Überbleibsel der erlebten Geschichte – Essener Ausstellung „Maikäfer flieg…“ über Kindheitserfahrungen 1940 bis 1960

Von Bernd Berke

Essen. Dinge, die uns umgeben, können Gefühle oder Erinnerungen speichern und beim Anblick freisetzen. Erst recht gilt diese Magie für Sachen aus der Kindheit. Auf dieser psychologischen Tatsache fußt jetzt eine alltagsgeschichtliche Ausstellung im Essener Ruhrlandmuseum.

„Maikäfer flieg… / Kindheitserfahrungen 1940 bis 1960″ versammelt, thematisch gut sortiert, schier tausend Gegenstände des damaligen Kinderlebens. Beispielsweise sieht man jede Menge charakteristisches Spielzeug vom abgewetzten Teddybär bis zum Stabilbaukasten; von der aus Lumpen notdürftig, doch erkennbar liebevoll gefertigten Puppe bis zur ersten elektrischen Eisenbahn. Welch ein Weg vom Elend bis zum bescheidenen Wohlstand – auch in der Kinderstube. Hier wird geschichtlicher Wandel so greifbar wie selten.

Wenn man einem der gemeinten Jahrgänge angehört, fühlt man sich von etlichen Gegenständen sogleich „angesprochen“, man könnte hie und da seufzen: Genau einen solchen Schulranzen hat man selbst mal auf dem Rücken bugsiert. Dieses spezielle Kasperltheater, jene Ritterburg, die Lego-Steine im knittrigen Pappkarton, Schiefertafel und Griffelkasten – sie kommen einem nicht nur bekannt, sondern geradezu verwandt vor.

Doch der historische Reigen beginnt schon einige Jahre früher, und da sieht man auch solche Exponate (Zitat): „1945, nach der Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft aus einer zerrissenen Tarnjacke für den jüngeren Bruder hergestellter Teddybär – Höhe 24 Zentimeter“. Der Petz hat ‚was mitgemacht, er sieht aus wie ein Versehrter, herzzerreißend in seiner symbolischen Kraft. Sodann die unmittelbare Nachkriegszeit: dürftige Kleidung, Drill und frühes Leid in so genannten „Kinder-Kuren“.

Private Leihgeber plünderten Keller und Speicher

Die Ausstellungsmacher Mathilde Jamin (Jahrgang 1948) und Frank Kemer (1958) haben die mit den Jahren so kostbar gewordenen Lebenszeit-Schätze per Zeitungsaufruf erhalten. Rund 200 private Leihgeber (die meisten aus dem Revier), welche fürs Publikum anonym bleiben, haben Keller und Speicher geplündert, der Katalog enthält auch ihre zugehörigen, oft bewegenden Erzählungen.

Für die jeweilige Zeit aufschlussreiche Kinderbücher (in denen etwa bis in die 60er Jahre noch von „Negerbuben“ die Rede ist) kamen ebenso zutage wie etwa unscheinbare Zettel, die man damals aufhob und die nun Bruchstücke der Zeitgeschichte bezeugen. Etwa so: Auf der Vorderseite Mutters Liste des im Krieg verbrannten Besitzes, hinten drauf Tochters gemaltes Phantasiebild von einer Prinzessinnen-Hochzeit. Dicht an dicht: existenzielle Sorge und sorgloser Traum zweier Generationen.

Nachvollziehbare These der Museumsleute: All diese Erinnerungsstücke gehen längst nicht restlos in der großen Historie auf, sondern ragen irgendwie darüber hinaus, weil sie eine Aura entwickeln. Sie bewahren etwas auf, was dürre Geschichtsdaten niemals vermitteln können. Und noch eine triftige Behauptung: Bis in die 60er hinein gab’s die „altmodische“, seither eine ganz andere Form der Kindheit. Der Zeiten-Riss entzweite manchmal gar Geschwister.

„Maikäfer flieg“ – da fällt den Älteren sofort die Lied-Fortsetzung „Der Vater ist im Krieg“ ein. Viele Objekte stehen für schmerzliche Abwesenheit: Feldpostgrüße, letzte gemeinsame Fotos, Vermissten-Meldungen. Es sind Überbleibsel der an Leib und Seele erlittenen Geschichte.

Bis 6. Januar 2002. Ruhrlandmuseum (Essen, Goethestraße 41). Di-So 10-18, Fr 10-24 Uhr. Eintritt 10 DM, Katalog 35 DM.

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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