bahn parat.

Zu Ehren kommt auch ein Begriff, der heute längst in Vergessenheit geraten ist. Der Name Perron für Bahnsteig/Treppe war seinerzeit in aller Munde. Manche Selbstverständlichkeiten in jener Zeit geben zum Schmunzeln Anlass, unter anderem, wenn es Balzac es ertragen muss, dass eine Frau Hühner und Ziege mittransportiert.

Dieses Mal ist es zwar kein Krimi, den Peuckmann vorlegt, dennoch hat das Buch einen Spannungsbogen. Ob Evelina schließlich zur Heirat bereit ist, diese Frage lässt der Autor nicht unbeantwortet.

Heinrich Peuckmann: „Die lange Reise des Herrn Balzac“. Lychatz Verlag, 124 Seiten, 19,95 Euro




„Zeche Hannover“ in Bochum: Einst trutzige Burg für den Bergbau – heute ein Museum

Als vor gut 150 Jahren der Kohlebergbau im Ruhrgebiet immer mehr in die Tiefe ging, da wurde auch in der Bochumer Bauerschaft Hordel eine weitere Zeche gegründet.

Nach dem Wohnsitz des Bergwerk-Gründers im damaligen Königreich Hannover erhielt die neue Fördergrube den Namen Zeche Hannover. Um die Fahrt in Körben sicherer und schneller zu machen, bauten die Besitzer später den trutzigen Malakowturm, der noch heute steht und wie eine trutzige Burg in die Landschaft des Bochumer Nordens ragt.

Malakowturm der Zeche Hannover (Foto Pöpsel)

Der Malakowturm der Bochumer „Zeche Hannover“. (Foto: Hans Hermann Pöpsel)

Heute sind die Gebäude der längst stillgelegten Zeche ein Bestandteil des Westfälischen Industriemuseums – getragen und betreut vom Landschaftsverband Wetstalen-Lippe (LWL). Wie auch in anderen Alt-Zechen nutzt der Landschaftsverband die Räume für Ausstellungen. Zur Zeit kann man dort, bei freiem Eintritt, eine Zusammenstellung von Fotos, Gegenständen und Dokumenten über polnische „Displaced Persons“ sehen.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der Naziherrschaft lebten in Deutschland hunderttausende befreite Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene aus unterschiedlichen Ländern, die aus politischen Gründen nicht in ihre ursprüngliche Heimat zurückkehren konnten oder wollten, zum Beispiel nach Jugoslawien oder in die Sowjetunion und eben auch nicht in das inzwischen kommunistische Polen.

Diese „Displaced Persons“, auch kurz DP genannt, lebten zunächst in Lagern, bis die deutschen Landesregierungen Anfang der 50-er Jahre dazu übergingen, gezielt neue Siedlungen für diese Personengruppen zu bauen. Außerdem wanderten zahlreiche DP in andere Länder aus, zum Beispiel nach Kanada oder in die Vereinigten Staaten.

Die Ausstellung im Bochumer Malakowturm zeigt sehr anschaulich, wie die polnischen DP lebten, wie sie das Lagerleben organisierten, welche kulturellen Aktivitäten es gab und wie die Katholische Kirche gezielt auf die Menschen zuging und half.

Interessant ist in der Zeche Hannover, dass man aus der kleinen Ausstellung ohne Übergang in den mächtigen Maschinensaal gelangt. Die dort stehende Fördermaschine aus dem Jahre 1893 ist die älteste noch am ursprünglichen Standort verbliebene Seilzuganlage  des Ruhrkohlebergbaus, und manchmal wird sie vom rührigen Förderverein der Zeche noch in Betrieb genommen – allerdings nicht mit Dampfkraft, sondern mit Elektromotoren.

LWL-Industriemuseum Zeche Hannover, Günnigfelder Straße 251 in Bochum. Mittwoch-Samstag 14–18 Uhr, an Sonn- und Feiertagen 11–18 Uhr. Eintritt frei. Internet: https://www.lwl.org/industriemuseum/standorte/zeche-hannover




Dortmunder Institut für Zeitungsforschung: Neue Leiterin kommt aus Mainz

Was haben Borussia Dortmund und die Dortmunder Kulturbetriebe derzeit gemeinsam? Richtig, sie verpflichten lauter neue Leute, so dass man mit dem Notieren kaum noch nachkommt. Freilich reden wir von anderen finanziellen Dimensionen.

Kürzlich wurde Dr. Jens Stöcker als künftiger Direktor des Museums für Kunst und Kulturgeschichte präsentiert, auch Bibliotheksdirektor Dr. Johannes Borbach-Jaene ist erst seit relativ kurzer Zeit in diesem Job. Heute nun stellte sich die kommende Leiterin des bundesweit einzigartigen Institus für Zeitungsforschung vor: Die Historikerin und Kunsthistorikerin Dr. Astrid Blome (50) kommt vom Mainzer Gutenberg-Museum, wo sie als Kuratorin für die Themenschwerpunkte Zeitung und Presse zuständig ist.

Über historische Presseerzeugnisse gebeugt: Astrid Blome, künftige Leiterin des Instituts für Zeitungsforschung, flankiert von Kulturdezernent Jörg Stüdemann (li.) und Bibliotheksdirektor Johannes Borbach-Jaene. (Foto: Bernd Berke)

Über historische Presseerzeugnisse gebeugt: Astrid Blome, künftige Leiterin des Instituts für Zeitungsforschung, flankiert von Kulturdezernent Jörg Stüdemann (li.) und Bibliotheksdirektor Johannes Borbach-Jaene. (Foto: Bernd Berke)

Fehlt „nur“ noch eine neue Direktion für Dortmunder „U“ und somit auch fürs Museum Ostwall. So Gott und die offenbar höchst anspruchsvolle Findungskommission wollen, wird es bald oder irgendwann so weit sein.

Bundesweit einmalige Sammlung

Doch jetzt erst einmal zur Zeitungsforschung. Kein anderes deutsches Institut hat annähernd vergleichbare Bestände und konzentriert sich so intensiv auf Geschichte und Gegenwart der Presse. Da frohlockt der kulturgeneigte Lokalpatriot, denn selbst Berlin oder Hamburg können auf diesem Terrain nicht konkurrieren.

Auch die neue Leiterin, die ihr Amt am 15. August antreten wird, hat schon seit jeher Kontakt zur Dortmunder Einrichtung, die bereits 1926 gegründet wurde. Besonders während ihres Studiums in Bremen ging sie im damaligen „Schwester-Institut“ ein und aus, das sich mit Presseerzeugnissen der Frühen Neuzeit befasst, heute aber leider finanziell ausblutet. In Dortmund scheinen die Zeichen hingegen eher auf Ausbau zu stehen.

Frau Blome bringt alles mit, was für die neue Aufgabe verlangt wird – von der hochkarätigen wissenschaftlichen Qualifikation bis zur reichlichen Ausstellungs-Erfahrung. Ihr Promotionsthema war das Russland-Bild der deutschen Presse zur Zarenzeit Peters des Großen, auch eine Habilitation (Grundsätzliches über Lokalteile) und eine Juniorprofessur kann sie vorweisen.

Netzwerk der Wissenschaft

Das Institut, das sich in der Stadt- und Landesbibliothek befindet, soll künftig enger an die Netzwerke von Wissenschaft und Forschung angebunden werden; nicht zuletzt, um beispielsweise besser Fördermittel beantragen zu können. Es laufen bereits Gespräche mit der Dortmunder TU, wo es einen renommierten Studiengang für Journalistik gibt, der ebenfalls bundesweit seinesgleichen sucht.

Dass Frau Blome überdies ein breiteres Publikum ans Institut heranführen möchte, gehört in derlei Fällen zur üblichen Rhetorik, die nicht nur von Ratsherren gern gehört wird. Es ist ihr aber durchaus zuzutrauen, dass sie an den richtigen Stellschrauben drehen wird.

Die auch didaktisch beschlagene Astrid Blome will nicht nur mehr Studenten ins Institut holen, sondern auch eng mit den anderen Dortmunder Kulturbetrieben (Museen usw.) und den Schulen zusammenarbeiten. Sie ist überzeugt, dass – allen Problemen zum Trotz – keineswegs das Ende der Zeitungen bevorstehe. Gerade der stete Wandel der Zeitungslandschaft verlange nach genauer Beobachtung und Einordnung. Auch Online-Medien dürften dabei verstärkt in den Blick geraten, wenngleich Frau Blome klarstellt, dass man diese bestenfalls ansatzweise speichern und bewahren kann.

Bibliotheksdirektor Borbach-Jaene überreichte Blome als kleine Willkommensgabe eine Kopie des ältesten Dortmunder Blattes („Dortmundische vermischte Zeitungen“) von 1769. Darin heißt es vielsagend, dass eine Zeitung in dieser Stadt eine gar seltene Erscheinung sei.

Es klingt fast wie Prophetie über Jahrhunderte hinweg, kommen hier doch im Grunde nur noch die Ruhrnachrichten heraus, während die seit Anfang 2013 redaktionslose Westfälische Rundschau (WR) lediglich ein Phantomprodukt mit zugelieferten Inhalten ist. Blomes Vorgesetzter, Kulturdezernent Jörg Stüdemann, blätterte denn auch etwas versonnen in einem WR-Sammelband von 1968. Ja, das waren noch ganz andere Zeitungszeiten…




Ein paar atemlose Bemerkungen zum „Brexit“

An diesem Thema kann man einfach nicht achtlos vorüber gehen, nicht einmal als Kulturblog aus dem Revier: Großbritannien verlässt also die Europäische Union. Dazu hier ein paar atemlose Notizen des Augenblicks, der gegenwärtigen, durchaus diffusen Stimmung entsprechend. Man muss der beengten Brust ja auch Luft verschaffen.

In den bisweilen über Gebühr zitierten sozialen Netzwerken ist (neben mancherlei Scherz und Ironie) eine Art Schockzustand zu verzeichnen. Auch mancher wüste Vorschlag („Jetzt den Eurotunnel fluten“) lässt indirekt auf Beklemmung schließen.

Briten-Nostalgie aus dem Nippesregal: traditionelles Londoner Taxi und dito Telefonzelle vor Shakespeare-Büchern. (Foto: Bernd Berke)

Briten-Nostalgie aus dem Nippesregal: traditionelles Londoner Taxi und dito Telefonzelle vor Shakespeare-Büchern. (Foto: Bernd Berke)

Etliche Leute rechnen sich schon preiswerte England-Reisen aus oder bangen um den bisher noch halbwegs günstigen englischen Tee. In Frankfurt spekuliert man, ob man jetzt vollends zum neuen Finanzzentrum des Kontinents wird. Viele hegen halt ihre eigennützigen Erwartungen.

Bei Facebook und Twitter setzen unterdessen die üblichen Mechanismen ein. Es werden alle, aber auch wirklich alle Songs gepostet, die sich irgendwie auf den #Brexit beziehen lassen – von „Should I Stay or Should I Go?“ (The Clash) über „Anarchy in the U.K.“ (Sex Pistols) bis hin zu „Hello Goodbye“ von den Beatles.

Es jagen sich die Eilmeldungen. Pfund und DAX stürzen ab, David Cameron kündigt seinen Rücktritt an. Wer weiß, welche Nachrichten dieser denk- und merkwürdige Tag noch bringen wird. Nur eins interessiert uns nicht: ob Erdogan darob in schadenfrohen Taumel gerät. Soll er doch.

Mal ganz nebenbei. Zufällig habe ich gestern ein wenig nach der Ausstattung von Navigationsgeräten geforscht. Und siehe da: Viele Modelle bieten just 22 vorinstallierte Karten („Mitteleuropa“) – ohne die britischen Inseln. Ein Zeichen, ein Zeichen… Demnach müssten freilich auch die bislang verbliebenen skandinavischen Länder bald austreten.

Von der Fußball-EM ganz zu schweigen. Dort sind noch drei Mannschaften dabei, deren Landstriche vom Brexit unmittelbar betroffen sind: England, Wales und Nordirland. Von Rechts wegen müssten sie doch jetzt freiwillig abreisen, oder? Ehrlich gesagt, hat mich das Privileg schon immer gestört, dass sie derart viele Mannschaften entsenden können (Schottland käme im Qualifikationsfalle noch hinzu). Aber in Wahrheit möchte man sie ja allesamt nicht missen, insbesondere nicht die sangesfreudigen Fans.

Apropos Privilegien. Ich kann mir vorstellen, dass die Briten trotz des Austritts gewisse Vergünstigungen im Warenverkehr mit der EU für sich aushandeln werden. Man wird sehen. Lächerlich erscheinen jedenfalls die Insel-Phantasien, die auf „Rule, Britannia“ hinauslaufen, als könnte nun die alte Herrlichkeit des Weltreiches wieder beginnen. Man möchte (im Londoner Wettbüro?) beinahe auf das Gegenteil setzen.

Für den Brexit haben angeblich vor allem die Älteren und die Bewohner ländlicher Bezirke gestimmt. Es hat schon einen bitteren bis absurden Beigeschmack, dass vor allem sie über die Zukunft enscheiden. Schotten und Nordiren waren hingegen mehrheitlich für den Verbleib in der EU. Gut möglich, dass die Schotten nun noch einmal über die Loslösung von Großbritannien abstimmen werden.

Wenn man aber dann die triumphalen Schlagzeilen in den Extrablättern der britischen Boulevardzeitungen sieht (in Riesenlettern „See EU later“ usw.), zweifelt man am letzten Rest des pragmatischen Verstandes, der doch angeblich die Inselbewohner auszeichnet. Die britische Brüllpresse ist allerdings eh eine Welt für sich.

Ganz schlimm wäre es, wenn dies ein Anfang vom Ende wäre. Fliegt uns jetzt das ganze europäische Projekt um die Ohren? Muss es nicht völlig neu ausgerichtet werden, etwa als Union gegen Sozialdumping?

Oder lassen sich die Völker jetzt wieder gegeneinander in Stellung bringen, wie ehedem in finsteren Zeiten?

Macht euch auf lange Leitartikel gefasst. Und hoffentlich auf beherzte Entscheidungen. Auf Weisheit wagt man ja gar nicht zu hoffen.

Übrigens: Man wüsste doch nur zu gern, wie die Queen über all das denkt. Obwohl es nichts ändert.




Brutaler Vernichtungskrieg: Vor 75 Jahren begann der Feldzug gegen die Sowjetunion

„Kaum ein Krieg war wie dieser. Kaum einer hat so viel Blut gekostet, hatte solche Wirkungen, hat so tiefe Spuren in der Erinnerung der Zeitgenossen hinterlassen …“ So beginnt der Historiker Christian Hartmann sein Buch über den Krieg im Osten zwischen 1941 und 1945. Vor 75 Jahren, am 22. Juni 1941, begann der Überfall auf die Sowjetunion. Vorbereitet unter dem Decknamen „Unternehmen Barbarossa“ setzten sich in der Morgenfrühe 121 deutsche Divisionen in Bewegung.

Ein Standardwerk: Christian Hartmanns 2011 bei C.H.Beck erschienenes Buch "Unternehmen Barbarossa" (© Beck Verlag)

Ein Standardwerk: Christian Hartmanns 2011 bei C.H.Beck erschienenes Buch „Unternehmen Barbarossa“ (© Beck Verlag)

3,3 Millionen Soldaten begannen, auf einer Linie von 2130 Kilometern die Grenze zu überschreiten. 600.000 Kraftwagen, 3350 Panzer, 7300 Geschütze, unterstützt von 2000 Flugzeugen – eine riesige Streitmacht. Um 5.30 Uhr morgens verlas Proagandamininster Joseph Goebbels eine „Proklamation des Führers an das deutsche Volk“. Darin verbreitete er die Lüge, die sich auch nach dem Krieg lange halten sollte: Die Wehrmacht, so hieß es, sei zur „Abwehr der drohenden Gefahr aus dem Osten“ in den „gewaltigen Aufmarsch der feindlichen Kräfte hineingestoßen“.

Die Behauptung, Hitler habe einen präventiven Krieg begonnen, wurde erst vor 20 Jahren wissenschaftlich gänzlich widerlegt. Tatsächlich ging es dem Diktator um einen Vernichtungskrieg. Geboren aus einer politischen Idee, die einst „in der dämmerigen Wahnwelt Münchner Bierspelunken Gestalt angenommen hatte“, wie die „Süddeutsche Zeitung“ schrieb. Hitler hatte wohl auch den Gedanken, den Krieg auszuweiten, um England zum Frieden zu zwingen – den einzigen ernstzunehmenden Gegner, der ihm in Westeuropa geblieben war. Um Englands letzte Hoffnung auf dem Kontinent zu zerschlagen, müsse Russland „erledigt“ werden.

Doch es würde zu kurz greifen, in dem Russlandfeldzug nur eine Reaktion auf die politisch-militärische Lage zu sehen. Intensive Forschungen haben gezeigt: Hitler setzte einen Plan um, den er schon in „Mein Kampf“ skizziert hatte. Ihm ging es um die Vernichtung von Judentum um Bolschewismus, um den „Lebensraum“ im Osten, um die Vertreibung slawischer „Untermenschen“ und um den monströsen Plan, ein großgermanisches Reich zu errichten. Wie radikal und inhuman Hitler diesen Ansatz verfolgte, ist heute aus zahllosen Dokumenten erschließbar.

Wahnidee vom „Lebenraum im Osten“

Begünstigt wurde das „Unternehmen Barbarossa“ durch eine breite Akzeptanz des Kampfs gegen den „jüdischen Bolschewismus“ in der militärischen Führung. Nach dem Ende des „Blitzkriegs“ im Westen war einigen Generälen klar, dass die große Operation im Osten gemäß Hitlers Wahnidee vom „Lebensraum im Osten“ nicht lange auf sich warten lasse. So waren bereits Pläne in Arbeit, als Hitler am 3. Juli 1940 den offiziellen Befehl erteilte, prüfen zu lassen, wie ein militärischer Schlag gegen Russland zu führen sei.

Nicht nur militärisch, auch ideologisch bereiteten Hitler und seine Getreuen den Überfall mit deutscher Gründlichkeit vor. Elf Millionen „Slawen“ wollten sie nach Sibirien abdrängen und dort ihrem Schicksal überlassen – oder gleich „verschrotten“, wie der geplante Massenmord technisch bemäntelt ausgedrückt wurde.

Bei der wirtschaftlichen Ausbeutung der eroberten Gebiete rechneten die deutschen Planer bedenkenlos mit dem Hungertod von Millionen Menschen. Die Ermordung der jüdischen Bevölkerung und der russischen Führungsschicht war von Anfang an vorgesehen. „Die jüdisch-bolschewistische Intelligenz, als bisheriger Unterdrücker, muss beseitigt werden“, hieß es in Hitlers Richtlinien zu Sondergebieten. Die Massenmorde vor allem von SS-Einheiten im Hinterland wurden als „Sonderaufgaben im Auftrag des Führers“ eingeplant. Notwendig, so betonte Hitler wenig später, sei dazu „brutale Gewalt“.

Systematischer Massenmord

Militärisch sah der Plan vor, in nur 22 Wochen in einem „Blitzkrieg“ die Rote Armee handlungsunfähig zu machen und eine Linie zwischen Leningrad und dem Donezbecken zu erreichen. Mit schnellen Kräften sollten Keile in die russische Verteidigungslinie getrieben, die russischen Truppen vom Nachschub abgeschnitten, eingekesselt und aufgerieben werden, während die motorisierten Spitzen des Heeres schon weiter nach Osten vorrücken. Die Erfolge der drei Heeresgruppen und vier Luftflotten waren in der Tat gewaltig. Schon Anfang September war das belagerte Leningrad von Landverbindungen abgeschnitten. Drei verlustreiche Kesselschlachten bei Bialystok, Minsk und Smolensk brachten riesige Raumgewinne.

Ende 1941 waren das Baltikum, Weißrussland und die Ukraine besetzt. In der Ukraine und in den baltischen Ländern wurden die Deutschen anfangs als Befreier bejubelt. Das änderte sich schnell, als die SS, unterstützt von Einheiten der Wehrmacht, mit ihrem Unterdrückungssystem und mit Erschießungen ernst machten. Rund eine halbe Million Menschen, so schätzt man heute, sind den systematischen Morden zum Opfer gefallen.

Schwere moralische Hypothek

Entgegen lange verbreiteten Theorien war die Niederlage der deutschen Militärmacht nicht erst mit Stalingrad, sondern schon mit dem Scheitern des „Blitzkrieges“ im Herbst 1941 besiegelt. Hitler hatte den dringend empfohlenen Angriff auf Moskau – die Kremltürme waren schon in den Ferngläsern der Panzerspitzen zu sehen – gestoppt, um die wirtschaftlich wichtige Ukraine unter Kontrolle zu bringen. Die Moskauer Offensive begann erst im Oktober 1941 und blieb nach Anfangserfolgen im Schlamm und in den eisigen Temperaturen des einbrechenden Winters stecken. Auch die sträflich vernachlässigte deutsche Logistik hielt den Herausforderungen des gewaltigen Raumes nicht stand.

Was Hitler einmal als „Sandkastenspiel“ bezeichnet hatte, endete nach knapp vier Jahren in einer vollständigen Niederlage. Die Bilanz ist grauenerregend: Allein 27 Millionen toter Soldaten und Zivilisten auf russischer Seite, hunderte von Kilometern „verbrannter Erde“, traumatisierte Opfer, zerstörte Familien, Millionen vertriebener und heimatloser Menschen. Für die deutsche Kriegs- und Nachkriegsgeneration ist dieser Krieg eine schwere moralische Hypothek; für die Weltgeschichte war er eine der fundamentalen Entscheidungen und bestimmt in seinen Auswirkungen die politische Landkarte bis heute.




Kreuzbrave Lektüre für EM-Pausen: Das Buch zum Deutschen Fußballmuseum

So. Die EM läuft also. Wie wär’s jetzt für die Pausen mit etwas Lektüre zur Geschichte der Nationalmannschaft – und dann auch noch mit gewissem Regionalbezug?

Kein Problem. Schließlich ist im letzten Jahr in Dortmund das Deutsche Fußballmuseum des DFB eröffnet worden. Und just dazu gibt es ein ziemlich üppiges Begleitbuch zum vergleichsweise günstigen Preis. Natürlich kommt auch die Edition aus dem Revier, nämlich aus dem Essener Klartext-Verlag.

9783837509731

Der gewichtige Band im Katalogformat heißt „Mehr als ein Spiel“ und ist selbstredend durchweg positiv gestimmt. Es geht vor allem um die Nachfeier der vier deutschen Weltmeistertitel (bekanntlich 1954, 1974, 1990, 2014). Es gibt weder Kritik am Nationalteam noch etwa an Finanzierung oder Architektur des Fußballmuseums und erst recht nicht am Gebaren des DFB, sondern Lob und Preis bis hin zur Devotionalien-Verehrung („Götzes goldener Schuh“ und dergleichen).

Gelegentliche Leistungstiefs von „La Mannschaft“ werden nicht verschwiegen, sie wirken aber in diesem Kontext nur wie bedauerliche Ausrutscher in der insgesamt triumphalen Historie. Das wesentliche „Narrativ“ (um das Modewort zu verwenden) dieses Buches läuft eben eher auf Girlanden, Gloriolen und Heldentaten hinaus. Freilich: Zwischenzeitliche tragische Momente passen hinein, sie verleihen ja den Siegen zusätzliche Tiefenschärfe.

Den in den letzten Jahren vielfach erfreulich verfeinerten und oft wunderbar ironisierten Fußballdiskurs (besonders gepflegt von der Zeitschrift „11 Freunde“, von Arnd Zeigler etc.) wird man vielleicht hie und da vermissen, aber derlei geistreiches Funkeln gehört wohl auch nicht in ein solch offizielles Buch und hat anderweitig Platz.

Immerhin ergeben die Textbeiträge und die Fotoauswahl ein doch recht großflächiges Gesamtbild, das deutlich über das Nationalteam hinaus reicht und z. B. auch die Entwicklung der Bundesliga, des Vereinsfußballs oder der Fankultur in den Blick nimmt. Weitere (kurze) Kapitel handeln beispielsweise von Frauenfußball, dem Fußball in der einstigen DDR, von Fußball und Kultur oder gar von der Basis des Sports, hier in Gestalt der C-Junioren des Essener Clubs Fortuna Bredeney. Pflichtgemäße Gespräche mit den deutschen Kickergrößen Uwe Seeler, Franz Beckenbauer, Lothar Matthäus und Philipp Lahm kommen sozusagen erschwerend hinzu.

So weit, so kreuzbrav und verbandsfromm. Aber wer will denn auch nachträglich mit errungenen Titeln hadern? Da meckert man doch (als einer von zig Millionen Bundestrainern) lieber zum Exempel ganz aktuell über die „unmögliche“ Aufstellung, die Jogi Löw jetzt gegen die Ukraine…

Manuel Neukirchner (Hrsg.): „Mehr als ein Spiel. Das Buch zum Deutschen Fußballmuseum“. Klartext-Verlag, Essen. 258 Seiten. 19,95 Euro.




90 Jahre „Kampfbahn Rote Erde“: Wenn Gerd Kolbe erzählt, wird die Geschichte lebendig

Eigentlich war das damals alles saugefährlich. Die Dortmunder „Kampfbahn Rote Erde“ war für 35000 Besucher ausgelegt, manchmal aber kamen 45000 oder gar 50000 und fanden notdürftig „Platz“, auch im Geäst der Bäume ringsum. Was da alles hätte passieren können!

Das Marathontor der 1926 eröffneten "Kampfbahn Rote Erde". (Foto: Bernd Berke)

Das Marathontor der 1926 eröffneten „Kampfbahn Rote Erde“. (Foto: Bernd Berke)

Nun, falls tatsächlich etwas Schlimmes geschehen sein sollte, so hat sich die damalige Presse offenbar nicht weiter darüber aufgeregt und es ist allenfalls mündlich in kleineren Zirkeln überliefert worden.

„Wellenbrecher“ erst in den 60ern

Erst in den 60er Jahren, als der BVB (frühe Meisterschaften anno 1956, 1957 und 1963 – es kamen später bekanntlich noch einige hinzu) hier auch im Europapokal spielte, wurden zwischen den Stehplätzen erstmals „Wellenbrecher“ installiert, die das wahnwitzige Gedrängel kanalisieren sollten. Heute würde kein Mensch mehr solch ein Stadion für Spitzenfußball genehmigen. Doch ehedem war es ein Stolz der Stadt und es bleibt ein längst denkmalgeschütztes Juwel.

Warum wir darauf kommen? Die Kampfbahn Rote Erde, bis 1974 auch das BVB-Stadion, ist soeben (am 6. Juni) 90 Jahre alt geworden – und das ist wirklich mal einen Rückblick wert; besonders, wenn er so kundig und unterhaltsam gerät wie jener des früheren Stadtpressesprechers Gerd Kolbe (71), der jetzt zum Jubiläum eine mit „Dönekes“ gespickte Stadionführung übernahm.

Einer der besten BVB-Kenner

Ein Kreis von rund 50 Interessenten hat Kolbe gebannt gelauscht. Die meisten hatten die Kampfbahn noch aus alten Zeiten in bester Erinnerung. Auch ich habe dort schon als Kind auf den Rängen gestanden. An dieser Stelle könnt ihr euch bitte einen wehmütigen Seufzer denken.

Gerd Kolbe bei seiner Stadionführung (Foto: Bernd Berke)

Gerd Kolbe bei seiner Stadionführung (Foto: Bernd Berke)

Was hier zu lesen steht, geht weit überwiegend auf Gerd Kolbes Vortrag zurück. Und wahrlich: Er dürfte einer der besten BVB-Kenner auf dem Erdenrund sein, darüber hinaus weiß er auch generell in der Sportgeschichte und in der politischen Historie Bescheid. Wohl mindestens bundesweit einmalig: Von 1976 bis 1981 war er sogar Stadtsprecher und BVB-Pressesprecher in Personalunion. 2006 fungierte er als Organisator des Dortmunder Parts der Fußball-WM.

Impulse vom Stadtplaner Hans Strobel

Nun aber schnell zurück zum Stadionbau. Impulse und Entwürfe stammten vom ebenso autoritären wie visionären Architekten und Stadtplaner Hans Strobel (1881-1953), nach dem heute die Strobelallee am Stadion benannt ist. Sein Studienort München hätte den Mann gerne behalten, doch er kam – auf Umwegen über Bremen und Leipzig – im Oktober 1914 nach Dortmund. Rund zehn Jahre später gab er die Anstöße zum Bau der „Roten Erde“ und der (alten) Westfalenhalle, die im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde. Der Nachfolgebau wurde 1952 eröffnet.

Die 1920er Jahre waren eine Zeit, in der die Realisierung von Großprojekten mitunter rasend schnell vonstatten ging. Kaum zu fassen: Vom Ratsbeschluss bis zur endgültigen Fertigstellung (!) dauerte es bei der Westfalenhalle gerade mal von März bis November 1925.

Syburger Ruhrsandstein bevorzugt

Die anfängliche Idee, das Stadion in den 1918 eingemeindeten Vororten Brackel oder Wambel zu errichten, wurde rasch verworfen. Strobel wollte in der Nähe des historischen Steinernen Turms bauen lassen. Und so kam es dann auch.

Beim Stadionbau, dessen Umsetzung nur unwesentlich länger dauerte als bei der Halle, wurden zahlreiche Arbeitslose eingesetzt. Ungeheure Erdmassen mussten zur Begradigung des Geländes bewegt werden, ganz zu schweigen von abertausend Tonnen Ruhrsandstein, die mit Pferdefuhrwerken aus der Gegend um die Hohensyburg herbeigeschafft wurden, welche damals weit vor den Toren Dortmunds lag. Ruhrsandstein prägt übrigens auch die mächtigen Bauten des Dortmunder Hauptfriedhofs, der ebenfalls von Hans Strobel geplant wurde.

Mieses Wetter zur ersten Eröffnung

Am 6.6.1926 wurde der elegant, aber stellenweise auch trutzig wirkende Stadionbau eröffnet. Es kamen allerdings nur rund 8000 Leute, weil das Wetter so mies war. Pech für die bürgerlichen Vereine, die sich mit den Arbeitervereinen auf keine gemeinsame Eröffnung einigen mochten und zuerst an der Reihe waren.

Eine Woche später brachten – bei ungleich besserer Witterung – die proletarischen Sportler 30000 Menschen zur Zweiteröffnung auf die Beine. Ein Höhepunkt der Großveranstaltung war jenes anspruchsvoll choreographierte Schachspiel mit verkleideten Menschen als lebenden Figuren. Mag sein, dass es das meistbesuchte Schachspiel aller Zeiten gewesen ist. Der revolutionäre Ausgang stand jedenfalls fest: Am Ende musste ein Bauer (stellvertretend für die Arbeiter) den König besiegen…

Heutiger Tribünenblick in der "Roten Erde" (Foto: Bernd Berke)

Heutiger Tribünenblick in der „Roten Erde“ (Foto: Bernd Berke)

Nachzutragen bliebe noch eine Anekdote der bürgerlichen Eröffnung, die Gerd Kolbe geradezu genüsslich vorträgt: Eine Dortmunder Stadtauswahl kickte gegen Wacker München und verlor haushoch mit 1:11. Das Ergebnis hätte freilich noch übler ausfallen können, hätte nicht der Münchner Rechtsaußen Karl(chen) Reiter seinen Aktionsradius auf etwa 10 Meter beschränkt. Er ließ sich auch durch seine Mitspieler nicht bewegen, selbigen zu erweitern.

Warum sich der Rechtsaußen kaum rührte

Schlimmer noch: Nach dem Seitenwechsel wollte Richter auf ähnlich Weise Linksaußen sein, also auf derselben Platzseite nahezu regungslos verharren. Des Rätsels Lösung: Er hatte sich in eine Frau aus Dortmund-Dorstfeld verliebt und wollte ihrem Tribünensitz möglichst nahe bleiben. Er ist denn auch der Liebe wegen in Dortmund geblieben. So holt man Spieler aus München hierher!

Ein eigenes Kapitel verdienen die Begegnungen mit Schalke 04 in der „Roten Erde“. In den 30er und 40er Jahren kassierte der BVB regelmäßig „Packungen“, wobei etwa das 0:7 aus der ersten Partie vom 7.3.1937 noch vergleichsweise glimpflich war.

Anfangs mit den Schalkern befreundet

Wie Gerd Kolbe zu berichten weiß, schauten die Dortmunder damals in aller Freundschaft und sehnsüchtig bewundernd zu den damaligen Schalker Serienmeistern auf. Den Titel des Jahres 1934 feierten die Schalker – aus Berlin kommend – sogar zuerst mit einem Corso in Dortmund, bevor sie nach Gelsenkirchen weiter reisten. So etwas ist seit vielen Jahrzehnten nicht mehr vorstellbar.

Impression vom Eingangsbereich des Stadions (Foto: Bernd Berke)

Ruhrsandstein: Impression vom Eingangsbereich des Stadions (Foto: Bernd Berke)

Am 14. November 1943 errang Borussia Dortmund mit 1:0 den allerersten Erfolg gegen Schalke. Es war nur drei Tage nach einem verheerenden Bombenangriff auf die Stadt. Trotzdem oder gerade deswegen war das Stadion voll. Die Menschen wollten einfach mal etwas anderes erleben als den Weltkriegsalltag.

Nur zwei Länderspiele

Die Rivalität oder später teilweise gar Feindschaft zwischen den beiden Revier-Vereinen sei just ab 1943 gewachsen, so Kolbe. Und seit dem Zweiten Weltkrieg hatten, man weiß es, zumeist die Dortmunder sportlich die Oberhand.

Der BVB ist also gebührend erwähnt worden. Doch die Kampfbahn Rote Erde (sprachliche Herkunft wahrscheinlich nicht farblich, sondern von „gerodeter“ Erde) war keineswegs allein die Domäne der Borussen und nicht einmal des Fußballs überhaupt. Es gab in der „Roten Erde“ auch nur mickrige zwei Länderspiele: 1935 gegen Irland und 1967 gegen Albanien.

Radrennen und legendäre Boxkämpfe

Dafür dominierten oft andere Sportarten. Hier fanden große Radrennen ebenso statt wie 1955 eine WM im Feldhandball. Nicht zu vergessen die spektakulären Boxkämpfe, beispielsweise am 20. Juli 1952 der Triumph des amtierenden Dortmunder Schwergewichts-Europameisters Heinz Neuhaus gegen den Hamburger Hünen Hein ten Hoff vor 50000 Zuschauern – durch K.o. in der ersten Runde.

Auch dabei soll, Gerd Kolbe zufolge, die Liebe buchstäblich den Ausschlag gegeben haben, denn der Hamburger hatte die Angewohnheit, zum jeweiligen Pausengong seine Gefährtin huldvoll aus dem Ring herab zu grüßen. Dies kriegten Neuhaus und seine Betreuer spitz – und Neuhaus setzte seine gefürchtete Rechte gezielt in dem Moment ein, als Hein ten Hoff mit den Gedanken schon wieder bei seiner Liebsten war…

Gigantisch: Heute überragt die Tribüne des Westfalenstadions (vulgo Signal-Iduna-Park) jene der Kampfbahn Rote Erde bei weitem. (Foto: Bernd Berke)

Gigantisch: Heute überragt die Tribüne des Westfalenstadions (vulgo Signal-Iduna-Park) jene der Kampfbahn Rote Erde bei weitem. (Foto: Bernd Berke)

1927 ging rund ums Stadion der Deutsche Katholikentag über die Bühne – allen voran mit dem päpstlichen Nuntius Eugenio Pacelli, der später (1939 bis 1958) ein politisch nicht unumstrittener Papst wurde. Und leider hatte auch Adolf Hitler in der Arena seinen Auftritt, als er SA-Paraden abnahm. Gerd Kolbe: „Ein Stadion kann sich nicht wehren.“ Stimmt sicherlich. Aber man darf ergänzen: Menschen hätten es vielleicht gekonnt.

Heute Regionalliga und Leichtathletik

Zur Fußball-WM 1974 wurde das zunächst als Zwillingsbau geplante Westfalenstadion direkt neben die Kampfbahn Rote Erde gesetzt, zunächst noch auf gleicher Traufhöhe, aber sehr viel moderner. Heute überragt der Gigant die „Rote Erde“ bei weitem und ist Deutschlands größte Fußballarena. Im alten Stadion tritt derweil die zweite Mannschaft des BVB in der Regionalliga West an, ansonsten regiert dort die Leichtathletik.

Aber jetzt haben wir noch gar nicht (nach)erzählt, warum der famose US-Leichtathlet Jesse Owens 1937 n i c h t in der Kampfbahn Rote Erde gelaufen und gesprungen ist. Und auch nicht, wie das zuging, als ein Polizeihund den Schalker Friedel Rausch am 6. September 1969 in der Kampfbahn in den Hintern biss, was noch heute ein Grinsen auf die Gesichter vieler BVB-Anhänger zaubert. Naja, dazu vielleicht ein andermal.