Selten satanisch, meistens aufklärerisch: Umberto Ecos kurzweilige Kolumnen zur „flüssigen Zeit“ der Gegenwart

Wenn prägende Gestalten der Geisteswelt verstummen, so mag man dennoch Denkart und Tonfall nicht missen. Es soll noch etwas bleiben, möglichst sogar bislang Unbekanntes aufscheinen. Also wird der Nachlass durchgesehen oder Fragmentarisches posthum herausgebracht. Im Falle von Umberto Eco (1932-2016) liegt nun ein Buch vor, das er – zumindest im italienischen Original – offenbar noch selbst besorgt hat.

Unter dem etwas kryptischen Titel „Pape Satàn“ (geht auf Dantes „Göttliche Komödie“ zurück, reflektiert wohl allerlei Teufeleien, hat aber laut Eco Interpreten scharenweise verzweifeln lassen) gibt es jetzt weitere „Streichholzbriefe“ zu lesen, jene kurzen Kolumnenbeiträge, für die Eco sich Stichworte just auf den leeren Innenseiten von Streichholzheftchen notiert hat.

Notizen auf Streichholzheftchen

Das Vorwort zur 2016 in Italien erschienen Zusammenstellung stammt noch von Eco selbst, also war er gewiss auch an der Textauswahl beteiligt. Insofern darf das Buch als eine Edition letzter Hand gelten, für die deutsche Ausgabe gilt dies freilich nur sehr bedingt.

In der Einleitung rechnet Eco vor, er habe ab 1985 (zunächst wöchentlich, dann alle 14 Tage) Kolumnen fürs Nachrichtenmagazin L’Espresso verfasst, macht über 400 in den Jahren 2000 bis 2015. Aus diesem neueren Fundus stammen also die vorliegenden Streiflichter, die sich kreuz und quer über die Themenfelder der unübersichtlichen Gegenwart bewegen. Es kann bei dieser Textsorte nicht um den ganz großen Wurf gehen, sondern eher um zugespitzte Denkanstöße. Gerade das garantiert Kurzweil.

Schwund des Verlässlichen

Eco konstatiert den Schwund alles Festen und Verlässlichen, Welt und Zeit hätten sich gleichsam verflüssigt, die Geschichte werde von lauter Jetzigem überschwemmt. Als eine Haupttriebkraft solcher Entwicklungen macht der Autor – nicht allzu überraschend – das Internet aus, das für ihn spürbar „Neuland“ bedeutet.

In Zeiten des Netzes wolle jeder gesehen und oder anderweitig wahrgenommen werden – egal wie. Auch kein sonderlich origineller Befund, möchte man meinen. Doch Vorsicht mit solchen Urteilen. Man sollte stets die Jahreszahl unter den einzelnen (nicht chronologisch geordneten) Beiträgen berücksichtigen. Anno 2000 oder 2002 war manches in der virtuellen Welt noch nicht so sichtbar wie heute. Und auch Schriftsteller vom Schlage eines Umberto Eco müssen sich erst einmal zurechtfinden. Dafür denken sie dann auch gründlicher als so mancher vorlaute „Netzaktivist“.

Rabiat gegen Handymanie

Vor dem Hintergrund eines von ihm behaupteten Generationenkriegs (Alt gegen Jung) kann Eco freilich auch schon mal ziemlich rabiat austeilen. 2015 hat er äußerst aggressiv gegen die allgegenwärtige Handymanie gewettert. Zitat: „Eigentlich müsste man diese hektischen Dauertelefonierer schon als Kinder töten, aber da nicht jeden Tag ein Herodes zu finden ist, empfiehlt es sich, sie wenigstens als Erwachsene zu bestrafen…“ Das klingt wirklich mal ziemlich satanisch…

Nicht ohne Entsetzen stellt Eco fest, dass das Netz so vieles mit sich reißt. Es verändert die Lyrik. Es verlagert alle Magie in die Technik. Es sorgt für permanente Sex-Aufstachelung. Und so weiter. Ein kritischer Umgang mit diesem krakenhaften Medium ist das Mindeste, was demnach anzuraten wäre. So schlägt Eco auch vor, dass Zeitungen regelmäßige Internet-Kritiken veröffentlichen sollen, um ganz allmählich die Spreu vom Weizen zu trennen. Hört sich nach dem Bohren sehr dicker Bretter an. Wahlweise auch nach einer Luftnummer. Aber man könnte es ja mal probieren.

Verschwörung und Verschleierung

Eco steht in bester aufklärerischer Tradition. Sehr zeitgemäß muten seine betont nüchternen Überlegungen zu Verschwörungstheorien an. Eine Erkenntnis: Natürlich gibt es tatsächlich etliche Verschwörungen, aber eben nicht die eine große Weltverschwörung, auf die alles zurückzuführen wäre. Was zu beweisen war.

Ähnlich nüchtern, pragmatisch und unaufgeregt (den Klischees zufolge fast so, als wäre er ein Engländer und kein Italiener) legt Eco beispielsweise dar, was vom Antisemitismus zu halten ist. Auch sinnt er über Verschleierung nach und kommt u. a. zu diesem speziellen Befund: „Versteht man unter Schleier jene Art von Kopftuch, bei der das Gesicht unbedeckt bleibt, dann mag ihn tragen, wer will (zumal er, wenn hier ein unbefangenes ästhetisches Urteil erlaubt ist, das Gesicht veredelt und alle Frauen wie Madonnen von Antonello da Messina aussehen lässt).“ Übrigens spricht sich Eco auch gegen das böswillige Karikieren jeglicher Religion aus…

Was Prosa von Poesie unterscheidet

In den Beiträgen, die summarisch mit „Über Schreiben und Lesen“ betitelt sind, befürwortet Eco kalligraphische Übungen, weil seit Erfindung des Kugelschreibers das hässliche Schreiben überhand genommen habe. Erfreut konstatiert er ein staunenswertes Interesse vieler junger Leute an Literatur und Philosophie (mit Massenpublikum bei Lesungen und Diskussionen), lässt sich über Sinn und Unsinn akademischer Festschriften aus und erläutert den Unterschied zwischen Prosa (erst die Dinge, dann die Worte) und Poesie (erst die Worte, dann die Dinge). Anhand dieser kurzen Aufzählung merkt man schon: Der schmale Band bietet reichlich Abwechslung.

Eins noch, eher nebenbei: Den Anmerkungen des Übersetzers Burkhart Kroeber lässt sich entnehmen, wie viel substanzielle, von Eco angeführte Literatur bisher nicht ins Deutsche übertragen worden ist – und das, wo die Deutschen doch als weltweit fleißigste literarische Übersetzer gelten.

Umberto Eco: „Pape Satàn“. Chroniken einer flüssigen Gesellschaft. Für die deutsche Ausgabe ausgewählt, übersetzt und eingerichtet von Burkhart Kroeber. Hanser Verlag. 222 Seiten. 20 €.

 

 

 




Viele, liebe, beste, schöne, freundliche, herzliche Grüße: Die etwas unklare Rangordnung der Grußformeln

Handschriftlich wirkt es sowieso anders...

Handschriftlich wirkt es sowieso anders…

Gibt es eine Art Hierarchie der schriftlichen Grußformeln? Inwiefern liest sich und klingt die eine vielleicht eine Spur freundlicher als die andere? Und was geht wirklich zu Herzen?

Bevor wir zur Sache schreiten: „Moin“ läuft außer Konkurrenz und ist auf seine lakonische Art eh unübertrefflich. Gepriesen seien die Friesen. Allerdings kann man das Wörtchen nicht unter jede Korrespondenz setzen. Schade eigentlich.

Abkürzungen wirken eher achtlos

Eine sehr gängige, zuerst wohl von Frauen und heute allgemein verwendete Formel lautet „Liebe Grüße“. Sie hört sich immer ein wenig harmlos an. Man versichert treuherzig: „Ich bin ganz lieb und tu dir nichts zuleide.“ Die Abkürzung LG wirkt hingegen eher wie eine gar zu rasche Pflichtübung und könnte auch Leichtathletik-Gemeinschaft bedeuten.

„Mit freundlichen Grüßen“ oder die angeblich modernere Variante „Freundliche Grüße“ kommen am häufigsten vor, es handelt sich mithin um die schiere Üblichkeit und abgespeicherte Routine. Das schreibt sich einfach so hin. Gedankenlos. Man kann damit nichts falsch machen, gewinnt damit niemanden zum Freund oder schon gar nicht zum Feind. Es bleibt die schwer zu beantwortende Frage, ob die Einzahl („Mit freundlichem Gruß“) eine kaum spürbare Minderung darstellt. Die Abkürzung „MfG“ wiederum kommt achtlos daher.

Gibt es auch unschöne Grüße?

Ziemlich unentschieden im Mittelfeld der Zu- und Abneigungen bewegt sich die Floskel „Beste Grüße“, mir erscheint sie immer ein wenig wie eine Ausflucht. So richtig verbindlich ist sie nicht. Gibt es denn eigentlich auch zweit- und drittbeste Grüße? Und wie verhält es sich mit den schlechteren und schlechtesten Grüßen? Ähnliche Fragen nach weniger schönen, unschönen und hässlichen Grüßen könnte man auch angesichts der Wendung „Schöne Grüße“ stellen; wenn man denn ein pedantischer Misanthrop wäre und alles, aber auch alles mit dem Gift seines Zweifels…

Mit Umarmungs-Gestik kommen „Herzliche Grüße“ daher, man soll sich als Adressat just ins Herz geschlossen fühlen. Jedem Dahergelaufenen würde man solche Grüße wohl nicht entbieten wollen. Manche unterzeichnen ihre Schreiben einfach mit „herzlich“ oder sogar „herzlichst“, was oft ein wenig übertrieben anmutet. Und wenn man mit „in Liebe“ unterfertigt, schwebt man eh auf Wolken.

Die Menge macht es nicht allein

Wer „Viele Grüße“ sendet, will vielleicht mit der bloßen Menge überwältigen. Wobei die Zahl der „vielen“ Grüße ja sehr unbestimmt bleibt. Vielleicht sind es nur neun oder dreizehn Grüße, wer weiß. Aber wer wird denn heute noch altfränkisch formulieren „Es grüßt vieltausendmal…“?

Kleiner Exkurs: Ziemlich lau hört sich die (eher gesprochene als geschriebene) Formel „Grüß Dich!“ an. Ja, was denn sonst? Man grüßt, indem man sagt, dass man grüßt… Brieflich entspricht dem ungefähr „Es grüßt Sie…“ Da sind ja die weithin nur noch leicht ironisiert verwendeten „Grüß Gott“, „Gott zum Gruße“, „Grüezi“ oder „Servus“ noch prägnanter.

Im Revier darf’s auch „Glückauf“ sein

Vom möchtegernwitzigen, elend ausgelutschten „Grüß Gott, wenn du ’n siehst…“ sehen wir mal ganz ab, wohingegen gerade im Ruhrgebiet ein regional traditionssattes „Glückauf“ durchaus angebracht sein kann.

Wenn wir schon bei Regionen sind: „Mit freundlichen Grüßen aus der Hauptstadt Berlin“ ist womöglich eine Ich-zentrierte Anmaßung. Wie es ganz richtig in einem Internet-Ratgeber heißt, dürfte dabei ein Subtext mitschwingen: „Ich grüße dich, den Provinzheini, aus meiner glanzvollen Metropole.“ Mehr auf den Empfänger bezogen, könnte es hingegen auch heißen „Mit freundlichen Grüßen nach Hamburg“ oder gar „Mit freundlichen Grüßen ins sonnige Freiburg“. Andere Orte dürfen jederzeit sinngemäß eingesetzt werden.

Die so ziemlich unfreundlichste Variante, welche ausgesprochen harsch und unwirsch sich anhört, lautet schlichtweg: „Gruß“. So barsch wie ein militärischer Befehl, eher gebellt als gesagt. Wenn das unter einem Brief steht, hat man auch zuvor nichts allzu Freundliches gelesen; eher schon Dinge, die nachher mit der Rechtsschutzversicherung geregelt werden könnten.

Höfisch und höflich

Zu untersuchen bliebe beispielsweise, ob wir im Deutschen weniger Möglichkeiten zum fein differenzierten Grüßen haben als Länder, in denen Adel und Monarchie noch länger oder intensiver eine prägende Rolle spiel(t)en.

Nicht von ungefähr klingen höfisch und höflich verwandt. Tatsächlich gibt es noch jene wohlerzogenen Zeitgenossen, darunter auch ein mir bekannter Rechtsanwalt, die unter ihre Briefe/Mails ein gar zierliches „Höflich grüßt…“ ziselieren. Andere Rechtsvertreter dürfte er wohl „Mit kollegialem Gruß“ bedenken.

Was der Bundeskanzlerin zusteht

Wir erinnern uns leicht gequält an die früher noch viel gebräuchlichere Wertmarke „hochachtungsvoll“ (die bei weitem nicht immer für bare Münze zu nehmen war) und steigen nunmehr einige Stufen auf der gesellschaftlichen Leiter hinauf. Im Wikipedia-Artikel über Grußformeln, in dem es auch heißt, „hav“ sei eine gängige Abkürzung für „hochachtungsvoll“ gewesen, habe ich gefunden, dass unter einem Schreiben an den Bundespräsidenten (falls man ihm denn mal ein paar Zeilen schicken möchte) gefälligst „vollkommene Hochachtung“ zu stehen hat.

Der Bundeskanzlerin, dem Bundestagspräsidenten sowie dem Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts – Frauen bitte immer mitdenken – stünde derweil dienstgradmäßig „ganz ausgezeichnete Hochachtung“ zu. Bei einem Bundesminister oder Ministerpräsidenten ist es nur noch die „ausgezeichnete Hochachtung“, anderen hohen Amtsträgern käme „vorzügliche“ oder „besondere“ Hochachtung zu. Wäre man denn ein Spezi solcher Hochgestellten, könnte man bei eher privaten Angelegenheiten vielleicht „In (alter) Verbundenheit“ hinsetzen.

Schachspieler und Piloten

Ehedem standen derlei Feinheiten vor allem in so genannten „Briefstellern“, in denen man formvollendete Muster vorfand. Eine zunächst noch halbwegs ehrfürchtig, hernach mit viel Spott quittierte Kindheits- und Jugendlektüre hieß zu unserer Zeit „Der gute Ton“. Auch darin standen solche Sachen, die man heute kaum noch nachvollziehen kann, auch wenn immer mal wieder eine Renaissance des Benimms ausgerufen wird.

Apropos: Bei Wikipedia gilt als „veraltete Grußformel“ die folgende: „Mit größtem Respekt und bewundernder Hochachtung verbleibe ich in demütiger Hoffnung…“ Soll man sich heute so devot an ein rabiates Inkasso-Unternehmen oder an Schutzgeldeintreiber wenden? Schlechten Scherz beiseite.

Wie fast bei allen Themen, so öffnet sich auch hier bei näherem Hinsehen ein gar weites Feld, das jederzeit auf Buchstärke anwachsen könnte. Was ist beispielsweise mit speziellen Formen wie „Mit sozialistischem Gruß“, „Mit schachlichem Gruß“, „Glück ab, gut Land“ (Piloten) oder gar „vy 73“ (angeblich unter Funkamateuren üblich)?

Und wie sehen eigentlich zeitgemäße bzw. modische Grüße aus? Spontan fallen mir „Die Macht sei mit Dir“ oder „Keep calm and carry on“ ein. Den schmalen Rest mögt ihr Euch selbst ausmalen.

Und so verbleibe ich mit den besten Empfehlungen Euer

Bernd Berke

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P. S.: Ein Unternehmer (Kaffeebranche), bei dem ich vor Jahr und Tag mal überteuert zur Miete gewohnt habe, gab mir morgens immer seine – übrigens stets bissig erzkonservativen – Leserbriefe mit auf den Weg zur Zeitung. E-Mail hatte man damals noch nicht. Als Anrede (ein Thema für sich) an mich schrieb er immer „SGH Berke“, was „Sehr geehrter Herr“ heißen sollte, aber formell nahezu aufs Gegenteil hinauslief. So viel zum Thema: Kann man jemanden mit Gruß- und Anredeformeln düpieren?




Journalist damals: Möblierter Herr mit mechanischer Schreibmaschine

„Wie war das Leben ehedem / als Journalist doch angenehm.“ Dieser soeben flugs erfundene, allerdings recht wilhelmbuschig oder nach Heinzelmännchen-Ballade klingende Reim stimmt natürlich inhaltlich nicht, aber ein paar Dinge waren damals doch besser. Oder halt anders.

Zepter und Reichsapfel (alias Typometer und Rechenscheibe) als frühere Insignien der Zeitungsredakteure. (Foto: BB)

Zepter und Reichsapfel (alias Typometer und Rechenscheibe) als frühere Insignien der Zeitungsredakteure. (Foto: BB)

Jetzt erzähl ich euch mal was aus der Bleizeit, jedoch quasi impressionistisch, wie es mir gerade in den Sinn kommt:

Zeitungs-Volontär war ich mit knapp 20 Jahren, bereits vor dem Studium. Damals ging so etwas noch. Ich habe etwa 600 DM (Deutsche Mark) im Monat verdient, es gab jede Menge Abendtermine, lediglich 14 Tage Jahresurlaub und für allfällige Sonntagsarbeit noch keinerlei Freizeitausgleich.

Für die paar Kröten…

Mit anderen Worten: Für die paar Kröten hat man aber so richtig geschuftet – bei der „Westfälischen Rundschau“ (WR) damals letzten Endes für die Kassen der SPD, die WAZ-Gruppe ist erst später eingestiegen. In seinen frühen Zwanzigern hielt man Frondienste dieser Sorte noch klaglos aus; zumal man ja glaubte, den Job für alle kommenden Zeiten sicher zu haben.

Ich fand es sogar aufregend. Meine allererste Meldung mit Cicero-Zeile, meine allererste Reportage, meinen allerersten Gerichtsbericht, meine allererste Theaterkritik (zunächst lokalen Ausmaßes). Alles war noch so neu und frisch. Fotos durfte man ebenfalls machen und in abgedunkelten Hinterzimmern oder dito Toiletten selbst entwickeln. Toll.

Von Ort zu Ort

Man war als „Volo“ gehalten, alle paar Monate von Ort zu Ort zu wechseln (in meinem Falle waren das: Olpe, Ennepetal/Gevelsberg, Hamm, Ahlen mit Zwischenstationen in Dortmund und Wanne-Eickel – ich sag’s euch) und wohnte dort jeweils residenzpflichtig in möblierten Zimmern, die der Verlag angemietet hatte. Ja, ich bin als Jungspund in den frühen 70er Jahren tatsächlich noch ein „möblierter Herr“ gewesen. Schon damals hatte es etwas Vorgestriges.

Andererseits sind Journalisten zu jener Zeit von diversen Institutionen noch ein wenig hofiert und umgarnt worden, auch gab es prozentual und absolut ungleich mehr Zeitungsleser, die überdies noch etwas mehr Respekt hatten. Wir „Zeitungskerle“ (so mein altvorderer Kollege Charly P.) galten noch etwas, jedenfalls auf lokaler Ebene. Da gab’s vielleicht schon mal einen erzürnten Leserbrief, aber keine wüsten Beschimpfungen, erst recht keinen „Shitstorm“ oder gar Drohungen wie hie und da jetzt.

Klare Partei-Präferenzen

Der Deutsche Journalistenverband (DJV) hat kürzlich in seinem Newsletter aus einer Studie über die erschreckenden Erfahrungen zitiert, die viele Kollegen heute, in den Zeiten des „Lügenpresse“-Gegröles, damit machen müssen. Früher waren solche Zustände undenkbar.

Als WR-Redakteur hielt man es damals tunlichst eher mit den Sozialdemokraten. Ruhrnachrichten und Westfalenpost galten hingegen als CDU-nah. Wie hübsch die Präferenzen damals noch verteilt waren… Und damit es nur deutlich gesagt ist: Journalisten fungierten in dieser anscheinend klar gegliederten Welt zuweilen auch als nützliche Idioten, als Erfüllungsgehilfen der Polit-Darsteller ihrer jeweiligen Couleur. Manchmal ging es vollends unverblümt her: Ein WR-Lokalchef war zugleich SPD-Ratsherr – in der Nachbarstadt, so dass er wenigstens nicht über sich selbst berichten musste.

Zigaretten zur Selbstbedienung

Jedenfalls war es in den 70ern und bis in die frühen 80er hinein noch üblich, dass bei so manchen lokalen Pressekonferenzen Kästchen mit Zigaretten zur gefälligen Selbstbedienung auf dem Tisch standen. Geraucht wurde immer und zu jeder Gelegenheit. Der eine oder andere Kollege verließ den Termin nicht, ohne den notorischen „Journalisten-Rollgriff“ angewendet zu haben, sprich: Er nahm noch einige zusätzliche Zichten als Wegzehrung mit. Wie hatte Kurt Tucholsky in den 20er Jahren schon geschrieben: Journalismus sei ein Beruf, den man (nur) mit der Zigarette im Mundwinkel ausüben könne.

Grundnahrungsmittel Bier

Hinzu kam, bevor die Computer Einzug hielten und die Korrektoren eingespart wurden, als tägliches Grundnahrungsmittel mindestens das Bier. Gelegentlich ging es damit schon (oder erst?) mittags los, wenn andere Berufe schon ihren Grundpegel erreicht hatten. Die mit der mechanischen Schreibmaschine gehackten und per Kurier oder Regionalzug zur Zentrale geschickten Manuskripte wurden ja dort allesamt noch mehrfach überprüft. Was sollte also schon passieren? Noch Mitte der 80er Jahre gab es vereinzelt Ausstellungs-Vorbesichtigungen, zu denen stilvoll und kultiviert Cognac gereicht wurde, was allerdings auch mit der Disposition gewisser Museumsleiter zu tun hatte. Zum Wohle? Nun ja. Wie man’s nimmt.

In New York verwöhnt

Heute ziemlich undenkbar wäre auch ein Kulturtermin, der die seinerzeit noch zahlreicheren Regionalblätter von Nordrhein-Westfalen mit einem beachtlichen Tross nach New York führte und aus dem Etat des Düsseldorfer Kulturministeriums bestritten wurde. Einziger Anlass war ein bevorstehendes NRW-Kulturfestival im Big Apple, von dem unsere Leser eigentlich herzlich wenig hatten. Doch man verwöhnte uns geradezu korrumpierend mit Linienflug, Unterkunft in einem noblen Hotel und einem hochinteressanten Programm, das vom Besuch bei der New York Times bis zum eigens polizeilich geschützten Trip durch die seinerzeit so gefährliche Bronx reichte. Als das Land NRW noch glaubte, Geld freihändig ausstreuen zu können…

Auch hättet ihr gestaunt, wenn ihr gesehen hättet, was in der Vorweihnachtszeit an Firmen-Präsenten in unserer Wirtschaftsredaktion eingetroffen ist. Die Kollegen konnten die Gaben schwerlich zurückschicken, machten das Beste daraus und organisierten alljährlich eine Verlosung, zu der sich auch noch unsere betagten Rentner bemühten.

Aber ich verplaudere mich.

Verdichtung der Arbeit

Spätestens seit Anfang der 80er wurde die gesamte Zeitungsbranche mit Aufkommen der Computer recht zügig diszipliniert. Die Arbeit verdichtete sich zusehends, man schrieb nicht nur, sondern war nun auch gleichzeitig Layouter, Setzer, Korrektor und Schlussredakteur. Irgendwann war es so weit, dass man sich keine Mittagspausen mehr erlauben konnte, sondern nur noch hastig etwas nebenbei verschlang. Die Leute, die in den Beruf nachrückten, waren im Schnitt stromlinienförmiger als ihre älteren Kolleginnen und Kollegen. Vorher gab es noch Typen. Typen…




Mode bis zum Tode: Jelineks „Das Licht im Kasten“ und Houellebecqs „Unterwerfung“ in Düsseldorf

Düsseldorf und Mode – das passt wunderbar zusammen. Den Stücktext dazu liefert die Schriftstellerin Elfriede Jelinek. Auch in Michel Houellebecqs „Unterwerfung“ ändern sich die Kleidervorschriften: Miniröcke sind plötzlich out, lange züchtige Gewänder dagegen angesagt. Zwei Inszenierungen am Düsseldorfer Schauspielhaus beschäftigen sich mit dem Geist der Zeit.

Szene aus „Unterwerfung“ (Foto: David Baltzer)

Zynische, abgründige und hoffnungslose Zukunftsszenarien sind die Spezialität des französischen Autors Michel Houellebecq. In seinem Roman „Elementarteilchen“ geht es um die Gentechnik und darum, welche Auswirkungen die Möglichkeit zur gesteuerten Reproduktion auf die menschliche Gesellschaft haben könnte.

In dem Buch „Unterwerfung“ imaginiert Houellebecq ein Frankreich im Jahre 2022, in dem nach bürgerkriegsähnlichen Zuständen zwischen Anhängern des rechten und linken Lagers schließlich ein muslimischer Staatspräsident an die Macht kommt. Eine unheimliche Aktualität erhielt der Roman dadurch, dass er zeitgleich mit dem Attentat auf die französische Satire-Zeitschrift „Charlie Hebdo“ im Januar 2015 herauskam. Wurde das Werk von der Realität eingeholt?

In Hamburg, Berlin und Düsseldorf (Regie: Malte C. Lachmann) steht „Unterwerfung“ als Bühnenstück im Moment auf dem Spielplan und doch hat man in Zeiten von Trump, Putin und Co. schon fast den Eindruck, es sei bereits wieder obsolet geworden: Wo gerade Mauerbau statt Gründung einer Muslim-Universität ansteht.

„Liberté, Egalité, Fraternité“ – die Kernbotschaft Frankreichs bestimmt das Bühnenbild (Ursula Gaisböck). Wenn auch als Möbeldesign, denn der Wissenschaftler François (Christian Erdmann) nutzt die hölzernen Buchstaben gerne als Sitzgelegenheit. Mit seinem Glauben an die Werte der Demokratie ist es allerdings nicht mehr so weit her: Lieber pflegt er seine Depressionen und leidet an der Leere seiner Beziehungen. Christentum oder Islam – auch das ist ihm letztlich wurscht, Hauptsache, er hat sein Auskommen und die Frauen sind nett zu ihm.

Wie Houellebecq die Ausgehöhltheit der westlichen Werte dem Machtanspruch religiöser Fundamentalisten gegenüberstellt, das zeugt von abgründiger Ironie – die allerdings im Roman deutlicher zutage tritt als auf der Bühne. Hier wirken manche Thesen merkwürdig platt, vor allem die frauenfeindlichen Sprüche sind gut für Lacher im Publikum. Dass Francois sich selbst damit ebenso bloßstellt und die Frauen in ihm ohnehin nur ein Würstchen sehen, kann man so leicht vergessen.

Szene aus „Das Licht im Kasten (Straße? Stadt? Nicht mit mir!)“. (Foto: Sebastian Hoppe)

Weiblichkeit und der (teilweise masochistische) Blick der Frauen auf sich selbst sind die Themen von Elfriede Jelinek: In „Das Licht im Kasten (Straße? Stadt? Nicht mit mir!)“, inszeniert von Jan Philipp Gloger, bildet die Mode den Fixpunkt, an dem sich die Frauen auf der Bühne zu orientieren suchen. Doch finden sie sich dabei? In den immer gleichen und doch immer neuen Kleidern? Die irgendwie an den Models immer besser aussehen als an einem selbst? Und wer steckt überhaupt in diesen Kleidern? Eine Person? Oder doch nur ein Nichts?

Die Jelineksche Textfläche plätschert über einen hinweg, mit Ironie, Nonsens, Leichtigkeit und Tiefgründigkeit. Mitunter wird es auch philosophisch, zum Beispiel wenn Kant und Heidegger Tennis spielen. Oder politisch, wenn die Umstände der Textilherstellung in der dritten Welt angeprangert werden.

Absolut grandios aber ist das Bühnenbild (Marie Roth): Ein kleiner Wald in dem Manuela Alphons, Tabea Bettin, Judith Bohle, Claudia Hübbecker, Karin Pfammatter, Lou Strenger, Julia Berns bzw. Tanja Vasiliadou herumstolpern, auf plüschige Hasen und große Füchse treffen, um sich dann nach den Shopping-Raubzügen in einem stilvollen Bungalow zu versammeln und ihre Beute anzuprobieren, ein Gläschen Weißwein zu trinken und – weiter zu shoppen: im Internet nämlich!

Der schwerbeladene Paketbote klingelt gleich mehrmals und bringt wieder den neuen alten Rock. Rot ist der und sieht an jeder anders aus, aber auch gleich. Der Regie gelingt das Kunststück, das Textmonstrum zu strukturieren und äußerst spielerisch und unterhaltsam zu dramatisieren. Das ist nicht zuletzt der Verdienst der großartigen Schauspielerinnen aller Altersstufen, die Mode bis zum Tode lustvoll durchexerzieren.

Karten und Termine: www.dhaus.de




Das Leben ohne Verdünnung: Otto Dix in Düsseldorf

Otto Dix: "Bildnis der Tänzerin Anita Berber", 1925. (Sammlung Landesbank Baden-Württemberg im Kunstmuseum Stuttgart / © VG Bild-Kunst, Bonn 2016)

Otto Dix: „Bildnis der Tänzerin Anita Berber“, 1925. (Sammlung Landesbank Baden-Württemberg im Kunstmuseum Stuttgart / © VG Bild-Kunst, Bonn 2016)

Er hatte was, dieser junge Mann aus dem Osten. Eine Frechheit, einen Charme, ein markantes Gesicht. Er trug schicke Anzüge, aber er sah darin nicht aus wie ein Bürger, eher wie ein Gangster aus dem Kintopp. Und malen konnte der Kerl, zum Fürchten!

Die Gesellschaft im Düsseldorf der locker-leichten 1920er-Jahre war irritiert, amüsiert, fasziniert. Otto Dix (1881-1969), im thüringischen Kaff Untermhaus geborener Sohn eines Eisengießers, machte 1922-25 sein Glück am Rhein, hier startete er seine Karriere. „Der böse Blick“, so der Titel einer grandios sortierten und arrangierten Schau im K20, führte den Meister der sogenannten Neuen Sachlichkeit geradewegs in den Olymp der Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts.

Am liebsten möchte man sofort die fatalen Weiber sehen, für die Dix berühmt wurde. Seine „Tänzerin Anita Berber“ von 1925, dieses kaputte Luder aus der Berliner Szene, lockt und leuchtet weit und breit an der Fassade der Düsseldorfer Landesgalerie: kreidebleich, mit rotem Haar, roten Lippen und rotem Kleid im roten Licht wie eine Teufelsbraut. Und da drinnen sind noch viele andere – „Mieze“ mit den Krallenhänden, „abends im Café“, die lauernde „Liegende auf Leopardenfell“ oder „Ellis“, die hinter einem koketten Schleier die gelben Augen und das bissige Grinsen einer bösen Katze zeigt. Sie sind alle Teil der Vorstellung, die wir uns – auch durch Dix – von den wilden 20er-Jahren machen.

Der Künstler Otto Dix im Jahr 1919, Fotograf unbekannt (Otto Dix Stiftung / Foto Kunstsammlung NRW)

Der Künstler Otto Dix im Jahr 1919, Fotograf unbekannt (Otto Dix Stiftung / Foto Kunstsammlung NRW)

Der Mensch im entfesselten Zustand

Aber man sollte erst einmal nach links gehen, in den Ausstellungssaal, der konzentriert von dem Ereignis handelt, das den Optimismus des frühen 20. Jahrhunderts zerschmetterte. Der Weltkrieg 1914-18 veränderte alles. Wie viele Künstlerkollegen war auch der talentierte junge Dix freiwillig an die Front gezogen, um, wie er sagte, „etwas Gewaltiges“ zu erleben, „den Menschen in diesem entfesselten Zustand“.

Soldat Dix schoss unbekannte Gegner nieder, wurde selbst verwundet. Er sah Panik, Verwüstung – und er zeichnete, hielt alles fest. Zehn Jahre später entstand seine legendäre Grafikfolge „Der Krieg“. Drastischer als Dix kann man das Entsetzen nicht zeigen: die Grimassen der Toten, die Kadaver der Pferde, die aufgerissenen Augen, die zerbombte Erde.

Otto Dix: "Sturmtruppe geht unter Gas vor" (Detail), 1924. Aus: "Der Krieg", Zyklen aus 50 Radierungen, 2. Mappe (Otto Dix Archiv, Bevaix / © VG Bild-Kunst, Bonn 2016 / Foto Kunstsammlung NRW)

Otto Dix: „Sturmtruppe geht unter Gas vor“ (Detail), 1924. Aus: „Der Krieg“, Zyklen aus 50 Radierungen, 2. Mappe (Otto Dix Archiv, Bevaix / © VG Bild-Kunst, Bonn 2016 / Foto Kunstsammlung NRW)

Der Veteran, zuletzt Vizefeldwebel, will nichts mehr beschönigen. In Dresden, wo er die Akademie besucht, propagiert Dix Wahrhaftigkeit: „Ich brauche die Verbindung zur sinnlichen Welt, den Mut zur Hässlichkeit, das Leben ohne Verdünnung.“ Das kommt bei den bürgerlichen Kunstfreunden nicht so gut an. „Ich kumm uff keinen grienen Zweich“, soll er 1920 gesächselt haben, „meine Malereien sind unverkäuflich.“ Doch der Kollege Conrad Felixmüller vermittelt ihm den Kontakt mit der Düsseldorfer Avantgarde-Gruppe Junges Rheinland – und empfiehlt ihn bei Johanna Ey, einer Bäckersfrau, die seit 1916 ein Galerie-Café in der Nähe der Düsseldorfer Akademie betreibt, mit Otto Pankok und Gert Wollheim arbeitet und schon viele Künstler durchgefüttert hat. „Großes Ey, wir loben dich …“, dichtet „Dada“-Max Ernst für sie.

Otto Dix: "Dienstmädchen am Sonntag", 1923. (Otto Dix Stiftung / © VG Bild-Kunst, Bonn 2016)

Otto Dix: „Dienstmädchen am Sonntag“, 1923. (Otto Dix Stiftung / © VG Bild-Kunst, Bonn 2016 / Foto Kunstsammlung NRW)

Beim Tanzen verliebt sich der Künstler

Mutter Ey lädt Dix im Herbst 1921 nach Düsseldorf ein, lässt ihn im Hinterstübchen übernachten und knüpft für ihn wichtige Kontakte. Durch sie lernt er den Arzt und Sammler Dr. Hans Koch kennen, der mit seiner mondänen, aber unzufriedenen Ehefrau Martha ein Graphisches Kabinett betreibt. Koch lässt sich von Dix porträtieren – und Dix tanzt Charleston mit der 26-jährigen Martha. Er ist betört von ihren Mandelaugen, dem vollen Mund, der kess geschnittenen Pagenfriseur und dem mondänen Stil. Und er tanzt verdammt gut. Die beiden verlieben sich schnell, und tatsächlich hat der Ehemann nichts dagegen, weil er seinerseits schon länger die Schwägerin Maria bevorzugt. Man ist nicht spießig im Düsseldorf der 20er-Jahre.

Martha, von Dix „Mutzli“ genannt, lässt sich flott scheiden und heiratet ihren schnieken Maler im Februar 1923. Er porträtiert sie stolz in Öl mit ihrem breitkrempigen roten Hut und dem schwarzen Pelz, das Bild ist eine dunkle Pracht. Im Juni kommt ihr erstes gemeinsames Kind zur Welt: Nelly. Papa Dix malt berückende Porträts von der molligen Kleinen. Auch den später geborenen Söhnen Ursus und Jan huldigt er künstlerisch und zeichnet Bilderbücher für sie.

Otto Dix: "Herren und Damen", 1922 (Aquarell und Bleistift - Private Collection, Courtesy Richard Nagy Ltd., London / © VG Bild-Kunst, Bonn 2016 / Foto: Kunstsammlung NRW)

Otto Dix: „Herren und Damen“, 1922 (Private Collection, Courtesy Richard Nagy Ltd., London / © VG Bild-Kunst, Bonn 2016 / Foto: Kunstsammlung NRW)

Schmeicheleien gibt es nicht

Man findet ihn in dieser Ausstellung also durchaus, den liebevollen Maler und Familienmenschen Dix. Kuratorin Susanne Meyer-Büser hat der weichen Seite einen Raum gegeben. Aber seine große Stärke zeigt sich, wenn er ohne innere Rücksicht arbeitet. „Wir wollten die Dinge ganz nackt, klar sehen, beinahe ohne Kunst“, erklärt er 1965 im Rückblick. Das akzeptierte auch seine Förderin Mutter Ey, von der er 1924 ein großes, repräsentatives Öl-Bildnis malt, auf dem sie in ihrem lila Seidenkleid und mit dem geliebten spanischen Kamm im schwarz gefärbten Haar vor einem roten Vorhang erscheint. Sie posiert wie eine barocke Königin. Aber die 60-jährige Frau Ey sieht eben aus, wie sie aussieht: fett, Doppelkinn, Falten um den Mund, starre Augen hinter runden Brillengläsern. Eins ist allerdings klar: Da steht eine unumstößliche Persönlichkeit.

Otto Dix: "Mieze, abends im Café", 1923 (Buchheim Museum der Phantasie, Bernried / Starnberger See / © VG Bild-Kunst, Bonn 2016 / Foto Kunstsammlung NRW)

Otto Dix: „Mieze, abends im Café“, 1923 (Buchheim Museum der Phantasie, Bernried / Starnberger See / © VG Bild-Kunst, Bonn 2016 / Foto Kunstsammlung NRW)

Lobhudelei gibt’s nicht von dem aufstrebenden Malerstar, der die abgetakelten Nutten und gierigen Freier, die Berliner Puffmütter und die Hamburger Matrosen mit gnadenloser Deutlichkeit festhält. Die subtile Farbigkeit seiner Aquarelle steht in krassem Kontrast zur Schärfe der Aussage. Und auch Freunde und Kunden werden nicht geschont. Wie ein insektenhaftes Männlein, bläulich und mager, gestikuliert Adolf Uzarski, Gründungsmitglied des Jungen Rheinlands. Der große Schauspieler Heinrich George hockt da wie ein wütender Ochsenfrosch. Paul Ferdinand Schmidt, der Direktor der Kunstsammlungen Dresden, erscheint klapprig und verknittert, während der (sicher sehr gut zahlende) Düsseldorfer Farbenfabrikant Julius Hesse im nüchternen Dreiviertelprofil zumindest einen lebendigen Teint haben darf.

Symphonie einer Großstadt

In zwei Ecken der raffiniert gebauten und farbig unterteilten Ausstellung flimmern Ausschnitte des Stummfilms „Berlin – Symphonie einer Großstadt“ von 1927. Unterlegt von Geräuschen und Musik wimmeln da die Bilder einer Zeit. Man sieht die Autos und Trambahnen, die Revuegirls auf den Bühnen, die Damen mit den kurzen Haaren und Kapotthüten. Die Welt war modern und chaotisch geworden – und Dix war ihr leidenschaftlicher Maler. 1925 zieht er in die Hauptstadt, 1927 wird er Professor in Dresden, die Welt beachtet ihn. Dann kommen die Nazis, entlassen Dix sofort aus seinem Amt und stellen ihn kalt. Mit der Familie zieht er sich zurück an den Bodensee, wo er versucht, nicht weiter aufzufallen. Es entstehen altmeisterliche Idyllen. Aber das ist eine andere Geschichte.

Information:

„Otto Dix – Der böse Blick“: bis 14. Mai in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen K20, Düsseldorf, Grabbeplatz. Geöffnet Di.-Fr. 10 bis 18 Uhr, Sa./So. 11 bis 18 Uhr. Jeden ersten Mi. im Monat bis 20 Uhr. Katalog 34 Euro. Die Schau wird anschließend von Juni bis Oktober in der Tate Liverpool in Großbritannien gezeigt: „Portraying a Nation: Germany 1919-1933“. www.kunstsammlung.de




Auch in der DDR gab es Spielräume – 66 Facetten eines Lebens in Matthias Biskupeks „Der Rentnerlehrling“

Gastautor Heinrich Peuckmann über einen Erzählband, der manchen Aufschluss über das Leben in der einstigen DDR gibt:

Wer mit 65 Jahren ins Rentenalter eintritt, beginnt eine neue Lehrzeit, meint der Rudolstädter Schriftsteller Matthias Biskupek, er wird nämlich ein „Rentnerlehrling“.

Als er selber in diesen Lehrlingsrang kam, hat Biskupek, wie Schriftsteller das eben tun, ein Buch geschrieben, um sich seines bisherigen Lebens zu vergewissern und von dieser Plattform aus die restlichen Schritte zu gehen.

In 66 Geschichten, die weitgehend Lebenserinnerungen sind, hat Biskupek sein Leben rekapituliert. Für jedes Jahr eine Geschichte, dazu als Einleitung ein kurzer Bericht über das, was er genau erlebt hat mit Bezügen zum allgemeinen Weltgeschehen.

Der sachliche Vorspann ist deshalb notwendig, weil Biskupeks Geschichten keine bloßen Berichte sind, sondern Erzählungen, mal ironisch, mal satirisch zugespitzt, mal literarisch verdichtet. Und dies ist eine glückliche Kombination, denn der Leser kann einerseits Biskupeks Lebensweg nachvollziehen, in den Geschichten andererseits sehr viel über den DDR-Alltag und über die Literaturszene des untergegangenen Landes insbesondere erfahren. Je mehr der Leser eintaucht in das Buch, desto mehr merkt er, dass er vieles über die DDR ungenau, undifferenziert oder gar nicht gewusst hat.

Die Schriftstellerszene, die Biskupek aus der Innensicht heraus genau gekannt hat, steht dabei als eine Art Gradmesser für die allgemeine Entwicklung. Natürlich hat die Stasi versucht, auch ihn als IM zu rekrutieren, es fanden Gespräche statt, von denen er erst nach der Wende erfahren hat, dass die Stasi sie als informelle Gespräche gewertet hat. Aber er ist dort nicht gelandet, sondern hatte, weil er nicht stromlinienförmig mitschwamm, ein gerüttet Maß an Nachteilen in Kauf zu nehmen.

Kleine Perlen sind in diesem Zusammenhang die Berichte über interne Kämpfe. Wer kennt im Westen noch den Magdeburger Schriftsteller Wolf Brennecke? Er leitete dort eine Gruppe junger Autoren an, zu denen auch Brigitte Reimann und Rainer Kunze gehörten. Brennecke hat den demokratischen Anspruch, den ja auch die DDR für sich in Anspruch nahm, bitterernst genommen. Einmal mehrheitlich gefasste Beschlüsse hat er eisern versucht durchzusetzen. Er war nicht gegen den Staat, er hat nur manches Mal seinen eigenen Anspruch gegen ihn selber verteidigt. Als Brigitte Reimanns Mann im Gefängnis saß, hat die Stasi sie erpresst und angeworben. Als Brennecke das erfuhr, ist er zu den Ämtern gestürmt, hat sie dort verteidigt und dem Staat vorgeworfen, dass er dabei sei, eine solche Autorin in den Westen zu vertreiben.

Solche Haltungen waren also möglich, es gab Spielraum und es lag an der Tapferkeit des einzelnen, ob und wie er sie nutzte. Natürlich gab es Grenzen, das darf nicht vergessen werden. Eine Zeitlang arbeitete Biskupek, der eigentlich ein Ingenieurstudium abgeschlossen und diesen Beruf auch ausgeübt hat, am Theater in Rudolstadt. Mit viel sanftem Humor schildert er die Erlebnisse der Schauspieler und Autoren untereinander, auch die regelmäßigen Mühen, dieses oder jenes Stück überhaupt auf die Bühne zu bekommen. Aber mit List und Tücke war eben doch manches möglich.

Es macht Freude, diesen Lebenserinnerungen zu folgen. Man nimmt etwas mit und man muss beim Lesen sehr genau aufpassen, wie Biskupek diese oder jene Passage wirklich meint. Seine Ironie ist gut dosiert, sie verwässert nicht, aber fordert den Leser.

Matthias Biskupek: „Der Rentnerlehrling. Meine 66 Lebensgeschichten“. Mitteldeutscher Verlag, Halle. 352 Seiten, 19,95 Euro.




Ein paar Erwägungen zur „Schande von Dortmund“ (Randale beim Spiel BVB gegen RB Leipzig)

Eigentlich wollte ich keine Zeile darüber schreiben, weil es sozusagen ums Gegenteil von Kultur geht. Aber: Man kann von den Dortmunder Fußball-Krawallen gar nicht absehen, wenn man hier lebt.

Also, ganz klar: Dass so genannte BVB-„Fans“ am letzten Samstag die Gäste aus Leipzig, darunter auch Frauen und Kinder, mit Steinen, Flaschen, Dosen, Feuerwerkskörpern und anderen Gegenständen beworfen haben, ist kriminell.

Transparent beim Pokalspiel gegen Hertha BSC Berlin am 8. Februar. (Screenshot / ARD)

Nachträgliches Statement: Transparent beim BVB-Pokalspiel gegen Hertha BSC Berlin am 8. Februar. (Screenshot / ARD)

Auch die teilweise extrem menschenverachtenden Hetz- und Hass-Transparente (Heda, BVB-Ordnungsdienst, wie konnten die in so großer Zahl ins Stadion gelangen?) und der versuchte Angriff auf den Mannschaftsbus der Leipziger sind schändlich und unverzeihlich.

Jeder feststellbare Einzelfall wird jetzt und in den nächsten Wochen zu untersuchen sein. Hoffentlich findet die Polizei die Schuldigen, hoffentlich werden sie von der Justiz angemessen zur Rechenschaft gezogen. Bundesweites Stadionverbot ist das Mindeste, im Falle entsprechender Taten sollten auch Paragraphen des Strafgesetzbuches greifen.

Es ist beschämend, dass das alles in Dortmund passiert ist, wo man sich rühmt, auf der Südtribüne die besten Fans Deutschlands, wenn nicht Europas oder gar der Welt zu haben. Leider können einige Dutzend oder hundert Vollidioten das alles an einem einzigen Tag zunichte machen – wenn man sie nicht hindert. Vielleicht lässt sich ja auch aufklären, aus welchem Umfeld diese Typen kommen?

Dortmunds Stadtobere und ihre Imagewächter sind bestimmt ebenfalls entsetzt. Die enthemmte Randale vom Samstag wird der Stadt und dem Verein noch lange als „Schande von Dortmund“ (andere Formel: „Schande für den Fußball“) nachhängen, die Boulevardpresse tut das Ihre, um es kräftig zuzuspitzen. Auch sind spürbare Strafen vom DFB zu erwarten, so etwa Heimspiele ganz ohne Zuschauer…

In den sozialen Netzwerken sind es keineswegs nur Leipziger und Schalker, die heftig (und zum Teil beklagenswert pauschal) über den BVB herziehen. Mag es auch ungerecht sein: Wenn man nicht aufpasst und entschieden gegensteuert, gelten hiesige Fans bald als Abschaum der Liga – auch die anständigen unter ihnen, die sicherlich bei weitem in der Mehrheit sind. Doch sobald sie die schwarzgelben Farben tragen, macht man vielleicht auswärts keine Unterschiede mehr. Da herrscht womöglich mal wieder ein „Generalverdacht“. Und es melden sich bereits BVB-Anhänger zu Wort, die künftig ganz auf Stadionbesuche verzichten wollen. Nicht, dass da etwas „kippt“…

Inzwischen weiß man bei Spiegel online, bekanntlich immer gaaaanz nah dran am BVB, schon genauestens Bescheid: Auch viele ganz normale Spießer, die anderntags mit ihrem Hund Gassi gehen, seien in Dortmund an den Ausschreitungen beteiligt gewesen. Beim Spiegel kennen sich offenbar besser aus als die zuständigen Ermittler. Oder etwa doch nicht?

Unterdessen wird BVB-Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke – mittlerweile auch von der Gewerkschaft der Polizei (GdP) – mitverantwortlich gemacht, weil er gegen RB Leipzig aufgewiegelt habe. Die paar Andeutungen über einen Verein, der ausschließlich zur Promotion eines Getränks („Red Bull“) gegründet worden sei, sollen also ein Aufruf zur Gewalt gewesen sein? Ach, nö. Soll jetzt jede Kritik am Geschäftsmodell der Leipziger verboten sein? Übrigens: Auch der börsennotierte BVB ist vielfach als durchkommerzialisiert verschrien. Dann wird man eben auch daran Kritik üben dürfen. Tradition hin oder her.

Wie aber müsste man (im Vergleich zu Watzkes Äußerungen) den Ausspruch eines gewissen Uli Hoeneß bewerten, der – seinerzeit kaum wieder auf freiem Fuß – im November ganz unverblümt von den „Feinden“ aus Leipzig und Dortmund gesprochen hat? Nun gut, er hat die saublöde Formulierung hernach zurückgenommen, und die Bayern-Anhänger haben sich gottlob bislang nichts zuschulden kommen lassen. Aber dennoch.

Eine Aktion zum Spiel gegen Hertha deutet sich schon an (Screenshot der Facebook-Seite von schwatzgelb.de)

Eine Aktion zum Heimspiel gegen die Hertha (8. Februar, 20:45 Uhr) deutete sich schon vorher an. (Screenshot der Facebook-Seite von schwatzgelb.de)

Jedenfalls gibt es etliche Leute, die just der Polizei vorwerfen, sie habe kein durchgängig tragfähiges Sichheitskonzept gehabt. Will die GdP mit ihren schnellfertigen Schuldzuweisungen etwa davon ablenken? Wenn man eine Antenne für die Stimmungslage der „Fans“ gehabt hätte, so hätte man vielleicht ahnen können, dass dies ein Hochrisikospiel sein würde. Man mag noch gar nicht daran denken, wie wohl die nächsten Begegnungen dieser Clubs verlaufen.

Schon morgen gibt es das nächste BVB-Heimspiel (im Pokal gegen die Hertha aus Berlin); ob wir da wohl irgend eine Form von Gegenreaktion aus dem Publikum erleben werden? Der nebenstehende Screenshot von der Seite www.schwatzgelb.de deutet darauf hin.

Ich war am Samstag nicht im Stadion, sondern habe das Spiel auf Sky gesehen. Dort war, zumindest während der eigentlichen Spielzeit, von den Vorfällen nicht die Rede. Man will sich beim Bezahlsender offenbar den schönen Kommerzsport nicht kaputt machen lassen. Vielleicht hat man ja vor der Partie, in der Halbzeitpause oder nach dem Abpfiff ein paar verschämte Worte eingestreut. Ich weiß es nicht, denn das haltlose Gelaber außerhalb der 90 Minuten tue ich mir schon lange nicht mehr an.

Und wenn das alles so weiter geht, habe ich irgendwann gar keine Lust mehr auf die Liga.

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P.S.: Bedenkenswerte Beiträge zum Thema finden sich übrigens im vereinsnahen Fanzine-Blog www.schwatzgelb.de – durchaus auch (selbst)kritisch und nicht etwa pressestellenfromm und nibelungentreu.

Nachtrag am 9. Februar: Wie die WAZ heute berichtet, habe die Geschäftsführung von RB Leipzig das NRW-Innenministerium ausdrücklich um verstärkten Schutz bei den Auswärtsspielen in Dortmund, Schalke und Mönchengladbach gebeten, ohne dass entsprechende Konsequenzen gezogen wurden. NRW-Innenminister Ralf Jäger (SPD) sitzt ohnehin schon recht unsicher auf seinem Sessel. Link zum WAZ-Bericht.




Nashorn oder Fuchs: Städtische Symboltiere auf der Straße

Mit dem Bau des Konzerthauses in Dortmund fing es an: Überall in der Stadt wurden bunte Nashörner mit Flügeln aufgestellt.

Die wundersamen Fabelwesen sollten für den neuen Kulturtempel werben, und weil sie so zahlreich auftraten, wirkte ihr Erscheinen auch. Das Konzerthaus gilt als eine der Erfolgsgeschichten Dortmunds, und die Flügelhörner stehen immer noch in der Stadt herum – manche beschädigt oder beschmiert, aber sie sind da.

Der Fuchs als Symbolfigur in der Stadt Ennepetal. (Foto: HH Pöpsel)

In ähnlicher Weise hat sich die viel kleinere Stadt Ennepetal südwestlich von Dortmund eines Symboltiers erinnert, und dieser bunte Fuchs steht nun in Überlebensgröße in allen Stadtteilen auf Betonsockeln, und zwar nicht nur im öffentlichen Raum. Auch Privatleute, Vereine und Unternehmen haben jeweils einen der knapp zwei Meter großen Füchse erworben und aufgestellt. Eine Autolackiererei hat ihren Fuchs sogar aufs Firmendach gestellt und schmückt ihn dort je nach Jahreszeit als Nikolaus, Osterhase oder Karnevalsprinz.

Wie aber kam Ennepetal auf den Fuchs? Seit mehreren hundert Jahren gibt es die Sage, dass sich ein Wanderer in die Ennepetaler Kluterthöhle wagte und sich dort verirrte. Hilfe fand er nur in einem Fuchs, an dessen buschigen Schwanz sich der Mann klammerte, und weil der Fuchs entfliehen wollte, zog er den Wanderer mit sich zum Ausgang der Höhle in Hohenlimburg.

Vor dem Höhleneingang aber saß ein Riese, der das Menschenfleisch schon gerochen hatte. Als aber nun der freigelassene Fuchs in den Wald flüchtete, hetzte der Hüne – sich irrend in der Beute – hinter dem Fuchs her, und unser Wanderer konnte dadurch frohgemut seines Weges ziehen. Diese Sage lernt natürliches jedes Grundschulkind in Ennepetal und Umgebung kennen, und so hat auch jeder Einheimische sofort eine Beziehung zu den Fuchsfiguren.

Aril 2006, im Vorfeld der Fußball-WM: Die Dortmunder Nashörner gab's damals in den Farben aller Teilnehmerländer. (Foto: Bernd Berke)

April 2006, im Vorfeld der Fußball-WM: Die Dortmunder Nashörner gab’s damals in den Farben aller Teilnehmerländer. (Foto: Bernd Berke)

Zwar ist die Kluterthöhle in Ennepetal mit fast sechs Kilometern Ganglänge die größte Naturhöhle Deutschlands, aber bis Hohenlimburg im Lennetal reicht sie natürlich nicht. So ist das eben mit den Sagen. Die Menschen waren schon immer fasziniert von Höhlen und fürchteten gleichzeitig ihre Gefahren, und diese Kombination findet ihren Niederschlag in Erzählungen unserer Vorfahren wie der Fuchs-Sage, die es seit mehr als 150 Jahren auch in schriftlicher Form gibt, zum Beispiel in den „Westphälischen Volkssagen in Liedern“ aus dem Jahre 1841. In dieser gereimten Version hat der Wanderer sogar einen typisch deutschen Namen bekommen: Hans nennt ihn der Dichter.




Warum ich Premieren so liebe…

Große Gefühle auf der Bühne: Rigoletto (Luca Gratis), Maddalena (Bettina Ranch), der Herzog von Mantua (Carlos Cardoso) und Gilda (Cristina Pasaroiu). (Foto: Matthias Jung/Aalto-Theater)

„Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne…“ – deswegen gehören Premieren in Oper oder Schauspiel zu den aufregendsten Vorstellungen. Im Gegensatz zum Repertoire-Abend ist die Atmosphäre einfach unvergleichlich: Es liegt so eine Spannung in der Luft, ein „Wie wird es heute bloß werden?“ oder, von Künstlerseite, ein „Werde ich auch gut (genug) sein? Lampenfieber hinter der Bühne, Neugierde im Zuschauerraum. Es soll Regisseure geben, die es nicht ertragen, die Premiere zu verfolgen und sich in die Garderobe verkriechen und erst beim Applaus wieder heraus trauen…

Für Kritiker sind Premieren dagegen der übliche Termin: Man muss ja meist über die Produktion schreiben, wenn sie brandneu ist. Manche sind jede Woche in einem anderen Haus. Und doch: Fast drei Monate hatte ich Weihnachts- und Erkältungspause und inzwischen richtiggehend Entzugserscheinungen.

Deswegen war Rigoletto im Aalto-Theater in Essen meine erste Premiere im neuen Jahr. Was auf der Bühne geschah, hat meine Kollegin Anke Demirsoy geschrieben: https://www.revierpassagen.de/39768/die-rache-show-des-rigoletto-frank-hilbrich-inszeniert-giuseppe-verdis-oper-am-aalto-theater/20170123_1727 – Warum die Premiere aber auch als gute Party taugt, lesen Sie hier.

Neuer Trend: Fliege statt Krawatte

Wen man nicht alles trifft: Ehemalige Kollegen, Künstler von anderen Häusern, Nachbarn, Freunde! Und alle sind top angezogen! Kleine Fliegen statt Krawatten kommen wieder, Frauen tragen diesen Winter gerne silberne High Heels. Nun schnell noch einen kleinen Sekt oder Champagner auf Ex, da gongt es auch schon. Rasch hinein!

Die Reihen füllen sich, das Aalto-Theater ist bis auf den letzten Platz besetzt, die Zuschauer wispern und flüstern, das Licht geht aus. Verdis Ouvertüre braust los, danach betritt ein Horror-Clown vor einem lila-Glitzervorhang die Bühne: Rigoletto, der Narr. Ob das jetzt stimmig ist oder nicht, ist mir heute wurscht, ich beschließe, einfach alles toll zu finden…

Dieser herrliche Pausentratsch

Nicht so schwierig bei Verdi, dessen Melodien man tausendfach gehört hat, im Zweifel in der Pizza-Werbung, die aber live auf der Opernbühne gesungen alle Konserven mühelos überbieten. Gilda in Jeans sieht aus wie ein Mädchen von heute, doch wenn sie singt, bekomme ich Gänsehaut. Und Cristina Pasaroiu Szenenapplaus. Das Essener Publikum ist an diesem Abend überhaupt klatschfreudig und begeisterungsfähig.

Klatschfreudig sind auch die Menschen in der Pause: „Weißt du schon, dass M. geheiratet hat?“ – „Nein, wirklich? Wen denn?“ Ohne Opernpremiere hätte ich diese brandheiße Nachricht längst nicht so schnell erfahren…

Noch bevor wir alle Einzelheiten zur neuesten Hochzeit im Bekanntenkreis austauschen können, gongt es schon wieder. Dann müssen wir wohl zur Premierenfeier bleiben, hilft ja nix.

Auf der Bühne schwört Rigoletto Rache, der Herzog entpuppt sich endgültig als treulose Tomate, die er von Anfang an war und Gilda opfert sich aus Liebe. Große Gefühle, die wir uns im Alltag kaum noch erlauben. Deswegen ist es ja so schön, sie auf der Opernbühne mitzuerleben – seufz…

…und dann auch noch Freibier vom Fass

Nach dem tragischen Finale gibt es nochmal großen Applaus – auch Klatschen macht bei Premieren mehr Spaß, ebenso wie Buhrufe (habe ich aber diesmal keine gehört), denn es steht etwas auf dem Spiel: Wie wird die Inszenierung angenommen? Mag das Publikum das Stück? Oder münden wochenlange Probenarbeiten in einem Reinfall? Außerdem hat man die einmalige Gelegenheit, das Regieteam zu sehen, das sich nur am Premierenabend verbeugt.

Das Beste folgt allerdings nach dem Schlussapplaus: Schöne Tradition im Aalto ist das Freibier vom Fass bei der Premierenfeier. Nichts macht ja durstiger als ein zwanzigminütiger Bühnentod. Wer Hunger hat, findet ebenfalls einen kleinen Happen zu essen und der Intendant stellt die Künstler des Abends vor. Einmalige Gelegenheit, sie nicht im Kostüm, sondern ganz privat zu erleben, wie sie sich unter die Gäste mischen…

Wer dabei sein möchte, muss sich nur eine Premierenkarte kaufen. Im Ruhrgebiet kommt mindestens jede Woche ein neues Schauspiel oder eine neue Oper heraus, wenn nicht öfter.

Die nächste Opern-Premiere im Aalto: „Le Prophète“ von Giacomo Meyerbeer am 9. April 2017. Vorher gibt es noch einen Ballettabend: „3 BY EKMAN“ am 4. März. Sehen wir uns da?

Weitere Infos:
www.aalto-musiktheater.de




Was Passanten zu hören bekommen – und was die Wissenschaft daraus machen könnte

Alltäglicher kann Alltag nicht sein: Als ich dieser Tage zu Fuß unterwegs war, ist es mir mal wieder aufgefallen: Da kamen mir u. a. zwei Leute entgegen und ich schnappte en passant einen winzigen Gesprächsfetzen auf: „…das, was er zum Leben hat…“ Da ging es also, um es ganz trocken zu sagen, offenbar um den eher dürftigen Sozialstatus eines Freundes oder Bekannten.

Wir könnte ja auch versuchen, die Wolken zu kämmen... (Foto: Bernd Berke)

Ebenso gut könnten wir auch versuchen, die Wolken zu kämmen… (Foto: Bernd Berke)

Die nächsten Leute unterhielten sich anscheinend über Städte, denn es hieß: „Wuppertal liegt ja auch nicht höher.“ Gleich darauf kam ich an zwei älteren Damen vorbei, die plaudernd bzw. tratschend an der Straßenecke standen. Und wieder war im Vorübergehen eine sekundenkurze Äußerung zu verstehen. Die eine sagte zur anderen: „Da ist auch Alkohol im Spiel…“ Es wäre sehr indiskret gewesen, an dieser Stelle weiter lauschen zu wollen.

Nun stelle ich mir vor, man hätte mit Hilfe vieler Mitarbeiter(innen) Hunderte, ja Tausende und Abertausende solcher „Zufalls“-Äußerungen gehört und gesammelt. Und zwar jeweils nicht als Quasi-Ethnologe oder gar Hobby-Spion mit gezücktem Stift, sondern eben als Passant, so unabsichtlich und unauffällig wie nur irgend möglich; zu verschiedenen Tages- und Nachtzeiten, in verschiedenen Gegenden, in verschiedenen Milieus und in den hierzulande – sagen wir – 20 gängigsten Sprachen.

Was würde man erfahren? Je mehr beiläufig erhaschte Sätze, Halbsätze und Ausrufe man beisammen hätte, umso vielfältiger, vielleicht auch genauer (oder immer diffuser?) wäre wohl das anwachsende Sprach-Bild, das man von dieser Gesellschaft erhielte. Es wäre also vielleicht kein reiner Zufall mehr, sondern hätte durchaus Substanz.

Aber wer wollte die Inhalte ermessen? Man müsste die Fülle ja erst einmal sortieren. Und dabei ginge womöglich die Spontanität so mancher Äußerung verloren.

Die Frage wäre auch, ob die Aussagekraft bereits nachließe, wenn man überhaupt willentlich und systematisch sammelte. Und wer sollte sich über die schließlich halbwegs aufbereiteten Resultate beugen? Soziologen oder Psychologen? Politikwissenschaftler? Schriftsteller und Künstler? Ein Querschnitt durch alle Berufe? Mit all ihren verschiedenen Meinungen und Ansätzen? Dann würden die Ergebnisse wiederum zerfasern. Und man müsste Kongresse ausrichten, auf denen alle in verschiedenen Jargons reden.

Ferner würde der pure Wortlaut längst nicht ausreichen. Auch Tonfall, Mimik und Gestik müssten auf irgend eine Weise „objektiv“ (haha!) erfasst und gespeichert werden, was selbstverständlich gegen den Datenschutz und überhaupt gegen den menschlichen Anstand verstieße.

Wahrscheinlich habe ich noch etliche weitere Probleme vergessen. Aber es reicht schon. Die Grenzen zur Absurdität werden sichtbar.

Wisst ihr was? Ich glaube, wir sollten auf die Forschungsförderung verzichten und das ambitionierte Projekt doch lieber bleiben lassen. In diesem Sinne: Legt euch wieder hin!




„Zierkissenpest“ und schlechte Leselampen – David Wagners „Ein Zimmer im Hotel“

Zimmer im Hotel„Ein Zimmer im Hotel“ ist für die einen ein Zuhause auf Zeit, für andere eine Durchgangsstation, aber immer ist es ein Ort, an dem der Reisende fern der Heimat ein kleines Stück Geborgenheit zu finden hofft. Über hundert Miniaturen hat Schriftsteller David Wagner zusammen getragen, in deren Mittelpunkt Hotelzimmer stehen.

All diesen Räumen, die Wagner in den letzten drei Jahren während seiner (Lese)Reisen durchlebt und zum Teil auch durchlitten hat, setzt er in seinem neuen Buch ein literarisches Denkmal. Es sind kurze Skizzen, die ihren Fokus nur auf einige wenige, aber wesentliche Dinge richten, die den Charakter des jeweiligen Zimmers pointiert beschreiben. Mal ist es die „Zierkissenpest“, mal das zu „einem Dreieck eingefaltete erste Blatt einer Toilettenpapierrolle“, von dem er sich fragt, welche Botschaft dies dem Gast vermittelt. Mit knappen Worten schafft es Wagner, durch diese räumlich so eng begrenzten Ansichten ungewohnte Einsichten in den in der Literatur so beliebten Kosmos Hotel zu vermitteln.

Für David Wagner (geboren im Rheinland, lebt in Berlin) ist es immer wieder eine spannende Frage, was ihn erwartet, sobald er den Hotelschlüssel in der Hand hat. Diese Spannung teilt der Leser nach wenigen Abschnitten mit ihm. Man liest den Hotelnamen, hat eine leise vorurteilende Vorstellung, welche manchmal bestätigt, manchmal widerlegt wird.

Vielleicht findet man sich im Prunk vergangener Tage wieder, vielleicht auch nur im Ambiente eines Möbelhauses auf der grünen Wiese. Mit Wagner fühlt man sich gestört von unablässig blinkenden Lichtern an Digitaluhren, stört sich mit ihm an blonden Haaren des Vorgängers auf grünen Samtbezügen, fragt sich irritiert, wieso manche Duschkabinen mitten im Zimmer stehen und ob es ein Qualitätsmerkmal ist, wenn Ohrenstöpsel ausliegen.

Wagner wertet nicht, er beschreibt lediglich das Erlebte. Nichts liegt ihm ferner, als sich in die Riege der Hoteltester von Reiseportals Gnaden einzureihen. Das Äußerste, was er sich erlaubt, ist Verwunderung. Gleichwohl sind seine Miniaturen sicher nicht nur interessant für den Reisenden, sondern könnten auch gut als Anregung für die dienen, die heutzutage den Reisenden eine Herberge geben.

Der Stil ist dabei bewusst nüchtern, fast im Duktus einer Gebrauchsanweisung. Der einzig wertende Schluß, den er zieht: Die Qualität eines Hotels erkennt man darin, ob Bleistifte oder Kugelschreiber ausliegen. (Die mit Bleistift sind besser. Bleistifte korrespondieren für gewöhnlich mit Holzböden, Kugelschreiber gibt es eher in den Zimmern mit den wild gemusterten Teppichböden, in denen Flecken schon eingearbeitet zu sein scheinen).

Die präzisen Beobachtungen lassen die Geschichten, die hinter den Zimmern stehen, nur erahnen, aber es ist genau diese Detailtreue, die letztendlich doch soviel mehr erzählt, als es die eigentliche Geschichte je könnte. Wagner beobachtet und beschreibt Unspektakuläres. Die komischen Momente, aber auch die melancholischen ergeben sich ganz von allein. Genau dadurch weckt er beim Leser den Wunsch, seine Umgebung näher zu betrachten und zu hinterfragen.

Da ist es dann letztlich auch in der Tat egal, ob hinter dem Buch eher der Wunsch nach poetischer Alltagsbeobachtung steht, für die Wagner schon in seinen vorhergehenden Werken ausgezeichnet wurde oder ob es einfach nur literarische Zusatzverwertung ist, der Wunsch, wenigstens etwas Kreatives aus seinen Lesereisen mitzunehmen.

Der Autor sagt offen, dass ihm bis zum Schluss nicht klar wird, welche Details in den Zimmern welche Gefühle in ihm hervorrufen. Klar ist, dass er sich manchmal auch sehr verloren fühlt. Der Kampf gegen Klimaanlagen, schlechte Leselampen, fehlendes Internet lässt ihm oft genug nur die Option eines voyeuristischen Blicks nach draußen. Genau damit bleibt auch die Frage offen, ob ihm die unbekannte Umgebung Angst macht oder ob ihm schlicht die Zeit für weitere Erkundungen fehlt.

Der einzige längere Absatz im Buch, der neben dem Zimmer auch die Außenwelt thematisiert, enttäuscht jedenfalls. Den Leser, aber wohl auch den Autor. Er verbringt eine längeren Zeitraum in Bad Aussee und wagt sich dort auch in die Natur, von der er gar nicht weiß, wo und warum genau er da Schönheit suchen soll, die er auch eher uninspiriert beschreibt. Unsicherheiten werden gewahr, Unsicherheiten, die in einem Hotelzimmer so schnell dann doch nicht aufkommen. Mal abgesehen von der Verunsicherung, die ihn bei so manch ausliegender Lektüre überkommt. Von einer antiquarischen Madame Bovary über Aufklärungsschriften aus dem letzten Jahrhundert bis zur Kulturgeschichte der Unterwäsche ist alles dabei. Wagners Miniaturen wären da sicherlich eine schöne Ergänzung für die Nachtkästen der Hotels dieser Welt.

David Wagner: „Ein Zimmer im Hotel. Miniaturen.“ Rowohlt Verlag, 121 Seiten, €18,95
(Die Hotels samt Besuchsdaten sind im Anhang vermerkt. Herdecke war übrigens die einzige Station in der Ruhrregion).




Silvester-Predigt handelte vor 70 Jahren auch vom Kohlenklau: Wie im Winter 1946/47 das Wort „fringsen“ entstand

Joseph Kardinal Frings. Foto: Historisches Archiv des Erzbistums Köln AEK, Bildsammlung

Joseph Kardinal Frings. Foto: Historisches Archiv des Erzbistums Köln AEK, Bildsammlung

Winter 1946/47: Die deutschen Städte sind zerstört, die Menschen hausen in Baracken und Ruinen. Ein stabiles russisches Hoch sorgt für eisige Kälte, Tiefdruckgebiete bringen meterhohen Schnee. Die Versorgung mit Lebensmitteln und Brennmaterial ist schlecht, bricht vor allem in den großen Städten des Ruhrgebiets und des Rheinlands zeitweise zusammen. In dieser Situation spricht der Kölner Kardinal Joseph Frings ein wegweisendes Wort. Es sollte in die Geschichte eingehen. Das „Fringsen“ wurde in der Nachkriegs-Not zum geflügelten Begriff.

Auch Köln lag in Schutt: Vier Fünftel der Gewerbebauten, so eine zeitgenössische Statistik, waren total verwüstet oder stark zerstört. So predigte der Kölner Erzbischof an Silvester 1946 in der modernen, 1930 von dem bekannten Architekten Dominikus Böhm entworfenen Kirche St. Engelbert in Köln-Riehl. Sein Thema: die zehn Gebote. Da ging es auch um „Du sollst nicht stehlen“. Frings, ein sozialpolitisch fortschrittlicher Kopf, kannte die Not der Zeit, die katholische Moraltheologie und die Soziallehre der Kirche. Sein Predigtmanuskript, erhalten im Archiv des Erzbistums Köln, zeigt, wie er um die richtige Formulierung rang. Was er dann sagte, machte ihn populär:

„Wir leben in Zeiten, da in der Not auch der einzelne das wird nehmen dürfen, was er zur Erhaltung seines Lebens und seiner Gesundheit notwendig hat, wenn er es auf andere Weise, durch seine Arbeit oder Bitten, nicht erlangen kann“.

"Klüttenklau" in der Nachkriegszeit in der Britischen Zone. Foto: Bundesarchiv, Bild 183-R70463 / CC-BY-SA 3.0

„Klüttenklau“ in der Nachkriegszeit in der Britischen Zone. Foto: Bundesarchiv, Bild 183-R70463 / Link zur Lizenz: CC-BY-SA 3.0

Für die Menschen, die damals um ihr Überleben kämpften, war dieser Satz eine moralische Entlastung. Vor allem in den schwer zerstörten Städten hatten sie oft keine andere Wahl, als sich die Kohle zum Heizen zu stehlen.

Der „Klüttenklau“ war verbreitet: Um Klütten (Briketts) zu besorgen, sprangen Jugendliche oder Männer auf haltende Kohlenzüge, füllten Säcke mit Brennstoff und warfen sie an vorher vereinbarten Punkten ab. Andere bestiegen Lastwagen und warfen Kohlen ab. Ein gefährliches Treiben; Verletzungen oder sogar Todesfälle konnten die Folge sein. Berichtet wird von Kindern, die nicht mehr aus den Güterwagen klettern konnten und während der eisigen nächtlichen Fahrt erfroren.

Keine Rechtfertigung für Diebstahl

Sehr schnell bürgerte sich im Volksmund für diese Art von Mundraub der Begriff „fringsen“ ein. Das Wort schaffte es bis hinein ins „Lexikon der Umgangssprache“. Dem Erzbischof ging es freilich nicht darum, Diebstahl zu rechtfertigen, im Gegenteil. Die mahnenden Worte nach dem berühmten Satz wurden überhört oder verdrängt. Denn Frings legte seinen Zuhörern auch ans Herz:

„Aber ich glaube, dass in vielen Fällen weit darüber hinausgegangen worden ist. Und da gibt es nur einen Weg: unverzüglich unrechtes Gut zurückgeben, sonst gibt es keine Verzeihung bei Gott.“

Kardinal Frings hat damit eine präzise Auslegung der katholischen Lehre gegeben: Er war sich bewusst, dass Eigentum sozialpflichtig sei. Was der Mensch braucht, um sein Leben und seine Gesundheit zu erhalten, darf er sich unter Umständen größter Not auch nehmen. Aber der Erzbischof wandte sich zugleich scharf dagegen, die Notlage auszunutzen. Zu plündern, um sich zu bereichern, war schon in den zerbombten Städten während des Krieges, aber auch in der unmittelbaren Nachkriegszeit, nicht selten. Dazu zählte auch der Kohlenklau über den eigenen Bedarf hinaus. Ein Verhalten, das Frings in seiner Predigt verurteilte.

Der „Weiße Tod“ forderte hunderttausende Opfer

Eine Seite des Manuskripts der Predigt. Foto: Archiv des Erzbistums Köln.

Eine Seite des Manuskripts der Predigt. Foto: Archiv des Erzbistums Köln.

Dass der Erzbischof die Lage richtig eingeschätzt hatte, erweist der Rückblick auf diesen Winter 46/47. Er ist als der kälteste Winter des 20. Jahrhunderts im Nordseeraum in die Wetterkunde eingegangen. Die Temperatur-Mittelwerte lagen im Januar 1947 bei minus 4,7 Grad, im Februar bei minus 6,6 Grad. Heute schätzt man, dass allein in Deutschland Hunderttausende an den Folgen von Hunger und Kälte und an Krankheiten wie Lungenentzündung und Typhus gestorben sind.

Der „weiße Tod“ grassierte unter Menschen, denen im britischen Teil von „Trizonesien“ – so die geflügelte Bezeichnung für die drei Besatzungszonen der Westmächte – gerade einmal 900 Kilokalorien pro Tag zustanden. Zum Vergleich: Ein Erwachsener mit durchschnittlichem Gewicht braucht am Tag – je nach Tätigkeit – zwischen 2.000 und 3.500 Kilokalorien.

Frings machte sich damals zum Fürsprecher der Notleidenden und entlastete ihr Gewissen. Bei der britischen Besatzungsmacht kam das nicht gut an: Der Kardinal wurde vorgeladen, aber weil der alliierte Gouverneur, William Ashbury, unpünktlich war, fuhr Frings wieder ab. In seinen Memoiren erinnert sich Frings: „Es gab eine höchstnotpeinliche Untersuchung.“ Er habe den Text seiner Silvesterpredigt sogar bei den Briten einreichen müssen. „Alles war aufs höchste gespannt, und es schwebte wirklich Unheil über mir“.

Frings veröffentlichte am 14. Januar 1947 – nach Zeitungsberichten über seine Predigt – eine Erklärung über die „Grenzen der Selbsthilfe“. Die Alliierten erwogen sogar eine polizeiliche Vorführung, ließen Frings aber dann in Ruhe, wohl weil sie den Unmut der Bevölkerung fürchteten. Es ist also, wie der Kölner sagt, „noch immer jot jejange“.




„Wir müssen uns wehren“: Autoren weltweit vor Verfolgung schützen – eine Rede über die Schriftstellervereinigung PEN

Vom 27. bis zum 30. April 2017 wird die deutsche Sektion der internationalen Autorenvereinigung PEN ihre Jahrestagung in Dortmund abhalten. Gleichsam zur Vorbereitung und Einstimmung auf das Ereignis hat unser Gastautor, der Schriftsteller Heinrich Peuckmann (Dortmund/Bergkamen), an verschiedenen Orten die folgende Rede gehalten, in der er darlegt, was der PEN eigentlich ist und will. Peuckmann ist selbst Mitglied des PEN. Wir drucken seine Rede mit geringfügigen Kürzungen ab:

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Historischer Moment am 18. November 1948 in Göttingen: Gründung des (west)deutschen PEN. u.a. mit (von links) Hans Henny Jahnn, Friedrich Wolf, Hermann Kasack, Günther Birkenfeld, Axel Eggebrecht, Dolf Sternberger und Erich Kästner. (Quelle: Wikipedia/Bundesarchiv, Bild 183-1984-0424-504, unverändert übernommen) - Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/

Historischer Moment am 18. November 1948 in Göttingen: Gründung des (west)deutschen PEN. u.a. mit (von links) Hans Henny Jahnn, Friedrich Wolf, Hermann Kasack, Günther Birkenfeld, Axel Eggebrecht, Dolf Sternberger und Erich Kästner. (Quelle: Wikipedia/Bundesarchiv, Bild 183-1984-0424-504, unverändert übernommen) – Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/

Um die Frage zu beantworten, wer oder was der PEN ist, fange ich nicht mit allgemeinen Erklärungen an, sondern wähle einen anderen, anschaulichen Einstieg. Wie wird eigentlich umgegangen mit dem freien Wort in unserer Welt, frage ich mich und damit auch Sie.

Derzeit sind etwa 800 Dichter, Journalisten und zunehmend Blogger in aller Welt mit Verfolgung, Gefängnisstrafe oder Tod bedroht. Und wer jetzt gleich an China denkt und dort den Haupttäter vermutet, denkt zwar an einen Großtäter, das stimmt, aber die Liste wird nicht von China angeführt, sondern von der Türkei.

Selbst in absoluten Zahlen liegt das Land des Herrn Erdogan an der Spitze der Schreckensliste und es gibt doch deutlich weniger Türken als beispielsweise Chinesen auf der Welt. Womit ich für China, ein Land, das ich durch mehrere Lehraufträge an dortigen Unis gut kenne, keine Unschuldserklärung abgeben möchte. Natürlich nicht. Auch Krisenländer in Afrika, Mittelamerika und Asien sind auf dieser Schreckensliste vertreten.

2013 wurden 15 Schriftsteller ihrer Texte wegen getötet, 19 weitere wurden umgebracht, vermutlich ebenfalls, weil sie unbequeme Meinungen vertraten, aber in ihren Fällen lässt sich das Tötungsmotiv nicht eindeutig nachweisen.

Beispiele aus Syrien, Katar, Mexiko und Bangladesch

Wie sieht denn nun Verfolgung von Autoren konkret aus?

Da ist zum Beispiel der syrische Romanautor Fouad Yazij, ein Gegner des Assad-Regimes und ein Christ, der auf diese Weise zwischen alle Fronten geriet. Hier Assads Soldaten, dort der fanatisch islamistische IS. 2014 musste dieses literarische Aushängeschild seines Landes überstürzt aus Syrien fliehen und gelangte nach Kairo, wo er zuerst einmal in einer Garage Unterschlupf fand.

Durch Vermittlung des Goethe-Instituts bekam Fouad Yazij schließlich eine bescheidene Wohnung. Aber er war noch immer völlig mittellos, noch dazu hatte er seine alte Mutter völlig verarmt in Homs zurücklassen müssen. Wenn er Spenden bekam, vom PEN vermittelt oder von der Gießener Gruppe „Gefangenes Wort“, schickte er einen Teil davon an seine Mutter. Über Monate hinweg wurde Fouad mehr schlecht als recht durch Hilfe von außen über Wasser gehalten, zwischendurch war er derart verzweifelt, dass seine Helfer Angst hatten, er könne sich das Leben nehmen.

Schließlich gelang es dem PEN, Fouad in sein „Writers-in-Exile-Programm“ aufzunehmen. Acht Wohnungen hat der PEN in Deutschland in verschiedenen Städten für dieses Programm, dank der Hilfe des Kulturministeriums, zur Verfügung, um dort für ein oder zwei Jahre verfolgte Schriftsteller unterzubringen. Wenigstens für einen kurzen Zeitraum sollen diese Autoren wieder Ruhe haben, um angstfrei zu leben und vor allem um zu arbeiten, also schreiben zu können. Acht von achthundert. Im November 2015 wurde Fouad in dieses Programm aufgenommen, inzwischen ist er sicher in Deutschland angekommen.

Da ist Mohammed al-Adschami aus Katar, dem Land, das im Jahr 2022 eine Fußball-Weltmeisterschaft ausrichten soll. Er hat ein Gedicht geschrieben, das der Emir als Aufruf zum Umsturz wertete. Zu lebenslanger Haft wurde er dafür verurteilt, seit 2012 saß Adschami für vier Jahre im Gefängnis, bis er nach vielen internationalen Protesten, hauptsächlich vom PEN, in diesem Jahr vom Emir begnadigt wurde. Mit den Zeilen „Sie importiert all ihre Sachen aus dem Westen/warum importiert sie nicht Gesetze und Freiheit“ endet sein Gedicht, das ihm diese Strafe einbrachte, denn jeder in Katar wusste, wer mit dem „Sie“ gemeint war. Die Zweitfrau des Emirs nämlich, die sich auf Auslandsfahrten mit ihrem Mann stets luxuriös einzukleiden weiß, die also die Waren des Westens schätzt, aber nicht seine moralischen Werte.

Gefängnis für eineinhalb Gedichtzeilen

Ein Aufruf zum Umsturz soll es also gewesen sein, den Emir auf diesen Widerspruch hinzuweisen und auf diese Anklage steht in Katar eigentlich die Todesstrafe. Lange drohte sie vermutlich, dann wurde Mohammed zu lebenslänglicher Gefängnisstrafe verurteilt. Und lebenslänglich ist in Katar wortwörtlich zu verstehen. Sein ganzes Leben lang sollte Mohammed für dieses eine Gedicht im Gefängnis schmoren, dann wurde er „begnadigt“, zu fünfzehn Jahren Haft. Das bedeutete bei einem Gedicht von 23 Versen ein Jahr Haft für eineinhalb Zeilen. Bis dann die endgültige Begnadigung kam. Gnade wofür? Dafür, dass jemand in einem Gedicht seine Meinung gesagt hat, die noch dazu schwer zu widerlegen ist?

Die mexikanische Journalistin Ana Lilia Pérez hat sich mit der Verstrickung von Mafia und Politik in ihrem Land beschäftigt und ein Buch darüber geschrieben: „Das schwarze Kartell“ heißt es. Unerschrocken hat sie darin aufgezeigt, wie die Korruption vor allem im staatlichen Ölkonzern funktioniert. Danach wurde sie von allen Seiten bedroht, von der Politik und von der Mafia, was in Mexiko mindestens teilweise ein und dasselbe ist.

„Plata o Plomo“ heißt es für die Journalisten in Mexiko, Silber oder Blei. Zu Deutsch: Entweder du lässt dich bestechen oder es fliegen die Kugeln. Ana Lilia ging zum Schluss nur noch mit schusssicherer Weste auf die Straße, mit dem Rücken stets zur Wand, um rechtzeitig sehen zu können, ob sie jemand in sein Blickfeld nahm, bis sie es nicht mehr aushielt und abhaute. Ein Jahr hat sie in Hamburg im „Writers-in-Exile“-Programm des PEN Unterkunft gefunden, eine Frau, deren Mut allen imponierte, die ihr begegneten. Dann entschied sie sich, zurückzukehren nach Mexiko. Was solle sie in Deutschland, sagte sie, sie werde in Mexiko gebraucht, dort sei ihr Engagement wichtig. Es war ein berührender Abschied bei der letzten Begegnung zwischen ihr und den deutschen Schriftstellern, denn niemand sprach aus, was doch alle dachten: Wer weiß, ob wir uns wiedersehen.

„Sie sind gekommen, um dich zu holen“

Der Blogger Ahmed Nadir aus Bangladesch, den ich eine Zeitlang im Auftrage des PEN betreut habe, war dagegen froh, dass er in Deutschland bleiben durfte. Nadir ist Computerspezialist, er hatte eine kleine Firma in Bangladesch und war gerade auf der Cebit in Hannover, als ihn sein Vater anrief und dringend vor einer Rückkehr warnte. „Bleib, wo du bist, Junge, sie sind gekommen, um dich zu holen. Die einen wollen dich einsperren, die anderen umbringen.“

Bei der Suchaktion nach Nadir, um diesen Störenfried endlich zur Strecke zu bringen, haben die Fanatiker dem Vater ein Auge ausgeschlagen. Nadirs Schuld bestand darin, zu Demonstrationen für demokratische Rechte aufgerufen zu haben. Seit ich Nadir betreut habe, kenne ich das deutsche Asylverfahren aus eigener Anschauung. Ich kenne auch seitdem Asylbewerberheime und verschweige den Namen der abgelegenen Stadt, in der Nadir untergekommen ist und sich monatelang gelangweilt hat, denn sie hat sich bemüht, diese Stadt, sie konnte wohl nicht anders. Es war ein uraltes Bürogebäude mit nackten Betonwänden, Eisenbetten darin, immerhin auch mit einem Fernseher.

Die Idee, Nadir mit einem zweiten Asylbewerber aus Bangladesch auf ein Zimmer zu legen, liegt nahe, sie war aber völlig falsch. Nadir ist nämlich Atheist, der andere aber war ein frommer Moslem, der jeden Tag fünfmal in Richtung Mekka betete, und Nadir wusste, wenn der andere von seiner Einstellung erfährt, ist sein Leben in Gefahr, vor allem nachts, wenn er schläft und damit wehrlos ist. Der andere hat es natürlich doch gemerkt, er hat aber nicht Nadir angefallen, sondern das Mobiliar im Zimmer in seiner Panik und Hilflosigkeit kurz und klein geschlagen. Nach monatelangem Warten, nach mehrfachem Drängen des PEN und zweier Bundestagsabgeordneter kam es schließlich zur Verhandlung und Nadir wurde Asyl gewährt. Er hat seither im Rheinland Kontakte gefunden, aber all das ist nichts im Vergleich zum Verlust von Familie, Freunden und Heimat eben.

Inzwischen sind zwei andere Blogger, Freunde oder Bekannte von Nadir, in Bangladesh brutal mit Macheten ermordet worden, weil sie atheistisch dachten.

In diese Reihe passt das Schicksal des saudi-arabischen Bloggers Raif Badawi, inzwischen Ehrenmitglied des deutschen PEN, der für seinen liberalen, antifundamentalistischen Blog zu tausend Stockschlägen verurteilt wurde, die in 20 Wochen, jeweils an einem Freitag, verabreicht werden sollen. Jeden Freitag fünfzig Schläge, eine Strafe, die mittelalterlich zu nennen ich mich scheue. Das Mittelalter hatte freiere Phasen. Der Aufschrei der Empörung in der Welt war groß, beeindruckte die dortige Regierung aber nicht. Nach Saudi-Arabien geht übrigens ein Großteil deutscher Rüstungsexporte, aber das ist dann wohl eine andere Sache, oder?

Diktatoren fürchten das freie Wort

Das freie Wort, wie wird es doch misshandelt in der Welt! Von allen Künstlern, so unsere Erfahrung, sind es zuerst die Schriftsteller, die verfolgt werden, weil ihr Arbeitsmaterial, das Wort nämlich, untrennbar mit Inhalten verbunden ist. Und Inhalte können, wenn sie die Realität schildern, störend sein, für manche Machthaber auch gefährlich.

Dazu fällt mir ein Bezug zur Bibel ein. Gott spricht im Schöpfungsbericht ein Wort nach dem anderen aus und eine ganze Welt entsteht. Auch durch Schriftsteller können, wenn wir Worte schreiben, Welten entstehen, Gedankenwelten nämlich, die aber nicht Gedanken bleiben müssen, sondern zu neuen Realitäten führen können. In Diktaturen sind das oft genug Gegenwelten, die die Unterdrücker um ihre Macht fürchten lassen und zur Verfolgung jener anstacheln, die doch nur von dem Gebrauch machen, was ihnen zusteht: von dem Menschenrecht auf freie Meinung. In Deutschland, das sei hinzufügt, wird das freie Wort nicht unterdrückt. Hier wird es abgehört.

Und frei macht das Wort auch nach der Bibel, zweiter Bezug zu unserem Glauben, denn die Sprachverwirrung beim Turmbau zu Babel ist doch, wenn man es genau liest, keine Bestrafung, sondern sie befreit. Befreit von Hybris, von dem Wahnsinn, einen Turm hoch bis zum Himmel zu bauen. Durch Sprache wird der Mensch davon befreit und vielfältig soll sie auch sein, sagt die Bibel.

Wenn nun Schriftsteller so zahlreich verfolgt werden, ist es gut, dass sie eine Organisation haben, die ein Anwalt an ihrer Seite ist. Die ihnen direkt helfen kann, mindestens so, dass die Verfolgung öffentlich wird. Das ist schon einiges, denn wie alle Verbrecher scheuen auch Diktatoren das Licht der Öffentlichkeit. Hier liegt nun eine der wichtigen Aufgaben des PEN, ein Großteil unserer Arbeit beschäftigt sich damit.

Was bedeutet nun das Wort „PEN“? Es ist, wie leicht zu vermuten, eine Abkürzung aus dem Englischen und steht für Poet, Essayist und Novelist. Der Poet ist der Lyriker, der Essayist der Journalist oder Sachbuchautor, heute zunehmend auch der Blogger, der Novelist der Romanautor. Zusammen ergibt es das Wort PEN, das für Feder steht, obwohl wir alle nicht mehr mit der Gänsefeder schreiben wie unsere berühmten Vorgänger, sondern mit dem Computer.

140 PEN-Zentren in 101 Ländern

140 PEN-Zentren gibt es in 101 Ländern. Der deutsche PEN-Club, wie man das früher nannte, hat etwa 800 Mitglieder. Man kann in den PEN nicht eintreten, sondern man wird hineingewählt, was immer auch für den jeweiligen Autor eine Auszeichnung ist. Zwei Bürgen müssen bei der Jahrestagung einen schriftlichen Antrag einreichen, warum sie diesen oder jenen Autor (oder Autorin) als Mitglied vorschlagen, sie müssen diese Begründung vor den Tagungsteilnehmern vorlesen und dann kommt alles darauf an, ob dies Mehrheit der Teilnehmer überzeugt oder nicht.

Screenshot der Internetseite des deutschen PEN.

Screenshot der Internetseite des deutschen PEN.

Das ist ein wichtiger Unterschied zum Verband deutscher Schriftsteller (VS), der sich mehr um Tariffragen kümmert, um Musterverträge zwischen Verlag und Autor zum Beispiel. Beim Schriftstellerverband kann man selber beantragen, aufgenommen zu werden. In der Regel reicht es, wenn man ein Buch veröffentlicht hat. Die meisten PEN-Autoren sind, genau wie ich, auch Mitglied im Schriftstellerverband, beide Verbände arbeiten gut zusammen.

Es ist kein Zufall, dass der Name aus einer englischen Abkürzung besteht, denn gegründet wurde der PEN 1921 in England, und zwar auf typisch englische Weise, nämlich bei einem Dinner. Am 5. Oktober 1921 lud die Schriftstellerin Catherine Amy Dawson-Scott ihre Schriftstellerfreunde zu sich ein (darunter die späteren Literatur-Nobelpreisträger George Bernhard Shaw und John Galsworthy) und wollte den „To-Morrow-Club“ gründen, den Vorläufer des PEN.

Hintergrund war das schreckliche Erlebnis des Ersten Weltkriegs, Dawson-Scott wollte, dass sich solch ein Verein auch in anderen Ländern gründete, um auf diese Weise beizutragen zur Völkerverständigung, damit es nie wieder Krieg gibt. Warum sollten bei diesem großen Unternehmen nicht die Schriftsteller vorangehen, hat sie gedacht. Tatsächlich gab es beim ersten internationalen PEN-Kongress 1923 schon 11 PEN-Zentren in verschiedenen Ländern.

John Galsworthy als erster Präsident

Erster Präsident des nun internationalen PEN wurde John Galsworthy, auch ein Nobelpreisträger, der berühmt geworden ist für seine Romanreihe „Die Forsyte Saga“. Ich selbst habe in meiner Schulzeit die längere Erzählung „The man, who kept his form“ gelesen, frei übersetzt: Der Mann, der sich selbst treu blieb. Es ist die Geschichte eines Unangepassten, der seinen – freilich etwas konservativen – moralischen Grundsätzen folgt, selbst wenn er dafür Nachteile in Kauf nehmen muss. Sie hat mir gefallen, diese Geschichte und ist mir als ein Hinweis für das eigene Leben im Gedächtnis geblieben: Versuche auch du, deinen Grundsätzen treu zu bleiben! Insofern, denke ich, ist Galsworthy ein guter erster PEN-Präsident gewesen.

Trotz der schnellen Gründungen von Zentren in aller Welt ist der PEN am Anfang doch ein wenig dem Charakter eines Dinnertreffens oder einer Teestunde treu geblieben, denn nach dem Willen von Dawson-Scott sollte es keine politische Autorenvereinigung sein. Völkerverständigung, Freundschaften über die Grenzen hinaus, das ja, aber politisch sollte der PEN sich nicht äußern. Dies ist eine Einstellung zur Literatur, die einem immer wieder begegnet, bis heute. Wie kann man so etwas Schönes wie die Poesie mit der schnöden, hässlichen Politik vermengen? Ich höre das immer wieder, wenn ich einen zeitkritischen Roman veröffentlicht habe, denn ich bin in diesem Punkt ganz anderer Meinung.

Der PEN war in seiner Anfangszeit in diesem Punkt ja auch widersprüchlich. Was ist denn Völkerverständigung anderes als gelungene, geradezu wünschenswerte Politik? Auch ein Satz in der Charta, dem Grundgesetz des PEN, ist hochpolitisch: „Sie (die PEN-Mitglieder) verpflichten sich, für die Bekämpfung von Rassen-, Klassen- und Völkerhass und für die Hochhaltung des Ideals einer in Frieden lebenden Menschheit mit äußerster Kraft zu wirken.“

Das soll unpolitisch sein? Hochpolitisch ist das, geradezu brisant angesichts der Zustände in unserer Welt.

Als Ernst Toller 1933 das Wort ergriff

Spätestens ab 1933 ließ sich die feine, etwas vornehme Zurückhaltung in Sachen Politik für den PEN nicht mehr durchhalten. Da hatten in Deutschland die Nazis die Macht übernommen und hatten alle ihre Kritiker – Sozialdemokraten, Kommunisten, kritische Christen und nicht zuletzt unbequeme Schriftsteller – ins KZ geworfen, gefoltert, manche auch getötet oder ihnen die deutsche Staatsbürgerschaft entzogen und sie so ins Exil gezwungen, u.a. den damaligen deutschen PEN-Präsidenten Alfred Kerr, der bekannteste Literaturkritiker seiner Zeit, der jüdischer Abstammung war.

1933 veranstalteten die Nazis einen Tiefpunkt an Kulturlosigkeit, die Bücherverbrennung. Auf dem Berliner Opernplatz ließen sie all jene Bücher verbrennen, die sie für undeutsch hielten. Es waren die Werke fast aller bekannten deutschen Autoren, so dass man mit Fug und Recht behaupten kann, dass das deutsche Geistesleben verbrannt werden sollte. Heute findet man an der Stelle, wo der Scheiterhaufen stand, ein ebenso einfaches wie überzeugendes Denkmal. Eine Glasplatte ist dort in den Boden eingelassen worden und wenn man hindurchschaut, sieht man unten einen völlig sterilen Raum mit weißen, leeren Bücherregalen.

Was bleibt also übrig, wenn die Kultur vernichtet ist? Leere bleibt übrig, Sterilität und geistige Ödnis. Es erfüllte sich in der Folgezeit, was der großartige Dichter Heinrich Heine knapp hundert Jahre vorher prognostiziert hatte: Wer Bücher verbrennt, der verbrennt auch Menschen. Weiß Gott, das haben sie getan, die Nazis. Millionenfach.

Die Bücher des sozialistischen Schriftstellers Oskar Maria Graf wurden nicht verbrannt, einige wurden von den Nazis sogar empfohlen. Graf floh aus diesem Nazi-Kerker und schrieb einen bewegenden Aufruf, in dem er sich über diese Behandlung durch die Nazis beklagte:

„Nach meinem ganzen Leben und nach meinem ganzen Schreiben habe ich das Recht, zu verlangen, dass meine Bücher der reinen Flamme des Scheiterhaufens überantwortet werden und nicht in die blutigen Hände und die verdorbenen Hirne der braunen Mordbande gelangen.“ Was für eine großartige Haltung eines Schriftstellers!

Und der PEN? Den hatten sich Nazi-Schriftsteller unter den Nagel gerissen. Ja, das gab es leider auch, Schriftsteller, die ihr Wirken in den Dienst einer Verbrecherideologie gestellt haben. Klar, wenn die Großen vertrieben werden, können sich die Mickerlinge aus dem vierten oder fünften Glied ins Licht drängen. Ich habe die Namen mal nachgeschlagen, die nach Hitlers Machtergreifung das Präsidium des PEN bildeten, sie sind, bis auf Hanns Johst, der Romane und Theaterstücke schrieb, völlig unbekannt. Unbedeutend sowieso.

Bei der Tagung des internationalen PEN in Dubrovnik im Mai 1933 tauchte diese Delegation dann auf und wollte nicht, dass über Politik geredet wurde, natürlich nicht, weil sie ja Angst haben musste, dann wegen der Verfolgung und Folterung von Schriftstellern am Pranger zu stehen. Das aber verhinderte der damalige PEN-Präsident H.G Wells („Krieg der Welten“), der Ernst Toller das Wort erteilte, einem bekannten deutschen Schriftsteller, dem die Nazis die deutsche Staatsangehörigkeit aberkannt hatten und der nun im Exil lebte.

Toller klagte in einer flammenden Rede nicht das deutsche Volk an, sondern diejenigen, die es in eine Diktatur gezwungen hatten und die nun alle Andersdenkenden verfolgten, folterten und töteten. Und dann nannte er all die Namen der Schriftsteller und Maler, die die Nazis eingesperrt oder getötet hatten. Er bekam viel Applaus für diese mutige Rede, der Nazivorstand des PEN verließ empört die Tagung und isolierte sich damit selbst.

Nach 1945 spaltete sich der deutsche PEN

Fortan gab es kein PEN-Zentrum mehr in Deutschland, aber einen Exil-PEN mit Sitz in London, in dem die meisten Schriftsteller von Rang und Namen Mitglied waren, denn sie alle mussten ja aus Nazideutschland fliehen. Einer gehörte aber nicht dazu, der bekannte Autor Erich Kästner („Emil und die Detektive“, „Das doppelte Lottchen“), der das Kunststück fertig brachte, die Nazizeit in Deutschland zu verbringen, in innerer Emigration, ohne sich den Nazis anzudienen. Er hatte sogar der Bücherverbrennung in Berlin als Zuschauer beigewohnt und erleben müssen, wie auch seine Bücher verbrannt wurden. Eine Frau hat ihn dabei sogar entdeckt und erschreckt gerufen: „Aber da ist ja der Kästner!“ Zum Glück hat es keiner von den Nazis gehört. Kästner wurde nach dem Krieg einer der prägenden PEN-Präsidenten.

Den Exil-PEN, dies nebenbei, gibt es bis heute, obwohl eigentlich keine Veranlassung mehr dafür besteht. Wir arbeiten gut mit ihm zusammen, aber warum er nicht zu uns übertritt, weiß ich nicht.

Nach dem Krieg machte der PEN die deutsche Spaltung mit. Trotz anfänglicher Bemühungen, sich nicht zu trennen, entstand ein DDR-PEN, genannt PEN Ost, und ein West-PEN. Intensive Kontakte zwischen beiden Verbänden gab es nicht. Also war Deutschland auch im Literaturbetrieb gespalten. Und wer nun glaubt, dass sich nach der Wende die beiden Verbände schnell und vor allem erfreut zusammengefunden haben, der täuscht sich gewaltig.

Die Vereinigung der beiden Länder verlief durch den „Anschluss“ der DDR an die Bundesrepublik, denn das war es ja, vergleichsweise schnell: Die Schriftsteller aber wollten erst mal, wie das ihre Eigenschaft ist, diskutieren. Wie habt ihr euch in der Zeit der Trennung verhalten, welches Erbe bringt ihr ein in unseren Verband und vor allem: Ich will nicht neben einem Stasispitzel bei den Jahrestagungen unseres PEN sitzen! Und Stasispitzel, meinten viele Westler, waren die anderen doch meistens.

Doch Vorsicht! Fritz Rudolf Fries zum Beispiel, ein guter DDR-Autor, war IM bei der Stasi, aber warum? Hauptsächlich, weil ihn die Stasi in der Hand hatte. Seine Tochter war nämlich krank. Medizin, die ihr half, gab es nur im Westen. Die Stasi besorgte ihm die Medizin und half damit seiner Tochter, aber dafür wollte sie eben Informationen haben… Fritz Rudolf Fries hat übrigens hauptsächlich Allgemeinplätze ausgeplaudert, nichts, das anderen hätte Schaden zufügen können. Trotzdem, er hat unter dieser Last, als alles rauskam, schwer gelitten und ist aus allen Autorenverbänden, auch aus dem PEN, in dessen Präsidium Ost er mal gewählt worden war, ausgetreten.

„Wessi“ oder „Ossi“ – heute ist es egal

Es gab Kämpfe, die den PEN fast zerrissen hätten und es dauerte Jahre, bis der PEN unter der behutsamen Führung des damaligen PEN-Präsidenten Christoph Hein, ein „DDR-Autor“, der heute Ehrenpräsident ist, doch zusammengeführt wurde.

Heute spielen die alten Kämpfe keine Rolle mehr und nach der letzten Wahl ins Präsidium, die in Magdeburg, also einer Stadt im Osten stattfand, haben wir im Nachhinein erschreckt festgestellt, dass gar kein „Ossi“ mehr im Präsidium ist, bis sich der Kassierer, mein Freund Matthias Biskupek meldete und sagte: Ich bin doch ein Ossi. Und der Ehrenpräsident Christoph Hein ist es auch.

Eigentlich ist es nicht schlecht, dass der Gedanke Ost – West bei der Wahl überhaupt keine Rolle gespielt hatte, denn das ist ein Zeichen von Normalisierung. Und wenn bei der nächsten Wahl fünf „Ossis“ gewählt werden und uns das auch erst lange nach der Wahl auffällt, ist das ein ebenso gutes Zeichen.

Die Vereinigung war also ein schwieriger Prozess und es ist gut, dass sie geklappt hat, denn nun folgt der PEN wieder mit Macht seinen Zielen aus der Charta und er ist dabei im kulturellen und gesellschaftlichen Leben, wie ich das liebe und wie sich das für Schriftsteller meiner Meinung nach gehört, ein Störfaktor. Denn jene, die gegen die wichtigsten Ziele des PEN, nämlich den Kampf gegen Völker- und Rassenhass, verstoßen, die also Hass verbreiten und damit Kriege rechtfertigen, und die das freie Wort unterdrücken wollen, sollen uns als ihre Gegner verstehen. Als ihre erbitterten Gegner!

Was macht nun der deutsche PEN?

Viermal im Jahr kommt das Präsidium in verschiedenen Städten zusammen und plant die Aktionen. Einmal im Jahr treffen wir uns zu einer großen Jahrestagung, dann können alle kommen, die PEN-Mitglieder sind. In der Regel sind das 150 Schriftsteller, was bei diesen ausgeprägten Einzelgängern schon eine stattliche Anzahl ist.

Zuflucht in acht deutschen Wohnungen

Acht Wohnungen, in Berlin, Darmstadt, München und Hamburg hat der deutsche PEN zur Verfügung, um dort verfolgte Schriftsteller unterzubringen, das ist einmalig innerhalb des internationalen PEN. Wir entscheiden darüber, wen wir für ein oder zwei Jahre aufnehmen und wer hier bei uns wieder unbedroht wohnen und schreiben darf. Natürlich bekommen diese Autoren auch monatlich Geld zum Überleben.

Das Geld für Stipendien und Wohnung bekommt der PEN vor allem vom Ministerium für Kultur, also von der Bundesregierung, dazu gibt es die Städte, die Wohnungen zur Verfügung stellen. Es löst nicht das Problem der Verfolgung von Schriftstellern, aber es lindert sie wenigstens für ein paar von ihnen. Trotzdem, einfach ist das Leben auch für diese acht Autoren nicht bei uns. Sie kommen doch nach jahrelanger Verfolgung oder Haft traumatisiert zu uns, einige sind krank. Sie alle müssen erst mal Schritt für Schritt ins Leben zurückfinden, noch dazu in einem fremden Land. Wie mache ich das mit dem Arztbesuch, wo muss ich Anträge für dieses oder jenes stellen? Einige müssen fast wortwörtlich an die Hand genommen und ins Leben geführt werden.

Dauernd veröffentlichen wir, in welchen Ländern wieder welche Schriftsteller eingesperrt werden oder mit dem Tode bedroht sind. Manchmal hilft es etwas, manchmal erst einmal nicht, dann aber plötzlich doch nach ein paar Jahren. Nach quälenden Jahren in schrecklichen Gefängnissen.

Wir sind aber auch hier im Lande aktiv. Die schrecklichen Todesfälle im Mittelmeer haben den deutschen PEN zu einem Aufruf veranlasst, der eine menschenwürdige Behandlung von Flüchtlingen verlangt. „Schutz in Europa“ heißt der Aufruf, den über tausend Schriftsteller unterzeichnet haben, und den wir in Berlin dem Staatssekretär im Innenministerium übergeben haben, der sich dadurch angegriffen fühlte und nicht besonders freundlich benahm. Wir haben ihn auch in Brüssel an den EU-Parlamentspräsidenten Martin Schulz überreicht, der sehr froh über diese Initiative war und den PEN-Präsidenten, im Moment ist das Josef Haslinger, erfreut empfing. Schulz ist ein Freund der Bücher und damit der Schriftsteller. Er war früher Buchhändler.

Wo immer es Ansätze von Zensur, aber auch Einschnitte in Kulturprogramme gibt, erhebt der PEN seine Stimme. Das Wort muss frei bleiben und es darf auch nicht durch finanzielle Einschränkungen beschnitten werden.

Gegen die Gratismentalität

Im Moment haben wir viel mit Abwehrkämpfen zu tun und kämpfen zum Beispiel gegen die Gratismentalität im Internet, die vor allem durch eine Partei propagiert wird, die für dieses Programm den richtigen Namen trägt und die nun, dazu muss man kein Wahrsager sein, wieder verschwinden wird. Piraten heißt sie und was Piraten tun, wissen wir ja alle. Vielleicht haben sie auch hier ein paar Sympathisanten, denen ich eines zu bedenken geben möchte. Das Internet ist nichts anderes als eine technische Möglichkeit, die erst einmal leer ist. Gefüllt wird sie durch die Geistesleistung von Menschen, durch Musiker, Schriftsteller, Journalisten, die von ihrer Arbeit leben müssen. Deren Produkte kostenlos anzubieten, heißt, sie zu enteignen.

Das sollte man mal mit materiellen Werten tun wollen. Zehn Jahre nach Tod des Firmenchefs geht seine Firma in Gemeineigentum über, das wäre eine vergleichbare Forderung. Den Aufschrei möchte ich mal hören. Aber mit Geistesarbeitern glaubt man, es machen zu können. Nein, alles was in Online-Zeitungen, in kopierten Internetbüchern, an Musik erscheint, muss bezahlt werden, sonst können viele Journalisten, Schriftsteller oder Musiker nicht mehr arbeiten und wir würden geistig ausdünnen.

Kürzlich wollte jemand E-Books, nachdem er sie gelesen hatte, in einem Internet-Antiquariat verkaufen. E-Books veralten aber nicht in ihrem Material, sie bleiben, was sie schon beim Kauf sind. Ein Gericht hat diesen Versuch untersagt. Andernfalls könnten meine Verlage gar keine Bücher mehr produzieren. Es reicht ja, wenn sie ein E-Book herstellen, das dann, was ja auch geschieht, zig mal kopiert wird und dann auch noch im Antiquariat verkauft wird. Wie soll ein Verlag davon leben? Das geht nicht, also würde es ihn nicht mehr geben, also würde er meine Bücher nicht mehr drucken und auch nicht die meiner Autorenkollegen. Also könnten wir nichts mehr veröffentlichen. Eine geistig-literarische Verarmung wäre die Folge.

Wir kämpfen gegen TTIP, das große Handelsabkommen zwischen Europa und Nordamerika, dessen Vertragstext so geheim ist, das ihn nicht mal Politiker lesen dürfen. Wer hat in dieser Welt eigentlich das Sagen? Die gewählten Politiker oder die Großkapitalisten?

Buchpreisbindung beibehalten

Schriftsteller sind vor allem dagegen, weil dann die Buchpreisbindung aufgehoben würde. Anbieter wie Amazon würden Bücher zu Billigpreisen verkaufen, kaum jemand ginge noch in die Buchhandlungen, von denen wir in Deutschland noch etwa 5000 haben, eine gut geordnete Szene also, die dann zu wenig zum Überleben verdienen und folglich verschwinden würde. Und mit ihnen unsere Bücher, vor allem jene, die nicht in den Bestsellerlisten stehen, die aber informierte Buchhändler trotzdem auf Vorrat halten und empfehlen.

Über 500 Schriftsteller haben einen Protestaufruf unterschrieben und sich darin verbeten, dass die NSA in Deutschland alles und jeden abhört. Der PEN war maßgeblich daran beteiligt. 500 Schriftsteller, darunter alle bekannten, Juli Zeh hat diesen Aufruf im Bundeskanzleramt übergeben. Geschehen ist daraufhin…nichts. Die Bundeskanzlerin hat den Schriftstellern nicht einmal geantwortet.

Natürlich organisiert der PEN auch literarische Veranstaltungen, denn wir sind ja dem Wort ganz allgemein verpflichtet, nicht nur dem verfolgten, sondern auch der Schönheit der Sprache. Sich mit Literatur zu beschäftigen, mit wichtigen, auch unbequemen Inhalten, mit schön gebauten Sätzen, mit anregenden Sprachbildern und Metaphern, das ist doch etwas gerade in einer Zeit des Überschwalls von Wörtern und Sätzen, oft ohne oder mit wenig Inhalt. Auch darauf möchte der PEN hinweisen.

Lesungen und Diskussionen

Lesungen mit unseren Stipendiaten finden in Literaturhäusern statt, große Diskussionsveranstaltungen zu wichtigen literarischen Themen werden durchgeführt, bei der letzten Jahrestagung zum Beispiel zu der Frage, ob der Blasphemieparagraph aus dem Gesetzbuch gestrichen werden soll. Jener Paragraph also, der angebliche oder wirkliche Gotteslästerung unter Strafe stellt. Es ist eine Diskussion in der Folge des schrecklichen Attentats auf die französische Satirezeitschrift Charlie Hebdo. Bei der nächsten Jahrestagung in Dortmund wird eine Lesung „Der Klang der Sprache“ heißen. Drei Autoren sollen lesen, es soll einfach um die Schönheit von Sprache gehen.

Einmal im Jahr verleiht der PEN den Hermann-Kesten-Preis an eine Person oder Organisation, die sich gegen Menschenrechtsverletzungen engagiert. Zur Hälfte gibt der PEN das Preisgeld, zur anderen Hälfte das Land Hessen. In diesem Jahr werden diesen Preis Can Dündar und Erdem Gül bekommen, zwei mutige türkische Journalisten, die aufgedeckt haben, dass die türkische Armee Waffen an den IS liefert, an den IS, der damit die kurdische PKK bekämpfen kann. Die Kurden sind für Erdogan wohl der schlimmere Feind als der IS. Natürlich wurden die beiden zu hohen Gefängnisstrafen verurteilt, Dündar konnte aber, bevor eine Revisionsverhandlung vor Gericht stattfand, ausreisen und befindet sich in Deutschland. Dafür hat die Türkei seiner Frau den Pass entzogen und die Ausreise verweigert. Sippenhaft, um ein Faustpfand gegen Dündar in der Hand zu haben!

Es sind also viele Initiativen, die der PEN rund um das geschriebene, das literarische Wort ergreift, denn ja, wir müssen uns wehren. Dauernd gilt es, Gefahren abzuwehren, denn was macht die Welt für die Herrschenden bequemer als das freie Wort mundtot zu machen?

Nachts um 1 Uhr im Ratskeller

Aber all dies macht immer noch nicht den PEN aus, denn es gibt noch ein kleines, schönes Nebenergebnis. Wir sind doch alle, ich sagte es schon, Einzelgänger, die ihre Zeit allein für sich im Zimmer vor dem Computer verbringen, um den neuen Roman, den nächsten Gedichtband fertig zu stellen. Aber wir haben auch gerne Kontakt zu Menschen, weil wir gerne lachen, gerne Anekdoten erzählen. Wir suchen den Meinungsaustausch, der auch ein paar Tipps und Ideen für Projekte mit sich bringt. Und dazu taugen unsere Jahrestreffs.

Die Sitzungen, die heftigen Diskussionen im Plenum, die Veranstaltungen an den Abenden, das alles ist nur der eine Teil. Der andere besteht darin, dass wir uns zu kleinen, oft zufälligen Gruppen zusammenfinden, dass wir ein Bier miteinander trinken, über Gott und die Welt reden, uns dabei kennenlernen und – das nächste Nebenprodukt – so manches Projekt aushecken. Ja, das haben wir auch nötig.

Bei der letzten Jahrestagung in Magdeburg, als wir uns in einer großen Runde im Ratskeller zusammengefunden hatten, fragte ich den Wirt: Warum machen Sie denn plötzlich überall das Licht aus? Er antwortete: Wir schließen immer um ein Uhr nachts.

Da haben wir alle auf die Uhr geschaut und tatsächlich, es war Viertel nach eins. Wir hatten uns wunderbar festgequatscht und jeder von uns hatte einen oder zwei Kollegen neu kennengelernt. Irgendwo, bei einer Gelegenheit, an die wir jetzt noch nicht denken, wird das eine Rolle spielen.

Auch deshalb bin ich gerne im PEN. Wir sind Störenfriede, wir sind unbequem, wir sind politisch, wir lieben schöne Literatur. Das ist gut so. Aber daneben lerne ich immer auch ein paar Schriftsteller kennen, deren Bücher ich mag und mit denen ich nach einer langen Nacht plötzlich befreundet bin. Das ist nicht nur einfach gut so, das ist bestens.




„Die Natur ist unsere Lehrerin“: Hamm zeigt Gemälde aus Künstlerkolonien um 1900

Lichtflirrende Birkenalleen, liebliche Gewässer, weite Felder, zauberhafte Seeblicke, düstere Moore. Diese Ausstellung führt uns hauptsächlich auf Schauplätze in der freien Natur. Im Hammer Gustav-Lübcke-Museum geht es jetzt um „Lieblingsorte – Künstlerkolonien“ von Worpswede bis Hiddensee. Man darf sich auf etliche schöne Ansichten gefasst machen.

Museumsleiterin Friederike Daugelat, die sich mit dieser Schau von Hamm verabschiedet, hat sich, der besseren Vergleichbarkeit wegen, auf den deutschen Norden konzentriert. Motive und Stimmungen, Licht und Schatten sind dort eben anders beschaffen als in südlicheren Gefilden.

Fritz Overbeck: "Birken vor Kornfeld" (um 1892) (Gustav-Lübcke-Museum)

Fritz Overbeck: „Birken vor Kornfeld“ (um 1892) (Gustav-Lübcke-Museum)

Bilder aus insgesamt sieben Künstlerkolonien sind zu sehen. Worpswede ist die bei weitem bekannteste, auf der imaginären Reiseroute folgen: Schwaan (Mecklenburg), Hiddensee, Heikendorf (bei Kiel), Ahrenshoop (Fischland-Darß), Ferch (bei Potsdam) und das am weitesten östlich gelegene Nidden (seinerzeit Ostpreußen, heute Litauen). Nicht von all diesen Orten hat man schon gehört.

Jede Kolonie hat ihre Eigenheiten, manche entstanden z. B. rund um Gasthöfe, in anderen Orten ließen sich die Maler dauerhaft nieder. Doch der Impuls ist derselbe: Um 1900 und vornehmlich bis zum Ersten Weltkrieg suchten viele Künstler, die der Verstädterung, der Industrialisierung und der gesellschaftlichen Zwänge überdrüssig waren, solche Refugien in der (damals schon bedrohten) Natur. In ganz Deutschland hat es rund 30 Künstlerkolonien gegeben. Heutige Trendfolger hätten sich wohl schier überschlagen vor lauter Zeitgeist-Anhimmelung.

Manche Idylle beruhte freilich bereits eher auf künstlerischem Wollen und nicht so sehr auf wirklicher Unberührtheit. Sehnsüchte nach „paradiesischen“ Zeiten waren im Spiel – und auch schon Mahnungen, den Raubbau an der Natur betreffend. Stilistische Feinheiten zwischen Jugendstil, Impressionismus und expressionistischen Ansätzen treten demgegenüber fast in den Hintergrund.

Die Parole hieß also: Hinaus aus den Ateliers und Akademien! Otto Modersohn formulierte es für Worpswede so pointiert: „Fort mit den Akademien, nieder mit den Professoren (…), die Natur ist unsere Lehrerin…“

Begonnen hatte die europaweite Bewegung zur Freilichtmalerei um die Mitte des 19. Jahrhunderts in Barbizon (Frankreich), eine profane Voraussetzung war die Erfindung der Farbtube gewesen, die den Künstlern entschieden mehr Bewegungsfreiheit gab. Nun wurde die Landschaftsmalerei als Genre enorm aufgewertet, vordem hatte sie eher als Staffage gedient. Natur war zumeist nicht unmittelbar studiert und angeschaut worden. Fast schon groteskes Beispiel: Wer Schnee malen wollte, nahm oft genug weiße Watte als Vorlage.

Um anhand der Auswahl ein pauschales Urteil zu wagen: Es kommt wohl nicht von ungefähr, dass den Künstlern, die sich in Worpswede zusammengefunden haben, insgesamt der größte und dauerhafteste Ruhm beschieden war. Tatsächlich beeindrucken hier Themenfindung und malerische Umsetzung ganz besonders.

Rudolf Bartels: "Obstbaumblüte" (Kunstmuseum Schwaan)

Rudolf Bartels: „Obstbaumblüte“ (Kunstmuseum Schwaan)

Die Ausstellung ist nicht auf allmähliche Steigerung angelegt, sondern beginnt gleich mit einigen der schönsten Werke, die just aus Worpswede stammen. Zu nennen wären beispielsweise Fritz Overbecks „Im Mai“ (1908), Heinrich Vogelers „Herbstgarten“ (1903), Hans am Endes „Frühling in Worpswede“ (1900) und Otto Modersohns „Moordamm“ (um 1900). Bemerkenswert übrigens, dass fast alle Worpsweder Leitfiguren zuvor an der Düsseldorfer Akademie studiert hatten.

Ähnlich starke „Akkorde“ wie zum Auftakt gibt es wieder am Schluss des Rundgangs, wenn quer durch die Kolonien spezielle Lieblingsorte einiger Künstler Auge und Herz erfreuen. Das dazwischen Eingefasste ist mitunter von schwankender Qualität.

Zum Worpsweder Kreis gehört natürlich zeitweise auch Paula Modersohn-Becker, die hier mit dem famosen Bild „Sitzende Bäuerin mit Kind vor Birken“ (1903) vertreten ist. Schöner Zufall übrigens, dass an diesem Donnerstag Christian Schwochows neuer Kinofilm „Paula“ (Titelrolle Carla Juri – hier ein Trailer) gestartet ist, der Episoden aus ihrem Leben aufgreift.

Apropos: Zu jenen Zeiten war Frauen der Zugang zu den Akademien noch verwehrt, es gab in ganz Deutschland nur drei (teure und ziemlich schlechte) „Damenakademien“. Die Künstlerkolonien boten seltene Chancen für damals so genannte „Malweiber“, von renommierten Kollegen zu lernen und sich zu entfalten wie zu jener Zeit nirgendwo sonst. Auf Hiddensee gründete sich gar ein veritabler Künstlerinnenbund.

Hermine Overbeck-Rohte: "Sonnenbeschienener Weg" (Overbeck-Museum, Bremen)

Hermine Overbeck-Rohte: „Sonnenbeschienener Weg“ (Overbeck-Museum, Bremen)

Warum eigentlich Hiddensee und nicht die Nachbarinsel Rügen? Dort war es den Freilichtmalern zu mondän und zu touristisch. Dort tauchte auch schon mal der Kaiser auf, der die Kunst der Kolonisten gar nicht schätzte. Drum suchten sie lieber Hiddensee als „Insel der Aussteiger“ auf.

Rund 80 Gemälde von etwa 40 Künstlern versammelt die Hammer Schau, die unversehens derart die Reiselust weckt, dass man – scherzhaft gesagt – an der Museumskasse die Möglichkeit vermisst, sogleich eine Tour gen Norden zu buchen.

Schade auch, dass es zwar umfangreiche Audioguide-Führungen gibt, aber keinen Katalog, sondern nur ein schmales Begleitheft. Da die Ausstellung auch keine zweite Station haben wird, ist sie hernach also unwiederbringlich dahin und wirkt hauptsächlich in der Erinnerung des Publikums nach.

Das soll allerdings nicht heißen, dass wir es durchweg mit großer Kunst zu tun hätten. Etliche Maler(innen)namen werden allenfalls Fachleuten vertraut sein, eine längliche Aufzählung wollen wir uns an dieser Stelle ersparen. Manchmal hat verblasste Erinnerung auch mit begrenzten malerischen Mitteln zu tun und nicht nur mit der bösen, ungerechten Nachwelt.

Die betrüblichste Entwicklung hat allerdings ein anfänglicher Anreger und Spiritus rector von Worpswede genommen, nämlich Fritz Mackensen. Idyllen bergen eben auch Gefahren und vermeintlich wertfreie Naturbetrachtung schützt vor Torheit nicht. Ist nicht schon Mackensens Bild „Trinkender Bauer“ (1909) etwas unangenehm Volkstümelndes anzumerken? Er zeigt den Landmann nicht realistisch als Schwerarbeiter, sondern idealisiert: statuarisch, bodenständig, wie später auch in der „völkischen“ Kunst ein gängiger Typus aussah. Tatsächlich hat Mackensen im Kunstbetrieb der Nazizeit an vorderster Front mitgemischt.

Stadtflucht, Emanzipation, Lebensreform-Bewegung im Sinnes eines „Zurück zur Natur“: Solche Stichworte legen den Gedanken nahe, dass gesellschaftliche Fragen an diese Ausstellung mindestens so ergiebig sein könnten wie rein künstlerische.

„Lieblingsorte – Künstlerkolonien“. Von Worpswede bis Hiddensee. 18. Dezember 2016 (adventliche Eröffnung 11.30 Uhr) bis 21. Mai 2017. Öffnungszeiten: Di-Sa 10-17, So 10-18 Uhr. www.museum-hamm.de




Unprätentiös und zupackend – Neues Buch würdigt „Starke Frauen im Revier“

„Wenn man einmal Feminismus hatte, dann geht das nie wieder ganz wech. Aber ich komm prima damit zurecht.“ – Nie wird Gerburg Jahnke müde, das zu betonen. Ganz prima kommt Frau Jahnke daher sicher auch mit einer Kurz-Biographien-Sammlung zurecht, die „Starke Frauen im Revier“ porträtiert, darunter selbstredend auch Gerburg Jahnke.

starkefrauen Doch um ein feministisches Manifest in diesem Sinne geht es den Autorinnen des Bandes nicht. Mit Kategorisierungen und Schubladendenken haben sich die Frauen im Ruhrgebiet noch nie lange aufgehalten. Sie sind eben – wie schon der Untertitel des Buches besagt – alles, nur nicht zimperlich. Sie machen einfach. Genau wie Sabine Durdel-Hoffmann und Antia Brockmann, die Initiatorinnen und Autorinnen des Buches. Ihnen geht es darum, das Bild der vielen starken Frauen im Ruhrgebiet ins rechte Licht zu rücken.

Als Mythos hat sich im und über das Ruhrgebiet das Bild des hart malochenden Kumpels verankert. Die Würdigung der Rolle, die viele Frauen im Ruhrgebiet gespielt haben und noch spielen, kam dabei oftmals zu kurz. Es ist die erklärte Intention des Buches, den in der öffentlichen Wahrnehmung vernachlässigten Frauen eine Plattform zu geben.

Der Band würdigt Lebensleistungen ganz unterschiedlicher Frauen aus den verschiedensten Bereichen. Als Vorbilder taugen sie alle, denn eines eint sie: Sie sind unprätentiös, unsentimental, zupackend, aber dennoch gefühlig. Womit doch wenigstens ein Klischee bestätigt wäre. Sind ja auch nicht alle Klischees schlecht. Und gerade dieses sieht man als Ruhrgebietsfrau doch gerne bestätigt. Zumal die Autorinnen im Vorwort auch explizit betonen, dass die Auswahl für alle Frauen des Ruhrgebiets steht „auch für die, die nicht berücksichtigt wurden. Für Prominente ebenso wie für Heldinnen des Alltags“.

Vorgestellt werden die Frauen nach Themenbereichen. Angefangen mit den Großmüttern der Industrialisierung über die Sportverrückten und die Frauen des Glaubens bis zu den Theken-Regentinnen wird ein breites Spektrum abgedeckt. Manche Frauen sind einem schon ganz gut bekannt, die Frauen der Krupp-Dynastie etwa oder eben die Schauspielerinnen und Kabarettistinnen wie die eingangs erwähnte Frau Jahnke, der wir ja nicht nur Ladies Night oder die Missfits verdanken, sondern auch einen beherzten Einsatz für den Erhalt ruhrgebietstypischer Kleinkunsttheater.

Am spannendsten sind die Abschnitte über die Frauen, die sich um Kunst und Museen verdient gemacht haben und die Abschnitte über die Frauen des Glaubens im Kapitel „Die Kirche ist eine Frau“. Gerade hier habe zumindest ich einiges zum allerersten Mal gelesen und fand es hochinteressant und anregend. Da hätte man gerne noch mehr erfahren, aber das hätte vermutlich den Rahmen gesprengt. Aber immerhin – man hat erste Informationen. Richtig interessant sind auch viele der eingefügten Fotos, die auch abseits der Texte neue Einsichten vermitteln.

Die beiden Autorinnen kommen aus der Verlagswelt (Lektorin, Übersetzerin), beide sind gebürtig im Ruhrgebiet und leben auch heute noch hauptsächlich im Revier.

Anita Brockmann/Sabine Durdel Hoffmann: „Starke Frauen im Revier“. Elisabeth Sandmann Verlag, München, 151 Seiten, € 19,95.

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Anm. d. Red.: Der Band „Starke Frauen im Revier“ hat – außer thematischen Anklängen – nichts zu tun mit dem gleichnamigen Schwerpunkt in der Dauerausstellung des Ruhrmuseums auf der Essener Zeche Zollverein. Die Themenführung im Museum heißt nur zufällig genauso.




Von bedrückender Aktualität – Brechts „Furcht und Elend des Dritten Reiches“ in Dortmund

Fiederike Tiefenbacher Bettina Lieder Frank Genser

Eine einsame Frau (Friederike Tiefenbacher) packt die Koffer für Amsterdam. Im Hintergrund, heftig verliebt und sportlich: SS-Mann Theo (Frank Genser) und seine Anna (Bettina Lieder). (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Gerade ist jemand abgeholt worden, und das Ehepaar in der Nachbarwohnung hat es mitgekriegt. Das Treppengeländer hätten sie nicht kaputtmachen sollen, befinden sie, der Mann war ja schon bewußtlos. Und seine Jacke hätten sie nicht zerreißen sollen, „so dicke hat’s unsereiner nämlich auch nicht“.

Die gruselige Szene aus Bertolt Brechts „Furcht und Elend des Dritten Reiches“, ist jetzt im Dortmunder Theater zu sehen, in der Ausweichspielstätte „Megastore“, wo Sascha Hawemann die Alltagsbilder aus Nazi-Deutschland in lockerer Reihung inszeniert hat. Die 24 Szenen, von denen 11 in Dortmund zur Aufführung gelangen, schrieb Brecht zwischen 1935 und 1938, im selben Jahr wurden sie in Paris uraufgeführt.

Episches Theater

Seinen Brecht hat der Regisseur, Jahrgang 1967 und in der DDR aufgewachsen, fleißig studiert, weiß um episches Theater und V-Effekt: Verfremdung schafft Verständnis, und ein besonderer Kunstgriff von Sascha Hawemann besteht darin, Bert Brecht als den Inszenierer seiner Szenen auf der Bühne selbst auftreten zu lassen.

Uwe Schmieder, ein zierlicher Mensch mit Hornbrille und staubgrauer Jacke, gibt dem klarsichtigen Dichter Gestalt, doch wenn er manche Szenen wiederholen läßt, wenn er sein Schauspielpersonal zu höchster Perfektion antreibt und erst nach dem dritten, wütenden Durchgang halbwegs zufrieden ist, dann ähnelt er mehr als Brecht fast Woody Allen, einem ganz anderen und doch erstaunlich ähnlichen großen Dramatiker.

Carlos Lobo Frank Genser Bettina Lieder Uwe Schmieder Alexander Xell Dafov

Man übt sich im Schlange stehen. Von links: Carlos Lobo, Frank Genser, Bettina Lieder, Uwe Schmieder und Alexander Xell Dafov (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Moralverlust

Ein an Aktualität kaum zu überbietender Stoff: Was für die einen Furcht und Elend bedeutet, ist für die anderen nationalistische Verheißung, Genugtuung nach historischer Schmach, allfälliges Herrenmenschentum.

SS-Mann Theo mit seinen blitzblank polierten Stiefeln ist so ein Verblendeter, ihm ähnlich seine Verlobte Anna, hörig aus Liebe und blind für alles andere. Vielleicht kann man jungen Menschen wie ihnen noch ihre intellektuelle Unbedarftheit zugutehalten. Bei anderen, Älteren jedoch erodieren Werte, Recht, Haltungen ins Bodenlose, sie sind es schon längst.

Auf gespenstische Weise gemahnt dieser kollektive Moralverlust an heutige Zeiten mit erfolgreichen „Populisten“, mit Pegida, Doppelpaßverbot und „Das wird man ja wohl noch sagen dürfen“.

Uwe Schmieder

Uwe Schmieder, Bert Brecht (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Wortloser Abschied

Mutige Helden gibt es bei Brecht nicht, eher durchschnittliche Menschen, die glauben, mit etwas Wegducken und Weggucken durchzukommen. Die Jüdin Judith Gold, die die Flucht nach Amsterdam vorbereitet und sich telefonisch von einigen Freunden verabschiedet, ahnt, daß sie keinem dieser „arischen“ Deutschen fehlen wird. Ist sie auch ihrem Mann nur Last? Ihrer beider Abschied jedoch, wortlos, schmerzlich, wissend, gehört zu den stärksten Momenten dieses Theaterabends. Andreas Beck und Friederike Tiefenbacher geben das bürgerliche Ehepaar, dessen letzte 60 Trennungssekunden von „Brecht“ Uwe Schmieder qualvoll langsam abgezählt werden.

Merle Wasmuth Andreas Beck Uwe Schmieder

Szene im Amtsgericht mit Merle Wasmuth und Andreas Beck (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Hilfloser Richter

Beck brilliert auch in der Rolle des Amtsrichters, der über drei Nazis urteilen soll, die ein jüdisches Schmuckgeschäft verwüstet haben. Skrupel oder gar Handlungsethik sind diesem mißratenen Nachfahren des Richters Adam fremd, fachlich angezeigtes Ermitteln und Bewerten sowieso. Und trotzdem reitet er sich in die Grütze, weil er seinen Opportunismus nicht zu kanalisieren weiß.

Hat der Jude die Nazis vielleicht provoziert, oder ist es besser für dessen „arischen“ Kompagnon, wenn es anders war? Welche Rolle spielt der mächtige Hausbesitzer, und wie soll man das Abhandenkommen von Schmuck erklären? Wenn er was falsch macht, wird er nach Hinterpommern strafversetzt, aber nichts falsch zu machen scheint unmöglich, trotz aller charakterlichen Geschmeidigkeit. Uwe Schmieder macht sich als Zuträger von verstörenden Gerüchten aller Art wiederum verdient, eine herrliche Posse, bestens gegeben – und erschütternd wegen ihres vermutlich nicht geringen Wahrheitsgehalts.

Angst vor den eigenen Kindern

Carlos Lobo und Merle Wasmuth sind – unter anderem – das ängstliche Elternpaar eines in der Hitlerjugend radikalisierten Sohnes (Raafat Daboul), dem sie zutrauen, daß er sie wegen unvorsichtiger Äußerungen denunziert. Es sei „nicht ganz sauber im braunen Haus“ hat der Vater unvorsichtigerweise gesagt, so oder ähnlich, und nun wissen sie nicht, wohin sich der Sohn im Regen wortlos verabschiedet hat. Schließlich Erleichterung, er hat nur etwas eingekauft.

Fiederike Tiefenbacher Uwe Schmieder Bettina Lieder Frank Genser

„Brecht“ (Uwe Schmieder) legt Judith Gold Friederike Tiefenbacher) einen Mantel um. Im Hintergrund Bettina Lieder und Frank Genser (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Frank Genser und Bettina Lieder schließlich, der SS-Mann Theo und das Dienstmädchen Anna, heiraten gegen Ende des Theaterabends. Was dann kommt, ist nicht mehr von Brecht: Ein Bericht über Massenermordungen von Juden in der Schlucht von Babyn Jar in der Ukraine im Jahr 1941. 33.000 Menschen wurden hier erschossen. Theo und Anna erinnern sich (angeregt durch eine Schmalfilmvorführung am Tag der Hochzeit?) im heiter palavernden Dialog, und was sie da ohne jegliches Bewußtsein für die Ungeheuerlichkeit des Geschehens erzählen, ist schrecklich und bedrückend.

Bettina Lieder Frank Genser

Heitere Erinnerungen an den Massenmord: Szene mit Bettina Lieder und Frank Genser (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Kroetz folgt Brecht

Ob dieser Theaterabend indes die Abrundung mit Geschehnissen jenseits der Brechtschen Vorlage braucht – auch die Andeutung eines nahöstlichen Luftangriffs gelangt audiovisuell noch zur Vorführung, bevor das Stück zu Ende ist – sei dahingestellt.

Als Nächstes folgt in einer Woche im Megastore sinnfälligerweise „Furcht und Hoffnung der BRD“ von Franz-Xaver Kroetz, das 1984 seine Uraufführung im Bochumer Schauspielhaus erlebte und die Methode der Szenencollage aufgreift. Fast muß man befürchten, daß Bert Brechts düster-klarsichtige Vorahnungen der 30er Jahre aktueller sein könnten als Kroetz’ bundesrepublikanische Bestandsaufnahme.

  • Termine: 16.21.12.2016, 14., 19.1., 5., 19., 24.2., 4., 15.3., 2.4.2017
  • Karten Tel. 0231 50 27 222
  • www.theaterdo.de



Der Schmerz und die Wut hinter den fröhlichen „Nanas“ – Frauenbilder von Niki de Saint Phalle in Dortmund

Ihre kunterbunten, drallen und prallen „Nana“-Figuren haben die Franko-Amerikanerin Niki de Saint Phalle (1930-2002) weltberühmt gemacht. Auf den ersten Blick vermitteln die monumentalen Skulpturen ungebrochene, beinahe kindliche Fröhlichkeit und betont weibliche Lebenslust. Doch ganz so simpel verhält es sich nicht.

Selbst solche Werke sind letztlich dem Leiden und dem Schmerz abgerungen, abgetrotzt. Das verdeutlicht jetzt eine Ausstellung im Dortmunder Museum Ostwall. Es ist die erste nennenswerte Präsentation dieser Künstlerin im Ruhrgebiet. Da merkt man mal wieder, dass beileibe nicht alles in dieser Region rechtzeitig ankommt, zumal auf dem Feld der schönen Künste. Aber besser spät als nie…

Moment der Befreiung: "Pink Nude in Landscape" (Rosa Akt in Landschaft), 1959. (© Niki Charitable Art Foundation / Foto Laurent Condominas)

Moment der Befreiung: „Pink Nude in Landscape“ (Rosa Akt in Landschaft), 1959. (© Niki Charitable Art Foundation / Foto Laurent Condominas)

Rund 120 Arbeiten sind in Dortmund versammelt, es handelt sich also um eine recht ansehnliche Auswahl, die den Blick auch in die Zeiten vor und nach den „Nanas“ schweifen lässt und somit die Perspektive gehörig weitet.

Viele Leihgaben aus Hannover

Zu verdanken ist die Fülle vor allem einer Kooperation mit dem Sprengel Museum in Hannover, das eine international bedeutsame Sammlung zum Werk von Niki de Saint Phalle besitzt. Als sie dem Haus im Jahr 2000 insgesamt 363 Arbeiten schenkte (und zur Ehrenbürgerin Hannovers wurde), war Ulrich Krempel Direktor des Museums – und blieb es bis 2014. Jetzt fungiert der in Bochum aufgewachsene Krempel just als Gastkurator in Dortmund. Ihm zur Seite standen Regina Selter (kommissarische Leiterin des MO) und Karoline Sieg.

Zielscheibe für die Wut auf den Geliebten: "Martyr nécessaire" (Notwendiger Märtyrer), 1961. (© Niki Charitable Art Foundation / Courtesy Galerie GP & N Vallois, Paris / Foto André Morin)

Zielscheibe für die Wut auf den Geliebten: „Martyr nécessaire“ (Notwendiger Märtyrer), 1961. (© Niki Charitable Art Foundation / Courtesy Galerie GP & N Vallois, Paris / Foto André Morin)

Die Schau gliedert sich weitgehend chronologisch und erstreckt sich über zehn Räume. Geradezu als Ikone erweist sich das einzige erklärte Selbstporträt, das Niki de Saint Phalle jemals geschaffen hat; wobei gerade sie sich natürlich in zahllosen anderen Werkstücken mehr oder weniger direkt selbst dargestellt hat.

Schreckliches Kindheitstrauma

Das teilweise mosaikartig gefügte Selbstbildnis (1958/59) besteht u.a. aus Keramikscherben und Kaffeebohnen, letztere als brünetter Haarkranz dieser schönen Frau, die sich in jüngeren Jahren auch als Mannequin (Model) für Magazine wie Vogue und Harper’s Bazaar verdingt hatte. Doch was hilft Schönheit allein? Brüchigkeit und Zerbrechlichkeit sprechen ziemlich buchstäblich aus dieser Arbeit.

Was man wissen muss, um die überaus starken, vielfach heftig aggressiven Impulse in ihrem Lebenswerk zu verstehen: Mit 12 Jahren ist Niki de Saint Phalle von ihrem Vater missbraucht worden, die Mutter hat zu all dem geschwiegen. Hinzu kam eine rigide katholische Erziehung. Aus solchen Verhältnissen sich herauszuwinden, erfordert beinahe übermenschliche Kräfte. Wohl auch deshalb gewinnt das künstlerische Schaffen zuweilen eine menschliche Dringlichkeit, die gar an eine Louise Bourgeois gemahnt.

Zukunftshoffung

Nach Schüssen auf kirchliche und andere Symbole: "Autel noir et blanc" (Schwarzweißer Altar), Assemblage, 1962 (© Niki Charitable Art Foundation / Courtesy Galerie GP & N Vallois, Paris / Foto: André Morin)

Nach Schüssen auf kirchliche und andere Symbole: „Autel noir et blanc“ (Schwarzweißer Altar), Assemblage, 1962 (© Niki Charitable Art Foundation / Courtesy Galerie GP & N Vallois, Paris / Foto: André Morin)

Seelische Drangsal ahnt man schon in jenem familiären, noch gegenständlichen Gemälde „Das Fest“ (um 1953), welches sie und ihren damaligen Mann Harry Mathews bei einer feuchtfröhlichen Feier auf einem Kölner Rheindampfer zeigt – freilich zweisam und ängstlich-traurig in eine Bildecke gezwängt, während ihre kleine Tochter die Mitte des Bildes einnimmt und tanzend „erobert“; ganz so, als wäre sie eine frühe Vorläuferin der „Nanas“, die erst Mitte der 60er aufkommen und vordem männlich beherrschte Räume ebenso beherzt wie voluminös übernommen haben.

Da kündigt sich also, aller momentanen Verzagtheit zum Trotz, die Morgenröte einer weiblichen Zukunftshoffnung an – zu einer Zeit, in der zwar Simone de Beauvoirs „Das andere Geschlecht“ (1949) schon erschienen war, man aber gemeinhin noch nicht von Feminismus gesprochen hat; geschweige denn, dass er lebensweltlich wirksam geworden wäre.

Tatsächlich hat Niki de Saint Phalle zwischenzeitlich einen Nervenzusammenbruch erlitten und musste ihr eingeengtes Leben dringend ändern. Wie sehr hat ihr dabei geholfen, sich künstlerisch ausdrücken und befreien zu können!

Einen Auf- und Ausbruch markiert das Bild „Rosa Akt in Landschaft“ (1959), das eine durchaus selbstbewusste, kreative Schöpferin mit traditionellem Musikinstrument (Lyra) inmitten einer geradezu universalen, sternenweiten Explosion zeigt. Zuvor hat die Künstlerin mit der Assemblage „Zerbrochene Teller“ (um 1958) die den Frauen damals zugedachte Häuslichkeit entschieden zertrümmert.

Auf die Bilder schießen

Zu Beginn der 60er Jahre entstehen dann jene Schießbilder („Tirs“), bei denen sie mit Gewehren auf Leinwände angelegt und diese gleichsam zum farblichen „Bluten“ gebracht hat. Mit Dart-Pfeilen wirft sie auf eine Zielscheibe, kopfartig über dem Herrenhemd ihres damaligen Liebhabers platziert. Die Wut auf ihn musste einfach `raus. Damals durften Ausstellungsbesucher mitwerfen. In Dortmund ist das nicht vorgesehen.

Frauen in verschiedenen Rollen, bedroht von männlicher Kriegsmaschinerie: "Autel des femmes" (Altar der Frauen), 1964. (Sprengel Museum, Hannover, Foto Michael Herling / © Niki Charitable Art Foundation)

Frauen in verschiedenen Rollen, bedroht von männlicher Kriegsmaschinerie: „Autel des femmes“ (Altar der Frauen), 1964. (Sprengel Museum, Hannover, Foto Michael Herling / © Niki Charitable Art Foundation)

Alsbald zielt die junge Frau generell und speziell auf bildliche Symbole der Männerwelt und der Kirche. Auch ein veritabler Anti-Altar ist aus solchem Zerstörungswerk entstanden. Dahinter mag schon die nachmalige, rabiate „68er“-Aufforderung lauern: „Macht kaputt, was euch kaputt macht.“ Nur dass hierbei ästhetische Gebilde entstehen und niemand körperlichen Schaden nimmt. Aber sage jetzt keiner, es sei eben doch weiblich-sanftmütige Kunst. Die Dortmunder Ausstellung trägt nicht von ungefähr den Titel „Ich bin eine Kämpferin“.

Positive Energie

Doch selbst Kurator Ulrich Krempel, wahrlich ein profunder Kenner ihres Werkzusammenhangs, kann an manchen Stellen nur über Beweggründe spekulieren – wie er denn auch dem Publikum nicht allzu viele deuterische Vorgaben andienen möchte. So wird auch er wohl nur mutmaßen können, wie und wann es letztlich zur „Wende“ im Werk gekommen sein mag, auf welch wundersame Weise Niki de Saint Phalle im Laufe der Jahre dermaßen viel positive Energie hat freisetzen können, welche ihre Visionen eines ersehnten Matriarchats befeuert hat.

Beherzt springende "Nana" aus bemaltem Polyesterharz, Stoff, Maschendraht und Papier: "Lily ou Tony" (Lili oder Tony), 1965 (© NIki Charitable Art Foundation / Courtesy Galerie GP & N Vallois, Paris, Foto Aurélien Mole)

Beherzt springende „Nana“ aus bemaltem Polyesterharz, Stoff, Maschendraht und Papier: „Lily ou Tony“ (Lili oder Tony), 1965 (© NIki Charitable Art Foundation / Courtesy Galerie GP & N Vallois, Paris, Foto Aurélien Mole)

Gewiss hatte es auch mit ihrer ungemein inspirierenden, wenn auch immer wieder schwankenden Beziehung zum gleichermaßen grandiosen Künstler-Kollegen und Maschinen-Poeten Jean Tinguely zu tun. Am Schluss der Dortmunder Auswahl sieht man eine Arbeit, die beide gemeinsam gefertigt haben – welch inniger Ausdruck zweier ganz verschiedener Sicht- und Schaffensweisen, die sich dennoch zu ergänzen vermochten!

Bis dahin kann man etliche Beispiele für die wechselvollen weiblichen Welten der Niki de Saint Phalle betrachten. Selbst bei einer Blitzführung ruft Kurator Krempel bereits so vielfältige Assoziationsmöglichketen auf, dass man vor manchem Bild staunend verharren möchte.

Kannibalische Mutter

Da sehen wir etwa die Frau als Gebärende, als Prostituierte, als Jungfrau oder als monströs „verschlingende Mutter“, die sich am Tisch im Café nicht nur Kuchen, sondern auch Kinder einverleibt. Das Kannibalische aber bemerkt man erst beim Näheren Hinsehen, zunächst ist einem die Figur trügerisch bunt erschienen. Überhaupt ist ja auch das Frauen- und Mutterbild bei dieser Künstlerin keineswegs ungebrochen. Wir erinnern uns ans Schweigen ihrer Mutter angesichts des ungeheuerlichen familiären Dramas.

Verschlingende Mutter: "Bon appétit" (robe mauve) (Guten Appetit, malvenfarbiges Kleid), 1980 (Sprengel Museum, Hannover, Foto Michael Herling / © Niki Charitable Art Foundation)

Verschlingende Mutter: „Bon appétit“ (robe mauve) (Guten Appetit, malvenfarbiges Kleid), 1980 (Sprengel Museum, Hannover, Foto Michael Herling / © Niki Charitable Art Foundation)

Und ja: Natürlich prangen auch ein paar „Nanas“ in Dortmund. Die größte misst immerhin über 5 Meter, eine andere scheint fröhlich von der Wand herab zu springen, mitten ins neue Leben hinein.

Bemerkenswert ist auch eine der allerersten, noch vergleichsweise unscheinbaren „Nanas“ von 1965: „Louise“ heißt sie, sie besteht auch aus Wollresten und ist in offenbar aus einem Taumeln heraus in tänzerische Bewegung geraten – immerzu vorwärts, wenn auch stets sturzgefährdet…

„Ich bin eine Kämpferin“. Frauenbilder der Niki de Saint Phalle. Museum Ostwall im Dortmunder „U“ (6. Etage). 10. Dezember 2016 bis 23. April 2017. Geöffnet Di/Mi 11-18, Do/Fr 11-20, Sa/So 11-18 Uhr, montags geschlossen. 24., 25. und 31. Dez sowie 1. Jan. geschlossen. Eintritt 9 (ermäßigt 5) Euro, Katalog 19,90 Euro. Extra-Museumsshop und reichhaltiges Begleitprogramm. Internet: www.museumostwall.dortmund.de




Wir Angsthasen und Zimperliesen: Die neue Empfindlichkeit

Sicher liegt es an dieser ordinären Currywurst in scharfer Soße, die ich gestern hemmungslos aus einer Pappschale gepickt und, jawohl, genossen habe. Ethisch nicht zu vertretende Schlachtprodukte, weiß der inzwischen omnipräsente Veganer, blockieren das Gutsein und fördern fiese Überlegungen.

Freunde, das mag sein. Jemand wie ich, der Fleisch, Fisch und tierische Segnungen wie Milch, Eier, Honig ohne Zögern zu sich nimmt, der frisst auch eure Bedenken. Mit Mayo. Es tut mir leid. Aber wann sind wir eigentlich alle so extrem empfindlich geworden? Je besser es uns geht, desto weniger können wir vertragen. Das gilt nicht nur fürs Essen, sondern auch für stickige Luft, Lärm und alles, was gegen unsere zimperlichen Gewohnheiten geht.

Illustration zu Andersens Märchen "Die Prinzessin auf der Erbse". (© Fotolia)

Illustration zu Andersens Märchen „Die Prinzessin auf der Erbse“. (© Fotolia)

„Stell dich nicht so an!“ Dieser barsche Satz gehörte in der Aufbauzeit des 20. Jahrhunderts zur Kindererziehung. Das war kein Spaß, kann ich jüngeren Lesern versichern. Wir mussten den Teller mit dem muffigen Kochfisch leeressen, bei Tisch die Klappe halten, im Stockdunklen einschlafen („Die Tür bleibt zu!“), sonntags ohne Widerspruch wandern und gruseligen alten Tanten ein Küsschen geben.

Verfeinerte Lebensart

All das wollten wir unseren eigenen Kindern nicht antun. Meine Tochter durfte sich Pommes bestellen, mit Erwachsenen plappern, nachts ihre Gänselampe anlassen und stets mit unserer Aufmerksamkeit rechnen. Auch wurde sie nie eiskalt abgeduscht, obwohl das sicher gesund ist. Keiner von uns wollte die Härte der von traumatisierenden Erlebnissen geprägten Kriegsgeneration an die Gesellschaft der Zukunft weitergeben.

Wir waren sensibel, wir wollten es sein. Für eine bessere Gesellschaft. Leider haben wir Gewalt und üble Absichten nicht aus der Welt schaffen können. Verrückte Diktatoren und hasserfüllte Fanatiker tummeln sich auch in der Gegenwart. Und was tun wir? Wir feilen wir an der eigenen Lebensart und haben sie so stark verfeinert, dass wir uns gegenseitig damit erheblich auf die Nerven gehen. Wir sind die Memmen des Alltags. Jeder Hauch von Zigarettenrauch widert uns an. Raus mit euch, ihr Qualmer!

Essen als Herausforderung

Ein gemeinsames Essen wird zu einer Herausforderung. Man muss so viel bedenken. „Kannst du eigentlich Brokkoli vertragen“, fragt mich meine Freundin Uschi, eine kreative Köchin. Nein, Süße, kann ich nicht. Auch andere gesunde Sachen wie Zwiebeln, Nüsse, Kohl und Linsen, sogar Salat sind schlecht für meine Art der Darmbeschaffenheit, um es mal vorsichtig auszudrücken. Ich hätte gern Maispoularde mit Kartoffelpüree. Und Suppe ohne Schnittlauch. Und bloß kein Körnerbrot. Lieber Baguette. Und zum Nachtisch keine Beeren. Aber gerne eine Schokoladen-Mousse.

Gut, dass meine Freundin nicht zugleich eine jener Frauen eingeladen hat, die abends keine Kohlenhydrate wollen und Zucker für pures Gift halten. Den größten Küchenstress hat Uschi, selbst eine erklärte Freundin von Gulasch und Leberkäs, in ihrem vegetarisch-kalorienarm orientierten Damenkränzchen, zu dem ich zum Glück nicht auch noch gehöre. Allerdings ist eine Allergikerin dabei, die weder Eier und Milchprodukte noch Schalentiere und Zitrusfrüchte vertragen kann – von Nüssen ganz zu schweigen.

Um es klar zu sagen: Einige Unverträglichkeiten können lebensgefährlich sein. Wer davon betroffen ist, hat keine Wahl, als auf die bedrohliche Eigenart seines Immunsystems Rücksicht zu nehmen. Aber niemand weiß genau, wie viele Menschen tatsächlich unter ernsthaften Allergien leiden. Nach Auskunft der Deutschen Dermatologischen Gesellschaft zeigen etwa 27 Prozent aller deutschen Männer und 39 Prozent der Frauen in unserer (zu) gründlich geputzten Zivilisation allergische Reaktionen. Die meisten davon reagieren verschnupft auf Pollenflug, einige bekommen Bauchweh von Mehl oder Milch. Andere klagen über die Tücke der Hausstaubmilbe und lassen den Teppichboden entfernen. Nur ein glatter Boden ist ein guter Boden. Der lässt sich leicht wischen. Aber nicht mit scharfen Substanzen, davon brennen uns die Augen. Am besten nur mit Wasser.

Selbst Wasser wird zum Problem

Apropos Wasser. Selbst das harmlose Element ist ein heikles Thema für uns Empfindsame. Während in Dürre-Regionen jedes Schlammloch genutzt wird, müssen wir, was da klar aus der Leitung fließt, erst mit Magneten und Heilsteinen „lebendig“ machen, um es trinken zu können. Manche glauben, jeder Schluck Sprudel könnte ihren Bauch aufblähen und die Gesundheit ruinieren. „Mit oder ohne Kohlensäure“ ist in Lokalen inzwischen eine gängige Frage, genau wie „mit oder ohne Koffein“. Ein Luxusproblem, wie mir scheint.

So, wie wir nicht mehr einfach zu uns nehmen, was auf den Tisch kommt, kontrollieren wir stets die gewöhnlichen Bedingungen unserer Umgebung. Allem wird misstrauisch nachgefühlt. Ist es hier drin zu kalt oder zu warm? Zieht es von der Tür her? Reden die Leute zu laut? Muss ich mich umsetzen? Aber nicht an den Tisch zwischen Fenster und Spiegel! Da geht nach Feng Shui die Energie verloren.

Kein Filter für die Umweltreize

Hilfe, wir sind so empfindlich, es ist nicht auszuhalten mit uns! Tatsächlich erforscht die amerikanische Psychologin Elaine Aron (72) schon seit den 1990er-Jahren ein anschwellendes Phänomen, das sie „high sensitivity“ nennt, Hochsensibilität (HS). Bis zu 20 Prozent der Bevölkerung, sind nach Ansicht der Bestseller-Autorin („Sind Sie hochsensibel?“) von dieser Besonderheit betroffen. Das heißt, sie nehmen die Reize ihrer Umwelt intensiver wahr als der Rest der Menschheit. Geräusche, Gerüche, Farben, zufällige Berührungen können für hochsensible Naturen schier unerträglich sein. Ihnen fehlt gewissermaßen der innere Filter, mit dem robustere Naturen ihre Wahrnehmungen dämmen.

Wenn es eng wird bei der Vernissage, flieht der hochsensible Typ nach Hause. Wenn das Ferienhotel neben der Durchgangsstraße liegt, muss er sofort abreisen. Er kann das weniger Angenehme einfach nicht ausblenden – und will es auch nicht. Wie der Antiheld aus Wilhelm Genazinos Roman „Mittelmäßiges Heimweh“. Zitat: „Ich muss überlaute Menschen rechtzeitig erkennen und ihnen schnell aus dem Weg gehen. Seit Wochen schon will ich private Lärmerwartungsstudien anstellen, damit ich im Straßenverkehr nicht mehr so oft erschreckt werden kann.“ Angst und das Bedürfnis nach Kontrolle gehören auch im wirklichen Leben zusammen.

Wie die Prinzessin auf der Erbse

„So ein Quatsch“, hätte meine Mutter dazu gesagt. Wie viele Zeitgenossen hatte sie früh gelernt, die eigenen Befindlichkeiten zu ignorieren, um Nazi-Terror, Kriegsnächte, mörderische Fluchten und Hunger zu überleben. Bis zuletzt mangelte es ihr an Zartheit. Wir behüteten Nachgeborenen hingegen scheinen geradezu stolz auf unsere Empfindlichkeit zu sein. Ja, vielleicht wollen wir sogar gern die Hochsensiblen sein. Und fein wie die „Prinzessin auf der Erbse“ aus Hans-Christian Andersens kleinem Märchen. Sie erinnern sich?

Es war einmal ein Prinz, der wollte partout eine Prinzessin heiraten. Doch er traf auf seinen Reisen nur Betrügerinnen. Da ersann die alte Königin zu Hause einen unfehlbaren Test. Sie ließ die nächste Kandidatin, die ganz durchnässt am Stadttor erschienen war, in der Schlafkammer übernachten. Ganz unten auf die Bettstelle hatte sie eine Erbse gelegt und darauf zwanzig Matratzen sowie zwanzig Eiderdaunendecken gestapelt. Als die Unbekannte am nächsten Morgen klagte, dass sie überhaupt nicht schlafen konnte, weil sie auf etwas Hartem gelegen habe, da wussten alle, dass dies die richtige Braut war. Denn: „So empfindlich konnte niemand sein außer einer echten Prinzessin.“

Und? Wie zickig ist das denn? Wir sind keine Märchenprinzessinnen und sollten unsere Empfindlichkeiten auf ein angemessenes Maß reduzieren. Wie wäre es mit einer Currywurst draußen an der Ecke, wo es zieht und der Verkehr vorüberrauscht? Nur so als Übung. Na bitte: Geht doch!




Buchtipps zum Fest: Peter Rühmkorf, Christa Wolf, Wembley-Tor, Krimi und Architektur

Ist da draußen noch jemand auf der Suche nach Weihnachtsgeschenken in Buchform? Hier ein paar empfehlende Hinweise in verschiedenen Geschmacksnoten:

Zunächst die so genannte Hochliteratur, wie es sich konservativ-feuilletonistisch gehört:

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Rühmkorfs funkelnde Lyrik

Das ist wahrlich kein Geheimnis mehr: Der 1929 in Dortmund geborene, später freilich aus hanseatischer Überzeugung in Hamburg ansässige Peter Rühmkorf gehört zu den wichtigsten Lyrikern der bundesdeutschen Nachkriegszeit. Insofern ist eine Gesamtausgabe seiner Gedichte ein besonderes, vielfach funkelndes Juwel der Sprachkunst. Rühmkorfs Tod im Jahr 2008 bedeutet einen immensen Verlust für die Literatur, der immer noch schmerzt.

Er war (ähnlich wie der mit ihm befreundete Robert Gernhardt) einer, der die Überlieferung von Reim und Metrik wach und lebendig gehalten hat – und er hat die althergebrachten Formen mit neuen Inhalten reich gefüllt. Im souveränen Spiel mit gebundenen und freien Versen kommt ihm im hiesigen Sprachraum wohl keiner aus seiner Generation gleich.

Die von Bernd Rauschenbach sorgfältig edierte Ausgabe „Sämtliche Gedichte“ enthält alle Lyrikbände von 1956 bis 2008 und (in Auswahl) ganz frühe Schöpfungen, die ab 1947 im Selbstverlag erschienen sind.

Dies ist ein Buch, das einen Ehrenplatz im Regal verdient und das man als Vademecum stets griffbereit halten sollte. Hier wird ein wesentlicher Teil des Lebenswerks ausgebreitet; hier kann man Sprachfeinheiten geradezu genießerisch schlürfen und wird überdies noch mit luziden Erkenntnissen belohnt. Rühmkorf hat ja nicht nur die ewigen Themen Liebe und Tod bedichtet, sondern war auch ein eminent politischer Kopf mit links geschärften Sinnen. Legendär wurde diese lyrische Essenz: „Bleib erschütterbar – und widersteh.“

Für den unverwechselbaren Klang (in Rühmkorfscher Diktion „einmalig / wie wir alle!“), in dem auch Alltagssprache aufgehoben ist, nur mal ein Beispiel, das Rühmkorf selbst als Bagatelle bezeichnet hat:

Abschiede, leicht gemacht

Denen, die vor Gier nach Ewigkeit entbrennen,
geb ich mich geniert
als sterblich zu erkennen.

Lieber als verhaunen Bällen nachzusinnen,
zieh ich vor,
nochmal von vorne zu beginnen.

Allerdings, statt bieder vor mich hinzuwerkeln,
scheint mir lustiger,
freischaffend loszuferkeln.

Dies als Kunstgesetz gesamt gesehen:
Ein Gedicht, das auf sich hält,
das läßt sich gehen.

Und je tiefer ich empfinde, um so seichter
schmiere ich mich aus,
dann fällt der Abschied leichter.

Da haben wir es also mal wieder: das Leichte, das so schwer zu machen ist. In der Nachfolge von Heine, Benn und Ringelnatz (unter anderen) hat Rühmkorf beileibe nicht nur höheren Jux getrieben, sondern auch die Vergänglichkeit besungen wie nur je einer seit barocken Zeiten. Doch auch die Fährnisse zwischen Geilheit und Vögeln wusste er in sprühend wohlgesetzte Worte zu fassen. Der Mann, der sich zuweilen als (erotischer) Filou gefiel, war intellektuell ein Ausbund an Unbestechlichkeit. An seinem lyrischen Zuspruch konnte und kann man sich nicht nur ergötzen, sondern aufrichten.

Noch ein Zitat, ein vermeintlich unscheinbares, das aber zu denken gibt. Aus dem Gedicht „Zum Jahreswechsel“:

Diese Welt kann doch nicht so gemeint sein
Wie sie aussieht, oder?

Peter Rühmkorf: „Sämtliche Gedichte“ (Hrsg.: Bernd Rauschenbach). Rowohlt Verlag. 621 Seiten. 39,95 €

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Briefe von Christa Wolf

Nun zu einer literarischen Protagonistin, ja Repräsentantin aus dem östlichen Teil Deutschlands, die im selben Jahr geboren wurde wie Rühmkorf: Christa Wolf (1929-2011), Autorin von Büchern wie „Kindheitsmuster“, „Der geteilte Himmel“, „Nachdenken über Christa T.“, „Kassandra“, „Kein Ort. Nirgends“ und „Störfall“, hat auch umfangreiche Konvolute von Briefen hinterlassen, um die es hier geht.

Insgesamt enthält die vorliegende Auswahl der „Briefe 1952-2011“ genau 483 Schriftstücke, die sich an rund 300 Adressaten richten. Abgedruckt sind nur die Briefe von Christa Wolf, nicht aber die Schreiben ihrer Briefpartner. So wirkt das Ganze gelegentlich etwas monologisch, man muss sich einiges hinzu denken. Immerhin sind rund 90 Prozent der abgedruckten Briefe bislang noch nicht veröffentlicht worden. Auch das gibt dieser Sammlung, bei aller wohlweislichen Beschränkung im Einzelnen, einiges Gewicht.

Der Obertitel lautet „Man steht sehr bequem zwischen allen Fronten“ und könnte als Zitat auch etwas sarkastisch gemeint sein. Denn gar so bequem kann es nicht immer gewesen sein für Christa Wolf. Vielfach ereilte sie der Vorwurf, dem SED-Staat doch etwas zu sehr auf den Leim gegangen zu sein.

Über sehr lange Zeit hinweg ist sie zumindest von naiver Gutgläubigkeit gewesen. Spätestens im Gefolge der Biermann-Ausbürgerung aus der DDR (1976) hat auch sie Farbe bekannt. Freilich hielt sie damals immer noch Erich Honecker für eine ansprechbare Instanz: „Sehr geehrter Genosse“ lautete ihre Anrede, und sie bat ihn brieflich darum, inhaftierte Autoren zu begnadigen. Hat sie damit das Menschenmögliche versucht, oder hat sie gar zu sehr laviert? Darüber könnte man noch heute lange streiten. Doch allmählich verblassen die Meinungskämpfe jener Tage.

In der ausgewählten Korrespondenz (insgesamt hat Christa Wolf wohl um die 15.000 Briefe verfasst) tauscht sie sich nicht nur mit Schriftstellern (u. a. Grass, Frisch, Sarah Kirsch, mit der sie sich später heillos überworfen hat) aus, sondern auch mit „ganz normalen“ Lesern. Dafür hat sie viel Geduld aufgebracht. Nur ganz selten wurde sie zornig, so etwa, als sie den Schülerinnen eines Deutsch-Leistungskurses barsch deren absolute Unkenntnis ihres Werkes vorwarf und sich über „absurde“ und „verletzende“ Fragen beschwerte. Wie gesagt, das war eine Ausnahme.

Man muss wissen, dass Christa Wolf wegen der Stasi-Briefzensur häufig nicht offen schreiben konnte, sondern ihre Botschaften und Anliegen allenfalls sprachlich verschlüsselt übermitteln konnte, was der verbalen Kunstfertigkeit mitunter zuträglich war. Besonders ehrlich klingen manche der Briefe, die sie seinerzeit nicht abgeschickt hat, die aber erhalten geblieben sind. Dass Wolfs Werke und Briefe zudem von grundsätzlicher Sprachskepsis durchzogen sind, lässt dieses Zitat aus „Nachdenken über Christa T.“ ahnen: „Wie man es erzählen kann, so ist es nicht gewesen“.

Christa Wolf: „Man steht sehr bequem zwischen allen Fronten – Briefe 1952-2011“. Suhrkamp Verlag. 1040 Seiten, 38 €

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Ein einziges Tor

Dass über eine Mannschaft oder ein Turnier ganze Bücher entstehen, mag angehen. Aber über ein einziges Tor?

Ganz klar, es gibt aus deutscher Sicht nur einen Treffer, der buchfüllend ist: das wohl für alle Ewigkeiten umstrittene 3:2 beim Endspiel der Fußball-WM 1966. Bekanntlich wurde das Tor für England gegeben, obwohl der Latten-Abpraller mutmaßlich vor der Linie aufschlug. So jedenfalls die deutsche Lesart.

Dass man diesen fußballhistorischen Moment in tausend Facetten ausbreiten und anreichern kann, beweist Manuel Neukirchner, Chef des Deutschen Fußballmuseums in Dortmund, mit dem Band „Wembley 1966“, der vor allem von der vielfältigen und großzügigen Bebilderung lebt.

Das 50 Jahre zurück liegende Ereignis spiegelt natürlich auch längst den damaligen Zeitgeist wider, so dass das Match über das rein Fußballerische hinaus interessant ist. Also war es auch dem Deutschen Fußballmuseum eine Sonderausstellung wert. Hier haben wir das Begleitbuch dazu.

Wie simpel die Sache damals im Grunde gewesen ist, formuliert treffsicher der damals beteiligte (und vom 4:2-Endergebnis für England tief enttäuschte) Mittelstürmer Uwe Seeler im Interview für den vorliegenden Band: „Für die Engländer war er drin, für uns Deutsche nicht. So einfach ist das.“

Man darf ergänzen: einfach kompliziert. So, dass man ganze Bücher darüber machen kann… Und somit hätten wir auch ein passendes Geschenk für altgediente Fußballfans.

Manuel Neukirchner: „Wembley 1966. Der Mythos in Momentaufnahmen“. Deutsches Fußballmuseum, Dortmund/Klartext Verlag, Essen. 160 Seiten, großformatiger Bildband (Broschur) mit zahlreichen Abbildungen (Farbe und schwarzweiß). 14,95 Euro.

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Ruhrgebietskrimi

Wer für Ruhrgebietskrimis zu haben ist, freut sich vielleicht über dieses etwas kleinere Geschenk: „Am Boden“ von Lucie Flebbe dreht sich zunächst u.a. um den riskanten Kletter-Trendsport „Roofing“.

Ein Student wird verdächtigt, einem Freund bei einer Klettertour einen Stoß versetzt zu haben – mit tödlichen Folgen. Lucie Flebbes schon mehrfach erprobte Privatdetektivin Lila Ziegler und ihr Partner Ben Danner wollen den Fall aufklären – ein Unterfangen mit ungeahnten Weiterungen. Alsbald geht es auch um häusliche Gewalt (Lila zeigt ihren eigenen Vater an), und schließlich kommt es zu einem spektakulären Showdown im Bochumer Opel-Werk. Merke abermals: Aufgegebene Industrie-Standorte des Reviers (vgl. auch Phoenix West und ähnliche Locations in Dortmunder „Tatort“-Folgen) eignen sich oft bestens als Krimischauplätze.

Lucie Flebbe: „Am Boden“. Kriminalroman. Grafit Verlag, Dortmund. Paperback, 251 Seiten, 11 Euro (als E-Book 9,99 €)

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Architektur der Region

So. Und nun hätten wir noch etwas für die an Kunst und Architektur Interessierten.

Christoph Rauhut und Niels Lehmann stemmen ein wahrhaft ambitioniertes Projekt. Seit einigen Jahren widmen sie sich eingehend der Architektur des Expressionismus, ein Band über herausragende Beispiele in Berlin und Brandenburg hatte den Anfang einer groß angelegten Reihe gemacht. Jetzt liegt ein weiterer Band vor, der sich den einschlägigen Baubeständen an Rhein und Ruhr zuwendet.

Zur ersten Orientierung schaue man am besten gleich ganz hinten nach, nämlich im reichhaltigen Gebäuderegister, das nicht nur Geschäfts-, Büro und Industriebauten auflistet, sondern auch öffentliche Gebäude, Sakralbauten und Wohnhäuser.

Auch wenn so vieles im Krieg zerstört worden ist, so gibt es doch auch in NRW noch eine imponierende Fülle von oftmals monumentaler expressionistischer Architektur (manches freilich nur noch in fragmentarischer Form), wobei gerade im Ruhrgebiet jede Stadt ihr eigenes Profil ausgebildet hat.

Die Textbeiträge in diesem Band (jeweils auf Deutsch und Englisch) sind sehr überschaubar, es handelt sich zwar um ein Ergebnis, nicht aber um die Wiedergabe einer fundierten wissenschaftlichen Aufarbeitung. Den weit überwiegenden Teil des Buches machen Fotografien und Lagepläne aus. Das darf sicherlich auch als Ermunterung verstanden werden, sich das eine oder andere der insgesamt 155 Gebäude einmal selbst anzusehen.

Um nicht ins Uferlose zu geraten, hier nur ganz wenige Beispiele aus dem Ruhrgebiet: Bogestra-Verwaltung (Bochum), Hans-Sachs-Haus (Gelsenkirchen), Union-Brauerei/Dortmunder „U“, Hauptpost (Essen), Polizeipräsidium (Oberhausen), Volkshochschule (Gladbeck), Gebäudeensemble Hauptfriedhof (Dortmund).

Im Vorwort heißt es, die vorgestellten Bauten (vorwiegend aus den 1920er Jahren) ließen samt und sonders künstlerischen Gestaltungswillen erkennen und stünden einer auch damals schon drohenden Banalisierung des Metiers entgegen. Und wie sieht’s damit heute aus? Eine Frage, bei der man unwillkürlich seufzt.

Christoph Rauhut/Niels Lehmann: „Fragments of Metropolis – Rhein & Ruhr. Das expressionistische Erbe“. Hirmer Verlag. 256 Seiten (Format 15,5 x 24,5 cm). 156 Farbabbildungen, 30 Pläne und Karten. 29,90 Euro.




„Phoenixsee“: WDR-Serie über zwei Familien im Strudel des Strukturwandels

Mit dem Dortmunder Phoenixsee ist das so: Das künstliche Gewässer erstreckt sich seit einigen Jahren da, wo früher einmal ein Hoesch-Stahlwerk gestanden hat. Restbestände der früheren Arbeiterhäuser bilden nun einen starken Kontrast zur massiven Ansiedlung Neureicher, die sich direkt am Seeufer breitgemacht haben.

Diese Gemengelage gab schon reichlich Stoff für den großartigen Dokumentarfilm „Göttliche Lage“ her, auch dient der See immer mal wieder als Kulisse für die Dortmunder „Tatort“-Folgen. Und jetzt heißt gleich eine ganze WDR-Spielserie so.

Die beiden ungleichen Familienväter am "Phoenixsee": Birger Hansmann (Stephan Kampwirth, li.) und Mike Neurath (Felix Vörtler). (Foto: © WDR/Frank Dicks)

Die beiden ungleichen Familienväter am Phoenixsee: Birger Hansmann (Stephan Kampwirth, li.) und Mike Neurath (Felix Vörtler). (Foto: © WDR/Frank Dicks)

„Phoenixsee“ (WDR, heute = 28. November, 20.15 bis 21.50 Uhr die erste Doppelfolge – komplette Serie derzeit auch in der Mediathek) dreht sich um zwei vermeintlich höchst ungleiche Familien im Strudel des Strukturwandels.

Steuerberater Birger Hansmann (Stephan Kampwirt) kommt aus Düsseldorf und hat sich mit einer protzigen Kanzlei in Dortmund niedergelassen. Er und die Seinen wohnen luxuriös in der ersten Reihe – mit direktem Blick auf den Phoenixsee, versteht sich.

Den Neuraths, die nur einen Steinwurf entfernt, doch weit weniger komfortabel leben, geht es bei weitem nicht so gold. Vater Mike (Felix Vörtler) hat seinen Job in der Autofabrik verloren, seine Frau schuftet für kleines Geld in einer Bäckerei. Ob es auch künftig noch reichen wird? Mike weiß nicht, ob er das Abfindungsangebot annehmen soll, das offenbar weit unter seinen Vorstellungen liegt.

Es ist wie ein früher Showdown, man ist gleich mittendrin in der Story: Beim Elternabend in der Schule prallen beide Paare aufeinander. Der reiche Schnösel Birger nimmt mit seinem Porsche Cayenne dem verdutzten Mike den Parkplatz weg. Mike und seine Frau kommen zu spät und sitzen nicht nur sinnbildlich in der allerletzten Reihe. Zu allem Überfluss macht Birger bei der Klassenlehrerin einen auf „dicke Hose“ und kündigt an, der Schule vier Computer zu spendieren. Reichlich Zündstoff für Konflikte.

So weit liegt alles glasklar unterschieden vor uns. Doch so einfach ist es eben nicht. Auch ließe sich aus dem schieren „Ihr da oben – wir da unten“ wohl keine tragfähige Serie machen. Und also ist die Sache etwas anders gelagert: Bitterernste, die Existenz bedrohende Probleme gibt es nämlich hier wie dort.

Birger Hansmann steckt bis zur Halskrause in einer betrügerischen Insolvenz-Verschleppung, die er mit seiner Unterschrift abgesegnet hat. Jetzt ist guter Rat fürchterlich teuer.

Mike Neurath, der sich mit kleinen Gefälligkeiten über Wasser hält, droht derweil ein Verfahren wegen Schwarzarbeit. Anfangs verschweigen beide ihren Frauen die Malaise. Neben den knisternd kriselnden Ehen geraten auch die seelischen Nöte der Kinder in den Blick. So weitet sich die Perspektive, und das Gesamtbild gewinnt immer mehr gesellschaftliche und psychologische Tiefenschärfe.

Unter der einfühlsamen, geschmackssicheren Regie von Bettina Woernle entwickelt sich eine ebenso lebenspralle wie realistische und spannende Mischung aus Familienserie und Wirtschaftskrimi mit entschiedener, aber nicht übertriebener Lokal-Tönung.

Beileibe nicht nur die Szenen aus der Kneipe und vom Fußballplatz in Dortmund-Hörde vermitteln das Gefühl, hier eine ziemlich authentische Geschichte zu sehen. Gekonnt werden die Erzählbögen gespannt, mitunter herrlich saftig oder – bei Bedarf – auch sanft ironisch wird das Ganze ausgespielt. Vor allem Felix Vörtler gestaltet seine Rolle famos, ohne jemanden „an die Wand“ zu spielen. Die durchweg typgerechte Besetzung reicht bis in die Nebenrollen.

Man könnte immerhin argwöhnen, hier würden Uralt-Muster à la „Die Reichen haben’s auch nicht leicht“, „Jeder hat sein Päckchen zu tragen“ oder „Geld allein macht auch nicht glücklich“ bedient.

Doch so verhält es sich nicht. Drehbuchautor Michael Gantenberg geht nur nicht der etwaigen Versuchung auf den Leim, die Dinge vorschnell zu simplifizieren. Er schaut genauer hin und spürt den zwischenmenschlichen Folgen kapitalistischen Wirtschaftens noch auf dem Schulhof nach, wo zuweilen einer den anderen demütigt und erpresst oder die neue Mitschülerin gemobbt wird. Dass sich die beiden Familien auf sehr unterschiedlichem Level plagen, wird jedoch auch nicht verwischt.

Beim Sechsteiler (der in drei abendfüllenden Doppelfolgen ausgestrahlt wird) soll es übrigens nicht bleiben. Eine zweite Staffel ist schon im Planungsstadium. Gut so. Nur weiter so.

Nach dermaßen viel Lob wollen wir aber doch nicht gleich an die Chance auf einen Grimmepreis denken. Obwohl: warum eigentlich nicht?

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Die beiden weiteren Doppelfolgen laufen am nächsten und übernächsten Montag (5. und 12. Dezember)




„Schwarze Kohle, rotes Licht“ – Schwere Jungs erinnern sich an ihr früheres Revier

Kriminelle Vergangenheit im Ruhrgebiet: der Typ, den alle nur "Coca" nennen. (Screenshot aus der besprochenen WDR-Sendung)

Kriminelle Vergangenheit im Ruhrgebiet: der Typ, den alle nur „Coca“ nennen. (Screenshot aus der besprochenen WDR-Sendung)

Wer sich diesen Titel ausgedacht hat, müsste eigentlich kräftig in die Klischeekasse einzahlen: Der TV-Film „Schwarze Kohle, rotes Licht“ (WDR) handelt von kriminellen Umtrieben im Ruhrgebiet, unter besonderer Berücksichtigung des Rotlicht-Milieus. Kein läppisches Thema.

Der fürs Dreiviertelstunden-Raster (quasi eine Schulstunde) gezimmerte, bereits ausgestrahlte Beitrag von Peter F. Müller setzte mit Archivaufnahmen in der „Wirtschaftswunder“-Zeit der späten 1950er und frühen 60er Jahre an und hangelte sich bis in die 80er. Stellenweise im raunenden Tonfall, suchte man das Böse in der „Parallelwelt“ des Reviers zu beschwören. Ähnliche Filme könnte man, mit anders gelagerter Folklore, wohl über alle deutschen Metropolen anfertigen. Aber hier hatte der Zungenschlag eindeutig „Pott“-Färbung. Und der Film behauptet stark, in Sachen Kriminalität sei das Ruhrgebiet damals bundesweit „ganz vorn“ gewesen.

Luden in Luxuskarossen

Das Spektrum reichte vom Doppel- und Serienmord über Betrug und Steuerhinterziehung im ganz großen Stil bis hin zu lukrativen Puffs und illegalen Spielcasinos. Genüsslich wurden „Luden“ (Zuhälter) gezeigt, die mit ihrem Rolls Royce oder ähnlich extravaganten Karossen vorfuhren und Hof hielten. Fernsehmacher gieren halt nach solchen Bildern.

Reichlich kamen ehemalige Spitzbuben (putziges Wort von früher) mit Rocker-Attitüde zu Wort, die etliche Jahre Knast abgesessen haben, nun aber geradezu altersweise zurückblicken. In ihre ruhigeren Jahre gekommen, zeigen diese kernigen Typen geradezu sympathisch abgeklärte Züge. Die schweren Jungs (noch so ein Ausdruck von damals) haben so manches erlebt, denen macht niemand was vor. Und sie haben einen speziellen Humor…

Ganoven mit und ohne Stil

Natürlich verrieten sie den TV-Leuten nicht, wie und wovon sie heute so leben. Nicht, dass da noch die Falschen zuschauen! Das war vielleicht der Deal: Ihr erzählt uns ein paar derbe Schwänke und wir stellen keine zudringlichen Fragen. So konnten sich die Herren auch rühmen, einst – wenn’s drauf ankam – im feinen Zwirn aufgetreten zu sein, während heutige Zuhälter oft in Trainingskluft auftauchten. Merke: Den Jungspunden ermangelt es ganz einfach an Stil und Qualität.

Trotzdem: Die trockenen Statements der einstigen Ruhri-Szenegrößen wie „Coca“ und Klaus „Hüpper“ Wagner (der vorher „auf Zeche“ malocht hatte) waren bereits das Stärkste an diesem ansonsten etwas dürftigen Film. Der Stoff wurde nicht durchdrungen, es gab praktisch keinerlei Erkenntnisse über pure Fakten und Phänomene hinaus. Dass manche Kerle sich als schrankenlos freiheitsliebende „Hippie-Rocker“ verstanden und in ihren Gangs Ersatzfamilien gesucht haben, war einer der wenigen, allerdings recht mageren gesellschaftlichen Vertiefungs-Ansätze, die jedoch nicht weiter verfolgt wurden.

Raffinierte kriminelle Geschäftsmodelle nötigen im Nachhinein selbst der Polizei Respekt ab: „Der hätte auch eine große Firma leiten können“, sagt ein Ex-Beamter über einen Delinquenten.

Erschröckliches Panoptikum

Bei Nennung von Verbrecher-Namen wie Alfred Lecki, Petras Dominas und Erhard Goldbach klang – gleichsam in negativ getönter Nostalgie – etwas aus zeitlicher Ferne nach. Doch gar zu atemlos wurden diese Fälle abgehandelt, als dass sie übers reine Geschehen hinaus hätten ergiebig werden können.

Das erschröckliche Panoptikum des Verbrechens erschöpfte sich weitgehend in bloßer und blasser Chronologie, in braver, auch sprachlich ziemlich unbedarfter Nacherzählung einiger spektakulärer Kriminalfälle. „Analytisch“ erhob sich das kaum über die Tiefebene von Eduard Zimmermanns berüchtigter Sendung „Aktenzeichen XY…ungelöst“, die denn auch in Wort und Bild zitiert wurde; ebenso pflichtschuldigst, wie man auch an den legendären Duisburger „Tatort“-Kommissar Schimanski erinnerte. Man wollte eben nichts auslassen – und versäumte dabei das Wesentliche.

Revierspezifisch waren übrigens die buchstäblich engen Beschränkungen, denen die Polizeiarbeit unterlag. Jenseits der im Ruhrgebiet allgegenwärtigen Stadtgrenzen durften sie in der Regel nicht ermitteln, wie Ex-Polizisten zähneknirschend verrieten. Die Ganoven kriegten das natürlich spitz – und machten daraus ein Katz- und Maus-Spiel.




Verlorene Illusionen: Die gar nicht mehr so wunderbaren Reisen der Sibylle Berg

Sibylle Berg kennt man als Dramatikerin, Autorin und polarisierende Kolumnistin. Einem breiten Publikum weniger bekannt hingegen sind ihre Reisereportagen. Das könnte sich jetzt ändern. Unter dem nicht so ganz zutreffenden Titel „Wunderbare Jahre – als wir noch die Welt bereisten“ ist eine Sammlung von Erlebnisberichten der vielgereisten Frau Berg erschienen.

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Der Klappentext verspricht uns Erzählungen aus einer schönen, abenteuerlichen, romantischen Welt. Wer Sibylle Bergs Werke auch nur ein bisschen kennt, kann sich allerdings schon denken, was er direkt in der Einleitung erfährt: Wer sich auf der Couch fein eingekuschelt gerne in nostalgischen Gefühlen ergehen möchte, der schaue sich lieber wunderschöne Rucksack-Dokus auf Kultursendern an.

Krisen- und Erregungsgebiete

Die Reportagen aus Sibylle Bergs „wunderbaren Jahren“ zeigen hingegen: Der Terror war immer schon da, angstfrei reisen konnte man nie. Die Berichte erzählen aus Krisengebieten wie dem Kosovo in den Neunzigern, aus Erregungsgebieten wie Cannes zur Festival-Zeit, von ganz persönlichen Erfahrungen in Herzensstädten der Autorin oder auch ganz profan von der Langeweile als Passagierin auf einem Frachtschiff.

Doch eines war anders damals: Damals, das war die Welt, als man noch Fernweh hatte und verklärungsbereit war. Die wunderbaren Jahre waren deshalb wunderbar, weil man noch Hoffnung hatte.

Das Meer ist nur noch Wasser

Nun setzt die Desillusionierung ein. Wenn man Meer nicht mehr als Meer, sondern einfach nur als Wasser sieht, trauert man um die Zeit, in der alles aufregend war. Leben nutzt sich eben ab. So einfach, aber auch wesentlich zugleich sind manche Erkenntnisse, die Sibylle Berg in diesen Berichten vermittelt. Den Gegensatz zwischen der einstmals hoffnungsfroh zu einer Reise aufbrechenden Autorin, die noch glaubte, die Welt verbessern zu können und der heute fast komplett desillusionierten Kolumnisten wird vor allem durch die Nachsätze herausgearbeitet, die auf jeden ihrer Reiseberichte folgen und die in kurzen, knappen, sehr sachlichen Sätzen den heutigen Zustand des jeweiligen Reiseziels beschreiben.

Der erste und der zweite Blick

Sibylle Berg kann sehr elegant formulieren, ihre manchmal genial bösen Spitzen erkennt man oft erst auf den zweiten Blick. Vermutlich ist dies mit ein Grund dafür, dass sie oft polarisiert. Die einen nicken auf den ersten Blick und merken erst auf den zweiten, dass sie ertappt worden sind. Die anderen sind beim ersten Blick irritiert, nicken dann aber beim zweiten. Auch in ihren Reisereportagen ist die präzise Beobachterin Berg gewohnt gnadenlos ehrlich, sie geht aber auch mit sich selbst und ihrem einstigen Blick auf die Welt schonungslos ins Gericht.

Arroganz nur bei Bedarf

Auch der Tonfall ist nicht durchgehend so, wie man ihn von der gern überspitzenden Kolumnistin kennt. Ihre oft beanstandete Selbstgerechtigkeit hat sie in diesen Berichten jedenfalls außen vor gelassen und die ihr nachgesagte Arroganz lebt nur auf, wenn sie gebraucht wird – um dem Leser und dem Reisenden, also auch sich selbst den Spiegel vorzuhalten. Vor allem an der sich selbst tätschelnden Wohlstandsgesellschaft arbeitet sie sich böse ab, der Bericht über Cannes kriegt zur Strafe für soviel glitzernden Glamour nicht einmal eine der begleitenden Illustrationen der ausgezeichneten Comic-Zeichnerin Isabel Kreitz. Da sind die kleinen Lästereien, die sich ab und an gönnt (wie etwa im Bericht über London am Tag der Königskindeskinder-Hochzeit) nachgerade erholsam.

Sibylle Berg: „Wunderbare Jahre. Als wir noch die Welt bereisten“. Carl Hanser Verlag, München. 186 Seiten, €18,50.




Ritual und Routine zu Halloween

Ganz nüchtern statistisch betrachtet, war es so: Zwischen 18 und 20 Uhr haben heute insgesamt 18 Kindergruppen bei uns geschellt und „Süßes oder Saures“ verlangt.

Die beiden größten Rudel waren 12 bzw. 10 Kinder stark, alles in allem standen da – wenn ich richtig notiert habe – 78 kleine Leute. Manche waren nur zu zweit unterwegs, zwei Kinder liefen (in Begleitung ihrer Eltern) sogar allein los. Das sah ein wenig traurig aus. Aber bitte, wer kennt die Gründe?

Ganz ohne Kürbis geht die Chose nicht... (Foto: BB)

Ganz ohne Kürbis geht die Chose nicht… (Foto: BB)

Vor Jahresfrist waren es im selben Zeitraum noch über 20 marodierende Grusel-Formationen gewesen. Manche Zeitungen würden jetzt atemlos hechelnd von einer Trendwende sprechen und solche Fragen aufwerfen: Hat „Halloween“ seinen Zenit überschritten?

Über all die kleinen Auftritte vor der Haustür ließe sich glatt eine multiple Rezension schreiben, hochnäsige Urteile über Mimik, Gestik, Sprechkultur und Choreographie inbegriffen. Doch das lassen wir lieber bleiben. Auch wollen wir nicht über einige ältere Herrschaften wettern, die sich in abgedunkelten Wohnungen verschanzen und ihre Türen verschlossen halten. Ob sie hartherzig sind? Nun ja…

Tatsache ist, dass sich nicht mehr allzu viele Kinder die Mühe machen, wenigstens noch ein gereimtes Sprüchlein aufzusagen oder ein garstiges Liedchen zu schmettern. Manche stehen gar vollends stumm da und halten nur die mitgebrachten Beutel auf. Man ist versucht, eine solche Handlungsweise phantasielos zu nennen. Aber das ist pädagogisch wahrscheinlich nicht korrekt, weil nicht ermutigend.

Eigentlich sollte der Tag, wenn er denn schon so begangen werden muss, den Kindern unter 10 vorbehalten bleiben. Die haben noch wirklichen Spaß daran. Gelangweilte Trittbrettfahrer über 14 stehen eher ratlos neben sich. Sie machen das, weil „man“ es halt macht. Aber so richtig cool finden sie es eben auch nicht mehr.

Die Kostümierungen beruhen nur selten auf Eigenschöpfungen, das Allermeiste ist fix und fertig gekauft. Alles durchkommerzialisiert? Naja, ein bisschen schon. Und nachher weiß man, wer bei welchem Discounter gewesen ist.

Durch Erfahrung gewitzt, versorgt man sich inzwischen vorab mit etlichen Süßwaren, und zwar in Packungsformen, welche sich gut auf Kindergruppen verteilen lassen; wie denn überhaupt Ritual, Routine und Gewohnheit einen Großteil der Sache ausmachen.

Übrigens sind in diesem Jahr offenbar mehr wachsame Eltern mitgegangen, wahrscheinlich, um etwaige Gruselclowns abzuschrecken, die sich leicht ins Geschehen hätten mischen können. Oder hat man sich das nur eingebildet?

Viel ungesundes Zeug füllte schließlich die Beutel, die offenbar von Jahr zu Jahr größer werden (wie auch jene für „Kamelle“ zu Karneval). Nur die Frau an der nächsten Straßenecke hat den Kindern Äpfel gegeben. Sie lebt in London und ist zu Besuch. Immer diese Sonderwege. Immer diese Insulaner…




Ein Finanzjongleur auf der Flucht – Martin Mosebachs eleganter Roman „Mogador“

978-3-498-04290-5Er ist offensichtlich ganz tief in schmutzige Finanzgeschäfte verstrickt und wurde gerade von der Polizei verhört. Da entscheidet sich der Düsseldorfer Banker Patrick Elff von einem Moment auf den anderen zu einer durchaus filmreifen Flucht.

Der junge Mann, einer der Hauptfiguren in Martin Mosebachs neuem Roman „Mogador“, springt direkt nach seinem Termin auf dem Polizeipräsidium aus dem Fenster, macht sich auf dem Weg zum Flughafen und steigt in einen Flieger mit dem Ziel Marokko. In Mogador (portugiesischer Name der Hafenstadt Essaouira) hofft er, vor den Fahndern in Sicherheit zu sein.

Dass sich der Finanzjongleur ausgerechnet nach Marokko begibt, hat mit seinen weit verzweigten Kontakten zu tun, die angesichts solch heikler Situationen schon mal ganz hilfreich sein können. Die Ungewissheit soll ihn aber noch länger begleiten.

In der Geschichte, die der Autor nun entwickelt, spielen die schmutzigen Bankgeschäfte eher eine Nebenrolle. Spannender sind die Verhältnisse, in denen der getürmte Spitzenbanker nun Unterschlupf findet. Auch seine „Gastgeberin“ Khadija bessert unter anderem mit Geldverleih ihr Einkommen auf und nimmt es bei ihren Geschäften nicht immer ganz so genau. Doch sie allein auf das Finanzgebaren zu reduzieren, würde der Figur nicht gerecht.

Mosebach zeichnet das Bild einer Frau, die lange Jahre ein biederes Leben geführt hat, bis ihr schwere Schicksalsschläge widerfuhren. Zwei Ehemänner starben bei Unfällen, ihr Sohn ist geistig behindert. Doch von wirklichen Zweifeln an sich oder an ihrem Dasein scheint sie nicht geplagt zu sein. Ganz allmählich lässt sie ihr altes Leben hinter sich und ist vor allem darauf bedacht, die Kontrolle über sich und ihre Umgebung, Freunde, Bekannte, Geschäftspartner eingeschlossen, nicht zu verlieren.

Es ist beeindruckend, wie es dem Autor gelingt, den allmählichen Wandel dieser Khadija anschaulich und nachvollziehbar zu beschreiben. Ist sie anfangs noch ein Mensch, dem das Leben zu entgleiten droht, hat sie bald alles im Griff. Sie verdient zunächst ihr Geld als Hure, wird später zur Kupplerin und kümmert sich schließlich sogar um einen sehr eigentümlichen Imam, dem magische Kräfte nachgesagt werden. Sie ist von Eigeninteressen geleitet, denn sie gibt die Hoffnung nicht auf, dass ihr Sohn – durch welche Methoden auch immer – geheilt werden könnte.

Patrick Elff tritt in ihr Leben, weil sie ihm eine Wohnung zur Verfügung stellen kann. Dort hofft er, vor seinen Häschern in Sicherheit zu sein. Doch Mosebach charakterisiert den Banker keineswegs als einen Mann, der ständig in Angst lebt oder mit dem Leben hadert. Vielmehr malt sich der Geflüchtete aus, wie Kollegen in der Bank und vor allem seine Lebensgefährtin Pinar wohl versuchen, ihn irgendwie zu erreichen. Dass man in Sorge um ihn sein könnte, scheint Patrick Elff eher unbedeutend zu sein. Dieser Finanzmensch ist wohl jemand, der – ähnlich wie Khadija – sehr rational den Fährnissen des Lebens begegnet. Doch manche seiner Gedanken an Pinar legen aber die Vermutung nahe, dass es ihm nicht immer gelingt, Herr über seine Emotionen zu sein.

Das Ende der Geschichte ist schließlich sehr überraschend und lässt auch durchaus manche Fragen offen. Lesenswert ist das Buch insbesondere auch deshalb, weil hier spannende Biografien auf sehr ungewöhnliche Art miteinander verwoben werden. Mosebachs Sprache kommt dabei äußerst elegant daher, wirkt allerdings stellenweise auch schon mal antiquiert oder verschnörkelt.

Und übrigens: Dass in diesen Zeiten eine Flucht von Deutschland nach Afrika führt, das hat schon eine besondere Note.

Martin Mosebach: „Mogador“. Roman. Rowohlt Verlag, 367 Seiten, 22,95 Euro.




Routine der Empörung oder: Die seltsame Sucht nach Krawall in den Schlagzeilen

Wie kommt ein Polit-Promi der A-, B- oder C-Kategorie knackig in die Medien? Indem er etwas Vernünftiges sagt, was dann allseits ernsthaft diskutiert wird. Haha. Guter Gag. Nein, leider oft in erster Linie mit verbalem Krawall, Provokation und „Tabubrüchen“.

Beispiele hatten wir jüngst zuhauf. Donald Trump ist in dieser Disziplin der Champion aller Klassen, beispielsweise mit seinem Smash-Hit „Wenn wir schon Atomwaffen haben, warum setzen wir sie nicht ein?“ Er kam auch noch mit einigen anderen Krachern in die Charts. Eine milliardenteure Mauer an der Grenze zu Mexiko bauen und die blöden Mexen dafür zahlen lassen wollen, das war sein Latin-Sound mit dem besonderen Salsa-Feeling.

Wenn du kein honorarfreies Bild hast, so nimm einfach ein selbst fotografiertes Einhorn (alte Journalisten-Weisheit). (Foto: Bernd Berke)

Wenn du sonst kein honorarfreies Bild hast, so nimm einfach ein selbst fotografiertes Einhorn (alte Journalisten-Weisheit). (Foto: Bernd Berke)

Ähnlich penetrant, wenn auch auf weitaus kleinerer Macht- und Bedrohungsflamme, gerieren sich deutsche Polit-Barden, vorwiegend auf dem Gebiet der tümelnden Volksmusik. Oder gleich „völkisch“. Mit diesem historisch immens vorbelasteten und nimmermehr zu rettenden Wort jonglierte dieser Tage bekanntlich die AfD-Chefin Frauke Petry. Sie möchte es aufgewertet wissen.

Viel Luft nach rechts unten bleibt da nicht mehr. Wird sie bald das Wort „Führer“ enthistorisieren und sodann positiv aufladen wollen, wird sie den Holocaust relativieren oder das abgründige „Arbeit macht frei“ als aufmunternde Parole lesen wollen? Man weiß es nicht. Jedenfalls ist in derlei Provo-Sprech ein Zwang zur ständigen Überbietung und Steigerung eingebaut. Und nachher will man’s wieder nicht gewesen sein.

Da hat’s der CSU-Bierzeltmann Horst Seehofer vergleichsweise ein paar Nummern harmloser und doch lachhaft genug getrieben. Sein Holzhammer-Vorschlag, ARD und ZDF zusammenzulegen (damit dann irgendwann nur noch private Prekariats-Sender übrig bleiben?) ist allzu durchsichtig. Weil gerade die öffentlich-rechtlichen Medien ihn kritisch betrachten, will er sie gleich dezimieren. In Kindertagesstätten geht es manchmal rationaler zu.

Viele Medien spielen als Verstärker die üblen Spielchen des haltlosen Ausposaunens mit, nicht immer ganz unfreiwillig. Und machen wir uns nichts vor: Weite Teile des linken und liberalen Spektrums gieren insgeheim nach solch idiotischen Aussagen, um sich gehörig aufzuregen und aber so was von deutlich sichtbar auf der richtigen Seite zu stehen. Das geschieht inzwischen so ungefähr im Dreitages-Abstand; ganz so, als müsse auch hierbei die Dosis ständig erhöht werden. Es ist eine Sucht nach permanentem Alarm.

Erst wenn die dummen Sprüche (gegen die man ja auch angehen muss) via Talkshow, Interview oder dergleichen in der Welt sind, können Besserwissende mit selbstgerechter Empörungs-Routine loslegen, indem sie kübelweise Belehrungsbrei bzw. mehr oder weniger treffliche Häme ausgießen. Dürftiger noch, wenn sie nur noch abgedroschene, längst nicht mehr per se „vielsagende“ Formeln à la „Der Schoß ist fruchtbar noch“, „Wehret den Anfängen“ bzw. „Ich kann gar nicht so viel fressen, wie ich kotzen möchte“ vom Stapel lassen. Nicht, dass diese klassischen Satzfetzen neuerdings unwahr wären. Doch häufig werden sie ohne weitere Mühen der Argumentation benutzt.

Im allfälligen Shitstorm werden eventuell problematische, aber eben partout nicht „faschistische“ Figuren wie de Maizière oder erst recht Seehofer und Söder flugs zu Quasi-Nazis ernannt. Danach bleiben dann für wirkliche Rechtsradikale kaum noch passende Worte übrig. Da sehnt man sich doch nach abwägender Nüchternheit.




Alles fließt: Der Rhein im Strom der Zeit – eine gedankenreiche Ausstellung in Bonn

Warum ist es am Rhein so schön? Etwa, „weil die Mädel so lustig und die Burschen so durstig“? Nee, du gutes altes Stimmungslied, es gibt noch etwas Anderes als das nervige Partygetümmel an den Promenaden von Düsseldorf, Köln oder Rüdesheim.

Der "Vater Rhein" in seinem Bett, umgeben von Städten und Nebenflüssen - so malte es 1848 Moritz von Schwind. (Foto: Raczynski-Stiftung, Poznan)

Der „Vater Rhein“ in seinem Bett, umgeben von Städten und Nebenflüssen – so malte es 1848 Moritz von Schwind. (Foto: Raczynski-Stiftung, Poznan)

Abseits, auf den Uferwiesen, da fließen die Gedanken und Gefühle. An den windigen Stränden, wo die Kinder des Rheins lernen, flache Kiesel so über das Wasser zu werfen, dass sie hochhüpfen, ehe sie versinken. Dort, wo sich die Pänz nasse Füße holen und den Schiffen hinterherträumen, die aus Basel oder Rotterdam kommen und mit ihren langen Lasten und fremden Leuten so leicht und fast lautlos vorüberfahren.

Es kam zu allen Zeiten etwas Neues mit dem Strom, und etwas Altes wurde fortgespült, bis es weiter oben im Meer verschwand. Vielleicht sind die Menschen am Rhein deshalb tatsächlich etwas offener und toleranter und, ja, manchmal auch etwas weniger treu und beharrlich als ihre Mitbürger, die tief verwurzelten Westfalen. In Bonn, der (typisch Rhein) verflossenen Hauptstadt der Republik, präsentiert die Bundeskunsthalle in den nächsten Monaten das große Thema „Der Rhein“ und zwar, wie der Untertitel heißt, als „Eine europäische Flussbiografie“. Das klingt ein wenig anstrengend und ist es auch.

Krieg und Kirche, Macht und Wacht

Zwischen leuchtend blauen Wellenwänden wird dem Betrachter einige Wissbegier abgefordert. Eine Fülle an Fakten und neuerer Forschung muss durchgearbeitet werden. Zahlreiche Bücher, Dokumente und historische Exponate erfordern mehr als beiläufiges Interesse für flussrelevante Themen wie Hochwasserregulierung, Kriegs-, Kirchen- und Industriegeschichte, die Macht und die Wacht am Rhein. Der Gesamteindruck ist irgendwie halbtrocken wie der Wein vom Drachenfels, den Kalauer konnten wir uns jetzt nicht verkneifen.

Nüchtern betrachtet: "Der Rhein I", Fotografie von Andreas Gursky. (Foto: Gursky / VG Bild-Kunst)

Nüchtern betrachtet: „Der Rhein I“, Fotografie von Andreas Gursky. (Foto: Gursky / VG Bild-Kunst)

Aber es lohnt sich, artig hinzusehen, zumal Kuratorin Mare-Louise Gräfin von Plessen eine kunstvolle Idee zur Einstimmung hatte. Unter den Klängen von Schumanns „Rheinischer Symphonie“ werden da drei Rheinbilder zusammengeführt. Die nüchtern-rätselhafte Fotografie eines nicht identifizierbaren Uferstreifens aus dem Werk des Starfotografen Andreas Gursky (1996) hängt gegenüber Moritz von Schwinds schwärmerischer Darstellung von „Vater Rhein“, der anno 1848 in den grünblauen Fluten sitzt und seinen Töchtern, den Flüssen und Städten, ein rheinisches Liedchen fiedelt. Daneben bannt uns der alienhafte grüne Kopf, den Max Ernst, der Surrealist und Weltbürger, 1953 seinem „Vater Rhein“ gegeben hat.

Nach Jahren im Exil war der in Brühl geborene Künstler zurückgekehrt an den heimischen Fluss und besang ihn auf seine Weise: „Hier kreuzen sich die bedeutendsten europäischen Kulturströme, frühe mediterrane Einflüsse, westliche Regionalismen, östliche Neigung zum Okkulten, nördliche Mythologie, preußisch-kategorischer Imperativ, Ideale der französischen Revolution und noch manches mehr“, stellte er fest.

Der Flussgott trägt zwei Hörner

Und das belegt die Ausstellung mit Bildungsgut. Die Chronologie beginnt bei den alten Römern, die den Rhenus fluvius als Flussgott sahen, mit zwei Hörnern, bicornis, wegen der Gabelung an der Mündung. Der Fluss, nicht so leicht zu überqueren, galt als natürliche Grenze zwischen Gallien und Germanien. Hier spielten sich über Jahrhunderte, bis hin zum Zweiten Weltkrieg, die Konflikte zwischen Franzosen und Deutschen ab, der Machtkampf zwischen Marianne und Germania. In nicht allzu schlechter Erinnerung hat man die sogenannte Franzosenzeit zwischen 1794 und 1814, als die nachrevolutionären Truppen aus Paris auf ihrem Eroberungszug nicht nur ein geregeltes Rechtssystem (Code Napoléon), sondern auch ein gewisses savoir vivre an den Rhein brachten.

Aufwallung: der "Vater Rhein" von Max Ernst, 1953. (Foto: Kunstmuseum Basel / VG Bild-Kunst)

Aufwallung: der „Vater Rhein“ von Max Ernst, 1953. (Foto: Kunstmuseum Basel / VG Bild-Kunst)

Heute bemüht man sich im europäischen Geist, die friedliche Einigkeit der Nationen zu betonen. Die Verbundenheit mit den Rhein-Nachbarn Schweiz, Frankreich und den Niederlanden wird auch in der Bonner Ausstellung beschworen, aber, Hand aufs Herz, die westlichen Anwohner sind nie zu solchen Rheinromantikern geworden wie es die angereisten Engländer schon im 19. Jahrhundert waren, als sie die Romantik und die erbauliche Flussfahrt entdeckten. The river Rhine is so lovely, Ladies and Gentlemen!

Die Geschichte der fatalen Loreley

Doch halt! Da sind wir wieder mal zu schnell im Strom der Zeit vorausgetrieben. Zunächst einmal baute die christliche Kirche auf den Stätten der Antike ihre Kathedralen, und das Heilige Römische Reich breitete sich aus. Kaiser und Ritter residierten bevorzugt am Rhein, und es entstanden die Burgen, deren Ruinen sich noch heute so malerisch erheben, und es entstanden die Sagen und Märchen, die sogar disziplinierten japanischen Touristen die Tränen in die Augen treiben. Am Felsen der Loreley, die mit ihrem Gesang und ihren goldenen Haaren so manchen Schiffer ins Verderben lockte, da singen sie im Chor: „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, dass ich so traurig bin …“.

Zum Fürchten: Lorenz Clasens "Germania als Wacht am Rhein", 1880. (Foto: Kunstmuseen Krefeld)

Zum Fürchten: Lorenz Clasens „Germania als Wacht am Rhein“, 1880. (Foto: Kunstmuseen Krefeld)

Heinrich Heine schrieb die berühmten Verse, denn selbst scharfsinnige Spötter werden sentimental, wenn sie nur lange genug auf die Fluten schauen. Und nicht nur Richard Wagner suchte mit ganz großem Pathos nach dem Rheingold. Über Kopfhörer kann man allerlei vom Rhein inspirierte Musik hören.

Ansonsten ist in der Ausstellung relativ wenig Platz für sinnliche Erlebnisse. Sie hat einfach zu viel zu erzählen: vom Strom der Händler, von den Waren und Menschen, die über den Rhein kamen, von wachsenden Städten und von glanzvollen Höfen wie dem des Kurfürsten Johann Wilhelm von der Pfalz, genannt Jan Wellem, der in Düsseldorf die erste Gemäldegalerie für das Volk eröffnete und von dessen ganzer Prachtentfaltung nur noch ein kleiner übriggebliebener Schlossturm zeugt. Das Türmchen ist heute Domizil eines hübschen kleinen Schifffahrtsmuseums und steht gleich vorn in der Altstadt an der Promenade der immerwährenden Party. Womit wir wieder beim Stimmungslied wären: „Warum ist es am Rhein so schön?“ Ich empfehle, einen kleinen Spaziergang zu machen, ein wenig abseits, und sich den Wind des freien Rheins um die Nase wehen zu lassen.

„Der Rhein. Eine europäische Flussbiografie“. Bis 22. Januar 2017 in der Bundeskunsthalle Bonn, Friedrich-Ebert-Str. 4, Museumsmeile. Di und Mi. 10 bis 21 Uhr, Do.-So. 10 bis 19 Uhr. Eintritt: 12 Euro (ermäßigt 8 Euro). Katalog (Hrsg. Marie-Louise von Plessen), Prestel-Verlag, 336 Seiten, 39,95 Euro. Es gibt ein umfangreiches Begleitprogramm. www.bundeskunsthalle.de




Museum Ludwig: Die Kunst des Nachdenkens

Der neue Direktor neigt nicht zur großen Show. Yilmaz Dziewior, der Anfang 2015 vom Bregenzer Kunsthaus in Kölner Museum Ludwig wechselte, feiert das 40jährige Bestehen des renommierten Hauses am Dom, wie es seine Art ist – mit einer reflektierenden Gruppenausstellung zum Thema Sammler, Institution und Gesellschaft. „Wir nennen es Ludwig“ heißt das kuratorische Projekt mit Werken von 25 politisch korrekt gemischten Künstlern, und man muss sich schon durcharbeiten.

Am Eingang der Jubiläumsausstellung im Museum Ludwig steht das Publikum vor „Bakunins Barrikade“, einer Installation des türkischen Künstlers Ahmet Ögüt. Gleich vorne am Bauzaun hängt Warhols Porträt des Sammlers Peter Ludwig (links im Bild). (Foto: bikö)

Am Eingang der Jubiläumsausstellung im Museum Ludwig steht das Publikum vor „Bakunins Barrikade“, einer Installation des türkischen Künstlers Ahmet Ögüt. Gleich vorne am Bauzaun hängt Warhols Porträt des Sammlers Peter Ludwig (links). (Foto: bikö)

Der Schokoladenfabrikant Peter Ludwig (1925-1996), schwerreicher Mäzen und Stifter für 15 internationale Museen, gehört zu den Phänomenen, mit denen sich die Ausstellung beschäftigt. Sein 1980 bei Andy Warhol bestelltes Porträt hängt schief neben Kokoschkas „Ansicht der Stadt Köln“ an einem Haufen Schrott mit umgekippten Autos, Steinen, Rohren, Gittern und Bauzäunen. Der türkische Konzeptkünstler Ahmet Ögüt hat die Bilder für „Bakunins Barrikade“ benutzt. Die Installation weist etwas umständlich hin auf den Dresdner Aufstand von 1849, als der russische Anarchist Michail Bakunin angeblich Bilder der Gemäldegalerie benutzte, um die Soldaten zu stoppen.

Das Publikum sollte sich nicht aufhalten lassen und hinter der Barrikade nach weiteren Erkenntnissen und einer kleinteiligen Installation des Afrikaners Georges Adéagbo suchen. Eine Reihe von Druck-Collagen, mit denen Hans Haacke 1981 den vielgerühmten Sammler und „Pralinenmeister“ provozierte, enthüllt – über Packungen von Novesia-Goldnuss und Schogetten – die machtbewussten Ansichten Peter Ludwigs. „Der Markt für Pop-Art ist entscheidend durch die Aktivitäten des Ehepaars Ludwig geprägt worden“, soll der Big Spender selbst gesagt haben. Auch der Videokünstler Marcel Odenbach hat sich mit der schillernden Figur beschäftigt. Er projiziert dokumentarische Filme auf ein Bild des Garagentors von Ludwigs Aachener Privathaus, wo eine Skulptur des Nazi-Bildhauers Arno Breker im Garten stand. Ludwig mochte Breker. Odenbach bewertet nichts, er präsentiert, zeigt Erinnerungen an den Sammler.

In flimmernden Interviews spricht Peter Ludwig über Fantasie, Disziplin und Empfindsamkeit. Er agierte, das wird klar, wie ein Sonnenkönig der modernen Kunst, deren Bedeutung er festlegen wollte, um sich selbst eine über den wirtschaftlichen Erfolg herausragende Bedeutung zu verschaffen: „Meine Sammlung ist keine Kapitalanlage, kein Spekulationsobjekt“, versicherte er. Immerhin hat die Kunst dem Unternehmer durch geschickte Stiftungen und Schenkungen eine Menge Steuern erspart.

Die Ausstellung schweift weiter ab in die Sphären kritischer Betrachtung von Kultur und Gesellschaft an sich. Nicht gerade ein Garant für Spannung. Die amerikanische Performance-Künstlerin Andrea Fraser präsentiert in einer Vitrine sämtliche Seiten ihres Arbeitsvertrags. Die „Guerrilla Girls“ aus New York, bekannt für Auftritte mit Gorilla-Masken, rechnen die Beteiligung beziehungsweise die Abwesenheit weiblicher Künstler in wichtigen Museen vor. Die Mexikanerin Minerva Cuevas lässt die Hymne ihrer „International Understanding Foundation“ hören.

Ai Weiweis Objekt aus 42 umgekippten und aneinander montierten Fahrrädern, die einerseits auf Chinas Verkehr, andererseits auf Duchamps „Roue de bicyclette“ hinweisen, gehört noch zu den opulenteren Erscheinungen des Parcours zum 40jährigen Bestehen der Institution Museum Ludwig. Der in Köln lebende Kunstsuperstar Gerhard Richter zeigt nur ein paar kleinere Werke mit lokalem Bezug wie die Fotografie einer Demonstration von 1987 und das Reprint eines Gemäldes von der „Domecke“. Da bleibt nur eins: Auf in die Dauerausstellung mit Spitzenwerken von der klassischen Moderne! Picasso, Rothko, wir kommen.

Info:

Vor 40 Jahren, 1976, schenkten die Eheleute Peter und Irene Ludwig der Stadt Köln 350 Werke der modernen Kunst mit der Auflage einer eigenen Museumsgründung. Zehn Jahre später, im September 1986, wurde das von den Architekten Peter Busmann und Godfried Haberer entworfene Gebäude gleich hinter dem Kölner Dom eröffnet.

Die Ausstellung „Wir nennen es Ludwig – Das Museum wird 40“ beschäftigt sich bis zum 8. Januar 2017 kritisch mit den Themen Sammeln und Gesellschaft. Di.-So. 10 bis 18 Uhr. www.museum-ludwig.de




Wo alles unentschieden bleibt: Genazinos Roman „Außer uns spricht niemand über uns“

Schon auf Seite 9 wehrt sich der namenlose Mann auf seine Weise gegen allseitige Überforderung durch anbrandende Wirklichkeit: „Ich schloss die Fenster und schaltete aus Ratlosigkeit das Radio ein.“

Doch dort läuft ein läppisches Gewinnspiel. „Es war unglaublich: Solche zerknautschten Hausfrauenspäße machte der Rundfunk immer noch.“

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Nirgendwo scheint Rettendes zu wachsen, nicht einmal im Rückzug.

Sehnsucht nach Bedeutsamkeit

Auch in seinem neuem Roman, der den bereits zagend klingenden Titel „Außer uns spricht niemand über uns“ trägt, lässt Wilhelm Genazino wieder (s)einen überaus empfindlichen Menschen durch die Stadt streifen und ratlos im Zimmer sitzen, der den Alltag als ungeheure Summierung und Verdichtung kleinster Vorfälle erlebt, welche sich noch und noch häufen und als vielfach zersplittertes Rätsel vor ihm aufragen. Nur wenige Anblicke bieten Labsal, die meisten Erlebnisse verstören.

Eine tiefere, dauerhafte Bedeutung erschließt sich ihm aus all den winzigen Beobachtungen jedenfalls nicht. Dabei sehnt er sich so sehr nach einem bedeutsamen Leben. Doch wie soll man das anfangen, angesichts all der Unübersichtlichkeit?

Unendliche Fortschreibung

Genazinos Romane muten zuweilen wie eine endlose, freilich immer wieder faszinierend genaue Fortschreibung an: Der Ich-Erzähler, naher Verwandter und Wiedergänger bisheriger Figuren des Autors, ist diesmal ein gescheiterter Schauspieler, welcher sich damit durchhangelt, den einen oder anderen Text für den auch unter Sparzwang stehenden Rundfunk zu sprechen. Wegen Geldknappheit muss er sich daher schon mal herbeilassen, Modenschauen in der Provinz zu moderieren. Eine immerhin noch schuldenfreie Existenz, doch nur knapp oberhalb des Prekariats am Rande des Kulturbetriebs.

Zwischendurch hat dieser Mann also viel übrige Zeit zum Grübeln beim eher freudlosen Flanieren (auch Bahnhöfe und Museen sind keine rechten Fluchtorte mehr wie ehedem). Vor allem sinniert er über seine rundum ungeklärte Beziehung zu Carola, deren Tattoo- und Marathonlauf-Anwandlungen ihn irritieren.

Täppische Tröstungen

Ob sie in seine kleine Wohnung zieht, ob sie beide noch Kinder haben wollen, inwiefern sie überhaupt treu sein will – alles bleibt unentschieden in der Schwebe. Es ist eine zuwartende Zuneigung mit täppisch rührenden Momenten, eher unbeholfene Tröstung als Erotik, sozusagen kuschelndes Rest-Sexeln.

Seine Erinnerung schweift zurück zu früheren Begebenheiten mit diversen Frauen, die zumeist einen absurden oder peinlichen Beigeschmack haben. Doch was heißt schon Erinnerung? „Die fehlenden Erlebnisse betätigten sich als Geschichtenfinder und füllten dreist die Erinnerung.“ Auch da gibt es keinen verlässlichen Halt.

Keine Erlösung in Sicht

Die allumfassende Unentschiedenheit mündet in solche Sätze: „Es geschah nichts, es wurde keine neue Schuld sichtbar, aber es trat auch keine Durchsichtigkeit ein und keine Erlösung.“ Große Worte.

In ruhigeren Phasen genießt der Erzähler seine eigene Zerstreuung, er will dann gar nichts anderes mehr. Doch dann naht wieder schleichendes Ungenügen – oder es springt ihn geradezu an.

Zerlumpte Menschen

In sämtlichen Lebens- und Text-Fasern spürbar ist eine soziale Unsicherheit, deren Niederungen sich auch im Stadtbild als öffentliches Elend zeigen: „Ich sah die zunehmende Zerlumptheit der Menschen…“ Es sind nicht nur Übungen in bloßer Empfindsamkeit, dies ist ein sozialer Roman über die Wirklichkeit in unseren Städten, ob sie nun Frankfurt oder sonstwie heißen.

Und wie geht es mit Carola weiter? Katastrophal. Erst erleidet sie eine Fehlgeburt, dann verlässt sie ihn – allerdings auch nicht so ganz richtig. Bald darauf folgt, quasi in einem Nebensatz, die nahezu banale Mitteilung: „Carolas Selbstmord war für alle, die Carola kannten, ein Schock.“ Ja, was denn auch sonst?

Helden der Verschrobenheit

Es reihen sich nun Szenen und Inbilder der hilflosen Trauer, des Stillstands. Überforderung wird vollends zum alles beherrschenden Hauptwort. Gleichzeitig erweisen sich manche Mechanismen der Wahrnehmung als verschlissen. Auch das bislang so heilsame Gehen durch die Stadt hilft wohl nicht mehr. Wo ist die wahre Gegenwart, die nicht gleich wieder vermodert?

Dass ausgerechnet Carolas Mutter die nächste Frau ist, mit der der traurige Held schläft, mag man eigentlich kaum für möglich halten. Und doch hört es sich seltsam glaubhaft an.

Wilhelm Genazino schreibt nach wie vor eine Prosa, der man – auch wenn sie sich im Duktus perpetuiert – mit angehaltenem Atem folgen kann. Man darf möglichst keinen Satz überlesen, keine Regung übersehen. Wer gern aphoristisch zugespitzte Passagen anstreicht, wird ein Genazino-Buch am Ende übersät vorfinden. Und immer wieder liest man staunend von der mal sanften, mal schroffen, immer aber geradezu heldenhaften Verschrobenheit, mit der sich Genazinos Gestalten der zerfaserten Realität stellen.

Übrigens: Gibt es eigentlich schon germanistische Aufsätze über das Motiv der Jacke in Genazinos anschwellendem Oeuvre? Wenn ich mich nicht irre, scheint das Utensil spätestens seit seinem Buch „Der Fleck, die Jacke, die Zimmer, der Schmerz“ immer wieder an markanten Romanstellen aufzutauchen.

Wilhelm Genazino: „Außer uns spricht niemand über uns“. Roman. Hanser Verlag. 155 Seiten. 18 Euro.




Multikulturell und für einen Tag autofrei – The show must go on am Borsigplatz

Im Kulturhauptstadtjahr 2010 war die temporäre Stilllegung der A40 das unvergessene und spektakulärste Projekt, zumindest für die Zehntausende, die dabei waren. Eine Wiederholung gab es nicht, zumindest nicht in dem Ausmaß. Viele kleine Stadtteilinitiativen lehnten sich daran an, so auch am Sonntag auf und an dem wohl berühmtesten Platz Dortmunds, der eigentlich gar kein Platz ist.

Es ist ein verkehrsreicher Kreisverkehr, der als Verteiler in die anderen innerstädtischen Bezirke unerlässlich ist. Quer durchzogen wird der gegrünte Platz in der Mitte von der Straßenbahn. Es ist für viele Bürger der Dortmunder Nordstadt ein Identifikationsort: „Wir am Borsigplatz“.

Impression vom Borsigplatz (Fotos: rd-man)

Impression vom Borsigplatz (Fotos: rd-man)

Nun wurden der Platz und der Kreisverkehr für einen Tag auto- und straßenbahnfrei. „Platz nehmen auf dem Borsigplatz“ hieß es. Man konnte Biertische reservieren und dort sitzen oder etwas präsentieren. Die BürgerInnen aus dem Umfeld nahmen das Angebot an. Als Beobachter konnte man hier die Bevölkerungsstruktur studieren, ein multikulturelles Miteinander, wie man es sonst an kaum einer anderen Stelle findet.

Natürlich gehören zu diesem Bürgerfest Tombolas, Live-Musik und Stände aller Art, Kinderspiele und weiteres Pipapo. Das wird sich vermutlich die nächsten 100 Jahre nicht ändern. Das Wetter war exquisit, der Kaffee kostete 50 Cent und an den Außentischen versammelten sich auch ein paar Angereiste, innerstädtische Touristen, die die „dunkle Gegend“, das Klischee bei Sonnenbestrahlung erleben wollten.

Und genau hier, bei dieser Miniaturausgabe des Stilllebens, erlebt man auch Überraschungen. Die Formation „Royal Squeeze Box“ interpretiert Songs von „Queen“ – unplugged, direkt vor den Nasen, Augen und Ohren der dort Versammelten Bürgerinnen und Bürger, ob mit oder ohne Bierflasche.

Royal Squeeze Box live

Royal Squeeze Box live

Roman M. Metzner und Aaron Perry hatten sich vor Jahren der Songs von Freddy Mercury angenommen und sie zunächst auf Straßen und Plätzen in der Republik vorgestellt. Inzwischen sind sie Stammgäste beim Festival in Montreux, spielen bei Night of the Proms und anderen Großveranstaltungen. Ihr Ursprung aber liegt in der direkten Nähe zum Publikum, also live und unverstärkt mir Akkordeon und Stimme an der Straßenecke oder auf dem Marktplatz. Wer sie schon mal gehört hat, weiß, dass es sich hier um höchste musikalische Qualität geht. Da wird mal eben vor dreißig, vierzig Leuten das komplizierte „Bohemian Rhapsody“ gespielt und gesungen. Fast alle singen bestimmte Stellen mit.

Das war die Praline eines Bürgerfestes ohne Aufhebens. Allerdings musste The Royal Squeeze Box nicht eingeflogen werden. Sänger Aaron Perry wohnt in der Nähe des Borsigplatzes und tat sich hier eben mal einfach als Nachbar hervor. Hier wurde das kleine Stillleben zu einem Ereignis für zufällig anwesende Bierbanksitzer.

 




Skepsis und Erstarrung – Johan Simons deutet zum Triennale-Auftakt Glucks Oper „Alceste“

Foto: JU/Ruhrtriennale

Festhalten am Sitzmöbel: Der Chor MusicAeterna in Johan Simons‘ Gluck-Inszenierung. Foto: JU/Ruhrtriennale

Die RuhrTriennale hat begonnen, es ist die zweite, die Johan Simons verantwortet, und wie bereits im Jahr zuvor will sie dem idealistischen Motto „Seid umschlungen!“ folgen. Die Fokussierung auf diesen Appell aus Schillers „Ode an die Freude“, mithin auf des Dichters Humanismus, scheint dringlicher denn je. Krieg und Terrorismus, Hass und Extremismus – wer, wenn nicht ein Kunstfestival, sollte sich diesen schaurigen Auswüchsen des Zusammenlebens so trotzig wie mutig entgegenstellen.

Carolin Emcke jedenfalls, in ihrer beachtenswerten Rede zur Eröffnung des Festivals, sieht Musik, Theater und Tanz als geradezu prädestiniert an, in diesen „finsteren Zeiten“ ans Werk einer Re-Humanisierung zu gehen. Die Journalistin und Autorin, die in diesem Jahr den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhält, setzt hinter die Werte Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit dicke Fragezeichen, dies durchaus im Sinne der Triennale: Diese zentralen Begriffe der Aufklärung seien nicht nur vielfach bedroht, sondern auch im Gebrauch zu Worthülsen verkommen. Es brauche, eben mit Hilfe der Künste, eine Übersetzung dieser Normen in Anwendungen, „es müssen Begriffe in Erfahrungen übersetzt werden, damit sie vorstellbar werden in ihrer Substanz, damit wieder deutlich und nachvollziehbar wird, woraus sie bestehen“. So Emcke.

Foto: Sebastian Drüben/Ruhrtriennale 2016

Die Festspielrednerin Carolin Emcke. Foto: Sebastian Drüen/Ruhrtriennale 2016

Vor diesem Hintergrund scheint es folgerichtig, die Triennale, in Bochums Jahrhunderthalle, mit Glucks „Alceste“ (nach Euripides) zu beginnen. Bestimmen doch Trotz und Mut, Zweifel und Emanzipation das Geschehen. Der Mensch fügt sich nicht mehr ergeben ins vom Orakel und den Göttern vorgegebene Schicksal. Er stellt es in Frage, er zürnt, er liebt und leidet, dass es am Ende eben jene Götter rührt. In „Alceste“ siegt die (Gatten-)Liebe über den befohlenen Opfertod, mithin die Freiheit über den Zwang. Mag auch das glückliche Ende noch eines Deus ex machina bedürfen: Es ist immerhin Apoll, der Gott des Lichtes und der Vernunft (!), der es bewirkt.

Johan Simons indes stellt in seiner Inszenierung den aufkeimenden Freiheitsdrang der Figuren, den Trotz gegen göttliches Gesetz, in Frage. Alceste ist in ihren Gefühlsturbulenzen, denen Birgitte Christensen vielschichtige Sopranfarben verleiht, eine nahezu neurotische Figur, die die Hände ringt, zittert, verunsichert wirkt. Ihr Entschluss, den dahinsiechenden Gatten Admeto, Herrscher über das Volk von Pherai, durch ihren eigenen Tod zu retten, scheint alles andere als ein überzeugendes Liebesopfer. Admeto wiederum, den Tenor Thomas Walker mit teils nur fragiler Intensität gibt, ist in seiner emotionalen Achterbahnfahrt ziemlich hilflos.

Foto: JU/Ruhrtriennale

Eine Familie in Leidensstarre: Alicia Amo, Thomas Walker, Konstantin Bader und Birgitte Christensen fremdeln (v.l.n.r.). Foto: JU/Ruhrtriennale

Und wenn Johan Simons dieses Paar mit seinen Kindern Aspasia und Eumelo (Alicia Amo und Konstantin Bader) zusammenführt, wenn sich diese Familie in all ihrer Schwachheit und Verstörung am Boden liegend umarmt, als wolle man einander gegenseitig vor dem Untergang bewahren, scheint die Szene in Künstlichkeit zu erstarren.

Mitleid vermögen die eindringlichen Worte des Librettisten Ranieri de’ Calzabigi zu erwecken und vor allem die musikalische Sprache, nicht aber die skeptische Deutung des Regisseurs. Hinzu kommt, dass die L-förmige Spielfläche von Leo de Nijs, mit ihrer ausufernden Länge, ein schwer zu beherrschendes Terrain darstellt. Vor Kopf und längs davon die Zuschauerränge, auf der Bühne viel Gerenne, nicht zuletzt wohl deshalb, um dem Publikum hier und auch da irgendwie nahe zu sein. Musikalisch funktioniert das sowieso nur per Mikroport, szenisch behilft sich die Ausstattung teils mit weißen Plastikstühlen, die der Leere dieses Laufstegs Kontur geben sollen.

Und inmitten thront, auf einem Konstrukt von Podesten, das fulminante B’Rock Orchestra, das unter René Jacobs’ kundiger, umsichtiger Leitung der Musik Zug verleiht, sie unter Spannung setzt und Glucks neuartige Klangfarben wirkmächtig auffächert. Man gibt, auf alten Instrumenten, die italienische Fassung. Das Spiel atmet Frische, alles klingt plastisch, so feinfühlig wie intensiv, so erhaben wie dramatisch. Nur hier und da trüben rhythmische Hakeleien, in Verbindung mit dem sonst hervorragenden Chor MusicAeterna, den akustischen Genuss.

Foto: -n

Triennale-Chef Johan Simons wagt den skeptischen Blick auf Glucks „Alceste“. Foto: -n

Chor, Solisten und Stühle scheinen eng miteinander verwoben. Das Sitzmobiliar gibt den Figuren haptischen Halt wie uns manch optischen. Die Menschen klammern sich daran in ihrer Angst, oder sie schleudern es in trotziger Wut weit von sich. Johan Simons sieht wohl in der aufkeimenden Aufklärung, im Wissenwollen, einen Zustand des Chaos. Wenn indes der Chor, der in Greta Goiris’ erdachten, teils antikisierend, teils bürgerlich anmutenden Gewändern wie eine Partygesellschaft aus Sommernachtstraum-Gefilden wirkt, die Genesung ihres Königs feiert, kehrt schönste Ordnung ein. Alsbald aber versinken die Fröhlichen in Agonie, wie betäubt im Gestühl hängend, Alcestes Opfertod vor Augen.

Solcherart Symbolik eines Möbels ist bisweilen stark, nicht selten aber schimmert eben die Funktion des szenischen Behelfs durch. Interessanter ist Simons’ Skepsis, wenn er Alceste und Admeto nicht auf offener Bühne vor jubelndem Volk zusammenführt, sondern augenscheinlich im Jenseits. Und zurück bleiben die Kinder, allein mit sich und einer Welt, die es zu erkunden gilt. Zu Glucks Orchesternachspiel tanzen sie munter Ringelrein. Freiheit? Gleichheit? Brüderlichkeit? – bei Simons ein Fall für die nächste Generation?

Weitere Vorstellungen am 20., 21., 25., 27. und 28. August. www.ruhrtriennale.de

Die Festspielrede von Carolin Emcke ist hier zu finden: https://www.ruhrtriennale.de/de/blog/2016-08/vom-uebersetzen-festspielrede-von-carolin-emcke




Ruppig und rüde auf Rügen – ein Insel-Restaurant zum Davonlaufen

Nicht weit vom erwähnten Lokal: Wesen, die nur unwesentlich mehr versteinert sind, als das Personal. (Foto: Bernd Berke)

Nicht weit vom erwähnten Lokal: harte Gesellen, die nur unwesentlich mehr versteinert sind, als das Personal der Gaststätte. (Foto: Bernd Berke)

Dieser Tage in einem Strandrestaurant auf der an und für sich schönen Insel Rügen: Leider wussten wir nicht, wie diese Lokalität im Netz beurteilt wurde und wird. Nahezu alle Berichterstatter stellen unisono fest, dass das Personal extrem unfreundlich sei.

Und tatsächlich. Kaum haben wir die Gaststätte in Sassnitz betreten, kommen uns zwei verängstigte Mädchen entgegen, die im rüden Tonfall hinauskomplimentiert und geradezu weggedrängelt werden. „Hier sind keine öffentlichen Toiletten. Gehen Sie woanders hin.“

Im besagten Beurteilungsportal war sogar von Situationen die Rede, in denen Gäste bis auf die Toilette verfolgt und sodann des Hauses verwiesen worden seien. Klingt schon nach einem juristischen Konflikt. Hausrecht einserseits. Missachtung und womöglich Verletzung der Intimsphäre andererseits.

Als wir in den eigentlichen Gastraum gelangen, wird unsere kleine Tochter kurzerhand ruppig beiseite geschoben – mit einem äußerst lieblos gekrächzten „Vooorsicht!“ Und das, obwohl die Angestellte weder ein Tablett noch sonst etwas zu tragen hat. Mit Kinderfreundlichkeit hat man’s also auch nicht so. Im Gegenteil.

Zehn Schritte später empfängt uns eine Kellnerin schon von weitem mit dem dröhnenden Zuruf: „Nichts zu machen. Alles voll!“ Sie schaut drein wie sieben Tage Regenwetter oder (wie es auf besagtem Portal einmal heißt) als hingen ihre Mundwinkel in den Kniekehlen. Es muss sich wohl um dieselbe Person handeln, die uns soeben zurechtweist. Doch halt: Der Ungeist des Gästehassens hat hier offenbar alle Angestellten gleichermaßen erfasst. Auch dieser Fisch scheint vom Kopf her zu stinken.

Wie konnten wir es nur wagen, diese danteske Stätte des Missvergnügens aufzusuchen. Das Motto des Hauses könnte lauten: „Ihr, die ihr hier eintretet, lasset alle Hoffnung fahren…“ Auch könnte man – eher humorvoll gestimmt – an jenen von John Cleese gespielten Basil („Basil the rat“) in der unsterblichen TV-Hotelserie „Fawlty Tower“ denken, der die hohe Kunst des Gästedüpierens zum Schreien komisch kultivierte.

Zurück zur weniger dramatischen, auch weitaus weniger komischen Realität. Die Gäste, bei denen die erwähnte Kellnerin gerade abkassiert, signalisieren uns, dass sie im Aufbruch begriffen sind und dass also der Tisch frei wird. Aber das nützt uns nichts. Und wir wollen hier auch gar nichts mehr zu uns nehmen.

Allerdings geben wir der Kellnerin noch leise zu verstehen, dass man eine Absage auch freundlicher vorbringen könne – und wenden uns zum Gehen. Da schimpft sie uns quer durch den Raum hinterher, hörbar für alle Gäste. Ein prachtvoller Stil. Auch aus der Küche ertönt eine Stimme „Was wollen Sie? Wir können nicht anbauen!“ Eigentlich erstaunlich, dass wir nicht auch noch Spießruten laufen müssen.

Und was will uns das sagen? Es war nicht einfach landläufige Unfreundlichkeit, wie sie gelegentlich überall vorkommen mag. Nein, es war eine spezifisch ostdeutsche Variante der von vornherein und allgemein Verbitterten, zudem ein Nachklang des uralten, grundsätzlich übellaunigen „Hammwa-nich! Krieg’n-wa-auch-nich!“

Soll man jetzt auch noch vermuten, dass diese rundweg ablehnende, gleichsam gepanzerte Haltung mit einer hohen Bereitschaft einhergeht, Fremde überhaupt erst einmal pauschal abzulehnen – je fremder, umso entschiedener? Was daraus weiterhin folgen könnte, möchte man sich indes lieber gar nicht ausmalen.




Island – das Wort der Stunde

Island ist das Wort und das Land dieser Tage. Fast niemand, der nicht die neueste Mode mitgemacht hätte, jeden Begriff mit einem angehängten „sson“ zu islandisieren.

Islands Kapitän Aron Gunnarsson, abgeknipst vom ZDF-Fernsehbild.

Islands Kapitän Aron Gunnarsson, heute abgeknipst vom ZDF-Fernsehbild.

Doch heute haben die sympathischen Nordländer bei der EM eine ehrenwerte 2:5-Packungsson (harrharr) gegen Frankreich kassiert und sind ausgeschieden. Schade, aber sicherlich auch verdient.

Die Zeiten, als das Wünschen – frei nach Peter Handke – noch geholfen hat, sind vorüber. Auch haben die Isländer ihre anfängliche Unbefangenheit verloren. Sie haben sich wohl aufs Gewinnenwollen versteift und sind dabei verkrampft. Es war zu erwarten.

Keine Gazette, die jetzt nicht ein Island-Special in ihre Spalten gerückt hätte. Beliebte Frage: Wie ticken die Wikinger? Naja. Jedenfalls wird man sich vor allem auch daran erinnern, wenn in zehn oder zwanzig Jahren von dieser EM noch einmal kurz die Rede sein sollte. War das nicht dieses Turnier mit den beherzt kickenden Trollen? Das, was bleiben wird, stiften die Geysire. Oder so ähnlich. Huh!

Es war ja auch ein schöner Traum. Erst haben sie in der EM-Qualifikation die Niederländer heimgeschickt. Dann haben sie bei dieser ansonsten oft so bräsigen EM den Favoritenschreck gegeben. Danke.

David gegen Goliath, das mag man allenthalben. Und ich bin ziemlich sicher: Auf dieses Island können sich insgeheim mancherlei politische Fraktionen einigen. Die Linke mag den Underdog, die Rechte die kernigen „Germanen“. Überschneidungen inbegriffen. So ungefähr. Oha!

Schon jetzt haben sich die Touristenzahlen des ehedem nur recht selten besuchten Eilands immens erhöht. Spätestens im nächsten Jahr dürfte auch so mancher Depp, der bislang nicht einmal die geographische Lage erahnt hat, aus bloßen Gründen des Trends dort einfallen. Arme Isländer. Man möchte schon jetzt um Entschuldigung bitten. Ballermann goes Reykjavik…




Film-Legende wird 100: „Vom Winde verweht“ machte Olivia de Havilland weltberühmt

Sie ist die älteste lebende Oscar-Preisträgerin und die letzte aus der „goldenen“ Zeit der Studios in Hollywood: Olivia de Havilland, heute zurückgezogen in Paris lebend, wird heute, am 1. Juli, 100 Jahre alt. Ihre Filme gemeinsam mit Errol Flynn haben sie einem breiten Publikum bekannt gemacht: Wer erinnert sich nicht an den männlich-feurigen Helden und die elegante Lady in „Unter Piratenflagge“ (1935), an die „Abenteuer des Robin Hood“ (1938) oder an Western wie „Land der Gottlosen“ (1940)? Ihr internationaler Durchbruch kam 1939 mit dem Technicolor-Farbfilm „Vom Winde verweht“ („Gone with the Wind“).

Olivia de Havilland (Publicity-Foto für den Film "Gone with the Wind" - "Vom Winde verweht" - MGM/EBay/Wikimedia Commons) - https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Olivia_de_Havilland_Publicity_Photo_for_Gone_with_the_Wind_1939.jpg

Olivia de Havilland (Publicity-Foto für den Film „Gone with the Wind“ – „Vom Winde verweht“ – MGM/EBay/Wikimedia Commons)

An der Seite von Stars wie Vivien Leigh (Scarlett O’Hara) und Clark Gable (Rhett Butler) spielte Olivia de Havilland die Rolle der sanften und menschenfreundlichen Melanie, der Ehefrau des von Scarlett vergötterten Ashley Wilkes (Leslie Howard). Das monumentale Südstaaten-Melodram, basierend auf einem Roman von Margaret Mitchell, kam erst 1953 in die deutschen Kinos. Er erhielt als erstes Werk in Farbe einen Oscar für den besten Film und ist bis heute – nach inflationsbereinigtem Einspielergebnis – der erfolgreichste Streifen aller Zeiten.

Auch Olivia de Havilland war für einen Oscar als beste Nebendarstellerin nominiert. Der ging jedoch an Hattie McDaniel. Olivia de Havilland erinnerte sich in einem Interview, dass sie an dem Abend an Gott gezweifelt habe. Aber angesichts der historischen Bedeutung (McDaniel in der Rolle der Mammy war die erste afroamerikanische Schauspielerin, die einen Oscar erhielt), schien ihr die Niederlage nicht mehr so dramatisch. „Eines Morgens wachte ich auf und dachte: ‚Es ist wunderbar, dass Hattie den Preis bekommen hat!‘ Eine Welt, in der statt mir eine afroamerikanische Darstellerin einen Oscar bekommen kann, ist mir lieber.“ So sagte sie dem „Spiegel“ mit 88 Jahren, als 2004 die aufwändige DVD-Box „Vom Winde verweht“ erschien.

Rivalität unter Schwestern

Die Jubilarin ist nicht als einzige aus ihrer Familie berühmt geworden: Der Erfinder des „Mosquito“-Jagdflugzeugs, Geoffrey de Havilland, war ein Cousin ihres Vaters, des in Tokio arbeitenden Patentanwalts und Englischprofessors Augustus de Havilland. Olivias 1917 geborene Schwester Joan Fontaine wurde 1940 mit Alfred Hitchcocks „Rebecca“ prominent.

1942 waren beide Schwestern für einen Oscar in der Hauptrolle eines Films nominiert: Olivia für „Das goldene Tor“ („Hold Back the Dawn“), ein romantisches Drama von Mitchell Leisen; Joan für den Hitchcock-Thriller „Verdacht“ („Suspicion“). Als ihre 23-jährige Schwester ausgezeichnet wurde, soll Olivia de Havilland generös reagiert haben, sie sei aber sehr verletzt gewesen, als Joan Fontaine ihre Gratulation brüsk ablehnte. Der Konflikt zwischen den Geschwistern war ein Dauerbrenner unter den Klatschgeschichten in Hollywood. Er hatte den Biographen zufolge aber schon Wurzeln in der frühen Kindheit. So schrieb Olivia mit neun Jahren in ihr Testament, sie vermache all ihre Schönheit ihrer jüngeren Schwester, da diese selbst keine besitze.

De Havillands Mutter, Lillian Fontaine, war eine Schauspielerin und erzog ihre Töchter auf das Theater hin. Mit sechzehn Jahren trat Olivia erstmals in „Alice im Wunderland“ bei einem Amateurtheater auf. Einige Zeit später spielte sie Puck in „Ein Sommernachtstraum“ in Saratoga, wo sie aufgewachsen war.

Max Reinhardt erkannte ihr Talent und verpflichtete sie für seine Theaterproduktion von Shakespeares Stück. Die Verfilmung der Reinhardt-Inszenierung 1935 mit Olivia de Havilland als Hermia brachte ihr mit 19 Jahren einen Vertrag mit dem Studio von Warner Brothers ein. Noch im selben Jahr machte sie der Film „Unter Piratenflagge“ („Captain Blood“) zu einer Berühmtheit. Mit Errol Flynn bildete sie das Traumpaar des damaligen Hollywood-Films. Bis 1941 („Sein letztes Kommando“) sollten weitere acht Filme mit dem gefeierten männlichen Hollywood-Star folgen.

Zweimal „Oscar“

1944 erwirkte die Schauspielerin ein für die amerikanische Unterhaltungsindustrie bedeutsames Urteil: Es erklärte die bis dahin geübte Praxis für illegal, Verträge automatisch zu verlängern, wenn die Schauspieler suspendiert waren, weil sie eine Rolle abgelehnt hatten. De Havilland erstritt damit eine größere Freiheit der Darsteller gegenüber den Studios. Sie selbst konnte nun ohne feste Bindung an ein Studio arbeiten und sich ihre Rollen passender aussuchen.

Zuvor hatte Warner versucht, sie auf den eher eindimensionalen Typ der hübschen, begehrten Frau festzulegen. De Havilland dagegen interessierte sich für komplexere Charakterrollen, die sie dann ab 1945, zunächst in zwei Filmen für Paramount, auch ergattern konnte. In dieser Zeit las sie die Autobiographie von Konstantin Stanislavsky und eignete sich die Methode des russischen Theatermanns an.

„Gone with the Wind“ war der Start dieser Karriere in anspruchsvolleren Rollen, die ihrer disziplinierten und ausdrucksstarken Schauspielkunst angemessen waren. Dazu gehört das vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs spielende Drama „Mutterherz“ („To Each His Own“), für das sie 1947 ihren ersten Oscar als „beste Schauspielerin“ erhielt. Den zweiten erhielt sie 1950 für „Die Erbin“ („The Heiress“).

Bei den Internationalen Filmfestspielen in Venedig wurde sie 1949 für „Die Schlangengrube“ („The Snake Pit“) ausgezeichnet. Mit „Der schwarze Spiegel“ („The Dark Mirror“) von Robert Siodmak, einem Schwarz-Weiß-Psychothriller, begann eine Serie von Engagements, in denen sie zwielichtige, exzentrische und unheimliche Charaktere verkörperte – etwa in „Die Schlangengrube“ (1948), „Meine Cousine Rachel“ (1952) oder – ihr letzter überragender Erfolg – „Wiegenlied für eine Leiche“ („Hush … Hush, sweet Charlotte“) von Robert Aldrich, an der Seite der von ihr sehr verehrten Bette Davis.

De Havillands letzter Kinofilm war 1979 „Das Geheimnis der eisernen Maske“ („The Fifth Musketeer“); seit den sechziger Jahren hatte sie jedoch mit der Western-Serie „Big Valley“ auch eine Fernsehkarriere begonnen. Sie führte in den Achtzigern noch einmal zu Erfolgen wie in dem Film „Anastasia“ über die geheimnisvolle Anna Anderson, die beanspruchte, die Tochter von Zar Nikolaus II. zu sein. Für die Darstellung der russischen Ex-Zarin Maria Feodorovna bekam sie einen Golden Globe.

1988 zog sich Olivia de Havilland nach „König ihres Herzens“ von Bühne und Studio zurück. Ihren 100. Geburtstag, so erklärte die gläubige Christin im letzten Jahr, könne sie kaum erwarten. Jetzt peile sie die 110 an, sagte sie der Zeitschrift „Entertainment Weekly“. Auf ihre neue Autobiografie, an der sie nach eigenem Bekunden arbeitet, wird man gespannt sein dürfen.

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Näheres zu den Bildrechten am Foto zu diesem Beitrag: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Olivia_de_Havilland_Publicity_Photo_for_Gone_with_the_Wind_1939.jpg




In Gelsenkirchen Federn lassen: Die Kissenschlacht als (beinahe) neuester Schrei

Leute! Ihr seid in Disco-Schaumbädern versunken. Ihr habt euch über und über mit Farbe bepulvert – und was des Kitzels mehr war. Aber vergesst das alles. Schleunigst. Denn jetzt kommt der ultimative Kick, und der heißt:

Kissenschlacht !!!

Jetzt guckt ihr etwas enttäuscht und murmelt vielleicht, das sei doch ein Vergnügen aus Urgroßmutters Zeiten. Aber ihr ahnt ja gar nicht, wie krass das sein kann. Ihr habt ja noch nichts vom „Frau-Holle-Festival“ gehört, das am 2. Juli im Gelsenkirchener Amphitheater die hedonistisch enthemmten Massen begeistern soll. Ausgerechnet Gelsenkirchen…

Vielleicht doch nicht mehr ganz so neu? Diese öffentliche Kissenschlacht begab sich jedenfalls anno 2010 in Warschau. (Foto: Kuba Bozanowski from Warsaw, Poland - Wikimedia-Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/)

Vielleicht doch nicht mehr ganz so neu? Diese öffentliche Kissenschlacht begab sich jedenfalls anno 2010 in Warschau. (Foto: Kuba Bozanowski from Warsaw, Poland – Wikimedia Commons, Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/)

Voll des anspielungsreichen Sprachwitzes, lässt der Regionalverband Ruhr (RVR) in seinem Nachrichtendienst idr wissen, beim besagten Festival müssten „die Besucher Federn lassen“.

Tatsache ist wohl, dass DJs (wer sonst?) elektronische Tanzmusik (was sonst?) auflegen werden und es dazu im Publikum „gigantische“ Kissenschlachten geben soll. Wir zitieren: „Und damit die Federn so richtig fliegen, werden sie regelmäßig aus Kanonen abgefeuert.“ Ob man sich auch mit Wattebäuschen bewerfen wird, ist noch nicht heraus.

Um es passend altmodisch zu sagen: Heißa, das wird ein Hauptspaß!

Denn was gibt es da nicht noch alles: Eine Gauklerbühne (was sonst?), „mittelalterliche“ Musik (was sonst?), eine Märchenbühne und ein Märchenspiel (bilingualer Titel: „Escape the Märchenwald“). Mit anderen Worten: Es ist offenbar das soundsovielte Festival, das sich an den erstaunlich langlebigen „Mittelalter“-Trend hängt und selbigen Aufguss mit Elektro-Pop und Märchen verrührt. Das mit dem Abspielen der „altertümlichen“ Musik sehen die Veranstalter freilich als Novum an: „Mit Sicherheit etwas Besonderes und mal was anderes“. Aha.

Auf der Festival-Homepage spricht „Frau Holle persönlich“, beispielsweise so wundersam authentisch: „Hier habe ich mich mit meinen Waldgeistern zusammengetan…“ Oder: „Mit dabei sind natürlich auch meine Gauklerfreunde aus dem fernen Nordland.“ Klar, dass auch die Besucher möglichst verkleidet erscheinen sollen. Bloß raus aus der unübersichtlichen Gegenwart mit Wahnwitz-Kapitalismus, Flüchtlingskrise(n), Terror und Brexit.

Auf dem Gelände gilt folglich nicht der schnöde Euro, sondern man zahlt mit Silber- und Kupfertalern, für die man allerdings zuvor Euros ausgegeben hat. Frau Holle weiß auch schon, wie man sie nutzbringend verwenden soll: „…kostet von meinen Speisen und eiskalten Getränken.“ Außerdem lässt sie („in meiner kleinen Manufaktur“ – ach, wie süß!) Entenfeder-Kissen sonder Zahl herstellen – „extrem umweltfreundlich und biologisch abbaubar“, versteht sich. Schade nur, dass nicht auch sprachlicher Unrat biologisch abbaubar ist.

Apropos Kissen. In der Märchenwald-Regel Nummer 6 wird klargestellt: „Die Kissen dürfen nicht mit voller Wucht auf eine Person geschlagen werden.“ Kissenschlacht light also, gewaltfrei und womöglich nachhaltig.

Frau Holle kennt sich übrigens auch mit den Finten der Juristerei aus. Regel 5 lautet: „Sobald mein Festplatz betreten wird, gilt mein Foto- und Videorecht. Das bedeutet: sämtliches Material von dir darf ich für Werbe- und Promotionszwecke nutzen…“

Och. Das hört sich ja plötzlich gar nicht mehr so altfränkisch an.

www.frau-holle-festival.de




Was man mit 1 Million Euro anfangen kann – zum Beispiel viele Menschen ins Museum holen

Kürzlich hat die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung auf einer ganzen Seite die Frage abgehandelt, was sich mit 1 Million Euro auf dem deutschen Immobilienmarkt anfangen ließe.

Gut ausgeschildert: freier Eintritt in die Sammlung. (Foto: © Museum Folkwang, 2016)

Weithin sichtbar ausgeschildert: freier Eintritt in die Sammlung. (Foto: © Museum Folkwang, 2016)

Befund: In abgelegenen Ecken Brandenburgs könnte man damit ein repräsentatives Anwesen erwerben, in Münchens gefragtesten Vierteln mitunter nur noch eine 70-Quadratmeter-Wohnung. Verrückt.

Man kann aber besagte Million auch ganz anders verwenden, nämlich nutzbringend für die Allgemeinheit. Just diesen Betrag hat die Krupp-Stiftung zur Verfügung gestellt, um im Essener Museum Folkwang fünf Jahre lang kostenfreien Zutritt zur ständigen Sammlung zu ermöglichen.

Vor ziemlich genau einem Jahr (19. Juni 2015) hat die löbliche Aktion begonnen. Wie jetzt bekannt wird, zeigt sie erwartungsgemäß ordentlich Wirkung. Denn seitdem und bis vorgestern haben exakt 103 763 Menschen das Angebot angenommen, das entspricht einer Steigerung der Besucherzahl um 141 Prozentpunkte. Bei Kindern betrug der Besucherzuwachs sogar exorbitante 186 Prozentpunkte.

Es gehört zur angenehmen Routine, dass sich angesichts solch erfreulicher Zahlen sowohl der Musumsdirektor (Dr. Tobia Bezzola) als auch die Kuratoriumsvorsitzende der Krupp-Stiftung (Prof. Ursula Gather, zugleich Rektorin der Dortmunder Uni) sehr angetan äußern. Wie auch sonst?

Und tatsächlich. Das ist mal ein kultureller Lichtblick. Weiß man, was vor allem bei Kindern die frühzeitige Berührung mit den Künsten fürs spätere Leben anstiftet? Man ahnt es ja und hofft das Beste.

Und die 70-Quadratmeter-Behausung in bester Münchner Lage? Soll kaufen, wer da will (und kann). Sympathie wird so jedenfalls nicht erworben.




Als es im Ruhrgebiet noch Arbeiterschriftsteller gab – vier Skizzen aus persönlicher Sicht

Unser Gastautor Heinrich Peuckmann mit einer persönlichen Betrachtung über Begegnungen mit Arbeiterschriftstellern des Reviers:

1. Richard Limpert

Warum Richard Limpert aus Gelsenkirchen bei seinen Straßenlesungen ein Megaphon benutzt hat, habe ich nie verstanden. Mit donnernder Stimme trug Limpert seine Agitpropgedichte vor, in denen es immer um die Verbesserung der Arbeitsbedingungen in den Fabriken und unter Tage ging. Er war auch ohne technische Unterstützung in der gesamten Fußgängerzone zu hören.

In Unna, während einer Landesversammlung des Schriftstellerverbandes, hielt er mal eine solche Lesung, stand oben am Markplatz und war sicher noch die Bahnhofstraße hinunter bis zum Rathaus zu hören. Wir anderen, die an verschiedenen Stellen der Straße lesen sollten, konnten unsere Texte getrost in der Tasche behalten und ihm das Terrain überlassen.

Heute, wenn auf immer neue Rekordmarken bei der Arbeitslosigkeit mit immer neuem Sozialabbau geantwortet wird, sollte wieder einer wie Limpert das Wort ergreifen, denke ich. Aber diesen Typus an Arbeiterschriftstellern gibt es nicht mehr.

"Schichtenzettel" mit Texten von Richard Limpert, Josef Büscher und Kurt Küther erschien 1969 in Oberhausen im Selbstverlag.

„Schichtenzettel“ mit Texten von Richard Limpert, Josef Büscher und Kurt Küther erschien 1969 in Oberhausen im Selbstverlag.

„Rili“, wie wir ihn nannten, hatte kein Auto. Er kam immer mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu den Veranstaltungen und hat dabei einmal eine unglaubliche Leistung vollbracht. Er ist nämlich zu einer Thekenlesung nach Bergkamen mit dem Zug gekommen. Nicht, dass es Bergkamen keinen Bahnhof gäbe, so ist es nun auch wieder nicht. Er befindet sich weit abgelegen neben einem Naturschutzgebiet. Güterzüge fahren vorbei, aber kaum jemals ein Personenzug. Ich glaube, die Strecke war schon damals für den Personenverkehr vollständig still gelegt.

Irgendwie hatte es Limpert trotzdem geschafft, mit dem Zug anzureisen. Vielleicht war er in einem Postwagen mitgefahren und der Zug hatte nur ausnahmsweise und ausschließlich für ihn in Bergkamen gehalten, ich weiß es nicht mehr. Da stand er nun mutterseelenallein auf dem dunklen Bahnhof und konnte weit und breit keinen Menschen entdecken. Rili muss sich gefühlt haben wie in einem Gruselfilm und hinter jeder dunklen Ecke den Mörder vermutet haben.

In einem Wohnhaus in der Nähe hat er schließlich geklingelt, eine Frau hat ihm geöffnet und sich mindestens so sehr über seine Ankunft mit dem Zug gewundert wie Rili über den Bergkamener Bahnhof. Sie rief ihm ein Taxi, mit dem Rili pünktlich zur Lesung kam und mich verwundert fragte, was das denn für ein Bahnhof sei. Ich glaube, so richtig erklären, dass dort niemand mehr aussteigt, konnte ich es ihm nicht.

Die Lesung (Rili hinter der Theke und die Arbeiter von „Monopol“ davor) war dann aber wirklich gut. Die Arbeiter verstanden, dass da einer von ihnen zu ihnen sprach, einer, der aus eigenem Erleben kannte, was er aufgeschrieben hatte.

Rili war ein verträglicher Mann, aber einmal hat er mich doch ausgeschimpft. Horst Hensel hatte den Schulroman „Aufstiegsversagen“ veröffentlicht, in dem ein Arbeiterdichter vor einer Schulklasse auftritt, Fragen der Schüler beantwortet und etwas zu seinem Literaturverständnis erzählt. Der Autor hieß „Milpert“, dreht man die drei ersten Buchstaben um, weiß man, an wen Hensel beim Schreiben gedacht hat.

In Horst Hensels Buch "Aufstiegsversagen" kam Richard Limpert als Figur "Milpert" vor.

In Horst Hensels Buch „Aufstiegsversagen“ (Weltkreis-Verlag, Dortmund) kam Richard Limpert als Figur „Milpert“ vor.

Wir trafen uns einige Zeit nach der Romanveröffentlichung bei einer Buchvorstellung in der Gelsenkircher Bücherei. „Sieben Häute hat die Zwiebel“ hieß die Anthologie, in der wir alle mit Texten vertreten waren. Es gab ein Buffet, wir standen mit dem Teller in der Hand in einer Schlange, Rili vor, Hensel hinter mir.

Plötzlich drehte sich Limpert um, entdeckte mich und fing sofort an zu schimpfen. So blöde sei er nicht, wie ich das behaupten würde, rief er, er könne schon vernünftig auf Schülerfragen antworten. Außerdem würde er über Literatur ganz anders denken, als ich das geschrieben hätte, das hätte er oft erklärt usw. Ich war anfangs sprachlos, bis ich endlich kapierte. „Mensch Richard!“, rief ich, „bist du wahnsinnig! Das war ich doch gar nicht. Das Buch hat doch der Hensel geschrieben.“ Aber Rili ließ sich nicht beirren, schimpfte weiter, bis sein Ärger verraucht war, erkannte dann hinter mir Hensel, lächelte plötzlich freundlich und gab ihm die Hand. „Mensch Horst“, sagte er, „wie geht`s dir.“

Nach seiner Attacke war Limpert übrigens auch wieder zu mir freundlich. Langen Streit konnte er nicht vertragen.

Bei der Landesversammlung des Schriftstellerverbands in Unna hat Rili mal eine unvergessliche Rede gehalten. Es ging hoch her beim Streit um die richtige Verbandsarbeit, als Rili plötzlich erregt das Wort ergriff, aber leider vergaß, dass er sein Gebiss in die Jackentasche gesteckt hatte. Seitdem weiß ich, wie viel Zischlaute es in der deutsche Sprache gibt. Wir waren einen Moment erstaunt, lachten dann, und die Situation war nach Rilis Rede wieder entspannt. Es war übrigens sachlich alles richtig, was Rili erregt und ohne Zischlaute eingeworfen hatte.

Später, ein paar Jahre nach seinem Tod, gab es eine kleine anrührende Szene. Mein kleiner Sohn, damals in der Grundschule, kam zu mir und sagte ein Gedicht auf, das er auswendig lernen musste. Es war ein Gedicht über das Meer, einfach über Nordsee, ganz ohne Agitprop, und es gefiel mir gut. „Rate mal, wer es geschrieben hat?“, fragte er mich. Ich wusste es nicht. Es war von Rili. Da fiel mir auf, wie lange ich nicht mehr an ihn gedacht hatte. Und dass seine Literatur auch Facetten hatte, die ich noch nicht kannte.

2. Rudolf Trinks

Der Bergkamener Rudolf Trinks gehört nicht zu den bekannten Arbeiterdichtern. Er hat auch wenig veröffentlicht, trotzdem war er eine Zeitlang wichtig für die Dortmunder Werkstatt im Werkkreis Literatur der Arbeitswelt. Trinks war Bergmann und füllte angesichts der vielen Studenten, zu denen auch ich gehörte, die Arbeiterlücke in der Gruppe wenigstens halbwegs auf.

Trinks war ein bescheidener Mann, immer kooperativ, hatte einen ganz stillen Humor und hielt sich gerne im Hintergrund. Einmal war er aber ganz gefordert, und diese Situation hat er glänzend gemeistert.

Wir hatten in Bergkamen mit einer Reihe von Thekenlesungen begonnen. Wenn die Arbeiter nicht zur Literatur kommen, kommt die Literatur eben zu den Arbeitern, war unsere Überlegung. Dieter Treeck, damals Kulturdezernent in Bergkamen, hatte die Idee dazu gehabt. Bei der ersten Lesung in dieser Reihe sollte auch Trinks zwei Erzählungen lesen. Geschichten aus dem Bergbau mit dem Titel „Montags morgens, sechs Uhr, Seilfahrt“, wie sie zu Bergkamen passten.

Was wir nicht beachtet hatten, war die Einstellung der Arbeiter, die am Freitagabend in Ruhe ihr Bier trinken und sich daran nicht von irgendwelchen Schreibern hindern lassen wollten. Eine Mikrophonanlage war hinter der Theke aufgebaut worden, Dieter Treeck wollte die Kneipengäste begrüßen, aber es blieb laut in der Kneipe, niemand machte Anstalten, zuzuhören. Unser schöner Versuch schien schon im Ansatz zu scheitern.

Da trat Rudolf Trinks ans Mikrophon, den die meisten Gäste als ihren Arbeitskumpel kannten. „Nun seid mal alle stille!“, sagte er ins Mikrophon. Und tatsächlich verstummten die Leute nach und nach und Trinks begann zu lesen. Er war es, der den Versuch gerettet hat, der sich später zu einer erfolgreichen Lesereihe entwickeln sollte. Meist war ja noch eine Songgruppe engagiert worden, die zwischen den Textlesungen auftrat und manche Veranstaltung später endete mit dem lauten Absingen von Arbeiterliedern.

Eine Zeitlang hatten wir sogar eine kleine Fangruppe, die zu allen Thekenlesungen kam, egal, ob sie in ihrer Stammkneipe stattfand oder anderswo. Und mit der Zeit wurde manche von diesen Zuhörern selbst richtig „literarisch“. Der Göttinger Schriftsteller Manfred Laurin las mal in Bergkamen. „Ich trage jetzt ein paar Gedichte aus meinem neuen Gedichtband vor“, sagte er und fügte stolz hinzu: „Das Buch habe ich selbst verlegt.“ „Hoffentlich hast du es auch wiedergefunden“, antwortete einer der Zuhörer. Laurin, sonst ein begnadeter Spötter über alles Mögliche, konnte darüber gar nicht lachen. Bei seiner eigenen Person hörte der Spott auf.

Trinks wohnte im Begkamener Stadtteil Weddinghofen, in direkter Nachbarschaft zu Hans Henning (genannt „Moppel“) Claer. Der war nun wirklich bekannt, und wenn sich auch mancher nicht mehr an seinen Namen erinnert, so sind doch die Titel seiner Bücher, die alle verfilmt wurden, unvergessen: „Lass jucken, Kumpel“, „Das Bullenkloster“, „Bei Oma brennt noch Licht“. Trinks hat Claers schlüpfrige Darstellung der Arbeitswelt immer abgelehnt. Ich glaube, die beiden haben kaum je ein Wort miteinander gewechselt, obwohl sie fast Haus an Haus wohnten.

Im November bzw. Dezember 2002 sind Trinks und Claer nahezu gleichzeitig gestorben, Trinks hat noch bis kurz vor seinem Tod geschrieben, aber nichts mehr veröffentlichen können. Claer war fast 15 Jahre lang durch einen Schlaganfall bettlägerig und zum Schluss ein Pflegefall.

Thekenlesungen gibt es schon lange nicht mehr. Vielleicht sind die „Poetry Slams“ der zeitgemäße Ersatz, bei dem es aber nicht mehr um politische Aufklärung, sondern weitgehend um „fun“ geht.

3. Emanuel Schaffarczyk

Der Dortmunder Emanuel Schaffarczyk ist längst vergessen. Er war für die Dortmunder Werkstatt in der Anfangsphase sehr wichtig. Viel wurde damals ideologisch diskutiert. Wir vollzogen die Brecht-Lukacs-Debatte nach, wobei ich, dies nebenbei, immer für den gut erzählten, realistischen Roman im Sinne von Lukacs war, ohne freilich dessen „Formalismuseinschränkung“ zu teilen.

Emanuel Schaffarczyks Buch "Als Fußlapp in der Klemme saß" (mit Illustrationen von Gisela Degler-Rummel) in einer Ausgabe von 1975.

Emanuel Schaffarczyks Buch „Als Fußlapp in der Klemme saß“ (mit Illustrationen von Gisela Degler-Rummel) in einer Ausgabe von 1975.

Schaffarczyk war von diesen Diskussionen unberührt, er wollte schreiben und er schrieb. Fast zu jeder Sitzung brachte er eine neue Geschichte mit, in der er die Charaktere stimmig aus der Handlung und dem geschilderten Umfeld heraus entwickelte. Seine Texte hatten Atmosphäre, ich weiß, dass ich jedesmal sehr aufmerksam lauschte, wenn er sie vorlas, weil ich das Gefühl hatte, von Schaffarczyk lernen zu können. Geschickt baute er die Beschreibung der Natur in die Handlung ein, hatte einen Blick für Details und erinnerte mich jedesmal daran, warum ich eigentlich in die Werkstatt gekommen war. Es sollte doch um Literatur gehen, freilich um realistische. Dass die Werkstatt Dortmund später zu den führenden „literarischen“ Werkstätten im Werkkreis gehörte, ist Schaffarczyks beharrlichem Verlangen zu danken, dass bei jeder Sitzung Texte besprochen werden sollten.

Allerdings neigte er zur Idylle (wie so manche Arbeiterdichter), die nach seiner Textvorstellung immer wieder zu Diskussionen in der Gruppe Anlass gab.

Irgendwann saßen wir im jugoslawischen Restaurant direkt gegenüber vom Dortmunder Hauptbahnhof. Wir sprachen lange miteinander. „Du willst doch auch schreiben“, sagte er, „lass uns nicht immer diese langweiligen ideologischen Diskussionen führen. Immer diese Politik.“ Irgendwann blieb er weg. Ein Verlust, sicher, vor allem für den literarischen Anteil unserer damaligen Arbeit.

Schaffarczyk hatte ein Ziel. Als ehemaliger Schlosser wollte er seinem Enkelkind ein richtiges, von ihm geschriebenes Buch hinterlassen. Das war sein Traum. Er hat ihn verwirklicht. Drei Bücher sind von ihm erschienen, das dritte, glaube ich, war aber ein verkappter Eigendruck. „Als Fußlapp in der Klemme saß“, ein Jugendbuch, ist aber im damals bekannten Dortmunder Schaffstein-Verlag erschienen und fand in einigen Rezensionen weit über die Stadt hinaus Beachtung. Ich glaube, Paul Polte hatte ihm den Kontakt vermittelt.

4. Kurt Piehl

Kurt Piehl habe ich erst nach meiner Werkkreiszeit kennen gelernt. Ich war damals Sprecher der VS-Bezirksgruppe Dortmund/Südwestfalen, als er dazu stieß. Er wohnte in Bergkamen, kam zu unseren Treffen in Dortmund mit dem Zug angereist, bei der Rückfahrt habe ich ihn oft mitgenommen und an der Oberadener Jahnstraße, wo er an einer Kreuzung wohnte, abgesetzt.

Wer etwas über die Edelweißpiraten erfahren will, jene Widerstandsgruppe, die im Dortmunder Norden und in anderen Städten eine freie Jugendkultur gegen die Naziideologie setzte, muss Piehls Bücher lesen. „Latscher, Pimpfe und Gestapo“, sein erstes, ist auch sein wichtigstes. Lieber wollten Jugendliche wie Kurt Piehl „rumlatschen“ als für die Nazis marschieren, sie schwänzten die HJ-Veranstaltungen und gerieten mehr und mehr, nicht durch heimlich operierende Organisationen, sondern vielmehr aus eigenem, spontanen Antrieb heraus, in Opposition zu Hitler. Im Grunde sind die „Latscher“ so etwas wie die proletarische Antwort auf die bürgerlichen „Flaneure“, wie sie in den Zwanziger Jahren in der Literatur so modern waren.

Kurt Piehls Buch "Latscher, Pimpfe und Gestapo", erschienen bei Brandes & Apsel.

Kurt Piehls Buch „Latscher, Pimpfe und Gestapo“, erschienen bei Brandes & Apsel.

Einige der Edelweißpiraten haben, erst sechzehn- oder siebzehnjährig, ihre Einstellung mit dem Leben bezahlt. Sie wurden hingerichtet. Piehl wurde auch gefasst und in die berüchtigte Dortmunder Steinwache gesteckt, in der vor ihm, in den Dreißiger Jahren, auch Paul Polte gesessen hatte. Piehl wurde schwer misshandelt, wovon die tiefen Narben in seinem Gesicht zeugten. Er hat über diese Misshandlungen nicht reden können, weder mit seiner Frau noch mit seiner Tochter Gabriele, die eine Schulfreundin von mir war. Er hat sich hingesetzt und aufgeschrieben, was ihm angetan worden war. Irgendwann hat ihn seine Tochter darauf angesprochen. „Ist das eine Biographie, die du da schreibst?“ Kurt Piehl hat nur genickt.

Über den Dortmunder Geschichtsprofessor Hans Müller kam das Manuskript zu Horst Hensel, der für Piehl einen Verlag besorgte, Brandes & Aspel. Dort sind noch zwei weitere Bücher erschienen, die das Schicksal der Edelweißpiraten nach dem Krieg schilderten. Jener brutale Quäler, der Piehl misshandelt hatte, ist später nach dem Krieg nicht zur Rechenschaft gezogen worden, ein Vorgang, der Piehl verbittert hat. Piehl war Arbeiter in einem Baugeschäft und aktiv in der IG Bau, Steine, Erden, die seine Publikationen gefördert hat.

Wie Rudolf Trinks war er ein stiller Kollege, der selten das Wort ergriff, der die VS-Bezirksgruppe aber einmal zu einer Führung durch die Steinwache einlud und uns dort anschaulich erzählte, wie die Gefangenen unter den Nazis misshandelt wurden.

1994 folgte er seiner Tochter nach Schleswig-Holstein, zog in die Nähe von Lübeck, wo er im Jahre 2000 gestorben ist.

Eine meiner Kolleginnen am Städtischen Gymnasium Bergkamen hat im Rahmen einer Projektwoche sein Leben und seine Literatur aufarbeiten lassen. So gab es noch mal einiges an Aufsehen, Zeitungsartikel erschienen und Piehls Bücher wurden wenigstens von einigen wieder gekauft.

Jahre später hat auch die Stadt auf ihn und seine Literatur reagiert und eine kleine Straße nach ihm benannt. Zur Eröffnung der „Kurt-Piehl-Straße“ durch den Bürgermeister bin ich eingeladen worden und habe bei dieser Gelegenheit Kurt Piehls Tochter, meine frühere Schulfreundin Gabriele, nach mehr als vierzig Jahren wiedergesehen.

Die Straße liegt in unmittelbarer Nähe zum KZ in Bergkamen. Dort, im Oberlinhaus, das heute von der freikirchlichen Gemeinde genutzt wird, sind 1933 für ein Jahr über tausend politische Häftlinge von den Nazis eingesperrt und misshandelt worden. Auch ein Peuckmann war darunter, wie ich mal in einer Liste entdeckt habe. An die Nazis erinnert nur eine Gedenktafel, die den Abscheu der Bergkamener vor den verbrecherischen Taten ausdrückt. An Kurt Piehl, ihren jugendlichen Gegner, aber erinnert eine ganze Straße.




Er war (und bleibt) wirklich der Größte – zum Tod des legendären Boxers Muhammad Ali

Cassius Marcellus Clay jun. – Nachgeborenen besser als Muhammad Ali bekannt -, dessen lautsprecheriges „I am the greatest!“ noch heute wie der Schrei einer Graugans gegen ein kleingeistiges und doch so übermächtiges Establishment in meinen Ohren klingt, ist tot.

„I am the greatest“ ließ er jeden vor seinen Kämpfen wissen, und hernach wiederholte er sein Credo auf die eigene Kraft, so als wollte er beweisen, dass er doch wieder einmal recht hatte.

Höchst selbstbewusst: Muhammad Ali im Jahre 1967. (World Journal Tribune Collection - Library of Congress, Foto Ira Rosenberg - Wikimedia Commons)

Höchst selbstbewusst: Muhammad Ali im Jahre 1967. (World Journal Tribune Collection – Library of Congress, Foto Ira Rosenberg – Wikimedia Commons)

Der Mann, der die bis dahin geltende Regel des „They never come back“ (Ausnahme Floyd Patterson) im Profi-Boxsport gleich dreimal außer Kraft setzte, der 1960 in Rom die Olympische Goldmedaille im Schwergewicht holte, der 56 seiner Profi-Kämpfe gewann und davon 37 durch Knockout (manche so schnell, dass der Kampf schon beendet war, ehe man schlaftrunken den Fernseher einschaltete), dieser Cassius Clay ist am 3. Juni 2016 in einem Krankenhaus in Scottsdale (Arizona) gestorben. 1984 war bei dem „Sportler des Jahrhunderts“ (Wahl des IOC) die Erkrankung am Parkinson-Syndrom diagnostiziert worden. Akut litt er an Atemnot, die im Hospital behandelt wurde.

Kriegsdienst in Vietnam verweigert

Muhammad Ali und seine Bedeutung für die amerikanische Gesellschaft allein aufs Sportliche zu reduzieren, empfände ich als unangemessen. Mitten in der Zeit emanzipatorischer Auseinandersetzungen zwischen Bürgerrechtlern und Rassisten wurde der schlaksige Jüngling Olympiasieger. Mitten in die übelste Phase des Vietnamkrieges fiel sein schier unaufhaltsamer Aufstieg im Profigeschäft. Mitten in diesen Aufstieg des Cassius Marcellus Clay, den seine Eltern nach einem mutigen Politiker und Gegner der Sklaverei nannten, verweigerte er die Ableistung des Kriegsdienstes, was ihm das abrupte Ende seines Aufstiegs einbrachte. „Nein, ich werde nicht 10.000 Meilen von zu Hause entfernt helfen, eine andere arme Nation zu ermorden und niederzubrennen, nur um die Vorherrschaft weißer Sklavenherren über die dunkleren Völker der Welt sichern zu helfen.“ Klare Worte des als großmäulig berüchtigten Ali.

1967 wurde ihm der Weltmeistertitel aberkannt. Schon 1964, nach dem legendären Sieg gegen Sonny Liston, war er zum Islam konvertiert, war Muhammad Ali geworden.

Aber er kam wieder. Blieb seiner eigenen Unverwüstlichkeit treu. Ließ sich und seine Überzeugungen nicht durch staatsgewaltige Eingriffe in den Sport und dessen emanzipatorische Einflüsse auf die Stimmungen einer Gesellschaft bremsen. Cassius Marcellus Clay, dieser Name gefiel mir immer besser und er blieb kennzeichnend für sein Leben und seine Nachwirkungen, er holte sich seine Titel zurück. Wollte 1980 sogar das vierte Comeback erreichen. Sein früherer Sparringspartner Larry Holmes war der Gegner. Doch der war für den von der Krankheit schon Gezeichneten nicht mehr zu bezwingen. Ein Jahr später schlug der letzte Gong gegen Trevor Berbick, ein „Drama auf den Bahamas“ sollte es werden, aber es wurde das nur selten vom begnadeten boxerischen Können unterbrochene Ende einer glanzvolle Karriere – Niederlage nach Punkten.

An zweierlei Szenen mag ich mich erinnern, wenn ich an ihn denke. Das Bild, das ihn nach dem „Rumble in the Jungle“ in Kinshasa zeigt, atlethisch und kraftvoll über den völlig erschöpften George Froreman gebeugt. Und das bei der Eröffnung der Olympischen Spiele 1996, als der hinfällige Gigant in Atlanta die Flamme entzündet, die Hände sichtbar vom Tremor gezeichnet, aber ein Bild, das die Unbeugsamkeit spiegelt, die Muhammad Ali auszeichnete.

Er war und bleibt „der Größte“.




Flüchtlingsthema ungeahnt lustig – Mülheimer Stücketage suchen besten Theatertext

Foto: Ute Langkafel/Maifoto/Stücke2016

Szene aus „Situation“ (Foto: Ute Langkafel/Maifoto/Stücke2016)

Dass das Gegenwartstheater unpolitisch sei, kann man eigentlich nicht behaupten. Vor allem nicht, wenn es um das Thema Flüchtlinge oder Migration geht.

In der letzten Zeit habe ich einige Inszenierungen gesehen, die sich künstlerisch mit der Einwanderung nach Europa auseinandergesetzt haben. Nun eröffneten auch die Mülheimer Theatertage „Stücke“, die bereits zum 41. Mal auf der Suche nach dem besten Theatertext des Jahres sind, mit Yael Ronens „Situation“ vom Maxim-Gorki-Theater in Berlin.

Was soll ich sagen? Das war mit Abstand das lustigste Stück zum Thema Einwanderung, das mir bisher untergekommen ist. Politisch, natürlich, aber dazu noch witzig, ironisch, leicht und ein wenig anarchistisch. Ohne oberflächlich zu sein, nimmt die israelische Regisseuren Ronen die kulturellen Kuriositäten, Vorurteile und Marotten der verschiedenen Nationalitäten auf die Schippe – einschließlich der deutschen. Dabei bedient sich die Inszenierung vielfältiger Sprachen, wovon Deutsch nur eine ist.

Die Teilnehmer eines Deutschkurses sprechen hebräisch, arabisch und ganz viel englisch und kommen aus Palästina, Israel, Syrien und Kasachstan. Sie alle sollen deutsche Kultur und Sprache lernen, dafür kämpft zumindest Stefan, der Lehrer. Und verstrickt sich gleich zu Beginn in eine heillose Diskussion um deutsche Schuld, die Nazizeit, die israelische Politik und die Gemengelage im Nahen Osten.

Nun sind sie aber alle in Berlin-Neukölln und genießen neue Freiheiten. Auch wenn Karim nicht ganz einsehen kann, warum in seinem Rap die Textzeile „Die Zionisten sollen brennen“ nicht vorkommen darf. Deutschlehrer Stefan schlägt stattdessen etwas über Analsex vor, das kann Karim wiederum nicht fassen. Ist das nicht tausendmal schlimmer? Auch Amir, der israelische Araber, freut sich, endlich in Berlin in der Falafel-Bude mal locker arabisch sprechen zu können, was in seinem Heimatland nicht so entspannt funktioniert. Doch wehe, sein kleiner Sohn bedankt sich auf Hebräisch…

Bis zum 26. Mai sind sieben hochkarätige Inszenierungen zeitgenössischer Stücke in Mülheim an der Ruhr zu sehen, dazu kommen fünf Texte für Kinder. Eine Jury wählt alljährlich in einer öffentlichen, manchmal bis tief in die Nacht dauernden Diskussion den besten Text aus und dessen Autor gewinnt einen Preis. Das hat inzwischen Kultstatus und führt Theatermacher aus der ganzen Republik an die Ruhr.

In diesem Jahr gehen Fritz Kater, Sibylle Berg, Wolfram Höll, Felicia Zeller, Ferdinand Schmalz und Thomas Melle ins Rennen. Es lohnt sich also, mal in Mülheim vorbeizuschauen, wenn man sehen will, was im Theater der Republik gerade so angesagt ist. Unter www.kultiversum.de findet sich außerdem ein Blog von Studenten, die das Festival medial begleiten.

Karten und Termine: www.stuecke.de

 




Spießig sein – aber genüsslich!

Auf der nach oben offenen Spießigkeits-Skala habe ich weitere Trittstufen erklommen.

Wie konnte das nur geschehen?

Nun, da war zuerst der Umzug aus dem Innenstadt-Quartier in einen halbwegs stadtnahen Vorort. Egal. Das Umfeld ist nun jedenfalls weniger urban und mehr so… naja, ihr ahnt es sicherlich. Man hört hier halt schon mal den einen oder anderen Rasenmäher. Auch wird an wärmeren Wochenenden – man denke nur – hie und da gegrillt.

Immer diese Sonderangebote... (Foto: BB)

Immer diese Sonderangebote… (Foto: BB)

Es wird aber noch krasser.

Der Edeka steckt jeden Samstag Prospekte mit den Angeboten der kommenden Woche in die Briefkästen. Während ich bisher recht freihändig eingekauft habe, achte ich neuerdings zusehends auf wöchentlich wechselnde Sonderangebote. Kaffee für die Hälfte? Katzenfutter stark herabgesetzt? Lieblingsbutter deutlich reduziert? Günstiges Weinchen? Ha! Da bin ich dabei.

Neulich bin ich gar in Versuchung geraten, Rabattmarken zu sammeln und einzukleben. Hier müsste jetzt ein „horribile dictu“ eingestreut werden. Doch wenn man dann zum Lohn den Akkuschrauber viel billiger kriegt? Oha, am Ende wird man noch einer von diesen Schnäppchenjägern.

Apropos sammeln. Man sollte mal alle Anzeichen auflisten, die einen zum Spießer stempeln. Desgleichen entlastende Faktoren. Bausparvertrag? Hab’ ich nicht. Wöchentliches Autowaschen? Mach’ ich nicht. Das sind dann wieder vermeintliche Pluspunkte im linksliberal getönten Diskurs.

Doch was nützen derlei Relativierungen, Beschönigungen, Beschwichtigungen? Nix. Drum muss man wohl lernen, genüsslich ein Spießer zu sein. Wie damals in der Sparkassen-Werbung.




Der Sound des Aufbruchs im Revier: Ruhr Museum zeigt 60 Jahre „Rock & Pop im Pott“

Plakat zum Auftritt der Rolling Stones in der Dortmunder Westfalenhalle, 1967 (Ruhr Museum)

Plakat zum Auftritt der Rolling Stones in der Dortmunder Westfalenhalle, 1967 (Ruhr Museum)

Essens Kulturdezernent Andreas Bomheuer erinnert sich: Essener Songtage 1968, ein singuläres Ereignis in der neueren Musikgeschichte des Ruhrgebiets. Der legendäre Frank Zappa entstieg auf der Bühne einem Sarg und fragte das Publikum schlankweg: „How do you feel?“ Dann legte er los. – Bomheuer ist heute noch ergriffen von dem Moment: „So etwas vergisst man nie.“

Just in Essen, im Ruhr Museum auf dem Gelände des Weltkulturerbes Zeche Zollverein, schickt sich jetzt eine Ausstellung an, derlei kostbare Erinnerungen en gros zu wecken: „Rock & Pop im Pott“ erzählt die Geschichte der populären Musik im Revier über 60 Jahre hinweg. Dazu bietet man die immense Fülle von rund 1500 Exponaten auf (etwa die Hälfte davon Schallplatten).

Historischer Startpunkt sind die damals bundesweit beispiellosen Dortmunder Jugendkrawalle im Spätherbst 1956. Deutsche Radiosender spielten seinerzeit keinen Rock’n’Roll, also musste man sich die Schaffe im Kino „reinziehen“. Es lief der Film „Rock Around the Clock“ (deutscher Titel „Außer Rand und Band“) mit Bill Haley.

Dortmunder Jugendkrawalle

Nach dem Lichtspiel waren nahezu 2000 Jugendliche tatsächlich dermaßen aufgekratzt, dass gar Scheiben zu Bruch gingen – ein in jenen Jahren ungeheuerlicher Vorgang, über den etwa der „Spiegel“ breit berichtete und der schon die Energien ahnen ließ, die sich in dieser Musik Bahn brachen. Fotos und aufgeregte Zeitungsartikel erinnern daran. Interessanter Nebenaspekt: In den Anfangszeiten war – neben dem Kino – auch die Kirmes ein Ort, an dem Rock’n’Roll zur Geltung kam. Auch hier konnte man für ein paar Stunden aus der landläufigen Spießigkeit der Adenauer-Ära ausbrechen.

Blick in die Ausstellung (Ruhr Museum/Foto: Brigida Gonzáles)

Blick in die Ausstellung (Ruhr Museum/Foto: Brigida Gonzáles)

Die Schau beginnt mit markanten Songzitaten und dem Durchgang durch einen Sound-Raum, in dem Highlights des Ruhrgebiets-Rock zur 15minütigen Bild- und Toncollage komprimiert sind. Eine Ausstellung über Musik geht halt nicht ohne Musik. Es ist freilich eine Gratwanderung: Man kann Rock & Pop zwar nicht nur in Vitrinen einsperren, doch andererseits muss man im Museum weit übers bloße „Zuballern“ mit Musik hinaus gelangen.

Sperrholzkisten-Ästhetik

Das Rock-Spektrum im Westen der Republik reicht von Nena bis Herbert Grönemeyer, von Phillip Boa bis Extrabreit (die heute zur längst überbuchten Eröffnung der Ausstellung spielen), von Franz K. bis Geier Sturzflug, von Grobschnitt bis Bröselmaschine. Auch die Humpe-Schwestern Inga und Annette stammen aus dem Ruhrgebiet, genauer: aus Hagen. Die berühmte Schlagzeile „Komm nach Hagen, werde Popstar“ brachte ein neues Selbstbewusstsein zum Ausdruck.

In den frühen Jahren: Auftritt der Gruppe "The Kepa Beatles" in Gelsenkirchen, 1964. (Foto: Herribert Konopka)

In den frühen Jahren: Auftritt der Gruppe „The Kepa Beatles“ in Gelsenkirchen, 1964. (Foto: Herribert Konopka)

Nach dem akustischen Einstieg wird man über einen Boden mit starken Farben (nach passender Maßgabe der Pop Art) durch die Jahrzehnte geleitet, unterwegs waltet eine dem Gegenstand angemessene Sperrholzkisten-Ästhetik. Bloß nicht zu schick und gediegen werden, lieber ein wenig „schmutzig“ bleiben! Einige Seitenkabinette vertiefen die Themen des Hauptstrangs, da geht es beispielsweise um veränderte Tanzstile und vielfach ausdifferenzierte Moden.

Das Team unter Leitung des Museumschefs Prof. Heinrich Theodor Grütter hat kaum eine Facette ausgelassen, die Ausstellung entfaltet ein wahres Kaleidoskop, sie trumpft hie und da mit raumgreifenden „Leitobjekten“ (Kinokasse, Jukebox, Synthesizer) auf, lässt aber nebenher auch manche Zwischentöne anklingen.

Wenn Rock historisch wird

Grütter hält dafür, dass eine solche Ausstellung erst jetzt wirklich sinnvoll sei, weil nun manche Entwicklungen abgeschlossen und somit „historisch“ sind. Mitten im Strom der Ereignisse wäre eine museale Aufarbeitung kaum möglich gewesen. Am Konzept beteiligt war übrigens das Dortmunder Archiv für populäre Musik im Ruhrgebiet. Eine Einrichtung, die sicherlich größere Beachtung verdient.

"Schmutzige" Mode: Lederkutte von Wolle Pannek, Gitarrist von "Eisenpimmel". (Ruhr Museum)

„Schmutzige“ Mode: Lederkutte von Wolle Pannek, Gitarrist von „Eisenpimmel“. (Ruhr Museum)

Zur besseren Gliederung gibt es eine Außen- und eine Innenperspektive, sprich: Hier geht es sowohl um Gastspiele internationaler Rock- und Pop-Stars im Revier, allen voran Beatles (25. Juni 1966) und Stones (12. September 1965) in der Essener Grugahalle, als auch um die zahllosen Bands, die im Ruhrgebiet selbst entstanden sind.

Heinrich Theodor Grütter selbst erinnert sich gern an die Jungs aus seiner Heimatstadt Gelsenkirchen, die als „German Blue Flames“ Furore machten und als eine der ganz wenigen deutschen Gruppen im „Beat Club“ des Fernsehens spielen durften.

Zu großen Teilen ist die Ausstellung eine Angelegenheit für „Best Agers“, wie Grütters selbstironisch anmerkt. Erkennbar ist aber auch das Bemühen, denn doch ein paar jüngere Leute aufs Zollverein-Gelände zu locken, beispielsweise durch Live-Konzerte und musikalische Workshops.

Hymnen aufs Revier

Hunderte, ja Tausende Formationen sind seit Ende der 50er Jahre im Revier entstanden. Zunächst spielten sie Rock’n’Roll und Beat, es folgten z. B. Protestlieder, Krautrock, Neue Deutsche Welle, Punk und Heavy Metal, schließlich Techno und HipHop, wobei in letzterer Stilrichtung Migranten den Ton angeben. Gar nicht mal so erstaunlich: Von den Kindern der Zugewanderten stammen, wie Experten versichern, neuerdings auch die treffendsten „Hymnen“ aufs vielfach geschundene Revier.

Eine regional zugespitzte These der Schau lautet, dass das proletarisch geprägte Revier für Beatmusik fast so prädestiniert gewesen sei wie die Gegend um Liverpool. Immerhin hat ja der Dortmunder Manfred Weissleder den Star Club in Hamburg gegründet, in dem die Beatles frühen Ruhm erlangten. Auch in späteren Jahrzehnten kann man dem (zuweilen rebellischen) Geist der Ruhrregion nachspüren. So hat das einst stählerne Industriegebiet buchstäblich seine eigenen Spielarten des Heavy Metal hervorgebracht.

Weitere Leihgaben gesucht

Die Essener haben den strammen Ehrgeiz, möglichst die gesamte Band-Landschaft des Ruhrgebiets zu kartographieren. Bereits jetzt zeugen über 700 Tonträger-Exponate von ungeheurer Vielfalt. Und die bis Februar 2017 dauernde Schau soll unentwegt wachsen: Wer selbst noch dergleichen Schätze hortet, soll sich melden und womöglich zum Leihgeber werden. Auch Bands, die schon Tonträger veröffentlicht haben (im Zweifelsfalle reichen Demo-Kassetten), werden aufgefordert, Laut zu geben. Das Ganze könnte zur Unternehmung von geradezu enzyklopädischen Ausmaßen anschwellen…

Plakat des Dortmunder Kult-Clubs "Fantasio", 1971 (Ruhr Museum / Ruud van Laar / Foto: Bernd Berke)

Plakat des Dortmunder Kult-Clubs „Fantasio“, 1971 (Ruhr Museum / Ruud van Laar / Foto: Bernd Berke)

Man sollte sich jedenfalls für diese Schau reichlich Zeit nehmen, am besten (ganz im Sinne der Veranstalter) mehrmals kommen, sonst entgehen einem vielleicht Feinheiten wie etwa die Catering-Listen von Rockstars (welchen Saft wollten sie trinken?) oder rare Plakate wie jenes der vom Niederländer Ruud van Laar begründeten Dortmunder Kultstätte „Fantasio“ von 1971, das einen Auftritt des famosen Gitarristen Rory Gallagher avisierte. Oder ein hübsches Detail auf dem Plakat von 1967, das die Rolling Stones in der Dortmunder Westfalenhalle ankündigte und den Eintrittspreis mit schlappen 7 Mark angibt. Man vergleiche, was heute für die Crew von Mick Jagger aufgerufen wird.

Königsweg der Kultur

Rock & Pop haben auch im Revier etliche neue Auftrittsorte (neudeutsch Locations) entstehen lassen, dies ist natürlich gleichfalls Thema im Ruhr Museum, ebenso wie Fanzines, Szene-Zeitschriften und Devotionalien, das technische Equipment (vor allem zahlreiche Gitarren) oder die großen Festivals von „Rockpalast“ bis „Juicy Beats“, wobei die in Duisburg katastrophal beendete Loveparade nur diskret gedämpft zur Sprache kommt.

Glasklar wird allerdings, dass die anfangs so misstrauisch beäugte und niedergehaltene Rock- und Popkultur in den letzten Jahrzehnten recht eigentlich der Haupt-und Königsweg der Kultur gewesen ist. Wer damals jung war, hat es eh im Innersten gespürt.

„Rock & Pop im Pott“. 5. Mai 2016 bis 28. Februar 2017. Geöffnet Mo-So 10 bis 18 Uhr. Ruhr Museum auf Zeche Zollverein, Kohlenwäsche (Gebäude A 14), kostenlose Parkplätze A 1 und A 2, Zufahrt über Fritz-Schupp-Allee. Eintritt 7 Euro, ermäßigt 4 Euro. www.tickets-ruhrmuseum.de Audioguide 3 Euro. Katalog 304 Seiten, 33 Abbildungen (Klartext Verlag) 24,95 Euro. Info-Telefon/Buchung von Führungen: 0201 / 24 681 444.