Bundestreffen in Dortmund: Was Tierärzte regulieren wollen

Florianturm, Zeche, Dortmunder U und Reinoldikirche als Dortmunder Wahrzeichen – auf Unterlagen der Bundestierärztekammer.

Quizfrage: Wie wird das Deutsche Tierärzteblatt in Fachkreisen liebevoll genannt? Nun, die Lösung lautet: „Grüner Heinrich“. Wenn Gottfried Keller das geahnt hätte… Derlei – für die Allgemeinheit – unnützes Wissen nennt man heute wohl Fun Fact.

Scherz beiseite. Warum mich eine Einladung zur Pressekonferenz (PK) der Bundestierärztekammer ereilt hat, weiß ich wirklich nicht. Noch nie habe ich über dieses Fachgebiet geschrieben. Immerhin findet jetzt der 30. Deutsche Tierärztetag hier in Dortmund statt. Also habe ich mich mal (online) zur PK bemüht und wage es, ziemlich fachfremd zu berichten.

Ich habe ja so gut wie keine Ahnung vom tierärztlichen Metier (außer ein paar bleibenden Eindrücken, wenn wir mit unserem Kater die Tierarztpraxis aufsuchen mussten), dafür haben viele Tierärzte aber auch kaum Ahnung von Dortmund, schmücken sie doch ihre Tagungsunterlagen u. a. mit einer Zechen-Silhouette. Der letzte Schacht in dieser Stadt wurde 1987 geschlossen. Ich übertreibe mal leicht: Wir glauben ja auch nicht, dass Tierärzte sich immer noch vorrangig mit Mammuts und Sauriern befassen.

Nun aber wirklich zur Sache. „Tierschutz im tierärztlichen Alltag“ lautet das zentrale Thema des Bundestreffens im Kongresszentrum der Westfalenhallen. Vier Fachleute berichteten in der Pressekonferenz aus den Arbeitsgruppen. Da ging es um Tierschutz im Pferdesport, in der Kleintierpraxis, bei Behörden und in der Nutztierhaltung – unter besonderer Berücksichtigung der „kleinen Wiederkäuer“ (Schafe und Ziegen).

Da wurden vor allem (weit überwiegend berechtigte) Forderungen gestellt, die jedoch insgesamt einen Wust von Regelungen und wuchernde Bürokratie nach sich ziehen könnten, abgesehen vom wachsenden Personalbedarf und Kostensteigerungen. Nur mal einige Beispiele, der Einfachheit halber ungegendert:

  • Es sollten möglichst alle Heimtierhalter auf Eignung geprüft werden.
  • Pferdehalterinnen und Pferdehalter sollen ihre Sachkunde zertifizieren lassen.
  • Bei allen Reitveranstaltungen sollte mindestens ein Tierarzt dauerhaft anwesend und mit weit reichenden Befugnissen ausgestattet sein.
  • Alle Ausrüstungs-Gegenstände in Pferdesport und sonstiger Pferdehaltung sollen auf Tauglichkeit überprüft werden – ungefähr wie Autos beim TÜV.
  • Hundetrainer sollen u. a. durch Tierärzte ausgebildet werden.
  • Angehende Juristen sollen in ihrem Studium mehr zum Tierschutzrecht lernen.
  • Bestimmte Tiere („Defektzuchten“, Qualzuchten) sollen z. B. auch in Werbung und Mode strikt  verboten werden.
  • Ein europaweites Register für Hunde und Katzen muss eingerichtet werden.
  • Tierärzte sollen in Ausübung ihrer Tätigkeit bei etwaigen Konflikten geschützt werden, darin attackierten Rettungskräften vergleichbar.
  • Es fehlt eine „Heimtierverordnung“.
  • Es fehlt eine zentrale Tiergesundheits-Datenbank.
  • Es fehlt eine Datenbank zu Tierhalte-Verboten.
  • Tierärztliche Ämter brauchen mehr Personal und bessere Arbeitsbedingungen.
  • Es gibt zu viele Einschränkungen bei medikamentösen Behandlungen von Tieren.
  • Viele Regelungen müssen bundesweit vereinheitlicht werden.

Und so weiter. Richtig „viel Holz“. Dazu hieß es auf dem Podium: „Wer nicht fordert, bekommt auch nichts.“ Schon richtig. Wie soll es sonst gehen? Aber in der Summe wirkte es denn doch ein wenig begehrlich – wie halt bei allen Interessenverbänden.

Was außerdem auffiel: Es war eine Pressekonferenz, doch mit Fragen und Statements meldeten sich praktisch ausschließlich Kongressteilnehmer, also tierärztliche Fachleute zu Wort. Am Ende war ich vielleicht der einzige Medienvertreter, der eine Frage gestellt hat. Das wäre mir unangenehm. Soll man daraus etwa schließen, dass die Standesorganisation der Veterinäre im eigenen Saft schmort? Oder zeugt es eben von besonderem, manchmal geradezu hitzigem Engagement? Oder mangelt es den Medien schlichtweg an Interesse?




Als man sich noch für „richtig links“ halten wollte

Kinners, heute erzählt Euch der Boomer-Opa ein klitzekleines bisschen von früher. Keine Angst, es werden nur ein paar Schlaglichter sein. Und nur die fernen Echos wahrer Klassenkämpfe. Wie denn damals im Revier überhaupt nur der Widerhall aus den wirklichen Metropolen zu vernehmen war.

Icke, wa?! Wie man halt „damals“ aussah. (Foto: Norbert Hell)

Als ich studiert habe, hatte man gefälligst „links“ zu sein, was immer das wirklich heißen mochte. Wir waren uns jedenfalls fraglos sicher – und es schien ja in dieser Hinsicht auch noch wesentlich übersichtlicher zu sein als heute. Freilich sinnierte schon damals Botho Strauß in Gestalt seiner Lotte im Stück „Groß und klein“: „In den 70er Jahren finde sich einer zurecht…“

Bevorzugte „Quelle“ bzw. Hilfsmittel für jegliche Interpretation waren jedenfalls damals bei den Bochumer Historikern die blauen Bände der Marx-Engels-Ausgabe. Es herrschte unter den Studierenden (die damals noch Studenten geheißen wurden) weithin die Auffassung, alle geschichtlichen Geschehnisse jedweder Epoche müssten damit abgeglichen werden. Umso pikierter war ich, als ich eines Tages einen Brief von Karl Marx an seine Geliebte zu lesen bekam, der mit dieser Anrede begann: „Viellieb!“ Das wollte mir süßlich-kitschig vorkommen und sich so gar nicht zu seinen politischen Einsichten fügen. Ach, Gottchen!

Ein unerbittlicher „Anarchist“

In jenen seltsamen Zeiten gerierte sich ein Altersgenosse vehement als „Anarchist“. In einer stundenlangen hitzigen Wohnzimmer-Debatte ließ er sich nicht erweichen. Er hätte am liebsten alles in die Luft gesprengt, wie er posaunte. Wir anderen waren hingegen der Ansicht, dass er damit erst recht die volle Staatsgewalt gegen uns alle entfessele. Schließlich suchte ich den Kompromisslosen zu besänftigen, indem ich ihn zum Abschied herzhaft mit „Rot Front!“ grüßte. Er aber dröhnte, vollends unversöhnlich: „Schwarz Front!“ Wüsste gerne, was später aus ihm geworden ist. Vielleicht denn doch noch eine Gestalt auf der allseits abgesicherten Beamtenlaufbahn? Ist aber auch piepegal. Kaum jemand, der sich nicht angepasst hätte.

Den Hass auf die Bourgeoisie fühlen

Unwesentlich später war man schon auf die damals so genannte „Neue Sensibilität“ verfallen, die längst nicht mehr so harsch politisierte, sondern in Sanftmut und Milde daherkam, gleichsam auf Samtpfoten. Dennoch ließ ich mich bei irgend einer obskuren Splittergruppe für ein ganzes Wochenende auf eine „trotzkistische Schulung“ ein. Es blieb beim einmaligen Besuch, wie ich denn überhaupt nie dauerhaft Partei ergreifen mochte. Wer zweimal bei denselben sitzt, bekommt schnell den Verstand stibitzt. Gut, wa? Von mir. Ganz spontan.

Dem unerträglichen Trotzkisten-Präzeptor, der keinen Widerspruch duldete, sondern nur von oben herab dozierte, wagte ich die Frage zu stellen, ob denn bei ihnen alles nur rational vonstatten gehe oder ob man irgendwann auch Gefühle zeigen dürfe. Er, vollends am Sinn der Frage vorbei: „Ja klar, den Hass auf die Bourgeoisie!“ Aha. Zur Erholung vom stundenlangen Gefasel durften wir dann nachmittags Fußball spielen. Immerhin. Man war nicht nur ein Tor, man schoss auch eins. Harr, harr.

Durften die Beatles Mao schmähen?

Man war, so cirka zwischen 16 und 24 Jahren, dermaßen verblendet, dass man die Mao-Bibel reichlich unkritisch memoriert hat. Sogar den vor- und nachmals so verehrten Beatles nahm man die Zeilen aus dem Song „Revolution“ übel: „But if you go carrying pictures of chairman Mao, you ain’t gonna make it with anyone anyhow…“ Wie? Was? Nö, die Stones waren auch nicht viel mutiger, siehe ihren resignativen Text über den „Street Fighting Man“: „But what can a poor boy do except to sing for a Rock’nRoll Band, cause in sleepy London town there’s just no place for a street fighting man, no!…“

Jetzt mal gar nicht zu reden von Bettina Soundso, in die ich mich für einige Monate verguckte, weil sie (die es mit dem MSB Spartacus hielt) mir so heroisch wie eine zweite Rosa Luxemburg vorkam. Hach. Später ward sie wahrhaftig Geschichts-Professorin. Aber wie sie damals ihren Haarvorhang herunterlassen konnte, um dahinter gewichtig zu reflektieren! Überhaupt erwies sich das unentwegte Politisieren gelegentlich als „Liebes“-Beschleuniger, wahrscheinlich aber auf längere Sicht noch öfter als zerstörerisch.

„Deutscher Herbst“: Polizei in der Pizzeria

Zeitsprung: Aus dem „Deutschen Herbst“ um 1977 habe ich unter anderem in Erinnerung, wie die Polizei mit Maschinenpistolen im Anschlag eine Pizzeria enterte, in der wir friedlich beisammen saßen. Wiederum einige Jahre später suchte mich ein Mann vom Verfassungsschutz zu Hause in meiner kurzzeitigen WG auf, um mich nach einem Schulfreund auszufragen, der die Beamtenlaufbahn einschlagen wollte. Aber da waren wir schon in den öden 1980ern gestrandet. Und es gab überhaupt nichts zu beichten.

 




Bis die Kriegsgewalt bröckelt – Alexander Kluges Bilderatlas „Sand und Zeit“

Da haben wir also wieder ein Buch vom inzwischen 93-jährigen Polyhistor Alexander Kluge, der stets die entferntesten Dinge produktiv zusammen bringt und hellsichtig Funken aus seinen Blickwechseln schlägt.

Diesmal beginnt die fruchtbringende Gedankenreise bei den akuten Verheerungen im Gazastreifen, wo vieles nicht einfach „nur“ zerstört wurde, sondern schier zu Sandkörnern zerriebene Wüstenei geworden ist. Vielfach erwogen wird in der Folge, ob dem allfälligen Krieg und der Gewalt Einhalt zu gebieten sei – ganz gleich, zu welchem Zeitpunkt und an welchem Ort des geschundenen Erdenrunds.

Damit wären die beiden Pole des Bandes „Sand und Zeit“ schon einmal benannt. Das zu Sand zermalmte Land kehrt später – gründlich verwandelt – im Kinder-Sandkasten und sodann in „Sandkasten-Spielen“ der Militärstrategen wieder. Auch werden einzelne Sandkörner physikalisch vermessen und mikroskopisch betrachtet. All das gipfelt in einem wesentlich aus Sand bestehenden Kunstwerk von Anselm Kiefer, das wiederum Ingeborg Bachmann seine Inspiration verdankt. Alles kann mit allem zusammenhängen, wenn man es denn recht zu betrachten weiß.

Auf der Suche nach Gegenkräften

Gewisse Gegenkräfte zur Kriegsgewalt, so scheint sich ahnungsvoll zu zeigen, dürften beispielsweise in dennoch abgetrotzten glücklichen Augenblicken liegen. Während der altgriechische Zeitgott Kronos alles fressen will (sogar die eigenen Kinder), verkörpert Kairos den geglückten Moment als kaum minder scharfes Gegengift. Eine vage, aber immer neu mit Zuversicht zu nährende Hoffnung kennzeichnet dieses Motto zu Beginn: „Die einzige Verlässlichkeit in zerrissener Zeit beruht auf der Beobachtung, dass auch die kriegerische Macht stolpert…“ Alle noch so imposanten Imperien der Geschichte, so ein zentraler Befund, stürzen irgendwann, nichts ist von ewiger Dauer. Ein Gedanke, bei dem einem – allem waltenden Elend zum Widerspruch – warm ums Herz werden könnte.

Kluge ruft kreuz und quer verschiedenste historische Szenarien auf – von der deutschen Nachkriegs-Trümmerzeit samt Wiederaufbau über altägyptische und altrömische Verhältnisse (Punische Kriege = Rom vs. Karthago), den jetzigen Ukraine-Krieg, die Kreuzzüge, den Krimkrieg (ab 1853), die Urkatastrophe des Ersten Weltkriegs und den (wenn überhaupt möglich) noch schlimmer wütenden Wahnsinn des Zweiten Weltkriegs, die Religionskriege, die in den Westfälischen Frieden von 1648 mündeten… Die Phänomenologie so vieler Waffengänge umfasst auch die seltene, vorbildliche Großzügigkeit generöser Sieger, die den Besiegten nach deren Kapitulation zunächst freies Geleit und fortan freie Entfaltung gewähren – beispielhaft erfasst in Velázquez‘ berühmtem Gemälde „Die Übergabe von Breda“.

Immer wieder neue Perspektiven

Geschildert und ausgiebig bildlich dargestellt (auch mit „virtuellen Kameras“, also KI-Hilfe) werden sowohl das große Ganze als auch gleichsam herangezoomte Nahansichten. Da gibt es erschütternde Bilder, die die brüllende Maschinerie des Krieges so vergegenwärtigen, wie es eben geht. Beim Lesen sollte man diese Illustrationen keinesfalls schnell überblättern, sie erheischen nachdrücklich Aufmerksamkeit. Derlei rasche und harsche Perspektivenwechsel, so Kluge im vorsichtig bilanzierenden Nachwort, können die Kontraste der Zeitläufte besser erfassen als reine Texte. Daher nennt er sein Buch im Untertitel „Bilderatlas“. Ein anregendes Vorbild ist ausdrücklich Aby Warburgs legendäre, größtenteils verschollene „Kriegskartothek“ zum Ersten Weltkrieg gewesen. Technisch auf der Höhe, bietet Kluges Buch übrigens auch (teilweise filmische) Ergänzungen an, die man mit Hilfe abgedruckter QR-Codes ansteuern kann.

Einen freien Erzählraum erzeugen

Alexander Kluge muss nicht nur über eine riesige Bibliothek und die Erfahrungen eines langen Lebens, sondern auch unendlich viele „Zettelkästen“ oder eben Datensammlungen verfügen, denen er immer wieder entlegene (und gleichzeitig prägnante) Beispiele entnimmt, so etwa, wenn es um die letzten Kriegstage rund um das Volkswagenwerk oder die zeitgleiche Kapitulation einer deutschen Munitionsfabrik geht.

Es ist Kluge um die Schaffung eines „freien Erzählraumes“ zu tun, um den Konjunktiv als Möglichkeitsraum. Erst im beherzten Sprung auf die andere Seite, in eine andere Zeit, sei es denkbar, die tendenziell verarmten Ausdrucksweisen unserer Tage zu überwinden. Bei Beschwörung des Überblicks kehrt Kluge verbal zu seiner Frühzeit zurück, indem er die hohe Zirkuskuppel als Bild aufruft. Wir erinnern uns an seinen Filmtitel „Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos“. Gegen alle Ratlosigkeit geht er im gesegnet hohen Alter immer noch und erst recht an – wie einst Elias Canetti unverdrossen gegen den Tod focht. Das darf und muss man heldenhaft nennen.

Alexander Kluge: „Sand und Zeit“. Bilderatlas. Suhrkamp, 168 Seiten, zahlreiche Abbildungen. 25 Euro.

 




Wenn die Dinge immer schlechter werden: „Die Verkrempelung der Welt“

Der Titel dieses silbrig glitzernden Buches aus der ehrwürdigen edition suhrkamp ist ein Coup. Hätte der Band „Kritik der überflüssigen Dinge“ oder ähnlich betulich geheißen, hätte wohl kaum ein Hahn danach gekräht. So aber nennt er sich „Die Verkrempelung der Welt“. Da horcht man auf, da will man Näheres wissen.

Nicht alle Befunde des Autors Gabriel Yoran (umtriebiger, mehrfacher Startup-Gründer mit eher „links“ anmutendem geistigen Rüstzeug) sind brandneu, aber schon der Einstieg ist hübsch: Er dreht sich um einstmals bewährte Dinge wie Herdknebel (früher übliche Bedienknöpfe) und konventionell sinnreiche Duschschläuche. Heute muss oft für einfachste Verrichtungen ein komplizierter Touchscreen mit allerlei irrwitzig verzweigten Optionen herhalten.

Erstes Zwischenfazit: Um noch mehr Gewinn zu generieren, nehmen Konzerne ihren jeweils neuesten Produkten gute und vernünftige Eigenschaften weg, um diese hernach als Premium-Features deutlich zu teurer zu verkaufen. Anders gesagt: Statt vormals guter oder wenigstens passabler Sachen erhalten wir vielfach „Krempel“; es sei denn, wir bezahlen enorme Aufpreise.

Die früher prägende „Fortschritts-Erzählung“ des Immer-besser-Werdens, so Yoran weiter, sei kurzatmig geworden, überhaupt sei der bis dahin im Westen recht unerschütterliche Fortschrittsglaube mit dem 11. September 2001 (für Jüngere: Terroranschlag aufs World Trade Center) kollabiert. In diesem Zeitklima falle es gar nicht mehr so sehr auf, wenn Produkte sich permanent verschlechtern. Sollten wir uns etwa an all den Krempel gewöhnt haben?

In der verqueren kapitalistischen „Logik“ liegen zudem immer kürzere Verfallszeiten der Produkte. Früher hielten bessere Waschmaschinen 30 Jahre lang, heute sind es allenfalls 10 Jahre. Dieser mäßige Wert reicht inzwischen schon als erfülltes Kriterium fürs Warentest-Urteil „Sehr gut“. Nachhaltiges Wirtschaften sähe wahrlich anders aus. Als Gegenbeispiel wird das legendäre DDR-Handrührgerät RG 28 aus Suhl aufgeführt, das über Jahrzehnte hinweg unverändert zuverlässig blieb. Tempi passati.

Das Buch scheint nun den anfangs gesponnenen Faden etwas zu verlieren, es gerät mehr und mehr zum Grundkurs in Warenkunde, ohne die wir Konsumenten ziemlich aufgeschmissen seien. Vom kostspieligen und in rechtsextremen Ruch geratenen Sonderweg von Manufactum ist die Rede. Ein solcher Satz lockt ein Grinsen hervor: „Die Manufactum-Katalogprosa wimmelt nur so vor letzten sorbischen Muhmen, die dank des Versandhändlers wieder Bierdeckel handfilzen.“ Inzwischen ist die Edel-Klitsche an Otto verkauft worden – und der Manufactum-Gründer hat Zeit genug, höchst zweifelhafte Bücher auf den Markt zu werfen.

Der geschichtliche Rückgriff führt bis zum Deutschen Werkbund, in dem auch Künstler eine „Moral der Dinge“ etablieren wollten, und zu den Ursprüngen des zunehmend autoritären Funktionalismus, der sich in Gestalt von Adolf Loos zum Lehrsatz verstieg, jedes Ornament sei ein Verbrechen. In der Gegenwart wird die krempelhafte, unnötig Aufmerksamkeit fressende Computer- und Online-Kommunikation gegeißelt.

Schließlich verbeißt sich der Autor geradezu in ein Thema, das ihm wohl speziell am Herzen liegt: die Entwicklung der Kaffee-Zubereitung im Spannungsfeld zwischen Vollautomaten und Siebträger-Maschinen. Auch aus persönlichen Gründen fand ich ein Kapitel interessant, das davon handelt, welche Dinge in anderen Ländern womöglich besser sind als bei uns. Ein Beispiel: Türen und Fenster in Dänemark, die sich nach außen hin öffnen. Warum haben wir nicht die Wahl?

Eine aufs große Ganze zielende Schlussfolgerung steht in den letzten Sätzen, die bedeutsam, ja beinahe gravitätisch ausschwingen, als hätte ein Adorno das Wort:

„Wir werden nicht herumkommen um die gemeinsame Suche nach dem guten Leben miteinander, nach den legitimen Bedürfnissen.

Noch die progressivste Warenkunde wäre nur der Schein der Laterne – der Schlüssel liegt anderswo. Es ist nur sehr unbequem, dort zu suchen“. 

Gabriel Yoran: „Die Verkrempelung der Welt. Zum Stand der Dinge (des Alltags)“. edition suhrkamp. 186 Seiten, 22 Euro.

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P. S.: Im werblichen Anhang des vorliegenden Bandes habe ich eine unverhoffte Wiederentdeckung gemacht. Dort wird eine Fortschreibung von Wolfgang Fritz Haugs „Kritik der Warenästhetik“ (1971) angepriesen, die wir zu Studentenzeiten in den 1970er Jahren zustimmend goutiert haben. Angefügt sind neue Erkenntnisse zur „Warenästhetik im High-Tech-Kapitalismus“. Das Buch erscheint für 19 Euro als Print on demand-Ausgabe. So ändern sich die Zeiten.




Erfolgreiche Spenden-Aktion: Münter-Gemälde kann für Dortmund angekauft werden

Um dieses Bild geht es in Dortmund: Gabriele Münter „Abend vom Fenster (Blick auf Rue Lamblardie, Paris“), 1930 (© VG Bild-Kunst, Bonn 2025)

Weiterer Nachtrag als neuer Vorspann, weil es einen entscheidend anderen, durchaus erfreulichen Sachverhalt gibt: Gabriele Münters Gemälde „Abend vom Fenster (Blick auf Rue Lamblardie, Paris) von 1930 kann fürs Museum Ostwall im Dortmunder U angekauft werden. Das entsprechende Crowdfunding-Projekt hatte – nach zögerlichem Beginn – doch noch Erfolg. Es wurden sogar etwas mehr Mittel als die benötigten 75000 Euro eingeworben, nämlich 77620 Euro = 103% (Stand vom 2. Juni, 14 Uhr).

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Blick zurück ohne Zorn: Anfangs hatte es nicht so rosig ausgesehen. Am 29. März hieß es (eher missmutig) bei den Revierpassagen:

Bleiben wir zunächst einmal trocken sachlich und regen uns (noch) nicht gleich auf. Das Dortmunder Museum Ostwall, für die bildende Kunst bei weitem das erste Haus am Platze, wird in diesem Jahr 75 Jahre alt. Die vereinigten „Freunde des Museums Ostwall“ (Freundinnen sind natürlich auch dabei) wollen dem im „Dortmunder U“ ansässigen Institut zum Jubiläum ein Bild schenken, das sich zum Sammelschwerpunkt Expressionismus fügt und von einer sehr bekannten Künstlerin stammt: „Abend vom Fenster (Blick auf Rue Lamblardie, Paris)“, 1930 von Gabriele Münter gemalt. Ganz bewusst wurde das Bild einer Künstlerin ausgewählt, denn Frauen sind bislang im Museumsbestand stark unterrepräsentiert.

Die „Freunde des Museums Ostwall“ geben für den Ankauf 30000 Euro, hinzu kommt „eine bedeutende Summe“ der Dortmunder Kulturbetriebe und ein Beitrag des Museums selbst. Um weitere 75000 Euro für den Kaufpreis aufzubringen, wurde – mit Unterstützung der örtlichen Volksbank – am 3. März ein Crowdfunding-Projekt gestartet. „Viele schaffen mehr“ heißt die Plattform, auf der sich das Geldsammeln abspielt. Bis zum 1. Juni soll der Betrag beisammen sein. So weit, so gut.

Von 75000 Euro noch ganz weit entfernt

Doch jetzt kommt’s, jetzt wird’s betrüblich bis beschämend: In der eh nicht sonderlich als Heimstatt der Kunst glänzenden Stadt mit ihren rund 600000 Einwohnern haben sich bislang (Stand 29. März mittags, also nach immerhin 26 Tagen) gerade einmal 19 Spenderinnen und Spender gefunden, die insgesamt 1575 Euro aufgebracht haben. Das sind gerade einmal knapp 2 Prozent der angestrebten Summe. Es ist also wahrlich noch ein weiter Weg bis zu den benötigten 75000. Dabei wurden Informationen über  das Sammelprojekt inzwischen an die regionalen Medien gereicht, die auch etwas dazu veröffentlicht haben. Zu vermuten steht, dass einige große Firmen der Stadt (Namen bitte hinzudenken) offenbar lieber – derzeit auch nicht eben fruchtbringende – Sponsoren-Millionen in Richtung Borussia Dortmund werfen, während das kulturelle Leben beiseite steht. Gern ließen wir uns eines Besseren belehren.

Nur der Schatten einer vitalen Stadtgesellschaft

Mehr noch: Unter den bisherigen Spendern finden sich Leute, die anonym bleiben möchten. Andere hingegen sind eindeutig zu identifizieren als Menschen, die dem Museum beruflich eng verbunden sind. Ein Nachname taucht allein dreifach auf, da hat sich offenbar die halbe Familie eingebracht. Aus der oftmals beschworenen „Stadtgesellschaft“ (aka Zivilgesellschaft), die hier eh nicht gerade imponierend breit gefächert ist, ist kein wesentlicher, zählbarer Zuspruch zu vernehmen.

Man stelle sich vor: Nähme man die Dortmunder „19″ zum Maßstab, kämen im ungefähr doppelt so großen München (was die Einwohnerzahl betrifft) dementsprechend nur 38 Spendenbeiträge zusammen, im etwa dreimal so großen Hamburg lediglich 57. Eigentlich undenkbar. Dort würden die privaten Finanzquellen gewiss ungleich reichlicher sprudeln. Das bürgerschaftliche Engagement ist in Dortmund, allem Strukturwandel des Reviers zum Trotz, immer noch vergleichsweise unterbelichtet. Wir haben es ja geahnt, doch jetzt haben wir wohl ein weiteres Indiz.

Hier der Link zur Crowdfunding-Plattform: https://www.viele-schaffen-mehr.de/projekte/expressionistin-fuer-museum-ostwall

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Nachtrag am 1.4.2025: Na, da schau her! Stand 1. April (ca. 11.30 Uhr) sind es nunmehr 25 Spenden mit einem Gesamtbetrag von immerhin 9575 Euro, was rund 12 Prozent der erstrebten 75000 Euro entspricht.

Nachtrag am 10.4.2025, abends: Nun, es läppert sich offenbar doch noch. Jetzt sind es 45 Unterstützerinnen und Unterstützer, die insgesamt 22730 Euro beigesteuert haben, also rund 30 Prozent der angepeilten Summe.

Nachtrag am 7.5.2025, abends: Rund 80 Spenden summieren sich nun zu 49790 Euro, etwa 66% der Zielsumme. Wie heißt es in derlei Fällen so schön: „Da geht noch was“.




Hol dir, gönn dir!

 

Genau! Alles, und zwar jetzt. Sofort! (Foto: Bernd Berke)

Wie war das noch, vor soundsovielen Jahren, als im 68er-Umfeld der „Konsumterror“ lauthals angeprangert wurde?

Damals lösten gerade erst einige Supermärkte die bis dahin gängigen „Tante-Emma-Läden“ ab. Welche eine vergleichsweise beschauliche Verbraucherwelt das noch gewesen ist! Was hätte man bloß gesagt, hätte man kommen sehen, was wir heute haben – mit allseits in letzte Winkel und Ritzen dringendem Internet-Wahnwitz und obenauf gesetzter „Künstlicher Intelligenz“, die sich in alles hineinfrisst und sich alles einverleibt. Nun, da man gar nicht mehr weiß, wo einem der Kopf steht und wo es noch Restbestände von vermeintlicher Wirklichkeit gibt.

Allüberall wird man verbal, bildlich und medial verfolgt, gnadenlos, ohne Unterlass: „Hol dir“, „Gönn dir“, „Sichere dir“. Versäume nicht, zögere nicht, ergreife den Vorteil, sichere dir Premium, Premium Plus oder Pro. „Ergattere“ dies und jenes, schlage anderen ein Schnippchen, hol dir das Schnäppchen, den Schnapper. Exklusiv. Nur für Dich! Das große Gelingen. Eigentlich kein übles Wort, jedoch dem verbalen Missbrauch preisgegeben.

Immerzu ist Sale, Angebote und Preise sind mega, ja giga. Alles ist Hammer! Geiz ist geil, immer noch, obwohl dieser Spruch schon älter ist. Und ständig herrscht Beben. Mark(t)erschütternd. Schon morgen kann es zu spät sein, vielleicht hört die Gelegenheit schon gleich auf. Carpe diem! Yolo! Du lebst nur einmal. Hau rein. Deal!

Und wenn nicht? Dann Apokalypse. Dann Doomsday. Dann Untergang. Finale Finsternis. Und damit Tschüss, nech?!




Trunk, Zeitreise, Einsamkeit und mehr – ein Stapel mit neuen Büchern

Was die Dichter im Glase hatten

Welch eine Idee, gegenläufig zum oft eher abstinenten Zeitgeist: vorwiegend alkoholische Lieblings-Drinks ruhmreicher Schriftsteller, wie sie in ihren Werken vorkommen, als Rezepte herauszubringen und mit anekdotischen Anmerkungen zu versehen. Das Resultat, übersetzt aus dem amerikanischen Englisch: „Trinken wie ein Dichter. 99 Drinks mit Jane Austen, Ernest Hemingway & Co.“ (Klett-Cotta, 217 Seiten, 24 Euro). Die größten Fraktionen bevorzugen – in allerlei Formen und Kombinationen – entweder Gin oder Whisky, dahinter folgen die Anhänger von Rum und Wodka. Einige Beispiele: Edgar Allan Poe hielt es mit Brandy, Rum und Schlagsahne. Gustave Flaubert bevorzugte Apfelcider mit Calvados und Aprikosenbrand. James Joyce nahm – wenig überraschend – gern Kaffee mit irischem Whisky zu sich. E. T. A. Hoffmann mixte sich sozusagen „Elixiere des Teufels“, z. B. aus Lipari-Wein, Kirschwasser und Champagner. Novalis fand die „Blaue Blume“ mit Hilfe von Bittermandel-Schnaps, Kirschsaft und – Mohnsirup. Pablo Neruda goss vorzugsweise Cognac und Cointreau ins Glas, Sylvia Plath hingegen Wodka und Martini, der notorische Trinker Joseph Roth schlichtweg am liebsten Pernod, während Friedrich Dürrenmatt Bordeaux-Wein mit Rum zusammenbrachte. Und Goethe? Verkostete schon mal das eine oder andere Glas fränkischen Weines. Prosit!

Ein Frauenleben im Rausch

Wir schließen thematisch ans vorherige Buch an: Wohin verschärfter Alkoholkonsum führen kann, schilderte anno 1929 Colette Andris (Pseudonym für Pauline Totey) in ihrem Debütroman „Eine Frau, die trinkt“ (Aus dem Französischen von Jan Rhein, Wagenbach, 156 Seiten, 22 Euro), der als lohnende Wiederentdeckung erschienen ist. Die Autorin führte in den „wilden Zwanzigern“ – also vor rund 100 Jahren – ein bewegtes Leben mit allen Höhen und vor allem Tiefen. Sie war eine der allerersten Nackttänzerinnen, wurde hernach Schauspielerin und eben Autorin. Eine durchaus mögliche Professorinnen-Karriere hatte sie zuvor in den Wind geschlagen. Bereits mit 8 Jahren war sie das erste Mal betrunken, um die Eltern gezielt zu schockieren. Der Suff wurde später ihr täglicher Begleiter. Nur im Rausch glaubte sie, gewisse Männer ertragen zu können. Ein Inferno aus Lebensdurst und Abstürzen, trotz der historischen Distanz ungemein gegenwärtig.

Auf eine Zeitreise geschleudert

Der Schweizer Christian Kracht war vor allem zu Zeiten seines Romans „Faserland“ enorm „angesagt“ und galt als große literarische Hoffnung seiner Generation. Nun hat er mit „Air“ (Kiepenheuer & Witsch, 215 Seiten, 25 Euro) erneut die literarische Szene betreten und sogleich wieder Scharen von Rezensenten auf den Plan gerufen. Erlesen schon die bloßen Orte der weit ausgreifenden Handlung: Paul, ein Schweizer Innenarchitekt, lebt auf den abgelegenen schottischen Orkney-Inseln und erhält einen rätselhaften Auftrag aus Norwegen, er soll den perfekten White Cube erschaffen. Durch eine Sonneneruption wird er freilich auf eine Zeitreise geschleudert, die ihn u. a. in eine mittelalterlich anmutende Welt führt. Wer will, kann nun am großen Motiv-Entschlüsselungs-Wettstreit teilnehmen – zwischen germanischen Mythen, KI-Phantasien, Dichtung und Philosophie. Wahrhaft gehobene Fantasy, zuweilen poliert wie ein Design-Produkt erscheinend, doch staunenswert reichhaltig und nicht nur ästhetisch überzeugend.

Ein allgegenwärtiges Gefühl

In letzter Zeit haben manche Politiker das Thema Einsamkeit als eines entdeckt, das sie mit ihren begrenzten Mitteln bekämpfen wollen. Die Erfolgsaussichten sind freilich fraglich, denn Einsamkeit könnte ja vielleicht als Konstante zur universellen Conditio humana gehören. Allerdings sollte man sich nicht einfach damit abfinden, und man darf auch die jeweiligen Ursachen und Beweggründe nicht verkennen. Der in Kassel lebende Janosch Schobin, studierter Soziologe, Hispanist u n d Mathematiker (!), legt mit „Zeiten der Einsamkeit. Erkundungen eines universellen Gefühls“ (Hanser, 224 Seiten, 24 Euro) ein Standardwerk zum Thema vor, das so ziemlich alle Ausfaltungen des Phänomens in Historie und vor allem Moderne erkundet. Einsamkeit zeigt sich dabei keineswegs nur als individuelles, sondern als kollektives, gesellschaftliches Problem. Für solche Bücher werden am besten feste Plätze im Regal reserviert – zur ständigen „Wiedervorlage“.

Bis in die Bochumer Discos

Maja aus Montenegro wird in Deutschland aufwachsen. Die Geschichte ihres spurlos verschwundenen Vaters Miko und seiner Familie kennt sie noch nicht. Ihre Mutter wird sie ihr erzählen. Es ist eine rasante, ziemlich abenteuerliche Migrations-Geschichte, die in den 1980er Jahren aus einem montenegrinischen Dorf bis nach Bochum und in die dortigen Discos führt. Die 1978 in Gelsenkirchen geborene Ines Habich-Milović, auch als Theatermacherin und Theaterautorin tätig, kündet davon in ihrem Romandebüt „Dein Vater hat die Taschen voller Kirschen“ (Rowohlt Berlin, 302 Seiten, 24 Euro). Der Titel bezieht sich auf einen Kirschenklau in Nachbars Garten, der hier eine treibende Rolle spielt. In mancherlei Facetten geht es darum, wie kulturelle Identitäten überhaupt entstehen. Dieses Buch beweist, dass Unterhaltsamkeit und Anstöße zur Nachdenklichkeit durchaus miteinander einhergehen können.

Neue Rock- und Pop-Geschichten

Wir bleiben in Bochum: Der aus dieser Stadt stammende Ulli Engelbrecht ist ein Kenner und emsiger Sammler von Rock- und Popmusik. Zudem häuft er allerlei Geschichten rund um Songs und Sounds an, die gewiss einen wesentlichen Teil seines Lebens und des Lebensgefühls seiner Altersgenossen ausmachen. Man tritt ihm sicherlich nicht zu nahe, wenn man Leute wie den Mit-Bochumer Frank Goosen und den Briten Nick Hornby zu seinen Anregern zählt. Auch im neuen Buch mit dem zunächst seltsam klingenden Titel „Klaus Nomi war ja eigentlich Konditor“ (BoD / Books on Demand, Paperback, 180 Seiten, 13 Euro) erzählt Engelbrecht wieder amüsante Rock- und Popgeschichten, vornehmlich gespeist aus den 70er- und 80er Jahren. Er scheint auf ein schier unerschöpfliches Reservoir an solchen Stories zurückgreifen zu können. Bisher lagen aus diesem Themenkreis bereits vor: „Mir brennen die Schläfen“, „Klingende Wunder“ und „Runde Dinger“. Wohl dem, der ein dermaßen gut sortiertes Archiv hat und es so launig ausbreiten kann!

Lektüre vorzeitig abgebrochen

Dass der Franken Verlag als ambitioniertes Projekt in Dortmund an den Start geht, hat sich verheißungsvoll angehört. Gleich mit der ersten Publikation wird die Vorfreude etwas gedämpft. Die aufs Jahr 1992 und die Folgezeit bezogene, nacholympische Stadterkundung „Feinschnitt Barcelona“ von Adrià Pujol Cruells (Aus dem Katalanischen von Matthias Friedrich, Franken Verlag, Dortmund, 256 Seiten, 24 Euro) mag im Original ein großer Wurf sein, doch das teilt sich in der deutschen Übertragung nur bedingt mit. Der Franken Verlag will Übersetzerinnen und Übersetzer durch Namensnennung auf dem Cover eigens würdigen. Gut so. Auch gebührt prinzipiell allen Respekt, die sich übersetzend ans Katalanische begeben. Nun kann ich mangels Kenntnis dieser Sprache nicht beurteilen, inwieweit die vorliegende Übersetzung gelungen ist. Ich nehme allerdings wahr, dass das Resultat im Deutschen gewöhnungsbedürftig klingt. Gleich die ersten Sätze lauten so: „Aus den Laternen auf der Plaça del Sortidor rinnsalt kränkliches Licht… Die Stadtreinigung hat die Pflastersteine mit phreatischem Wasser begossen…“ – „Rinnsalt“, „phreatisch“. Das sind einfach hinderliche Lesebremsen. In ähnlichem Duktus geht es vielfach weiter. Ich gestehe freimütig, die Lektüre vorzeitig abgebrochen zu haben. Vielleicht passe ich ja einfach nicht zu diesem Buch.




Landschaft mit Goldrand: Ausstellung zelebriert „1250 Jahre Westfalen“

Der vergoldete Silberschrein des heiligen Liborius, des Paderborner Dom- und Bistumspatrons, sonst im benachbarten Diözesanmuseum beheimatet, gehört zu den prachtvollsten Schaustücken der Westfalen-Ausstellung des Museums in der Kaiserpfalz. (Foto: LWL / B. Mazhiqi)

Welcher Gedanke liegt wohl nahe, wenn eine große Ausstellung „775 – Westfalen“ heißt? Nun, dann wird der Landesteil wohl 775 Jahre alt werden? Weit, weit gefehlt: Er wird vielmehr stolze 1250 Jahre alt.

Die „775″ steht dabei für die Jahreszahl der allerersten Erwähnung des Namens in einer Urkunde, etwas genauer: in den Reichsannalen jener Zeit, verfasst am Hofe Karls des Großen. Nun ist das unschätzbar wertvolle Zeitdokument in einer frühen, aus der Pariser Nationalbibliothek geliehenen Abschrift (entstanden um 820, in einer Abtei bei Lüttich) im Paderborner LWL-Museum in der Kaiserpfalz zu sehen.

Ankerprojekt eines weit ausgreifenden Themenjahres

Wir reden vom zentralen Ankerprojekt eines ganzen Themenjahres, das der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) ausgerufen hat und das 44 größere Maßnahmen umfasst, die sich zu weit über 300 Einzelveranstaltungen verzweigen. Rund 3 Millionen Euro beträgt die gesamte Fördersumme der LWL-Kulturstiftung. An der heutigen Ausstellungseröffnung in Paderborn hat auch der Schirmherr, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, teilgenommen, u. a. flankiert vom NRW-Ministerpräsidenten Hendrik Wüst. Die Schau macht einen streckenweise hochveredelten Eindruck, mit geradezu feierlicher Illumination und zahlreich schimmernden Goldtönen. LWL-Kulturdezernentin Barbara Rüschoff-Parzinger hofft auf rund 60000 bis 80000 Ausstellungs-Besuche. Solche Zahlen wären auch finanziell hilfreich.

Von den Franken besiegt und erstmals erwähnt

Kurz zurück zur erwähnten karolingischen Urkunde. „Die“ Westfalen (also nicht der noch gar nicht definierte Landesteil, sondern die Leute) fanden nebst anderen Volksstämmen – Ostfalen und Engern – Erwähnung als durch die Franken Besiegte. Damit war der Begriff schriftlich in der Welt und konnte sich durch die Epochen realiter vielfach entfalten – etwa als Herzogtum Westfalen um 1180, mit einem klimatisch bedingten, für Getreideanbau günstigen Boom um 1200 und einem ebenfalls klimatisch eingeleiteten Niedergang im 14. Jahrhundert (Stichwort „Wüstungen“), viel später dann als Schauplatz des Westfälischen Friedens (Münster/Osnabrück) anno 1648, mit dem der Dreißigjährige Krieg endete.

Wiederum ein ganz anders geartetes Land war sodann ab 1807 das französisch regierte „Königreich Westphalen“ unter Jérôme Bonaparte, dem jüngsten Bruder Napoleons. Seinerzeit zählten übrigens weder Münster noch Dortmund hinzu, die wir heute als die westfälischen Metropolen betrachten. Westfalens Hauptstadt hieß damals Kassel. Gar manche Westfalen begrüßten die gewachsenen bürgerlichen Freiheiten unter französischer Herrschaft, doch bald regte sich Unmut, weil Napoleon westfälische „Landeskinder“ als Soldaten für seinen Russlandfeldzug rekrutieren ließ.

Die Schau endet mit den Folgen des Wiener Kongresses von 1815, mit dem die napoleonische Ära endete und Preußen die Grenzen seiner Provinz Westfalen neu und dauerhaft festlegte. Damit wurden auch bis heute prägende Grundmuster der Infrastruktur geschaffen.

Ein „Wanderweg“ durch die Lande und Zeiten

Die Ausstellung breitet ihre Schätze (etwa 500 Exponate) auf rund 1000 Quadratmetern in Form eines „Wanderweges“ durch Lande und Zeiten aus. Ein Epilog, basierend auf Umfragen unter westfälischen Bürgern der Gegenwart, zeichnet schließlich Zukunfts-Perspektiven – nicht zuletzt visualisiert mit Hilfe Künstlicher Intelligenz (KI), die heute ja nirgendwo fehlen darf.

Eine Leitfrage der gesamten Unternehmung lautet: Was macht denn eigentlich Westfalen aus? LWL-Landesdirektor Georg Lunemann ist überzeugt, dass die heutige Heimat von rund 8,3 Millionen Menschen schon immer ein gesellschaftliches „Versuchslabor“ gewesen sei. Ein Menschenschlag habe diese Landschaft geprägt, der zwar zurückhaltend und bodenständig, aber auch stets prinzipiell offen (gewesen) sei. Hier wolle man die Probleme anpacken statt sie nur zu verwalten oder zu vertagen. Nun ja, so oder ähnlich muss man es als LWL-Chef wohl sagen. Westfalen war und ist im Vergleich zum Rheinland jedenfalls ländlicher geprägt und hat auf deutlich mehr Fläche weniger Einwohner. Selbst die westfälischen Ruhrgebietsstädte entstanden auf vormals ländlichen Arealen erst spät und dafür umso rasanter.

Ein Tragaltar für den Paderborner Bischof aus dem 12. Jahrhundert, gefertigt aus Eichenholz, vergoldetem Silberblech, Steinschmuck und Perlen. (Foto: LWL / B. Mazhiqi)

Als die Region bis zur Ostsee reichte

Martin Kroker, Leiter des Paderborner Museums in der Kaiserpfalz, legt Wert auf die Feststellung, dass es keineswegs eine klare, durchgehende Linie von 775 bis 1815 oder gar bis heute gebe, was Westfalen anbelangt. Größere Eindeutigkeit entstand erst mit der preußischen Ordnung im 19. Jahrhundert, namentlich unter Ägide des Freiherrn vom Stein. Zuvor hatten die als „westfälisch“ wahrgenommenen Ländereien zeitweise bis zur Ostsee gereicht, die eingangs der Ausstellung gezeigten alten Karten sind für heutige Begriffe geradezu verwirrend.

Die jetzige Gestalt ist eben erst nach und nach entstanden. Westfalen, wie wir es kennen (oder zu kennen glauben), konkretisierte sich erst allmählich im 19. Jahrhundert, damals entstanden zahlreiche Heimatvereine, einschlägige Denkmäler wurden errichtet und das treuherzige „Westfalenlied“ (1868/69) ward komponiert. Aus all dem leitet sich die generelle Erkenntnis her, dass Westfalen – wie so vieles, ja eigentlich alles – eine dem historischem Wandel unterworfene „Konstruktion“ ist, mit der sich die Menschen dann freilich im Idealfalle identifizieren können. Und überhaupt: Was Westfalen bedeutet, wird stets von Menschen bewirkt.

Die Ausstellung sucht den schier unerschöpflichen Themenkreis vor allem mit archäologischen Funden und markanten Schriftstücken zu fassen. Der Wanderweg wird freilich auch von in Westfalen gewachsenen Pflanzen begleitet, was den Museumsleiter Martin Kroker zunächst beunruhigt hat. Pflanzen neben uralten Schriften? Und was war mit womöglich schädlichen, feuchten Ausdünstungen? Nun, die begleitende Vegetation gedeiht hier völlig ohne Wasser, sie wird aber bis zum Ende der Ausstellung u. a. mit Glycerin konserviert. Gewusst wie! Jedenfalls ist man dank Pollenanalysen heute in der Lage, die westfälische Pflanzenwelt seit der Karolingerzeit im Wesentlichen zu bestimmen.

Abendmahls-Gemälde mit westfälischem Schinken

Und so schreitet man entlang früher Waffenfunde aus kriegerischen Zeiten, bestaunt Zeugnisse der Christianisierung, die mit etlichen Klostergründungen als „Erfolgsmodell“ dargestellt wird, belegt auch durch prachtvolle Altarbilder westfälischer Provenienz. Eine Abendmahls-Darstellung enthält gar typisch westfälischen Schinken als kulinarische Dreingabe. Weitere Höhepunkte sind etwa der kostbar vergoldete Paderborner Libori-Schrein, die penibel ausgetüftelte Sitzordnung zu den Verhandlungen über den Westfälischen Frieden oder die barocke Pracht westfälischer Fürstbischöfe.

Kritische Seitenblicke bleiben nicht aus. So gab es im Gefolge der Befreiungskriege auch in Westfalen nach 1815 nicht nur romantische Verklärungen der Region, sondern auch nationalistisch gewendete Überhöhungen. Manche Westfalen verstanden und gerierten sich nun als die allerbesten und echtesten Deutschen. Da sind einem die „sentimentalen Eichen“, die Heinrich Heine in Westfalen als knorrig-liebenswerten Menschentypus erlebte und bedichtete, doch allemal lieber.

„775 – Westfalen. 1250 Jahre Westfalen“. Paderborn, Museum in der Kaiserpfalz, Am Ikenberg 1 (neben dem Dom). Vom 16. Mai 2025 bis 1. März 2026. Täglich außer montags 10-18 Uhr, jeden ersten Mittwoch im Monat 10-20 Uhr. Eintritt 11 Euro, ermäßigt 6 Euro, Kinder/Jugendliche unter 18 Jahren kostenlos. Katalogbuch (352 Seiten) 35 Euro.

 

 




Erst Rocksängerin, dann Bildhauerin – Pia Bohr: „In der Kultur haben es Frauen immer noch schwerer“

Im Atelier: Pia Bohr mit ihrer Skulptur „Big Engel“. (© Foto: Melanie Hoessel)

Geht’s um Frauen im Kulturbetrieb, so kann Pia Bohr (61) fundierte Auskunft geben. Zuerst hat die Dortmunderin sich über 25 Jahre lang als Sängerin der international gefeierten Kultband „Phillip Boa & the Voodooclub“ verdingt, dann ist sie nach und nach in die Kunstszene gewechselt und hat sich als Bildhauerin etabliert – zuerst mit Holzskulpturen, seit einiger Zeit mit ebenso organischen und biomorphen Schöpfungen in Bronze, weil die Arbeit mit diesem Material körperlich weniger aufreibend ist.

Besuch in ihrer Werkstatt im Dortmunder Klinikviertel, Dudenstraße 4. Hier blüht buntes Leben: Im selben Hinterhof befinden sich eine Kita und das BVB-Fanprojekt. Wir sitzen inmitten einiger ihrer neueren Arbeiten. Ihr Werkstatt-Raum atmet die angenehme Atmosphäre früherer Zeiten, hat gleichsam Patina – bis hin zum nostalgischen Radio aus den 1960er Jahren. Es funktioniert noch einwandfrei. Auch ihre Bronze-Skulpturen, so Pia Bohr, „werden so ziemlich alles überdauern. Sie schmelzen erst bei 1100 Grad.“ Bei dieser Temperatur entstehen sie auch – in einer hochspezialisierten Gießerei im münsterländischen Drensteinfurt. Bundesweit gibt es nur noch ganz wenige vergleichbare Betriebe. Veredeltes Handwerk.

Ja, für Frauen sei es in der Kultur immer schwieriger als für Männer, auch heute noch. Als Sängerin habe sie vielen Fans und Kollegen bloß als „blondes Schätzchen“ gegolten, dabei habe sie selbst etliche Songs für Phillip Boa geschrieben. Gut, dafür fließen (oder rinnen) immer noch ein paar Tantiemen, aber die Anerkennung hielt sich in Grenzen. Überdies gab es abstrusen Rechtsstreit: Als Sängerin hieß sie Pia Lund, doch wurde ihr juristisch untersagt, diesen Namen auch als Bildhauerin zu tragen. Dann halt Pia Bohr. Zur Bandgeschichte gehört schließlich auch, dass ihre damalige Ehe zerbrochen ist. Eine tolle Zeit war es gleichwohl, als die Gruppe beispielsweise mit dem Produzenten von David Bowie arbeiten konnte.

Wie war es dann als Künstlerin? Auch da habe sie kämpfen müssen. Nun nicht mehr in konfliktreicher Gruppendynamik, sondern als Einzelne – mit größeren Freiheiten, aber auch gewachsenen Risiken. Ein männlich dominierter Künstlerbund habe sie partout nicht aufnehmen wollen. Es gab gar Kollegen, die ihr ausreden wollten, Skulpturen mit glatten Oberflächen zu gestalten. Warum? Tja. Einfach mal so. Bestimmen wollen. Herrschaft ausüben. Überdies hatte sie kein Kunststudium vorzuweisen, erst recht nicht bei einem prominenten Professor. Als käme es im Schaffensprozess nicht auf andere Dinge an. Auf Liebe zum Material und Beseelung des Stoffes. Auf Formfindung und Proportionen. Auf innere Wahrhaftigkeit. Und dergleichen mehr. Als Bezugsgrößen für ihr Schaffen nennt Pia Bohr die Oeuvres von Hans Arp, Francis Bacon und Louise Bourgeois.

Vor Relikten des früheren Hoesch-Stahlwerks: Pia Bohrs Arbeit „Die Spionin“. (© Foto: Bruno de Piero)

Und die Zukunft? Scheint, gerade für Frauen, nicht eben rosig zu werden. Pia Bohr beobachtet vielfach eine Wendung rückwärts. Mühsam erstrittene Frauenrechte seien zunehmend bedroht, sagt sie. Im Gefolge des Rechtspopulismus machten sich sogenannte „Trad Wives“ (etwa: Traditionsweibchen) breit, die vorzugsweise mit Trachten oder Schürzen dienende Rollen annähmen, fast wie die „braven Muttis“ in den 1950er Jahren. Dementsprechend erstarke auch der Machismo, keineswegs „nur“ in der kulturellen Sphäre. Wehmütig lächelnd erinnert sich Pia Bohr des Titels ihrer digitalen Graphik: „Das Ende des Patriarchats“. Schön wär’s ja…

Als Ur-Dortmunderin hadert sie, wie so viele, gelegentlich mit dieser Stadt: „Dortmund ist kulturelle Provinz.“ Und nebenan? Nun, schon in der Unistadt Bochum sehe es besser aus. Ungleich lebendiger sei es in Berlin, wie sie kürzlich wieder erleben durfte. Doch da wolle sie nicht dauerhaft hin. „Da gibt es schon so viele Künstlerinnen und Künstler.“

Von Selbstverwirklichung in den Künsten redet sie nicht gern. Noch weniger mag sie die Redensart, jemand mache „das Hobby zum Beruf“. Nein, kulturelles Schaffen sei vor allem harte Arbeit. Es sei freilich wunderbar, wenn sie sehe, wie Leute ihre Skulpturen liebevoll berühren. Dabei werden, neben geglätteten Partien, auch Narben und Verletzungen in Holz oder Bronze spürbar. Schmerzliche Schönheit. Frauen riskierten derlei haptische Annäherung übrigens eher und inniger als Männer. Woran es wohl liegt?

Über all die Jahre hinweg macht Pia Bohr dieselbe Erfahrung: Oft ist unklar, wann der nächste Gig (Auftritt) oder Kunstkauf ansteht. Daraus folgt permanenter Druck. Zwar kann sie inzwischen von der Bildhauerei leben, doch haben ihr die Zeiten der freischaffenden Existenz nur einen kümmerlichen Rentenanspruch eingebracht. Wir nennen den Betrag hier nicht, es könnten einem schier die Tränen kommen. In wilder bewegten Jahren macht man sich ja auch wenig Gedanken über Einkünfte im „Ruhestand“. Auch so ein Wort, das ihr widerstrebt.

„Frauen in der Kunst“ – das Thema findet Pia Bohr wichtig. Aber: „Dass es eigens hervorgehoben wird, zeigt auch, dass es leider immer noch nicht selbstverständlich ist.“ Wo sie recht hat…

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Der Text ist zuerst im Kulturmagazin Westfalenspiegel (Münster) erschienen: www.westfalenspiegel.de

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Vom 10. Mai bis zum 8. Juni 2025 ist unter dem Titel „helle wachträume“ eine gemeinsame Ausstellung von Pia Bohr und Sonia Ruskov zu sehen, und zwar in der Produzentengalerie „Friedrich 7″ (Friedrich-Ebert-Straße 7, 44263 Dortmund). Öffnungszeiten: Mittwoch 16-18 Uhr, Samstag/Sonntag 14-17 Uhr.

Weitere Infos über die Künstlerin: www.bohrskulpturen.de




Im Bann der miesen Machenschaften – Andreas Maiers Roman „Der Teufel“

Eine Kindheit in den frühen 1970er Jahren, vermeintlich recht speziell und doch wohl typisch. Da wird der kleine Junge dauernd vor dem Fernsehgerät „geparkt“ und guckt schier alles weg – von der Sesamstraße bis zum „Blauen Bock“. Bald darauf bemisst sich die soziale Stellung unter Schulfreunden danach, ob jemand eine Carrera-Bahn hat oder nicht. Kommt einem irgendwie bekannt vor, wenn man ein paar Jährchen auf dem Buckel hat, nicht wahr?

Immer wieder lesenswert sind all die Episoden, die Andreas Maier so unprätentiös aus seiner Kindheit und Jugend hervorholt. Was muss der Mann für einen Schatz an Notizen und Tagebüchern haben! Oder ein untrügliches Gedächtnis, gepaart mir ausschmückender Phantasie… Jedenfalls hat er Friedberg, die Wetterau, Bad Nauheim und angrenzende Gebiete nachhaltig der literarischen Landkarte einbeschrieben. Er entwirft keine großen Geschichten und erfasst doch – von unscheinbaren Rändern her – abermals einige Essenzen der 70er und 80er Jahre. Auch dieser Band ist wieder Teil seines fortwährenden Projekts der Vergegenwärtigung.

In Maiers neuem Buch „Der Teufel“ geht es wiederholt um heftig gewollte, bewusst lancierte Zuschreibungen guter und vor allem böser Eigenschaften, nicht zuletzt in den Fernsehnachrichten. Alle paar Jahre wurden dort neue „Teufel“ ausgerufen und hernach vorzugsweise flugs mit Hitler verglichen, die man bis dahin nicht einmal namentlich gekannt hatte. Beispielsweise in Panama, in Rumänien, im Irak, in Serbien (Noriega, Ceausescu, Saddam, Milosevic). Wie da auf einmal der vormals so nette und gastfreundliche Dragoslaw vom örtlichen Jugo-Grill misstrauisch beäugt wurde! Und so weiter, immer fort. Mehrfach taucht zwischendurch und gegen Ende hin der gemalte „Friedberger Teufel“ auf, wie er offenbar in der örtlichen Stadtkirche vorgefunden werden konnte, die – allen linken Umtrieben zum Trotz – eine seltsame Anziehungskraft auf den Heranwachsenden ausübt. Oder sollte dieser Teufel schließlich unversehens verschwunden sein, wie so vieles aus der Vergangenheit?

Jene Zeiten waren ein vielfaches Entweder-Oder: entweder katholisch oder evangelisch, entweder CDU oder SPD, entweder Fleischmann oder Märklin, entweder links oder spießig und (schon etwas feiner justiert): entweder Led Zeppelin oder Roxy Music. Es waren jene Jahre, als man in links sich wähnenden Kreisen Svende Merians sensibilistisch frauenbewegtes Buch „Der Tod des Märchenprinzen“ las. Um es mit einem Titel von Peter Rühmkorf zu sagen: „Die Jahre, die ihr kennt“. Im Gefolge Merians hat sich der jugendliche Erzähler fest vorgenommen, beim Debüt mit der neuen Freundin bloß nicht machomäßig zu ejakulieren. Und so sehr betont er im Nachhinein, man sei damals keinesfalls „uniformiert“ herumgelaufen, dass das Dementi geradezu eine Bekräftigung ist.

Prägnant auch jene eingestreuten Skizzen, etwa vom grotesken Tanzlehrer, vom allfälligen kollektiven Abhängen in Jugendjahren, vom geistig geschwächten Onkel, der sich in ängstlicher Beflissenheit an den schütteren Meinungsfragmenten seines Bruders (Vater des Erzählers) zu orientieren sucht, wenn sie gemeinsam Tagesschau gucken. Auch die gleichförmigen Tage der Oma, die zusehends auf den Tod zulebt, verdichten sich ebenso qualvoll wie anrührend von Zeile zu Zeile. Sodann 1989 und die Folgen: die lästigen „Ossis“, die nun auch in Hessen penetrant auftauchten und z. B. in HiFi-Geschäften begehrlich Bauklötze staunten.

Andreas Maier lotet das Verhältnis des privaten Nahbereichs zu den großen Polit-Machenschaften der Zeit aus. Die Letzteren erweisen sich als üble Kulissenschieberei, während es doch für die Einzelwesen aufs Privatleben ankommen sollte. Verfeindet sind freilich auch Zweige der Familie, die einander wiederum teuflische Eigenschaften zuschreiben. Allenthalben werden Teufel an die Wand gemalt. Fast möchte man meinen, es sei hohe Zeit für eine Teufelsaustreibung. Aber wie? Doch nicht etwa wie gehabt?

Andreas Maier: „Der Teufel“. Roman. Suhrkamp Verlag, 248 Seiten, 25 Euro.

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P. S.: Hier noch ein krittelnder Hinweis auf Seite 62, zur Nachbearbeitung empfohlen: „…und schindeten dadurch Eindruck bei den Frauen…“ ist einfach kein herkömmlich korrektes Deutsch. Oder lässt der Duden auch das schon wieder gelten?

 

 




Wachsendes Interesse an Musik von Frauen: Warum der Weg ins Repertoire verwehrt blieb und was sich heute ändern muss

Zur „Wiederentdeckung des Jahres“ kürte das Fachmagazin „Opernwelt“ Louise Bertins Oper „Fausto“, die am Aalto Musiktheater im vergangenen Jahr ihre deutsche Erstaufführung feiern konnte. Jetzt war das Stück erneut in Essen zu erleben, mit Mirko Roschkowski (Fausto, rechts) und Almas Svilpa (Mefistofele). (Foto: Froster)

Komponierende Frauen gibt es, seit es die europäische Kunstmusik gibt, nur ist ihnen die Beachtung über den Tag hinaus versagt geblieben. Erst in jüngster Zeit gelingt es Komponistinnen, dauerhaft im Blick der musikalischen Öffentlichkeit zu bleiben. Die vor wenigen Tagen verstorbene Sofia Gubaidulina ist eine von ihnen, oder die Finnin Kaija Saariaho, die 2023 gestorben ist und deren letzte Oper „Innocence“ am Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen eine großartige deutsche Erstaufführung erlebt hat.

Für das Defizit gibt es vielerlei Gründe, die nicht in der Qualität der Musik liegen: Im 19. Jahrhundert etwa waren Frauen wie die Italienerin Orsola Aspri (um 1807-1884) selbstverständlicher Bestandteil des römischen Operngeschäfts, wie die Wiener Musikwissenschaftlerin Melanie Unseld festgestellt hat. Warum Werken von Frauen den Weg ins historische Repertoire verwehrt wurde, hat gesellschaftliche und ideologische Gründe: eine männlich geprägte Presse, männliche Träger der Überlieferung und der Wissenschaft, schließlich auch der „Geniekult“ des 19. Jahrhunderts, für den ein auf Augenhöhe komponierendes „schwaches Weib“ undenkbar war.

In den letzten Jahren wächst das Interesse an dem, was Frauen hinterlassen haben. Bevor die Qualität ihrer Musik einem nach heutigen Kriterien fundierten Urteil unterworfen werden kann, muss sie erst einmal entdeckt und gehört werden. Denn noch so sorgfältige Editionen, noch so detaillierte musikhistorische Vergleiche nützen nicht viel, wenn sie nur zum Rascheln von Papier führen.

Merle Fahrholz bei der Pressekonferenz zu ihrer Vorstellung als neue Essener Intendantin 2021. (Foto: Werner Häußner)

Merle Fahrholz, die 2022 angetretene und 2027 schon wieder scheidende Intendantin des Aalto-Theaters Essen hat sich dieses Themas schon als Dramaturgin in Dortmund angenommen und für ihre Intendanz die Sicht- bzw. Hörbarkeit der Stimmen von Frauen zu einem programmatischen Schwerpunkt erklärt. Dass ein solches Projekt beim eher vorsichtig-traditionell geprägten Essener Publikum nicht gleich auf heftige Gegenliebe stößt, müsste auch den Verantwortlichen klar gewesen sein, die Fahrholz ihr Vertrauen geschenkt haben. Dass es nun ab 2027 wohl wieder weitergehen könnte, wie gehabt, ist bedauerlich.

Ein französischer „Faust“

Dabei ist nicht recht einzusehen, warum eine Oper wie Louise Bertins „Fausto“ – 2023 in deutscher Erstaufführung auf die Aalto-Bühne gebracht – auch bei einem eher das Gewohnte liebende Publikum nicht auf Gegenliebe stoßen sollte. Die Französin Bertin, eine körperlich beeinträchtigte junge Frau, die von ihrem Vater in jeder erdenklichen Weise gefördert wurde, konnte immerhin drei ihrer vier Opern auf Pariser Bühnen unterbringen – und der Konkurrenzdruck war um 1830 riesig!

Die Essener Aufführung in der Inszenierung von Tatjana Gürbaca, die im Februar noch einmal für eine kleine Serie wieder aufgenommen wurde, zeigt Bertins Eigenheiten im Umgang mit dem Stoff: Sie benutzt andere Quellen als Goethe und schildert einen Faust, der einem unerreichbaren Glück hinterherjagt und dafür bereit ist, die Existenz der jungen Margarita zu zerstören. Die Menschen in diesem Stück sind wankelmütig, manchmal zynisch, aber auch den Zwängen ihrer Gesellschaft unterworfen. Für die Mädchen etwa ist die Liebe Segen und Fluch zugleich: Sie sehnen sich nach Beziehung, wissen aber auch, wie ambivalent die Ehe als einzige akzeptierte gesellschaftliche Form sein kann. Und Mephisto ist bei Bertin eher ein Kommentator, der sich wundert, wie die Menschen sich ihr Glück und Leben selbst zugrunde richten.

Komponistin Louise Bertin. (Foto: Bru Zane Mediabase)

Das ist ein Stoff, der unter den Libretti bekannter Opern problemlos mithalten kann. Und die Musik? Bertin ist sich ihrer Mittel bewusst. Sie kennt den „Tonfall“ ihrer Zeit: Kantilenen á la Donizetti, Buffoneskes nach Art Rossinis, dazwischen Lyrismen, die aus dem Zauberkasten der erfolgreichen Opern Daniel François Esprit Aubers stammen könnten. Aber der Ton ist auf eine charmante Weise eigen, das Eklektische in der Musik hat seinen Platz. Man spürt, dass es dieser komponierenden Frau ums Ganze geht.

Blick in die Vergangenheit reicht nicht

Den Blick nur in die Vergangenheit zu richten, wäre eine halbe Sache: Frauen gehören in der zeitgenössischen Szene zwar vorbehaltlos dazu. Eine „Quote“ wäre auch abwegig und würde ihrer Musik einen Stempel aufdrücken, der ihr nicht bekommt. Gespielt werden soll, was gut ist. Aber neue Stücke müssen sich durchsetzen – und das bedeutet, dass eine Uraufführung hier und da zwar dienlich, aber nicht nachhaltig ist.

Das Fahrholz-Team weiß das, und hat für eine deutsche Erstaufführung die Oper „The Listeners“ der Amerikanerin Missy Mazzoli nach Essen geholt. Ein Werk, das den Stand des Komponierens in den USA anschaulich repräsentiert. „Accessible and surprising“ beschreibt Mazzoli ihre Absicht, mit ihrer Musik Menschen zu erreichen, ohne Kompromisse in der Qualität zu machen. Bei ihr stehen nicht Form und Struktur im Vordergrund, sondern der Klang, den der Essener GMD Andrea Sanguineti „eine Umarmung“ genannt hat.

Szene aus der Deutschen Erstaufführung von Missy Mazzolis „The Listeners“ am Aalto-Theater Essen. (Foto: Alvise Predieri)

„The Listeners“ ist ein ambivalenter Titel: Es geht um Menschen, die einen Brummton hören, der nicht von innen kommt und als Teil der Außenwelt feststellbar ist. Claire bricht – von diesem Ton gepeinigt – aus ihrer geordneten Lehrerinnen- und Familienwelt aus. Sie schließt sich mit Kyle, einem ihrer Schüler, der den „Hum“ auch hört, einer Selbsthilfegruppe an, die immer deutlicher sektenähnliche Züge zeigt. Schließlich entlarvt Claire den charismatisch-manipulativen Führer Howard und wird selbst zur Anführerin der Gruppe der „Hörenden“. Ein offenes Ende, denn Claire hat sich zwar von ihren bisherigen Rollenzwängen befreit, ob sie aber die Gruppe in eine bessere Zukunft führt, ist fraglich.

Manipulation und Befreiung

Das Thema des Librettos nach einer Erzählung von Jordan Tannahill lässt unterschiedliche Verständnisfacetten zu: Es schildert typische Mechanismen einer Sektenbildung und die Dynamik einer Manipulation, wie sie etwa bei Scientology beobachtet wurde. Aber es rückt auch den Entwicklungsprozess einer Frau ins Zentrum, die zu ihrer eigentlichen Bestimmung durchbricht. Die vieldeutige Figur eines Koyoten, dargestellt von einem Tänzer, eröffnet zusätzliche Horizonte, wenn man die Rolle des Tieres in der amerikanischen Mythologie einbezieht oder in ihm ein Symbol von „Wildheit“ oder „Natur“ erblickt. Anna-Sophie Mahlers Inszenierung hat diese Aspekte von Mazzolis Oper anklingen lassen, ohne sich zu sehr festzulegen.

Zur letzten Vorstellung von „The Listeners“ stellt sich im Rahmen des Festival „her:voice“ die extra angereiste Komponistin Missy Mazzoli den Fragen des Publikums. (Foto: Werner Häußner)

„The Listeners“ ist auch beachtenswert, weil es gelingt, einen zeitgenössischen Stoff ohne literarische Vorbilder oder historische Bezüge auf die Bühne zu bringen. Das erreichte auch Kaija Saariahos „Innocence“, zu der die finnische Librettistin Sofi Oksanen die Grundlage geliefert hat. Auch hier geht es um Gegenwärtiges: Zehn Jahre nach einem Schulmassaker müssen sich die Familie und die Schulfreunde des Amokschützen ihren Erinnerungen, ihren Gefühlen und auch ihrer Mitschuld stellen. In der Regie von Elisabeth Stöppler und der musikalischen Ausdeutung durch Valtteri Rauhalammi gelang ein erschütternder Abend im Musiktheater. Derzeit wird das Werk auch an der Semperoper Dresden in einer Inszenierung von Lorenzo Fioroni gezeigt.

Für die Amerikaner ist das „well made play“ ein wichtiges Kriterium für ein Stück – ein Konzept, das von manchen von Intellekt triefenden Libretti der deutschen Opernszene weit entfernt ist. Mazzolis Librettist Royce Vavrek gehört zu den am meisten gefeierten Musiktheater-Literaten der USA. Warum, war nicht nur in „The Listeners“ erfahrbar: Die Oper „Dog Days“ etwa, die er mit dem Komponisten David T. Little 2012 geschaffen hat, war in Bielefeld, Schwerin und Braunschweig zu sehen und hat in ihrer dystopischen Rätselhaftigkeit den Ruf Vavreks bestätigt. Für die „New York Times“ hat die Oper das Zeug zum „bahnbrechenden amerikanischen Klassiker“.

Kammermusik und Symphonik

Viel mehr noch als für die Oper haben Frauen im Bereich der Kammermusik geleistet. Sie waren entweder selbst ausübende Musikerinnen wie Clara Schumann, Sängerinnen wie Pauline Viardot-Garcia, oder hatten die private Sphäre eines Salons als Plattform, um sich als Komponistin zu zeigen. Wie diese Werke klingen, war in Essen beim zweiten Komponistinnenfestival „her:voice“ hörbar: In einem Kammerkonzert erklang Musik von Alma Mahler-Werfel, die derzeit auch im Essener Museum Folkwang in einer Ausstellung („Frau in Blau – Oskar Kokoschka und Alma Mahler“) präsent ist. So gut wie unbekannt sind ihre Zeitgenossinnen Evelyn Faltis (1887-1937) und Mathilde Kralik von Meyerswalden (1857-1944).

Alma Mahler stand auch beim Symphoniekonzert der Essener Philharmoniker im Zentrum: Bearbeitet für Alt und Orchester von Jorma Paula, erklangen fünf ihrer Lieder, die erhalten sind, weil sie der begeisterte Gustav Mahler im Druck erscheinen ließ. Es sind lyrische Miniaturen, durchtränkt von spätromantischer Melancholie, in denen sich Liebende im weiten Wald in sternlosem Dunkel finden und im düsteren Nebel ein Kindermund ein „Lichtlein“ aufgehen lässt. Bettina Ranch sang die Kostbarkeiten, gestützt von der gekonnt revitalisierten romantischen Orchestersprache, eher auf Klang als auf Deklamation bedacht mit weich strömenden Vokalen und Brokatschimmer im Timbre.

Auch im Falle der Symphonik wirkt in der Entstehung des „Kanons“ von Beethoven bis Bruckner und Mahler ein analytischer Filter mit: Relevant und anerkannt ist, was gattungsgeschichtlich Neues mit sich gebracht hat. Zu den nicht wenigen Symphonien, die diesen Anspruch nicht erfüllen, aber dennoch satztechnisch tadellose, abwechslungs- und einfallsreiche Musik bieten, gehören nicht nur Werke komponierender Frauen. Auch Symphoniker wie Charles Gounod oder Louis Théodore Gouvy ereilte das Schicksal einer – zudem nationalistisch gefärbten – Nichtbeachtung. Wie viel schwerer haben es in solchem Ambiente komponierende Frauen wie Emilie Mayer (1812-1883), Louise Farrenc (1804-1875) oder Charlotte Sohy (1887-1955) mit ihrer einzigen Symphonie.

Einfallsreich und professionell

Wer die Werke hört, die sich allmählich in Konzertprogrammen durchsetzen, kann nur bedauern, wie solche einfallsreichen und professionellen Arbeiten einfach verschwinden konnten. Sohys cis-Moll-Sinfonie „La grande guerre“, geschrieben 1914-1917, erstmals aufgeführt 2019, ist nur bedingt dazu zu zählen. So eindrucksvoll die gedrückte Stimmung des Beginns ist, so gekonnt sie Melodien ausbreitet und im zweiten Satz „vif“ Scherzo-Anklänge einführt: Die Instrumentierung ist stets dick, Kontraste fehlen und dem Hörer fällt es schwer, thematische oder strukturelle Fixpunkte zu erkennen – zumal die Essener Philharmoniker unter der sich wacker durchschlagenden Düsseldorfer Kapellmeisterin Katharina Müllner nicht zur gewohnten plastischen Durchzeichnung der dichten Gewebe finden. Da fällt der Kontrast zur Musik einer souveränen Könnerin drastisch aus: Kaija Saariahos „Ciel d’Hiver“ ist ein Meisterstück feinster fragiler flimmernder Klänge, in dem die Essener Philharmoniker zeigen, wie gut sie ihre solistischen Passagen untereinander abstimmen.

Überzeugender wirkt, was der Dirigent Jakob Lehmann vor einiger Zeit in Köln mit dem Concerto Köln aus Frauenfeder präsentiert hat: Louise Farrenc (1804-1875) ist in den Jahren 1845 bis 1849 mit drei Sinfonien hervorgetreten, die allen Maßstäben ihrer Zeit standhalten können. Auch ihre in Köln erklungene Es-Dur-Ouvertüre op. 24 aus dem Jahr 1834 ist ein mitreißendes Werk, vom düsteren Don-Giovanni-Pathos der Einleitung, über die einprägsame Thematik des Allegro bis zur gekonnten Finalwirkung. Man hört eine abwechslungsreiche Instrumentierung und aparte melodische Erfindung. Auch Emilie Mayers viersätzige Sinfonie Nr. 7 in f-Moll von 1856 kann mühelos mithalten: eine regelgerechte, dennoch nicht unoriginelle Sonatenform im Kopfsatz, ein farbenreicher Gesang im Adagio, der sich im Blech hymnisch erhebt, ein Scherzo mit rhythmischem Pep und einigen Überraschungen und ein energisches Finale. Das ist Musik, die man gerne wieder hört.

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Im Januar 2027 plant das Aalto-Theater Essen die Uraufführung der Oper „Day of Night“ der finnischen Komponistin Outi Tarkiainen. „Day of Night“ ist eine Koproduktion des Aalto Musiktheaters und der Finnish National Opera, wo die Oper dann im Herbst 2027 gezeigt wird. „Day of Night“ basiert auf dem gefeierten Debütroman „Halla Helle“ von Niillas Holmberg. Das Buch setzt sich den in Nordskandinavien beheimateten Sámi, dem einzigen indigenen Volk Europas, auseinander, dem Holmberg selbst angehört. Der finnisch-französische Autor Aleksi Barrière hat aus dieser Vorlage ein packendes Opernlibretto geschaffen. Intendantin Merle Fahrholz schreibt dazu: „Die Oper thematisiert den Wandel einer Region hinsichtlich Natur und Industrie, der sich auch im Ruhrgebiet beobachten lässt.“




„Panik wäre angebrachter“ – Essays und Reden von Daniel Kehlmann

Im Juli 2024 hält Daniel Kehlmann im Berliner Bundeskanzleramt bei einem Kultur-Festakt eine Rede, mit der er den Zuhörern gründlich die gute Laune verdirbt. Denn statt die Kunst zu rühmen und ihr in der Ära der digitalen Moderne eine glorreiche Zukunft zu prophezeien, hält er eine Totenmesse und warnt vor den Gefahren der Künstlichen Intelligenz, die nicht nur die kreativen Berufe, sondern die ganze Demokratie bedrohe.

Da kommt etwas „auf uns zu, für das wir keinen angemessenen Instinkt haben“, das „nicht wirklich unser Gemüt erfasst“. Wir müssten aber endlich begreifen, dass die KI mit ihren Datenbanken und Algorithmen uns nicht nur Arbeit abnimmt, sondern auch unser Bewusstsein beherrscht und unsere Bedürfnisse ausbeutet, politische Meinungen herstellen, Gesellschaften zerstören und einen neuen Kunstbegriff begründen kann: „Panik wäre angebrachter als die entspannte Ruhe, mit der wir dem Tsunami entgegenblicken, der sich bereits am Horizont abzeichnet.“

Enzyklopädisch gebildeter Intellektueller

Der 1975 in München geborene, in Wien aufgewachsene und inzwischen in Berlin und New York lebende Daniel Kehlmann gilt als bedeutende Stimme der zeitgenössischen Literatur. In seinen Romanen („Die Vermessung der Welt“, „Tyll“, „Lichtspiel“), verwebt er Fakten und Fiktionen, Realität und Fantasie zu einem literarischen Teppich und schwebt durch Zeit und Raum. Kehlmann gehört zur seltenen Spezies des enzyklopädisch gebildeten Intellektuellen, der das Wissen der Welt speichert, sich für politische und wirtschaftliche Entwicklungen genauso interessiert wie für literarische Debatten, für historische Fundstücke und die Abgründe der digitalen Kapitalismus. In einem Band mit Essays und Reden gibt er darüber Auskunft. Den Titel hat er sich bei Friedrich Schiller ausgeliehen, der seinen zu Tode erschöpften Feldherrn Wallenstein sagen lässt: „Sorgt, dass sie nicht zu zeitig mich erwecken“: Schreibt nicht zu bald über mich, lasst ein wenig Zeit vergehen, Abstand ist nötig, damit der erfinderische Autor sein Werk beginnen kann.

Die Wahrheit kennen und die Verblendung wählen

Die nötige Distanz und das richtige Maß finden will auch Kehlmann, wenn er Donald Trump als „Monster“ beschreibt, das mit einem Knopfruck den Atomkrieg auslösen und das Ende der Welt heraufbeschwören kann. Den Film „Happy End“ (Michael Haneke) sieht er als „prophetisches Werk über uns, die wir die Wahrheit kennen und die Verblendung wählen“, indem wir den Planeten mit unserer Misswirtschaft zugrunde richten, es uns aber noch „gut in unseren schönen Häusern“ gehen lassen und fröhlich feiern, „auch wenn die Ausgebeuteten bereits bei unserem Fest auftauchen“ und „der Meeresspiegel unterdessen immerzu steigt.“

„Menschen helfen, die Hilfe brauchen“

Über Salman Rushdie, der trotz aller Anfeindungen nie den Mut verliert und für seine irrlichternden Romane längst den Literaturnobelpreis verdient hätte, spricht Keilmann ebenfalls. Und über seinen Vater, der sich mit gefälschten Dokumenten vom Juden zum Halbjuden wandelte, dann aber doch von den Nazis verhaftet und in ein KZ gesperrt wurde, nur durch Zufall wieder frei kam und überlebte. „Niemals vergessen!“ bedeutet für ihn: „Menschen helfen, die Hilfe brauchen, auch wenn sie eine andere Religion haben, eine andere Kultur, andere Sprache, andere Hautfarbe, und zwar im Angedenken an die Vertriebenen und die Toten unseres eigenen Landes vor noch nicht langer Zeit.“

Daniel Kehlmann: „Sorgt, dass sie nicht zu zeitig mich erwecken.“ Essays und Reden. Rowohlt Verlag, 306 Seiten, 25 Euro.

 

 




Erkundungen im real existierenden Kapitalismus: Der Schriftsteller Ingo Schulze streift durchs Ruhrgebiet

An diesem imposanten Ort beginnen die Ruhrgebiets-Erkundungen von Ingo Schulze: die kruppsche Villa Hügel in Essen. (Foto von Januar 2006: Bernd Berke)

Ein halbes Jahr lang war Ingo Schulze so etwas wie der Stadtschreiber des Ruhrgebiets, Oktober 2022 bis März 2023, Wohnsitz in Mülheim, eingeladen von der Brost-Stiftung. Zwei Dinge hatte er sich für diese Zeit vorgenommen, nämlich erstens an streng durchstrukturierten Arbeitstagen halbtags an seinem neuen Roman zu arbeiten und zweitens jede Einladung anzunehmen, die er in seiner Ruhrgebietszeit erhielt. „Ich weiß nicht, warum ich immer wieder auf mich selbst reinfalle“, schreibt er in der Rückschau, „keine Zeile habe ich an meinem Roman geschrieben.“

Das Ruhrgebiet, so könnte man folgern, erregte des Dichters ganze Aufmerksamkeit. Aber interessante Menschen hat er getroffen, Lehrerinnen, Polizisten, Gewerkschafter, Techniker, Buchhändler und so fort, eine bunte Mischung. „Zu Gast im Westen – Aufzeichnungen aus dem Ruhrgebiet“ heißt das Buch, das Schulzes Begegnungen und Recherchen nun in recht entspannter Form versammelt – keine Skandalliteratur, ganz sicher nicht, auch keine geographische Liebesprosa.

Das Thema wirkt zunächst einmal wie falsch gestellt. Denn gängig sind ja nach wie vor eher die Berichte über den Osten, besonders über die Unzufriedenheit der dortigen Abgehängten und Rechtsradikalen. Hier aber nun: sachliche Berichte aus dem Westen, von Ingo Schulze mit Ernst und Akribie aus kaum wahrnehmbarer „Ost-Optik“ heraus verfaßt.

Die Jahre nach der Wende

Mit seinem opulenten Nach-Wende-Roman „Neue Leben“, schrieb Schulze sich in bleibende, respektvolle Erinnerung. Das knapp 800 Seiten starke Buch, 2005 erschienen, gab einem eingefleischten Westler (wie dem Verfasser dieser Zeilen) etwas mehr als eine Ahnung davon, was der Untergang der DDR mit Menschen in verschiedenen Milieus machte. Es war eine Zeit, wie sie unterschiedlicher in Ost und West ja kaum sein konnte; was „drüben“ Existenzen von Grund auf umkrempelte, reduzierte sich im Westen auf Tagesschaunachrichten. Später hat Schulze auch in, wenn man so will, ostdeutschen „Langzeit-Befindlichkeiten“ gegründelt, hat etwa in „Die rechtschaffenen Mörder“ (2020) den langsamen, unerbittlichen und offenbar ungeheuer kränkenden Bedeutungsverlust eines einstmals schillernden, luziden Buchhändlers und seiner Bücher beschrieben. Ganz leicht war das Verletzende in dieser Geschichte für den Westler nicht zu greifen, doch blieb der Eindruck großer Redlichkeit, der Ingo Schulzes Texten Mal um Mal eigen zu sein scheint.

Bei Krupp in Essen

So. Und nun tut sich der Dichter, 1962 in Dresden geboren und wohnhaft in Berlin, im Ruhrgebiet um, und er fängt dort an, wo es vielleicht immer noch seinen Markenkern hat, bei Krupp in Essen, Villa Hügel. Schulze, dessen Weltbild einst vermutlich vom Hauptwiderspruch zwischen Lohnarbeit und Kapital geprägt wurde, entwickelt großes Interesse am real existierenden Kapitalismus im Westen der Republik; er arbeitet anerkennend heraus, wie die Montan-Mitbestimmung über Jahrzehnte hin funktioniert hat, stellt aber auch fest, daß sie Betriebsschließungen – wie die von Rheinhausen – nicht verhindern konnte. Schulze recherchiert recht journalistisch, doch mitunter kommt am Ende eher Literatur dabei heraus. So, wenn er ähnlich Bert Brechts lesendem Arbeiter fragt, was aus dem flammenden Streikredner nach seiner letzten Rede wurde. (Er machte sich im Recycling selbständig, ging später bankrott.)

Irritierender Namensgeber

Schulze irritiert, daß Alfried Krupp von Bohlen und Halbach immer noch Namensgeber von Essener Einrichtungen wie der Philharmonie ist, obwohl er nach dem Krieg als Kriegsverbrecher eingestuft und interniert wurde. Ebenso aber registriert er auch, daß Berthold Beitz, der legendäre Krupp-Generalbevollmächtigte, in der Nazi-Zeit viele jüdische Mitarbeiter vor der Deportation bewahrte, indem er sie als betrieblich unabkömmlich meldete. Beitz’ Liste war jener Schindlers ähnlich.

Schulzes Krupp-Geschichte hat, wie einige andere Beiträge im Buch auch, in etwa den Umfang und Rechercheaufwand einer profunden schulischen Hausarbeit. Schlußendliche Wertungen bleiben aus, eher fällt dem Autor auf, daß die Menschen einander doch recht ähnlich sind, im Osten und im Westen.

Emscher-Renaturierung in allen Details

Den Duisburger Hafen besichtigt er, er schreibt über schulische Konzepte in schwierigen, durch Migration geprägten Stadtteilen, läßt sich von einem pensionierten Polizeichef spezifische Probleme mit arabischer Clan-Kriminalität erklären, ist schwer beeindruckt von der Emscher-Renaturierung. Bei letzterer hat er aus Schriften der Emschergenossenschaft abgeschrieben (bzw. ausführlich zitiert), und das teilt er auch ausdrücklich mit. Da geht es um die komplexe Technik, die die Reinigung der Emscher möglich macht, und wer so viel Technisches nicht wissen will, mag diesen Abschnitt getrost überblättern. Der Dichter selbst rät dazu.

Leider tut er gleiches nicht, wenn es um unorthodoxe Grundschulpädagogik geht, die weitgehend ohne deutsche Sprache auskommen muß. Da wird der Text ausladend und detailverliebt. Seitenlang beschreibt er fast wie ein Manual das Procedere, ohne nach dem theoretischen Konzept zu fragen, das dem Ganzen doch sicherlich zugrundeliegt. Hier wäre Raffung ein Gewinn – oder à la Kläranlage der technische Hinweis an pädagogisch Desinteressierte, wieviele Seiten man überblättern kann.

Ein Fan von Borussia Dortmund

Der Schriftsteller sitzt im Orchestergraben und besichtigt einen Soldatenfriedhof; die naturgemäß abenteuerliche Geschichte eines DDR-Flüchtlings, der damals über Ungarn ins Revier kam, gelangt zum Vortrag, und dann ist da natürlich der Fußball. Schulze offenbart sich als Fan von Borussia Dortmund, und deshalb gibt es auch die entsprechenden Spielberichte. Die aber sind so anders nicht als jene, die man schon kennt, gelbe Wand und so weiter. Wiederum bleibt festzustellen, daß das tägliche Leben im tiefen Westen so anders nicht zu sein scheint als im Osten der Republik.

Die Liebe zu den Büchern

Ein nostalgischer Schlußakkord schließlich ist dann der Besuch in Helmut Loevens Duisburger „Weltbühne“, einer der letzten dezidiert linken Buchhandlungen. Kommunistische Literatur aus aller Welt, gut behütet und geordnet, unendlich wertvoll und kaum noch nachgefragt. Loeven und Schulze – mehrfach begegnen sich hier zwei Buch-Afficionados, und wenn sie sich ihre Vorlieben eingestehen, ist das fast schon ein intimer Moment, bei dem der Leser stört.

Der junge Dortmunder Bundestagsabgeordnete

Merkwürdig geriet, für Dortmunder zumal, der allerletzte Teil des Buches. Da besucht Ingo Schulze den langjährigen Dortmunder Ex-Bundestagsabgeordneten Marco Bülow und läßt sich von dem – widerstandslos, könnte man fast sagen – in den Block diktieren, wie das alles begann und sich eher unglücklich fortsetzte. Ohne in Details gehen zu wollen sei angemerkt, daß die Geschichte des SPD-Abgeordneten Bülow, der die letzten drei Jahre als Parteiloser (bzw. als Neumitglied von DIE PARTEI) in vielen Punkten auch anders erzählt werden könnte. So war seine Nominierung zumindest nicht nur Folge persönlicher Beliebtheit, sondern auch Resultat einer neuen Rekrutierungsstrategie der Partei, die unbedingt jünger und weiblicher werden wollte und alte Schlachtrösser wie Bülow-Vorgänger Hans Urbaniak dafür gerne in die Wüste schickte. Möglicherweise hat dieser recht senkrechte Start dem jungen Bülow nicht gutgetan, hat ihn überfordert, und möglicherweise wäre Schulze dieser alles in allem doch recht bizarren Politikerkarriere durch kluge Nachfragen näher gekommen als durch unkritisches Protokollieren. Nur so viel zu diesem Teil des Buches.

Wertvolle Fleißarbeit

Nun gut. Um „Aufzeichnungen aus dem Ruhrgebiet“ ging es, und da ist der Dichter in seinen Entscheidungen frei, was er aufzeichnen möchte und was nicht. Natürlich hätte man sich auch Beiträge vorstellen können, etwa zum Straßenverkehr (Schulze ist notorischer ÖPNV-Nutzer oder Mitfahrer) oder zur Kleinkunst, beispielsweise. Trotzdem geriet Schulzes Buch alles in allem zu einer Fleißarbeit, wohltuend in seiner durchgängigen Sachlichkeit – eine wertvolle Ergänzung der Regalabteilung mit den regionalen Schriften.

  • Ingo Schulze: „Zu Gast im Westen – Aufzeichnungen aus dem Ruhrgebiet“, Wallstein Verlag, 344 Seiten, keine Bilder, 24 €.



Aufklärung, das unvollendete Projekt – opulente Ausstellung in Berlin

Erstdruck der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika vom 4. Juli 1776, gedruckt von Steiner und Cist in deutscher Sprache, Philadelphia, 8. Juli 1776. (© Deutsches Historisches Museum)

In einem der wirkungsmächtigsten Dokumente der demokratischen Staatsphilosophie, formuliert im Jahr 1776, wird festgestellt, „daß alle Menschen gleich erschaffen worden, daß sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt worden, worunter sind Leben, Freyheit und das Bestreben nach Glückseligkeit. Daß zur Versicherung dieser Rechte Regierungen unter den Menschen eingeführt worden sind, welche ihre gerechte Gewalt von der Einwilligung der Regierten herleiten; daß sobald einige Regierungsform diesen Endzwecken verderblich wird, es das Recht des Volks ist, sie zu verändern oder abzuschaffen, und eine neue Regierung einzusetzen, die auf solche Grundsätze gegründet, und deren Macht und Gewalt solchergestalt gebildet wird, als ihnen zur Erhaltung ihrer Sicherheit und Glückseligkeit am schicklichsten zu seyn dünket.“

Daniel Chodowiecki: Allegorisches Blatt zum Zeitalter der Aufklärung, Göttingen, 1791. (© Deutsches Historisches Museum)

Hauptautor der Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, die sofort vom in Philadelphia angesiedelten Druckhaus „Steiner und Cist“ ins Deutsche übersetzt wurde, war Thomas Jefferson, ein von der Aufklärung geprägter Staatstheoretiker, der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit aller Menschen predigte (und der Französischen Revolution die passenden Stichwörter lieferte) und im Sinne von Immanuel Kant die Vernunft als oberste Maxime des menschlichen Denkens und Handels propagierte.

Jefferson war auch Sklavenhalter

Jefferson war aber auch, und das wird gern vergessen, ein reicher Großgrundbesitzer, der auf seinen Plantagen hunderte Sklaven für sich schuften und sich darüber keine grauen Haare wachsen ließ. Wer die richtigen Ideen formuliert und die Fortschrittsgeschichte der Demokratie beflügelt, muss also im konkreten Handeln und alltäglichen Leben nicht immer ein leuchtendes Vorbild und schon gar nicht unbedingt ein guter Mensch sein.

Deutlich wird das jetzt wieder in einer mit über 400 Exponaten opulent ausgestatteten Ausstellung im Deutschen Historischen Museum Berlin (DHM). Sie trägt den Titel: „Was ist Aufklärung? Fragen an das 18. Jahrhundert“ und kreist längst nicht nur um das Denken von Kant, der in einem berühmten Aufsatz von 1784 die Frage, was denn eigentlich Aufklärung sei, in der „Berlinischen Monatsschrift“ auf die Vernunft als kategorischen Imperativ verwies und schrieb: „Habe Muth, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.“

Friedrich Wilhelm Springer: Miniaturbildnis des Immanuel Kant, Königsberg, 1795 (© Deutsches Historisches Museum)

Der Aufsatz von Kant ist genauso als historisches Dokument ersten Ranges in der grandiosen Ausstellung dokumentiert, wie auch der Erstdruck der deutschen Übersetzung der Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung sowie das Original des handgeschrieben Verzeichnisses mit den Namen der von Thomas Jefferson ausgebeuteten Sklaven.

Zwiespältige Vernunft 

Die Aufklärung, lernen wir, ist ein von Widersprüchen gezeichnetes Unterfangen, eine Aufgabe, die bis heute nicht vollendet ist. Zum Ende der mit Bilder-Fluten und Text-Bergen, Video-Installationen und Hör-Stationen zur ambivalenten Geschichte der Aufklärung und der mit politischen Verweisen und wissenschaftlichen Exkursen fast überinszenierten Performance zur Kulturgeschichte eines widerborstigen Begriffs erinnern uns denn auch Theodor W. Adorno und Max Horkheimer an die „Dialektik der Aufklärung“ und ihre Warnung, dass der aufklärerische, vernunftgeleitete Zweck der Selbstbefreiung zum bloßen Instrument  verkommen könne, um alle möglichen Zwecke zu erreichen.

„Große Scheiben-Elektrisiermaschine“ aus dem Besitz Johann Wolfgang von Goethes. (© Klassik Stiftung Weimar, Museen)

Von Kant bis Habermas

Das letzte Wort hat dann Jürgen Habermas, der wohl bedeutendste Soziologe und Philosoph der Gegenwart: Er  beschwört trotz aller Krisen, Kriege und Katastrophen der Moderne die „Einsicht der klassischen Aufklärung: Deren rationaler Kern besteht unverändert darin, an die Freiheit der Bürgerinnen und Bürger zu appellieren, ihre Vernunft öffentlich zu gebrauchen, um politisch auf die Gestaltung der Grundlagen ihrer gesellschaftlichen Existenz Einfluss zu nehmen. Eine solche vernünftige politische Willensbildung ist freilich nur im Rahmen der Institutionen eines unversehrten demokratischen Rechtsstaates und auf der Basis einer wenigstens halbwegs gerechten Gesellschaft möglich.“

Um anschaulich zu machen, wie weit der Weg von Kant bis Habermas war, werden Fragen zu Wissenschaft und Geschichte gestellt, Bilder, Skulpturen und Dokumente gezeigt, die den Fortschritt des Menschenbildes und das Unbehagen an der Kultur belegen, Geschlechterrollen befragen, über Bedeutung von Religion und Pädagogik nachdenken und die Aufklärung als unvollendetes Projekt der Menschheitsgeschichte beschreibt.

Georg Melchior Kraus: „Zwischen Wissenschaft und Ehe“, Mainz, um 1770-1776. (© Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg)

 

 

 

„Was ist Aufklärung? Fragen an das 18. Jahrhundert“, Deutsches Historisches Museum, Unter den Linden 2, 10117 Berlin, Pei-Bau, 1. und 2. OG. Bis 6. April 2025, geöffnet täglich 10-18 Uhr (geschlossen nur am 24.12.2024), Eintritt 7 Euro, ermäßigt 3,50 Euro, bis 18 Jahre frei. Infos unter www.dhm.de/aufklaerung, Katalog (Hirmer Verlag) im Museum 30 Euro, im Buchhandel 39,90 Euro. 




Förmlich oder nüchtern? Dankesbekundungen gestern und heute

Gängiges Emoji für Dankesbekundungen (© EmojiTerra.com /  „Emojis zum Kopieren und Einfügen“)

Vor geraumer Zeit war hier von gängigen Grußformeln die Rede, jetzt geht es mal eben kurz um Dankesformeln. Bitte hier entlang:

Wir vergewissern uns rasch: „Vielen Dank“, „Lieben Dank“ oder – leicht gesteigert – „Vielen lieben Dank“ lauten die vielleicht meistgebrauchten Dankesbekundungen dieser Tage. Manche lassen es auch beim Emoji mit den dankbar aneinander gepressten Händen bewenden. Das erscheint freilich wie ein arg flüchtiger Dank auf bloßen Klick.

Und sonst? Ein schlichtes „Danke“ ist beinahe schon verpönt, weil es nichts hermacht. Es sollte, nach allgemeinem Empfinden, schon wenigstens „Herzlichen Dank“ oder (etwas geschäftsmäßiger) „Besten Dank“ heißen. „Heißen Dank“ entbietet man wohl nur, wenn man es ironisch meint und gar nicht wirklich Dankbarkeit erweisen möchte. Ähnliches gilt für die geflissentlich zelebrierte Wiederholung: „Danke, danke, danke!“ oder fürs multiple „Tausend Dank!“ Vollends abgehoben erscheint das sentimental triefende Liedlein von 1961, dessen (an Gott adressierte) erste von sechs Strophen da lautet: „Danke für diesen guten Morgen / Danke für jeden neuen Tag / Danke, dass ich all meine Sorgen / Auf dich werfen mag.“ Auf dich werfen… Ja, wenn das s o ist.

In Zeiten, da das Wort „Demut“ inflationär gerade bei jenen grassiert, die gar nicht so recht wissen, wie sich Demut überhaupt anfühlt, sind auch schwer veraltete Formulierungen wie „Untertänigsten Dank“ längst nicht mehr „angesagt“. Apropos: Erinnert sich noch jemand an jene Jahre, als immerzu dankbare Buben einen „Diener“ (aka Bückling oder Kotau) machen sollten und dito Mädels einen „Knicks“? Bis ungefähr zur Mitte der 1960er Jahre waren solcherlei Zumutungen üblich.

Nebenformen wie das sarkastische „Danke auch“ (empörte Betonung auf „auch“) klingen unterdessen ebenso selbstgefällig wie das vor allem online weithin verwendete „Danke für nichts“ oder unfassbar scherzhafte Verballhornungen wie „Danke, Anke!“

Nicht allzu glaubhaft hört es sich an, wenn jemand behauptet, „unendlich dankbar“ zu sein oder wenn jemand sich präsidial hierzu versteigt: „Ich bin Ihnen zu großem Dank verpflichtet!“ Wer sich so äußert, wird vielleicht auch schwülstig von „Dankesschuld“ und „Dankesbezeugung“ reden. Dankenswerterweise sind solche Wallungen aus der Mode gekommen.

Gar zu förmlich darf es also nicht mehr sein, allzu nüchtern freilich auch nicht.

Da fällt mir gerade noch ein, was noch heute so oft zu Kindern gesagt wird, die einfach unumwunden etwas haben wollen: „Wie heißt das Zauberwort?“ Eigentlich sind es ja zwei: Bitte und Danke. Viel mehr braucht es doch auch nicht, oder?

 




Boualem Sansal muss aus der Haft entlassen werden

Gladbeck 2012: der französisch-algerische Schriftsteller Boualem Sansal im Gespräch. (Foto: Jörg Briese)

Der Nächste bitte! Mit der Gewöhnung an autoritäre Politik werden Angriffe auf die Meinungsfreiheit zur Regel.

Im Oktober 2012 hatte ich das Glück, Boualem Sansal in die Stadtbücherei Gladbeck einladen zu dürfen und mit ihm zu diskutieren. Das Gespräch dolmetschte Walter Weitz, in deutscher Sprache erschienene Texte Sansals las Schauspieler Martin Brambach. Inspirierende Abende wie dieser gehörten zu den Lichtblicken meiner Arbeit im Literaturbüro Ruhr.

In Algier verhaftet und angeklagt

Umso trauriger war ich lesen zu müssen, dass am 16. November dieses Jahres der bewunderte französisch-algerische Schriftsteller nach einer Rückreise aus Frankreich am Flughafen von Algier verhaftet worden ist. Einige Tage lag sein Verbleib ganz im Dunklen. Nicht nur das deutsche PEN-Zentrum forderte deshalb Auskunft und Freilassung. Im PEN-Aufruf vom 5. Dezember heißt es kurz darauf: „Gestern nun wurde Sansal in Algier einem Gericht vorgeführt. Noch ist nicht klar, ob er einen unabhängigen Rechtsbeistand hat. Belangt werden soll er wegen Äußerungen zur algerischen Geschichte, nach algerischen Paragrafen können ihm dafür drakonische Strafen drohen.“

Auf dem Podium v.r.n.l.:
Walter Weitz (Dolmetscher), Sansal, Martin Brambach, Gerd Herholz.
(Foto: Jörg Briese)

Schon lange gilt Sansal in Algerien, wo seine Bücher nicht erscheinen dürfen, als Nestbeschmutzer, weil er das Regime seines Heimatlandes ebenso kritisiert wie den Islamismus, weil er gegen Antizionismus und Homophobie anschreibt.

Die Lüge wohnt vor allem im Westen

In seinem Büchlein „Postlagernd: Algier. Zorniger und hoffnungsvoller Brief an meine Landsleute“ rief Sansal nicht nur seine Landsleute zu mehr Mut und unabhängigem Denken auf, er forderte dies auch explizit von den Bürgern, den Citoyen im Westen:

„Die Unabhängigkeit ist universell oder es gibt sie nicht. Wenn es irgendwo einen Sklaven, einen Kolonisierten, einen vergessenen Häftling gibt, dann, weil es überall Lüge und Verrat gibt und weil die Welt von Sklavenhaltern und Kolonisatoren und ihren unzähligen Handlangern regiert wird.
Die Unabhängigkeit ist das Ende der Lüge. Bis zum Beweis des Gegenteils ist es der Westen, wo die Lüge wohnt, dort ist das Herz der Macht, dort ist es, wo man die Lüge zerstören muss, wenn man den Planeten und seine Bewohner retten will.“

Jeder kann jederzeit zum Mörder werden

Boualem Sansal lesend kann man dem Thema „Gewalt“ nirgendwo ausweichen. Sansal lenkt beharrlich den Blick auf verdrängte Kriege und Bürgerkriege, auf ihre zerstörerische Kraft – nicht nur in Algerien.
Dass dies uns – ob wir wollen oder nicht – angeht, beweist er etwa mit seinem Roman Das Dorf des Deutschen. Hier spürt er – Familiengeschichte erzählend – auch den Geheimnissen von Opfern und Tätern nach, der Geschichte von Staaten und Gesellschaften.

Martin Brambach liest aus „Das Dorf des Deutschen“. (Foto: Jörg Briese)

In Das Dorf des Deutschen müssen zwei Söhne eines Mannes aus einem algerischen Dorf erkennen, dass ihr Vater ein deutscher Nazi war, einer, der den Holocaust mitorganisiert hat, einer, der sich nach Kriegsende in Algerien versteckt hielt, eine junge Algerierin heiratete, nur, um dann erneut als Ausbilder von Kämpfern, Söldnern tätig zu werden.
So wird Gewalt über Zeiten und Länder weitergegeben; erschreckend scheint die Möglichkeit auf, dass nicht nur wider Willen jeder mit jedem verwandt sein, sondern auch jeder jederzeit zum Mörder werden könnte.

Totalitarismus in immer neuer Maskerade

Totalitäre Maschinerien und Ideologien, Terrorismen aller Couleur kommen in immer neuen Masken daher, mal als Nationalismus, mal als Stalinismus oder Islamismus oder – wie im Westen – als Terror der Ökonomie, als Primat einer Ökonomie, die unversehens zur Ökonomie der Primaten wurde und auf niemanden und nichts mehr Rücksicht zu nehmen scheint.

Auch aus der Erfahrung mit dem Jahrzehnte währenden islamistischen Terror im Maghreb ließe sich für Deutschland etwas lernen. Boualem Sansal erhellt, wie religiöser Fanatismus über das Angstmachen, das Besetzen von Sprache und Denken, über den Aufbau realer Machtstrukturen langsam aber sicher eine Gesellschaft bis in die letzten Winkel der Häuser und Hirne vergiften kann. Zurecht fordert er für seine Heimat etwas, das auch wir hier erst zu verwirklichen hätten: eine strikten Laizismus, eine striktere Trennung von Staat und Kirche(n).

Boualem Sansal (Foto: Jörg Briese)

Sansal ist ein Humanist, der erzählend und essayistisch – oft sich selbst gefährdend – für Menschenrechte und Bürgerrechte eintritt, für die Utopie demokratischer Gesellschaften. In seiner Dankesrede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels beschrieb er 2011, wie der Preis ihn verändert hat. Eindrückliche Sätze, die auch angesichts der aktuellen Situation in Syrien hoffnungsvoller (und naiver?) nicht sein könnten:

„Die Menschen lehnen Diktatoren ab“

„Ich diente unbewusst dem Frieden, nun werde ich ihm bewusst dienen, und das wird neue Fähigkeiten in mir wecken.“ Er hoffe, dass all das, was Schriftsteller und andere Kulturschaffende getan hätten, wenigstens einen winzig kleinen Beitrag zum Aufkommen des Arabischen Frühlings geleistet hätte: „Was derzeit geschieht, ist meines Erachtens nicht nur eine Jagd auf alte bornierte und harthörige Diktatoren, und es beschränkt sich nicht auf die arabischen Länder, sondern es kommt eine weltweite Veränderung auf, eine kopernikanische Revolution: Die Menschen wollen eine echte universelle Demokratie, ohne Grenzen und ohne Tabus. Alles, was das Leben ramponiert, verarmen lässt, beschränkt und denaturiert, ist dem Gewissen der Welt unerträglich geworden und wird mit aller Macht abgelehnt. Die Menschen lehnen Diktatoren ab, sie lehnen Extremisten ab, sie lehnen das Diktat des Marktes ab, sie lehnen den erstickenden Zugriff der Religion ab, sie lehnen den anmaßenden und feigen Zynismus der Realpolitik ab, sie verweigern sich dem Schicksal, auch wenn jenes das letzte Wort haben mag, sie lehnen sich gegen alle Arten von Verschmutzern auf; überall empören sich die Leute und widersetzen sich dem, was dem Menschen und seinem Planeten schadet.“

Sansal und Dolmetscher Wirtz  (Foto: Jörg Briese)

Ja, wirklich großartig wäre das. Boualem Sansal selbst aber hat jetzt die Macht derer zu spüren bekommen, die sich eine universelle Demokratie keinesfalls wünschen, die Menschen wie ihm deshalb schaden, wo sie nur können und so lange sie es können – und wir es zulassen. Erste hilflose Gesten dagegen wären es, Aufrufe zur Freilassung Sansals zu verbreiten, ihn nicht zu schnell als Häftling wieder zu vergessen. Und ihn zu lesen. Frei nach Gotthold Ephraim Lessing also: „Wir wollen weniger erhoben // und fleißiger gelesen sein.“




Goethe-Institut: Harte Jahre, schmale Mittel

Es sind harte Jahre – auch fürs weltweit aufgestellte Goethe-Institut, das deutsche Sprache und Kultur möglichst global vermitteln soll. Gesche Joost, erst seit 19. November neue Präsidentin des dem Außenministerium angegliederten Instituts, spricht von einer „Welt der neuen Rauheit“, in der man umso dringlicher für demokratische Werte einstehen wolle.

Gesche Joost, seit gerade mal zwei Wochen Präsidentin des Goethe-Instituts. (Foto: © Loredana La Rocca / Goethe-Institut)

In Zeiten des erstarkten Rechtspopulismus, so Joost auf der Jahrespressekonferenz weiter, müsse man sich auf die zweite Amtszeit von Donald Trump und auf den Fortgang kriegerischer Krisen (Ukraine, Nahost etc.) einstellen. In diesem Umfeld gelte es, dem Institut und seinen Anliegen mehr „Sichtbarkeit“ zu verschaffen und „Resilienz“ (Widerstandskraft) zu entwickeln. Gängige Schlagworte, die wohl nicht fehlen dürfen.

Etat erneut gekürzt

All das muss jedenfalls auch noch mit schmalen Finanzen bewirkt werden: Johannes Ebert, Generalsekretär des Goethe-Instituts, stellte klar, dass man nach dem Aus der „Ampel“-Koalition nur mit einem vorläufigen Haushalt wirtschaften könne. Der aktuelle Regierungsentwurf sehe abermals Kürzungen beim Goethe-Institut vor – um 4,1 Mio. Euro (rund 2,8 Prozentpunkte) auf 226,2 Mio. Euro; dies wiederum bei allseits steigenden Kosten, die sich besonders international bemerkbar machen. Inzwischen sei man durch ständige Einsparungen (etwa 10% seit der Corona-Pandemie) wieder auf dem Niveau von 2017 angelangt. Ob man bei einer neuen Regierung mehr Gehör finden wird, steht wahrlich dahin. Die Hoffnung stirbt auch hier zuletzt.

Rekordeinnahmen durch Sprachkurse

Unterdessen wird gezwungenermaßen eine „Transformation“ des Instituts vorangetrieben, worunter vor allem eine Verschlankung zu verstehen ist. Struktur- und Verwaltungskosten sollen im größeren Stil reduziert werden. Eine Reihe von Instituts-Schließungen (u. a. in Bordeaux, Genua, Turin, Rotterdam, Osaka, Washington) ist weitgehend über die Bühne gegangen, die Zentrale muss derweil mit 27 Stellen (7,5%) weniger auskommen. Dadurch frei werdende Mittel sollen verstärkt für Sprachvermittlung eingesetzt werden. In diesem Bereich hat man ohnehin schon einen neuen Rekord aufgestellt. Bereits im Oktober verzeichnete das Institut für 2024 weltweit über 1 Million abgenommene Deutsch-Prüfungen und Einnahmen von 152 Millionen Euro. Angesichts der seit Jahren sinkenden staatlichen Förderung bedeutet dies freilich nur eine Teilentlastung.

Moskauer Niederlassung radikal geschrumpft

Neben einigen schmerzlichen Schließungen gab es vereinzelt auch ein paar Neueinstiege mit anderen Schwerpunkten – in Jerewan (Armenien) und Bischkek (Kirgisistan), dazu kommen Präsenzen in Chisinau (Republik Moldau) und Houston (USA). Moskau, mit einst 180 Mitarbeitern weltweit größtes Goethe-Institut, ist jedoch unterm Druck der Verhältnisse vehement auf 12 Leute geschrumpft (plus 3 in St. Petersburg). Dennoch wird versucht, den Betrieb notdürftig aufrecht zu erhalten. Bloß nicht alle Fäden abreißen lassen, heißt die Devise.

Fachkräfte auf Deutschland vorbereiten

Eine seiner Hauptaufgaben sieht das Goethe-Institut darin, dringend benötigte Fachkräfte nach Deutschland zu holen und diese mit Spracherwerb und nachhaltigen Integrations-Angeboten auf die neue Umgebung vorzubereiten. Hierbei konkurriert man mit Ländern wie Japan, Kanada oder den USA. Immerhin: Erste Erfolge zeigen sich offenbar bei Anwerbungen in Indien oder Vietnam. Wie Goethe-Generalsekretär Ebert ausführte, gibt es seit den AfD-Wahlerfolgen allerdings viele bange Nachfragen, ob man denn in Deutschland auch willkommen sei.

Die beste Bratwurst von Hanoi

Goethe-Präsidentin Joost (ansonsten Professorin für Designforschung an der Berliner Hochschule der Künste – HdK) versicherte, sie werde in ihrer Amtszeit nicht nur auf hehre Hochkultur achten, sondern auch auf alltägliche Dinge des niedrigschwelligen Zugangs. Beispiel? Sie habe kürzlich das Goethe-Institut in Hanoi (Vietnam) besucht. Es habe sich herumgesprochen, dass es dort nicht nur gute Sprachkurse gebe, sondern auch „die beste Bratwurst“ weit und breit.

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P. S. Die Jahrespressekonferenz des Goethe-Instituts hat heute in Berlin stattgefunden. Ich war online via Zoom dabei.




Was bringt das Netzwerk Bluesky?

Um es gleich vorwegzunehmen: So richtig zufrieden bin ich mit dem sozialen Netzwerk Bluesky noch nicht. Die unsägliche Dreckschleuder X (ehemals Twitter) von Elon Musk habe ich vor einiger Zeit leichten Herzens verlassen. Der Kerl wird den einen oder anderen Abgang sicherlich verschmerzen, aber wenn es in die Millionen ginge, wenn Deppen und Despoten der Dekade dort unter sich blieben…

Screenshot einer Bluesky-Einstiegsseite

Ach, wenn doch nur mehr globale Hochkaräter wie der britische „Guardian“ sich dort verabschiedeten! Doch man freut sich auch schon, dass Fußballclubs wie der FC St. Pauli, Werder Bremen oder der SC Freiburg jüngst X den Rücken gekehrt haben (Wann folgt endlich Borussia Dortmund – oder hat Rheinmetall Einwände dagegen vorgebracht?), oder wenn der Deutsche Journalistenverband (DJV) sich abwendet. Ein Effekt beim „X-odus“: Immerhin hat Bluesky mittlerweile die 20-Millionen-Marke deutlich überschritten, zeitweise sind täglich rund 1 Million Accounts hinzu gekommen. Da scheint ein Sog zu wirken.

Lassen wir X auch in diesem Text hinter uns. Bluesky (weitere Alternativen: Mastodon, Threads) scheint mir einstweilen recht unstrukturiert und dem Zufall unterworfen zu sein. Einen nennenswerten Überblick über das, was vorgeht, kann man sich zwar verschaffen, aber eigentlich nur, wenn man den Auftritten diverser klassischer Medien (vulgo Qualitätszeitungen) folgt. Das kann man aber auch auf anderen Wegen haben. Dazu bräuchte es kein weiteres Netzwerk.

Spaßeshalber habe ich gleich mal den Bluesky-Account des frischgebackenen Kanzlerkandidaten Olaf Scholz aufgerufen. Zum nämlichen Zeitpunkt hatte er erbärmlich wenig Follower, gerade mal 190 an der Zahl, heute (28. November, 12.42 Uhr mittags MEZ) sind es 432. Ähnlich wie schon bei TikTok (das ich konsequent meide), ist Scholz bzw. sind seine Ghostwriter offenbar sehr spät beigetreten, es liegen bis jetzt lediglich vier läppische Beiträge vor. Verschnarchte SPD halt. Oder wie soll man das sonst deuten? Wobei ich die parteifrommen Äußerungen, die in Scholzens Namen gepostet werden, nicht allzu schmerzlich vermissen würde.

Vollends rätselhaft ist mir, wer meiner Wenigkeit zu folgen beliebt. Es sind überwiegend Leute aus fernen Weltgegenden, mit denen ich niemals auch nur im Geringsten zu tun hatte, auch nicht virtuell. Ausweislich ihrer bisherigen Beiträge sind sie mental auch vollkommen anders unterwegs. Wie kommen sie auf mich? Was suchen sie bei mir? Oder sind es Bots und Trolle? Seltsam genug auch die Tatsache, dass mir z. B. der saarländische Ableger der Piratenpartei folgt.

Kurz und weniger gut: Mich beschleicht das Gefühl, bei Bluesky ziemlich viel zu verpassen und irgendwie hinter der Musik herzulaufen. Die einstweilen ungleich zivilisierteren Umgangsformen bei Bluesky (im Vergleich zum pöbelhaften X) sind angenehm, machen aber das Informations-Defizit bei weitem nicht alleine wett. Es fehlen hier eben viele, viele Leute, die etwas zu sagen hätten oder qua Amt und Würden (hihi) wichtig wären. Und es fehlen einige nützliche Funktionen.

Das Ganze muss noch weiter wachsen, auch auf der Anbieterseite. Wie die Bluesky-Geschäftsführerin Rose Wang im FAZ-Interview verriet, hat das Netzwerk bislang nur 20 Mitarbeiter (Stand 26. November). Kaum zu glauben. Der prozentuale Anteil aktiver Accounts, die Beiträge publizieren, ist immerhin wohl deutlich höher als bei der Konkurrenz. Apropos Konkurrenz: Wie die Süddeutsche Zeitung berichtet, können Bluesky und Mastodon in beiden Richtungen miteinander verknüpft werden. Und noch’n Presse-Bezug: Laut „Spiegel“ hat sich Stephen King von X verabschiedet, hat sodann Bluesky ausprobiert, ist aber schließlich zu Threads gewechselt. Robert Habeck sei unterdessen sogar zu X zurückgekehrt… Alles fließt.

Wie auch immer: Spannende, gern auch kontroverse (aber faire) Debatten können bei Bluesky einstweilen nur sehr bedingt aufkommen. Somit fehlt auch die Motivation, sich selbst „einzubringen“. Oder habe ich nur noch nicht den richtigen Kniff gefunden und den „Discover-Feed“ noch nicht ausreichend bemüht?

Kann ja alles noch werden? Hoffen wir’s.




„Ausgeliefert“ – Klassenkampf mit Apps und GPS

Damn, clusterfuck, cringe as fuck, shiny. Nur eine kleine Auswahl zwischendurch hingeworfener Wörter aus dem Prolog zum eigentlich auf Deutsch verfassten Buch. Sollte das etwa besonders „cool“ klingen?

Orry Mittenmayers Buch „Ausgeliefert“ prangert jedenfalls die Methoden gewisser Essens-Lieferdienste an, enttäuscht allerdings am Anfang, wo es doch gerade in den Text locken sollte. Auch der einschläfernde Bandwurmsatz des Untertitels ist in diesem Sinne nicht hilfreich, er lautet: „Wie Lieferdienste ihre Fahrer ausbeuten, warum uns das alle ärmer macht – und was wir dagegen tun können.“  Erst der konkrete, recht späte Einstieg in die eigentliche Materie liest sich dann deutlich spannender.

Lückenlose Überwachung

Da erfährt man endlich einiges aus dem miesen Alltag der Auslieferungsfahrer („Rider“). Es geht – am Beispiel Köln – um die lückenlose Orts- und Zeit-Überwachung per GPS; um die fiesen Kontrollanrufe der oft gerade mal dem BWL-Studium entronnenen „Dispatcher“, die schon bei der kleinsten Verzögerung ihr armseliges Repertoire zwischen geheuchelter Jovialität, Herablassung und Drohung abspulen. Zynischer noch: Sie verkaufen den gehetzten Radfahrern den ausbeuterischen Knochenjob als sportlichen Startup-Lifestyle. Die sportive „challenge“ bestand u. a. darin, kaum Zeit für Toilettengänge oder sonstige Pausen zu haben. Der Algorithmus der Firmen-Apps gab den gnadenlosen Takt vor.

Wo ist nur das Trinkgeld geblieben?

Der aus einfachen Verhältnissen stammende Mittenmayer war dringend auf den (kargen) Lohn angewiesen, weil er die Zeit bis zum BAföG überbrücken, die Abendschule besuchen und anschließend studieren wollte. Für ein 2024 erscheinendes Buch ist das Geschehen schon recht lange her und eventuell nur bedingt aktuell: Ab 2016 nahm der Autor Jobs bei Foodora und Deliveroo an, zwischen 9 und 10 Euro gab’s damals pro Stunde. Der Umgang mit umso dringender benötigtem Trinkgeld war wohl alles andere als transparent. Sollte da vielleicht mancher per Karte oder Überweisung zugezahlte Euro in der Unternehmenskasse statt in den Taschen der Fahrer gelandet sein?

Schon zu Beginn mussten die Fahrer für die Lieferboxen offenbar je 50 Euro Pfand entrichten. Auch danach trugen sie alle Risiken, beispielsweise mussten sie etwaige Schäden am eigenen Fahrrad auf eigene Kosten beseitigen. Von Gefahren im hektischen Straßenverkehr mal ganz großzügig abgesehen.

Unaufhörliches Lob der Gewerkschaft

Als Mittenmayer und andere sich wehrten, versuchten die Firmen alles, um die Gründung von Betriebsräten zu verhindern. Doch mit der rasant anwachsenden Protest-Aktion „Liefern am Limit“ erlangten er und seine Mitstreiter bundesweite Aufmerksamkeit – nicht zuletzt durch die Hilfe der Gewerkschaft. Solidarität hat eben auch im Klassenkampf neuerer Machart keineswegs ausgedient.

Gegen Schluss plätschert das Buch leider etwas entkräftet aus. Mittenmayer betont noch und noch, was er bis dahin schon vielfach mitgeteilt hat: Wie wichtig Gewerkschaften (hier besonders: die NGG) seien, wie ihn der Kampf für Arbeitnehmerrechte „empowered“ habe, wie er als Schwarzer und (Hör)-Behinderter gegen alle Wahrscheinlichkeit und viele Widerstände doch noch höhere Bildungsabschlüsse erlangt habe. Alles gut und richtig. Respekt vor dieser Energie- und Lebensleistung. Aber irgendwann klingt es dann doch nach Gebetsmühle und Litanei.

Orry Mittenmayer (mit Harald Braun): „Ausgeliefert“. Kiepenheuer & Wisch, 224 Seiten, 18 Euro.




„Es musste etwas besser werden“ – Jürgen Habermas und die Pflicht zur Vernunft

„Ich halte das Streben, die Welt um ein Winziges besser zu machen oder auch nur dazu beizutragen, die stets drohende Regression aufzuhalten, für ein ganz unverächtliches Motiv. Daher bin ich mit der Bezeichnung ,Philosoph und Soziologe‘ ganz zufrieden.“

So äußert sich Jürgen Habermas in einem neuen Buch, in dem er über die Motive seines Denkens, die Umstände, unter denen es sich entwickelte, und die Veränderungen, die es im Laufe der Jahrzehnte erfuhr, Auskunft gibt.

Debatten und Diskurse beispielhaft geprägt

Dass der inzwischen 95-jährige Intellektuelle, der mit seinen Beiträgen und Büchern wie kein anderer die politischen Debatten und wissenschaftlichen Diskurse in Deutschland geprägt hat, mit dieser Selbstbeschreibung tiefstapelt, weiß er natürlich auch. Denn Habermas war nie nur ein „Philosoph und Soziologe“, der sich im universitären Elfenbeinturm verschanzt und von oben herab seine neuesten Erkenntnisse zu gesellschaftlichen Transformationen, kulturellen Phänomenen und kommunikativen Strategien verkündet.

Ob als Hochschullehrer in Frankfurt und Heidelberg oder als Autor der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“: Sich mit sozialwissenschaftlichen Argumenten und historischen Erkenntnissen in die aktuellen Debatten einzumischen, war stets sein größtes Bestreben, die Europäische Einigung sein größter Wunsch und die Abwehr rechtsnationaler Tendenzen der innerste Antrieb des enzyklopädisch gebildeten Großintellektuellen, der sich in jungen Jahren in einer von Alt-Nazis beherrschten Universitätslandschaft durchsetzen musste.

„Es musste etwas besser werden“, sagt Habermas (so auch der Titel des Buches), „und es lag an uns, ob sich die Welt zum Besseren verändern würde.“ Uns, das sind seine aus dem Exil heimgekehrten Kollegen von der „Kritischen Theorie“ der Frankfurter Schule: Adorno, Marcuse, Horkheimer, aber auch seine linksliberalen Mit-Studenten Karl-Otto Apel, Ernst Tugendhat und Michael Theunissen.

Wider die bleierne Zeit der Restauration

Im Gespräch mit Stefan Müller-Doohm und Roman Yos umkreist Habermas die Anfänge seiner wissenschaftlichen Biografie und die bleierne Zeit der bundesrepublikanischen Restauration, in der Habermas und sein Konzept einer auf die Demokratisierung der Gesellschaft und die Formulierung einer vernunftgeleiteten Kommunikation ausgerichteten Sozialwissenschaft wie ein Fremdkörper wirkte und als linksradikal diffamiert wurde.

Dabei hatte Habermas längst den ollen Marx neu interpretiert, auch Freuds Psychoanalyse und vor allem die US-amerikanischen Forschungen zur Linguistik und Sprechakt-Theorie in sein Werk einbezogen, Bücher verfasst, die heute legendär sind: „Strukturwandel der Öffentlichkeit“, „Erkenntnis und Interesse“, „Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus“, „Theorie des kommunikativen Handelns.“

Aber hört ihm auch noch jemand zu?

Im kollegialen Diskurs schreitet Habermas die wichtigsten Stationen seines Lebens und zentrale Begriffe seines Denkens ab, plädiert eindringlich für das Projekt der Europäischen Einigung, fordert ein entschlosseneres Handeln zur Verhinderung der Klimakatastrophe, kommentiert den völkerrechtswidrigen Überfall Russlands auf die Ukraine, mahnt Israel, bei seinem gerechtfertigten Krieg gegen den Terror der Hamas die zivilgesellschaftlichen Maßstäbe zu beachten, erinnert an die „Pflicht zum Gebrauch unserer Vernunft“. Habermas hat recht. Aber hört ihm auch noch jemand zu?

Jürgen Habermas: „Es musste etwas besser werden.“ Gespräche mit Stefan Müller-Doohm und Roman Yos. Suhrkamp, 254 Seiten, 28 Euro.




„Wut und Wertung“: Geschmacks-Debatten können so verletzend sein

Das Kulturwissenschaftliche Institut (KWI) in Essen hat sich für die nächsten Monate ein übergreifendes Thema erkoren, es nennt sich „guilty pleasures“, was etwas umständlich mit „schuldbesetzte Vergnügungen“ übersetzt werden könnte. Freuden also, die man mit einigermaßen schlechtem Gewissen genießt – Flugreisen etwa oder exzessiven Medienkonsum der seichteren Art. Oder auch kulturelle Vorlieben, die dem waltenden Zeitgeist zuwiderlaufen.

Zum Themenauftakt gab es dieser Tage eine (auch online zu verfolgende) Diskussionsrunde mit Johannes Franzen von der Universität Siegen. Der auch als Journalist (Zeit, Taz, FAZ) tätige Germanist und Anglist hat ein Buch über widerstreitende kulturelle „Geschmäcker“ geschrieben. Griffig zugespitzter Titel: „Wut und Wertung. Warum wir über Geschmack streiten“.

Üble Attacke auf der Party

Nun mögen sich manche souverän erhaben dünken, wenn es um ihre (allzeit gefestigten? bestens begründeten?) Geschmacksurteile geht. Franzen hingegen stellt eine fiktive, aber nicht ganz unwahrscheinliche Szene an den Anfang seines Buches, die ihm zufolge das Verletzungs-Potenzial von Geschmacksunterschieden offenbaren soll: Denken wir uns eine Party, auf der jemand einen Film über den grünen Klee preist, der auch emotional ungemein fesselnd sei. Da erhebt ein anderer Gast seine wortgewaltige Stimme und attackiert diese Auffassung als naiv und lächerlich. Welch eine Bloßstellung vor all den Leuten! Und welch ein Distinktions-Gewinn für den eloquenten Angreifer, der wohl fulminant „gepunktet“ hat. Ergo: Geschmacks-Konflikte können ziemlich verletzend sein.

Ironisch die Neigung zum „Kitsch“ gestehen

Wie wirkt sich das aus, wenn jemand mit seinen ästhetischen Vorlieben derart in Erklärungsnot und in eine womöglich peinliche Defensive gerät? Möchte er/sie nicht im Boden versinken? Oder zum Gegenangriff übergehen? Immerhin liegen, so Franzen, einige Techniken der Befriedung bereit, allen voran das alte, reichlich verschnarchte Diktum „Über Geschmack lässt sich nicht streiten“. Auch könnte eine Reaktion darin bestehen, dass man ironisch seine gelegentlichen Vorlieben für „Kitsch“ eingesteht (womit wir bei den eingangs erwähnten „guilty pleasures“ angelangt wären) und dem Widersacher Wind aus den Segeln nimmt.  Überdies wirken der allgemeine Aufstieg der Populärkulturen sowie der Niedergang der „Hochkultur“ und des klassischen Kanons in solchen Fragen vermutlich entlastend. Die Zeiten der allmächtigen „Kulturpäpste“ sind eben vorüber.

Wenn sich jeder Mensch als Kritiker aufspielt

Dennoch: Zweifel am eigenen Geschmack sind wahrscheinlich allgegenwärtig. Selbst die Beschäftigung mit einem unstrittigen Genie wie Shakespeare sei nicht unbedingt davor gefeit. Franzen nennt mögliche Beispiele: „Kann ich überhaupt gut genug Englisch, um urteilen zu können? Habe ich vielleicht die weniger guten Inszenierungen gesehen?“ Und schon steckt man in der Falle…

Zu bedenken ist ferner der Unterschied zwischen professioneller und laienhafter Rezeption, der freilich im Internet, wo sich heute quasi jeder Mensch als Kritikus aufspielen kann, tendenziell zu schmelzen scheint. Ästhetischer Purismus scheint jedenfalls rasant auf dem Rückzug zu sein.

Was der „innere Deutschlehrer“ anrichtet

Im Verlauf der Diskussion wurde auch das Phänomen des „inneren Deutschlehrers“ gestreift, der einem seit Pennäler-Zeiten als kulturelles Über-Ich im Kopf sitzt und schulische „Zwangslektüren“ wie etwa Fontanes „Effi Briest“ nachhaltig vergällt. Mit dem herrschenden Kanon und solcher Pflicht-Rezeption werde ein lang andauernder „kultureller Gehorsam“ eingeleitet, hieß es. Dieser wirke oft auch im Streit über Geschmacksfragen nach. Wobei so manche Meinungsverschiedenheit ja nicht gleich zu Wutausbrüchen oder Verletzungen führen muss, sondern im gepflegten Gespräch (aka herrschaftsfreier Diskurs) einfühlsam erörtert werden mag. Längst nicht alle Leute sind Wutbürger, (hoffentlich) erst recht nicht die kultursinnigen.

Die Entgleisung des Clemens Meyer

Zu Beginn des Abends hatten Franzen und das Moderations-Duo (Stefan Hermes, Uni Duisburg-Essen, Roxane Phillips vom KWI) geradezu dankbar eine aktuelle Wut-Entgleisung im Literaturbetrieb aufgegriffen; auch dies wohl ein „guilty pleasure“, weil ziemlich boulevardesk. Anlässlich der Vergabe des Deutschen Buchpreises an Martina Hefter (für „Hey guten Morgen, wie geht es dir?“) hatte der auf der Shortlist konkurrierende Clemens Meyer („Die Projektoren“, 1056 Seiten) die Jury-Entscheidung unflätig kommentiert und damit ein beinahe größeres Medienecho ausgelöst als die eigentliche Preisvergabe. Mal wieder einer dieser ach so skandalösen Fälle von Wut und Wertung, von denen die Literaturgeschichte und die Historie anderer Künste überquellen.

Johannes Franzen: „Wut und Wertung. Warum wir über Geschmack streiten“. S. Fischer Verlag. 432 Seiten, 26 Euro.

 




Stolz und Zuversicht: Gewichtiger Bildband „Ruhrgold“ feiert die Schätze des Reviers

Großer Auftritt im besprochenen Buch: Aral-Tankstelle an der Hauptverwaltung der Aral AG in Bochum, um 1958. (Foto: Aral AG)

Welch ein Trumm von einem Buch! Der wahrhaft aufwendig gestaltete Band „Ruhrgold. Die Schätze des Ruhrgebiets“ feiert auf 700 farbig bebilderten Seiten im Kunstkatalog-Format nahezu alles, was das Revier zu bieten hat.

Dieser Wälzer liegt sehr gewichtig in den Händen – mit etwa 2708 Gram, also über 2,7 Kilo, wenn ich richtig gewogen habe. Entschieden zu schwer für ein schmuckes „Coffee Table Book“, das Tischlein könnte schier einknicken… Außerdem reicht die Ambition deutlich übers Dekorative hinaus. Dafür bürgt schon der Herausgeber, Prof. Ferdinand Ullrich, vormals langjähriger Direktor der Kunsthalle Recklinghausen, der auch als Fotograf einiges zu diesem Band beigesteuert hat.

Ein Standardwerk über die Region

„Ruhrgold“ ist jedenfalls ein repräsentatives, umfängliches Standardwerk geworden, das von nun an in jede vernünftige Revier-Bibliothek gehören sollte. Ferdinand Ullrich und der Wienand Verlag haben kundige Autoren für die Kapitel-Einleitungen gewonnen, darunter Johan Simons (Intendant des Bochumer Schauspielhauses), Norbert Lammert (kultursinniger CDU-Politiker), Neven Subotic (Ex-BVB-Abwehrspieler und Stiftungsgründer), Manuel Neukirchner (Direktor des Deutschen Fußballmuseums in Dortmund), Prof. Theodor Grütter (Leiter des Ruhrmuseums, Essen) oder Hilmar Klute (Schriftsteller, Redakteur der Süddeutschen Zeitung). Zusätzlich hätte man sich wünschen können, dass auch noch der eine oder andere kritische Literat aus hiesigen Gefilden (Frauen inbegriffen) sich geäußert hätte. Aber das hätte vielleicht die feierliche Liturgie gestört. Schattenseiten des Reviers fristen hier lediglich ein – Schattendasein.

Landmarken und Entdeckungen

Wo soll man nur anfangen, wo aufhören? Das Motto könnte lauten: „Genug ist nie genug“. 350 Kunstwerke, Objekte und sonstige Phänomene aus nahezu allen Lebensbereichen des Reviers werden in 20 Kapiteln aufgeboten, mit rund 500 Illustrationen großzügig bebildert und in einem Anhang ausführlicher erläutert. Der (via RAG-Stiftung subventionierte) Preis von 60 Euro darf als vergleichsweise moderat gelten.

Natürlich werden markante Gebäude und Bauensembles wie etwa die Welterbe-Zeche Zollverein, die Villa Hügel (beide Essen), der Gasometer (Oberhausen) oder das Dortmunder U vorgezeigt. Die Museen, Theater, Konzertstätten und Unis der Gegend sind ebenso selbstverständlich vertreten, aber auch Verkehrsadern wie die B1 (streckenweise aka A 40 oder Ruhrschnellweg), Kanäle oder just die Flussläufe von Ruhr und Emscher. Auch als langjähriger Revierbewohner kann man hier noch Entdeckungen machen. Mir war beispielsweise die anheimelnde Siedlung Teutoburgia in Herne bislang kein Begriff. Asche auf mein Haupt. Auch der Hindu-Tempel in Hamm harrt noch einer näheren Erkundung. Und so weiter.

Objekte bis hin zur Aldi-Tüte

Dem Buchtitel entsprechend, gibt es hier auch veritable Goldschätze, namentlich die Goldene Madonna aus dem Essener Domschatz oder auch den „Cappenberger Kopf“. Nicht zuletzt werden prägende Persönlichkeiten der Region (z. B. Ostwall-Gründungsdirektorin Leonie Reygers, Jürgen von Manger, Tanja Schanzara, Uta Ranke-Heinemann, Hape Kerkeling, Christoph Schlingensief) gewürdigt. Und natürlich darf auch ein Exkurs zur ruhrdeutschen Mundart nicht fehlen. „Sprechende“ Objekte – vom Schrank im Stile des „Gelsenkirchener Barock“ über die prachtvolle Aral-Tankstelle von 1958 bis hin zur Aldi-Tüte – gehören gleichfalls zum Lieferumfang; ebenso einige wiederkehrende Ereignisse in der Spannweite zwischen Ruhrtriennale und Cranger Kirmes. Und natürlich hat auch die weltbekannte Dortmunder Südtribüne („gelbe Wand“) ihren gebührenden Auftritt – mit jener ebenfalls schon legendären Fotografie von Andreas Gursky.

Auch Großereignisse wie das „Stillleben“ (Vollsperrung des Ruhrschnellwegs über rund 60 Kilometer und Volksfest daselbst am 18. Juli 2010 – im Rahmen der Kulturhauptstadt Ruhr) zieren den neuen Ruhrgold-Band. (Foto: picture alliance/ augenklick / firo Sportphoto)

Allenfalls zaghafte Kritik

Und wie fügt sich all das alles zueinander, welches Konzept steht dahinter? Nun, das allermeiste wirkt ziemlich „revierfromm“, es entspricht spürbar der fraglos positiven Sichtweise der RAG-Stiftung, die hinter dem monumentalen Buchprojekt steht. Und so ist immer wieder die Rede von Tradition, auf die man stolz sein könne und von zukunftsträchtiger Transformation zur „grünsten Industrieregion der Welt“, die bereits eingeleitet sei. Kritik ist nur sehr zaghaft vorhanden, eigentlich nur am kläglichen Zustand des öffentlichen Nahverkehrs (ÖPNV). Diese Einsprüche dürften mehrheitsfähig sein.

Ansonsten ist es wie immer: Sobald man sich mit einer Materie (hier: Stadt) etwas besser auskennt, findet man auch Haare in der Suppe. Wohlan denn: Warum kommt eines der wohl wichtigsten Bauwerke der ganzen Region, die Dortmunder Westfalenhalle, überhaupt nicht vor? Und dann die etwas peinliche Sache mit dem Dortmunder Phoenixsee (Seite 357): Das Gewässer ist n i c h t, wie in der Bildzeile behauptet, auf dem Gelände eines früheren Bergwerks entstanden. Es war, wie wohl jedes Kind an den Gestaden der renaturierten Emscher weiß, ein Stahlwerk.

„Ruhrgold. Die Schätze des Ruhrgebiets.“ (Das Ruhrgebiet in 500 Bildern aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft). 700 Seiten mit lexikalischem Anhang sowie ausführlichem Orts- und Personenregister. Wienand Verlag, Köln. Gebundene Ausgabe 60 Euro, Luxus-Edition im Designschuber 180 Euro.

www.ruhrgold-das-buch.de

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P. S.: Schau’n wir spaßeshalber, wo die regionalpatriotische Publikation gefertigt worden ist: Verlag in Köln. Warum auch nicht? Dann aber: Gestaltung in Berlin. Graphik & Buchgestaltung in Freiburg. Druck in Italien (Vicenza). Waren diese Gewerke im Revier oder wenigstens in NRW nicht greifbar oder zu teuer?




Erzählstoff überall – Judith Kuckarts „Die Welt zwischen den Nachrichten“

Jede(r) möge es für sich bedenken: Welche – mehr oder weniger vagen – Berührungspunkte hatte mein Leben mit der Sphäre der Nachrichten? Und was folgt womöglich daraus? Judith Kuckart schneidet derlei Fragen in ihrem neuen, autobiographisch grundierten Roman „Die Welt zwischen den Nachrichten“ keineswegs umweglos an, sondern vielschichtig, hintergründig, zuweilen auch irrlichternd.

Staunenswert, welche Zeitlinien bis in die westfälische Provinzstadt Schwelm reichten, in der Judith Kuckart am (west)deutschen Einheits-Feiertag (17. Juni 1959) geboren wurde. Da war etwa die Schwelmer Apothekertochter Ina, die öfter auf die kleine Judith aufgepasst hat und sich Jahre später in Berlin (im Gefolge des Attentats auf den Studentenführer Rudi Dutschke) links radikalisiert hat. Noch etwas später war sie auf Plakaten der RAF-Terrorfahndung zu sehen und dürfte sich danach in der noch real existierenden DDR versteckt haben. Womit ihre Geschichte noch nicht zu Ende war. Der „Deutsche Herbst“ ist überhaupt prägend gewesen: Als Judith Kuckart in Köln studiert, wird ganz in der Nähe der Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer von der RAF entführt und bald darauf ermordet. Aber was ändern solche Koinzidenzen am täglichen Sein?

„Alle Geschichten gehören irgendwie zusammen“

Etliche Befunde und Annahmen über die Lebenswelt „zwischen den Nachrichten“ müssen in einem Roman erzählend überprüft und geformt werden. „Schreibe ich“, so lautet mehrfach das lakonisch innehaltende Zwischenfazit nach gewissen Erzählpassagen. Also kein blankes „So (und nicht anders) war es“, sondern „So ist es aus meiner Sicht gewesen“ oder noch skeptischer: „So könnte es gewesen sein“. Eigentlich, darauf läuft ein Hauptstrang des Buches hinaus, sind sowohl öffentliche als auch vermeintlich private Geschehnisse just Erzählstoff, der aus Buchstaben, Worten, Sätzen usw. besteht und sich hier wieder einmal zum Roman weitet. „Alle Geschichten gehören irgendwie zusammen“, heißt es schon auf Seite 57. Und kurz vor Schluss, auf Seite 186: „Am Ende gilt doch nur das Erzählen. Wer erzählt, kann Engel über Toronto fliegen lassen oder Möwen über den Bahnhof Zoo.“

Jegliches Menschenleben enthält exemplarische, aber auch scheinbedeutsame Vorfälle in Hülle und Fülle. Bei Lebensneugierigen wie Judith Kuckart steigern und verdichten sich die Kreuz- und Querbezüge wahrscheinlich. Jedenfalls werden sie ungleich schlüssiger erzählend verknüpft. Allerdings gilt erzählerische Distanz, denn: „(…) man weiß immer erst im Nachhinein, dass das, was man gerade erlebt, ein Stoff zum Erzählen ist. Denn wer sagt schon, Achtung, jetzt erlebe ich gerade eine Geschichte…“ Außerdem heißt es auf Seite 161, wie in Gedichtzeilen gesetzt:

„Das Seltsame an der Wirklichkeit ist
sage ich wieder und wieder –
dass jedes Ereignis auch ganz anders hätte stattfinden können.“

Eindrücke von Pina Bausch bis Pierre Brice

Nur mal ganz kursorisch aufgegriffen: Mit 15 Jahren taucht die tanzbegeisterte und dito begabte Judith ein einziges Mal inkognito beim nahe Schwelm gelegenen Wuppertaler Tanztheater der legendären Pina Bausch auf. Als Regisseurin und Tänzerin frönt die Schwelmerin später weiterhin der Tanzleidenschaft. Ihr Roman gliedert sich denn auch in eine Reihe von Theater-Kantinengesprächen. Nach dem Abi arbeitet sie vorübergehend in einer Lokalredaktion der Schwelmer Nachbarschaft und interviewt sogleich den Kino-Winnetou Pierre Brice. (Das erinnert mich, mit Verlaub, an meine Volontärzeit, die ein paar Jahre früher zeitweise in dieselbe Gegend – nach Gevelsberg – führte).

Die Eltern und sonstigen Vorfahren der Autorin kommen im Verlauf des Romans ebenso in Betracht wie eine Cousine, die mit zehn Jahren stirbt, die besonderen Frauen Ellen R. und Eva K., die Freundin „Bee“, die spiegelbildlich von ihren Vätern so benannten Judith Martina (also die Erzählerin) und Martina Judith, wodurch weitere biographische Vexierbilder entstehen. Liebhaber scheinen hingegen eher Randerscheinungen zu bleiben, zumindest treten sie nicht ins literarische Rampenlicht. Hier geht es vor allem ums Frauenleben – bis hinab zu den schauderhaften Abgründen einer erlittenen Vergewaltigung.

Heidegger und Genazino, nahezu geisterhaft

Judiths Vater Leo brachte es realiter vom Waschmaschinen-Vertreter bis zum CDU-Landtagsabgeordneten. In diesem Zusammenhang ist die kleine Judith einmal mit Franz Josef Strauß fotografiert worden. Als Kind mit ihren Eltern im Schwarzwald-Urlaub, sieht sie aus der Ferne schemen- und geisterhaft den steinalten Martin Heidegger, natürlich ohne Näheres über ihn zu wissen. Später haben u. a. der Schriftsteller Wilhelm Genazino und der Polyhistor Alexander Kluge ihre kurzen Auftritte, wobei Genazinos Part seltsam gespenstisch anmutet.

Und die große Historie, die Welt der Nachrichten? Seitdem die Autorin in Berlin lebt (wo sie anfangs Filmkritikerin beim „Tagesspiegel“ war), ergeben sich Geschichts-Ablagerungen wie von selbst, nicht zuletzt durch Erlebnisse des Zeitenwandels beim Transit in die DDR anno 1976, 1983, 1986 und dann nach der „Wende“. Damit können Schwelm oder Dortmund (wo die Autorin so manchen Kindheitssommer verbracht hat) denn doch nicht mithalten.

Schließlich finden sich solche Zitate, die man sich einfach zum Nachsinnen notieren sollte, um bald einmal darauf zurückzukommen: „Sie ist darauf gefasst, dass das Unglück so selbstverständlich ist wie der Tod und keine Sprache hat.“ – „Wir sitzen zu dritt in unserer Kindheit herum…“ – Oder jene (wiederum im lyrischen Zeilenfall aufscheinenden) aphoristischen Schlussworte:

Nicht wichtig
ist
was man aus uns gemacht hat
wichtig ist
was wir aus dem machen
was man
aus uns gemacht hat.

Judith Kuckart: „Die Welt zwischen den Nachrichten“. Roman. DuMont- Verlag, Köln. 190 Seiten, mit ca. 25 Schwarzweiß-Fotos. 24 Euro. 

 




Finale um die Currywurst: Berlin vs. Ruhrgebiet

Manches, was immer und immer wieder als reviertypisch hervorgekramt wird, kann einem auf Dauer ein bisschen auf den Geist gehen. Grönemeyers Liedgut beispielsweise. Die ewige Rivalität zwischen Schalke und dem BVB. Die alljährlich abgefeierte Büdchenkultur. Oder die Currywurst. Doch im Grunde ist uns all das ans Herz gewachsen, oder etwa nicht?

Seit Jahrzehnten wird im Ruhrgebiet medial auf Biegen und Brechen darauf hingearbeitet, dass die Currywurst im Revier erfunden worden sei – und nicht in Berlin. Ein neues Buch soll jetzt „endgültig“ Klarheit bringen, ist passenderweise im Klartext-Verlag erschienen und heißt „Alles Currywurst – oder was?“

Da sich der Klartext-Verlag in Essen befindet, ist die Stoßrichtung vorgegeben. Wir wollen ja hier nicht spoilern, aber dreimal darf man raten, ob Berlin oder das Revier im Jahr 1936 die Nase vorn hatte. Auch Bückeburg und Hamburg müssen hintanstehen. Die beiden Autoren (siehe unten) berufen sich auf hartnäckige Recherchen, Gespräche mit Zeitzeugen und aussagekräftige Dokumente. Also so, als ginge es wahrhaftig ums große Ganze. Und es geht ja auch um die Wurst. Bange Frage: Müssen wir jetzt mit einem harten Konter aus Berlin rechnen? Ha, kommt nur ran!

Geschichte und Geschichten dieser kulinarischen Spezialität werden nicht durchgängig erzählt, sondern quasi lexikalisch aufbereitet, was viele, viele Kurzbeiträge nach sich zieht. Als Lesende(r) wird man keineswegs überfordert, sondern mit flockiger Schreibe allzeit bei Laune gehalten. Wir erinnern uns: Der 1983 von Ludger Claßen im anderen Geiste gegründete Klartext-Verlag gehört seit einigen Jahren zur Funke-Mediengruppe (Essener Flaggschiff: WAZ), wo derlei lockere Stilistik ebenfalls vielfach gepflegt wird.

Von A wie Airline bis Z wie Zusatzstoffe oder Zwiebeln reicht das currywurstige Alphabet, in dessen Verlauf eigentlich alles abgegrast (oder besser: verbraten) wird, was irgend mit der Currywurst zu tun hat oder haben könnte. Unterwegs werden auch Fragen angeschnitten, mit denen nicht unbedingt zu rechnen war, etwa: Welcher Wein passt am besten zur Currywurst? Rümpft da jemand das feine Verkostungs-Näschen?

Doch natürlich spielen Phänomene, an die man bei Stichwort Currywurst sogleich denkt, die Hauptrollen. Duisburgs legendärer „Tatort“-Berserker Schimanski beispielsweise. Oder die natürlichen Begleiter der Wurst: Pommes! Wat sons‘? Globale Vielfalt ist auch mit drin: Das garantieren die schier endlos zu variierenden Curry-Mischungen.

Die beiden Autoren grillen nicht ausschließlich auf Revierfeuer. Der erfahrene Gastronom Tim Koch ist gebürtiger Hamburger, trägt jedoch, wie auf dem Cover verraten wird, als Unterarm-Tattoo eine Currywurstschale. Sein Mitstreiter Gregor Lauenburger ist alteingesessener Duisburger und arbeitet hauptberuflich als Seelsorger an einem Essener Gymnasium. Da sieht man mal wieder, wie die Currywurst verschiedene Menschen lukullisch vereint.

Rankt sich nicht gar eine ganze Philosophie um diese volkstümliche Speise? In der Literatur ist sie jedenfalls längst angekommen. Im Verzeichnis der weiterführenden Bücher findet sich selbstverständlich auch Uwe Timms Novelle „Die Entdeckung der Currywurst“ (1993), die 2008 verfilmt wurde und Hamburg als Ursprungsort ausmacht.

Und jetzt? Haben wir wohl ein neues, leichthändiges Standardwerk zum Thema.

Tim Koch & Gregor Lauenburger: „Alles Currywurst – oder was? Die ganze Wahrheit über das Kultobjekt“. Klartext-Verlag, Essen. 176 Seiten. 9,95 Euro.

 




Kolonialzeit – Auch Westfalen war vielfach verstrickt

„Wie lange noch ohne Kolonien?“ – Diese deutsche Propaganda-Marke aus dem Jahr 1925 forderte die Rückgabe der Kolonien nach deren „Verlust“ durch den Ersten Weltkrieg und stellte den Kolonialismus als gleichsam „naturwüchsigen“ Wirtschaftskreislauf dar. Kolonien waren Rohstofflieferanten und lukrative Absatzmärkte.  (Foto/Repro: LWL)

Manche Zeitgenossen mögen gleich abwinken: Was soll denn Westfalen mit Kolonialismus zu tun haben? Berlin oder Hamburg, ja. Aber „wir“? Nun, beim genaueren Hinschauen zeigt sich: eine ganze Menge, bis hinein in lokale Verästelungen – und bis in rassistische Abgründe, die immer noch nachwirken.

Den vielfältigen Beweis tritt eine Ausstellung im Dortmunder LWL-Industriemuseum Zeche Zollern an. Der Titel fällt gleichsam mit der Tür ins Haus und duldet wenig Einspruch, er lautet „Das ist kolonial“. Es ist das zentrale „Anker-Ereignis“ des LWL-Themenjahres „Postkoloniales Westfalen-Lippe“.

Aufregung im Vorfeld

Die Schau ist aus intensiven Diskussionen, Projekten und Workshops hervorgegangen. Ein Werkstatt-Vorläufer erregte 2023 rechts gestrickte Gemüter, weil für wenige Stunden pro Woche ein „safer space“ (Schutzraum) eigens für Menschen mit dunkler Hautfarbe eingerichtet wurde, die sich möglichst ohne Irritationen mit dem heiklen Thema befassen sollten.

Tatsächlich macht die jetzige Ausstellung mit über 250 Exponaten sowie Video- und Hörstationen plausibel, dass Schwarze (heutige Lesart: „People of Color“) den Geschichtsverlauf und seine Relikte möglicherweise völlig anders wahrnehmen. Während etwa prachtvolle Federn als Verkleidungs-Material im deutschen Karneval dienen, haben sie in etlichen afrikanischen Regionen rituelle Bedeutung und müssen durch existentielle Prüfungen verdient werden. Hier ahnt man, warum die gelegentlich im Übermaß beschworene „kulturelle Aneignung“ ein Problem sein kann.

Rohstoffe aus Afrika, Wertschöpfung in Herford

Der rassistisch dargestellte „Sarotti-Mohr“ (hier eine Rückenansicht) war seit 1922 Werbefigur für die Schokoladenfirma und wurde erst 2004 vom „Sarotti-Magier“ abgelöst. (Foto: LWL)

Gleich eingangs findet sich ein Schaukasten, mit dem deutsche Schüler kurz nach 1900 „Naturgaben deutscher Kolonien“ kennenlernen sollten, also bestimmte Fasern, Früchte, Bodenschätze und dergleichen. Ein unscheinbarer Besen besteht just aus afrikanischen Rohstoffen, Wertschöpfung und Profit flossen allerdings nach Deutschland. In diesem Falle machten sie eine Familie im westfälischen Herford steinreich.

In der Zeche Zollern befindet man sich keineswegs auf „neutralem“ Boden. Emil Kirdorf, einstiger Zechendirektor dieses jetzigen Ausstellungsortes, war ein Kolonialismus-Befürworter ersten Ranges, wie überhaupt viele Industrielle in Westfalen. Dortmunds Hafen diente derweil als Umschlagplatz für Kohle, die nicht zuletzt Kriegsschiffe antrieb. Aus dem heimischen Stahl erwuchsen auch Eisenbahnen, die die eroberten Gebiete durchpflügten.

Sklavenhändler aus dem Sauerland

Und wer hätte gedacht, dass im Sauerland ein Sklavenhändler wie Friedrich von Romberg (aus Hemer) sein Unwesen getrieben hat? Zu den Dokumenten, die sein Leben erschließen, zählt auch eine Rechnung, in der er 10 Prozent tödlichen „Verlust“ beim Transport versklavter Schwarzer geltend machte.

Das vielköpfige, übrigens rein weibliche Kuratorinnen- und Vermittlungsteam, nahezu paritätisch auch Frauen mit afrikanischen Wurzeln umfassend, hat wesentliche Aspekte des Themenfeldes einleuchtend aufbereitet, übrigens auch und gerade für Kinder, die ein eigenes Begleitheft in die Hand bekommen. Darin führt eine agile Comic-Spinne („Anansi Spider“) kurzweilig durch die Ausstellung.

„Völkerschauen“ in Dortmund und Münster

Beispielsweise geht es auch um christlichen Missionseifer zur Kolonialzeit. Eine historische Spendendose in Gestalt eines dunkelhäutigen Menschen wird ganz bewusst halb hinter Milchglas präsentiert, um vorgefasste Blickweisen zu verunsichern. An anderen Stellen sollen künstlerische „Interventionen“ die altgewohnte Sicht durchbrechen.

Kolonialismus im Schulunterricht: Schaukasten zu den „Naturgaben deutscher Kolonien“ (vor 1919). (Foto: LWL/Julia Gehrmann)

Das weitere Spektrum reicht von der alltäglichen Propaganda deutscher Kolonialvereine über Kolonialwarenläden bis zur in Afrika erbeuteten Raubkunst mitsamt der aktuellen Debatte um deren Rückgabe. Ein besonders düsteres Kapitel gilt der Niederschlagung des Herero-Aufstands durch die deutsche Kolonialmacht, bei der 70.000 bis 100.000 Eingeborene starben. Auch geht es um ehedem übliche „Völkerschauen“, für die indigene Menschen nach Europa verfrachtet und ruchlos öffentlich zur Schau gestellt wurden, so etwa wiederholt im Dortmunder Fredenbaumpark oder im Münsteraner Zoo.

Beim Rundgang sind einige Merkwürdigkeiten zu entdecken: Tuchware mit „typisch afrikanischen“ Motiven entstand teilweise nicht etwa dort, sondern wurde – grotesk genug – u. a. in einer Druckerei zu Herdecke hergestellt und sodann nach Afrika exportiert.

Fragwürdige Bücher, Denkmäler, Straßennamen

So unabweislich grinst einem aus vielen Objekten der blanke Rassismus entgegen, dass es einer kleinen Abteilung mit fragwürdigen Büchern kaum noch bedurft hätte. „Zehn kleine…“ mit dem unsäglichen N-Wort, aber auch „Jim Knopf“ und „Pippi Langstrumpf“ finden sich hier. Über Letztere ließe sich freilich diskutieren.

In Frage gestellt werden auch Denkmäler früherer Kolonialherren und nach ihnen benannte Straßen, die vielerorts vorhandene Robert-Koch-Straße inbegriffen. Der berühmte Mann hat, geschützt von deutschen Soldaten, medizinische Menschenversuche an Indigenen angestellt. Muss man solche Straßen umbenennen und Denkmäler stürzen – oder sollte ein aufklärerischer Umgang mit derlei Zeugnissen möglich sein? Gewichtige Fragen, längst noch nicht abschließend beantwortet.

„Das ist kolonial. Westfalens (un)sichtbares Erbe“. LWL-Industriemuseum Zeche Zollern, Dortmund, Grubenweg 5. Bis zum 26. Oktober 2025. 

zeche-zollern.lwl.org/dasistkolonial

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Der Beitrag ist in ähnlicher Form zuerst im Kulturmagazin „Westfalenspiegel“ erschienen: www.westfalenspiegel.de




Gruppendynamische Selbstbeschau – „Spiegelneuronen“ in Salzburg

Irritierende Spiegelungen des Publikums – Szene aus „Spiegelneuronen“ bei den Salzburger Festspielen. (Foto: SF / Bernd Uhlig)

Der Vorhang hebt sich, sofort geht ein Raunen durchs Publikum. Der Bühnenraum ist durch einen riesigen Spiegel verstellt, der jeden Zuschauer und jede seiner Bewegungen und Gefühlsausdrücke offenlegt. Wenn jemand seinem Ebenbild zuwinkt und dabei fröhlich grinst, machen bald auch (fast) alle anderen das nach. Wenn jemand mit den Armen rudert oder eine Wellenbewegung andeutet, wird schnell (fast) die ganze Menschenmenge zu einem sanft wogenden Einheitskörper.

Wenn jemand mit seinem Handy leuchtende Kreise formt, wird (fast) der ganze Saal zur sich selbst bespiegelnden Fangemeinde. Wenn jemand es nicht mehr auf den harten Holzstühlen aushält und zu den aus dem Off dröhnenden Rhythmen seinen Körper in Wallungen bringt, wird schlagartig (fast) das ganze Theater zum schweißtreibenden Dancefloor. Mitmachen ist das Motto des Moments. Empathie das oberste Gebot. Einfach mal das Gehirn ausschalten und sich den Synapsen der Abertausenden Nervenzellen überlassen, die uns zu Handlungen verführen, von denen unser Bewusstsein gar nichts weiß. Wer will, wo so viele Menschen sich ausgelassen selbst bespiegeln und zu einem ununterscheidbaren Menschenklumpen mutieren, noch abseits stehen und den Spielverderber geben?

„Dokumentarischer Tanzabend mit Publikum“

Die international gefeierte Tanz-Compagnie von Sasha Waltz und das für seine szenischen Interventionen bekannte Theater-Kollektiv Rimini Protokoll, das mit dokumentarischen Recherchen auch mehrfach in Mannheim und Heidelberg für Furore sorgte, hat sich für die Salzburger Festspiele ein ebenso faszinierendes wie befremdliches Kunst-Projekt ausgedacht: „Spiegelneuronen“ nennen sie ihren „Dokumentarischen Tanzabend mit Publikum“.

Getanzt im Sinne eines theatralisch-künstlerischen Körper-Ausdrucks wird allerdings nicht. Sasha Waltz und ihre Mitstreiter mischen sich lässig unters Publikum und animieren es zu gymnastischen Verrenkungen, kuriosen Blödeleien und absurden Imitationen. Der Mensch möchte gern ein unverwechselbares Individuum sein, ist aber doch ein Herdentier. Will geliebt sein und hat Angst, aus der Gemeinschaft  ausgestoßen zu werden. Das ist, sagt uns eine Stimme aus dem Off, genetisch bedingt: Wurde man von seinem Stamm aus der Höhle geworfen, kam das einem Todesurteil gleich.

Erklärstimmen aus Psychologie und Soziologie

Die erklärenden Stimmen von Neurologen, Psychologen und Soziologen begleiten die theatralische Versuchsanordnung, bei der das Publikum selbst zum Akteur und Gegenstand des Interesses wird. Mehr als ein paar Gemeinplätze kommen aber nicht zu Gehör. Dass der Mensch durch Nachahmung lernt und sich ständig in einem Konflikt zwischen Anpassung und Aufruhr befindet, dass unsere Gefühle oft verrückt spielen und unser Handeln nicht zu unserem Denken passt, wussten wir schon vorher. Auch dass wir gern Teil einer Gruppe sind, obwohl wir auf unsere Selbständigkeit pochen, war uns nicht unbekannt. Müssen wir, um daran erinnert zu werden und uns bei der Selbst-Bespiegelung auch ein wenig lächerlich zu machen, wirklich ins Theater gehen?

Für Rimini-Protokoll-Konzeptkünstler Stefan Kaegi, der diesmal für Regie und Konzept verantwortlich zeichnet, ist die Antwort klar. Für das Theater interessiert er sich sowie nicht: „Das eigentliche Schauspiel findet in der Diskussion danach als zentrales Element gemeinsamen Erlebens statt.“ Statt wie sonst in ihren Dokumentar-Recherchen Theater-Laien als „Experten aus der Wirklichkeit“ auf die Bühne zu bringen und alte und neue Texte aus der Sicht von „Alltags-Experten“ neu zu verhandeln, wird jetzt das Publikum selbst zum Zentrum der Aufführung.

Wie leicht sich die Masse Mensch manipulieren lässt

Selbst wenn man (wie der Verfasser dieser Zeilen), das ganze Treiben kopfschüttelnd beäugt und eher abgestoßen davon ist, wie leicht sich die Masse Mensch manipulieren lässt, entwickelt der Abend doch auch einen optischen und akustischen Reiz. Gelbe Luftballons schweben durch den Raum und befördern den kindlichen Spieltrieb. Grelle Scheinwerfer suchen sich einzelne Personen und beleuchten, wer sich wohl fühlt im Gruppengemenge oder am liebsten fliehen möchte. Gemeinsam mit den Armen wedeln und herumzuhopsen und sich dabei über sein Spiegelbild zu wundern, ist für die meisten in Ordnung. Dem Vorschlag aber, den fremden Sitznachbarn zu berühren und Körpergrenzen zu überschreiten, mag nicht jeder nachkommen.

Den unterhaltsamen und neckischen, aber auch ziemlich überflüssigen Abend beschließt der Radiohead-Song „Creep“: ein Widerling („creep“) ist in ein wunderschönes, unnahbares Mädchen verliebt. Der „Spinner“ („weirdo“) würde so gern auch einen perfekten Körper haben, fragt sich aber: „What the hell am I doing here?“ Ja, was mache und was will ich eigentlich hier in diesem Theater der Selbstbespiegelung?

„Spiegelneuronen“, Salzburger Festspiele (Deutschlandpremiere am 29. August im Radialsystem Berlin).

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Zur deutsch-schweizerischen Künstlergruppe Rimini Protokoll gehören Stefan Kaegi, Helgard Haug und Daniel Wetzel.

Rimini Protokoll entwickelt theatralische Interventionen und szenische Installationen, bei denen Laien auftreten, die keine Dramen-Texte spielen, sondern sich selbst als „Experten aus der Wirklichkeit“ und „Alltags-Spezialisten“ mit ihrer Biografie einbringen.

In der Kunsthalle Mannheim haben sie die Installation „Urban Nature“ (2022) gezeigt, im Heidelberger Kunstverein die Ausstellung „Drei Fliegen mit einer Klappe“ (2010).

Mit ihrer Version von „Wallenstein“ (2005) waren sie bei den Schillertagen in Mannheim, auch „Call Cutta in a Box“ (2008) haben sie als „Interkontinentales Telefonstück“ im Nationaltheater Mannheim inszeniert.

 

 




Das Kabarett neu justiert – ein paar Zeilen zum Tod von Richard Rogler

Richard Rogler, 2016 beim Dortmunder Festival „Ruhrhochdeutsch“ im Spiegelzelt an der Westfalenhalle. (Foto: Bernd Berke)

Welch ein Verlust! Der Wahl-Kölner Richard Rogler ist mit gerade einmal 74 Jahren gestorben. Er war im üblichen Wortsinne weder Kabarettist noch gar Comedian, sondern einer, der die Kabarett-Kunst an den entlarvenden Schnittstellen zwischen Privatleben und Politik recht eigentlich neu justiert hat. Insofern ein Pionier seines Metiers.

Stationen seines Werdegangs (darunter auch Kindertheater) und die zahlreichen Preise lassen sich vielfach nachlesen. Ich möchte es bei einer flüchtigen und doch prägnanten Erinnerung belassen. Ich meine Roglers erzkomische Nummer rund um die damalige pakistanische Premierministerin Benazir Bhutto (in diesem Amt 1988-1990 und 1993-1996), eine ausgesprochen schöne Frau, was ja eigentlich nicht viel zur politischen Sache tut. Jedoch…

Richard Rogler stellte sich jedenfalls vor, wie die damalige Weltelite der Staatsmänner bei einem internationalen Treffen untereinander tuschelt, was wohl bei der Bhutto „geht“ und wie man an sie herankommt. Wunder über Wunder: Die Herrschaften waren auch nur Männer. Da „saß“ einfach jedes Wort und jeder verstohlene, hinterhältige Tonfall. Man wusste sogleich, dass hier ein Großer seiner Zunft zugange war. Seltsam oder auch nicht, dass ich mich ausgerechnet daran zuallererst bzw. zuallerletzt erinnere.

Für diesen und viele andere Auftritte einfach nur danke. Die ihn auf der Bühne oder medial erlebt haben, werden ihn nicht vergessen.




Medaillen, Hymnen und so weiter

Abspielgerät aus der Zeit, als Hymnen noch anders gewertet wurden: Grammophon auf dem Flohmarkt. (Foto: Bernd Berke)

Schon etwas seltsam (Running Mate Tim Walz würde wohl sagen: „weird“), dass man diesen nationalistisch angehauchten Quatsch immer noch beachtet. Muss ich mich jetzt der verstohlenen Blicke auf schnöde Ziffern schämen? Kaum hatte Olympia in Paris etwas Fahrt aufgenommen, habe ich tatsächlich wieder täglich auf den Medaillenspiegel geschielt und mit gemischten Gefühlen bemerkt, wie sehr Deutschlands Sportlerinnen und Sportler vielfach hinterdrein hechelten.

Aus gar vielen Gründen blieben die Athleten aus Germany zurück, auch in hierzulande vordem sehr erfolgreich betriebenen Sportarten wie z. B. Fechten, Segeln und Ringen. Auch beim Radfahren überwog die Enttäuschung. Bei manchen Wettbewerben war kaum fassliches Missgeschick im Spiel. In der Gesamtbilanz landete l’Allemagne – einzelnen Glanztaten zum Trotz – mit 33 Medaillen (davon 12 Gold) nicht nur weit, weit hinter den rivalisierenden Global-Giganten USA (126) und China (91), sondern sehr deutlich auch hinter Frankreich (64 – naja, deren Heimspiele halt) und Großbritannien (65), die derzeit beide arge gesellschaftliche Probleme wälzen und wohl nach sportlicher Kompensation dürsten. Der „Kater“ folgt wahrscheinlich.

Doch das ist nicht alles. Desgleichen liegen zum Beispiel auch die wesentlich kleineren (bevölkerungsärmeren) Niederlande (34 Medaillen) vor den Deutschen Olympioniken. Die deutschen Olympia-Funktionäre haben bereits für die nächsten Sommerspiele wieder die Rückkehr unter die sechs weltbesten Nationen als Ziel ausgerufen, diesmal war es lediglich Rang zehn. Sollten etwa die landesüblichen Bürokraten in der Sportförderung hinderlich gewesen sein?

Vollends verblüffend wirkt übrigens die Erfolgsbilanz Australiens, das mit seinen gerade mal rund 26 Millionen Einwohnern formidable 53 Medaillen gesammelt hat. Auch die Teams aus Neuseeland (20) oder Kanada (27) holten mehr, als es nach reinen Bevölkerungszahlen zu erwarten gewesen wäre, jene aus Indien (6) hingegen ungleich weniger.

Nein, wir betreiben jetzt keine Ursachenforschung, schon gar nicht spekulativ. Von etwaigem Doping-Verdacht und aggressiver Sportpolitik bestimmter Regime gar nicht erst zu reden. Wobei Russland diesmal aus bekannten Gründen außen vor geblieben ist.

Allerdings könnte man jene etwas andere Tabelle aufstellen: Einwohnerzahl geteilt durch Medaillen. Den Rechenaufwand erspare ich mir. * Statt dessen stelle ich mir mal wieder die Frage: Wer hat eigentlich die klangvollste Hymne – für den Fall, dass jemand ganz oben auf dem Treppchen zu stehen kommt? Aber das ist wohl schon wieder so ein Quark von vorgestern.

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* Mittlerweile hat ausgerechnet die „Bild“-Zeitung eine solche Tabelle erstellt und heute (13. August) online publiziert.




Das Ungeheuer vom Harkortsee lockt die Welt ins Revier

Der Harkortsee mit Blick aufs Revierstädtchen Wetter. Bald könnten sich hier Seeungeheuer tummeln – wenn wir es nur wollten. (Foto: Bernd Berke)

Nun liegt die Fußball-EM auch schon wieder ein Weilchen hinter uns – und im Revier muss man sich wieder nach anderen touristischen Attraktionen umsehen. Es gibt leichtere Aufgaben. Doch guter Rat ist gar nicht so teuer, es gibt ihn hier sogar gratis!

Der Reihe nach. Gestern gingen meine Frau und ich an Ruhr und Harkortsee entlang, zwischen den seitwärts gelegenen, recht idyllischen Revier-Städtchen Herdecke und Wetter. Da wurde eine gemeinsame Erinnerung wach: Vor rund 20 Jahren waren wir im schönen Schottland und dort unter anderem am Loch Ness (aka Lough Ness), dem mutmaßlichen Aufenthaltsort des weltberühmten See-Ungeheuers und seiner etwaigen Nachfahren. So gut wie alle Veranstaltungen und Merchandising-Aktivitäten am Ort ranken sich um diesen Mythos und haben seit etlichen Jahrzehnten einiges Geld eingespielt. Vom glucksenden Spaßfaktor mal ganz abgesehen.

Offensichtlich eine lukrative Sache: vielsagende Hinweistafel am schottischen Loch Ness. (Foto: Bernd Berke)

Und nun aber: Warum entdeckt oder erfindet niemand – gern mit Hilfe allfälliger „Experten“ – ein solches Ungeheuer im Harkortsee, meinethalben auch im Hengstey- oder Baldeneysee? Eindrucksvolle Schummel-Bilder sind doch in Zeiten von KI fix hergestellt und in den sozialen Netzwerke rasch verbreitet. Es lebe die gekonnte Sinnestäuschung! Gängige Erkenntnis: Dinge, die nur innig genug imaginiert werden, manifestieren sich mitunter tatsächlich halbwegs handfest. Wenn es so weit ist, rufen die regionalen Medien ihr Publikum dazu auf, einen Namen für das Monster zu finden. Vorzugsweise im gefürchteten „Sommerloch“.

Dann solltet ihr mal sehen! Zuerst kämen wieder die Holländer, dann nach und nach weitere Europäer. Eine Extra-Einladung ginge an eine Delegation aus dem schottischen Distrikt rund um Loch Ness raus. Das entsprechende Pressefoto ginge flugs um die Welt. Schließlich spräche sich das Phänomen bis in die von Kamala Harris regierten USA und nach Ostasien herum. Was wäre das für ein Jubel und Trubel. Hier, bei uns.

Doch halt! Es träfen vielleicht dermaßen viele Touristen ein, dass die Ruhris alsbald einen „Über-Tourismus“ wie etwa in Venedig oder Barcelona beklagen könnten. Mh. Vielleicht sollten wir es doch lieber bleiben lassen, oder?

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P. S.: Beim Rumgoogeln habe ich doch wahrhaftig den Hinweis auf einen „Loch Ness Monsters e. V.“ in Dortmund entdeckt. Weitere Nachforschungen ergaben freilich schnell, dass dieser Verein seit einiger Zeit „dauerhaft geschlossen“ ist. Schade eigentlich.




Bücher, kurz vorgestellt: Hotel, Proletariat, Apokalypse

Ich leiste Abbitte. Hier sind noch drei Bücher, die wohl eine ausführlichere Besprechung verdient hätten. Doch fehlte mir wegen besonders misslicher Umstände schlicht und einfach die Zeit, die jetzt schon wieder in Richtung Herbst galoppiert. Drum seien die Bände hier immerhin kurz vorgestellt:

Eine veritable Wiederentdeckung ist der Roman von Maria Leitner: „Hotel Amerika“ (Reclam, 256 Seiten, 25 Euro). Das erstmals 1930 erschienene Buch zählt zur Spezies der urbanen Hotelromane, die in den bewegten 1920er Jahren aufblühte. Kein Geringerer als Siegfried Kracauer rezensierte das Buch damals für die legendäre Frankfurter Zeitung und arbeitete die Unterschiede zu thematisch ähnlich gelagerten Schöpfungen von Vicki Baum und Joseph Roth heraus.

Maria Leitner, die selbst in prekärer Stellung in einem New Yorker Hotel gearbeitet hatte, schildert die Verhältnisse von „ganz unten“, aus Sicht des irischen Wäschemädchens Shirley, konzentriert auf Ereignisse eines einzigen Tages. Machart und Stil muten noch heute prickelnd modern an.

Man staunt immer wieder, welche Schätze literarische Scouts aus fast vergessener Vergangenheit heben. In diesem Falle war es die Chemnitzerin Helga W. Schwarz, die sich beharrlich für eine Neuentdeckung eingesetzt hat, nachdem sie in der DDR wiederaufgelegte Bücher gelesen hatte. Eigentlich fast überflüssig zu sagen, dass die NS-Machthaber Maria Leitner ins Exil getrieben haben. Was hätte sie in einer besseren Welt noch bewirken können!

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Seitdem das proletarische Milieu weitgehend geschwunden ist, erscheinen – im Zeichen der biographischen Selbstvergewisserung – umso mehr Erzähltexte, die Bruchstücke jener Vergangenheit bewahren wollen. Hierher gehört, mit eigenen Akzenten, letztlich auch der von Martin Becker verfasste Roman mit dem schlichten Titel „Die Arbeiter“ (Luchterhand, 302 Seiten 22,70 Euro).

Der 1982 geborene, im sauerländischen Plettenberg aufgewachsene Autor erzählt die Geschichte einer Arbeiterfamilie aus dem Ruhrgebiet. Auch er weiß genau, wovon er schreibt: Sein Vater war Bergmann, seine Mutter Schneiderin. Er kennt also die einfachen Verhältnisse, in denen man sich für ein kleines bisschen Wohlstand abrackert. Die Rückschau hat denn auch so gar nichts von nostalgischem Beigeschmack.

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T. C. Boyle muss wirklich nicht mehr großartig gewürdigt werden, er zählt zu den Weltbestsellern von gehöriger Substanz. Mit seinen Short Stories in „I Walk Between the Raindrops“ (Hanser Verlag, 272 Seiten, 25 Euro – Übrigens eine seltsame Marotte im Verlagswesen: englische Titel für ins Deutsche übersetzte Bücher) entwirft er wieder einmal Szenarien des allmählichen, jedoch zunehmend rasanten, offenbar unaufhaltsamen Weltuntergangs. Wie er das fertigbringt, macht ihm das so leicht niemand nach. Wenn ein Schriftsteller auch technisch auf Höhe dieser Zeit ist, dann sicherlich er (na, gut: und ein paar wenige andere). Fragt sich nur, wie man nach solchen Büchern guten Gewissens und frohen Herzens weiterleben soll. Und doch: es geht. Höchstwahrscheinlich.

Ganz nebenbei: Auf dem Cover stört eigentlich nur der obligatorische Spruch des nahezu unvermeidlichen Denis Scheck: „Starke Geschichten für heftige Zeiten.“ Aha. Muss man solche Testimonials wirklich unbedingt auf die Titelseite heben?

 




Vom Blog zum Buch: Gerd Herholz und seine „Interventionen aus dem Ruhrgebiet“

Dies ist eigentlich keine Rezension. Es wäre ja auch ziemlich unredlich, hier eine Kritik zu Gerd Herholz‘ Buch „Gespenster GmbH“ zu veröffentlichen, hat doch die Erstfassung vieler der darin versammelten Blog-Beiträge just in den Revierpassagen gestanden.

Ergo habe ich sie seinerzeit selbst gegengelesen und punktuell redigiert, was freilich bei einem so versierten Autor wie Herholz kaum nötig ist. Er ist einer, der überaus sorgfältig mit seinen (und anderen) Texten umgeht und wohl dennoch nie hundertprozentig zufrieden mit den Resultaten des eigenen Tuns ist. Ein Perfektionist eben. Aber beileibe kein unnachgiebiger Rechthaber.

„Interventionen aus dem Ruhrgebiet“ heißt sein Band im Untertitel, auf dem Cover prangt ein nicht gar so glanzvolles „Dortmunder U“. Für die Buchfassung hat Herholz die Beiträge noch einmal sorgsam überarbeitet. Tatsächlich erhebt sich hier eine gewichtige Stimme aus der Region, die kulturelle Tendenzen ebenso einzuordnen weiß wie politische Zeitläufte und gesellschaftliche Vorgänge; eine Stimme, deren Einsprüche auch in anderen Breiten gehört werden sollten.

Ruhrbarone und Revierpassagen

Nochmals rekapituliert: Die Erstveröffentlichungen standen zwischen 2011 und 2023 in zwei Ruhrgebiets-Blogs: „Ruhrbarone“ (18 Beiträge) und „Revierpassagen“ (25 Beiträge). Hinzu kommt der „Humanistische Pressedienst“ (1 Beitrag). Keine bloße Erbsenzählerei, sondern eine ungefähre Vermessung.

Herholz wagt sich an schwierige, umfassende Themen, freilich pirscht er sich  vorzugsweise von den Rändern her an sie heran – und wird dann doch sehr bald wesentlich. In diversen Beiträgen befasst er sich mit Kultur und vor allem Kulturschwund im Kapitalismus oder beleuchtet flackernd die partielle Finsternis der „Nekropole Ruhr“, mithin einer in mancher Hinsicht sterbenskranken Gegend. Gerade der tastende Gestus des „Versuchs“ bewahrt ihn vor allzu schnellen und harschen Urteilen, doch vertritt er durchaus seine klaren, bestens begründeten Meinungen.

Beklagenswerter Zustand der Kultur

Lesenswert sodann auch die literarischen Erkundungen (oftmals mit Ruhrgebiets-Bezug), beispielsweise zu Nicolas Born, Feridun Zaimoglu, Hilmar Klute, Wilhelm Genazino – und zu Revierbezügen bei Günter Grass. Behutsam und wunderbar differenziert schließlich die Würdigung des Dichters Erich Fried und seiner Widersprüche. Herholz zeigt sich in seiner ureigenen Domäne längst nicht nur als studierter Germanist, sondern eben auch als höchst belesener Mensch, der etliche Protagonisten der Literatur persönlich kennt oder gekannt hat.

Besonders am Herzen liegen dem langjährigen Leiter des Literaturbüros Ruhr (Gladbeck) die – gar seltenen, arg vermissten oder stets bedrohten – Literaturhäuser der Region. Beklagenswert, nicht nur aus Sicht dieses Kenners des Literaturbetriebs, ist überdies der Zustand hiesiger Literaturfestivals und dito Preisvergaben.

Nicht selten schleicht sich Resignation mitsamt einem gewissen Galgenhumor in seine Texte. Es lässt sich allemal nachvollziehen. Zumal seit den Corona-Zeiten klingt ein vordem ungeahnter Ton mit hinein – mit Blicken aufs Leben nach der Lohnarbeit und zu einem Ende hin, das doch bitte noch in weiterer Ferne liegen möge.

Wie eingangs gesagt: Dies ist keine Rezension. Aber eine nachdrückliche Empfehlung.

Gerd Herholz: „Gespenster GmbH. Interventionen aus dem Ruhrgebiet“. Herausgegeben von Arnold Maxwill. Aisthesis Verlag, Bielefeld (Reihe Nyland Dokumente, 27). 240 Seiten, 25 Euro.




Fürchterliche Kumpanei – der BVB-Deal mit der Waffenschmiede Rheinmetall

Jetzt Makulatur: meine BVB-Mitgliedskarte.

So! Es ist vollbracht. Heute habe ich meine Mitgliedschaft beim BVB 09 gekündigt. Dreimal darf geraten werden, welchen Grund ich dafür hatte. Oder auch nur einmal. Denn natürlich geht es um den nach (nicht nur) meiner Ansicht verwerflichen Sponsoren-Deal mit dem Rüstungskonzern Rheinmetall, der allzeit prächtig von internationalen Krisen und „Waffengängen“ profitiert.

Für die Düsseldorfer Firma mag es einen Image-Gewinn bedeuten, sich mit ein paar Milliönchen an Borussia Dortmund heranzuwanzen. Für den Verein (nun vollends unglaubwürdiges Motto: „Echte Liebe“) bedeutet es hingegen einen herben Image-Verlust. Zahlreiche Fans melden Protest an – und ich bin sicherlich nicht der einzige Anhänger, der die Konsequenz des Vereinsaustritts zieht. Ich habe auch gleich die Mitglieds-Plakette von meinem Auto abgezogen. Wenn schon, denn schon. Dem Verein, dem ich seit der Kindheit (also seit Gründerzeiten der Bundesliga) anhänge, bleibe ich dennoch treu. Freilich mit Schmerzen.

Wie peinlich wird es sein, wenn die Aufrüster fast überall mit ihrer BVB-Connection werben dürfen. Nur die Trikots sollen ausgespart bleiben. Na, toll. Es geht nicht darum, dass Rheinmetall derzeit auch und vor allem Waffen für die Ukraine herstellt, wo sie tatsächlich dringend benötigt werden. Es geht vielmehr um das allgemeine und sonstige Gebaren dieser Kriegsprofiteure, die fortan wahrscheinlich auch etliche VIP-Logen im Westfalenstadion fluten.

Wie hat man sich in Dortmund und anderswo aufgeregt, als der FC Bayern anrüchige Bande nach Katar knüpfte. Wie hat man die Schalker gescholten, die so lange an einer „Partnerschaft“ mit der russischen Gazprom festgehalten haben. Wie unbeliebt ist – zumal im Revier – RB Leipzig, weil der Club überhaupt erst vom Brausehersteller Red Bull gepäppelt wurde.

Und jetzt diese Dortmunder Kumpanei mit Rheinmetall, ausgerechnet im Vorfeld des Finales der Champions League lanciert. Es gibt so viele Marken, mit denen sich der börsennotierte BVB hätte schmücken oder wenigstens gut hätte arrangieren können. Warum musste es ausgerechnet die rheinische Waffenschmiede sein, die nicht einmal regionalen „Stallgeruch“ hat? Was ist in Hans-Joachim Watzke gefahren, dass er am Vorabend seines Abschieds noch eine solche Entscheidung getroffen hat?

Borussia Dortmund im Londoner Wembley-Stadion gegen Real Madrid. Mehr mythologische Aufgipfelung geht aus hiesiger Sicht kaum. So viele fiebern dem Endspiel am 1. Juni entgegen: Ob der Außenseiter BVB wohl die Sensation schaffen und den größten europäischen Titel erringen kann? Doch nun ist einem selbst dieses Hochamt des Fußballs vergällt.

Ich spare mir an dieser Stelle alle hochlustigen Anspielungen auf Abwehr, Verteidigung und Angriff in Krieg und Fußball. Das entsprechende Wortfeld ist mitsamt Bomben und Granaten schnell abgegrast. Ich gestatte mir aber gehörige Empörung oder – sprachlich noch passender – Entrüstung.




Freiheit, Albtraum und Erschöpfung – Theresia Enzensbergers Gedanken übers Schlafen

Hanser Berlin bringt derzeit und bis zum Frühjahr 2026 sukzessive 10 Bände über die wichtigsten Dinge des menschlichen Daseins heraus (Liste am Schluss dieses Beitrags). Theresia Enzensberger, 1986 geborene Tochter von Hans Magnus Enzensberger, Romanautorin („Blaupause“, 2017 – „Auf See“, 2022), außerdem Mitarbeiterin etlicher Premium-Medien, ist dabei schreibend fürs Schlafen zuständig.

Ein Hauptstrang ihres Essays handelt vom Schlaf unter kapitalistischen Bedingungen. In dieser Hinsicht diene er lediglich dazu, die Arbeitskraft wiederherzustellen. Dabei könnte er doch – mitsamt den Träumen – ein unkontrollierbares, unverfügbares Reich der Freiheit sein. Prinzipiell stehe der Schlaf außerhalb der sonst so universellen kapitalistischen Verwertbarkeit. Theresia Enzensberger ergreift die Gelegenheit, in solchen Zusammenhängen wieder einmal Karl Marx zu zitieren – ehedem flächendeckend üblich, heute eher selten.

Die Autorin geht nicht strikt systematisch vor, sondern zuweilen eher kursorisch und assoziativ, wobei sie auch die eigene Schlafbiographie einbezieht, die phasenweise von anhaltenden Schlafstörungen gekennzeichnet war; ein offenbar immer weiter verbreitetes Leiden, das besonders Frauen, Ältere und Arme plagt. Alltäglich und millionenfach. Am anderen Ende des Spektrums gibt es eine extreme Schlaflosigkeits-Krankheit, die zu 100 Prozent tödlich verläuft: die „Fatal Familial Insomnia“. Wie man annimmt, sind sind davon gottlob weltweit nur 40 Familien betroffen.

Als Kronzeugin der Insomnie fungiert auch Marie Darrieussecq mit ihrem Buch „Sleepless“. Im weiteren Kontext ist die zürnende Rede vom neoliberalen Sozialdarwinismus, der mitleidlos mit den Schwachen und Kranken umgehe – auch und gerade nach der Corona-Krise. Kleine Nebenbemerkung: Hat nicht jüngst ein „liberaler“ Politiker „Lust auf Überstunden“ eingefordert – ohne Rücksicht auf mancherlei Erschöpfungs-Zustände?

Zurück zum Buch: Ein Exkurs erkundet das zugehörige, auch politisch und religiös konnotierte Wortfeld des Aufwachens und der Wachheit zwischen „woke“ und „Schlafschaf“, „Erweckung“ und „Auferstehung“. Ferner geht es um die düsteren Seiten der Schlafwelt mit schauderhaften Nachtmahren, die das albtraumhafte Genre der Gothic Novel geprägt haben. Teilweise erschreckend weite innere Landschaften tun sich da auf, die auf 112 Seiten freilich nur gestreift werden können.

Der schmale Band enthält gleichwohl einige spannende Mitteilungen, denen man gern weiter nachgehen möchte. So stellt Enzensberger fest, dass es in der Literatur viele „Meister der Erschöpfung“ gegeben habe, die unter erheblichem Schlafmangel gelitten hätten. Womöglich befördert ja das Wachbleiben ungeahnte Phantasien. Im Gedächtnis bleiben auch Mitteilungen über die hohe Todesrate beim Erwachen aus dem tierischen Winterschlaf, den man sich keinesfalls als gemütliche Auszeit vorstellen darf. Im Gegenteil: Danach fehle vielen Wesen schlichtweg die Energie, weiterzumachen wie zuvor.

Theresia Enzensberger: „Schlafen“. Hanser Berlin, 112 Seiten. 20 Euro.

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Weitere vorliegende und geplante Bände der zehnteiligen Reihe „Das Leben lesen“, die fast ausschließlich von Frauen verfasst wird:

Elke Heidenreich „Altern“ (bereits erschienen)
Svenja Flasspöhler „Streiten“ (23.9.2024)
Emilia Rosig „Lieben“ (23.9.2024)
Doris Dörrie „Wohnen“ (Frühjahr 2025)
Heike Geißler „Arbeiten“ (Frühjahr 2025)
Daniel Schreiber „Essen“ (Herbst 2025)
Karen Köhler „Spielen“ (Herbst 2025)
Felicitas Hoppe „Reisen“ (Frühjahr 2026)
Daniela Dröscher „Sprechen“ (Frühjahr 2026)

 

 




Gegen Diktatur half keine Kunst – Durs Grünbeins Kriegsbuch „Der Komet“

Mit 16 hat Dora bäuerliche Armut und dumpfe Enge ihrer schlesischen Heimat verlassen und ist mit ihrem Freund, dem Metzger Oskar, nach Dresden gezogen. Sie leben bescheiden und erschaffen ihren beiden Töchtern ein kleinbürgerliches Paradies.

Das Geld reicht aus, um in den Tierpark zu gehen und die Kunstschätze der Kulturmetropole zu bewundern. Von Politik halten sie sich fern. Das Gebrüll Hitlers ist ihnen suspekt. Vor dem Schicksal der mitleidlos vertriebenen Juden schließen sie aber die Augen. Und die mit dem Krieg am Horizont aufziehende Katastrophe wollen sie nicht wahrhaben. Obwohl die Front näher rückt und viele deutsche Städte bereits in Schutt und Asche liegen, glauben sie an die Unantastbarkeit und Unverletzlichkeit ihrer glorreichen Stadt.

Dann, in der Nacht auf den 13. Februar 1945, geschieht das Unfassbare: „Mit einem tiefen, gleichmäßigen Brummen kündigte sich das Unheil an, ein gigantischer Schatten senkte sich über die Stadt, der Flügel einer großen Umnachtung.“ Während die Sirenen Alarm schlagen, schweben Fliegende Festungen der Alliierten Richtung Elbtal, öffnen Klappen und Schächte und klinken aus, was sie mitgeführt haben und abliefern sollen: „das ganze perfekt aufeinander abgestimmte Arsenal für ein konzertierten Flächenbombardement, darauf berechnet, den finalen Feuersturm zu entfachen.“

Durch die Ruinen der Stadt irren

Die mit Scharlach auf der Quarantänestation des Dresdner Krankenhauses untergebrachte Dora wird diesen „Weltuntergang“ überleben. Während die Erde bebt, die Häuser zu Staub zerfallen und zehntausende Tote am Wegesrand liegen, wird Dora durch die Ruinen der Stadt irren und sich zu ihren von einer Freundin ins nahe gelegene Pirna gebrachten Kinder durchschlagen. Auch Oskar, der als Koch seinen Dienst an der Ostfront leistet und Zeuge vielfacher Morde ist, entkommt der Apokalypse.

Von seinem Großvater und von seiner Mutter, die als kleines Mädchen beinahe von Sowjet-Soldaten nach Russland verschleppt wurde, hat der in Dresden geborene und sein langem in Berlin und Rom lebende Durs Grünbein in seinem Erinnerungsbuch „Die Jahre im Zoo“ berichtet. Jetzt, in seinem Roman „Der Komet“, steht die Überlebens-Geschichte der Großmutter im Mittelpunkt seines Interesses.

Geblendet vom früheren Ruhm

Der Büchner-Preisträger webt einen literarischen Teppich aus den Erinnerungen und Erlebnissen der Großmutter und seinen eigenen politischen und historischen Recherchen. Grünbein entwirft das Bild einer ebenso starken wie naiven Frau, das Porträt einer Stadt, die sich vom Ruhm der Vergangenheit blenden ließ, und das Sittenbild eines Volkes, das durch Willkür und Gewalt gleichgeschaltet wurde und den nationalsozialistischen Terror geduldet und mitgetragen hat.

Weder märchenhafte Mythen, noch die Schönheit der Kunst oder die „formvollendeten, endgültig ausgereiften Verse“ haben geholfen, das Unfassbare zu verhindern. Gegen Diktatur und Barbarei helfen weder die Kunstschätze im Grünen Gewölbe noch die im Villenviertel „Weißer Hirsch“ geschmiedete Poesie. Seit 1910 am Himmel der Komet Halley erschien und nur knapp an der Erde vorbei schrammte, hat sich die Angst vorm Weltuntergang tief ins Gedächtnis gegraben. „Jetzt kommt er, der Komet, das alles verheeren wird“, denkt Dora, als der Feuersturm losbricht. Und Grünbein ergänzt trocken: Nun ist „der Spaß zu Ende“, erfährt man, was das heißt: „der totale Krieg.“

Durs Grünbein: „Der Komet“. Suhrkamp-Verlag, 286 S., 25 Euro.




Erlittenes Leben, betrübliches Altern – Didier Eribons Buch „Eine Arbeiterin“

Vor allem mit seinem Buch „Rückkehr nach Reims“ war Didier Eribon – u. a. nach und neben Nobelpreisträgerin Annie Ernaux – einer derjenigen, die das autobiographische („autofiktionale“) Erzählen neuerer Prägung enorm beeinflusst haben. Selberlebensbeschreibungen, zumal von hernach mühsamst aufgestiegenen Kindern aus dem Arbeitermilieu, hatten jüngst geradezu Konjunktur. Auch jetzt wendet sich Eribon nicht von diesem Themenkreis ab, er fokussiert seinen Blick aber anders, und zwar aufs Leiden am Altern.

Sein neues Buch „Eine Arbeiterin. Leben, Alter und Sterben“ setzt ein, als der Ich-Berichterstatter (unverhüllt Eribon selbst) in der nordfranzösischen Provinz ein passendes Altenheim für seine hinfällige Mutter sucht. Dies erweist sich als außerordentlich schwieriges Unterfangen.

Was als Schilderung aus dem misslichen Alltag beginnt, verzweigt sich in Reflexionen zu gesellschaftlichen Zuständen und allerlei theoretischen Exkursen, die ums Altern kreisen. Besonders kommen dabei Bücher von Simone de Beauvoir (ihr im Vergleich zu „Das andere Geschlecht“ weniger bekanntes Spätwerk „Das Alter“ von 1970) und Norbert Elias („Über die Einsamkeit der Sterbenden“) in Betracht. Außerdem zitiert: Theodor W. Adorno, Bert Brecht („Die unwürdige Greisin“), Danilo Kiš („Die Enzyklopädie der Toten“), Michel Foucault und etliche andere.

Das Private bleibt nicht privat

Eribon bringt es zuwege, dass im Privaten das größere Ganze, das Gesellschaftliche erhellend aufscheint. Das Private bleibt nicht privat, sondern gehört ersichtlich in weitere Zusammenhänge. Erfahrung und Nachdenken steigern sich gleichsam aneinander. Eribon will buchstäblich alles ausleuchten, er will nicht weniger als die erreichbare Wahrheit.

Die Erzählung erschöpft sich also nicht in theoretischen Erwägungen, sondern umschreibt eben auch gelebtes, erlittenes Leben, zumal die Erfahrungen einer gealterten Frau, die in der Unterschicht ums bloße Überleben kämpfen musste. Diese Einzelkämpferin bekommt, anders als oft bürgerliche Frauen mit ihren gewachsenen Freundinnenkreisen, auch im Altenheim kaum Besuch – außer von ihrem Sohn Didier, dessen Brüder sich so auf Berufe und eigene Familien konzentrieren, dass sie sich von der alten Frau fernhalten oder wenigstens alles schnellstens „geregelt“ wissen wollen. Die Mutter wiederum, ehedem aus gutem Grund gewerkschaftlich orientiert, hat mit der Zeit rechtslastige und fremdenfeindliche Regungen entwickelt; ein Umstand, der Eribon spürbar zu schaffen macht, den er aber nicht verschweigt. Alles muss auf den Tisch.

Keine Erinnerung an glückliche Tage

Rückblickend kann sich die Mutter generell nicht an glückliche Tage erinnern, auch ihre Ehe war quälend, der Mann ein tyrannischer Ausbund an Eifer- und Tobsucht. Eribon registriert gar einen allgemein grassierenden Witwenhass auf verstorbene Ehemänner. Auch so ein gesellschaftlicher Befund aus einer Zeit, als die Frauen noch nicht wagten, sich scheiden zu lassen.

Im hohen Alter kommt hinzu, dass eine eklatante Unterversorgung mit passablen Pflegeplätzen herrscht. Die Zustände in den Heimen sind betrüblich bis skandalös, öffentliche Einrichtungen sind unterfinanziert, private in erster Linie auf Gelderwerb ausgerichtet – gewiss nicht nur in Frankreich.

Das Buch mündet in eine Klage und Anklage: Das höhere Alter bedeute den rasant zunehmenden Verlust von Räumlichkeit und Zeitlichkeit. Vom Leben bleiben nur noch kümmerliche Reste. Die Hochbetagten selbst sind zu schwach, um ihre Stimme zu erheben, ja überhaupt „wir“ zu sagen, sie müssten Fürsprecher haben und haben sie kaum. Appellierender Schlusssatz: „(…) sind dann nicht andere aufgerufen, ihnen eine Stimme zu geben?“

Didier Eribon: „Eine Arbeiterin. Leben, Alter und Sterben“. Suhrkamp Verlag, 272 Seiten, 25 Euro.




Die einen saufen so, die anderen so – zur wiederentdeckten Studie „Betrunkenes Betragen“

Wiederveröffentlichungen nach Jahrzehnten sind in der Belletristik nichts Ungewöhnliches, wohl aber im Sachbuchbereich. „Betrunkenes Betragen“ (Originaltitel „Drunken Comportment“) ist ein solch seltener Fall.

Die ethnologische Studie über den Umgang mit Alkohol bei den verschiedensten Völkern und Gruppierungen, verfasst von den kalifornischen Anthropologen Craig MacAndrew und Robert B. Edgerton, ist bereits 1969 erschienen. Der deutsche Schriftsteller und Psychiater Jakob Hein hat sie nun als wichtige Wiederentdeckung erneut herausgebracht und übersetzt. Vorworte zur alten und zur neuen Ausgabe markieren den historischen Abstand. Das Wort „Betragen“ mutet etwas antiquiert an und dürfte hierzulande vielen Leuten zuletzt auf Schulzeugnissen der 1960er Jahre begegnen sein. Es wird ganz bewusst abgegrenzt vom eher flüchtigen „Verhalten“ („behavior“).

Bis in die hintersten Winkel der Erde

Natürlich trägt ein 55 Jahre altes Buch Signaturen seiner Zeit und muss streckenweise auch „gegen den Strich“ gelesen werden. Das heißt aber keineswegs, dass die damals publizierten Erkenntnisse Makulatur sind. MacAndrew und Edgerton arbeiteten sich mit zahlreichen Beispielen aus aller Welt an der seinerzeit wie heute allgemein bedenkenlos geglaubten Hypothese ab, dass Alkohol eben immer und überall gleichermaßen enthemmend wirke. Die von ihnen emsig gesammelten und zitierten Aufzeichnungen von Ethnologen und sonstigen Beobachtern (bis in jene Zeiten praktisch ausschließlich Männer), die seit den Tagen der großen Entdeckungen in aller (entlegenen) Welt unterwegs waren, lassen freilich andere Schlüsse zu. Demnach gibt es äußerst vielfältige Formen der Trunkenheit, die letztlich auch unseren Umgang mit geistigen Getränken betreffen. Vielleicht hätten wir ja theoretisch mehr Wahlfreiheit, als uns bewusst ist?

Die wechselhaften Verhältnisse werden sozusagen bis in die hintersten Winkel der Erde ausgeleuchtet – von Süd- und Mittelamerika über afrikanische Regionen und Ostasien bis hin zu den indigenen Völkern auf dem Gebiet der heutigen USA. Tagelang ungemein ausschweifende Trinkfeste, so entnehmen wir einer Vielzahl von Augenzeugenberichten, hat es bei den allermeisten Gruppierungen gegeben – nicht erst seit dem fatalen Auftauchen europäischer Kolonisatoren, sondern schon zuvor: mit selbstgebrannten Substanzen von mancherlei Art und zuweilen höchstprozentiger Wirksamkeit.

Mörderische Orgien oder freundliches Beisammensein

Manche alkoholisierte Zusammenkunft artete wohl zu unvorstellbaren Orgien mit Mord und Totschlag aus, man liest hier Schilderungen von grauenhafter Bestialität, angesichts derer einem selbst das Oktoberfest, der Rosenmontag und dergleichen hiesige Besäufnisse wie überaus gemilderte Varianten erscheinen mögen. Oft wurde zunächst zugestochen oder gemeuchelt und erst dann eilends gezielt gesoffen, um eine vermeintliche triftige „Entschuldigung“ zu haben, die in etlichen Gesellschaften tatsächlich anerkannt wurde. Auch in der neueren Rechtsprechung haben sich Spuren davon erhalten. Doch das ist eine Entwicklung späterer Zeiten.

Vor allem dort jedoch, wo der Trunk von tradierten Ritualen eingefasst war, gab es (trotz vergleichbarer Unmengen alkoholischer Getränke) zumeist ein friedliches, freundliches und fröhliches Beisammensein, allenfalls mit Spott und Neckerei gewürzt. Etliche Völker aller Himmelsrichtungen verordneten sich seit jeher selbst „Auszeiten“, bei denen alle denkbaren (sexuellen) Norm-Übertretungen möglich, wenn nicht erwünscht waren. Selbst Kinder und Jugendliche waren wenigstens indirekt beteiligt. Männer wie Frauen duldeten es klaglos, wenn ihre Partner gleich neben ihnen anderweitig aktiv wurden oder „in die Büsche“ gingen, wie es hier mehrfach heißt. Einzig und allein das Inzest-Tabu hatte weiterhin Geltung. Hernach lebten sie wieder so kontrolliert, zivilisiert oder gar streng und freudlos „puritanisch“ wie zuvor; ganz so, als sei nichts geschehen.

Die Eroberer mit dem „Feuerwasser“

Sobald allerdings die (herrschaftlichen und kommerziellen) Interessen europäischer Eroberer sich Bahn brachen und Eingeborene mit „Feuerwasser“ traktiert wurden, lösten sich die wohltätig einhegenden und begrenzenden Bindungen auf. Nur mal nebenbei: Schiffsbesatzungen, die etwa im 18. Jahrhundert in Tahiti eintrafen, bekamen rund 4,5 Liter pro Tag und Mann an Bier, sie waren permanent beduselt. Gleichfalls bemerkenswert: Viele indigene Menschen wehrten sich anfangs vehement gegen den teuflischen Alkohol der Europäer, der für sie mit bösen Geistern zu tun hatte. Sie wurden aber nach und nach daran gewöhnt und gierten irgendwann danach.

Faszinierend die ungeheure Vielfalt der ursprünglichen Gesellschaftsentwürfe, die hier sichtbar wird. So wird etwa eine Ethnie geschildert, die ihre Babys vergöttert, die Kinder ab 5 Jahren aber total vernachlässigt. Andere wiederum sind nüchtern aggressiv und werden unter Alkoholeinfluss verträglich. Oder eben umgekehrt. Fast alles ist kulturell und situativ bedingt, stets zeigt sich, was die Menschen an Beispielen erlernt haben. Es geht eben nicht um Alkohol „an sich“, sondern um seine Wirkungen im gesellschaftlichen Kontext und Gefüge. Ethnologische Forschungen, auch das lernt man bei der Lektüre, sind eine aufregende Materie – bestimmt nicht nur, wenn sie sich um Suff und Sex drehen.

Craig MacAndrew / Robert B. Edgerton: „Betrunkenes Betragen. Eine ethnologische Weltreise“. Wiederentdeckt und übersetzt von Jakob Hein. Galiani Berlin. 296 Seiten. 24 Euro.

 




„Mut zu einem ganz neuen Anfang“ – David Grossmans Plädoyer für Frieden im Nahen Osten

Wenige Tage nach dem 7. Oktober 2023, als Terroristen die Grenze zu Israel überwanden, ein Massaker an Juden verübten und zahlreiche Geiseln nach Gaza verschleppten, schwankt David Grossman zwischen Entsetzen und Ohnmacht. Seit Jahren hatte der israelische Autor sich gegen die Besatzung ausgesprochen, Frieden und eine Zweistaaten-Lösung angemahnt.

„Was jetzt geschieht“, schreibt er, sei ein „Alptraum“ und zeige „den Preis, den Israelis zu zahlen haben, weil sie sich jahrelang von korrupten Politikern verführen ließen“, die „das Justizwesen, das Erziehungswesen wie auch die Armee unterhöhlten und bereit waren, uns alle existenziellen Gefahren auszusetzen, um den Ministerpräsidenten vor einer Gefängnisstrafe zu bewahren.“

Doch bei aller „Wut auf Netanjahu, seine Leute und sein Vorgehen“ dürfe man sich „keiner Täuschung hingeben: Die Gräueltaten dieser Tage sind nicht Israel zuzuschreiben. Sie gehen aufs Konto der Hamas. Wohl ist die Besatzung ein Verbrechen, aber Hunderte von Zivilisten zu überwältigen, Kinder, Eltern, Alte und Kranke, und dann von einem zum anderen zu gehen und sie kaltblütig zu erschießen – das ist ein noch viel schwereres Verbrechen.

Die furchtbare Hierarchie des Bösen

Auch im Bösen gibt es eine Hierarchie. „Wenn man die Hamas-Terroristen auf Motorrädern sieht, wie sie junge Leute, von denen einige noch ahnungslos tanzen, einkreisen, um sie dann unter Jubelgeschrei wie Wild zu jagen und zu erlegen – ob man sie Bestien nennen sollte, weiß ich nicht, ihr menschliches Antlitz aber haben sie zweifelsohne verloren.“ Israel, das weiß er sofort, wird den Terror mit Krieg beantworten, und er vermutet: „Das Land wird nach dem Krieg sehr viel rechter, militanter und auch rassistischer sein“. Ängstlich fragt er: „Ist die winzige Chance auf einen wahren Dialog, auf ein irgendwie geartetes Abfinden mit der Existenz des jeweils anderen Volks nun für einige Jahre auf Eis gelegt worden, oder ist diese Aussicht womöglich auf ewig eingefroren?“ Dabei müsse doch jedem, der die Spirale der Gewalt durchbrechen will, klar sein: „Frieden ist die einzig Option.“

Was Grossman eine Woche nach dem „Schwarzen Schabbat“ formulierte, ist jetzt in einem Band mit Aufsätzen und Reden nachzulesen. Schon am 16. November 2023 fordert er in einer „Trauerrede für die Terroropfer“, den Hass zu überwinden und den „Mut zu einem ganz neuen Anfang“ aufzubringen.

Wie kann das denn funktionieren?

Grossman bleibt seiner Rolle als Friedensstifter treu. Bereits auf der „Münchner Sicherheitskonferenz“ von 2017 wies er darauf hin, dass der unablässige blutige Konflikt die Beteiligten „dermaßen deformiert, dass sie ihren eigenen existenziellen Interessen zuwiderhandeln.“ Die Politiker flehte er an: „Ich bitte Sie, alles zu tun, was in Ihren Kräften steht, um die beiden Seiten zusammenzubringen und den Dialog zu erneuern, dem beide schon seit Jahren mit der seltsamen Logik der Selbstzerstörung aus dem Weg gehen.“

Doch niemand mochte Grossman folgen. Dass seine Appelle nicht unumstritten sind, zeigt eine „Korrespondenz“ zwischen dem deutsch-iranischen Schriftsteller Navid Kermani und dem israelisch-deutschen Soziologen Natan Sznaider: Auf Kermanis Plädoyer für einen Frieden durch eine Zweistaaten-Lösung entgegnet Sznaider: „Wie kann denn so ein Palästina innerhalb von Gaza und Westbank funktionieren? Wie sollen sie denn in einem solchen Staatsgebilde leben? Da muss ja fast schon automatisch das Begehren bei den Palästinensern frei werden, dann doch lieber alles haben zu wollen. Ich sehe im Moment jenseits des Krieges keine Lösung und glaube nicht mehr an die Kompromissbereitschaft der anderen Seite. Der Terror wird weitergehen und somit auch die Reaktion auf den Terror.“ Bittere Aussichten.

David Grossman: „Frieden ist die einzige Option.“ Aus dem Hebräischen von Anne Birkenbauer und Helene Seidler. Hanser, 63 Seiten. 10 Euro.

Navid Kermani/Natan Sznaider: „Israel. Eine Korrespondenz“. Hanser, 64 Seiten, 10 Euro.

 




„Vergnügen und Verlust“ – Ruhrfestspiele präsentieren Programm 2024

Stefanie Reinsperger in der Titelrolle von Thomas Bernhards „Der Theatermacher“ (Foto: Matthias Horn/Ruhrfestspiele Recklinghausen)

Nun ist es da, das Programm der diesjährigen Ruhrfestspiele. „Vergnügen und Verlust“ ist es überschrieben, und in diesem Titel, so Intendant Olaf Kröck, spiegele sich das weltpolitische Übel unserer Zeit ebenso wie die Notwendigkeit, es mit den Mitteln des Spiels, des Schauspiels, des Theaters samt all seinen Facetten mithin anzugehen.

Die Autorin und Übersetzerin Esther Kinsky wird die Eröffnungsrede halten, „in ihren Texten“, wir zitieren den Pressetext, „hat sie sich der Erkundung und Überwindung der Fremde als existentielle, menschliche Erfahrung verschrieben.“

Akrobatisch, atemberaubend

Vielfalt der Menschen und Ethnien, der Stilmittel und des künstlerischen Ausdrucks prägen das Programm vor allem in den Bereichen, die mit wenig oder ganz ohne Sprache auskommen – Tanz, Musik, Zirkus. Vor allem Zirkus ist im diesjährigen Programm prominent positioniert. Mit Zirkus, im Booklet als „Neuer Zirkus“ tituliert, wird das Festival am 3. Mai, einem Freitag, starten. „The Pulse“ heißt das akrobatische, äußerst personalintensive Stück von „Gravity & Other Myths“, in dem 24 sportliche Menschenleiber nach dem Prinzip der Pyramide gleichsam lebendige Bühnengebilde formen, die, kaum daß sie entstanden sind, sich schon wieder auflösen und zu Neuem sich vereinen. Für den Soundtrack sorgt bei diesen artistischen Darbietungen der (langer Titel!) „Frauenkonzertchor der Chorakademie am Konzerthaus Dortmund e.V.“. Sprachkenntnisse sind für das Verständnis des Ganzen, wie das Programmheft ausdrücklich vermerkt, nicht erforderlich.

Wolfram Koch als König Lear (Foto: Armin Smailovic/Ruhrfestspiele Recklinghausen)

Pommestüte

Wenn es sich nicht um eine Ausstellung in der Kunsthalle Recklinghausen handelte, hätte man gewiß Probleme, den Dänen Sören Aagaard kategorisch zu verorten, der auch schon mal als überdimensionierte Pommestüte durch Berliner Freibäder tobte. „Performance“, „Aktion“ usw. würde ebenso passen wie „Kunst“. Essen und Kunst sind sein Thema. Jedenfalls verfestigt sich bei der Lektüre des Programms der Eindruck, daß hier, bei den überwiegend kleinen, eher spracharmen und meistens auch lustigen Produktionen ein Maß an Originalität zu finden ist, das anderen Programmelementen eher abgeht. So weit man das vergleichen kann.

Bewährte Produktionen

Beim Schauspiel gibt es fraglos noch Luft nach oben. Die prominentesten Produktionen in der Abteilung Schauspiel laufen bereits seit längerer Zeit an anderen Häusern – „Der Theatermacher“ von Thomas Bernhard mit der Dortmunder „Tatort“-Kommissarin Stefanie Reinsperger in der Titelrolle beim Berliner Ensemble, „König Lear“ mit Wolfram Koch im Hamburger Thalia-Theater, nicht ganz wahllos herausgepickt. Recklinghäuser Premieren wären besser; aber natürlich ist es von Vorteil, hoch gelobte Produktionen wie diese nun zu Hause sehen zu können – falls man Karten kriegt.

Late Night Hamlet: Ein Solo für Charly Hübner. (Foto: Peter Hartwig/Ruhrfestspiele Recklinghausen)

Eine Uraufführung, immerhin

Immerhin ist nicht alles nur eingekaufte Spielplanware. Zusammen mit dem Deutschen Schauspielhaus Hamburg haben die Ruhrfestspiele in diesem Jahr eine Eigenproduktion auf die Schiene gestellt, die am 24. Mai in Recklinghausen ihre Uraufführung erleben wird: „Late Night Hamlet“, ein Solo mit Charly Hübner in der Regie von Kieran Joel. Wir erleben Hamlet als einen Geworfenen in der Jetztzeit, gefordert, überfordert, wie es sich für tragische Figuren gehört. Doch wird auch ein „kurzweiliges Vergnügen“ versprochen, gerade so, wie es das diesjährige Festivalmotto postuliert. Na, schau’n mer mal. Mit Charly Hübner in der Titelrolle müßte es eigentlich klappen.

Gesellschaftskritisch

Der Theaterarbeit von Kollektiven sind in etwa wohl Stücke wie „Hier spricht die Polizei“ („werkgruppe 2“ und Schauspiel Hannover) oder „DIBBUK – zwischen (zwei) Welten“ („KULA Compagnie in Kooperation mit den Ruhrfestspielen und „dasvinzenz“ München) zuzuordnen, Arbeiten mit dezidiert gesellschaftskritischem Bezug. Bei KULA arbeiten Künstler aus Israel, Afghanistan, Iran, Rußland, Deutschland, Frankreich und Italien zusammen, was eigentlich nichts Besonderes sein sollte und heutzutage leider schon ein brisantes Politikum ist.

Viele alte Bekannte

Bekannte Namen gibt es wie immer bei den Lesungen: Corinna Harfouch, Devid Striesow, Katharina Thalbach, Lars Eidinger, Peter Lohmeyer und viele mehr. Literaturkritiker Denis Scheck wird mit der Autorin Terézia Mora und dem Literaturnobelpreisträger Abdulrazak Gurnah plaudern, Angela Winkler wird in der Musikabteilung zusammen mit dem „delian:quartett“ Shakespeare musikalisch-literarisch begegnen. Vier Tage lang gibt es zudem ein „Festival im Festival“: „Resonanzen – Schwarzes Interntionales Literaturfestival“. Die Eröffnungsrede hält Booker-Preisträgerin Bernardine Evaristo.

Der DGB will diskutieren

Die Neue Phlharmonie Westfalen bringt Mahlers Siebte zu Gehör, Konzerte, unter anderem von „SLIXS“ und „Flautando Köln“, gibt es auch in der Christuskiche, im Festspielzelt und in der Sparkasse Vest. Last but not least macht der DGB Programm. „Europa mit uns – Partei ergreifen!“ und „Reden mit…“ heißen die Veranstaltungen in der Abteilung Dialog, die noch einmal deutlich machen, daß die Ruhrfestspiele sich eben durchaus als politisches Festival begreifen. Zum Publikums-Talk haben sich unter anderem Charly Hübner, „werkgruppe 2“ und das künstlerische Team von „DIBBUK“ angemeldet.

Die Spielzeitübersicht im Programmbuch fehlt

Wer mehr wissen will, muß das Programmheft lesen oder sich im Netz schlaumachen. A propos Programm: Da hat es Olaf Kröck und seinem Team, wohl auch aus Kostengründen, wie leise angedeutet wurde, gefallen, die traditionsreiche Spielzeitübersicht von den hinteren Seiten des Programmheftes zu verbannen. Nun finden sich die Termine in tabellarischer Form auf einem separaten Leporello, „Der Festspielkalender 2024“ geheißen, den man zwar nicht mißlungen nennen kann, dem aber die Übersichtlichkeit des guten alten Überblicks gänzlich abgeht.

Gut, es gibt Schlimmeres. Freuen wir uns auf die Ruhrfestspiele 2024, im Festspielhaus und andernorts und glücklicherweise ohne Maske.




Eher widerwillig mitgemacht – Borussia Dortmund zur NS-Zeit

Wie stand es in der NS-Zeit um den BVB? Hat der Verein am faschistischen Unwesen freiwillig oder eher notgedrungen mitgewirkt? Solchen Fragen, die sich keinesfalls „erledigt“ haben, widmen sich Rolf Fischer und Katharina Wojatzek in ihrem Buch „Borussia Dortmund in der Zeit des Nationalsozialismus 1933-1945″.

Sie haben, so gut es angesichts der schwierigen Quellenlage nur ging, das Thema mit dem Rüstzeug der Geschichtswissenschaft eingehend recherchiert und bislang unbekannte Details zutage gefördert. Der BVB, dessen Präsident Reinhold Lunow ein Vorwort geschrieben hat, hat die Untersuchung nach Kräften unterstützt. Gut so.

Wertvolle Pionierarbeit hatte schon 2002 Gerd Kolbe mit seiner Publikation „Der BVB in der NS-Zeit“ geleistet, für die er noch zahlreiche Zeitzeugen befragen konnte. Im Sinne der zunehmend aufgewerteten „Oral History“ hat er mündlich überlieferte Quellen gesichert, die später nicht mehr zur Verfügung gestanden hätten. Darauf ließ es sich aufbauen. Inzwischen konnten aufschlussreiche Akten und Dokumente (auch Fotografien) gesichtet werden, sofern sie nicht im Zweiten Weltkrieg vernichtet wurden. Erschwerend kam hinzu: Da der BVB in seinen Anfängen ein Arbeiterverein war, haben die Mitglieder weniger Schriftliches hinterlassen, als dies im bürgerlichen Umfeld der Fall gewesen wäre.

Unterschiedlich „nazifizierte“ Vereine

Um ein Fazit des neuen Buches vorwegzunehmen: Die Borussen haben sich gegen eine Vereinnahmung durch die NS-Machthaber nicht wehren können, doch hielt sich diese für längere Zeit in Grenzen. Die meisten anderen Vereine ließen sich bereitwilliger oder in vorauseilender Fügsamkeit gleichschalten. Andernorts gehörten deutlich mehr Vereinsmitglieder zugleich NS-Organisationen an, und zwar oft schon sehr frühzeitig.

Ein nachvollziehbarer Befund lautet so: Es gab Unterschiede, was den Grad der „Nazifizierung“ angeht. Schon der soziologische Hintergrund der jeweiligen Vereine gab eine Richtung vor, wobei man von etwaigen heutigen Sympathien strikt absehen muss. Demnach waren damals bürgerliche Clubs wie etwa der VfB Stuttgart, Werder Bremen (wo anfangs gar höhere Schulbildung Voraussetzung war), Alemannia Aachen oder 1860 München in aller Regel anfälliger für Indienstnahme, desgleichen die größeren Vereine in Nürnberg, Fürth und Kaiserslautern. Sie waren schnell „auf Linie“.

Bürgerliche und proletarische Milieus

Proletarisch grundierte Vereine wie der BVB (Ursprünge in den Stahlwerksvierteln rund um den Borsigplatz) oder auch Hertha BSC Berlin (Wurzeln im „roten Wedding“) waren hingegen zumindest von der Genese und vom Milieu her widerständiger, ihre Mitglieder hatten vor 1933 überwiegend KPD oder SPD gewählt. In Dortmund kam noch ein katholischer Impuls von früheren „Zentrums“-Wählern hinzu – nicht zuletzt durch polnische Zuwanderer. Allerdings konnte aus all dem kein offener Widerstand gegen das NS-Regime erwachsen. Allenfalls insgeheime Sabotage-Akte waren möglich, wenn auch sehr riskant. Eine bewegende und schließlich betrübliche Geschichte solchen Zuschnitts rankt sich um den kommunistisch orientierten BVB-Platzwart Heinrich Czerkus, der lange von Leuten im Verein systematisch gewarnt wurde, wenn die Gestapo sich näherte – bis eigens ein V-Mann auf ihn angesetzt wurde. Czerkus wurde von den Nazis ermordet.

Der BVB galt in den 1930er Jahren noch als Verein, für den man sich nur in seinem engeren Umkreis und nicht in der ganzen Stadt interessierte. Also stand er nicht so sehr im Fokus, auch nicht in dem der NS-Parteigenossen. Ganz anders der FC Schalke 04, der damals die renommierteste Mannschaft des ganzen Reichs stellte. Also ließen sich die NS-Chargen stets gern mit den „Knappen“ ablichten.

Borussia Dortmund hatte seinerzeit keine jüdischen Spieler, so dass man auch nicht gezwungen war oder gedrängt wurde, jemanden auszuschließen, wie dies bei vielen anderen Vereinen geschah – selbst bei solchen, die von jüdischen Bürgern (mit)gegründet worden waren. Kein Dortmunder Verdienst also, sondern eine Folge der Mitgliederstruktur.

Verdruckster Umgang nach dem Krieg

Erhellend auch das Kapitel über den Umgang mit dem Thema in der Nachkriegszeit. Mindestens bis zur Jubiläumsschrift von 1969 (der BVB 09 wurde damals 60 Jahre alt) muss die Haltung dazu als verdrängend, verlogen und verdruckst bezeichnet werden. In der erwähnten Broschüre wurden zwar Bilder aus der NS-Zeit gezeigt, freilich hatte man sie dilettantisch retuschiert (Übermalung von Hakenkreuzfahnen etc.) und damit „entschärft“. Es dauerte noch eine ganze Weile, letztlich bis in die späten 90er Jahre, bevor endlich offen über die NS-Verstrickungen geredet wurde – wenigstens von jüngeren Jahrgängen.

Das Buch dürfte zum Standardwerk über den BVB in jenen finsteren Zeiten werden. Zwar ist man in manchen Fragen auf Spekulationen angewiesen, doch klingen die Mutmaßungen zumeist plausibel und werden transparent ausfbereitet. Vor allem aber hat sich die intensive Quellenarbeit ausgezahlt. Im steten Wechsel zwischen Blicken aufs größere Ganze und biographische Nahansichten zeichnen Fischer und Wojatzek ein vielschichtiges Zeitbild, das auch Widersprüche und Leerstellen umfasst.

Rolf Fischer / Katharina Wojatzek: „Borussia Dortmund in der Zeit des Nationalsozialismus 1933-1945″. Metropol Verlag, Berlin. 256 Seiten mit zahlreiche Schwarzweiß-Abbildungen, 24 Euro.




Schnoddrig unterwegs – Stefanie Sargnagels Reisebuch „Iowa“

Im US-Bundesstaat Iowa (kürzlich wegen einer betrüblichen US-Vorwahl in den Zeitungsspalten) spielen nicht allzu viele deutschsprachige Bücher. Sei’s Lockung oder Warnung: Die nicht nur im Fankreis vielgepriesene Stefanie Sargnagel stellt die geographische Bezeichnung gleich in den Titel: Schlichtweg „Iowa“ heißt ihr… ja, was eigentlich? Ein Roman ist es nicht. Vielleicht ein sehr subjektiver Reise- und Erlebnisbericht.

Jedenfalls liest sich das Ganze mal wieder weg wie geschmiert. Es bleibt nicht verborgen, dass die Autorin viele Jahre in sozialen Netzwerken erprobt hat, wie sich Leserinnen und Leser fix einfangen lassen. Nach der Lektüre sonnt man sich überdies in dem Glauben, nun tatsächlich einiges über Iowa zu wissen – im Grunde viel mehr, als ein noch so ambitionierter Reiseführer mit „Geheimtipps“ es vermitteln könnte.

Schwerlich mit Thomas Bernhard vergleichbar

Dennoch habe ich mich (auch angesichts einzelner, mitunter etwas geschwätzig wirkender Strecken) gefragt, ob es sich hier um Literatur im eigentlichen Sinne handelt. Findet Stefanie Sargnagel wirklich zu einer ureigenen Sprache und Form? Wenn ich lese, sie werde (von wem? warum? einfach wegen Österreich?) mit Thomas Bernhard verglichen, sträube ich mich unwillkürlich dagegen. Aber süffig und plastisch beschreiben kann sie wahrlich. Langeweile hat keine Chance. Und die unsinnigen Vergleiche stammen schließlich nicht von ihr.

Die Enddreißigerin Sargnagel ist in einem Alter, in dem sie sich noch einigermaßen auf Höhe des Zeitgeistes wähnen darf. Freilich wendet sie sich auch schon von etlichen Erscheinungen der Gegenwart überdrüssig und geradezu unwirsch ab. Genau das richtige Biotop für schnoddrige Betrachtungsweisen mit feministischer Grundierung. „Clean“ und nüchtern geht es nicht zu. Es wird viel geraucht und gesoffen in diesem von Weltschmerz und allerlei Ängsten durchzogenen Buch.

Grässliches Essen, bizarre Kneipen

Stefanie Sargnagel (Künstlername, gebürtige Wienerin vom Jahrgang 1986) hat sich mit ihrer deutlich älteren Freundin aus Berlin, der gleichfalls real existierenden Christiane Rösinger – bekannt durch ihre beachtlichen Bands „Lassie Singers“ und „Britta“ – auf den eher seltenen US-Trip in den abgelegenen Mais- und Rinderzucht-Staat Iowa begeben. In Grinnell, quasi im Niemandsland abseits der regionalen Hauptstadt Des Moines, soll sie an einem College auf Deutsch Creative Writing unterrichten, während Rösinger einen Konzertauftritt hat. Die Erledigung dieser Aufgaben bleibt hübsche, eher widerstrebend absolvierte Nebensache.

Schon das Bild auf dem Cover lässt es ahnen: Vertrödelte Tage gehören dazu. Doch zwischendurch erkunden die beiden ungleichen, aber einander hart-herzlich zugetanen Frauen kursorisch dieses „Outback“ der USA. Es kommen zur Sprache: das weit überwiegend grässliche Essen; die seltsamen Kneipen und Bars mit ihrem vielfach bizarren menschlichen Inventar; die zumindest im College-Dunstkreis bis in die Provinz wabernde Wokeness, allem Beharrungsvermögen der meisten Durchschnittsbewohner zum Trotz. Ferner die irrwitzigen Einkaufszentren und Ladendörfer, deren Angebote Sargnagel sehr detailfreudig schildert. Sodann der unverwüstliche Autokult. Die religiösen Gruppen, Grüppchen und Sekten, teils auch im Nachklang uralter deutscher oder niederländischer Einwanderungs-Traditionen. Aber auch schwerer greifbare Phänomene wie die eigentümlich ausgebleichte Farbpalette der Landschaft.

Freundliche Leute, aber bewaffnet

Ein Exkurs führt nach Fairfield/Iowa, wo das weltgrößte Meditations-Zentrum des berühmten Beatles-Gurus Maharishi Mahesh Yogi sich befand und wo noch zahlreiche Adepten leben. Schließlich der grassierende Waffenwahn, aber auch die staunenswert gelassene Freundlichkeit der allermeisten Einheimischen. Sie wollen einfach eine gute Zeit haben und gönnen auch Fremden alles Gute. Sargnagel fällt dies besonders auf, weil es sich so sehr von ihrem heimischen Wien mit seinen missgünstigen Grantlern abhebt. Auch Rösingers Berlin gilt ja nicht gerade als lieblich. Dennoch gibt es Passagen, in denen man sich mit den beiden Protagonistinnen nach Europa zurücksehnt. Daran ändern auch Abstecher nach Chicago und Kalifornien nichts.

Das alles und einiges mehr fügt sich zu einem vielfältigen und vielschichtigen Bild dieser gar nicht unbedingt erzkonservativen Gegend. Iowa gilt (Trump zum Trotz) als „swing state“, in dem mal die Republikaner, mal die Demokraten die Oberhand haben. Dieser Bundesstaat bescherte seinerzeit Obama die ersten Erfolge auf dem Weg ins Weiße Haus.

Die surreale Sache mit dem Pelikan

Ein nicht nur unterschwelliges Grundthema ist die liebevolle, ironisch unterfütterte Beziehung zwischen den beiden reisenden Frauen, mitsamt den Untiefen weiblicher Selbst- und Fremdwahrnehmung. Christiane Rösinger kommt zu Wort, indem ihr gelegentlich korrigierende oder ergänzende Fußnoten zu Sargnagels Haupttext eingeräumt werden, womit etwas schelmisch Dialogisches in das Buch Einzug hält. Beide Frauen schätzen den trockenen, ja zuweilen ruppigen Humor und geben sich keinen haltlosen Träumereien hin, doch eine Szene fällt aus dem Rahmen: Christiane, so scheint es, fliegt einmal unversehens auf dem Rücken eines Pelikans dahin. Oder war’s nur schöne Einbildung, ein wundersamer Flug der Phantasie, weg von aller Erdenschwere?

Stefanie Sargnagel: „Iowa“. Ein Ausflug nach Amerika. Rowohlt, Reihe „Hundert Augen“. 304 Seiten, 22 Euro.