„Dortmunder U“ im Disco-Rausch: Ausstellung feiert den legendären Club „Studio 54″

Rose Hartman (American, born 1937): Zu Pferde zelebriert Bianca Jagger am 2. Mai 1977 ihren 27. Geburtstag im Studio 54. Auf dieser Aufnahme nicht zu sehen: Ein nackter Mann hielt die Zügel. (Black and white photograph. Courtesy of the artist. © Rose Hartman)

Hört sich doll an: Premiere hatte die Schau in New York, in Toronto fiel sie wegen Corona aus, jetzt ist sie in Dortmund zu sehen – und sonst nirgendwo. Es geht um die legendäre Clubdisco „Studio 54″, deren verbliebene Essenzen nun im „Dortmunder U“ wiederbelebt werden sollen.

Die seinerzeit weltberühmte Kult-Disco an der 54. Straße in Manhattan gab es nur 33 Monate lang, zur Eröffnung im April 1977 kamen Celebrities wie Frank Sinatra, Cher oder auch Donald Trump. Bis zur Schließung im Februar 1980 wogten dort schräge, schrille und rauschhafte Partys mit Stars und Sternchen sonder Zahl. Zu nennen wären beispielsweise Glamour-Gestalten wie Mick und Bianca Jagger, Andy Warhol, Liz Taylor, Michael Jackson, Grace Jones oder Liza Minnelli.

Ausstellungsansicht mit Mode-Beispielen: „Studio54: Night Magic“ (Foto: Roland Baege)

Schrille Mode zur Selbstinszenierung

Stop! Wir müssten nahezu die gesamte damalige Prominenz nennen. In der Ausstellung geben 14 Seiten maschinenschriftliche Gästelisten der Eröffnungs-Nacht eine ungefähre Vorstellung. Sinnlich weitaus eindrucksvoller sind die glitzernden, schillernden Modebeispiele, die damals der Selbstinszenierung auf die Sprünge halfen. Viele Originale aus privaten Kleiderschränken finden sich da, aber auch getreulich Nachgeschneidertes und Entwurfsskizzen. Angesichts etlicher Fotografien oder typischer Relikte und Reliquien (z. B. von Andy Warhol himself gestaltete Eintrittskarten) mag man gleichfalls schwelgen. Es geht ums (Nach)-Erleben, nicht so sehr um eine kritische Würdigung, die eh reichlich verspätet käme. Allerdings darf nicht verschwiegen werden, dass der Club 1980 wegen Steuervergehen schließen musste und die Betreiber in den Knast kamen.

Christian Piper (German, born 1941) for Fiorucci (Italian, founded 1967): Poster zur Eröffnungs-Nacht im Studio 54, 1977. (Printed color poster. Courtesy of The Estate of Antonio Lopez and Juan Ramos)

Die vom renommierten Brooklyn Museum reich bestückte, von Matthew Yokobosky kundig kuratierte Ausstellung ist natürlich keine gewöhnliche Vitrinenschau, sondern setzt einiges in Gang, um die Atmosphäre jener frühen, wilden Disco-Zeiten aufleben zu lassen – beispielsweise mit zahlreichen Lichteffekten, mit den tanzbaren Hits jener Jahre, Bühnenbildern oder einem Rundum-Erlebnis im „360-Grad-Fulldome“. Besucherinnen und Besucher sollen Tanzlust verspüren und sodann – wenn irgend möglich – in die örtliche Clubszene ausschwärmen, die sich gerade wieder aufzurappeln beginnt.

„Unglaublich divers“ muss es sein

Das „Studio 54″ bestand zwar nur recht kurz, hatte aber weit reichende Lifestyle-Auswirkungen, es stand und steht also für ein gehöriges, in gewissen Kreisen global wirksames Stück Kulturgeschichte. Damals war’s nicht leicht, an den Türstehern vorbeizukommen, für die Dortmunder Disco-Schau braucht’s nur eine (nicht ganz billige) Eintrittskarte – und schon geht es rein ins kuratierte Vergnügen, das als „Night Magic“ umschrieben wird.

Ron Galella (American, born 1931): New York City, Studio 54, „Grease“-Premieren-Party, Andy Warhol und Grace Jones, 1978. (Courtesy of the artist. © Ron Galella)

Jede nachfolgende Zeit liest aus Phänomenen wie dem „Studio 54″ ihre eigenen Schwerpunkte heraus. Die deutsche Ko-Kuratorin Christina Danick, die gemeinsam mit Yokobosky und Stefan Heitkemper (Leiter des „U“) die über 450 Exponate aufs Dortmunder Format gebracht hat, schwärmt mit einer gängigen Formel unserer Tage davon: „unglaublich divers“ sei diese Ausstellung. Alle Leute könnten ihr etwas entnehmen, die Älteren sich in ihre Disco-Jahre zurückversetzen, die Jüngeren mit eigenen Club-Erfahrungen vergleichen. Mode- und Popmusikfans würden ebenso angeregt wie Liebhaber künstlerischer Fotografie. Nicht auf einzelne Stücke komme es hierbei an, sondern auf die Gesamtheit der Atmosphäre. Yokobosky spricht schlichtweg von „Mood“. Und diese Stimmung sollte eben jede(r) selbst erfahren.

„Hedonistisches Paradies“

Tatsächlich war das „Studio 54″ Katalysator und Ausdruck einer damals zeittypischen Befreiung – mit Langzeitwirkung. Normen und Zwänge waren weitgehend aufgehoben: Wenn Leute irgendwie zu den Schönen, Schrillen und Reichen gehörten oder zu ihnen passten, spielten Herkunft, Hautfarbe oder sexuelle Orientierung im Club keine Rolle. Nicht zuletzt die Schwulenkultur, seinerzeit noch längst nicht so ausgeprägt wie heute, erhielt hier neue Impulse.

Auf den ersten Blick könnte man meinen, Dortmund setze mit dieser Schau (oder besser: Show) mal wieder alles auf eine populäre Karte – wie 2018/19 mit der in Sachen Besucherandrang und Einnahmen denn doch enttäuschenden „Pink Floyd“-Ausstellung. Doch Kulturdezernent Jörg Stüdemann (er nennt das Studio 54 ein „hedonistisches Paradies“) dämpft allzu hochfliegende Erwartungen. 10.000 Besucher(innen) wären in Ordnung, alles darüber hinaus erfreulich. Allerdings wisse man noch nicht, ob Corona mit der Delta-Mutante einen Strich durch die ganze Rechnung machen werde.

Zusätzlich zur Schau im „U“ werden einige Dortmunder Clubs vom Hartware MedienKunstVerein (HMKV) mit medienkünstlerischen Aktionen bespielt. Unter dem Titel „hello again“ steuert der HMKV auf seiner 2. Ebene im „U“ überdies Impressionen zur lokalen Clubszene bei. Zum umfangreichen Begleitprogramm gehören ferner Cocktail-Mixabende oder DJ-Workshops.

Guy Marineau (French, born 1947): Pat Cleveland on the dance floor during Halston’s disco bash at Studio 54, 1977. (Photo: Guy Marineau / WWD / Shutterstock)

Eine Bühne für den nächtlichen Exzess

Befragt, warum gerade das nicht gar so glamouröse Dortmund die Ausstellung ausrichte, sagt Matthew Yokobosky, die allermeisten Museen wollten sich nicht auf eine solche mutimediale Darbietung einlassen, die der reinen Kunst-Lehre kaum entspreche. Das Dortmunder U sei eine rühmliche Ausnahme. Yokobosky will ja auch keinen Tingeltangel anrichten, sondern eine Synthese aus musealer Würde („dignity“) und aufregenden („exciting“) Elementen. Großen Wert legt er auf zeit- und kulturgeschichtliche Authentizität.

Zwei Jahre haben allein Yokoboskys Recherchen und rund 100 Interviews mit Zeitzeugen gedauert, dabei habe er allmählich herausbekommen, wo die (nunmehr 85) Leihgeber zu finden waren. Der erfahrene Museumsmann erinnert daran, dass das „Studio 54″ in einem vormaligen Opernhaus eingerichtet wurde. Die Menschen tanzten auf der Bühne, in jeder Nacht konnte eine andere Szenerie zur Selbstdarstellung entstehen. Der exzessiven Phantasie waren in diesem Fegefeuer der Eitelkeiten kaum Grenzen gesetzt. Der Ausstellung zum Trotz: Diese Zeiten kommen nicht wieder. Es kommen andere.

„Studio 54: Night Magic“. 26. Juni bis 17. Oktober 2021 im „Dortmunder U“, Leonie-Reygers-Terrasse, 44137 Dortmund. Geöffnet Di, Mi, Sa, So 11-18, Do/fr 11-20 Uhr. Montags geschlossen. Normalticket 18,90 €, ermäßigtes Feierabendticket 11,90 €.

www.studio54.dortmunder-u.de

 




Wenn Querulanten querulieren – aufschlussreiches Buch über einen altbekannten Sozialtypus

Querulanten? Kennen wir doch alle. Und wir wissen ziemlich genau, was wir davon zu halten haben. Wirklich?

Eine virtuelle Buchpräsentation im Kulturwissenschaftlichen Institut (KWI) in Essen hat nun auch manche Leute aus der Fachwelt eines Genaueren belehrt. Privatdozent Dr. Rupert Gaderer, Akademischer Oberrat am Germanistischen Institut der Bochumer Ruhr-Universität, hat sich über Jahre hinweg mit dem Themenkreis befasst. Nun liegt das Resultat als Buch vor: „Querulieren. Kulturtechniken, Medien und Literatur 1700-2000″. Gaderer stellte es im Dialog mit der Münchner Literaturwissenschaftlerin Prof. Juliane Prade-Weiss vor.

Der Begriff „Querulant“ in seiner heute noch gängigen Bedeutung hat sich Gaderer zufolge erst allmählich herausgebildet, als im Laufe des 18. Jahrhunderts das Rechtssystem für Beschwerden geöffnet wurde („Zugang zum Recht“). Die Figur des Querulanten wäre demnach kaum denkbar ohne die preußische Bürokratie, die sie recht eigentlich hervorgebracht hat.

Um „den“ Querulanten nicht von vornherein als starre Figur abzustempeln (wie dies im Laufe der Geschichte oftmals geschehen ist), hat Rupert Gaderer lieber das Verb „querulieren“ in den Buchtitel gestellt, das die Handlung sozusagen verflüssigt und nicht vorschnell verfestigt.

Bis hin zum „Rechts-Exzess“

„Querulant“ wurde im 18. Jahrhundert in der allgemeinen Bedeutung „Zänker“ oder „Streitsüchtiger“ verwendet, bezog sich um das Jahr 1800 aber zusehends auf den Rahmen des Rechtssystems. Wie es im Leben so geht: Einige Leute nutzten das Instrument der juristischen Beschwerde sehr ausgiebig. In preußischen Gesetzesbüchern wurden folglich alsbald jene erwähnt, die mutwillig immer und immer wieder Klage erhoben, was sich zuweilen als Störfaktor im System (sozusagen als „Sand im Getriebe“) erwiesen hat.

Die mutwilligen Kläger drohten Kapazitäten der Justiz zu „verstopfen“. Hatte man einmal das Rechtssystem geöffnet, konnte man es allerdings schwerlich wieder gänzlich schließen und abschotten. Misstrauisch beäugte und belauschte der Beamtenapparat jedoch besonders auffällige „Querulanten“ und setzte von oben herab Grenzmarken, nach denen es gleichsam „des Guten zu viel“ sei. Die Folge waren Repressalien bis hin zu Haftstrafen für „unverbesserliche“ Klageführer. Fortan kam auch die Schmährede vom „Rechts-Exzess“ auf.

Fast immer nur Männer

Querulanten waren traditionell fast immer männliche Wesen, also können wir uns auch die krampfhafte Schreibweise Querulant*innen schenken. Frauen galten in früheren Zeiten – mit Ausläufern bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts – kaum als klagefähig. Diese Möglichkeit, sich Recht zu verschaffen, wurde ihnen schlichtweg nicht zugestanden. Autor Gaderer nennt als äußerst rares Gegenbeispiel die Frau eines Müllers, dem die Wasserzufuhr zum Mühlrad abgesperrt worden war. Grob gesagt: Während Männer in gewissen Grenzen munter querulieren durften, wurden klagewillige Frauen schnell als „hysterisch“ verunglimpft.

Rupert Gaderer hat die Spuren des Querulierens freilich nicht nur in juristischer Hinsicht verfolgt, sondern auch in der Psychiatrie und der Literatur zahlreiche wertvolle Hinweise vorgefunden. Das Phänomen lasse sich überhaupt nur erfassen, wenn man interdisziplinär vorgehe. Als literarische Beispiele seien nur genannt: Heinrich von Kleists berühmte Novelle „Michael Kohlhaas“ (1810) und Hermann Bahrs „Der Querulant“ (1914), eine Kömödie in vier Akten.

„Krankhaftes Phänomen“

Mit dem Aufkommen der Psychoanalyse setzte auch eine verschärfte Neubewertung des Querulierens ein. Auf breiter Front setzte sich die Tendenz durch, das Querulantentum zu pathologisieren, es als krankhaftes Phänomen zu behandeln. Dazu entstanden beispielsweise Fotoreihen, die typische Querulanten anhand ihrer Physiognomie dingfest machen sollten. Auch wurden Handschriften daraufhin untersucht, ob sich in ihnen Hinweise auf notorisches Querulieren fänden. Die Klagesucht galt manchen Vertretern des Fachs gar als erblich.

Hochinteressant auch der internationale Vergleich. Das Querulantentum in seiner reinsten Form war innig mit dem preußischen und sodann deutschen Rechtssystem verwoben. Zwar bildeten sich z. B. auch in Österreich („Nörgler“) und Italien ähnliche Sozialtypen heraus, doch in England (und später in den USA) mit ihren ganz anders gearteten Rechtssystemen nahm auch die Literatur eine andere Richtung.

Ein Gruß von Karl Kraus

Wohl nur in Preußen konnte Heinrich von Kleists „Michael Kohlhaas“ entstehen, der wegen einer relativen Geringfügigkeit Klage erhebt und hernach mordend und brandschatzend durch die Lande zieht. Englische Übersetzer täten sich, wie es in der Diskussion zur Buchvorstellung hieß, seit jeher schwer mit Kohlhaas-Übertragungen. Die Literatur auf der Insel ergehe sich zumeist in Satiren aufs Rechts- und Bürokratie-System, das Kohlhaas-Syndrom sei den britischen Autoren hingegen fremd.

Dass man die ganze Angelegenheit trotz aller Ernsthaftigkeit auch (selbst)ironisch auffassen kann, bewies übrigens just der allzeit streitbare Karl Kraus. Er unterzeichnete Briefe gelegentlich mit dem Gruß „Ihr Querulant“.

Rupert Gaderer: „Querulieren. Kulturtechniken, Medien und Literatur 1700-2000″. Verlag J. B. Metzler (Reihe „Media. Literaturwissenschaftliche Forschung), 368 Seiten, 59,99 Euro.




Nach und nach kehrt die Kultur zurück – mit neuer Lust und neuen Formen

Eines von vielen Ausstellungshäusern der Region, die jetzt wieder öffnen dürfen: das Gustav-Lübcke-Museum in Hamm, das wahrscheinlich ab 25. Mai wieder besucht werden kann. („Symbolbild“ / Aufnahme vom Juni 2020: Bernd Berke)

Es ist nicht mehr zu übersehen und zu überlesen: Jetzt und in den nächsten Tagen werden etliche, wenn nicht die meisten Museen wieder öffnen, werden Theater wieder erste (Freiluft)-Veranstaltungen anbieten, die nicht nur auf digitalen Wegen goutiert werden. Wir können das hier nicht einzeln nachhalten, jede(r) informiere sich bei den Kulturstätten, Kulturschaffenden und Festivals der Wahl.

Das Ganze ist kein „Pfingstwunder“, sondern hat eben mit stetig gesunkenen Corona-Ansteckungsraten zu tun. Man kann nur inständig hoffen, dass die daraus folgenden Lockerungen den Trend nicht wieder umkehren. Man kann nur hoffen? Nein, man kann sich auch weiterhin dementsprechend vorsichtig verhalten. Die allermeisten Kulturanbieter haben mit ausgefeilten Hygiene-Konzepten das Ihre getan. Ein Wiederbeginn ist ihnen und uns allen ebenso zu wünschen wie etwa dem Handel und der Gastronomie.

Experimente willkommen

Was sich schon seit einiger Zeit abzeichnet: Auch nach einem Abflauen der Pandemie (nach der das Virus mutmaßlich endemisch bleiben wird, wie wir es von der Grippe kennen; es sei denn, es entwickelten sich noch gefährlichere Mutanten oder andere Pandemien) – nach dem erhofften Abflauen also werden digitale Formen kultureller Präsentation ihren gesteigerten Stellenwert behalten.

Neuartige Mischformen – etwa aus Theater, Streaming, Film und anderen Künsten – sind im Entstehen begriffen. Um die Binsenweisheit anzufügen: Sie werden das leibhaftige Erlebnis keineswegs ersetzen, wohl aber sinnvoll ergänzen. Schon haben sich hie und da neue Gestaltungsweisen entwickelt, zunächst holprig, aus Not und Zwängen geboren, nunmehr mit einiger Kreativität vorangetrieben. Pauschales Lob gebührt allen, die an derlei Experimenten mit Herz und Seele beteiligt sind. Gewiss werden manche Ansätze auf Dauer scheitern, aber eigentlich ist fast jeder Versuch erst einmal zu begrüßen.

Die Finanzen nicht antasten

Nach deutlich über einem Jahr des wohlbegründeten Verzichts liegt es beinahe jenseits der Vorstellungskraft, sich imaginär in ein halb- oder gar vollbesetztes Theater, Konzerthaus oder Kino zu versetzen. Aber wenn alles gut geht, werden die alten Freiheiten nach und nach wiederkehren. Vor allem anfangs wird es wohl zu einem wahren „Run“ auf Kulturveranstaltungen kommen, die Tickets werden ein sehr knappes Gut sein. Da wird sich zeigen, wie sehr viele Menschen danach gedürstet haben – nicht so sehr nach schicken „Events“, sondern nach herrlich freiem Spiel und womöglich nach lang entbehrter Sinngebung. Und was schließen wir daraus? Dass niemand Hand an FInanzmittel für Kultur legen sollte. Auch darauf müssen wir im Vorfeld der September-Wahlen achten: Wo gelten kulturelle Belange etwas – und wo pfeift man darauf?




Südwärts ins Klischee der 70er Jahre – Klaus Modicks Roman „Fahrtwind“

Da stößt jemand beim Sortieren seiner Bücher auf eine Lektüre, die ihn in den 1970er Jahren beeindruckt hat. Beim zerfledderten Büchlein, in dem er seinerzeit die besten Stellen mit Zigaretten-Blättchen markiert hat, handelt es sich um „Aus dem Leben eines Taugenichts“, jene berühmte Novelle des Joseph von Eichendorff aus den frühen 1820er Jahren.

Besagter Jemand erinnert sich, dass er sich damals angesprochen gefühlt hat vom Eichendorffschen dolce far niente, von herrlicher Nichtsnutzigkeit also, die auch ihm damals als Lebensmodell vorgeschwebt hat – weitaus mehr jedenfalls als die trübe Aussicht, die Klempnerfirma seines Vaters mit dem Attribut „& Sohn“ fortzuführen. Also machte er sich auf den Weg, um das süße Nichtstun zu erproben, per Anhalter (ja, das gab’s noch) ging’s südwärts.

Trampen mit Gitarre

Damit beginnen ein paar pikareske Abenteuerchen in den Freiheit verheißenden frühen Siebzigern. Der junge Ich-Erzähler, der wohl dies und jenes mit dem 1951 geborenen Autor Klaus Modick gemein haben dürfte, packt also vor allem seine Gitarre ein, trampt los und überlässt sich den Zufällen. Dabei zieht ihn allemal das Ewigweibliche hinan – oder gelegentlich auch herab.

Doch, ach, es ist nicht der junge Mann von damals, der hier frischweg berichtet, sondern ein spür- und lesbar gereifter Herr, dessen Sichtweisen mitunter etwas altväterlich anmuten. Wenn er auf Seite 17 einen schwulen „Handelsvertreter für Herrenkosmetik“ beschreibt, der ihn beim Autostopp mitnimmt und sein Knie statt der Gangschaltung tätschelt, klingt es eher nach Stammtisch der 70er, als nach Jugendaufbruch jener Zeit.

Spinatwachtel, aus dem Leim gegangen

Auf Seite 19 merken Lesende womöglich schon wieder leicht irritiert auf. Denn auch der Blick auf gewisse ältere Damen ist nicht nur ungalant, sondern so gar nicht von männlichen Selbstzweifeln angekränkelt. Zitat: „Die andere hätte ihre Mutter sein können, war im Gesicht noch einigermaßen knitterfrei oder jedenfalls knitterfrei geschminkt, in den Hüften allerdings stark aus dem Leim gegangen.“ Derlei Perspektiven und Formulierungen schmälern tatsächlich das Lesevergnügen, das sich denn auch nur streckenweise einstellt.

Der Erzähler wird also im todschicken Mercedes-Roadster aufgegabelt von einer Schönen und deren Mutter, die ihn in ein unsägliches Hippiekitsch-Kostüm zwängt und gegen Honorar für Greise in einem Luxushotel bei Wien aufspielen lässt. (Anmerkung: Greise von damals haben höchstwahrscheinlich andere Musik hören wollen). Der Erzähler bildet sich jedenfalls ein, dass die schöne Tochter nach ihm schmachtet. Doch statt dessen ist die Mutter – als „mannstolle Matrone“ und „Spinatwachtel“ tituliert – hinter ihm her. Wie unangenehm. Schon allein sprachlich. Als die schöne Tochter hingegen den Erzähler verschmäht, ist seines Bleibens nicht länger. Der wahre Süden liegt ja auch nicht bei Wien, sondern – wie immer schon seit Goethe – in Italien.

Joints und Pop und Peace

Es werden im weiteren Verlauf jede Menge Joints gedreht und geraucht, zwischendurch sind auch schon mal Psychopilze („Narrische Schwammerln“) an der Reihe. Via Namedropping kommen etliche Popsongs von damals ins Spiel – und leider auch ein paar deutsche Texte, die der Gitarrero selbst gedrechselt hat. Ansonsten halt pastos aufgetragene 70er Jahre, zuweilen arg klischeebehaftet. Was klebt auf einem VW-Bus? Der Schriftzug „Make Love not War“ natürlich, samt Pril-Blumen, Peace-Zeichen und provokanter Zunge à la Rolling Stones. Und manches mehr. Danke. Das genügt.

Auch das Thema Homosexualität wird hie und da nochmals aufgegriffen, speziell in Gestalt zweier schwuler Motorradfahrer namens Billy und Wyatt (in Wahrheit Leo und Guido, aber die amerikanischen Namen spielen halt auf „Easy Rider“ an), die noch ein paar Vertauschungs- und Verwechslungs-Rätsel bereithalten, was die Binnenspannung der Geschichte jedoch kaum wesentlich steigert. Später geistert gar ein weiterer, bis zur Parodie effeminiert dargestellter Schwuler namens – Achtung! – Detlef herum. Ich hätte gedacht, dass just diese Namenswahl in diesem Kontext eigentlich nicht mehr geht. Da hab‘ ich mich wohl getäuscht, oder?

Dann eben Natalie statt Aurelie

Fürs Finale geht die Fahrt nach Rom, wo ein Künstler mit dem verballhornten Ibsen-Namen „Peer Gynter“ die reiseführende Rolle spielt. Er nimmt den Erzähler mit zur legendären Villa Massimo, wo seit Jahrzehnten deutsche Kulturschaffende aller Sparten ihre staatlich spendierten Stipendien genießen – ein Umstand, der dem eingangs erwähnten süßen Leben sehr nahe zu kommen scheint. Auch dies eine recht schlichte Vorstellung. Wie gut jedoch, dass die kaum minder ansehnliche Schwester der vormals erwähnten Schönen auftaucht und willig ist. Natalie statt Aurelie. Was soll’s. Hauptsache knackig.

Ein Happy End für so ziemlich alle Beteiligten folgt auch noch – wie einst bei Eichendorff, bei dem es schließlich hieß „– und es war alles, alles gut!“ So lautet auch Modicks letzter Satz. Womit er etwas mit Eichendorff gemeinsam hätte.

Ganz ehrlich: Ich habe Klaus Modick öfter als stets recht soliden, verlässlichen und unterhaltsamen Autor der „gehobenen Mittelklasse“ schätzen gelernt. Diesmal bin ich etwas enttäuscht.

Klaus Modick: „Fahrtwind“. Roman. Kiepenheuer & Witsch. 208 Seiten, 20 Euro. 

 




Mimimi, Boomer! – Formeln, die jede Diskussion abtöten

Bei manchen Diskussionen stehen einem halt die Haare zu Berge… (Foto: BB)

Hier und jetzt nur ein kurzer Einwurf, was Auseinandersetzungen in „sozialen Netzwerken“ angeht.

Es gibt diese schnellfertigen, zigtausendfach vorgeprägten Formeln, mit denen Argumente nicht nur ersetzt, sondern sogleich niedergebügelt werden. Ein paar dieser immer und immer wieder verwendeten Wortmarken, die bei manchen Leuten mutmaßlich auf Sicherungs-Taste liegen, lauten beispielsweise so:

„Mimimi“ (soll heißen: stell dich nicht so an, heul nicht oder auch triefend ironisch: heul doch!)

„Boomer“ (soll den Widerpart einer Alterskohorte zuordnen, die generell den Anschluss verloren und daher auch nichts mehr zu sagen hat respektive die Schnauze halten soll)

„Alte weiße Männer“ (haben nach der üblichen Lesart auf Erden alles versaubeutelt und sollten am besten bald sterben gehen)

Sehr beliebt ist auch die Geißelung eines sogenannten „Whataboutism“, will heißen: Regt sich eine andere Meinung, wird sie in Bausch und Bogen verworfen. Auf eine Behauptung darf man demnach nicht mit einer Gegen-Behauptung („Und was ist mit…“? / „And what about….?“) antworten. Das entspricht ungefähr dem kindischen Ansinnen: „Ich habe aber zuerst behauptet!“ Drum darf es fortan nur noch um diese erste Behauptung gehen und um keine andere. So lässt sich jede Diskussion schnell abtöten. Austausch von Meinungen? Fruchtbare Debatten? Ausgehaltene Widersprüche? Nichts da!

Derlei wohlfeile Ausrufe sind geeignet, Gesinnungsgenoss*innen auf den Plan zu rufen, die sofort eifrig beipflichten und weitere Invektiven anhäufen. Es sind somit auch beliebte Zutaten zum einen oder anderen gepflegten Shitstorm. Und immer lauert im Hintergrund die Neigung, die Gegenposition am liebsten komplett vernichten oder wenigstens dem vollständigen Vergessen überantworten zu wollen.




Wachsamkeit dringlich gefragt – eine Diskussion zum „Tag der Pressefreiheit“

Der 3. Mai ist „Tag der Pressefreiheit“. Da kann der Deutsche Journalisten-Verband (DJV) nicht untätig bleiben. Doch obwohl man eine einschlägige (nicht ganz halbstündige) Video-Diskussion heute gleich auf vier Online-Kanälen eingestellt hat, dürfte die Zuschauerzahl recht überschaubar und eher auf Teile der Berufsgruppe beschränkt bleiben. Leider bewegt das für die Demokratie zentrale Thema nicht gerade die Massen. Drum tragen wir unser bescheidenes Scherflein zur Aufmerksamkeit bei.

Schmerzliche Vorfälle: Benjamin Piel, Chefredakteur beim „Mindener Tageblatt“, während der DJV-Video-Diskussion über Pressefreiheit. © DJV NRW. Screenshot aus https://www.youtube.com/watch?v=MwMzA1C2lf8

Es heißt wachsam zu sein, jetzt erst recht: Beim internationalen Vergleich durch die Organisation „Reporter ohne Grenzen“ ist Deutschland in Sachen Pressefreiheit jüngst auf den 13. Rang zurückgefallen – vorwiegend deshalb, weil es hier mit stark zunehmender Tendenz tätliche Übergriffe auf Medienvertreter gegeben hat, zumal (aber nicht nur) bei sogenannten „Querdenker“-Demonstrationen. Diesen Sachverhalt griff die stellvertretende DJV-NRW-Landesvorsitzende und Gesprächsmoderatorin Andrea Hansen in ihren einleitenden Worten auf.

Defizite in der Polizeiausbildung

Längst nicht immer, so der DJV-Bundesvorsitzende Prof. Frank Überall in besagter Diskussion, herrsche unter den Polizeikräften das nötige Bewusstsein, dass und mit welchen Mitteln die Pressefreiheit bei Demonstrationen zu schützen ist. Die Lage sei von Bundesland zu Bundesland und mitunter von Stadt zu Stadt unterschiedlich. So seien neueste Erfahrungen in Frankfurt deutlich positiver zu bewerten als etwa in Stuttgart. Den Belangen der Pressefreiheit sei in der Polizeiausbildung „kein riesengroßes Modul“ gewidmet. Deshalb suche der Journalistenverband häufiger den Dialog mit angehenden Polizistinnen und Polizisten. Man hofft dabei ebenso auf mittel- und langfristige Wirkungen wie beim Bestreben, das Themenfeld häufiger in den Schulen zu vermitteln.

Ein bedrohlicher Vorfall in Minden

Benjamin Piel, Chefredakteur beim „Mindener Tageblatt“, brachte konkrete lokaljournalistische Aspekte in die Debatte ein. In der vermeintlich so beschaulichen Provinzstadt hat ein abscheulicher Vorfall diffuse Ängste in der Redaktion ausgelöst: Von einer Mindener Brücke baumelte eine aufgehängte Schaufensterpuppe, versehen mit dem Schild „Covid Presse“. Ein solches „symbolisches Bedrohungs-Szenario“ bleibe als Bild im Kopf haften und führe womöglich zu Selbstzensur. Der bloße Verweis aufs Grundgesetz, das die Pressefreiheit ja schließlich garantiere, reiche zur Beruhigung nicht aus. In der Redaktion habe sich denn auch eine Supervisions-Gruppe gebildet, um den Umgang mit der Bedrohung eingehend zu besprechen. Im Übrigen sagte Piel, er habe die Schauspieler-Videoaktion #allesdichtmachen mit ihrer pauschalen, undifferenzierten Kritik an „d e n“ Medien als schmerzlichen Fehlgriff empfunden.

Ganz andere Dimension in Belarus

Eine noch ganz andere Dimension der Bedrohung skizzierte die aus Belarus stammende und in Köln lehrende Prof. Katja Artsiomenka. In Belarus sei Journalismus sozusagen generell verboten, der journalistische Beruf praktisch abgeschafft, das Land nach außen nahezu vollständig abgeschottet. Dennoch solle man alle nur irgend möglichen Verbindungen dorthin aufrecht erhalten. Frau Artsiomenka mahnte dringlich, das Thema Pressefreiheit global zu denken und zu behandeln, sonst wachse auch hier die Gefahr einer Erosion. Als Vorboten misslicher Entwicklungen nannte sie den Einfluss russischer Propaganda in Deutschland.

Frank Überall erinnerte sich unterdessen an Gespräche mit tief besorgten Kollegen in der Türkei, die im Sinne der Pressefreiheit appellierten: „Sorgt dafür, dass wir nicht vergessen werden.“

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Hier noch ein Link zum Podiumsgespräch im YouTube-Kanal des DJV:




„Hiermit trete ich aus der Kunst aus“ – ein Buch zum 100. von Joseph Beuys

Immer im Gespräch: Joseph Beuys (re.) im Jahr 1973. Foto: Rainer Rappmann / www.fiu-verlag.com / Wikimedia Commons – Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/

„Jeder Mensch ist ein Künstler“, meinte Joseph Beuys, der mit seinen Aktionen und Installationen die Kunst aus dem Elfenbeinturm des Elitären befreien wollte – und damit zu einem der bedeutendsten Künstler des 20. Jahrhunderts wurde. Filz und Fett, Honig und Hirschgeweihe waren Materialien, aus denen er Kunst machte und das Publikum zum Nachdenken anregte.

Am 12. Mai würde der ebenso legendäre wie umstrittene Künstler, der die menschliche Kreativität zur „einzig revolutionären Kraft“ erklärte, 100 Jahre werden. Landauf, landab werden sich zahllose Ausstellungen mit seinem Leben und Werk beschäftigen. In Zeiten von Pandemie und Lockdown bietet sich alternativ ein jetzt erscheinendes Buch an: „Hiermit trete ich aus der Kunst aus.“

Zu lesen sind 25 höchst unterschiedliche Texte: Interviews, Statements, Notizen, Vorträge und Reden. Kunst und Politik, Lernen und Lehren, das war für Beuys nie zu trennen: Er lebte für die Kunst, kam als Professor täglich, auch in den Semesterferien, an die Düsseldorfer Akademie und stand seinen Studenten jederzeit zum Gespräch zur Verfügung. Das Sprechen und Diskutieren war für ihn bereits Teil der Kunst.

Viele Themen und Thesen klingen an

Sein erweiterter Kunstbegriff umfasste alle Bereiche des Daseins, sein Konzept von der „Sozialen Plastik“ als Gesamtkunstwerk schließt alle Menschen und Ideen mit ein. Es gilt, die Kreativität im Menschen freizusetzen, um eine freie Gesellschaft zu erschaffen. Dazu war ihm jedes Mittel recht. Ob er Fett in Zimmer-Ecken schmierte oder sich in Filzmäntel hüllte; ob er sich tagelang mit einem Kojoten einschloss; ob er – nach dem Rausschmiss aus der Düsseldorfer Akademie – eine „Freie Universität“ gründete; ob er (um gegen Entfremdung und Naturzerstörung zu protestieren) die „Grünen“ mitbegründete: alles diente dazu, das Leben zur Kunst zu erklären, den elitären Kunstbegriff einzureißen, die Zuschauer zum Denken und Mitmachen zu zu ermuntern.

Das Buch versucht, den disparaten Charakter und die provozierende Kunst von Beuys abzubilden, möglichst viele Themen und Thesen anklingen zu lassen. Vorangestellt ist die Rede zur Verleihung des Wilhelm-Lehmbruck-Preises, die Beuys am 12. Januar 1986, wenige Tage vor seinem Tod, gehalten hat: die Hymne auf Lehmbruck ist ein Schlüssel zu seinem Werk und zugleich sein Vermächtnis.

Geprägt von Wilhelm Lehmbruck und Rudolf Steiner

Die Begegnung mit Lehmbrucks Werk war für ihn eine Art Erleuchtung und Erweckung. Der überzeugte Hitlerjunge Beuys hatte bei den Bücherverbrennungen 1938 ein Heft in die Hände bekommen, in dem auch ein Foto mit einer Skulptur von Lehmbruck abgebildet war: In Beuys reifte der Entschluss, Kunst zu studieren und sich mit Skulptur und Plastik auseinanderzusetzen, die Flamme, die er in dem Foto sah, zu schützen, die Fackel der Skulptur, die er spürte, weiterzutragen. Nicht bei Picasso oder Arp, Giacometti oder Rodin: nein, bei Lehmbruck lernte Beuys, „dass Plastik alles ist, dass Plastik schlechthin das Gesetz der Welt ist“.

Weil er die Anthroposophie von Rudolf Steiner verinnerlicht hatte, meinte Beuys, dass „plastisches Gestalten“ sich nicht auf „physisches Material“ beschränkt, sondern auch „seelisches Material“ einbezieht. Die Formel von der „Sozialen Plastik“ und die Vorstellung einer „Plastik der Moderne“, in der das „plastische Prinzip zur Umgestaltung des sozialen Ganzen“ dient, beruht darauf, wie Beuys seine Vorbilder – Lehmbruck und Steiner – interpretierte oder für sich neu erfand.

Das Märchen von den Krim-Tataren

Die Geschichte mit dem zufällig entdeckten Lehmbruck-Foto könnte – wie so vieles, was Beuys gesagt und getan hat – nur eine Nebelkerze und pure Erfindung sein. Immer wieder wird Beuys gebeten, seine Aktionen und Installationen sowie die biografischen Bezüge zu erklären: Dann raunt er dunkel und tischt das Märchen auf, dass er, nachdem er als deutscher Soldat und Stuka-Kampfpilot über Russland abgeschossen wurde, schwerverletzt von Krim-Tataren aus dem Trümmern gezogen wurde, dass sie seine Wunden mit Fett eingerieben und seinen Körper mit Filz warm gehalten haben…

Heute wissen wir: alles Fantasie und Selbst-Suggestion. Ein Suchtrupp der deutschen Wehrmacht hat ihn nach einem Tag gefunden und ins nächste Lazarett gebracht, kurze Zeit später hat Beuys wieder als Soldat weitergekämpft. Aber die Idee von Fett und Filz als Energie- und Wärme-Spender und Kunst-Material lässt sich mit dem Tataren-Märchen natürlich viel besser begründen. Dass sein ganzes Leben nur eine Erfindung war, hätte man schon 1964 merken können: da verfasst Beuys für ein Kunst-Festival einen Lebenslauf und bezeichnet alles als „Ausstellung“, auch seine Geburt 1921 in Kleve ist eine „Ausstellung einer mit Heftpflaster zusammengezogenen Wunde“.

Als ob man einen Pudding an die Wand nagelte

Der bizarre „Lebenslauf“ könnte behilflich sein, Beuys zu entmystifizieren. Im Buch wird über alles, was sein Leben und Werk bestimmt, geredet: Die „ideale Akademie“, das „Museum als Ort der permanenten Konferenz“, wieso „jeder Menschen ein Künstler ist“, was Filz und Fett, Hirschgeweihe, Schiefertafeln, Honig und Kreuze für seine „Sozialen Plastiken“ bedeuten, warum das Christentum für ihn elementar ist, sich durch den Tod Jesu das eigentliche Leben erst vollzieht und den Menschen zur Ich-Erkenntnis befähigt.

Aber bei allem, was Beuys sagt, bleibt das Gefühl, als würde man versuchen, einen Pudding an die Wand zu nageln, alles ist seltsam schwammig, redundant und unverständlich: Nichts wird erklärt oder begründet, vieles ist bloße Behauptung, manches reine Erfindung. Beuys hat über seine Ideen und Installationen permanent geredet, aber eine fundierte Theorie mit klar definierten Begriffen hat er nie geliefert: alles, auch dieses Buch, ist nur die Kunst und der Stoff, aus dem die Träume sind.

Joseph Beuys: „Hiermit trete ich aus der Kunst aus.“ Vorträge, Aufzeichnungen, Gespräche. Herausgegeben und mit einem Vorwort von Wolfgang Storch. Edition Nautilus, Hamburg 2021, 160 Seiten, 15 Euro.




Zwischen Pfandflaschen, Wildpinklern und Chronotopos: „Die Raststätte. Eine Liebeserklärung“

Rund 450 Autobahn-Raststätten gibt es in Deutschland. Rund eine halbe Milliarde Mal pro Jahr machen Menschen dort Halt, meistens kurz und flüchtig: zwecks Tanken, Toilette und Imbiss. Ein solch allgegenwärtiges Alltags-Phänomen verdient es zweifellos, in Buchform dargestellt zu werden. Erst recht, wenn es mit Sinn und Verstand geschieht.

Florian Werner war gut beraten, nicht landauf landab möglichst viele Raststätten abzuklappern, sondern sich fast gänzlich auf eine einzige zu konzentrieren: Garbsen Nord bei Hannover. Dennoch hat er einen weiten Themenkreis ausgeschritten, um nicht zu sagen: ein Panorama entworfen. So skizziert er zunächst die faschistisch geprägte (Vor)-Geschichte der Raststätten zur Mitte der 1930er Jahre (allererste Einrichtung: Nähe Chiemsee, nach Bauernhof-Vorbild) bis hin zum Niedergang in den 1970ern – Stichwort „Ölkrise“ – und zur späteren Privatisierung im wiedervereinigten Land, was einen rückblickenden Exkurs zum DDR-Pendant Mitropa mit einschließt. Architektur und Stilfragen kommen wie von selbst hinzu. Die sozusagen wunderbar trostlosen Fotografien von Christian Werner dokumentieren es ebenso beiläufig wie eindringlich.

Produktives Herumlungern

Vor diesem Hintergrund schickt sich Florian Werner an, sich in Garbsen Nord einzumieten und dort für einige Zeit gepflegt „herumzulungern“, wie er es selbst nennt. Eine solch lässige Haltung fördert jedenfalls aufschlussreiche Beobachtungen am Rande zutage. Nach und nach, ganz ohne Hast, zieht der Autor dabei kompetente Auskunftgeber zu Rate: Der Raststätten-Pächter (schon in dritter Generation) kann jede Menge aus dem Metier erzählen, auch das Gästebuch spricht Bände – u. a. mit Einträgen von Herbert Wehner, Udo Jürgens, Uwe Seeler und Alfred Biolek, wobei Letzterer in offenbar beschwingter Laune die Kulinarik dieses Rasthofs zu würdigen weiß – und das als TV-berühmter Kochlöffelschwinger vor dem Herrn. In aller Regel, wir wissen’s, kann man Rasthöfen auf diesem Gebiet jedoch keine höheren Ambitionen bescheinigen.

Dass man mit dem Chef des Ganzen spricht, ist selbstverständlich. Doch Florian Werner befragt ebenso intensiv den verarmten Flaschensammler, der dort die Müllcontainer nach Pfandgut durchsucht. Er trifft sich mit dem Politiker Victor Perli (Die Linke), der seit vielen Jahren unermüdlich das fragwürdige Monopol der Tank & Rast AG samt Bewirtschaftung der Sanifair-Toiletten kritisiert und vehement zur Verstaatlichung rät. Der Leiter der nächstgelegenen Autobahn-Polizweiwache, mit 18 Leuten für 2 mal 180 Autobahn-Kilometer (beide Fahrtrichtungen) zuständig, berichtet sodann aus seiner Perspektive und stellt beispielsweise fest, dass es in diesem Umfeld zwar etliche üble Verkehrsrowdys, aber – anders, als das Klischee es will – kaum Sexualdelikte gebe.

Besonderes Biotop mit 260 Pflanzenarten

Den wohl erstaunlichsten Auftritt aber hat ein „Extrem-Botaniker“, der in dieser vermeintlich so öden und ökologisch toten Zone etwa 260 (!) gedeihende Pflanzenarten identifiziert hat, die allesamt beim Namen genannt werden. Übrigens düngen notorische Wildpinkler das eine oder andere Gewächs. Allerdings sagt der von seinem Fachgebiet besessene Experte auch voraus, dass sich der Klimawandel just hier noch rascher und radikaler zeigen werde als andernorts. In Garbsen Nord könne man schon vorab sehen, worauf es mit weiten Teilen der gesamten deutschen Landschaft hinausläuft.

Doch halt! Da fehlt doch noch wer? Richtig: Als Florian Werner fast schon aufgeben will, einen auskunftsbereiten Fernfahrer aufzutreiben, findet er doch noch einen. Die ehedem als „Kapitäne der Straße“ idealisierte Berufsgruppe besteht, so sagt auch David, der für eine Dortmunder Spedition fährt, heute zu 90 Prozent aus „armen Schweinen“ osteuropäischer Herkunft, die unter skandalösen Bedingungen für Dumpinglöhne schuften. David selbst aber bekennt, seinen Beruf zu lieben. Ja, er sagt lieben.

Autobahn als intellektuelles Gelände

Es ist wie bei so vielen, ja eigentlich bei allen Themen: Sobald jemand näher hinsieht und sich eingehend befasst, erschließt sich ein vordem ungeahntes weites Feld – und (frei nach Goethe): wo man’s packt, da ist es interessant. Schließlich münden all die kleinen und größeren Befunde in Überlegungen „zu einer Philosophie der Raststätte“, womit denn Begriffe wie Telos, Chronotopos, linearer Zeitstrahl und sonstiges Vokabular ins Spiel kommen. In der Bibliographie des Bandes stehen die Namen von (einst) prägenden Schwerdenkern wie Michail M. Bachtin, Michel Foucault und Paul Virilio. Womit die Raststätte endgültig auch zum intellektuellen Gelände geworden wäre.

Doch keine Schwellenangst! Die Bildungsattitüde kommt selbstironisch daher. Florian Werner weiß seinen Stoff nicht nur gedanklich zu durchdringen, sondern durchweg unterhaltsam aufzubereiten. Und er selbst war wiederum dermaßen durchdrungen von seinem Thema, dass er sich später daheim in Berlin den lang vermissten Kick geben musste – in der nostalgischen Avus-Raststätte.

Florian Werner: „Die Raststätte. Eine Liebeserklärung“. Hanser Berlin. 160 Seiten. 22 Euro.

 




Nach Aufregung um #MeToo-Vorwürfe: Weibliche Doppelspitze soll die Berliner Volksbühne in ruhiges Fahrwasser bringen

Unter neuer Interims-Leitung für eine schwierige Übergangszeit: die Berliner Volksbühne. (Foto: Stefan Müller / Volksbühne)

Das ging jetzt aber sehr schnell. Kaum hatte sich Volksbühnen-Intendant Klaus Dörr im Dickicht der #MeeToo-Debatte verlaufen und war aufgrund schwerer Vorwürfe, seine Amtsführung sei von sexueller Belästigung und verbalen Entgleisungen geprägt, holterdiepolter zurückgetreten, da kann Kultursenator Klaus Lederer bereits eine plausible Lösung präsentieren: Eine weibliche Doppelspitze übernimmt vorübergehend die Leitung des leckgeschlagenen Theatertankers, das seit dem Abgang von Frank Castorf einfach nicht in ruhiges Fahrwasser kommen will.

Sabine Zielke, langjährige Dramaturgin am Hause, und Gabriele Gornowicz, Geschäftsführerin bis 2014, bilden das Frauen-Duo, das die lähmende Zeit überbrücken und die Volksbühne aus den Schlagzeilen bringen soll, bis der designierte Intendant René Pollesch im Sommer dorthin zurückkehrt, wo er seine Karriere einst begann, um die legendäre Bühne am Rosa-Luxemburg-Platz wieder mit neuem, möglichst provokantem und inspirierendem Theaterleben zu erquicken.

Weil zwei Frauen an der Front vielleicht nicht ausreichen, um den aufgestauten Ärger zu kanalisieren, die erzürnten Mitarbeiter zu beruhigen und – falls mal wieder in Zeiten der Pandemie gespielt werden sollte – die Zuschauer und die Kritiker zu besänftigen, ist auch gleich noch ein Interims-Direktorium installiert worden: Dazu gehören Thomas Walter (Geschäftsführer von 2014-2018), Klaus Michael Aust (Chefdisponent), Stefan Pelz (Technischer Direktor), Schauspieldirektor Thorleifur Örn Arnarsson sowie je ein Mitglied des Ensembles und des Personalrats. Hoffentlich geht das gut und der vielstimmige Leitungs-Chor kann sich gegen Kakophonie und Intrigen rechtzeitig wappnen.

Probleme begannen mit Castorfs Abschied

Was war geschehen? Nachdem Patriarch Frank Castorf gegen seinen Willen die Volksbühne (nach über 25 Jahren!) aufgeben musste, sollte der filigrane Chris Dercon dem Haus ein neues Image verleihen: jünger und performativer, interdisziplinärer und interaktiver sollte alles werden. Doch es wurde ein Reinfall. Zwischenzeitlich war das Theater sogar von rebellierenden Kunst-Aktivisten besetzt.

Dann sollte Klaus Dörr, der schon Regisseur und Intendant Armin Petras am Berliner Maxim-Gorki-Theater und am Schauspiel Stuttgart als Manager den Rücken frei gehalten hatte, den Riesentanker retten, einen Spielplan entwickeln. Plötzlich aber titelte die „taz“: „#MeToo an der Volksbühne“ und schrieb: „Mehrere Mitarbeiterinnen der Berliner Volksbühne erheben schwere Vorwürfe gegen Intendant Klaus Dörr.“

Warten auf René Pollesch

Zehn Frauen legten bei der Beschwerdestelle gegen sexuelle Belästigung und Gewalt Beschwerde ein. Dörr, so heißt es, habe Mitarbeiterinnen unangemessene SMS geschickt, sexistische Bemerkung gemacht, Frauen im Gespräch erniedrigt und beleidigt, anzüglich angestarrt und körperlich berührt. Kaum hatte Dörr das als „halt- und substanzlose Anschuldigungen“ abgetan und rechtliche Schritte angekündigt, ging er von Bord. Hinter den Vorwürfen, heißt es, stünden keine strafrechtlich relevanten Vergehen.

Was man einem bekennenden Macho wie Frank Castorf noch hat durchgehen lassen (denn er zahlte mit Aufsehen erregenden Inszenierungen zurück), wurde nun einem alerten Kunst-Manager (der sich vor allem mit Zahlen und Geld auskennt) zum Opfer.

Das neue Frauen-Duo muss jetzt die Scherben wegräumen, Ruhe bewahren, leise treten. Ein eigenes Programm und Profil sollen und wollen sie nicht entwickeln. Bald schon kommt ja Pollesch. Alle warten auf ihn, als wäre er der Heiland. Wenn sich da mal niemand täuscht.

 

 

 




„…weil man keine Wahl hat“ – ausgewählte Essays von Paul Auster aus 50 Jahren

„New-York-Trilogie“, „Brooklyn-Revue“, „Buch der Illusionen“, „Nacht des Orakels“: Die Liste der Romane, mit denen der amerikanische Schriftsteller Paul Auster seit Jahrzehnten ein großes Publikum erreicht, ist lang. Zuletzt veröffentlichte Auster unter dem Titel „4,3,2,1“ sein 1200-seitiges Opus Magnum. Jetzt hat er „Ausgewählte Essays und andere Schriften aus 50 Jahren“ zusammengestellt. Titel: „Mit Fremdem sprechen“.

Zwar sind einige Texte bereits im Band „Die Kunst der Hungers“ (2000) hierzulande veröffentlicht worden, aber die Hälfte (22 von 44) sind „Deutsche Erstveröffentlichungen“. Mit dem Begriff „Essay“ sollte man großzügig sein, denn eigentlich versucht Auster in den meisten kein Problem oder Thema einzukreisen, sondern sich selbst als Leser und Autor in Beziehung zu setzen zu einem anderen Künstler. Er überprüft Leben und Werk dieser Künstler darauf, was sie für ihn und für seine Art des Denkens und Schreibens bedeuten, was er dabei gelernt hat und für sein Werk fruchtbar machen konnte, das ja vor allem auf zwei Grundpfeilern steht: Das Leben besteht aus Zufällen und Literatur spiegelt nicht die Welt und erklärt nicht die Realität, sondern schafft mit Sprache eine eigene Wirklichkeit.

Auster ging nach seinem Literatur-Studium an der Columbia University in New York von 1971 bis 1974 nach Frankreich, versuchte sich als Lyriker und Übersetzer, schlug sich mit Gelegenheitsjobs durch und entdeckte die europäische Literatur. In den Beiträgen, die er damals für Zeitschriften und Anthologien schrieb, beschäftigt er sich mit Baudelaire und Mallarmé, Apollinaire und Artaud, Samuel Beckett, Franz Kafka, Paul Celan, Hugo Ball, Knut Hamsun. Manchmal auch schaut er auf die amerikanischen Klassiker, Nathaniel Hawthorne, Edgar Allen Poe, Henry David Thoreau.

Schreiben ist Askese und manchmal Raserei

Leben und Werk von Frauen scheinen ihn nicht zu interessieren, um sich als ein Autor zu definieren, der in der Tradition der europäischen Moderne steht, der mit Postmoderne, Poststrukturalismus und Psychoanalyse bestens bekannt ist und sich im „Hungerkünstler“, wie er bei Hamsun oder Kafka auftaucht, wiedererkennt. Schreiben ist für ihn Ausdruck von Askese und Verzicht, ist schiere Notwendigkeit und trägt Züge des Irreseins, transportiert Momente der Raserei. Kunst ist ein ständiger Kampf mit der Einsamkeit, Schreiben ist ein Überlebensmittel. Sprache ordnet die Erfahrung und schafft eine eigene Wirklichkeit: „Von Sprache entfremdet zu sein“, schreibt er, „ist nichts anderes, als seinen Körper zu verlieren. Wenn dir die Worte versagen, zerfällst du in ein Bild von Nichts. Du verschwindest.“

Politische Beobachtungen nur am Rande

Der politische Beobachter Paul Auster kommt nur am Rande vor. Es gibt nur ein paar kleine Zwischenrufe. Einmal betet er für Salman Rushdie und ruft zur Solidarität mit dem damals von islamischen Fundamentalisten mit dem Tode bedrohten Autor auf; ein anderes Mal beobachtet er einen Mann, der durchs soziale Raster gefallen ist, der alles verloren hat und in einem Pappkarton haust; einmal erinnert er sich an den damaligen New Yorker Bürgermeister Giuliani, der eine provokative Ausstellung britischer Kunst verbieten lassen will, daran, dass Amerika eine Demokratie ist, in der Meinungs- und Kunstfreiheit herrscht.

Am Tage der Terroranschläge vom 11. September sitzt Auster nachmittags wie betäubt in Brooklyn am Schreibtisch und notiert: „Der Wind weht heute Richtung Brooklyn, und der Brandgeruch hat sich in allen Zimmern des Hauses festgesetzt. Ein entsetzlicher, beißender Gestank: brennende Kunststoffe, Stromkabel, Baumaterialien, eingeäscherte Leichen. (…) Es gibt kein Beispiel für das, was heute geschehen ist, und die Folgen dieses Anschlags werden zweifellos furchtbar sein. Mehr Gewalt, mehr Tod, mehr Schmerz und Leid für alle.“ Auster sollte recht behalten.

„Zweifellos eine seltsame Art, sein Leben zu verbringen“

„Mit Fremden sprechen“ hat Auster seine Rede überschrieben, die er zur Verleihung des Prinz-von-Asturien-Preises 2006 in Oviedo gehalten hat. Er versucht zu ergründen, was ihn um- und antreibt, warum er mit den Lesern, die er meistens gar nicht kennt und ihm völlig fremd sind, meint sprechen zu müssen: „Ich weiß nicht“, schreibt Auster, „warum ich tue, was ich tue. (…) Zweifellos eine seltsame Art, sein Leben zu verbringen: Allein in einem Zimmer sitzen, einen Stift in der Hand, Stunde um Stunde, Tag für Tag, Jahr für Jahr, mühsam Worte zu Papier bringen, um etwas entstehen zu lassen, das es nicht gibt – außer im eigenen Kopf. Warum nur sollte jemand so etwas tun wollen? Die einzige Antwort, die ich darauf gefunden habe, lautet: weil man muss, weil man keine Wahl hat.“

Wir aber haben die Wahl: Wir können, indem wir seine Bücher lesen, ein Zwiegespräch mit ihm beginnen. Wir sollten es tun. Denn es gibt kaum einen anderen Autor, der uns so viel zu sagen hat und uns auf so viele neue Ideen bringt.

Paul Auster: „Mit Fremden sprechen.“ Ausgewählte Essays und andere Schriften aus 50 Jahren. Aus dem Englischen von Werner Schmitz, Robert Habeck, Andrea Paluch, Alexander Pechmann und Marion Sattler Charnitzky. Rowohlt Verlag, 412 Seiten, 26 Euro.




Wie die Kunst auf die Industrialisierung reagierte – „Vision und Schrecken der Moderne“ in Wuppertal

Conrad Felixmüller: „Hochöfen, Klöckner-Werke, Haspe, nachts“ (1927). Von der Heydt-Museum, Wuppertal. © VG Bild-Kunst, Bonn 2021

Mit einem Stipendium ausgestattet, hätte der Künstler Conrad Felixmüller nach Rom reisen können, doch er hat sich fürs Ruhrgebiet entschieden und dort – beispielsweise – das Ölbild „Hochöfen, Klöckner-Werke, Haspe, nachts“ (1927) gemalt. Felixmüller war sichtlich fasziniert vom gigantischen Industriebetrieb, dessen stählerne Kolosse geradezu erhaben aufragen. Sein Bild kündet visionär vom Werden einer neuen Zeit.

Ganz anders zeigt Hans Baluschek die Folgen der Industrialisierung im Revier, so etwa mit seinem Bild „Arbeiterinnen (Proletarierinnen)“ von 1900. Viele, viele Frauen verlassen bei Schichtende das Werksgelände, sie kommen auf die Betrachtenden zu. Die elend gleichmacherischen Lebensumstände haben ihnen einen Großteil ihrer Individualität geraubt, nur noch bei näherem Hinsehen nimmt man kleine Unterscheidungs-Merkmale wahr. Ansonsten sind sie zur gesichtslosen Masse geworden. Ebenfalls ärmlich, aber schon selbstbewusster wirken einige Jahre später Baluscheks „Zechenarbeiterinnen auf einer Hängebrücke“ (1913).

Hans Baluschek: „Zechenarbeiterinnen auf einer Hängebrücke“, Aquarell, 1913 (Deutsches Bergbau-Museum, Bochum)

Zwischen solchen Gegensatz-Polen und etlichen Nuancen mehr bewegt sich die Wuppertaler Ausstellung „Vision und Schrecken der Moderne“, die vor allem mit Eigenbesitz des Von der Heydt-Museums (aber auch prägnanten Leihgaben, z. B. aus dem Dortmunder LWL-Industriemuseum) aufwartet, künstlerische Antworten auf die Industrialisierung in den Blick fasst und mit wenigen Ausläufern bis in die Gegenwart reicht.

Die Öffnungszeiten der Schau stehen unter Corona-Vorbehalt. Derzeit (Stand 26. März) bleibt das Museum vorerst weiter geöffnet – siehe auch den Nachspann dieses Beitrags. Auf jeden Fall gilt: vorher informieren!

Zurück zur Ausstellung, die sich durch acht Räume im ersten Obergeschoss zieht und im Rahmen einer Zoom-Videokonferenz von Beate Eickhoff (im Kuratorinnen-Team mit Antje Birthälmer und Anna Storm) vorgestellt wurde. Also kann ich leider noch nicht aus unmittelbarer Anschauung berichten.

Carl Wilhelm Hübner: „Die schlesischen Weber“, 1844 (Kunstpalast Düsseldorf)

Der einstweilen virtuelle Rundgang beginnt u. a. mit Carl Wilhelm Hübners Gemälde „Die schlesischen Weber“ von 1844, das eine Szene am Vorabend des berühmten Weberaufstands vergegenwärtigt. Fabrikant Zwanziger und sein Sohn mäkeln über die angeblich schlechte Qualität der angelieferten Heimarbeits-Tuchware, werfen sie achtlos zu Boden oder aschen gar verächtlich mit der Zigarre darauf ab. Verzweifelte Heimarbeiter und ihre Familien sind zu sehen, aber auch zwei Männer rechts im Hintergrund, die offenbar schon den Aufstand im Sinn haben. Ein historisch bedeutsamer Moment, der auf die Entstehung des Proletariats und des Sozialismus vorausweist. Aus derselben Zeit stammt Wilhelm Kleinenbroichs Bildnis „Kölnische Zeitung (Der Proletarier)“ von 1845. Dem Arbeiter kommen nach der Lektüre eines Artikels über die Gesindeordnung die Tränen. Es sieht aus, als könnte er alsbald einen Entschluss zur Gegenwehr fassen.

Kein Geringerer als Friedrich Engels (am 28. November 1820 im späteren Wuppertaler Ortsteil Barmen geboren), sonst eher der Literatur als den bildenden Künsten zugeneigt, hat übrigens just Hübners Weber-Bild gekannt und sehr geschätzt. Die ganze Ausstellung hätte ja auch im November des „Engels-Jahres“ 2020 beginnen sollen, woraus aber wegen Corona nichts wurde. Immerhin kann die Dauer der Schau nun bis zum 11. Juli 2021 verlängert werden. Die Leihgeber zeigen sich geduldig.

Einleitende Akzente setzen auch einige Arbeiter-Skulpturen, deren Urheber sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch an antiken Vorbildern ausrichten und traditionelle „Helden der Arbeit“ (bevorzugt Schmiede) darstellen. Bisweilen werden auch kräftige Arbeitsmänner nach dem Vorbild eines Adonis gestaltet. Zu nennen wären etwa Bernhard Hoetgers „Tauzieher“ (1902) oder Wilhelm Lehmbrucks „Steinwälzer (Die Arbeit)“ (1904). Hier waltet ein ganz anderer Geist als etwa in den Schriften von Marx und Engels, die den ausgebeuteten Proletarier nicht als Heros, sondern eher als zerlumpte, verzweifelte und nicht selten dem Alkoholismus verfallene Figur gesehen haben.

Bemerkenswert die schon von ziemlich zahlreichen Schloten durchsetzten Industrie-Landschaftspanoramen von Elberfeld und Barmen (Wuppertals Vorläufer als „Das deutsche Manchester“), die allerdings noch als herkömmliche Idyllen aufgefasst sind. Gesellschaftsporträts des regionalen Großbürgertums zeigen zudem, dass die höheren Herrschaften hierzulande zwar wahrlich im Wohlstand lebten, aber noch längst nicht so mit ihrer Habe prunken konnten wie die Pendants im industriell avancierten England.

Und so geht es weiter durch die Jahrzehnte, mit sehenswerten Arbeiten etwa von Marianne von Werefkin oder Max Beckmann („Die Bettler“, 1922); mit Bildern der furchtbaren Not von Käthe Kollwitz, Max Klinger und Heinrich Zille; mit bissig-aggressiven Anklagen von Georg Scholz („Industriebauern“, 1920) und Otto Dix (Blätter aus der Mappe „Der Krieg“), der die Industrialisierung des Krieges in aller Drastik ins Bild setzt, beispielsweise mit gespenstischen Gasmasken.

Carl Grossberg: „Der gelbe Kessel“, 1933 (Von der Heydt-Museum, Wuppertal)

Ganz anders dann ein neusachliches Bild wie „Der gelbe Kessel“ (1933). Der Künstler Carl Grossberg hat es keineswegs auf soziale Verwerfungen abgesehen, sondern offenkundig Auftragskunst im Sinne einer Ästhetisierung industrieller Apparaturen verfertigt. Noch einmal mit gänzlich verschiedenem Ansatz gingen die „Kölner Progressiven“ zu Werke. Die bekennenden Marxisten gaben sich im Dienst der sozialistischen Utopie ausgesprochen abgeklärt, emotionslos und unsentimental. Sie arbeiteten an einer stark vereinfachten, allgemein verständlichen Bildsprache des neuen Industrie-Zeitalters, die bei Gerd Arntz in flugschriftentauglichen Piktogrammen gipfelt (z. B. „Fabrikhof“, 1926). Doch wirken diese gewollt modernen Menschen nicht auch reichlich steril und gar zu „bereinigt“?

Berühmte Positionen der Industrie-Fotografie (Albert Renger-Patzsch, Bernd und Hilla Becher) dürfen in diesem Kontext nicht fehlen, sie setzen die industriellen Bauwerke geradezu skulptural in Szene, allerdings auf ganz unterschiedliche, mal monumental imposante, mal nüchterne Weise.

Schließlich die nur spärlich vertretene Gegenwartskunst. Hier knüpft Andreas Siekmann an die erwähnten Piktogramme von Gerd Arntz an. Einfach ist zwar die Bildsprache, einigermaßen kompliziert sind jedoch die konstruierten Zusammenhänge und Hintergedanken. Im Spätkapitalismus sind die Verhältnisse eben nicht einfacher geworden.

„Vision und Schrecken der Moderne“. Industrie und künstlerischer Aufbruch. Von der Heydt-Museum, Wuppertal, Turmhof 8. Bis 11. Juli 2021.

Vorerst weiter geöffnet

Update: Nach jetzigem Stand (26. März) bleibt das Museum vorerst geöffnet. Die Stadt Wuppertal will die „Notbremse“ – trotz einer Corona-Inzidenz von rund 170  – (noch) nicht ziehen und stützt sich auf eine Test-Strategie, sprich: Zutritt zu Geschäften („Click & Meet“) und Museen ist mit negativem Schnelltest vom selben Tag möglich.

Im Falle der weiteren Öffnung (Online-Tickets mit Zeitfenster, bitte unbedingt erkundigen): Di-So 11-18, Do 11-20 Uhr. Eintritt 12 Euro. Katalog 24,50 Euro.

Telefon: 0202/563-6231

www.von-der-heydt-museum.de

 




Die Leute sind oft anders, als wir meinen – Juli Zehs neuer Roman „Über Menschen“

Dora muss raus. Einfach weg von allem. Irgendwo neu beginnen. Raus aus dem hysterisch überdrehten Berlin, der Endlosschleife immergleicher Gespräche über gesunde Ernährung und korrekte Mülltrennung. Weg von ihrem Freund Robert, der sich vom Klima-Aktivisten zum Corona-Schamanen gewandelt hat und Gefolgschaft erwartet.

Seit die Pandemie da ist und die Menschen Masken tragen, kommt alles ins Rutschen. Beziehungen und Gewissheiten lösen sich auf. Die Werbe-Agentur, in der sie eben noch als Star-Texterin verehrt und gut bezahlt wurde, verdonnert Dora zum Homeoffice und wird ihr später per Mail die Kündigung aussprechen. Da ist Dora aber längst schon abgehauen, hat die Café-Latte-Schickeria, die Cancel-Culture- und Gender-Sternchen-Debatten abgeschüttelt wie lästige Fliegen, hat schnell ein paar Sachen und ihren Hund eingepackt und ist nach Bracken gefahren, einem (fiktiven) Kaff in der Prignitz.

Hier, in diesem Landkreis von Brandenburg, wo die Arbeit ausstirbt sind und die Zukunft keine Perspektive hat, die Fremdenfeindlichkeit zum Alltag gehört und die AfD besonders viele Wählerstimmen einheimst, hat sich Dora vor einiger Zeit ein altes Haus gekauft. Aus einer Laune heraus. Vielleicht auch, weil sie schon vor der Corona-Katastrophe ahnte, dass demnächst alles den Bach runter gehen und ihr bisherigen Leben zerbröseln wird wie ein trockener Keks.

„Ich bin hier der Dorf-Nazi“

Jetzt ist Dora in Bracken, allein mit sich, einem langsam dahin schmelzenden Bankkonto und einem verwilderten Garten, den sie schweißtreibend beackern muss. Und mit einem Nachbarn, Gottfried, genannt Gote, der jetzt, wo sie gerade die Sense schwingt und sich überlegt, wo sie Tomaten pflanzen könnte, seinen stiernackigen Glatzkopf über die Mauer reckt, sie anblafft, er werde ihren Hund platt machen, wenn er noch einmal seine Saatkartoffeln ausgräbt, um dann grinsend hinzuzufügen: „Ich bin hier der Dorf-Nazi.“

In ihrem neuen Roman „Über Menschen“ zerfleddert Juli Zeh genüsslich Vorurteile, kratzt beharrlich an fest getackerten Deutungsmustern, zeigt auf hinterhältig-heitere und kurios-komische Weise, dass es sich lohnt weiterzumachen, trotz Krise und Katastrophe, apokalyptischem Geraune und populistischer Propaganda. Die Welt ist schillernder und vielfältiger, als wir sie uns mit unserem simplen Schubladenken ausmalen, die Menschen widersprüchlicher und liebenswerter, als wir uns eingestehen, wenn wir mit unserem Schwarz-weiß-Denken Freund und Freund von einander scheiden und uns den Kontakt und das Gespräch mit Leuten ersparen, die anders ticken und denken als wir.

Zwei AfD-Typen sind schwul und pflanzen Cannabis

Alle haben Dora vor den dickschädeligen Menschen und dem dumpfen Rechtsradikalismus in der Provinz gewarnt. Aber dann geschehen Dinge, die Doras Weltbild ins Wanken bringen. Gote mag ein Nazi sein, aber er ist auch der fürsorgliche Vater eines kleinen Mädchens, ein sensibler Vogelkundler und ein Nachbar, der zupackt, für Dora Möbel schreinert und Wände streicht, einfach so, ohne irgendeine Gegenleistung zu fordern oder zu erwarten. Und die beiden Typen von gegenüber, die einen AfD-Aufkleber auf ihrem Pick-Up haben und sich über die blöden Politiker und weltfremden Entscheidungen im fernen Berlin aufregen, sind in Wahrheit ein schwules Paar und pflanzen nicht nur Blumen, sondern auch Cannabis.

Juli Zeh, die selbst mit ihrer Familie im Havelland lebt, weiß, wovon sie schreibt. Sie kennt ihre Provinz-Pappenheimer genau. Als sprachgewandte Schriftstellerin, die als Gast im Literarischen Quartett sitzt, durchschaut sie die Eitelkeiten und Einbildungen des intellektuellen Betriebes, als Richterin am Verfassungsgericht im Land Brandenburg weiß sie um  Schwächen und Ängste, Befangenheit und Fehlbarkeit von Mensch und Politik.

Im Roman „Unterleuten“ gelang ihr 2016 eine garstige Posse über Berliner Aussteiger und Selbstgerechtigkeit, über Verlierer und Gewinner der Wende, die das Leben dort, wo ländliche Idylle sein könnte, in eine selbst gezimmerte Hölle verwandeln. „Über Menschen“ fokussiert sich noch mehr auf die Nöte und Sorgen der so genannten kleinen Leute, die man heute nicht mehr ungestraft als „normal“ bezeichnen darf, wenn man nicht (wie Wolfgang Thierse) von Sprach-Polizisten als „identitätsfeindlich“ abgekanzelt werden und sich den Vorwurf einhandeln will, man würde andere gesellschaftliche Gruppen diskriminieren.

In der Provinz bleiben, weil es die Heimat ist

Natürlich gibt es bei Juli Zeh auch Nazis, die sich als „Übermenschen“ verstehen (aber keine Ahnung haben, wer Nietzsche war und was er mit dem Begriff meinte). Aber vor allem zeichnet sie satirisch zugespitzt und hart am Rande des Klischees Menschen, die uns berühren und bewegen, weil sie als allein erziehende Mütter (wie Nachbarin Sadie) nachts zur Arbeit ins ferne Berlin pendeln, um ihre Kinder ernähren zu können, oder mal eben (wie Nachbar Heinrich) mit einer Landmaschine vorbeikommen, um Doras verkrauteten Acker in eine blühende Landschaft zu verwandeln.

Es sind Menschen, die in der Provinz ausharren, weil es ihre Heimat ist, die bleiben, auch wenn die Landarzt-Praxen dichtmachen und die nächste Einkaufsmöglichkeit 18 Kilometer entfernt ist. Sie tragen keine Masken und fürchten sich nicht vor Corona. Aber sie sind genauso viel wert wie der sich im Berliner Biotop in Selbstmitleid verzehrende Gutmensch Robert. Oder der kultivierte Vater von Dora, der bei einem Rotwein gern über „Anspruchsdenken“ philosophiert und meint, das sei die wahre Pandemie. Das Gefühl der Leute, ein Anrecht zu besitzen auf mehr Sicherheit und mehr Komfort führe, weil man nie bekommt, was man will, zu Wehleidigkeit, Apokalypse-Ängsten und Verschwörungs-Theorien. Vielleicht hat er recht. Aber hilft das Dora, die jetzt zwar ein Haus auf dem Lande, aber keinen Job mehr hat? Oder Gote, der manchmal wüst herumpöbelt, aber dringend jemanden braucht, wenn sein Tumor aufs Gehirn drückt und er bewusstlos im Gras liegt? Mehr miteinander reden und einander besser zuhören: Das wäre vielleicht ein Anfang.

Juli Zeh: „Über Menschen“. Roman. Luchterhand, München 2021, 416 S., 22 Euro.




Martin Kippenberger und die Arena des Lebens-Wettkampfs – zwei Ausstellungen in Essen

Sportfeld mit „Wimmelbild“: Essener Ausstellungsansicht von Martin Kippenbergers Installation „The Happy End of Franz Kafka’s ,Amerika'“ (Museum Folkwang, Essen, 2021 – © Estate of Martin Kippenberger, Galerie Gisela Capitain, Cologne – Foto: Simon Vogel)

Um einen flapsigen Spruch war Martin Kippenberger (1953-1997) nie verlegen. Von ihm stammt z. B. der Nonsens-Reim „Jetzt geh ich in den Birkenwald, denn meine Pillen wirken bald.“ Vor allem aber sprudelten seine künstlerischen Ideen wie aus einem Füllhorn hervor.

Manchmal hat sich Kippenberger auch Zeit genommen und über Jahre hinweg am selben Projekt gearbeitet. Was daraus werden konnte, ist nun im Essener Museum Folkwang zu besichtigen: „The Happy End of Franz Kafka’s ‚Amerika‘“ heißt dieses Opus magnum, das sich auf einem 20 mal 23 Meter großen Fußballfeld erstreckt. Man kann entweder außen herum gehen oder seitwärts auf zwei Tribünen Platz nehmen.

Zu sehen sind 50 Tisch-Stuhl-Kombinationen, 32 Einzelstühle, Skulptur-Elemente, verschiedene Wachtürme und Hochsitze, dazu Videos, u. a. mit Cheerleader-Anfeuerungen. Folkwang-Chef Peter Gorschlüter findet, dass man das Ganze zuerst als „Wimmelbild“ wahrnimmt, bevor man sich auf die vielen Einzelheiten konzentrieren kann. Im Katalog wird jedes der vielen Ensembles näher erläutert. Jegliches Detail (einige Elemente stammen von befreundeten Künstler*innen) hat seine Geschichte, seinen Deutungs-Spielraum.

Auf Schienen rund ums Spiegelei: weitere Kippenberger-Installationsansicht aus Essen. (Museum Folkwang, Essen, 2021 – © Estate of Martin Kippenberger, Galerie Gisela Capitain, Cologne – Foto: Simon Vogel)

Wenige Stichworte: Ein von Kippenberger verwendeter Aldo-Rossi-Stuhl, Ikone modernen Designs, wurde gezielt durchlöchert – eine Reminiszenz an schusswütige Western-Filme. Auf einer Art Kinder-Karussell fahren Schleudersitze im Kreis, rund um ein riesiges Spiegelei. Ein Tisch ist jenem nachempfunden, an dem Robert Musil seinen Jahrhundertroman „Der Mann ohne Eigenschaften“ verfasst hat. Ein weiteres Gebilde greift einen Sketch von Karl Valentin auf, der Schreibtischbeine so lange passend zurechtsägen wollte, bis praktisch nichts mehr übrig war. Und so weiter…

Der „Happy End“-Titel spielt auf Franz Kafkas Romanfragment „Der Verschollene / Amerika“ an. Dessen Hauptfigur Karl Roßmann muss sich in rätselvoller Fremde zurechtfinden. All die Tische und Stühle simulieren denn auch gleichzeitige, massenhafte Einstellungsgespräche mit höchst ungewissem Ausgang. Das stellenweise gespenstische, jedoch mit luzidem Witz funkelnde Großwerk erweist sich als Sinnbild des Lebens als Wettkampf, des unsicheren Ankommens in der Fremde, der permanenten Überwachung.

In der altehrwürdigen Villa Hügel begibt sich das zweite, deutlich stillere Kippenberger-Ereignis. Hier werden zwei Werkgruppen gewürdigt: Plakate und Künstlerbücher.

Die 100 Plakate aus dem Kippenberger-Kosmos nehmen sich im überaus gediegenen Ambiente der einstigen Krupp-Villa wie kleine Nadelstiche aus. Früher hätte das Ganze für einen Skandal getaugt. Inzwischen weiß man längst, dass Kippenberger seinerzeit der Richtige war, um den Kunstbetrieb provozierend auf Trab zu bringen. Auf gar spezielle Weise ist er, dem erst posthum große Ausstellungen gewidmet wurden, heute nobilitiert.

Kippenberger-Plakat in der Villa Hügel: „Gib mir das Sommerloch“ (Galerie Klein, Deutschland, Bonn, 1986 – Siebdruck, 83,8 x 59,5 cm) (© Estate of Martin Kippenberger, Galerie Gisela Capitain, Cologne – Foto: Jens Nober, Museum Folkwang)

Selbst seine beißend spöttischen Plakate sind heute fast schon nostalgische Anlässe zum Lächeln: Nein, wie rotzfrech er doch gewesen ist! Ganz gleich, ob er sich dem Publikum nackt, besoffen oder ernstlich verletzt gezeigt hat. Es war ihm völlig egal, wie unvorteilhaft er auf seinen Selbstdarsteller-Plakaten aussah. Es war just das Gegenteil heutiger „Selfie“-Optimierung.

In einer anderen Zimmerflucht, der Bibliothek des Hauses, werden die historischen Bestände nun dicht an dicht konterkariert von rund 120 Künstlerbüchern. Typisches Beispiel für den ironischen Zugriff: Als Künstlerkollege A. R. Penck sein majestätisches Buch „Die Welt des Adlers“ publiziert hatte, konterte Kippenberger mit niedlichen kleinen Bändchen. Titel: „Die Welt des Kanarienvogels“.

„The Happy End of Franz Kafka’s ,Amerika‘”. Museum Folkwang, Essen, Museumsplatz 1. – Bis 16. Mai 2021. Geöffnet Di bis So 10-18 Uhr, Do und Fr 10-20 Uhr. Eintritt 5 Euro. Katalog (ab April) 48 Euro. www.museum-folkwang.de – Zeitfenster-Tickets (erforderlich): https://museum-folkwang.ticketfritz.de

„Vergessene Einrichtungsprobleme in der Villa Hügel“. Plakate und Künstlerbücher von Martin Kippenberger. Essen, Villa Hügel, Hügel 1. – Bis 16. Mai 2021. Geöffnet Di bis So 10-18 Uhr. Eintritt 5 Euro, Kurzführer gratis. www.villahuegel.de

Ausstellung in der Villa Hügel verlängert

Update vom 20. Mai 2021: Die Ausstellung in der Villa Hügel (wieder geöffnet ab Dienstag, 25. Mai) wird bis zum 4. Juli verlängert!

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„Kind des Ruhrgebiets“

Martin Kippenberger war ein „Kind des Ruhrgebiets“. 1953 als Sohn einer Ärztin und eines Zechendirektors in Dortmund geboren, wuchs er in Essen auf – als „Hahn im Korb“, mit zwei älteren und zwei jüngeren Schwestern.

Martin Kippenberger 1994 mit einem Element seiner damals – in Rotterdam – erstmals gezeigten Kafka-Installation. (Foto: Wubbo de Jong / MAI – Maria Austria Institut)

1968 brach er die Schule ab und begann eine Dekorateurslehre, die er wegen Drogenkonsums nicht abschließen durfte. In den 70er Jahren warf er ein Kunststudium in Hamburg hin.

Bald aber lernte die jüngere Kunstwelt Kippenberger als begnadeten, gewiss nicht uneitlen Selbstdarsteller kennen, der jedoch auch diese Eigenschaft selbstironisch zu brechen wusste. Lebenshunger trieb ihn umher. In Florenz und Berlin hat er gelebt, auch in Paris (um dort Schriftsteller zu werden) und in Kalifornien. Und noch und noch.

Legendär seine Begabung zum Netzwerker, der überall Freunde um sich scharte. Der wohl wichtigste Zirkel war jener mit Werner Büttner, Albert und Markus Oehlen, nachmals den „Neuen Wilden“ zugerechnet, die die Rückkehr zur (heftigen) Malerei kraftvoll betrieben haben. Um 1977 war das, als auch die Punk-Bewegung aufkam, der Kippenberger manchen Impuls verdankte.

Und was geschah 2011 in seiner Geburtsstadt Dortmund? Eine Reinigungskraft schrubbte sein Werk „Wenn’s anfängt durch die Decke zu tropfen“ kurzerhand blank. Gut möglich, dass Kippenberger den Vorfall spaßig gefunden hätte. Aber da hat er nicht mehr gelebt. Am 7. März 1997, nur 44 Jahre alt, ist er in Wien an Krebs gestorben.

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P. S.: Demnächst erscheint eine längere Fassung des Ausstellungsberichts im Kulturmagazin „Westfalenspiegel“.

 




Bedeutsam wie eh und je: George Orwells „Farm der Tiere“ gleich in zwei neuen Übersetzungen

„Kein Tier soll seinesgleichen je tyrannisieren. Schwach oder stark, schlau oder schlicht, wir sind alle Brüder. Kein Tier soll je ein anderes töten. Alle Tiere sind gleich.“ Mit diesem Schlachtruf beginnt der Aufstand der Tiere gegen die Unterdrückung der Menschen. Doch schnell gerät die Revolution aus dem Gleis.

Die Manesse-Ausgabe (Übersetzung: Ulrich Blumenbach). (© Manesse)

Statt Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit gibt es Terror, „Säuberung“ und Diktatur auf der „Animal Farm“, auf der die Schweine die Macht ergreifen und alle anderen Tiere versklaven: George Orwells „Farm der Tiere“ ist ein böses Märchen, eine Abrechnung mit der stalinistischen Pervertierung des Sozialismus. Jetzt sind gleich zwei neue deutsche Übersetzungen des 1945 veröffentlichten Romans erschienen.

Weltliteratur von gnadenloser Präzision

Wenn wir die „Farm der Tiere“ nur als wütende Abrechnung eines frustrierten Sozialisten mit der Einparteien-Diktatur Stalins lesen und hinter jedem Tier nur das Abbild eines realen Menschen suchen, dann bräuchte es wohl auch keine neue Übersetzung. Aber die „Farm der Tiere“ ist ein großes Stück Weltliteratur: perfekt konstruiert, sprachlich schillernd, politisch visionär, zeitlos aktuell. Orwell zeigt uns mit gnadenloser Präzision, wie schnell die schönsten Träume zerplatzen, die buntesten Wunschbilder von skrupellosen Demagogen in ihr Gegenteil verkehrt werden, wie Populismus funktioniert und Propaganda die Hirne vernebelt, wie sich Angst und Anpassung ausbreiten, wenn Gehirnwäsche und Säuberungswellen jeden Widerstand im Keim ersticken und Verschwörungstheorien die Wirklichkeit ersetzen.

Natürlich steht der fiese Eber „Napoleon“ für Stalin, das kluge Schwein „Schneeball“ für Trotzki, das arbeitssame Pferd „Boxer“ und der duldsame Esel „Benjamin“ stehen für die gutgläubige Arbeiterklasse, die blutlechzenden Hunde für die Geheimpolizei, die blökenden Schafe für das leicht manipulierbare Fußvolk: aber sie sind nicht nur Fabelwesen, sondern stimmige Archetypen, prägnante Charaktere, die uns glaubhaft von Machtmissbrauch und Lüge, Verrat und Mord erzählen. Es ist der wohl wichtigste politische Roman des letzten Jahrhunderts und zugleich das Buch der Stunde, das sprachlich immer geschliffen und geschärft und auf den neuesten Stand gebracht werden sollte.

Die dtv-Ausgabe (Übersetzung: Lutz-W. Wolff). (© dtv)

Als Kritik an Stalin in England verpönt war

Orwell hatte eigene Erfahrungen mit dem langen Arm Stalins und war der Überzeugung, dass der Sozialismus nur zu retten ist, wenn man bereit ist, Fehler einzugestehen und die Sowjetunion rücksichtslos zu kritisieren: „Seit gut einem Jahrzehnt habe ich den Eindruck“, schrieb Orwell in einem Essay, „dass das jetzige russische Regime überwiegend böse ist, und ich bestehe auf dem Recht, das laut zu sagen, auch wenn die UdSSR unser Verbündeter in einem Krieg ist, in dem ich unseren Sieg herbeisehne.“

Genau das aber war das Problem: Die meisten englische Intellektuellen, Verleger und die Politiker wollten keine Kritik an Stalin zulassen, niemand mochte den Verbündeten verärgern, man hatte sich wehrlos der sowjetischen Propaganda ausgeliefert und wollte von Säuberungen und Schauprozessen nichts hören.

Orwell wusste, wovon er sprach. Als Freiwilliger hatte er am Spanischen Bürgerkrieg teilgenommen und in einer trotzkistischen Miliz gegen die Faschisten gekämpft. Aber der Einfluss Stalins reichte bis nach Barcelona und führte dazu, dass alle Trotzkisten von ihren sowjettreuen Mitkämpfern verfolgt, vertrieben, ermordet wurden. Orwell konnte sich in letzter Minute nach England retten, doch keiner wollte ihm glauben, niemand wollte seinen Augenzeugenbericht „Hommage an Katalonien“ lesen, und auch als er seinen Roman „Farm der Tiere“ seinem Verleger zeigte, lehnte der auf Anraten der Zensurbehörden ab, ihn zu drucken. Orwell war geschockt von der intellektuellen Feigheit in England und wollte den Roman auf eigene Faust im Selbstverlag herausbringen, doch dann war der Heiße Krieg vorbei und wurde schnell zum Kalten Krieg – und der Roman konnte endlich erscheinen.

Eine Fassung ist deutlich eleganter

Es ist Geschmacksache, welche der beiden neuen Übersetzungen man bevorzugt, manche mögen es exakt, andere poetisch, mache bestehen auf Worttreue, andere schätzen den freien Umgang mit der Vorlage. Man muss nicht gleich tief ins sprachliche Unterholz des politisch komplexen Romans kriechen, es reicht schon, sich den ersten Absatz anzusehen, also den letzten friedlichen Moment, bevor der Aufstand der Tiere losbricht.

In der Version von Lutz-W. Wolff liest man: „Mr Jones von der Manor Farm hatte die Hühnerställe für die Nacht abgesperrt, aber er war zu betrunken, um daran zu denken, die Auslaufklappen zu schließen. Der Lichtkreis seiner Laterne tanzte von einer Seite zur anderen, als er über den Hof schwankte und an der Hintertür seine Stiefel abschüttelte. Er zapfte sich noch ein letztes Bier vom Fass in der Spülküche und machte sich auf den Weg nach oben ins Bett, wo Mrs Jones bereits schnarchte.“

Bei Ulrich Blumenbach heißt es dagegen: „Mr. Jones von der Herrenfarm verriegelte die Hühnerställe zur Nacht, er war so betrunken, dass er vergaß, die Klappen zu schließen. Der Lichtkegel seiner Laterne sprang hin und her, als er über den Hof torkelte, an der Hintertür die Stiefel abstreifte, sich am Fass in die Spülküche ein letztes Bier zapfte und die Treppe hoch ins Bett ging, wo Mrs. Jones schon schnarchte.“

Die Fassung von Ulrich Blumenbach ist eleganter, moderner, flüssiger als die etwas holzige und beflissene von Lutz-W. Wolff. In der Ausgabe von dtv schreibt Ilija Trojanow ein Vorwort, reist in Gedanken auf die schottische Insel, auf der Orwell zurückgezogen lebte und am Roman schrieb. Trojanow macht einen Nachfahren von Esel Benjamin ausfindig und diskutiert mit ihm über die Revolution, die für viele Beteiligte im Gulag endete: Der Kunstgriff soll keck und witzig sein, ist aber selbstverliebt und nervig.

Einfühlsames Nachwort von Eva Menasse

Beim Manesse-Verlag (Blumenbach-Übersetzung) verfasste Eva Menasse ein Nachwort,  sie stellt sich ganz in den Dienst des Buches, beschreibt einfühlsam die Faszination des Romans, die Leiden des Autors und die zeitlose Aktualität des tierischen Märchens. Während dtv noch viele Anmerkungen und eine Zeittafel mit Lebensdaten und Werken von Orwell auflistet, präsentiert der Manesse-Verlag zwei spannende Aufsätze: einen Essay über die von Selbstzensur und Opportunismus bedrohte Pressefreiheit sowie einen subversiven Text, den Orwell für eine ukrainische Ausgabe verfasst hat.

Doch für welche Aufgabe man sich auch entscheidet: Wenn die Tiere mitansehen müssen, wie ihre schweinischen Anführer wieder mit den verhassten Menschen gemeinsame Sache machen, hat der Roman nichts von seinem Schrecken verloren,: „Die Geschöpfe draußen sahen von Schwein zu Mensch, von Mensch zu Schwein und wieder von Schwein zu Mensch, aber es ließ sich schon nicht mehr sagen, wer was war.“ Da kann einem angst und bange werden.

George Orwell: „Farm der Tiere“. Ein Märchen. Aus dem Englischen von Ulrich Blumenbach. Nachwort von Eva Menasse. Manesse Verlag, München 2021, 192 Seiten, 18 Euro.

George Orwell: „Farm der Tiere“. Ein Märchen. Aus dem Englischen von Lutz-W. Wolff. Vorwort von Ilija Trojanow. dtv, München 2021, 192 Seiten, 20 Euro.




Polar! Wirbel! Split!

O Mensch! O Wetter! (Foto: BB)

Es gab einmal Zeiten – nein, ich meine nicht „ohne Handy und Computer“, sondern: mit einfachem Wetter. Oder auch: einfach mit Wetter.

Es waren Zeiten, in denen nicht wegen jeder mittelprächtigen Schneeflocken-Ansammlung medial panisch aufgeschrien und „General Winter“ an die Eiger-Nordwand gemalt wurde. Zeiten, in denen es schlichtweg hieß, es werde in den kommenden Tagen kälter werden; vielleicht noch garniert mit ein paar Temperatur-Angaben. Es hat vollauf genügt. Daraus konnte man schon die entsprechenden Schlüsse ziehen. Pullover an, Mantel an, Mütze auf. Und so weiter. (Sicherlich gibt’s heute -zig YouTube-Videos, die das im Zuge deppenhafter Alltags- und Lebenshilfe erläutern: „Jetzt vorsichtig den Arm durch den Ärmel schieben… bis du die Hand wieder sehen kannst.“).

Wie im Polit-Betrieb, so herrscht jetzt auch rund um die Wetterkarte nur noch endlose Aufregung. Ständig werden wir angeschrien: Hochwasser! Hitzewelle! Schneechaos! Blitzeis! Und wenn das Virus mal eine kurze Verschnaufpause einlegt, werden die Wetterausbrüller erst recht umso lauter. Jetzt erzählen sie gerade uns etwas vom erschröcklichen „Polarwirbel-Split“, der uns spätestens am kommenden Wochenende bittere Kälte bescheren werde.

Polar! Wirbel! Split! Das klingt doch nach akuter Gefahr sondergleichen. Werden wir alle in Iglus hausen müssen? Wird uns der Russe die Gasheizung abdrehen, damit wir seinen vermaledeiten „Sputnik V“-Impfstoff kaufen? Hiiilfäääää!

So oder ähnlich geht’s auf allen Feldern der vernetzten Gesellschaft her. Wie soll man diese permanenten „Experten-schlagen-Alarm“-Zustände eigentlich mental verkraften? Der Blutdruck müsste ständig über die Normalmarke hinausschießen, wenn man das alles ernst nähme. Und der übelste Witz bei all dem? Der tatsächlich übermächtige Klimawandel geht im tagtäglichen Geschrei beinahe unter. Der Daueralarm trübt die Wahrnehmung der wirklichen Katastrophe.




Wie Heimat zu erfahren und zu schildern sei: Judith Kuckarts Dortmunder Hörfilm „Hörde mon Amour“

Blick auf die Siedlung Am Sommerberg/Am Winterberg in Dortmund-Hörde. (Screenshot aus dem besprochenen Film / © Judith Kuckart)

Dortmund vergibt bekanntlich (und endlich) ein Literaturstipendium. Das temporäre Amt, das andernorts meist Stadtschreiber(in) heißt, nennt sich hier Stadtbeschreiber*in. Die literarisch etablierte Judith Kuckart hat den Anfang gemacht. Ihr Dortmunder Aufenthalt begann im August und dauert bis Ende Januar 2021. Leider wurde auch ihre Tätigkeit von Corona eingeschränkt. Anders als vorgesehen, hat sie keine theatrale Umsetzung ihrer Ortserkundungen verwirklichen können, sondern einen rund einstündigen „Hörfilm“ produziert. Es ist ein „Heimatfilm“ ganz eigener Art.

Die 1959 in Schwelm geborene Judith Kuckart hat als Kind – aus traurigen familiären Gründen – „vier oder fünf Sommer“ im Dortmunder Ortsteil Hörde verbracht und kennt also noch das Alltagsleben in der früheren Stahlwerksgegend. In jenen Jahren war sie etwa 9 bis 14 Jahre alt. „Hörde war eine Schule fürs Leben“, sagt sie. Und Hörde sei für immer Teil ihrer „inneren Landschaft“. Ein „Downtown“ Dortmund, also eine zentrale Innenstadt, habe es für sie damals nicht gegeben. Folglich trägt der Film den Vorort liebevoll im Titel: „Hörde mon Amour“.

Westfälische Witterung

2017, als der Kongress der Autorenvereinigung PEN in Dortmund stattfand, hatte die heute in Berlin lebende Judith Kuckart Gelegenheit, erneut westfälische Witterung aufzunehmen. Zwar hat sie für die Stipendienzeit in der Nordstadt am Dortmunder Borsigplatz gewohnt, sich aber auf den Spuren ihrer Kindheitserinnerungen weit überwiegend wieder „auf den Hügeln von Hörde“ umgetan. Das 1340 gegründete (und 1928 nach Dortmund eingemeindete) Hörde hat schon immer ein gewisses Eigenleben geführt und lange Zeit mit Dortmund auf Kriegsfuß gestanden. Auch daraus bezieht der ebenso eindringliche wie wohltuend ruhige Film untergründige Spannungsmomente.

Die Autorin und Dortmunder Stadtbeschreiberin Judith Kuckart – hier in Berlin, März 2019. (Foto: Burkhard Peter)

Äußerst langsam und behutsam tastet die Kamera (Martin Rottenkolber) Einzelheiten ab, die Erinnerung in sich bergen (könnten): die Siedlung „Am Sommerberg“/„Am Winterberg“ im vogelperspektivischen Überblick; sodann geht’s Fassade für Fassade an verwitterten Häusern entlang. Auch sieht man eine typische Wohnung daselbst mit allen Einzelheiten, die nicht gerade auf Wohlstand hindeuten und wirken, als seien sie rücklings aus der Zeit gerutscht. Hinzu kommt ein verfallenes, inzwischen auch verwunschenes früheres Schwimmbad („Schallacker“), dessen Areal zur Stätte des Urban Gardening mutiert ist. Lauter wehmütige Ansichten von zumeist menschenleeren Orten. Kein Wunder, wenn dabei Kopfkino entsteht, zumal als Bezugspunkt ein kartographierter, aber nicht existierender Phantom-Ort bei New York aufgerufen wird, der zur Kultstätte für Jugendliche von weither geraten ist. Auch Hörde ist nicht zuletzt ein imaginäres Gelände.

„Schäbiges Paradies“

Nicht in den Bildern, wohl aber in den Texten dieses „Hörfilms“ scheint auf, wie sehr hier einst das pralle, wenn auch oft etwas ärmliche Leben sich begeben hat. Im besagten Schwimmbad, so heißt es, sei gleichsam alles Lebendige geschehen, es seien auf den Liegedecken in diesem „schäbigen Paradies“ auch Kinder gezeugt worden. Mittlerweile gibt es einen machtvollen und scharfen Kontrast, ein ganz anderes Hörde, das gleichfalls, wenn auch eher schaudernd, ins Auge gefasst wird: die Gegend rings um den künstlich erstellten Phoenixsee mit ziemlich seelenlosen Neubauten zu exorbitanten Preisen. Dies sind keine Kindheitsräume mehr, aber vielleicht Orte für unstete „Wandermenschen“, die allüberall ihresgleichen finden.

Judith Kuckart erinnert sich hingegen lieber an die Jahre um 1968, als die Frauen in der Hörder Siedlung ganztags im Morgenmantel umher gingen, die bescheidenen Haushalte führten und Kinder versorgten, während die Männer bei Hoesch malochten oder in der Kneipe zechten. Eine 1979 aus Jamaika zugewanderte Frau bedauert den späteren Wandel gleich zu Beginn des Films: Früher sei ihr der Lichtschein des Hochofenabstichs stets wie eine wärmende, tröstende Sonne erschienen, später sei hier und in anderen Stadtteilen jedoch „alles den Bach runtergegangen“. Um in Hörde herzlich und herzhaft heimisch zu werden, muss man wahrlich nicht dort geboren sein.

Wo wir uns sicher bewegen können

Fixsterne in Kuckarts Hörder Kindheitssommern waren mehrere Tanten, die dort gelebt haben. Eine von ihnen ist mit 24 Jahren gestorben, ihr kurz vorher geborenes Baby hielt sie bis zuletzt fest umklammert. „Oma Schüren“ (in Dortmund heißen Großeltern familiär häufig nach dem Stadtteil) ist gegen Ende einer Kinovorführung in der – bis heute als letztes Vorort-Lichtspielhaus existierenden – „Postkutsche“ in Aplerbeck gestorben. Heute kann niemand mehr sagen, welchen Film die Großmutter zuletzt gesehen hat.

Man ahnt, dass der Ton zum Film sich keineswegs in „Dönekes“ erschöpft, sondern wesentlich tiefer lotet, manchmal ganz unversehens. Nach und nach stellt sich mit zunehmender, freilich allemal sanfter Dringlichkeit die Frage, was eigentlich „Heimat“ sei und wie von ihr zu erzählen wäre. „Heimat ist der Raum, in dem wir uns immer sicher bewegen können“, heißt es an einer Stelle. Ob es zugleich ein konkreter Ort ist, steht allerdings dahin. Überhaupt ergeben sich viele Fragen: Ist die Heimat ein Ort oder ein Gefühl? Kann man sesshaft werden in der Sehnsucht nach Heimat? Kann man eine Heimat gründen oder entwerfen? Kann Sexualität eine Heimat sein? Und so fort. Hier lagert Stoff fürs eine oder andere weitere Buch im Sinne des „autofiktionalen“ Erzählens, der Selberlebensbeschreibung, angereichert mit fiktionalen Elementen, wie sie seit einiger Zeit wieder vermehrt Teile der Literatur prägt (und nicht die schlechtesten).

Um das Erzählte noch genauer zu verankern, versichert sich Judith Kuckart der Kenntnisse einiger langjährig ortsansässiger „Heimatexpert(inn)en“. Jede(r) von ihnen trägt ureigene Bruchstücke zum Mosaik der Heimatlichkeit bei. Und nein: Das berühmte Diktum von Ernst Bloch („…so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.“) kommt an keiner Stelle vor.

„Hörde Mon Amour“. – „Hörfilm“ von Judith Kuckart, 2020. Zu sehen auf dem YouTube-Kanal des Dortmunder Literaturhauses: 

https://www.youtube.com/watch?v=v9iAHql-NJI

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Im Mai 2021 soll Anna Herzig übernehmen

P.S.: Als nächste Dortmunder Stadtbeschreiberin wird – vermutlich ab Mai 2021 – Anna Herzig aus Salzburg in der Stadt sein. Sie hat keine Dortmunder Kindheitserfahrungen, will aber hier an ihrem Roman „Die Auktion“ weiterarbeiten, der in einem Intercity zwischen Wien und Dortmund spielt…




„Was für ein Jahr!“ (Gesammelte Grußformeln, 2020er Corona-Edition) – Auch die Revierpassagen wünschen zu den Festtagen alles Gute!

Statt des Baumschmucks und/oder Feuerwerks… (Foto: Bernd Berke)

Freimütig zugegeben: Grüße zu Weihnachten und zum Jahreswechsel sind kein leicht zu absolvierendes Genre; ganz gleich, ob nun im Chefsprech (Grundmuster: Vieles ist geschehen, vieles bleibt noch zu tun – aber wir werden es schaffen, wenn sich alle ins Zeug legen) oder im sanftmütigen Achtsamkeits-Jargon.

Schauen wir uns doch in prägnanten Auszügen mal ein paar notgedrungen floskelhafte Beispiele aus aktueller Verfertigung an (siehe Quellen am Schluss des Beitrags), vorwiegend aus dem Kulturwesen der Ruhrgebiets-Region – und zwar ohne den hochmütigen Anspruch, es besser zu können. So beginnen die Texte nach der jeweiligen Anrede:

„…ein ereignisreiches Jahr geht zu Ende…“

„Ein bewegendes Jahr neigt sich dem Ende.“

„Ein turbulentes Jahr neigt sich dem Ende zu…“

„…ein bewegtes Jahr geht zu Ende.“

„Dieses Jahr war wirklich eine Herausforderung.“

„2020 war für uns alle ein Jahr der besonderen Herausforderungen.“

„…was für ein Jahr!!!“

„…2020 war ein besonderes Jahr.“

„…am Ende eines schwierigen, von Einschränkungen und Verlusten geprägten Jahres…“

„…vor genau einem Jahr haben wir auf ein tolles und ereignisreiches Jahr zurück geschaut und waren voller guten Mutes…“

„…blickt zurück auf ein Jahr, das von besonderen Begegnungen geprägt war – trotz der Ausnahmesituation.“

„Durch Corona hat sich Vieles verändert.“

„2020 war ein Jahr, das allen sehr viel abverlangt hat – im Privaten wie im Beruflichen.“

„…üblicherweise geben wir mit diesen Zeilen einen munteren Überblick über das vor uns liegende neue Halbjahr. Doch die vergangenen Monate haben…“

„…uns steht ein ereignisreiches Jahr bevor…“

Als Reaktion auf viele dieser Jahreswechsel-Formeln würde sich das entwaffnende Loriot’sche „Ach was“ eignen, das ja eh universell anwendbar ist. Doch natürlich folgen auf die einleitenden Floskeln jeweils kurze Jahresbilanzen und Ausblicke mit klugen, kreativen und kultivierten Gedanken zum verfließenden 2020.

Möge uns 2021 weniger Anstrengungen und Verdruss bereiten. Und vergesst nicht: Trump ist fast schon weg – und der Impfstoff ist unterwegs!

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Die Zitate (selbstverständlich ohne direkte Zuordnung) stammen aus Grußbotschaften von (alphabetische Reihenfolge):

DASA Arbeitswelt Ausstellung, Dortmund
Deutscher Chorverband
Deutscher Journalistenverband (DJV)
Gustav-Lübcke-Museum, Hamm
HMKV – Hartwarte Medien Kunst Verein, Dortmund
Kunsthalle Bremen
Kunsthalle Recklinghausen
Museum für Kunst und Kulturgeschichte, Dortmund
Museum Ostwall im Dortmunder U
Regionalverband Ruhr, Essen
Ruhrfestspiele, Recklinghausen
Ruhr Museum, Essen
Schauspiel Dortmund
Spiegel online, Hamburg
(Die) Zeit, Hamburg

(Zitatliste wird noch bis zum Jahreswechsel ergänzt)




Deutsche Depressionen – Durs Grünbeins geschichtliche Sondierungen „Jenseits der Literatur“

Durs Grünbein, 1962 in Dresden geboren, ist einer der bedeutendsten deutschsprachigen Dichter der Gegenwart. Für sein vielfältiges Werk aus Lyrik und Essays, Tagebüchern, Übersetzungen und autobiographischer Prosa hat er den Büchner-, den Hölderlin-, den Nietzsche-Preis bekommen. Sein neues Buch heißt „Jenseits der Literatur. Oxford Lectures“. Genau genommen sind es die „Lord Weidenfeld Lectures“, ins Leben gerufen vom Journalisten, Verleger und Diplomaten George Weidenfeld, dem großen Briten mit österreichisch-jüdischen Wurzeln, einem Brückenbauer über nationale, politische und religiöse Grenzen hinweg.

Eingeladen wurden und werden Geisteswissenschaftler und Schriftsteller: Umberto Eco, Amos Oz, Mario Vargas Llosa, und jetzt Durs Grünbein. Eine passende Wahl: Denn auch Grünbein ist ein notorischer Brückenbauer, er kennt keine künstlerischen Grenzen, seine Dichtung kreist immer um Poesie und Politik, Literatur und Philosophie. In den Vorlesungen versucht er allem, was sein Denken und sein Leben ausmacht, was sein Schreiben bestimmt und ihn mit den politischen Verwerfungen und historischen Bewusstseinsströmen verbindet, auf den Grund zu kommen.

Vom Verstummen, Vergessen und Verdrängen

„Jenseits der Literatur“ ist etwas, was alles Schreiben infrage stellen und unmöglich machen kann, was uns verstummen und verzweifeln lässt, uns belastet und bedrängt, was wir aber erinnern und bearbeiten müssen, um frei atmen, denken und schreiben zu können: Es ist die Erfahrung, Teil eines Geschichtsprozesses zu sein, einer Nation, einer Sprache, einer Familie, die das Denken beeinflusst und die Sicht auf die Welt bestimmt.

„Jenseits der Literatur“ liegen Verstummen, Vergessen, Verdrängen der jüngeren deutschen Geschichte: die Verbrechen des Nationalsozialismus, Krieg und Holocaust, das Stalin-Trauma der DDR, der Opportunismus der Mitläufer, die Unfähigkeit zu trauern, die Nachwirkung von Propaganda, Manipulation und Gehirnwäsche, die sich wie eine Grabplatte über die deutsche Geschichte gelegt hat und bis heute die deutsche Gegenwart verdunkelt. „Jenseits der Literatur“ sind die „Abgründe der Geschichte“, vor denen es einen graust. Aber es gilt, das Vergessene auszugraben und sich von den Schwindelgefühlen der Geschichte zu befreien. Denn, da ist sich Grünbein sicher, „es gibt die Literatur, die Geschichte in Fiktionen durchkreuzt“, es ist die Literatur „als Verabredung zwischen den gewesenen Geschlechtern und unserem“.

„Eine violette Briefmarke“ als Ausgangspunkt

Grünbein taucht hinab in seine Kindheitserinnerungen, macht eine „violette Briefmarke“ zum Ausgangspunkt der Überlegungen. Er findet sie beim Stöbern in einem alten Album, die „violette Briefmarke“ zeigt den Kopf von Adolf Hitler, und Grünbein verfällt sofort in eine von Scham und Schuld belastete „Erinnerungs-Depression“. Schon als Kind in der DDR ahnte er, dass Briefmarken von diesem Dämon, der mit einem Bilder-Verbot und einem Tabu belegt war, etwas Verbotenes und Ungeheuerliches waren. In einem Akt der Teufelsaustreibung hatte er sie deshalb verkehrt herum, kopfüber ins Album sortiert.

Als er zufällig im Haus seiner Großeltern auf ein vergilbtes Exemplar von „Mein Kampf“ stößt, ahnt er, etwas Obszönes und Verbotenes in den Händen zu halten, etwas, worüber er auf keinen Fall reden darf. Dieses Verstecken, Verdrängen, Vergessen, von seinen Eltern und Großeltern auf ihn, den Jungen aus Dresden, übertragen, dient ihm heute dazu, über die gesellschaftliche Amnesie nachzudenken, über die Mechanismen der Inszenierung von Macht und die Manipulation der Massen, über die Rumpelkammer der deutschen Geschichte, in die er gefallen ist wie einst Alice in den Kaninchenbau des Wunderlandes.

Von der „violetten Briefmarke“, die früher von allen Deutschen – in einem Akt erotischer Symbiose mit dem politischen System – angeleckt, auf Postkarten geklebt, an die Front und in die Vernichtungslager geschickt wurde, ist die Unruhe ausgegangen, die Grünbein bis heute verfolgt: „Ich werde das dumpfe Gefühl nicht los“, schreibt er, „daß sie auch in Zukunft hier und da noch meinen Weg kreuzen wird.“

„Keiner springt aus der historischen Zeit…“

Grünbein bohrt historisch tiefer und holt empor, was bis heute als Gespenst durch die Geschichte geistert und den Traum von Rechtspopulisten beherrscht, was rückwärts gewandte Visionen ausmacht, regressive Fantasien, aggressive Massenbewegungen, die von einem Unbehagen an der Kultur und einer Verklärung der Vergangenheit gespeist werden. Um die Anhänger von „Retropia“ zu verstehen, reist Grünbein in die faschistische Vergangenheit, fährt über Hitlers Autobahnen, deren Bau als „heroische Arbeitsschlacht“ inszeniert wurde und zur Militarisierung der Gesellschaft diente. Er steigt in den Himmel, um den „Luftkrieg der Bilder“ zu beschreiben, den von Deutschland angezettelten Bombenkrieg, die totale Zerstörung.

Schließlich landet Grünbein bei seiner Kindheit in Dresden, als auf dem Weg zur Schule ein russischer Militär-Konvoi an ihm vorbei donnert und ihm das erste Mal dämmert, in was er da hineingeboren wurde. „Keiner springt aus der historischen Zeit, niemand entzieht sich der Formung durch Geschichte“, schreibt Durs Grünbein und beendet seinen Versuch, die Welt mit eigenen, poetischen Augen zu sehen, mit Worten von Ingeborg Bachmann: „Die Geschichte lehrt dauernd, aber sie findet keine Schüler.“

Durs Grünbein: „Jenseits der Literatur. Oxford Lectures“. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020, 168 Seiten, 24 Euro.




Goethe-Institut: Corona-Probleme und Abkehr vom bloßen Kulturexport

Warum nicht dabei sein, wenn die Jahrespressekonferenz des Goethe-Instituts schon per Livestream gesendet wird? Sonst hat man sich gegen Jahresende stets in Berlin versammelt, die Anreise aus dem Revier war gar zu aufwendig. Aber so, wenn das Ganze frei Haus aus der Münchner Goethe-Zentrale kommt? Na, klar. Doch hat es sich auch gelohnt?

Neue Präsidentin des Goethe-Instituts: Carola Lentz. (Foto: Goethe-Institut/Loredana La Rocca)

Wie man’s nimmt. Es war eine jener Pressekonferenzen, die oft und gern mit der Formel „…zog positive Bilanz“ überschrieben werden. Doch eigentlich stimmt das diesmal nur sehr bedingt, denn selbstverständlich hat auch hier Corona die Agenda diktiert. Und da hat man denn doch zwangsläufig Verluste eingefahren, insbesondere bei den Deutsch-Sprachkursen in aller Welt, die meist keine Präsenzveranstaltungen mehr waren.

Boom der Online-Sprachkurse

Wie Goethe-Generalsekretär Johannes Ebert sagte, wurde im Gegenzug eine exorbitante Steigerung bei den Online-Sprachkursen erzielt. Die Zahl der Teilnehmenden schnellte um rund 500 Prozent  auf etwa 62.000 hoch. Das war wohl nur möglich, weil das Goethe-Institut sehr zeitig eine digitale Strategie verfolgt hatte. Damit wurden die Defizite zwar nicht vollends kompensiert, doch immerhin gemildert: Vom eigens aufgespannten „Rettungsschirm“ über 70 Millionen Euro, den der Bund „wegen Corona“ fürs Goethe-Institut bereitstellte, musste bislang nur ein geringer Teil in Anspruch genommen werden. Dazu muss man wissen, dass das Institut mit seinen 157 Niederlassungen in 98 Ländern etwa ein Drittel seines Jahresbudgets selbst erwirtschaftet, nämlich rund 145 Millionen Euro. Geschäftsführer Rainer Pollack hatte dazu noch viel mehr Zahlenmaterial parat, das wir hier nicht im Detail ausbreiten können.

Weltweite Netzwerke knüpfen

Generalsekretär des Goethe-Instituts: Johannes Ebert. (Foto: Martin Ebert)

Sprachkurse sind nur eine, wenn auch zentrale Aktivität des Goethe-Instituts. Hinzu kommt der allgemeine Kulturaustausch im globalen Maßstab, inbegriffen auch die Bildung von nachhaltigen Netzwerken, die in und nach Pandemie-Zeiten Bestand haben sollen.

Die neue Goethe-Präsidentin Prof. Carola Lentz, die derzeit an einem Buch zur Geschichte des Instituts arbeitet, skizzierte als Leitlinie, dass man zusehends über den bloßen Kulturexport hinausdenke – just in Richtung weltweiter Netzwerke, die auch zivilgesellschaftliche und im weitesten Sinne politische Fragen aufgreifen sollen. Generalsekretär Ebert ergänzte weithin übliche Stichworte wie Diversität und Teilhabe sowie Generalthemen wie Klimawandel, Rassismus und Migration – Signale, wie sie wahrscheinlich in etlichen, doch nicht in allen Partnerländern bereitwillig aufgegriffen werden.

Zuhören wird immer wichtiger

Allgemein gilt, dass man sich nicht nur in anderen Ländern bemerkbar machen will, sondern zunehmend beachten will, was Kulturschaffende und sonstige Bewegungen in all diesen Ländern zu sagen und zu zeigen haben. Zum Kulturexport soll sich also ein Kulturimport gesellen.

Ein beispielhaftes Projekt stellte die live zugeschaltete Anisha Soff vom Goethe-Institut in Nairobi (Kenia) vor. Dort arbeitet man mit einheimischen Künstlerkollektiven seit Jahren Lücken der kenianischen Museen auf, die vor allem entstanden sind, weil „wahnsinnig viele“ (Soff) Objekte aus Kenia in Museen der westlichen Welt gehortet, aber vielfach nie gezeigt werden. Oft sei deshalb nicht einmal klar, was sich überhaupt wo befinde. Erste Schneisen ins Dickicht der Unzugänglichkeit will man mit einer Objekt-Datenbank schlagen, die mittlerweile 32.000 Stücke umfasst. Es wird noch weiter gesammelt, allerdings dürfte sich im Laufe der Zeit immer dringlicher die Frage nach Restitution (Rückgabe an afrikanische Museen) stellen. Kein gänzlich konfliktfreies Thema.

Im nächsten Jahr das 70. Jubiläum

Im nächsten Jahr steht ein bedeutsames Jubiläum an: Am 8. August 2021 jährt sich die Gründung des Goethe-Instituts zum 70. Mal. Man darf wohl annehmen und hoffen, dass dies im angemessenen Rahmen begangen werden kann, wie denn überhaupt der Institutsbetrieb sich ganz allmählich normalisieren dürfte. Auch das Außenministerium, dem das Institut vertraglich verbunden ist, wird sich die Jahrestags-Gelegenheit zur kulturellen Repräsentation mutmaßlich nicht entgehen lassen.

 

 




Digitalisierung, Anfangszeiten, Distanzunterricht – die Mühen der Ebenen in der lokalen Schulpolitik

Hier wissen Schüler und Eltern (hoffentlich) Bescheid: die schulspezifischen Apps Google Classrooom und Untis auf einem iPad-Bildschirm. (Screenshot: BB)

Wenn die Dortmunder Stadtelternschaft (d. h. vor allem: die Schulpflegschaftsvorsitzenden) mit der Schuldezernentin Daniela Schneckenburger (Grüne) eine Videokonferenz abhält, dann kann man schon mal interessiert kiebitzen. Und was soll ich euch sagen: Da lernt man ein wenig die oft zitierten Mühen der Ebenen kennen.

Beim Online-Treff mit rund 40 Leuten ging’s heute Abend wahrlich nicht um den „großen Wurf“, sondern um recht kleinteilige, teilweise ziemlich knifflige Fragen, etwa zur Bildungsgerechtigkeit und zur Digitalisierung der Schulen.

Auf den immer dringlicheren Ruf nach Klassenteilungen, Wechsel- und Distanz-Unterricht in Corona-Zeiten konnte die Schuldezernentin nur ansatzweise eingehen, denn diese Themenbereiche fallen hauptsächlich in die Verantwortung des Landes NRW. Die Gemengelage scheint sehr unübersichtlich zu sein. Da gab es zwar kürzlich einen Landeserlass, der es örtlichen Schulen bzw. Gesundheitsämtern bei entsprechender Infektionslage freistellte, für Distanzunterricht zu sorgen. Dieser Erlass aber wurde wieder zurückgerufen. Daniela Schneckenburger musste bekennen, sich mit der „Distanzlernverordnung“ (man lasse sich das Wort auf der Zunge zergehen) des Landes nicht sonderlich gut auszukennen. Sowohl politisch als auch juristisch ist die Angelegenheit offenbar kompliziert. Wer wollte sich anmaßen, hierin Expertise zu besitzen?

Man sollte doch, man müsste mal…

Anke Staar, Vorsitzende der Stadteltern Dortmund (und auch der Landeselternschaft), sagte, sie habe den Eindruck, auf diesem Felde gehe es oft nicht um die Sache, sondern vielfach um  „parteipolitisches Geplänkel“. NRW-Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP) mache sich dabei schon mal „einen schlanken Fuß“.

Geradezu quälend war sodann das Gespräch über Fragen der Information und Transparenz in der Schulpolitik, sprich: Erreichen die Botschaften aus der Landes- und Kommunalpolitik die Schul- und Klassen-Pflegschaftsvorsitzenden überhaupt in ausreichendem Maße? Als säße man in dieser Frage erst jetzt endlich einmal beisammen, machte Daniela Schneckenburger schwierige Datenschutz-Regelungen geltend. Immerhin einigte man sich darauf, dass es möglich sein müsse, die Elternvertretungen nicht unter privaten Mailadressen, sondern unter neutralen Schuladressen anzuschreiben. Man sollte doch, man müsste mal…

Ein ganzer Schwall von Zahlen

Noch so ein leidiges Thema: die Digitalisierung der Schulen und die Ausstattung mit entsprechenden Geräten – sowohl für (bedürftige) Schüler(innen) als auch fürs Lehrpersonal. Hier zeigte sich Schuldezernentin Schneckenburger präpariert, um jeder etwaigen Kritik am angeblich langsamen Vorgehen der Stadt zu begegnen. Sie wartete mit einem wahren Schwall von Zahlen auf. Wie viele Millionen Euro für diese Zwecke bereitstünden, was davon bereits abgerufen sei, wie viele Tausend Geräte jetzt und demnächst ausgeliefert werden könnten. Und so weiter, und so fort. Wie schnell die Geräte jetzt zur Verfügung stünden, hänge allerdings nicht zuletzt davon ab, „wie schnell die Menschen in China arbeiten.“ Sprach’s – und musste dann flugs erst einmal ihr eigenes iPad ans Stromnetz anschließen, damit der Akku nicht leerlief.

Apropos iPad: Die Stadt Dortmund, finanziell bekanntlich nicht gerade auf Rosen gebettet, gönnt sich und ihren Schulen die vergleichsweise teuren Apple-Apparaturen, also vor allem iPads. Familien, die daheim mit Android-Geräten arbeiten, müssen diese folglich selbst einrichten und warten. Ob immer alles kompatibel ist, wird sich zeigen. Unklar zudem, ob in weniger begüterten Haushalten überall flächendeckendes WLAN bereitsteht.

Kostspielige iPads per Leihvertrag

Fragen über Fragen: Was geschieht im Falle von Diebstahl oder Beschädigung? Da die Geräte sonst nicht zu vernünftigen Preisen versicherbar sind, werden sie per Leihvertrag ausgegeben. Einrichtung und Wartung übernimmt – bei jedem einzelnen der vielen Tausend iPads – das „Dortmunder Systemhaus“. Ein gar mühseliges und langwieriges Unterfangen. Kein Wunder, dass die meisten Geräte nicht morgen oder übermorgen nutzbar sein werden. Aber die Digitalisierung ist eben nicht erst mit Corona, sondern schon lange vorher verschlafen worden; in ganz Deutschland, beileibe nicht nur in Dortmund.

Schließlich noch die Frage nach einer Entzerrung des Unterrichtsbeginns, um auch die Verkehrsströme zu entlasten. Derzeit wäre es möglich, die Schule zwischen 7.30 und 8.30 beginnen zu lassen. Die Stadt, so Daniela Schneckenburger, habe die Schulen gebeten, entsprechende Möglichkeiten zu sondieren. Eine Weisungsbefugnis habe man indes nicht. Ein neuer Erlass sieht vor, dass der Unterricht künftig sogar zwischen 7 und 9 Uhr anfangen kann. Das mag vernünftig und flexibel klingen, aber Daniela Schneckenburger ließ schon mal etwas Luft heraus: Es könne passieren, dass Familien mit mehreren Kindern und diversen elterlichen Arbeitszeiten sich plötzlich auf drei oder vier verschiedene Anfänge einrichten müssten. So hat eben alles seine Licht- und Schattenseiten.

Wir aber blicken gleichermaßen froh und bang den Weihnachtsferien entgegen – und dem, was danach kommen mag.




Wie sieht das Museum der Zukunft aus? Wuppertaler Gesprächsreihe sammelt Ideen

Wie können sich die Museen – auch und gerade „seit Corona“ – aufstellen, um womöglich neues Publikum zu erschließen? So lautet eine Kernfrage der fünfteiligen Gesprächsreihe, zu der Roland Mönig, neuer Direktor des Wuppertaler Von der Heydt-Museums, Kolleg(inn)en aus anderen NRW-Häusern eingeladen hat. Just wegen Corona ist die Reihe nun als Videoschalte ins Netz gewandert. Das Motto lautet nach wie vor: „possible to imagine“. Und ja: So manches ist vorstellbar.

„possible to imagine“: So sieht es aus, wenn man sich zur Wuppertaler Videoschalte anmeldet. (Screenshot des Zoom-Bildschirms)

Gestern Abend schloss sich als vierter von fünf Terminen ein Gespräch mit Felix Krämer an, dem Direktor des Düsseldorfer Kunstpalastes. Dessen ausgedehnte Häuser beherbergen beispielsweise auch angewandte Kunst und Design, so dass Krämer und sein Team im Zweifelsfalle auch Rasierapparate ausstellen könnten, was den Zugang zu breiteren Publikumsschichten erleichtern mag – ebenso wie das allgemeine Ziel einer allzeit verständlichen Vermittlung. Sehr breit ist denn auch das Ausstellungsspektrum, es reicht von Caspar David Friedrich und der Düsseldorfer Malerschule bis hin zu einer Mode-Schau, die von Claudia Schiffer kuratiert wird (vermutlich ab August 2021).

Wenn die „Palast*Pilotinnen“ loslegen

Die Düsseldorfer haben einiges in Gang gesetzt, um auch Leute zu erreichen, die sonst nicht ins Museum gehen. Nur 5 bis 10 Prozent aller Deutschen, so Felix Krämer, betreten überhaupt Museen, man habe also ein Legitimationsproblem. Gegensteuern möchte er mit Aktionen wie der Suche nach „Palast-Pilot*innen“, die an der Neupräsentation der Sammlung gestaltend mitwirken sollen und aus ganz verschiedenen Berufsfeldern stammen. Kunsthistorische Vorkenntnisse waren nicht gefragt, als zur Teilnahme aufgerufen wurde. Über 1000 Leute meldeten sich, dann wurde gesiebt und gesiebt, bis schließlich 10 übrig blieben. Über die Auswahlkriterien hätte man gerne noch Näheres erfahren. (Übrigens: Von Migrantinnen und Migranten als Zielgruppe war nicht die Rede, jedenfalls nicht ausdrücklich).

Endlich mal ein richtiges Ölbild sehen

Weitere Aktivität: die in ihrer Art bundesweit einmalige, spezielle Kinder-Website des Museums. Auch gehen die Leute vom „Kunstpalast“ zwar nicht mit Spitzenstücken, wohl aber mit preiswert erworbenen Ölgemälden des 19. Jahrhunderts in Grundschulen, denn viele, viele Kinder haben tatsächlich noch nie ein echtes Ölbild gesehen, sondern allenfalls Reproduktionen oder elektronische Wiedergaben. Krämer (Düsseldorf) und Mönig (Wuppertal) waren sich einig: Es herrsche ein ungeheurer Bilderüberschuss bei gleichzeitiger „Bilderarmut“.

Der Corona-Frust war Krämer deutlich anzumerken. In diesen Zeiten ein (geschlossenes) Museum zu leiten, sei „einfach Mist“, befand er unumwunden. Zugleich lege die Pandemie die Schwächen bisheriger Planungen bloß. Zumal in Zeiten, in denen alle Einnahmen wegfallen, die meisten Ausgaben aber weiterlaufen, dränge sich die Frage auf: „Muss denn wirklich jede Ausstellung sein?“

Ein wenig provokant auch Krämers lautes Nachdenken über Depots, die durch Ankäufe immer mehr gefüllt und überfüllt würden. Wolle man denn wirklich das zehnte oder fünfzehnte Depot bauen, statt auch einmal Arbeiten zu v e r kaufen?

„…wie nach einem Zahnarztbesuch“

Felix Krämer richtete den Blick auf andere europäische Länder, wo man viel mehr jüngeres Publikum („unter 30″) in den Ausstellungshäusern sehe und wo man digitalen Vermittlungsformen aufgeschlossener gegenüberstehe. Als leuchtende Beispiele nannte er vor allem England und die Niederlande. Dort, so pflichtete Roland Mönig bei, würden etwa Shoppen, Kaffeetrinken und Museumsbesuch nicht so säuberlich getrennt wie bei uns. Hierzulande trinke man den Kaffee immer erst nach Absolvierung des Museums, gleichsam als Trost – „wie nach einem Zahnarztbesuch…“

Selfies vor Kunstwerken? Kein Problem!

E i n e Zukunft, das kristallisierte sich aus dem Gespräch heraus, liegt für die Museen offensichtlich in Formen der Virtual Reality (VR) oder auch Augmented Reality (AR). Krämer verwies auf ein Vorhaben, bei den virtuelle Skulpturen im Düsseldorfer Hofgarten verteilt werden sollen, die dann mit Smartphone oder Tablet aufgespürt und aufgerufen werden können – fast wie bei „Pokémon Go!“ Nützliche Nebeneffekte: Bei einer imaginären Ausstellung entfallen alle Mühen des Transports. Kein Kunstwerk kann beschädigt werden. Und man könnte eine solche Schau simultan an andere Orte „beamen“. Allerdings dürfte auch zumindest eine Dimension der Sinnlichkeit fehlen.

Einmütigkeit herrschte auch zum Thema Fotografierverbot im Museum. Sowohl Krämer als auch Mönig lehnen derlei Restriktionen rundweg ab. Im Gegenteil: Fotografieren (mitsamt Selfies vor den Kunstwerken) sei geradezu erwünscht. Na, da schau her!

Alles nur noch virtuell? Beileibe nicht. Roland Mönig betonte auch, dass Kunstwerke, wie sie in Museen gezeigt werden, „konkrete Körper“ seien, die beim Betrachten „Nähe herstellen“. Darin bestehe immer noch eine Kernaufgabe der Ausstellungs-Institute.

Was zuvor geschah – und was noch folgt

Die Gesprächsreihe war am 30. September mit Roland Nachtigäller eingeleitet worden, dem Chef des Marta-Museums in Herford. Er überraschte mit einer „steilen These“ (Roland Mönig), die da lautete: „Das Museum der Zukunft wird kein Museum mehr sein.“ Sodann stellte Katia Baudin, Direktorin der Krefelder Kunstmuseen, ihr Institut vor allem als „Ort des Experiments“ vor. Wer, wenn nicht die Museen, solle dafür zuständig sein? Dritter Gesprächsgast war der Journalist und Kunstkritiker Stefan Koldehoff (Deutschlandfunk), der in Museen vor allem Stätten der Kontroverse sieht und allenfalls in zweiter Linie den Tourismus-Faktor gelten lassen möchte.

Zwischenfazit: eine anregende Reihe, die zukunftsweisende Ideen sammelt. Wer weiß, welche Folgen und Folgerungen sich daraus noch ergeben werden.

Am 2. Dezember (18.30 Uhr) gibt es noch eine Gesprächsrunde mit Christina Végh, Direktorin und Geschäftsführerin der Kunsthalle Bielefeld.

 




Lob des Online-Treffens

Gestern auf dem Schreibtisch im Homeoffice: keine virtuelle, sondern eine sehr körperliche Begegnung mit Schriftgut. (Foto: Bernd Berke)

Ich will keinesfalls sagen, dass Corona „auch Vorteile hat“, das wäre zynisch. Doch der abgestufte Lockdown bringt Möglichkeiten mit sich, die – anfänglich zaghaft, nun schon entschiedener – erst jetzt so richtig genutzt werden und hoffentlich auch in Zukunft nicht klanglos verschwinden.

Ich rede nicht zuletzt pro domo: von virtuellen Pressekonferenzen und sonstigen Online-Treffen der Branche. Sicher, auch mit der Teilnahme an einem Videomeeting hinterlässt man einen „ökologischen Fußabdruck“, doch vermutlich einen weitaus geringeren, als wenn man leibhaftig zum Veranstaltungsort fahren würde.

Keine Strecke, keinen Stress

Und so weiß ich es zu schätzen, dass derzeit – eben auch im Sinne des Klimas – etliche Veranstaltungen ins Netz verlegt werden. Man spart Strecke um Strecke, Liter um Liter Kraftstoff, Fahrstress und Zeitaufwand. Und was die öffentlichen Verkehrsmittel betrifft, so wahrt man in heimischen Büro weitaus besser den gesundheitsdienlichen Abstand.

Ist es nicht wunderbar? Hier gibt es einen virtuellen Ausstellungsrundgang, dort eine netzbasierte Gesprächsrunde oder eine dito wissenschaftliche Tagung. Konkretes Beispiel: Schwerlich hätte ich mich eigens von Dortmund nach Berlin bewegt, um an der Jahrespressekonferenz des Goethe-Instituts teilzunehmen. Just heute kam per Mail eine Einladung zur digitalen Teilnahme. Aber sicher, das lässt sich machen. Es lebe das Homeoffice – zumindest als Ergänzung! Und mal ehrlich: Wie viele Dienstreisen waren und sind herzlich überflüssig; es sei denn, die allzeit Umtriebigen hätten mit ihren Terminen angeben wollen…

Bloß nicht wieder in die Versenkung

Wenn jetzt auch noch meine Webcam ein besseres Bild übermitteln würde, wäre es nahezu perfekt. Um aber in derlei Fällen übliche Sprüchlein zu verknüpfen: Man kann nicht alles haben und irgendwas ist immer, denn das Leben kein Ponyhof und es gibt Schlimmeres.

Natürlich wünschen wir uns alle, dass die Corona-Zeit ein Ende nehmen und es wieder mehr persönliche Begegnungen geben möge. Das Virtuelle, wir wissen’s, ist auf Dauer kein kompletter Ersatz. Aber bitte! Ob im Kulturbetrieb, im Pressewesen, in Schulen und Unis oder sonstwo: Lasst dann nicht alles Digitale gleich wieder in der Versenkung verschwinden! Abgemacht?




Welthaltige Selbsterkundung: „Die Scham“ von Annie Ernaux

„An einem Junisonntag am frühen Nachmittag wollte mein Vater meine Mutter umbringen.“ Erschütternder kann ein Buch wohl kaum beginnen.

Es ist der Anfangssatz von Annie Ernaux‘ Selbsterkundung unter dem Titel „Die Scham“. Bereits 1997 erschien „La Honte“ (Originaltitel), dessen übertragene Wortbedeutung zwischen Scham und Schande oszilliert, bei Gallimard in Paris. Jetzt liegt das Buch, das so recht zu keinem Genre passen mag, auf Deutsch vor, offenkundig kongenial übersetzt von Sonja Finck. Dankenswert auch, dass dieses Werk für uns noch nachträglich „entdeckt“ worden ist.

„Die Scham“ umfasst gerade einmal 111 Textseiten – und rekonstruiert doch einen ganzen Weltausschnitt rund um jenen Junitag des Jahres 1952, als die Erzählerin (recht unverhüllt die Autorin selbst) beinahe 12 Jahre alt war und jene furchtbare Urszene mitansehen musste, die sich fortan weder begreifen noch gar tilgen ließ und sich zur allgegenwärtigen Scham verfestigte, zum alles überschattenden Gefühl, nicht mehr zugehörig zu sein. An einer Stelle übersetzt Sonja Finck dies mit einem eventuell erzdeutschen Ausdruck: „… diese Erfahrung der Nichtung …“

Zitat:

„Von jetzt an lebte ich in der Scham.

Das Schlimmste an der Scham ist, dass man glaubt, man wäre die Einzige, die so empfindet.“

Jäh und heillos „ins Unglück stürzen“ („gagner malheur“) – diese Redewendung erfasst den eigentlich unbeschreiblichen Zustand zumindest näherungsweise. Unfassbar schon, dass die dreiköpfige Familie kurz nach dem wahnsinnigen Mordversuch eine Radtour unternommen hat, als wäre nichts geschehen – und dass Eltern und Kind überhaupt nie mehr auf das Ereignis zu sprechen gekommen sind. Eine schreckliche Redehemmung, über Jahrzehnte hinweg.

In einem geradezu heroischen Schreib-Unterfangen sucht Annie Ernaux, gleichsam eine Ethnologin ihrer selbst, sich alle wesentlichen Dinge zu vergegenwärtigen, die sie in jener Zeit geprägt haben. Daraus entsteht nach und nach nicht weniger als die (freilich fragmentierte) Welt eines französischen Provinzörtchens zwischen Rouen und Le Havre, also in der Normandie. Immer mehr kleine, doch bedeutsame Details lagern sich an, Introspektion und Welthaltigkeit sind hier keine Widersprüche. Trotz aller Bemühungen stellt sich zwischendurch Resignation ein: „Es gibt keine wirkliche Erinnerung an sich selbst.“ Und dennoch: Es muss versucht werden.

Die Selbstvergewisserung beginnt mit der Betrachtung zweier Porträt-Fotografien von 1952. Bin ich das? Bin ich dieselbe? Es folgen eingehende Recherchen in Lokalzeitungen des betreffenden Jahrgangs. Daraus erwachsen Splitter eines Zeitbildes, das nun weiter und weiter ausgeführt wird. Besonders die einander überlagernden und verstärkenden Zwangswelten der Familie, der unmittelbaren Nachbarschaft mit ihren schier unendlich vielen Verhaltensregeln und noch weitaus mehr die katholische Privatschul-Erziehung, vorwiegend durch Nonnen, verdichten sich zu allumfassenden Begrenzungen und Beschränkungen – bis in einzelne Worte und Gesten hinein. So kompliziert können die sogenannten „einfachen Verhältnisse“ sein, zumal dann, wenn sie mit Aufstiegssehnsüchten einhergehen.

Merkmale sind engstirnige Provinzialität und immerwährende Furchtsamkeit, überwölbt von schärfstens definierten Klassen- und Schichtenzuweisungen, die mitunter einen Straßenzug vom nächsten abgrenzen. Hier wissen alle, wohin sie gehören und was sich gehört – und wehe, wenn nicht. Umso absurder der Ausbruch, die mörderische Szene zwischen Vater und Mutter, die das Buch aus verschiedenen Distanzen umkreist. Als Lesender bekommt man es geradezu mit der Angst zu tun, mit den Augen der Leidenden die unverstellte Wahrheit nochmals von Nahem ansehen zu müssen – und sei es „nur“ in der nunmehr mit Wissen angereicherten Beschreibung. Doch was ist überhaupt Wahrheit in all dieser Wirrnis?

Aller Lakonie, allen ernüchterten Feststellungen zum Trotz ist dies ein mitreißendes Buch, in dem man keine Zeile auslassen sollte, so überaus genau ist es durchgearbeitet. Nein, es ist keinesfalls einfach, so einfach zu schreiben. Im Gegenteil. Was immer hier flüchtig oder unvollendet wirken mag, ist exakt auf diese Weise angemessen. Denn wer wollte in geläufigen Formulierungen über derlei rohe Tatsachen oder über deren Verbrämung sprechen? Wer wollte dieser bestürzenden Realität mit fertigen Erkenntnissen der Psychologie oder der Alltagsweisheit beikommen?

Annie Ernaux: „Die Scham“. Bibliothek Suhrkamp. 111 Seiten, 18 Euro.

Weitere Bücher von Annie Ernaux: „Die Jahre“, „Der Platz“, „Eine Frau“ – alle im Suhrkamp-Verlag.




Selbstgeißelung eines vierfachen Vaters: Tillmann Prüfers Kolumnen-Buch „Jetzt mach doch endlich mal das Ding aus!“

Das Phänomen ist schon einige Jährchen alt. Etliche Journalistinnen und Journalisten sehen sich bemüßigt, das Aufwachsen ihrer Kinder publizistisch mit Kolumnen zu begleiten oder es (böswillig ausgedrückt) „auszuschlachten“.

Die schwer zu übertreffenden Musterbeispiele für dieses Genre hat Axel Hacke („Der kleine Erziehungsberater“ u. a.) von der Süddeutschen Zeitung verfasst. Er dürfte einige Leute zumindest indirekt inspiriert haben, es ihm gleichzutun; so wohl auch Tillmann Prüfer (Leitender Redakteur beim „Zeit-Magazin“, wo die meisten Kolumnen zuerst erschienen sind), der schon mal darauf verweisen kann, Vater von vier Töchtern zu sein: Juli ging zum Zeitpunkt der Niederschrift noch zur Grundschule (2. Klasse), Greta war 13, Lotta 15 und Luna 20 Jahre alt. Ein gehöriges Spektrum, fürwahr. Da macht man(n) was mit. Und da drängt sich die Verfertigung einer Kolumne geradezu auf, oder?

Ein hervorstechendes Merkmal der Töchter (nicht nur bei den Prüfers) ist der allgegenwärtige Medienkonsum via Smartphone. Und so trägt das Buch denn auch einen genervten Ausruf als Titel: „Jetzt mach doch endlich mal das Ding aus!“ Dumm nur, dass auch der Vater ziemlich oft auf dem Handy daddelt. Das schmälert schon mal seine Autorität in derlei Fragen. Doch als leuchtendes Vorbild sieht er sich eh nicht. Dazu gleich noch mehr.

Tillmann Prüfer spielt das Lied von der Smartphone-Manie sozusagen auf der Klaviatur rauf und runter, in immer neuen Variationen. Da geht es beispielsweise um die (herzlich nutzlose) Festlegung der Bildschirmzeit, um Selfies, um Netzwerke wie WhatsApp, TikTok und Insta (nur Erwachsene sagen Instagram), um die übliche Kürzelsprache, um Streaming-Dienste wie Spotify und klaftertiefe Differenzen beim Musikgeschmack oder um Ballerspiele. Et cetera pp.

Fährnisse rund ums Internet bilden zwar den Schwerpunkt, doch kommen weitere Alltagsdinge hinzu, so etwa der Auftritt eines Roboter-Staubsaugers, Turnübungen im Wohnzimmer, Fernsehkonsum und schließlich auch schon Freud und Leid beim coronabedingten Homeschooling im Frühjahr 2020. Gar vieles läuft auf augenzwinkernde Verständigung hinaus, die auf die Generationsgenossenschaft des Autors zielt. Tillmann Prüfer ist übrigens vom Jahrgang 1974. Und er hätte es so gern, wenn seine Töchter öfter mal ein Buch zur Hand nähmen…

Zwar habe ich nicht vier Töchter, sondern eine Elfjährige, die auf Nachfrage inhaltliche Details des Buchs vollauf bestätigen kann. Sie und ihre Freundinnen leben quasi im selben Kosmos wie Tillmann Prüfers Kinder. Und der bleibt einem eben teilweise verschlossen. Dessen ungeachtet kommt mir manches sehr bekannt vor, so etwa Schleich- und Playmo-Spielzeug, die speziellen Tänze, die zu TikTok-Sounds wie „Baby Shark…“ vollführt werden, oder der Kult um BFF-Verhältnisse (Best Friend Forever). Und vieles mehr.

Väter oder Mütter können sich da schon mal ziemlich altmodisch oder „zurückgeblieben“ vorkommen. Aber muss man sich selbst so unablässig geißeln, wie es Tillmann Prüfer für angebracht hält? Feinsinnige Selbstironie in allen Ehren, sie ist angenehm und lässt auf eine gewisse Souveränität schließen. Hier aber wird sie als ständige Selbstverkleinerung geradewegs zur Masche und schlägt zuweilen ins Gegenteil um.

Fast in jeder Kolumne lässt uns der Autor wissen, dass er sich – ganz gleich, auf welchem Gebiet – wieder mal als total uncooler und unfähiger Depp erwiesen habe, der nach Meinung der Mädels weder locker noch „fresh“ ist. Er setzt noch manch einen drauf und stellt sich allemal als vorgestrig, ungelenk und begriffsstutzig dar. Diese permanente (Pseudo)-Unterwürfigkeit verwässert die Lektüre. Die einzelnen Beiträge bekommen dadurch einen recht ähnlichen Drall und münden häufig in Sinnschleifen, die gut und gern mit Loriots unnachahmlichem „Ach was!“ quittiert werden könnten. Man muss zugute halten: Als gelegentliche Einzelstücke im Zeit-Magazin haben die Texte eine andere Wirkung als im Buch, wo sie halt hintereinander weggelesen werden.

Indes lässt Prüfer immer mal wieder ahnen, was es heißt, gleichsam im Bannkreis von vier Töchtern in verschiedenen Stadien zwischen Kindheit und Vollmündigkeit ein Vaterdasein zu fristen. Da braucht man einfach seine kleinen Fluchten.

Tillmann Prüfer: „Jetzt mach doch endlich mal das Ding aus!“ Kindler Verlag, 160 Seiten, 12 Euro.




Kulturministerin rüffelt Kulturschaffende

So richtig habe ich meinen Augen zunächst nicht getraut, als ich dieses Zitat gelesen habe: „Die Kultur muss aufpassen, dass sie nicht immer eine Extrawurst brät.“ Denn wer hat’s gesagt? Ausgerechnet die NRW-Kulturministerin Isabel Pfeiffer-Poensgen, die nicht nur parteilos ist, sondern sozusagen auch „keine Verwandten“ zu kennen scheint.

Kulturveranstaltung mit Bestuhlungs-Abstand und Hygienekonzept. (Foto vom 1.11.2020: Bernd Berke)

Es stimmt ja: Kulturschaffende treten mitunter sehr fordernd auf und sind auch nicht allzeit bereit, sich auf einen breiten gesellschaftlichen Konsens einzulassen. Es muss wohl etwas oder sogar einiges vorgefallen sein, was der Kulturministerin nicht behagt. Also hat sie an die Kulturbranche appelliert, die harten Maßnahmen im Corona-Lockdown mitzutragen. So weit richtig und nachvollziehbar, gerade angesichts der ständig steigenden Infektionszahlen. Nur: Auf wen zielt ihre Suada?

Da steht dieser eine, irritierende und erratische Satz:„Die Kultur muss aufpassen, dass sie nicht immer eine Extrawurst brät.“ Was heißt denn überhaupt „D i e Kultur“? Und was heißt hier eigentlich „immer“? Und wäre unter „Extrawurst“ die bloße Existenzsicherung zu verstehen? In dieser Zuspitzung stimmt der ministeriale Satz einfach nicht. Hat man je aus einem zuständigen Ministerium gehört, das Hotel- und Gaststättenwesen bekomme „Extrawürste“ gebraten oder brate sie selbst? Dabei dürfte diese ebenso gebeutelte Branche weitaus entschiedenere Lobbyarbeit betreiben und mit Forderungen auch nicht hinter dem Berg halten.

Dass gerade Kulturschaffende und Kulturveranstalter zu jenen gehören, die am meisten unter der Corona-Krise leiden, dürfte sich herumgesprochen haben. Dass sie just von einer Kulturministerin recht pauschal angegangen werden, klingt – speziell in diesem Zusammenhang – überhaupt nicht angemessen. Es wird gar mit einer unterschwelligen Drohung verknüpft. Die Szene, so die wohlbestallte Ministerin Pfeiffer-Poensgen weiter, solle sich „nicht zu sehr aus dem gesellschaftlichen Konsens herausbewegen“, sonst könne es der Kultur dauerhaft schaden. Wird da auf diffuse Weise Wohlverhalten eingefordert; werden da etwa insgeheim Mittelkürzungen oder „Liebesentzug“ in Aussicht gestellt? Doch wohl hoffentlich nicht.

Gewiss: Bund und Länder schnüren etliche Hilfspakete und haben einen millionenschweren „Kulturstärkungsfonds“ auf die Beine gestellt. Dass hierbei immer noch nachjustiert werden muss, dürfte unstrittig sein. Die Fördermechanismen waren nämlich bislang nicht immer zielgerichtet und hilfreich. Betroffene könnten da viel erzählen. Aber will’s die Ministerin auch hören?

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P. S.: Die WAZ kündigt zu Pfeiffer-Poensgens Äußerungen heute auf ihrer Titelseite einen Bericht und Kommentar für die Kulturseite an. Der Bericht ist keine Eigenleistung, sondern erweist sich als Übernahme von der Deutschen Presseagentur (dpa), den Kommentar habe ich in der mir vorliegenden Ausgabe vergebens gesucht. Oder habe ich nur nicht genau genug hingeschaut?

Nachtrag am 10. November

Der Wahrheit die Ehre: Heute hat die WAZ mit einem Interview nachgelegt. Darin bedauert Frau Pfeiffer-Poensgen zumindest ihre „Extrawurst“-Wortwahl. Zitat: „Meine Wortwahl war sicherlich unglücklich, der Begriff hat manche offenbar sehr getroffen. Ich wollte niemanden verletzen (…) Ich würde den Begriff nicht noch einmal verwenden.“

 




Technik der Gesichtserkennung – trotz Masken ziemlich treffsicher

Aufsetzen? Zum Schutz vor Corona sicherlich! Aber gegen avancierte Gesichtserkennung hilft die Maske wenig. (Foto: BB)

Von Zeit zu Zeit lade ich Fotos in eine Cloud hoch. Die Betreiber dieser Cloud setzen – je nachdem, ob man diese Einstellung wählt – eine Gesichtserkennung ins Werk. Daran knüpfen sich Fragen und Bedenken, zumindest nach hiesigem Datenschutz-Verständnis.

Es werden im Fall des Falles also Hunderte, Tausende oder Zigtausende von Fotos nach abgebildeten Personen vorsortiert, die man sodann mit Namen versehen kann. Schon dabei beschleicht einen ein mulmiges Gefühl, denn wer weiß, wo solche (und sei’s nur mit Vornamen) zugeordneten Dateien dann anlanden und wozu sie verwendet werden können. Fehlt nur noch der Fingerabdruck. Aber den liefern viele Leute bei Anmeldevorgängen auf ihren Smartphones, wenn sie sich nicht auch dort per Gesichtserkennung einloggen. Wenn dies alles nun zusammengeführt würde? Gespenstisch.

Das Programm kennt deine Freundschaften am besten

Zuweilen „vertut“ sich die Gesichtserkennung der Cloud noch und registriert ein und dieselbe Person als verschiedene Menschen. In solchen Fällen könnte man dem Programm auf die Sprünge helfen und diverse „Bilderstapel“ miteinander kombinieren – damit quasi zusammenwächst, was zusammen gehört. Auch das ist nicht unproblematisch, hilft man auf diese Weise doch, das Programm immer mehr zu verbessern und zu präzisieren, bis es „deine“ Leute fast so gut erkennt wie du selbst.

Eines Tages wirst du überflüssig sein und sie werden dir sagen, wer deine guten Freundschaften und wer die weniger guten sind. Zuerst vielleicht noch wohlmeinend, später zunehmend harsch und herrisch? Wer weiß. Bereits jetzt werden die Personen in einer Art Hitliste nach Bilderhäufigkeit geordnet. Sind diejenigen, die da ganz obenan stehen, also wirklich die wichtigsten Menschen? Oder haben sie sich nur besonders oft und penetrant vor die Kamera gedrängt?

Vollends stupend finde ich eine Fähigkeit der Cloud, die jetzt erst so recht zum Tragen kommt: Die Gesichtserkennung, einmal auf bestimmte Menschen „geeicht“, lässt sich auch durch Masken kaum in die Irre führen. Offenbar reichen mitunter schon Frisur bzw. Haaransatz, die Form der Stirn, vor allem die Augen und möglicherweise auch der Kleidungsstil oder wiederkehrende Kleidungsstücke aus, um jemanden recht eindeutig zu kennzeichnen. Hierin ist das Programm vielleicht sogar schon genauer als man selbst, der man jetzt bei Begegnungen gelegentlich ein paar Sekunden lang rätselt, welches bekannte Gesicht sich hinter einer Schutzmaske verbirgt.

Speziell in Asien vorangetrieben

Höchstwahrscheinlich ist dieses Feature in Asien vorangetrieben worden, wo viele Menschen seit jeher Alltagsmasken tragen. Ob die Sache in den USA in weitaus besseren Händen ist, steht dahin. In China freilich wird soziales Verhalten ungleich mehr unter Kontrolle gebracht und in erwünschte Richtungen gelenkt. Ungezählte Kameras, versehen mit avancierten Möglichkeiten der Gesichts- und Bewegungserkennung, erfassen weite Teile des (halb)öffentlichen Lebens, mit anderen digitalen Techniken regieren Autokraten jeder Couleur bis ins Private hinein. Virale Ausbreitungen mag sie verhindern oder mindern, doch gegen derlei Kontrollmechanismen hilft auch keine Maske mehr.

Und noch eins: Neuerdings sparen sich viele Medien die früher übliche Verpixelung, sofern die Abgebildeten Masken tragen. Sie haben ihre rechtliche Rechnung anscheinend ohne Rücksicht auf die fortgeschrittenen Fähigkeiten der Gesichtserkennung gemacht.




Karte oben, Karte unten: Corona und das Wetter

Daran werden wir uns einst erinnern – sofern wir uns dann erinnern können: beispielsweise an Kartendarstellungen der Pandemie, die schon durch ihre schiere Größe und Platzierung signalisiert haben, wie überaus wichtig man das Virus nehmen musste.

Gewichtung in der Süddeutschen Zeitung vom 28. Oktober 2020: Das Wetter spielt die Nebenrolle.

Früher hat man sich dann und wann die Wetterkarte angesehen, sie war einigermaßen alltagswichtig. Irgendwann im Laufe dieses höchst seltsamen Jahres 2020 haben dann die Corona-Karten optisch und semantisch die Oberhand gewonnen. Schließlich haben die Größenverhältnisse so ausgesehen wie auf der beigegebenen Ablichtung der Süddeutschen Zeitung, Ausgabe vom 28. Oktober 2020.

Das Wetter steht am Fuß der Seite, die oben mit Corona aufgemacht wird. Wenn eines Tages das Wetter wieder sichtbarer dargestellt werden sollte, dann werden wir hoffentlich in dieser Hinsicht das Schlimmste überstanden haben – und es werden, z. B. mit Klimakatastrophen und Terrorismus, mehr als genug Probleme übrig bleiben.

Womit wir beinahe zwangsläufig zu einem meiner Lieblingszitate aus den Gefilden der Popmusik kommen, zu Bob Dylans unsterblicher Zeile „You don’t need a weatherman to know which way the wind blows“ aus dem Song „Subterranian Homesick Blues“.

In diesem Sinne uns allen einen glimpflichen Herbst und Winter. Möge uns danach ein neuer Frühling leuchten.

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P. S.: Ganz traurig ist es, dass jetzt auch Sean Connery nicht mehr unter den Lebenden weilt.




Das Ruhrgebiet und Dortmund entdecken – drei neue Bücher über Besonderheiten der Region

Mal eben kurz „reingeschmeckt“

Seien wir ehrlich: Regional- und Stadtführer, ob nun im Ruhrgebiet oder anderswo, sind meist rasch verderbliche Ware. Vorwiegend als Häppchen-Lektüre liegen sie im Eingangsbereich der Buchhandlungen, für den schnellen Zugriff gedacht. Doch sie haben auch ihren Nutzen.

Birgit Ebbert müht sich in ihrem Band „Das gibt’s nur im Ruhrgebiet“ redlich, im quadratischen Format satte 120 Hinweise auf Attraktionen zu sammeln, die der Rest der Welt so nicht zu bieten habe. Hie und da merkt man den Zwang, lauter Superlative und einmalige Spezialitäten hervorzaubern zu müssen. Nicht immer gelingt es.

Da findet sich auch weit Hergeholtes. Beispiel: Könne man nicht zu den blauen Städten Marokkos reisen, so gebe es eben Gelsenkirchen, wo nahezu alles in Blau gehalten sei. Ach ja. Andere Mitteilungen klingen recht kühn, so jene, dass Essen d e n bedeutendsten Kirchenschatz Europas aufweise. Da wird man im Vatikan und an einigen anderen Orten aufhorchen. Oder auch nicht. Na, egal. Wir wollen kein Wasser in den Messwein gießen.

Mit manchmal gar zu knappen Texten, vielfach leider ohne näheren Adressen- und sonstigen Besucherservice, werden die wesentlichen Lokalitäten und Besonderheiten des gesamten Reviers vorgestellt – tauglich für den allerersten Überblick. Es ist nicht nur von den üblichen Stätten und Phänomenen wie der Essener Welterbe-Zeche Zollverein, dem gigantischen Oberhausener Einkaufszentrum CentrO oder dem Dortmunder Riesen-Weihnachtsbaum die Rede, sondern z. B. auch von regionalem Brauchtum. Wer mal kurz ins Revier „reinschmecken“ möchte, könnte hier richtig liegen.

Birgit Ebbert: „Das gibt’s nur im Ruhrgebiet“. Emons Verlag, 144 Seiten, 12 Euro.

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„Klugscheißer“-Wissen von Beckett bis Phoenixsee

Wenden wir uns der einwohnerstärksten und z. B. fußballerisch führenden Stadt des Ruhrgebiets zu. Das kann nur Dortmund sein. Hierzu sind gleich zwei neue Bücher erschienen, beide von Katrin Pinetzki. Die Kollegin, als Kultur-Pressesprecherin der Stadt Dortmund tätig, hat gelegentlich auch für die Revierpassagen geschrieben. So viel Transparenz muss vorangeschickt werden.

„Dortmund für Klugscheißer“ heißt der Band, der schon seit dem Frühjahr auf dem Markt ist und eine Städte-Serie des Verlags erweitert. Verglichen mit dem oben erwähnten Ruhrgebiets-Guide, ist das Buch deutlich flotter aufgemacht und bebildert. Auch hier müssen kurze Texte genügen, doch angesichts des strafferen Konzepts, das eben nicht alles und jedes einsammeln will, ist das kein Schaden.

Der schnelle, hie und da statistisch angereicherte Streifzug durch viele Bereiche der Stadt ist unterhaltsam geschrieben. Gewiss: Als altgedienter Bewohner Dortmunds wird man nur wenige Überraschungen vorfinden. Zwar soll auch mit einigen „populären Irrtümern“ aufgeräumt werden (ein gar beliebtes Unterfangen), doch dürften aufgeweckte Einheimische auch hierbei in aller Regel Bescheid wissen. Aber es gibt ja auch noch Ahnungslose und Zugereiste. Und überhaupt.

Etlichen Details merkt man an, dass die (übrigens in Gelsenkirchen geborene) Autorin längst bestens mit Dortmunder Gegebenheiten vertraut ist. Zum Exempel wissen nicht alle, dass Dortmund in den Anfangstagen des Internets eine prägende Rolle gespielt hat. Auch ist das Gedicht „Dortmunder“ des großen irischen Weltdramatikers Samuel Beckett bestimmt nicht allgemein bekannt. Es soll angeblich auf Erlebnissen Becketts im lokalen Bordellviertel beruhen. Doch nichts Genaues weiß man nicht. Apropos: Man hätte hier gerne wenigstens ein Gedichtzitat gelesen. Und noch eine Anmerkung: Dass der inzwischen allseits baulich eingehegte Phoenixsee im Wortsinne Dortmunds Naherholungsziel Nummer eins sei, darf man denn doch bezweifeln.

Am Ende dürften Ortsfremde oder Neulinge jedenfalls das Gefühl haben, nun schon ein paar Dinge über die Stadt zu wissen. Dies und ein wenig Kurzweil – mehr will das Buch ja auch gar nicht bewirken. Hat geklappt.

Katrin Pinetzki: „Dortmund für Klugscheißer“. Klartext Verlag, 104 Seiten, 14,95 Euro.

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Glück aus der Westfalenmetropole

Die emsige Katrin Pinetzki hat in Sachen Westfalenmetropole bereits nachgelegt. Ganz frisch erschienen: „Unsere Glücksmomente. Geschichten aus Dortmund“.

Nachdem sie 2017 „Dunkle Geschichten (Schön und schaurig)“ aus dieser Stadt erzählt hat, hat sie jetzt helle und hoffnungsvolle Stoffe aufgespürt, und zwar buchstäblich von der Geburt bis zum Tod. Der Reigen der 19 Themen wird mit einem Geburtshaus im Ortsteil Brünninghausen eröffnet und schließt mit einem Hospiz am Ostpark. Glücksmomente kann man überall erfahren.

Dazwischen geht es beispielsweise um Lachyoga, Pralinen aus Hörde, den vielleicht allerbesten BVB-Kenner Gerd Kolbe, das Turbo Prop Theater und seine beliebten „Schmuddels“, den lyrischen Lokalmatador – vulgo Reimschmied – Fritz Eckenga (halten allerdings zu Gnaden: Mich muss man noch überzeugen, dass Eckenga so überaus gut wie der selige Robert Gernhardt sei), die wundersame Rettung der einstigen Fluss-Kloake Emscher oder die örtliche „Willkommenskultur“ anno 2015.

Dies ist also kein Reiseführer, sondern ein Band mit kurzen und prägnanten Stories bzw. Reportagen. Nach und nach entsteht so ein kleines Panorama des Stadtlebens, das sich eben aus lauter erzählenswerten Geschichten zusammensetzt. Wobei sich auch und gerade im gewöhnlichen Alltag ungeahnte – Achtung, inflationäres Modewort! – Narrative verbergen. Jawoll. Das musste mal gesagt sein.

Wie sie im Vorwort verrät, musste Katrin Pinetzki manche Recherche und manches Gespräch für dieses Buch unter Corona-Bedingungen bewältigen, also teilweise aus der Distanz. Das merkt man den munteren Texten freilich nicht an.

Katrin Pinetzki: „Unsere Glücksmomente. Geschichten aus Dortmund“. Wartberg Verlag, 80 Seiten, 12 Euro.




Soziale Miniaturen (24): Bizarres Büro

Klar, das Bild hat kaum etwas mit dem Text zu tun. Aber es gab schon schlechtere Illustrationen, oder? (Missgelungenes Foto: Bernd Berke)

Jahrzehnte brachte er mit dürftigen Witzzeichnungen in Stil der 1950er hin. Standardfiguren waren blöde Blondinen mit üppigen Brüsten. Aaaargh!

In manchen Medien liefen derlei knochige Gestalten noch eine zeitlang als berufsständische Folklore mit. Von der ganzen Computerei mussten sie nichts verstehen, ja, sie belustigten sich über jene, die da zunehmend heran mussten. Gestriges Gelächter. Noch einmal davongekommen. Rente quasi schon durch und sicher.

Schon vorbei waren die Zeiten, als man aus der Kantine noch kästenweise Bier in die Redaktionen wuchten durfte. Doch halt! Auf demselben Büroflur ließen sie ja noch einen strammen Alkoholiker wie eine kuriose Zirkusnummer loslegen. Der brachte seinen Schnaps selbst mit. Sie feuerten ihn an und riefen lauthals „Ho-ho-hoooo!“, als er eine Pulle Wodka „auf Ex“ soff und dann wegtorkelte. Irgendwohin. Danach hätte die Dame ohne Unterleib auftreten können. Oder der dickste Mann der Welt.

Nichts weiter davon. Es war gar zu beschämend. Für die Zuschauenden.

Der eingangs erwähnte alte Knabe hatte ein Faible für obszöne Anklänge. Schier weglachen konnte er sich über den Namen eines vor Zeiten ausgemusterten Lokalpolitikers, welcher an Kauwerkzeuge erinnerte, wobei man wiederum an orale Sexpraktiken denken sollte. Heilige Einfalt! Immer und immer wieder rief er den Namen aus, der ihm so herrlich schweinös erschien. Ein jüngerer Kollege war unvorsichtig genug, ihm ein Foto seiner neuen Freundin zu zeigen. Fortan erkundigte sich das alte Ferkel immer quer über den Büroflur: „Herr ***, was macht die Fickerei?“ Auch eine Art des Grüßens. Besonders wirksam, wenn gerade eine Kollegin die Szene betritt.




Olympische Spielstraße, München, 1972 – Erinnerungen an ein fröhliches Projekt, dem der Terror ein jähes Ende setzte

Abschnitt der Spielstraße mit erkennbar entspannten Besuchern. Weiße Luftballons markierten Hotspots des Parcours. (Foto: Urbane Künste Ruhr 2020 / Henning Rogge)

Der Mann im Hamsterrad hatte eine beeindruckende Ausdauer. Jeden Tag lief er seinen Marathon, und er schonte sich nicht. Die Fußverletzungen, die er sich im Rad zuzog, mussten schließlich sportärztlich behandelt werden.

Gleichwohl war er nicht Sportler, sondern Künstler: Timm Ulrichs, der vor wenigen Monaten seinen 80. Geburtstag feierte, prangerte vor bald 50 Jahren in seinem Hamsterrad – auch die Bezeichnung Tretmühle wäre wohl zulässig – die scheinbare Sinnlosigkeit körperlicher Leistungserbringung zu Sportzwecken an. Und seine Aktion wurde lebhaft wahrgenommen, stand das überdimensionale Hamsterrad doch auf der „Spielstraße“ der Olympischen Spiele in München. 1972 war das, verdammt lang her.

Wohl eine Performance, über die wir nichts Näheres wissen. Doch die Ballons kennen wir. (Foto: Skulpturenmuseum Glaskasten Marl)

Von Werner Ruhnau geplant

Die Spielstraße hatte der Essener Architekt Werner Ruhnau konzipiert, den man im Ruhrgebiet vor allem wohl wegen des Gelsenkirchener Musiktheaters im Revier kennt, das 1959 eröffnet wurde. Verbindendes zwischen einem Spaßparcours für die breiten Massen und einem opulent verglasten Musentempel springt möglicherweise nicht sofort ins Auge, doch wohnt beiden das Bestreben inne, Abgrenzungen in der Gesellschaft abzubauen, kulturelle Aktivitäten als partizipative Projekte zu gestalten und allen zu öffnen. Ruhnau war also durchaus der Richtige für die Münchener Spielstraße.

Anschlag auf die israelische Olympiamannschaft 

Dann kam der schreckliche Anschlag auf die israelische Olympiamannschaft, bei dem alle elf Geiseln starben. Zwar gingen die Spiele anschließend weiter, doch die Spielstraße wurde abgebaut, weggepackt und fast vergessen. Jetzt erinnert eine Ausstellung im Marler Kunstmuseum „Glaskasten“ an das Projekt.

Blick in die liebevoll zusammengestellte Ausstellung im Glaskasten Marl. (Foto: Urbane Künste Ruhr 2020 / Henning Rogge)

Wertvolle Eindrücke

Zusammen mit der Künstlerin Jana Kerima Stolzer und Britta Peters von Urbane Künste Ruhr hat Glaskastendirektor Georg Elben die Ausstellung konzipiert. Die Exponate stammen ausnahmslos aus dem Archiv Ruhnau, von irgendeiner Vollständigkeit kann natürlich nicht die Rede sein. Doch Timm Ulrichs’ Hamsterrad blieb als wohl größtes Exponat erhalten, außerdem einige skulpurale Arbeiten, Zeitungsartikel, Plakate, Siebdrucke und eine Widmung Andy Warhols, der sich die Sache damals auch einmal anguckte. Weiße Luftballons schweben über den Glasvitrinen gerade so, wie vor 48 Jahren solche Ballons die Stationen der Spielstraße markierten.

Viele Schmalfilme erzählen von der Spielstraße. Leider gibt es keinen Originalton dazu, nur kongenialen Sound. (Foto: Urbane Künste Ruhr 2020 / Henning Rogge)

Anita Ruhnau holte Künstler

Ruhnaus Frau Anita hatte etliche Künstlerinnen und Künstler zur Teilnahme bewegen können, was die Spielstraße, wenn man einmal so sagen darf, zu einem multifunktionalen Spektakel machte: Kunstpräsentation, Theater und Performances einerseits, Mitmachparcours andererseits.

Da liegt eine federnde Hüpfmatratze auf dem Weg und lädt sogar Anzugträger zum Selbstversuch ein, da gibt es Bühnenprogramme mit Publikumsbeteiligung, in der öffentlichen Siebdruckwerkstatt kann sich das Volk mit Rakel und Farbe versuchen. Super-8-Filme berichten von alledem. Glücklicherweise entstanden sie in reicher Zahl und wurden rechtzeitig digitalisiert, so dass sich Qualitätsverluste durch Alterung in Grenzen halten. In zwei relativ großen Räumen laufen diese Filme auf je drei Wänden, und wenn es in dieser ansonsten uneingeschränkt zu preisenden Ausstellung doch etwas zu kritisieren gibt, so ist es das weitgehende Fehlen von Sitzgelegenheiten in zentraler Position, von denen aus die alten Streifen mit möglicherweise noch mehr Genuss betrachtet werden könnten.

Ist es Sport oder ist es seine Verhöhnung? Mitunter spricht das alte Material keine klare Sprache (mehr). (Foto: Skulpturenmuseum Glaskasten Marl)

Langhaarige und Gamsbartträger

Erheiternd sind die Filme auch so, jedenfalls meistens. Langhaarige und Gamsbartträger dicht an dicht und trotzdem stressfrei, wie es scheint. Doch dann taucht in dem Gewusel eine merkwürdige Prozession auf, obskure Gestalten, ein rollendes Podest, ein Müllwagen… Das Straßentheaterstück „Olympiade 2000“, das auf der Spielstraße aufgeführt wurde und das Jana Kerima Stolzer für die Marler Ausstellung recherchierte und kunsthistorisch aufarbeitete, gefällt sich in der Dystopie eines pervertierenden, nurmehr wirtschaftlichen Interessen unterworfenen olympischen Sports. Das Stück schrieb seinerzeit der „Theatermacher“ Frank Burckner in Zusammenarbeit mit dem Zukunftsforscher Robert Jungk, und trefflich mag man sich darüber streiten, ob die düsteren Erwartungen der Autoren sich erfüllten oder mittlerweile längst schon überholt sind. Leider gibt es für die Filme keinen Ton, was besonders bei den abgefilmten (mehr oder minder spontanen) Bühnenereignissen schade ist.

Frühform der urbanen Künste

Die Spielstraße bot Kunst als Kommentar zu den Olympischen Spielen, einst und jetzt und zukünftig. Warum aber beteiligt sich „Urbane Künste Ruhr“ an der Marler Schau, jene Organisation, die in der Nachfolge des Kulturhauptstadtjahres ganz überwiegend öffentliche Orte im Hier und Jetzt mit aktuellen Kunstprojekten bespielt? Nun, die Verwandtschaft der Themen ist nicht zu leugnen, und ursprünglich, so Britta Peters, sollte die „Spielstraße“ nur ein Teil des Urbane-Künste-Projekts „Ruhr Ding: Klima“ sein, das nun aber, Corona ist schuld, auf die Mitte nächsten Jahres verschoben wird.

  • „Die Spielstraße München 1972“
  • Skulpturenmuseum Glaskasten Marl, Creiler Platz, Rathaus
  • Bis 1. November 2020
  • Geöffnet Di – Fr 11 – 17 Uhr, Sa und So 11 – 18 Uhr
  • Kein Katalog



Kindheit im Ruhrgebiet – Erinnerung an versunkene Zeiten

Diese Fotografie aus dem Jahr 1958 ist zugleich ein Plakatmotiv der Schau: „Zwei Milchholer in Buer“ (Gelsenkirchen). (© Fotoarchiv Ruhr Museum, Foto: Herbert Konopka)

Oh ja, so war es. Wirklich und wahrhaftig: Genau solche kurzen Lederhosen haben wir Jungs („My Generation“) damals Tag für Tag getragen. Robuster ging’s nimmer. Und ja: Das Tischfußballspiel aus Blech kennt man so auch noch. Ebenso grüßen die viele Jahrzehnte alte Spielesammlung und die Märklin-Eisenbahn aus versunkenen Zeiten herüber. Oder jene zerbeulten Kannen, mit denen man ins Milchgeschäft ging. Und, und, und.

Diese Ausstellung weckt Erinnerungen noch und noch, für und für. Überdies macht die Schau „Kindheit im Ruhrgebiet“ im Essener Ruhr Museum deutlich, wie sich auch hier die frühen Lebensjahre verändert haben. Nach dem Krieg herrschte vielfach noch Not. Die breite Mehrheit lebte in sehr schlichten Verhältnissen. Trotzdem erinnern sich die Menschen heute vor allem an Glücksmomente ihrer Kindheit.

Nach und nach drang dann die zuweilen grelle Konsumwelt – wie überall im Lande – mit wachsender Macht in die Kinderzimmer vor. Da gab’s dann in den späten 70er und frühen 80er Jahren die ersten, anfangs freilich noch sehr bescheidenen Spielkonsolen (mit dem Plop-Plop-Klassiker „Pong“ für den TV-Bildschirm) oder gar schon das erste eigene Fernsehgerät im farbstarken Stil der Zeit. Derweil verschwand allmählich die ehedem typische Ruhrgebiets-Kindheit vor rußigen Zechen- und Halden-Kulissen. Auch an Ruhr und Emscher zogen sich die meisten Kinder von draußen in die Häuser und Wohnungen zurück. Traurig genug: Je sauberer die Luft im Revier wurde, umso öfter blieben die Kinder drinnen.

Sichtlich oft und gern benutztes Spielzeug: drei Teddybären – mit dem Buch „Drei Bären“ von Leo Tolstoi, 1950er Jahre. (© Ruhr Museum; Foto: Rainer Rothenberg)

Die Ausstellung, binnen zwei Jahren nicht zuletzt auf Anregung des Kinderschutzbundes (Ortsverband Essen e. V.) entstanden, reicht mit 66 Vitrinen-Exponaten von der unmittelbaren Nachkriegszeit bis 1989. Spätere Signaturen der Kindheit gelten (noch) nicht als aufbewahrenswert. Es fehlt noch die zeitliche Distanz. Wahrscheinlich tauchen diese Dinge ja eines Tages auf Dachböden oder in Kellern auf und werden wieder wertgeschätzt. Abwarten.

All die jetzt präsentierten Erinnerungsstücke kamen aufgrund zweier öffentlicher Aufrufe zusammen. 2018 meldeten sich zwar etliche Bürger, aber noch kaum mit nostalgischen Kleinoden aus den 80ern. So wurde im Sommer 2019 noch einmal nachgelegt. Michaela Krause-Patuto und ihr Kuratoren(innen)-Team hatten nunmehr eine reichere Auswahl. Sie führten zu jedem ausgesuchten Stück Gespräche mit den privaten Leihgebern, um jeweils einen Erzähl-Zusammenhang herzustellen. Aus diesen Geschichten wiederum ergab sich erlebte Geschichte. Wer das ausgiebig nachschmecken möchte, sollte sich den Katalog besorgen. Das wird jedes Exponat im persönlichen und zeitgeschichtlichen Kontext vorgestellt.

Zunächst galt es, für die Ausstellung den Zeitrahmen der Kindheit zu setzen: Er reicht vom 4. bis zum 14. Lebensjahr – von den ersten bewussten Erinnerungen bis zur Pubertät. So schieden beispielsweise niedliche Babymützen aus dem Angebot aus. Überhaupt wollte man das Ganze eben nicht putzig aufziehen, sondern durchaus ernsthaft und mit historischen Hintergründen angereichert. Darauf legt auch der Museumschef Prof. Heinrich Theodor Grütter großen Wert.

Zeittypische Sammlung: Glanzbilder in Zigarrenkiste, 1960er Jahre. (© Ruhr Museum; Foto: Rainer Rothenberg)

Die Leihgaben verweisen vor allem auf die üblichen Phänomene und Stationen des Aufwachsens: Kindergarten, Schule, Spiele, Familie, Geburtstage, Weihnachten und sonstige Feste.

Die chronologisch angeordnete Galerieausstellung auf der 21-Meter-Ebene des Ruhr Museums wirkt sehr konzentriert. Jedes Exponat wird in einer eigenen Vitrine gezeigt. Das verleiht noch den unscheinbarsten Ausstellungsstücken eine ungeahnte Dignität. Selbst die Knicker-Kügelchen oder die Glanzbilder fürs Poesiealbum haben hier ihren veritablen Auftritt, sie wirken nicht wie Bestandteile eines Sammelsuriums, sondern wie Besonderheiten, die allerdings auch für ein Allgemeines stehen. Bekannter Effekt: Sieht man etwa Klassenfotos bestimmter Jahrgänge, so scheinen sie jeweils innig miteinander „verwandt“ zu sein. Doch natürlich ist jede Kindheit auch individuell verschieden.

Geradezu die Ikone einer ehemaligen Kindheit im Revier: „Henkelmann-Brücke“, Oberhausen, um 1960. (@ Fotoarchiv Ruhr Museum, Foto: Rudolf Holtappel)

Und so lässt sich hier eine kleine Zeitreise in diverse Kindheiten der Region antreten. Sie führt vom Schulranzen, den der Bergmanns-Opa für seine Enkelin selbst angefertigt hat, und dem vom Vater gleichfalls selbst gebauten Puppenhaus (das der Elektriker mit winzigen Lichtleitungen versehen hat), übers liebevoll zusammengestellte Fußball-Autogrammalbum bis hin zur rasanten Carrera-Bahn, mit der man in der Ausstellung spielen darf. Überhaupt schließt der inspirierende Rundgang mit einigen „Spielinseln“, auf denen auch Erwachsene mal wieder ein wenig Kind sein dürfen.

Eines der größten Exponate ist eine „Seifenkiste“, die in keine Vitrine passte. Das vielleicht erstaunlichste Stück ist indessen das Holzfenster, das aus einem reviertypischen alten Kiosk (Büdchen) stammt. Als es bei einem Einbruch zerstört wurde, sicherte sich die Enkelin der Inhaberin das Fenster – zur bleibenden Erinnerung.

Nicht nur dreidimensionale Objekte sind zu sehen, sondern auch rund 120 Fotos zum Thema, die aus der ungeheuren Bild-Kollektion des Ruhr Museums stammen, welche rund 4 Millionen (!) Lichtbilder umfasst. Auch die Fotografien bringen, wie die Gegenstände, so manches wortlos auf den Begriff.

Einige Fotos zeigen beispielsweise auch die Kinder türkischer Familien oder anderer Migranten im Ruhrgebiet. Dazu muss man wissen, dass dieser Teil der Bevölkerung sich von den erwähnten Aufrufen überhaupt nicht angesprochen fühlte. Lediglich ganz vereinzelte haben Leute mit spanischen oder italienischen Wurzeln reagiert. Das gibt zu denken, weit über diese Ausstellung hinaus.

Zaghafte Anfänge einer neueren Zeit: Spielekonsole „tele-ball“, 1970er Jahre (© Ruhr Museum; Foto: Rainer Rothenberg)

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P.S.: Anno 2001 gab es mit „Maikäfer, flieg…“ eine entfernt vergleichbare Kindheits-Ausstellung im damaligen Essener Ruhrlandmuseum (Vorläufer des Ruhr Museums), die ich damals ebenfalls besucht habe. Die Besprechung findet sich hier.

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„Kindheit im Ruhrgebiet“. Ruhr Museum, Essen (Gelände der Zeche Zollverein, in der Kohlenwäsche, Galerie auf der 21-Meter-Ebene. Gelsenkirchener Straße 181 / Navi: Fritz-Schupp-Allee). Vom 7. September 2020 bis zum 25. Mai 2021, geöffnet täglich (auch Mo) 10 bis 18 Uhr. 24., 25. und 31. Dezember geschlossen.

Eintritt 3 €, ermäßigt 2 €, Kinder und Jugendliche unter 18 frei (Führungen gibt es schon für Kinder ab 5). Besucherdienst: Mo-Fr 9-16 Uhr, Tel. 0201 / 24681 444. Katalog 24,95 Euro.

Online Tickets buchen: https://ruhrmuseum.ticketfritz.de

Beim Besuch gilt die Corona-Schutzverordnung des Landes NRW. Aktuelle Details: www.ruhrmuseum.de/de/informationen-zum-besuch/ hygiene-und-vorsorgemassnahmen/

 




Es wimmelt die Revier-Kultur – und alles ist so wunderbar

Für den ersten Überblick: Einleitende Doppelseite des Bandes, auf der es noch nicht so wimmelt, wie auf den nachfolgenden. (Bild: © Klartext-Verlag / Junior Klartext / Zeichnung Jesse Krauß)

Ah, Wimmelbücher! Die enthalten doch jene klein- bis kleinstteilig gezeichneten Tableaus, auf denen man immer und immer wieder noch etwas Neues, bisher Unbeachtetes entdecken kann. So auch im Band „Unterwegs im Ruhrgebiet“, der sich im Untertitel „Das große Wimmelbuch der Ruhr-Kultur“ nennt und vor allem (aber nicht nur) Kinder ansprechen soll.

Blättert man ein wenig auf den 22 großen Pappseiten hin und her, wird einem schon bald klar, dass etwaige Mängel der Region konsequent ausgespart sind: Hier wird geschwelgt – in Fülle und Vielfalt der Kulturstätten sowie in touristischen Attraktionen des Reviers. Dazwischen tummeln sich zuhauf die wunderbaren, stets vergnügten und allzeit kreativen Menschlein, die hier gut und gerne leben. Da könnten die Leute aus Stuttgart und München ganz schön neidisch werden. Von Berlin ganz zu schweigen.

Die Attraktionen liegen hier ganz nah beieinander

Natürlich rücken, um derlei Wow-Effekte zu erzielen, die lohnenden Locations ganz eng zueinander, da befindet sich die riesige Essener Weltkulturerbe-Zeche Zollverein beispielsweise direkt neben dem gleichfalls gigantischen Oberhausener Ausstellungsort Gasometer und dem LWL-Archäologiemuseum in Herne. Das ist nicht so ganz realistisch. Zwar gibt es in dieser Region wirklich etliche kulturelle Anziehungspunkte. Doch in Wahrheit muss man sich, um diese Orte hintereinander zu erreichen, mit oft unzureichenden Nahverkehrsplänen und mangelhaften Verbindungen herumschlagen; es sei denn, man zöge den Stau auf der A 40 oder der A 42 vor. Okay, das war jetzt nicht falsch, aber gemein – und für Kinder wohl erst mal zweitrangig (abgesehen vom notorischen Rücksitz-Gequengel „Wann sind wir endlich da-haa?!“).

Ein Ansatzpunkt der genregemäß detailfreudig gezeichneten und kolorierten Szenarien (fleißiger Urheber: Jesse Krauß) ist die kunterbunt illuminierte „Extraschicht“ als alljährliche Leistungsschau zur Revierkultur. Da waren natürlich bis tief in die Nacht Sonderbusse unterwegs und alles war ganz prima in der problemfreien Zone Ruhrgebiet.

Im Geiste des Regionalverbands Ruhr

Die kurzen Begleittexte dürften dem städteübergreifenden Regionalverband Ruhr (RVR) ausnehmend gut gefallen. Das Verbandsgebäude nimmt denn auch in den Zeichnungen einen prominenten Platz als planerisches Hauptquartier ein. Auch hierzu könnte man etwas anmerken, aber lassen wir das an dieser Stelle. Statt dessen zitieren wir diese Lobhudelei: „Der Regionalverband Ruhr ist das, was die elf Städte und vier Kreise der Metropole seit 1920 zusammenhält. Herzlichen Glückwunsch zum 100. Geburtstag!“

Nur zur Klarstellung: 1920 hieß das Gebilde noch nicht Regionalverband Ruhr, sondern anfangs noch Siedlungsverband Ruhrkohlenbezirk und von 1979 bis 2004 Kommunalverband Ruhrgebiet. Egal. Das interessiert draußen im Lande die Wenigsten, vor allem nicht die Kinder; auch dürften die es nicht gar so aufregend finden, dass RVR-Verbandsdirektorin Karola Geiß-Netthöfel auf einem Bild dem Bundespräsidenten Steinmeier (sicherlich vor Corona!) die Hand reicht. Oder ist das nur eine Halluzination? Auch nicht so wichtig.

Titelseite des besprochenen Buches (Bild: © Klartext-Verlag)

Das Ruhrgebiet erscheint hier generell als das, was es immer noch nicht ist: als vereinigte „Ruhrstadt“, von der man beim RVR seit vielen Jahren träumt. Freilich: Der Regionalverband und die Funke-Mediengruppe (zu der wiederum der Klartext-Verlag gehört) residieren in Essen – und so erscheint diese Stadt auch hier als Kraftzentrum des gesamten Reviers. Folglich hat etwa das Kreativ- und Museumszentrum „Dortmunder U“ im Osten des Ruhrgebiets einen vergleichsweise kleinen Auftritt. Aus der Essener Perspektive ist halt auch das Schalke-Hemd mal wieder näher als der BVB-Rock. Apropos Religion: Dem Essener Ruhrbistum ist eine eigene Doppelseite gewidmet. Halleluja!

Riskante Fahrt durch Gelsenkirchen-Ückendorf

Vom spezifischen Reiz eines Wimmelbuchs haben wir unterdessen noch gar nicht gesprochen. Hier kann man sich auf Bildersuche begeben. Welche Orte und Gebäude erkennt man? Welche Figuren oder Konstellationen tauchen auf verschiedenen Seiten wiederholt auf? Gibt es etwa „running gags“ oder sonstige Kreuz- und Querbezüge? Wo haben sich lustige Tiere versteckt? Und so fort. Na, dann sucht mal schön!

Nicht alles ist unbedingt nachahmenswert. Was soll man zum Beispiel vom tollkühnen Skater halten, der auf äußerst schmaler Spur zwischen Bus und Straßenbahn dahersaust? Und was ist mit dem Mädchen, das am Metallgeländer turnt und dabei fast vor den Linienbus tritt? Geht’s denn in der Bochumer Straße von Gelsenkirchen-Ückendorf „in echt“ so riskant zu?

Am Ende ist das Ganze ein utopisches Projekt

Das generelle Erscheinungsbild ist jedenfalls bis in die Einzelheiten durchweg positiv: Das Revier ist demnach durchzogen von veritablen Radfahrer*innen-Autobahnen, herrlich durchgrünt und reich an sauberen Gewässern aller Art, vom Baldeneysee bis zum lieblich renaturierten Emscher-Fluss. Bewohnt wird die kulturgesättigte Gegend von lauter genuss- und lesefreudigen Menschen, zudem ist sie ein Hort von Bildung und Wissenschaft, doch auch der musealen Besinnung – nicht zuletzt aufs eigene Erbe der allerdings gründlich überwundenen Zechen- und Stahl-Ära. Dazu urige Stadtviertel, quicklebendig urbane Quartiere – was will man mehr?

Ach, wer in dieser menschenfreundlichen, ökologischen, gewiss klimaneutralen Stadtlandschaft wohnen könnte! Wenn doch das Revier tatsächlich durchweg ein solch bunter Abenteuerspielplatz der Lebensfreude wäre! Insofern erweist sich das Buch im Grunde als utopisches Projekt. So könnte es vielleicht sein, wenn… Ja, wenn.

Jesse Krauß  (Illustrator) / Melanie Kemner (Herausgeberin): „Unterwegs im Ruhrgebiet. Das große Wimmelbuch der Ruhr-Kultur“. Klartext-Verlag, Essen. 22 großformatige Seiten, jeweils ganz- oder doppelseitige Illustrationen mit kurzen Texten. Pappband, 16,95 Euro.




Wenn Masken modisch und witzig sein sollen

Ich geb’s ja zu: Ein paar von den Dingern hab‘ ich auch. Aber alles ganz harmlos. (Foto: BB)

Masken haben sich bekanntlich längst als modisches Accessoire erwiesen. Auch macht sich bemühter Humor auf den Stoffen breit.

Nach wochenlangen Wartezeiten nur zu Mondpreisen erhältlich, gab es anfangs zumeist Einmal-Masken mit jenem allbekannten bläulichen Schimmer. Sicherlich einigermaßen von Nutzen. Aber langweilig. Das genügt in der verwöhnten westlichen Welt mit ihren stylischen Attitüden nicht.

Und jetzt? Herrscht (ähnlich wie bei anderen Artikeln, die vorübergehend knapp waren) seit Monaten ein flutendes Überangebot. Kapitalistische Bedarfsbefriedigung halt. Alles in anbrandender Hülle und Fülle. Nichts, was es nicht gibt.

Wer zählt die Punkte-, Streifen-, Leo-, Argyle-, Karo-, Blumen- und Schottenmuster? Wer beschreibt die Imitate aus allen denkbaren Kunst- und Kunstgewerberichtungen? Sodann zieren Logos aller Bundesliga-Clubs, Silhouetten aller mögliche Städte und Agglomerationen, dazu Symbole und Flaggen jedweder Couleur die Mund-Nasen-Lappen. Auch Modelle mit allen Planeten, putzigen Ankerchen, niedlichen Haien, dem lateinischen Alphabet oder chinesischen Schriftzeichen stapeln sich in den Regalen.

Manche Zeichen werden uneindeutig

Apropos bunt: Bei Masken in Regenbogenfarben kann man sich nicht mehr ganz sicher sein, wes (Un)geistes Kinder die Träger*innen sind. Auch manche ver(w)irrten Corona-Leugner haben versucht, das Friedens- und Toleranzzeichen an sich zu raffen, ebenso wie sie einzelne Signaturen der Hippie-Ästhetik okkupieren wollen. Recht sicher kann man sich hingegen bei einer Masken-Aufschrift wie „Bürger Maulkorb“ sein, die noch dazu in Frakturschrift erscheint.

Ein eigenes Genre bilden Masken, auf denen mehr oder weniger karikierte Münder, Zungen und Zähne oder Ausschnitte von Tiergesichtern prangen; Smileys und Emojis noch gar nicht mitgerechnet, von Totenköpfen und Gerippen aller Art sowie Bildchen mit brünstig-sexueller Konnotation ganz zu schweigen. „Das ganze Programm“, wie unser „Dittsche“ sagen würde.

Kurzum: Mit schlicht unifarbenen Masken könnte man sich schon beinahe underdressed vorkommen. Oder einfach nur normal vernünftig. Schmucklos genügsam. Pragmatisch. Und dergleichen.

Mit gedrucktem Salatblatt vor dem Mund

Auf diesen Stoffstückchen dürfen sich offenbar alle Designenden (ist das nicht toll gegendert?) austoben, wobei etliche Ideen-Anleihen bei T-Shirts genommen werden können. Frauen mit diversen Bart-Umrissen auf der Maske? Geht. Männer mit gedrucktem Salatblatt vor Mund und Nase? Na, klar. Mit echten oder falschen Perlen besetzter Stoff? Sicher doch. Anything goes.

Natürlich florieren auch, womit wir vom Optischen zum Verbalen schreiten, landsmannschaftliche, dialektale und mundartliche Abarten – von Aufschriften wie „Moin“ oder (steile Steigerung) „Moin Moin“ über „Glückauf“ bis zu „Schnüssjardinche“, „Maultäschle“ und „Snutenpulli“. Womit wir schon im Vorfeld des Schenkelklopf-Bezirks notorischer Gute-Laune-Bären angelangt wären. (Übrigens: Fips Asmussen, dröhnender Kleinmeister des Kalauers, ist jetzt mit 82 Jahren gestorben).

„H(o)usten – wir haben ein Problem“

Betreten wird also zaghaft das weite, weite Feld des Corona-induzierten Humors der kläglich schnell erschöpften Sorte. Hier nun einige Fund-Beispiele für Maskenaufdrucke mit hohem Witzbold-Quotienten und arg begrenztem Kicherfaktor, bevorzugt als „lustig“ (Vorsicht vor diesem Wort!) beworben:
„Aushuastverhüterli“
„Kein Corona, nur eine hässliche Fresse“

„Keine Panik – Heuschnupfen“
„Keine Panik! Raucherhusten“
„Hatschi“
„H(o)usten – wir haben ein Problem“

„Achtung! Das ist kein Überfall. Ich will nur einkaufen.“
„Ich war sozial distanziert, bevor es cool war“
„Infiziert: Ja – Nein – Vielleicht“ (mit Kästchen zum Ankreuzen)

„Darf ich Ihnen das Tschüss anbieten?“

Eine weitere Unterabteilung klingt missgelaunt, genervt, ruppig oder aggressiv:
„F*CK CORONA“ (explicit version also available: FUCK CORONA)
„bla bla bla“
„Schleich dich, zefix!“
„Moin, ihr Spacken“
„Darf ich Ihnen das Tschüss anbieten?“
oder ganz simpel:
„Ich hasse Menschen“

Zum Ausgleich gibt’s noch die, die ein bisschen nett und tröstlich wirken wollen oder dieses herzige Ansinnen wenigstens vor sich hertragen:
„Ehrlich! Ich lächle!“
„You’ll never walk alone“
„Kiss me!“

Und manche lassen Spuren von Sinnhaftigkeit ahnen, etwa so:
„Wenn du das hier lesen kannst, dann bist du zu nah!“

Zum Schluss eine Fachfrage: Ist noch ein Hersteller übrig, der seine Masken noch nicht als „Mit Abstand am besten“ angepriesen hat?




Soziale Miniaturen (23): Im milderen Licht

Über den Pylon (rechts) regt sich längst niemand mehr auf. (Foto: Bernd Berke)

Manchmal gereichen Kleinigkeiten zur tröstlichen Linderung. Beispielsweise ein kurzer Gang durch die Innenstadt. An bestimmten Tagen, beim milden Abendsonnenlicht, erscheinen einem auch traurige, ja desolate Gestalten auf den Straßen nicht so harsch und niederdrückend.

Gleich an der ersten Ecke – zur breiten Straße, die einmal als prachtvoller „Boulevard“ gedacht war – sitzt ein älterer Herr auf einer Bank und beobachtet den Verkehr auf der nächsten großen Kreuzung. Er kichert kopfschüttelnd in sich hinein und ruft halblaut: „Falsch abgebogen…“ So scheint das schon eine geraume Weile zu gehen. Wahrscheinlich kann er sich noch an die kleinen Wachtürme an den Verkehrs-Knotenpunkten erinnern, von denen herab ganz früher einmal Polizisten ein Auge auf alles Ungebührliche haben sollten. Nun, viele Jahrzehnte später, hat quasi er ein solches Amt inne. Und er freut sich wie ein kleiner Junge. Wie der kleine Junge, der er damals gewesen ist. Das möchte er wohl auch den Vorübergehenden mitteilen. Also spricht er seine Befunde vor sich hin und gleichzeitig beifallheischend auf die nähere Mitwelt zu. Es ist alles ganz harmlos, keinerlei Blockwart-Gehabe. Doch ob jemand auf ihn eingehen wird? Und ob er diesen späten Nachmittag als einen ertragreichen oder wenigstens als einen erträglichen verbuchen wird?

Ungewöhnliche Anmutung: die neue Citywache der Polizei, hier noch während der (Um)bauzeit. (Foto: Bernd Berke)

Jetzt aber langsam weiter. Vorbei an jener neuen (echten) Polizeiwache, die von außen an ein Aquarium oder ein tiefblau gekacheltes Schwimmbad erinnert. Bemerkenswertes Design. Wem so etwas wohl eingefallen ist? An der Tür stehen die Öffnungszeiten: abends bis 20.30 Uhr. Und danach? Wird nichts mehr passieren? Im Moment ganz egal. Es passt zur allgemeinen Tröstlichkeit. Wenn man sie näher besieht, taugt eine solche Wache als Sinnbild der Deeskalation. Leises Plätschern von Wasserspielen würde dazu passen.

Selbst für hartgesottene Fans schwer zu ertragen: BVB-Thronsessel im Schaufenster. (Foto: Bernd Berke)

Nochmals hundert Meter weiter reckt sich der stadtbekannte stählerne und gläserne Pylon als oberirdisches Zeichen einer U-Bahn-Haltestelle. Vor Jahrzehnten ist er so umstritten gewesen, dass empörte Bürger über 5000 Unterschriften dagegen gesammelt haben. Heute ist er zwar immer noch ein ragendes, doch durch lange Gewohnheit eher unscheinbares Signal – inzwischen vor allem dafür, dass sich strittige Dinge auf die Dauer wie von selbst erledigen können.

Überhaupt scheint die Stadt heute entspannt zu sein, um diese Uhrzeit – kurz nach Feierabend für die meisten Menschen. Wesentlich kommt das eigene geruhsame Schlendern hinzu, denn die angetraute Begleiterin kann derzeit einen Fuß nur in einer Schiene bewegen. Entdeckung der Langsamkeit.

So erreichen wir ein Textilgeschäft, in dessen Schaufenster ein veritabler kleiner Thron mit BVB-Insignien provozierend prangt. „Furchtbar monströs“ oder „hübschhässlich“ wäre noch das Mindeste, was einem angesichts dieser bedenkenlos ins Werk gesetzten Geschmacksverirrung entfahren könnte.

Doch auch hier walte Nachsicht! Wie denn überhaupt gerade jetzt sich alles als lind erweist, selbst kleine und mittlere Zumutungen. Jedenfalls für diese Stunden. Drum beunruhige dich nicht / im milden Abendsonnenlicht.

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Bisher in der losen Textreihe „Soziale Miniaturen” erschienen und durch die Volltext-Suchfunktion auffindbar:

An der Kasse (1), Kontoauszug (2), Profis (3), Sandburg (4), Eheliche Lektionen (5), Im Herrenhaus (6), Herrenrunde (7), Geschlossene Abteilung (8), Pornosammler (9), Am Friedhofstor (10), Einkaufserlebnis (11), Gewaltsamer Augenblick (12), Ein Nachruf im bleibenden Zorn (13), Klassentreffen (14), Zuckfuß (15), Peinlicher Moment (16), Ich Vater. Hier. Jacke an! (17), Herrscher im Supermarkt (18), Schimpf und Schande in der Republik (19), Der Junge mit der Goldfolie (20), Vor dem Sprung (21), Allet menschlich, wa? (22)




Warum Demos eigentlich Fake sind

Nicht die Berliner Demo vom letzten Samstag, aber eine Corona-Demo in Düsseldorf vom 20. Juni, in deren Randbereich der Fotografierende unfreiwillig geraten ist. (Foto: Bernd Berke)

Gastautor Jo Wüllner, Journalist und Medienentwickler aus der Revierstadt Herten (Homepage: wuellnermedien.de), mit knappen Anmerkungen zur Berliner Corona-Demo vom vergangenen Wochenende – und zu Demos generell:

  • 20.000 haben am Wochenende in Berlin demonstriert. Tausende von Fotos auf Facebook, Dutzende von Artikeln. Empörung, Flüche, Verdammnis von „Aufgeklärteren“ (?) über die Demonstranten allerorten. Also im Kern wenig anderes, als das, was die Demonstranten auf die Straße gebracht hat. Gewisse Gefühle.
  • In Berlin waren 20.000 aus einem geographischen Umfeld, in dem etwa 10 Millionen leben. Macht 2 Promille des Einzugsgebietes. Wer würde sich darum scheren, wenn bei einer Abstimmung 2 von 1000 etwas wollen?
  • Demos sind Fake-Events. Demos suggerieren Bedeutsamkeit, weil an einem Ort sich Menschen konzentrieren. Das Konzentrat wird mit Relevanz verwechselt. Ein Effekt von Wahrnehmungsverzerrung. Bei ALLEN Demos, gleich aus welche Ecke oder mit welcher Absicht.
  • Demos in einer Mediengesellschaft werden dramatisch überschätzt, weil ihre Wirkung auf einer „Verabredung“ zwischen Demonstranten und Medien beruhen. Die einen liefern die Bilder, die anderen machen sie.
  • Demos werden aufgewertet, weil es Gegendemos gibt. Gegendemos gehören mit den Demos zu den überschätztesten sozialen Ereignissen. Was die Teilnehmer einer Gegendemo keinesfalls wahrhaben dürfen.
  • Demos gehören zum Demokratiebetrieb. Wie sie bewertet werden, hängt von den Beobachtern ab. Wenn die Beobachter nicht beobachten, sondern sich erregen, fördert das nicht den Demokratiebetrieb.

Nachsatz eines wahrhaft Coolen:
„Protestbewegungen behaupten nicht notwendigerweise eigenes Wissen. Sie resultieren aus dem Umschlag von Nichtwissen in Ungeduld.“
(Niklas Luhmann: Beobachtungen der Moderne, S. 202)




Hitlers Hunde, Görings Löwen und die Kartoffelkäfer – aufschlussreiches Buch „Tiere im Nationalsozialimus“

Mal von der Selbstverständlichkeit abgesehen, dass man immer wieder auf jene Zeit zurückkommen muss: Ist über die Abgründe der NS-Herrschaft nicht schon alles Wesentliche gesagt, ist nicht jede dunkle Schattierung ausgeleuchtet worden? Nun ja. Selbst der damalige, gleichgeschaltete Alltag hatte etliche Aspekte; einer, der bislang eher episodisch abgehandelt worden ist: der oft recht widersprüchliche Umgang der Nazis mit der Tierwelt.

Sage niemand, diese Sichtweise führe geradewegs in die Verharmlosung und Relativierung. Nein, die Ansichten und Aussagen über Tiere sind zutiefst in der NS-Ideologie verwurzelt und eröffnen auch ungeahnte Zugänge. Just im vermeintlich Nebensächlichen scheinen neue Zusammenhänge auf. Und so ist es von Anfang an ein durchaus aussichtsreiches, schließlich auch verdienstvolles Unterfangen, wenn der Journalist und Autor Jan Mohnhaupt das Thema „Tiere im Nationalsozialismus“ umfänglich aufgreift.

Ideologie der Rassereinheit und der Zuchtwahl

Gewiss, es fallen auch ein paar „Anekdoten“ ab, die einer ernsthaften Betrachtung anscheinend eher entgegenstehen: dass etwa Adolf Hitlers Geliebte Eva Braun dermaßen eifersüchtig auf des „Führers“ Schäferhund „Blondi“ (wir lernen: Er hatte drei Tiere dieses Namens) gewesen sei, dass sie ihm – dem Hund – gelegentlich unterm Tisch Tritte versetzt habe, auf dass der durch sein Jaulen den überaus hundevernarrten GröFaZ verärgere und vielleicht weggeschickt werde…

Doch das Buch reicht weit über derlei wohlfeile Erzähl-Stöffchen hinaus. Vor allem die Konzepte der Rassen- und Zuchtwahl sowie wild wuchernde Phantasien über „Schädlinge“ verweisen direkt auf den Umgang mit menschlichen Minderheiten, ja, sie haben das mörderische Regime recht eigentlich mitgeprägt. Tierzucht und Menschenzucht im Sinne einer angestrebten „Rassereinheit“ betreffen den Kern der kruden NS-Vorstellungswelt. Noch höher als Rassenpurismus rangierte in der parteilich erwünschten Hundeschulung freilich der absolute Gehorsam des Tieres, das für alles abgerichtet werden sollte – nicht zuletzt für die grausame Hatz auf KZ-Häftlinge.

Zigtausend Pferde bestialisch in den Tod getrieben

Wie Mohnhaupt zeigen kann, hielten sich die Nazis selbst ein „anständiges“ Verhältnis zum Tier zugute und schrieben tatsächlich ein paar dauerhafte Regeln des Tierschutzes in die Gesetzbücher hinein. Allerdings handelten sie oft völlig konträr zu den Schutzbestimmungen, indem sie zum Beispiel zigtausend bis aufs Blut geschundene Pferde im Russland-Feldzug zu Tode brachten. Entgegen allem hohltönenden Geschwafel („Kamerad Pferd“) wurden allein auf der Krim rund 30.000 Pferde von der Wehrmacht binnen weniger Tage exekutiert, damit sie nicht den Sowjets in die Hände fielen.

Ansonsten war Tier nicht gleich Tier. So priesen die auf agrarische Autarkie versessenen Nazis das Schwein, das für „arische Sesshaftigkeit“ stehe – im konstruierten Gegensatz zum verachteten Nomadentum anderer Völker. Geschlachtet wurden die Schweine natürlich trotzdem. Erst kommt das Fressen, dann die angebliche „Moral“…

Katzen als „Juden unter den Tieren“

Grotesk wurde die Zuschreibung im Falle der Katzen, die als unzuverlässige, „orientalische“ Wesen galten. Der unsägliche NS-Autor Will Vesper verunglimpfte sie als „Die Juden unter den Tieren“. Die tieftraurige Geschichte des nachmals zum Ruhm gelangten Sprachwissenschaftlers Victor Klemperer, der – aus Selbstschutz für sich und seine Frau – seinen innig geliebten Kater Mujel einschläfern lassen musste, weil er als Jude kein Tier halten durfte, kann einem Mitleids- und Zornestränen in die Augen treiben.

Ungleich mehr als von Katzen hielten die Nazis von gefährlichen Raubtieren wie Wölfen, Tigern und Löwen, mit deren „gnadenloser Wildheit“ (so die Legende) sie sich selbst identifizierten. Auch hier geriet manches zur Farce. Vor allem der prunksüchtige „Reichsjägermeister“ Hermann Göring tat sich dabei hervor, er ließ für sich höchstpersönlich Löwen und Bären halten. Die Zoodirektoren von Berlin und München (übrigens Brüder) hatten bei der Auswahl zu Diensten zu sein. Eine auf Görings Wunsch angefertigte, heroisierende Hirsch-Statue findet sich noch heute im (Ost)-Berliner Tierpark – ohne jeden historisch einordnenden Hinweis, wie Mohnhaupt kritisch anmerkt. Der Vegetarier Hitler soll derweil von erzdeutschen Wald- und Jagdmythen nichts gehalten haben. Eine Randnotiz.

Raupen züchten für die Fallschirmseide

Ein auf den ersten Blick kurioses, aber wohl weit verbreitetes Phänomen mit Tierweltbezug war damals die von oben verordnete Raupenzucht, der sich im ganzen Reich zahllose Schulklassen widmen mussten, um die heimische Seidenproduktion (deren Zentrale in Celle angesiedelt war) anzukurbeln. Vor allem wurde der edle Stoff für militärische Fallschirme benötigt. Zugleich entbrannte ein internationaler (Propaganda)-Krieg um die Kartoffelkäfer, von denen Deutschland behauptete, die Franzosen setzten sie – quasi als „Biowaffe“ – gezielt gegen die deutsche Ernte ein. Paris erhob derweil die umgekehrte Anschuldigung.

Wie auf anderen Feldern auch, so wirkte gar vieles ungut in die Nachkriegszeit hinein, so etwa die Jagdregeln, die vollends erst im „Dritten Reich“ neu begründet und ausformuliert wurden. Auch darf von personellen Kontinuitäten der erschreckenden Art nicht geschwiegen werden. Was heute wohl nur wenige wissen: Der prominente Verhaltensforscher Konrad Lorenz (ja, der mit den Graugänsen) war in jenen finsteren Jahren ganz offenkundig ein NS-Parteigänger reinsten Wassers und ein ideologischer Protagonist mit Einfluss. Nach dem Krieg war auch sein schäbiges Verhalten allzu schnell vergessen. In der wirtschaftswunderlichen Bundesrepublik galt er erneut als Autorität.

Jan Mohnhaupt: „Tiere im Nationalsozialismus“. Hanser Verlag. 256 Seiten. 22 Euro.




Wertegemeinschaft? Man heuchelt sich so durch! – Notizen aus der Inneren Coronei (3)

Stempel drauf: der Autor kurz vor der Entwertung. (Foto: Herholz)

Von Karl Kraus stammt der Satz: „Je näher man ein Wort ansieht, desto ferner schaut es zurück.“ Genau diese Erfahrung mache auch ich in meiner Eber-Einzelbucht während der Pandemie noch häufiger als sonst.

Aber ferner schauen nicht nur einzelne Wörter zurück, sondern auch Begriffshubereien, ganze Sätze und der sowieso überall anzutreffende Holy Shit aus Politik, Medien und Religionen.

The Orange One

Womit man gleich bei ihm wäre: diesem von Evangelikalen mit Bräunungscreme gesalbten Donald Trump. Den hat die Sorge um sein Land so krank gemacht, dass er darüber zuletzt sogar graue Haare bekam. Über Nacht. Und Maske trägt er jetzt auch. Wie oft habe ich gedacht, dem müsste mal einer die Maske vom Gesicht reißen? Aber nun, da er sich sogar eine zweite aufgesetzt hat, würde das ja nichts mehr bringen. Immerhin bleiben jetzt große Teile seines Gesichts verdeckt. Fake America great again.

Aberglaubensgemeinschaften

Apropos Fake: Kürzlich las ich vom „Sektenbeauftragten der katholischen Kirche“. Müsste das nicht „Sektenbeauftragter für die katholische Kirche“ heißen? Mit zwei zurzeit noch lebenden Päpsten jedenfalls überbietet diese Sekte durch Vielfalt jede anderswo herrschende Einfalt und schrammt nur knapp an einer diesseitigen Heiligen Dreifaltigkeit vorbei.

Müdes Lachen, hellwach

Der Kalauer, schrieb einst Wolfgang Hildesheimer, sei der müde gewordene Witz. Mich aber hält er schön wach.

Überall Würstchen

In Köln, der nördlichsten Stadt Italiens, haben sie zurzeit große Probleme, weil die kommende Karnevalssession unter dem Motto „Nur zesamme sin mer Fastelovend“ gefährdet ist. Ach, irgendwie sitzen wir doch alle in einem Boot. Zum Glück nicht in einem vor Sizilien. Aber vielleicht reicht es zumindest im Frühjahr 2021 doch noch für ein solidarisch-interkulturelles „Alaaf un‘ Nacktbar!“. Dazu Bratwurst mit Senf, am besten vom Schlachter Tönnies, denn wo Tönnies draufsteht, ist oft auch Würstchen drin.

„Division Sausages: Die Nummer 1 …“ (Tönnies‘ Homepage)

Clemens Tönnies zählt zu den reichsten Menschen der Welt und soll ein Vermögen von zwei Milliarden Euro angehäuft haben. Man muss schon sehr viel Schwein … haben, um so viel Geld beim Ausnehmen von Schlachtvieh und Werkverträglern zu ergattern. Alles legal, ich weiß. Anderenfalls würden es Gabriel & Co. mit flammendem Lobbyisten-Schwert sicher schon richten. Müssen sie aber gar nicht. Vor knapp vierzehn Tagen ist bei Tönnies endlich der Bereich ‚Blutverarbeitung‘ wieder in Betrieb genommen worden. Das lässt doch für alle hoffen.

Die Träume der Soldaten

..,Blutverarbeitung‘ …, da fällt mir ein: Im Osten machen wir auch wieder mobil. Der MDR berichtet: „Der EU- und Nato-Partner Ungarn hat eine erste Lieferung von Leopard-2-Kampfpanzern erhalten. Deutschland plant in den nächsten Jahren Waffenlieferungen für mehr als 1,7 Milliarden Euro nach Ungarn.“ Bisher hat die Waffenschmiede Krauss-Maffei-Wegmann allerdings nur vier gebrauchte Leopard zu Schulungszwecken an Ungarn verscherbelt, doch der ungarische Verteidigungsminister gerät schon jetzt ganz aus dem Häuschen: „Der Traum vieler Panzersoldaten geht heute in Erfüllung.“

Ab 2023 erhält Ungarn dann 44 neue Leopard 2A7. Und feste dabei als Zulieferer ist – Kölner, merkt auf! – die Rheinmetall Group aus Düsseldorf. In deren Pressearchiv kann man nachlesen: „Rheinmetall ist bei dem Vorhaben Partner von Krauss-Maffei Wegmann (KMW). KMW hatte im Dezember 2018 von den ungarischen Landstreitkräften den Auftrag zur Lieferung von 44 neu gefertigten Kampfpanzern Leopard 2A7+ und 24 neu gefertigten Panzerhaubitzen PzH2000 erhalten.

Was macht Ungarn mit den deutschen Panzern?

Was macht Ungarn nur mit all den Panzern? Laut Faktenfinder der Tagesschau hat der Antidemokrat, Antisemit und Gegenaufklärer Viktor Orbán schon im Juli 2018 vor allerlei Anti-Christen gewarnt: „In Europa läuft gerade ein Bevölkerungswechsel. Teilweise deswegen, damit Spekulanten, (…), viel Geld verdienen können. Sie möchten Europa zerstören, weil sie sie sich davon große Profite erhoffen. Anderseits haben sie auch ideologische Motive. Sie glauben an ein multikulturelles Europa, sie mögen das christliche Europa nicht, sie mögen die christlichen Traditionen Europas nicht, und sie mögen Christen nicht.“

Ja, wenn das so ist. Da ist es nur recht und billig, dass bundesdeutsche Rüstungskonzerne Viktor Orbán bei der Verteidigung des Abendlandes unter die Arme greifen und die EU dazu äußerst hörbar schweigt. Sonst wüchse ja nicht zusammen, was zusammengehört.




Die Rettung des Planeten kann auch aus Poesie erwachsen: Andri Snær Magnasons aufrüttelndes Buch „Wasser und Zeit“

Wenn ein Thema dieser Zeit global und entsetzlich entgrenzt genannt werden kann, dann das wohl dringlichste überhaupt: der Klimawandel. Es ist denn auch viel mehr als ein „Thema“ unter anderen, es geht ja um die ganze Existenz des Planeten und unseres Daseins.

So darf es auch nicht verwundern, dass der isländische Autor Andri Snær Magnason für sein streckenweise aufrüttelndes Buch eine geradezu verwegene Mixtur anrührt, indem er beispielsweise vorzeitlichen und immer noch nachwirkenden Bezügen zwischen seiner karstigen Heimat und dem Himalaya nachspürt. Dermaßen auffällig erscheinen ihm landschaftliche, spirituelle und mystische Querverweise, dass es kein Zufall mehr sein könne, sondern höherer und tieferer Sinn darin liegen müsse, der jede dürre Schulweisheit übersteigt oder jedenfalls überhöht. Nicht nur mit Daten, sondern auch und vor allem mit Dichtung lasse sich vor Augen führen, wie schön das Verlorene war und wie ernst die jetzige Situation ist.

„Mit Gottes stillegeschwängerter Kosmosweite“

Der ungemein vielseitige Schriftsteller Magnason (Kinderbücher, Theaterstücke, Lyrik, Romane, Sachbücher), der auch schon mal bei der Präsidentschaftswahl seines Landes kandidiert hat, findet, dass wir noch gar keine adäquate Sprache gefunden haben für die drohenden Katastrophen, die ihn wiederum an die altisländischen Vorstellungen vom Ragnarök (Weltuntergang) gemahnen. Elemente der geistesgeschichtlich überlieferten „Romantik“, Naturanbetung und beseeltes Erzählen scheinen nach seiner Ansicht hierbei entschieden weiter zu führen als nur rationale Betrachtungen oder prognostische Berechnungen. In poetischer Diktion wird ein Gletscher-Erlebnis vollends überwältigend, so heißt es etwa in einem Text des Romantikers Helgi Valtysson: „Und dein Selbst verschmilzt wie eine bebend erklingende Saite mit Gottes stillegeschwängerter Kosmosweite…“ Für Magnason ist es keine Frage mehr, dass dieses Gefühl und seine natürliche Grundlage bewahrenswert sind. Freilich ließe sich das alles auch als Esoterik denunzieren, aber es gibt ungleich Wichtigeres zu tun.

Nach einer passenden Sprache suchen

Traditionelle isländische Sprechgesänge, noch von den Großeltern des Autors überliefert, korrespondieren mit einer damals noch recht intakten Natur, vor allem mit den mächtigen Gletschern, die nun längst dahinschmelzen; ein höchst beunruhigendes Phänomen, das abermals auf die Himalaya-Region bezogen wird, wo das Leben vieler Millionen Menschen vom alljährlichen Zyklus des Gletscherwassers abhängt. Wasser und Zeit…

An einem etwas anders gelagerten Beispiel sucht Magnason zu erläutern, wie Menschen ihre Lage gar nicht begreifen können, wenn sie keine passenden Worte für akute Zustände haben. So habe schon um 1809 der dänische Abenteurer Jørgen Jørgensen den Isländern erzdemokratische Freiheitswerte und Unabhängigkeit gepredigt, doch das Volk habe überhaupt nicht gewusst, wovon er da redete – und sei der dänischen Fremdherrschaft hörig geblieben.

„Jedes Leben ist eine Lebensaufgabe“

Das Buch führt in die Frühzeit der isländischen Gletscherforschung in den 1930er Jahren, die wiederum verwoben wird mit der Familiengeschichte des Autors, welche auch in andere Bereiche ausgreift. Wer kann schon von sich sagen, dass ein Großvater in die USA ausgewandert ist und dort als Arzt sowohl den Schah von Persien als auch Andy Warhol operiert hat? Wer kann mit Fug behaupten, ein Onkel sei weltweit ein Pionier bei der Rettung nahezu ausgerotteter Krokodile gewesen? Wie heißt es doch auf Seite 139 so allgemeingültig: „Jedes Leben ist eine Lebensaufgabe…“

Was einem zwischendurch wie bloße Abschweifung erscheinen mag, markiert in Wahrheit wohl die Spannweite der möglichen und (prinzipiell jedem zugänglichen) Lebenserfahrung, die eben potentiell auch rückwärts bis zu den Vorfahren und vorwärts bis zu Kindern und Enkeln reicht. Auch schon vor ergänzender Lektüre begründet dies eine Verantwortlichkeit für den Zustand der Welt. Die fassbare Dimension der Zeit umgreift mehr als das eigene Leben. Diese Einsicht bewirkt, dass man über sich und seine Generation hinausdenkt; dass man gewahr wird, wie sehr die Erde sich seit den Ahnen geändert hat, welche Verluste bereits eingetreten sind. Das Schicksal der Erde dreht sich derweil nicht mehr um zigtausend Jahre, es steht – so der glaubhaft erschreckende Befund – Jahr um Jahr mehr auf dem Spiel, ist vielleicht schon bald unwiderruflich besiegelt.

Welch eine Bürde für die Nachgeborenen!

Von immer neuen Seiten beleuchtet der Autor die gigantische Bedrohung. Gelegentlich scheint das Buch thematisch etwas auszufransen, doch nimmt es auch immer wieder die Hauptspur auf. Der Zufall (oder die Fügung?) wollte es, dass Magnason mehrfach Gespräche mit dem Dalai Lama führen durfte, dessen Weisheit in allen Dingen mit staunenswerter Zuversicht einhergeht, wie denn überhaupt gegen Schluss des Bandes einige Entwicklungen und Forschungen anklingen, in denen Lösungsansätze stecken könnten. Doch es geht eben nicht nur um Forschung, sondern zuallererst um Haltung und Entschlusskraft. Und Magnason ist überzeugt: Die jetzt heranwachsende ist die letzte Generation, die die Erde retten kann. Welch eine Bürde!

Andri Snær Magnason: „Wasser und Zeit. Eine Geschichte unserer Zukunft“. Aus dem Isländischen von Tina Flecken. Insel Verlag, 304 Seiten, 24 Euro.

 




Soziale Miniaturen (22): „Allet menschlich, wa?“

(Foto: BB)

Da hinten saust ein Mann, wohl um die 50, etwas beleibt, aber noch halbwegs drahtig, mit dem Fahrrad durch die Wiese, als sei da ein Weg. Doch er fährt mitten durchs Gras. Kurz vorm Seeufer wirft er das Fahrrad hin und entledigt sich schon mal seines Shirts.

Auch wir halten – oben am Weg – mit unseren Fahrrädern an. Sofort ruft er mit „Balina“ Zungenschlag lauthals von unten her, ob mit den Rädern alles in Ordnung sei. Jaja, schon gut, alles bestens. Auch wir nähern uns nun zu Fuß dem Ufer, weil wir dort eine Reitergruppe erwarten und fotografieren möchten. Er hat sich inzwischen vor ein Gebüsch postiert und pinkelt dort ohne Umstände drauflos, immerhin noch den Rücken zu uns gekehrt. Derweil redet er weiter, sich allmählich nahezu ins dialogbereite Profil drehend. Er hat entdeckt, dass die Reitgruppe (mit Kindern) einen anderen Weg genommen hat und macht ausgiebig Mitteilung. Ohne ihn, so strunzt er, hätten wir “dit nich jemerkt“. Und weiter verkündet er: Das mit dem Wetter könne ja nur besser werden. Er sonne sich hier immer gern. Mit dem Ausruf „Allet menschlich, wa?!“ lässt er auf einmal die Hose runter und schickt hinterdrein: „Der Arsch ist noch nicht braun!“ Aha.

Ist das nun die alte FKK-Seligkeit Marke DDR, aus Zeiten, als dies eine der wenigen Freiheiten war? Ist es nordostdeutsche Landsmannschaftlichkeit, schroff aber herzlich? Ist es persönliche Disposition? Vielleicht von allem etwas. Leute wie er machen nicht viel Federlesens. Und man fragt sich, ob und auf welchen Feldern sie reibungslos durchs Leben kommen. Antwort offen. Hose auch.

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Soziale Miniaturen (21): Vor dem Sprung

An der Straßenecke schaust du unwillkürlich nach oben: Da hängt einer im Fenster, vornüber gebeugt, die Beine weit voraus, überhaupt das Schwergewicht schon beinahe außerhalb des dahinter liegenden Zimmers.

Zuallererst könnte man es für eine unvernünftige Wette halten; eine Wette zwischen ihm dort oben und dem Mann, der hinter ihm im Raume steht. Doch schnell wird klar, dass es ernst ist, dass der Hintere ihn dringlich vom Sprung abhalten will, durch fortwährendes gutes Zureden. Vielleicht hat den Sprungbereiten eine Frau verlassen, vielleicht ist ihm jemand gestorben. Mag sein, dass er auch unter Drogen steht. In diesem Augenblick ist es zweitrangig.

Die Vorortstraße ist zu dieser nachmittäglichen Sonntagszeit nicht belebt, nur ganz vereinzelt stehen da ein paar Leute und schauen ebenfalls hoch, beklommen schweigend. Erst recht ist da niemand, der „Spring doch!“ oder dergleichen ruft. Muss man das eigens feststellen?

Es ist zwar ein Dachfenster, doch liegt es „nur“ im zweiten Obergeschoss. Es geht vielleicht fünf Meter hinab in einen Vorgarten. Der verzweifelte Mann, der erbärmliche, nahezu animalische Leidenslaute hervorwürgt, würde sich beim Sprung erheblich verletzen, aber wohl nicht zu Tode stürzen. Das mindert jedoch nicht das Desolate der Situation, es mischt ihr einen giftigen Schuss von Komik bei, welche die Verzweiflung umso greller hervortreten lässt. Für jedwede Lächerlichkeit hat dieser Mensch kein Empfinden mehr…

…und schon kommt ein Rettungswagen, den der Freund des Verzweifelten inzwischen gerufen hat. Nur einige Sekunden vor dem Eintreffen ist der Mann wimmernd ins Zimmer zurückgekrochen. Das Fenster ist nun geschlossen, die unmittelbare Gefahr ist offenbar vorüber. Was sich drinnen abspielt, geht uns weiter nichts an.

Fast wortlos, umsichtig, mit betonter, fast schon gespenstischer Routine wickeln die Sanitäter ab, was getan werden muss. Es möchte scheinen, als lebten wir immer noch in einer wohlversorgten Gesellschaft.

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