Feines Gespür für das Lebensgefühl der Zeit: Vor 125 Jahren wurde der Schriftsteller Hans Fallada geboren

Er hieß eigentlich Rudolf Friedrich Wilhelm Ditzen, nannte sich aber nach zwei Märchenfiguren der Brüder Grimm: nach „Hans im Glück“ und nach dem Falada aus „Die Gänsemagd“. Das sprechende Pferd sagt die Wahrheit, selbst als sein Kopf abgeschlagen wird. Vor 125 Jahren, am 21. Juli 1893, wurde Hans Fallada in Greifswald geboren.

Hans Fallada, Porträt um 1930. Copyright Hans Fallada Archiv

Hans Fallada, Porträt um 1930. © Hans Fallada Archiv

Hans Fallada gilt als einer der wichtigsten Schriftsteller der Weimarer Republik, der mit realistischen Milieustudien und wachem Blick für die Menschen auf der Verliererseite die Lebensumstände der dreißiger Jahre beschrieb.

Mit dem sozialkritischen Roman „Bauern, Bonzen und Bomben“ begann 1931 sein schriftstellerischer Erfolg; „Kleiner Mann – was nun?“ wurde 1932 zum Bestseller und ist bis heute eines seiner bekanntesten Werke geblieben. Auch Bücher wie „Jeder stirbt für sich allein“ oder der posthum erschienene Roman „Der Trinker“ sind Welterfolge geworden. „Wer einmal aus dem Blechnapf frißt“ spiegelt seine Erfahrungen im Gefängnis wieder.

Persönlich hatte er stets mit sich selbst zu kämpfen: Als Schüler schon ein Außenseiter, litt er später unter Alkohol- und Morphiumsucht. Aufgrund eines inszenierten Duells, das als Doppelsuizid gedacht war und bei dem er seinen Freund erschoss, wurde er erstmals in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. In der Zeit des Dritten Reiches zog er sich in sein Haus nach Carwitz in Mecklenburg zurück, verhielt sich den Machthabern gegenüber ambivalent. 1947 starb er an den Folgen der Morphinsucht.

Die Revierpassagen sprachen mit der Vorsitzenden der Hans-Fallada-Gesellschaft, Patricia Fritsch-Lange, über den weltberühmten Schriftsteller.

Gibt es eigentlich eine Erklärung für das schwierige Leben und die Sucht von Hans Fallada?

Die Erkrankungen von Hans Fallada sind gut erforscht und dokumentiert. Es gibt medizinische Unterlagen, Briefwechsel und Aufzeichnungen aus der Familie. Fallada stammt aus einer Familie mit einer langen Tradition des schriftlichen Erinnerns, die sich auf hohem Niveau ausdrücken konnte. Die Wurzeln seiner psychischen Instabilität dagegen sind schwer greifbar. Ein paar unglückliche Zufälle, eine gewisse Veranlagung – dann passiert so etwas. Die Eltern waren für die damalige Zeit erstaunlich liberal. Der Vater bot ihm zum Beispiel an, ihn ein Jahr voll zu finanzieren, damit er ausprobieren könne, ob er wirklich Schriftsteller werden wolle. Da war Hans Fallada schon weit über 20 Jahre alt.

Fallada ist einer der wichtigsten Schriftsteller der Weimarer Republik. Den Nazis gegenüber verhielt er sich unterschiedlich: auf der einen Seite reserviert bis ablehnend, auf der anderen Seite kooperativ.

Malerisch gelegen ist das Anwesen Hans Falladas in Carwitz, heute ein Museum. Foto: Hans-Fallada-Gesellschaft e.V.

Malerisch gelegen ist das Anwesen Hans Falladas in Carwitz, heute ein Museum. Foto: Hans-Fallada-Gesellschaft e.V.

Fallada hat die Freiheit ausgekostet, die ihm die Weimarer Republik bot. Er hat in der Künstler-Bohème in Berlin gelebt und versucht, dort seinen Platz zu finden. Als die Nazis an die Macht kamen, verhielt er sich wie die meisten Deutschen. Er beobachtete, versuchte, mit der Situation zurechtzukommen, sich zu etablieren als Schriftsteller und als „ordentlicher“ Bürger. Ein politisch denkender, vorausblickender Mensch war er nicht. Ihm fehlte die Distanz. Aber der Rückzug nach Carwitz aufs Land hatte sicher das Ziel, aus all den Bedrängungen herauszukommen. Damit war er jedoch nicht aus der Literatur-Szene verschwunden. Die Nazis behandelten ihn mit Zuckerbrot und Peitsche. Zeitweise war er unerwünschter Autor, dann wurde er wieder gelobt und erhielt Aufträge, sogar für Filmdrehbücher.

Wie kaum ein anderer hat er die Zeit tiefgründig beschrieben.

Das Arbeitszimmer des Schriftstellers in Carwitz. Foto: Hans-Fallada-Gesellschaft e.V.

Das Arbeitszimmer des Schriftstellers in Carwitz. Foto: Hans-Fallada-Gesellschaft e.V.

Er hat als Teilnehmer an den Zeitläuften geschrieben. Das hat die Leser offenbar damals wie heute angesprochen. Wer etwas wissen will über das Leben in Deutschland in den dreißiger Jahren, erfährt aus seinen Büchern authentisch und unmittelbar, wie der Alltag damals gewesen ist. Fallada beschreibt nicht aus intellektueller Distanz. Man bekommt aus seinen Werken ein Gespür für die Atmosphäre und das Lebensgefühl der Zeit. Der Leser erfährt, was die Menschen im Inneren bewegte, welche Werte und welche Moral ihr Leben bestimmt, wie sie ihren Alltag tatsächlich bewältigen. Nach meinem Gefühl ist das der Grund, warum Fallada auch heute noch gelesen wird.

Das Interesse scheint ungebrochen. „Kleiner Mann – was nun?“ wurde 1972 von Peter Zadek am Bochumer Schauspielhaus als eine Art Revue auf die Bühne gebracht und außerdem – wie mehrfach vorher – verfilmt.

Die Bühnenbearbeitung des Romans „Kleiner Mann – was nun?“ von Tankred Dorst ist seither häufig an verschiedenen Theatern zu sehen gewesen. Es gibt auch Bühnenfassungen von „Jeder stirbt für sich allein“.

Welche Titel würden Sie jemandem empfehlen, der Hans Falladas Werk kennenlernen möchte?

Als Einstieg „Kleiner Mann – was nun?“ und „Ein Mann will nach oben“, ein vielschichtiger Roman aus dem Berlin der Zwanziger Jahre.

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Die Hans-Fallada-Gesellschaft unterhält das Hans-Fallada-Museum in Carwitz, richtet jährlich Hans-Fallada-Tage aus und fördert die Forschung. Am 20. Juli wurde dort die Ausstellung „ ‚Sonst nichts Neues‘. Die Feldpostbriefe des Ulrich Ditzen (1896-1918)“ eröffnet. Ulrich Ditzen war der jüngere Bruder Hans Falladas. Info: www.fallada.de

Lesehinweise:

Peter Walther: Hans Fallada. Die Biografie. Aufbau-Verlag 2018, 25 Euro.

Jenny Williams: Mehr Leben als eins. Hans Fallada. Aufbau Verlag Taschenbuch 2011, 12,99 Euro.




Zeit des Stillstands: Andreas Maiers Roman „Die Universität“

Der Ich-Erzähler, knapp über 20 Jahre alt, berichtet von seinen allerersten Semesterferien anno 1988. Er will nach Südtirol verreisen, doch er landet nur in der nächsten Umgebung: im hessischen Butzbach. Ein bisschen grotesk ist das schon.

Wenn auch äußerlich nicht viel geschieht, so kommentiert doch seine innere Stimme („mein innerer Meta-Ebenen-Kuckuck“) unablässig und zwanghaft jeden kleinen Vorgang. Der junge Mann beginnt nun im Butzbacher Park – bereits zum dritten Male – Thomas Manns „Doktor Faustus“ zu lesen. Alle Achtung. Jedenfalls scheint Butzbach mit einem Male eine Erfüllung zu sein. Und doch auch wieder nicht.

Da ist der unbestimmte Drang, ein neues Leben zu beginnen und zugleich die Unfähigkeit, auch nur davon zu erzählen. Denn dieses unbestimmte Ich ist längst noch nicht jener Andreas Maier, der in seinem neuen Roman „Die Universität“ vornehmlich vom Stillstand berichtet, ganz überdeutlich mit einem späteren Kapitel über einen permanenten, geradezu allumfassenden Autostau.

Was bisher geschah: Maier hat mit den Kurzromanen „Das Zimmer“, „Das Haus“, „Die Straße“, „Der Ort“ und „Der Kreis“ das erzählerische Gesichtsfeld stetig und hartnäckig erweitert. Wer weiß, wohin das noch führt.

Maier war bisher immer gut für Inbilder einer recht ereignisarmen, somit auch „normalen“ Kindheit und Jugend, auch entwarf er unscheinbare, doch prägnante Tableaus just aus der hessischen Provinz rund um Friedberg/Wetterau. Heimatdichtung? Nein, so kann man das eigentlich nicht nennen. Aber die Gegend hat schon wahrhaft große Literatur hervorgebracht. Ich sage nur: Peter Kurzeck. Während Kurzeck schier alles festhalten wollte und gar vieles zum verhaltenen, dauerhaften Leuchten gebracht hat, geht Maier lässiger (aber nicht nachlässig) zu Werke. Auch das hat seinen Reiz und allemal seine Berechtigung.

In Butzbach wandelt der Erzähler recht träge auf den Spuren der Buchhändlerstochter, die ihm und uns schon in den Roman-Vorläufern begegnet ist – es war dies eine ans Absurde grenzende, stockende Beziehung; ganz so, wie denn auch die hessischen Käffer zugleich aufgesucht und gemieden werden. Dem entspricht ein richtungsloses, noch durchaus unentschiedenes Dasein. Kann in dem Alter schon mal vorkommen. Kommt sogar sehr häufig vor. Wie aber lässt sich von der inneren Leere und Antriebsarmut erzählen? Solche Fragen stellt sich der junge Mann, wenn er nicht gerade alten Träumen nachhängt oder sich als großer Schweigender geriert.

Die titelgebende Uni (Frankfurt/Main) spielt bei all dem gar nicht mal die zentrale Rolle, sie läuft streckenweise eher nebenher mit. Obwohl: Die Seminare (vor allem Philosophie mit schwerwiegenden Fragen nach Subjekt, Objekt und Identität) bilden denn doch so etwas wie eine Folie. Im Vorübergehen werden Frankfurter Professoren-Koryphäen wie Jürgen Habermas oder Karl-Otto Apel skizzenhaft charakterisiert, auch kommen reichlich bizarre Studenten (z. B. „der Hegel-Japaner“) vor, die den Profs bis in Gestik und Mimik hinein nacheifern, so dass man die in sich gekehrten Habermas-Adepten gleichsam schon am Gang und an der Dialog-Abstinenz erkennt.

Der Band enthält zwei veritable Kabinettstücke von einiger Komik. Zum einen geht es um ein (relativ harmloses) Erotikmagazin, das beim Sohn eines Studentenbuden-Vermieters herumliegt und irrwitzige Erwägungen auslöst. Zum anderen findet der Erzählende einen Job als Altenpfleger – und betreut in dieser Eigenschaft justament die greise Gretel Adorno, die offenbar äußerst biestig gewordene Witwe des berühmten Mitbegründers der „Frankfurter Schule“, Theodor W. Adorno. Und siehe da: Die Begegnung mit der knurrigen alten Frau erweist sich als eine Art Reifeprüfung für den weiteren Lebensweg.

Andreas Maier: „Die Universität“. Roman. Suhrkamp Verlag. 147 Seiten. 20 Euro.




Neue Rollen und ein Zuhause in Essen: Die kanadische Sängerin Jessica Muirhead erhält den Aalto-Bühnenpreis

Ihre Augen schauen groß und neugierig in die Welt, ihr Lachen füllt mühelos den Raum: Jessica Muirhead, Sopran am Aalto-Theater Essen, vermittelt den Eindruck eines Menschen, der mit sich und der Welt im Reinen ist. Fast drei Jahre lebt die britisch-kanadische Sängerin nun schon in Essen – und sie bekennt, sich pudelwohl zu fühlen. Am Freitag, 22. Juni, erhält Jessica Muirhead nach der letzten Vorstellung von Heinrich Marschners „Hans Heiling“ den Aalto-Bühnenpreis 2018.

Jessica Muirhead als Anna in Heinrich Marschners "Hans Heiling" am Aalto-Theater Essen. Foto: Thilo Beu

Jessica Muirhead als Anna in Heinrich Marschners „Hans Heiling“ am Aalto-Theater Essen. Foto: Thilo Beu

Die kreative Neugier trägt Jessica Muirhead in sich: Sie freut sich auf neue Rollen, wie zurzeit in Marschners selten gespielter Oper, in der sie Anna, die Braut des düsteren Erdgeistes Hans Heiling singt. Eine Partie, die sie völlig überrascht hat: „Ich kannte diese Oper überhaupt nicht“, gesteht sie, „und war von Anfang an begeistert, wie schön diese Rolle ist. Warum ist solche Musik nie zu hören, nicht einmal im Konzert?“

Für Jessica Muirhead steht fest: Diese Arie der Anna („Weh mir, wohin ist es mit mir gekommen“) wird sie weiterhin singen, wenn möglich, schon in einem kommenden Konzert in London. Lachend stellt sie fest: „Ich habe ja auch die Elsa in ‚Lohengrin‘ gesungen. Und jetzt gemerkt, wie Wagner von Marschner geklaut hat!“

Als das ständige Reisen keine Freude mehr machte

Neue Rollen sind für die Sängerin ein wesentlicher Grund gewesen, 2015 den Vertrag mit Essen zu unterschreiben. Für ihre Karriere kam das Angebot des Aalto-Theaters zur rechten Zeit. Gut zehn Jahre war Jessica Muirhead frei tätig, hat in Lissabon und Toronto, im slowenischen Maribor und beim irischen Wexford Opera Festival gastiert. „Als ich London verlassen habe, hatte ich für drei oder vier Jahre nicht einmal mehr eine eigene Wohnung.“ Eine schöne, spannende Zeit, aber nichts auf Dauer: „Anfangs hat es Spaß gemacht, immer unterwegs zu sein. Nach einiger Zeit nicht mehr.“

Neue, spannende Rollen wünscht sich Jessica Muirhead, so wie die Katerina in Bohuslav Martinus "Griechische Passion", eine ihrer ersten Partien am Aalto-Theater. Foto: Matthias Jung

Neue, spannende Rollen wünscht sich Jessica Muirhead, so wie die Katerina in Bohuslav Martinus „Griechische Passion“, eine ihrer ersten Partien am Aalto-Theater. Foto: Matthias Jung

So kam der Schritt in ein festes Ensemble gerade zum rechten Augenblick: Anfangs hatte sie Angst, auf zwei Jahre zu unterschreiben. Jetzt sei sie froh darüber. Schon beim Vorsingen, so bekennt sie, habe ihr die Atmosphäre am Haus zugesagt: „Ich habe gleich gemerkt, wie unterstützend hier alle sind. Die Leute am Aalto sind wunderbar, hinter, neben, unter und auf der Bühne. Ich habe viel anderswo gearbeitet – da war immer Stress. Hier ist das nicht so, hier passt das Ensemble.“ Bis 2019 läuft ihr Vertrag, aber Jessica Muirhead lässt durchblicken, dass sie gegen eine Verlängerung nichts einzuwenden hätte.

Debüt an der Wiener Volksoper

Mehr oder weniger auf Wanderschaft war Jessica Muirhead immer, seit sie nach ihrem Master of Music an der McGill University Montreal und einem Sieg in einem Wettbewerb ihren ersten Auftritt in Europa hatte: Am 13. Januar 2006 debütiert sie in der „Zauberflöte“ an der Wiener Volksoper in der Inszenierung Helmut Lohners, von der sie heute noch schwärmt. Es folgten ein Residenzvertrag und weitere Rollen: Micaëla in Bizets „Carmen“, Antonia in Offenbachs „Hoffmanns Erzählungen“ und Agathe in Webers „Freischütz“ – eine Rolle, die sie im Juli an der Seite von Torsten Kerl als Max im Hyogo Performing Arts Center in Japan und auch 2018/19 am Aalto-Theater gestalten wird.

Jessica Muirhead als Elsa in Richard Wagners "Lohengrin" am Aalto-Theater Essen. Foto: Forster

Jessica Muirhead als Elsa in Richard Wagners „Lohengrin“ am Aalto-Theater Essen. Foto: Forster

Auf Dauer war Wien – obwohl inzwischen zu ihrer Lieblingsstadt avanciert – jedoch keine Perspektive für die junge Frau aus Kanada: An der Volksoper wurde alles auf Deutsch gesungen und das Repertoire, das ihr angeboten wurde, war zu schmal. Jessica Muirhead bekam einen Residenzvertrag in München und sang an der Staatsoper Musetta in Puccinis „La Bohème“, ein Blumenmädchen im „Parsifal“ und eine Magd in Richard Strauss‘ „Elektra“. Und sie gastierte: als Alice in Verdis „Falstaff“ in Glyndebourne, als Vreli in Frederick Delius‘ von ihr sehr bewunderten Rarität „A Village Romeo and Juliet“ („Romeo und Julia auf dem Dorfe“) beim Wexford Opera Festival, an der Semperoper Dresden als Mimí in „La Bohème“ und Marguerite in Charles Gounods „Faust“.

Attraktive Rollen in Essen

Essen konnte der auf Neues erpichten Sängerin nicht nur ein Zuhause und ein funktionierendes Ensemble mit einem freundlichen Arbeitsklima bieten, sondern auch ergiebige neue Rollen, von Katerina in Bohuslav Martinůs „Griechische Passion“ über Rosalinde in der „Fledermaus“ bis zu ihren Rollendebüts als Elsa in „Lohengrin“ und Marie in Bedřich Smetanas „Die verkaufte Braut“.

In der nächsten Spielzeit freut sie sich auf ihre erste „Rusalka“ – die Wiederaufnahme von Antonín Dvořáks symbolistischer Märchenoper ist am 15. Juni 2019 –, auf „Luisa Miller“ als ihre dritte Verdi-Partie nach Alice („Falstaff“) und Violetta („La Traviata“), auf Wagners „Sieglinde“ im „Ring an einem Abend“ und auf ihre Repertoire-Partien wie Micaëla in der Neuinszenierung des Bizet-Klassikers „Carmen“ von Lotte de Beer mit Sébastien Rouland am Pult ab 13. Oktober, Donna Anna in Mozarts „Don Giovanni“ und Puccinis Mimí in „La Bohème“.

Bisher kaum Belcanto gesungen

Was auffällt: Jessica Muirhead ist von Monteverdi bis Britten in vielen musikalische Stilrichtungen eingetaucht und hat sich mit sechs großen Partien als Mozart-Sängerin qualifiziert. Aber sie hat kaum Belcanto gesungen: keinen Bellini, keinen Donizetti, nur wenig Verdi. Eine Lücke, die Jessica Muirhead gerne schließen würde, aber: „Das liegt an den Angeboten. Zuerst habe ich viel Mozart gesungen, dann kam die französische Oper. Ich hatte anfangs auch Schwierigkeiten mit Koloraturen. Meine Stärke sind lange Linien mit hohen Pianissimi. Aber jetzt fühle ich mich fit, etwa für eine Gilda in Verdis ‚Rigoletto‘, die ich immer schon einmal singen wollte. Oder für Gaetano Donizettis ‚Maria Stuarda‘.“

Auch für diese Wünsche setzt Jessica Muirhead auf das Ensemble: „Freiberuflich ist es schwierig, neue Rollen zu bekommen oder in eine andere Richtung fortzuschreiten. An einem Ensemble-Haus wie Essen kann ich neue Partien für mich entdecken. Und mit Hein Mulders und Tomáš Netopil überlegen, was ich im nächsten Schritt singen könnte. Hier habe ich die Möglichkeit, meine Stimme in Ruhe zu entwickeln.“

In dieser Spielzeit singt Jessica Muirhead am Freitag, 22. Juni noch die Anna in Heinrich Marschners „Hans Heiling“. In der neuen Spielzeit geht’s für sie los mit Micaëla in Georges Bizets „Carmen“ am 13. Oktober, gefolgt von Mimí in der Wiederaufnahme von Puccinis „La Bohème“ am 2. November 2018. Info: www.theater-essen.de




„Gefährliches Spiel“ – Heinrich Peuckmanns wahre Geschichten über Fußball mit schrecklichen Folgen

Ein Fußballspiel auf dem Roten Platz in Moskau? Es klingt wie eine skurrile PR-Idee für die bevorstehende WM in Russland. In Wahrheit traten dort wirklich einmal zwei Mannschaften gegeneinander an – mit brutalen Folgen.

Es kämpften damals, 1936, Dynamo Moskau und Spartak Moskau um den Sieg. Diktator Stalin sollte mal ein Fußballspiel zu sehen bekommen, deshalb ein Ort in unmittelbarer Nähe zum Kreml. Dass vier Spieler, die bekannten Brüder Starostin, wegen des Erfolgs von Spartak Jahre später in einen Gulag deportiert wurden, hat Stalins Geheimdienstchef Berija entschieden. Der war ein entschiedener Gegner der Siegerelf.

An diese Begegnung erinnert Heinrich Peuckmann in seinem Buch „Gefährliches Spiel“, das unter dem Gattungsbegriff Novelle erschienen ist.

Wie fatal das Zusammenspiel von Fußball und Politik sein kann, zeigt der in Kamen lebende Schriftsteller auch in der zweiten Novelle. Peuckmann beschreibt eine fiktive Begegnung des einstigen HSV-Stürmers und Kapitäns der deutschen Fußballnationalmannschaft in den 20er Jahren, Tull Harder, mit seinem ehemaligen Mannschaftskollegen Björn Halvorsen.

Täter und Opfer aus den Reihen des Hamburger SV

Es ist ein Treffen von Täter und Opfer, ließ sich doch Harder von der SS anheuern, wurde Kommandant in mehreren Konzentrationslagern und war damit auch für das KZ Neuengamme zuständig, in das die Nazis Halvorsen deportiert hatten. Der Norweger, der mit dem HSV mehrere Titel holte, war mit der Machtergreifung der Nazis in seine Heimat zurückgekehrt und hatte sich nach der Besetzung Norwegens durch NS-Deutschland dem Widerstand angeschlossen.

Der Autor zeichnet in Rückblenden nach, wie der beliebte Stürmer („Wenn er spielt, der Harder Tull, steht es bald drei zu Null“) sich von der SS ködern ließ, die ihn zum Helden stilisierte, als seine Karriere schon Geschichte war. Gern sang man auch gemeinsam deutschnationale Lieder, die ganz nach dem Geschmack des Spielers waren.

Auch wenn die Darstellung in dem Buch den Eindruck erweckt, als habe sich Harder eher überwältigt als freiwillig den Nazi-Schergen angeschlossen, wird er zu deren willfährigem Lakai. Halvorsen wiederum kam in Haft, zunächst in ein KZ in Norwegen. Nach der Deportation in ein deutsches Konzentrationslager erkrankte er an Typhus und litt auch nach Ende des Krieges bis zu seinem frühen Tod 1955 unter den Spätfolgen von Krankheit und Unterernährung.

Tull Harder wollte von seiner SS-Zeit nicht mehr hören

Das Aufeinandertreffen der einstigen Mannschaftskameraden vor der Kulisse des WM-Qualifikationsspieles Deutschland-Norwegen im Jahr 1953 geht unter die Haut. Die drängende Frage von Halvorsen, ob sein Teamkollege ihn denn nicht gesehen habe, damals im KZ Neuengamme, quittiert Harder mit dem Verweis, nichts mehr hören zu wollen von alledem. Das sei doch alles lange her.

Überhaupt betreibt der frühere HSV-Stürmer – Peuckmann zufolge – eine Geschichtsklitterung, die ihresgleichen sucht und kann sich darin auch bestätigt fühlen. Nachdem er von einem britischen Militärgericht als Kriegsverbrecher zu 15 Jahren Haft verurteilt wird und bereits nach fünf Jahren freikommt, wird ihm überall Lob und Ehre zuteil.

Peuckmann geht in dem Buch noch auf ein Begebenheit viele Jahre nach dem Tod von Harder ein, die auch zeigt, welch schwieriges Erbe der Umgang mit seiner Person darstellt: Als 1974 zur WM der HSV eine Broschüre drucken ließ, in der Harder als Vorbild für die Jugend präsentiert wurde (neben Uwe Seeler und Jupp Posipal, dem Weltmeister von 1954) hat der „halbe Vorstand“ des Vereins noch in letzter Minute vor der Veröffentlichung die Seite über den früheren Erfolgsstürmer herausgerissen.

Karlsruher Stürmer ins Exil getrieben

Im dritten Kapitel schildert Peuckmann das Schicksal von Gottfried Fuchs, der ein für die deutsche Nationalelf einen immer noch gültigen Rekord aufstellte, gelang es ihm doch, 1912 gegen Russland zehn Tore (Endstand: 16:0) zu erzielen. Auch darüber hinaus hatte Fuchs eine sehr ansehnliche Torbilanz. Der Stürmer des Karlsruher FV war jüdischer Abstammung, die er selbst gern mit gewisser Ironie betrachtete. Er sah sich dann aber mit dem Aufstieg der Nazis zur Flucht gezwungen und fand in Kanada eine neue Heimat.

Sepp Herberger, erster Bundestrainer im Nachkriegsdeutschland, wollte 1972 Fuchs zur Einweihung des Münchner Olympiastadions und zum Spiel Deutschland-Sowjetunion auf Kosten des DFB einladen. Doch die Spitze des Verbandes lehnte mit dem Hinweis ab, man würde einen Präzedenzfall schaffen und das sei angesichts der Finanzlage problematisch. Godfrey Fochs, wie er später hieß, erhielt diese Nachricht nicht mehr, er war kurz vorher gestorben. Herberger hatte sich damals übrigens an den DFB-Vize Hermann Neuberger gewandt, der als Verbandschef im Jahr 1978 über den Juntachef von Argentinien, das vor 40 Jahren WM-Gastgeber war, meinte: „Ich halte ihn für eine Taube. So wird er ja auch allgemein, glaube ich, gesehen.“ (Quelle: Süddeutsche Zeitung)

Peuckmanns Geschichten geben mancherlei Anlass, über die Rolle des Fußballs und seiner Akteure nachzudenken – übrigens auch mit Blick auf den aktuellen WM-Gastgeber Russland.

Heinrich Peuckmann: „Gefährliches Spiel. Fußball um Leben und Tod“. Kulturmaschinen-Verlag. 122 Seiten, 10,80 Euro.

Infos zum Verlag: https://kultur-und-politik.de




Drogenland ist überall – ein Theaterprojekt zwischen verstörender Realität und künstlerischer Formung

Man geht ins Theater. Dort spielen Schauspieler Rollen, hin und wieder auch Drogenabhängige. So wär’s „normal“. Im Falle von „Drugland“ sind wir – das Publikum – mit der Wirklichkeit konfrontiert. Hier versammelt sich ein Ensemble aus SchauspielerInnen, einem Tänzer und so genannten „Experten des Alltags“ aus den jeweiligen Interessensgruppen.

Szenenbild aus DRUGLAND (Foto: Meyer Originals – www.meyeroriginals.com / Sommerblut-Festival)

In der 17. Ausgabe des Sommerblut-Festivals für multipolare Kultur drehte sich alles um den Schwerpunkt KÖRPER. Das Thema wurde in allen Formen der Kunst aufgegriffen. „Ob groß oder klein, jung oder alt, schön oder hässlich, perfekt oder unvollständig – in Tanz- und Theateraufführungen, Ausstellungen und Musik zeigte „Sommerblut“ den Körper als Quelle von Lust und Frust.“

Zu Gast im Dortmunder „Depot“

Die Sommerblut-Eigenproduktion DRUGLAND zeigte gesellschaftskritisches Theater, zu Gast auch im Dortmunder Theater im Depot. Ursprünglich wurde für die Gegend um den Kölner Neumarkt produziert. Fürs Depot musste eine Version für Innenräume eingerichtet werden. Es nimmt der Sache etwas den allgegenwärtigen Alltagsblick auf die Szene.

Zu Beginn wird (meist chorisch) die Situation der verständigen und gegnerischen Nachbarschaften dargebracht – Verständnis für die Drogenabhängigen und Ablehnung. Das kennt man. Das ist in allen Großstädten so. „Die Stadt gehört allen.“ Für die Sozialarbeiter ist es immer wieder ein Kampf gegen Windmühlen. „Eine drogenfreie Gesellschaft ist Utopie.“ So weit, so gut. Diskussionstheater.

Sieben „sprechende Interventionen“

Doch nach dem Vorspiel wird das Publikum eingeladen, sich Stories von den „Drogenexperten“ anzuhören. Da beginnt das mulmige Gefühl. Ein Typ erzählt aus seinem Leben. Im Hintergrund – und das sind wir wieder beim gespielten Theater – agiert ein professioneller Tänzer (die Akteure werden im Programm nicht namentlich genannt) als „voll auf Droge“.

Ein paar Meter weiter in der Schiebebühne des Depots lauschen wir der Erzählung einer Frau über einen kleinen Hund, abgeschlossen durch ein romantisches russisches Lied, bei dem sie sich auf der Gitarre begleitet. Es folgt der künstlerische Höhepunkt, einem Duett des Tänzers mit einer abhängigen MS-Kranken. Das ist kunstvoll anrührend.

Zurück im Theater, bekommen wir Gelegenheit, sieben „sprechenden Interventionen“ beizuwohnen. Es sind reale Versatzstücke des Alltags. Man erfährt von einzelnen Menschen und deren Schicksal aus der Drogenszene. Da erzählt uns ein Mann, der sich als Maler und Schriftsteller präsentiert, von seinen Träumen, die chinesische Mauer anzumalen und von seinem Selbstmordversuch „aus niederen Beweggründen“.

Das Echte kann wohl nicht gespielt werden

Die meist leise und vorsichtig gesprochenen Episoden sind Beispiele. Nachfragen sind erlaubt. Das sind Lebenslinien, die den meisten von uns Zuschauern fremd sind. Was macht das mit uns? Wir haben es hier mit Menschen zu tun, nicht mit exotischen Schaustücken aus einem Kabinett der Dunkelszene.

Diese Geschichten sind von Schauspielern wohl nicht spielbar. Das Echte irritiert uns, die Schicksale sind plötzlich nah. Doch wir sind im Theater. Und da wird uns am Ende doch noch etwas Fröhlichkeit vermittelt. In einer Bewegungsreise zum live gespielten „Rehab“ nach Amy Winehouse. Das Publikum darf mittanzen.




Nicht nur zum Ende der Zechen-Ära eine Erinnerung wert: August Siegel, Bergmann und Gewerkschafts-Pionier

Gastautor Horst Delkus erinnert – nicht zuletzt aus Anlass der bald endenden Zechen-Ära im Ruhrgebiet – an den Bergmann und Gewerkschafter August Siegel (1856-1936), einen Pionier der Arbeiterbewegung des Reviers:

Die Heilige Barbara – Schutzpatronin der Bergleute – muss mit dem Kopf geschüttelt haben, als sie erfuhr, wie die katholische Geistlichkeit gegen den neu gegründeten Verband der Bergarbeiter hetzte: Gewerkschaftlich organisierte Bergarbeiter, hieß es da von der Kanzel herab, seien Mordbuben, der Auswurf der Menschheit.

August Siegel - Lithographie von Hermann Kätelhön, datiert aufs Jahr 1921. (Deutsches Bergbau-Museum / montan.dok / Sammlung Delkus)

August Siegel – Lithographie von Hermann Kätelhön, datiert aufs Jahr 1921. (Sammlung Delkus)

Ein Pfaffe hatte sogar das Bündnis des Bergarbeiterverbandes mit der Hölle entdeckt. „Wo die ‚Bergarbeiterzeitung‘ auf dem Tische liegt“, predigte er den Frauen der Bergarbeiter, „da sitzt der Teufel unterm Tisch.“ Und die ‚Tremonia‘, die katholische Zentrums-Zeitung des einflußreichen Dortmunder Verlegers Lambert Lensing, mahnte: „Wehe unserem Arbeiterstande, wenn er sich in die Hände der Sozialdemokratie begibt.“

Panikmache anno 1889. Denn die organisierte Sozialdemokratie war damals im Ruhrgebiet noch eine Sekte; ihre heimlichen Hauptstädte hießen Leipzig, Hamburg oder Berlin. Auf den Bergarbeiterstreik im Mai hat sie wahrscheinlich nicht mehr Einfluß gehabt, als die Apo 70 Jahre später auf die Septemberstreiks 1969. „Sie ist mit dem Ausbruch desselben gerade so überrascht worden, wie die übrige Welt“, schrieb einer, der es wissen mußte: August Bebel.

Er galt als bester Agitator der Gründungszeit

Einfluss im Bergarbeitermilieu des Ruhrgebiets hatten um 1889 vor allem drei Sozialdemokraten: die mit dem Nimbus der „Kaiserdelegierten“ versehenen Bergleute Ludwig Schröder, Friedrich Bunte und August Siegel. Ein zeitgenössischer Chronist über diese „Volksverführer und Hetzer“: „Schröder, der Älteste, wird als ‚mehr erfahren‘, ‚offen‘ und ‚gutmütig‘ im Gegensatz zu dem hinterhältigeren Bunte geschildert. Siegel scheint der geistig Beweglichste zu sein. Er scheint auch für weit greifende Organisationspläne und für die eigentlichen Lohnkämpfe mehr eingenommen als die zwei anderen.“

Alle drei waren an der Gründung und am Aufbau der Bergarbeitergewerkschaft maßgeblich beteiligt. In der Phalanx der Gewerkschaftsführer aber sind sie – im Gegensatz zu Hue, Sachse, Husemann und Schmidt – in Vergessenheit geraten. Immerhin ist einer von ihnen im Internationalen Handwörterbuch des Gewerkschaftswesens von 1932 noch mit einer Kurzbiographie vertreten: August Siegel. In ihm, heißt es da, „verkörpert sich ein Stück Geschichte des Verbandes der Bergarbeiter, war er doch in der Gründungszeit sein bester Agitator“.

Mit elf Jahren täglich zwölf Stunden auf der Kohlehalde

Geboren wurde August Siegel am 1.April 1856 in Zwickau. Sein Vater war Bergmann, starb jedoch fünf Monate vor Augusts Geburt. Die Witwenrente reichte für die neunköpfige Familie nicht aus. August besuchte die Armenschule, unternahm Bettelstreifzüge aufs Land. Über seine Kindheit schrieb er später: „Bei den Bauern konnte ich manchen Überfluss entdecken, der mich dazu zwang, Vergleiche anzustellen mit der furchtbaren Not, die bei uns zu Hause herrschte. Warum ist es so? Warum kann sich nicht jeder satt essen, wenn er Hunger hat? Das waren meine ersten philosophischen Gedanken.“

Zwölf Stunden täglich arbeitete er bereits mit elf Jahren täglich auf der Kohlenhalde. Als ein älterer Bruder beim Rangieren der Kohlenwaggons schwer verunglückte, stand für seine Mutter fest: Mein Sohn soll kein Bergmann werden! Er wurde Sandformer in einer Chemnitzer Maschinenfabrik. Hier ergaben sich die ersten Kontakte zu Sozialdemokraten. Mit 16 Jahren trat er der Partei bei. Nach dem Chemnitzer Metallarbeiterstreik 1872 folgte Siegel seiner älteren Schwester von Sachsen nach Westfalen. In Dortmund und Umgebung fand er Arbeit auf verschiedenen Zechen.

„Wie sehr die Belegschaften schikaniert wurden…“

Siegel in seinen Erinnerungen: „Wie sehr die Belegschaften schikaniert wurden, ist kaum zu beschreiben. Warum, wird man fragen, haben die Leute die betreffende Zeche nicht verlassen und auf einer anderen Grube gearbeitet? Das ist leichter gesagt als getan. Viele von der Belegschaft waren Kleinhauseigentümer und hatten ohnehin schon einen weiten Weg zur Arbeitsstelle. Bei einem Arbeitswechsel mußten sie noch weiter laufen. Zumal fanden sie das, was sie auf der einen Zeche verlassen hatten, auf der anderen getreulich wieder.“ Streiks ohne eine Organisation im Rücken erschienen wenig aussichtsreich.

Als Vorsitzender eines nichtkonfessionellen freien Knappenvereins arbeitete Siegel bald mit anderen Dortmunder Bergarbeiterführern zusammen und agitierte mit seiner kräftigen Stimme die Bergleute auf zahllosen Versammlungen. In seinen Lebenserinnerungen, 1921 als Serie für die Jugendzeitschrift des Bergarbeiterverbandes verfasst, schreibt er später: „Wie oft wunderte ich mich in jenen Tagen, wenn die bürgerlichen Zeitungen schrieben, daß die sozialdemokratischen Agitatoren von den Schweißtropfen der Arbeiter lebten. Nicht einen Pfennig bekamen wir. Fahr- und Zehrgeld, wie alles, was wir sonst noch ausgeben mußten, ging aus unserer Tasche. Hin und wieder verspielten wir noch dazu eine Schicht. Das hielt uns aber nicht ab, unserem Ziel treu zu bleiben. Unsere Arbeit war auch keineswegs umsonst. Es kam etwas mehr Leben in die ruhig dahinbrütenden Knappen.“

Streikführer für wenige Minuten zur Audienz beim Kaiser

Alle in Deutschland existierenden Bergarbeitervereine erhielten für den 2.Juni 1889 eine Einladung zu einem Delegiertentag der Knappenvereine nach Dortmund-Dorstfeld. Zentraler Tagesordnungspunkt: Wie die miserable Lage der Bergarbeiter in Deutschland zu beseitigen sei.

Doch wegen des Massenstreiks im Mai, bei dem rund 100.000 Bergarbeiter die Arbeit niederlegten, wurde die Versammlung verschoben. Während dieses Streiks schickten die Dortmunder Bergarbeiter Bunte, Schröder und Siegel zum Kaiser nach Berlin, um ihm die Forderungen der streikenden Ruhrkumpels vorzubringen: Wiedereinführung der Acht-Stunden-Schicht, Lohnerhöhungen und Abschaffung der Schikanen auf den Zechen. Als die drei zur Kaiser-Visite aufbrachen, bröckelte der Streik rasch ab. Die Audienz dauerte nur wenige Minuten und gipfelte in der Drohung Wilhelms II., alles über den Haufen schießen zu lassen, falls der Streik unter den Einfluß der Sozialdemokratie geriete.

Nach erfolglosem Streik auf die Schwarze Liste gesetzt

Nach diesem erfolglosen Streik wurden Siegel und die anderen Streikführer gemaßregelt. Sie kamen auf die Schwarze Liste. Mit Hilfe von Spendengeldern aus der Parteikasse konnten sie sich jedoch eine bescheidene Existenz aufbauen. August Siegel wurde Flaschenbierhändler und später hauptamtlicher Agitator des Bergarbeiterverbandes, den 200 Zechendelegierte und Knappenvereinsvertreter am 18.August 1889 in Dorstfeld gegründet hatten. Einige Klagen wegen „indirekter Aufreizung zum Ungehorsam“ und Beleidigung (unter anderem hatte er die Knappschaftsältesten in einer Bergarbeiterversammlung unfähige „Strohköpfe“ genannt und ihnen vorgehalten, sie würden ihre Stellung nur zum eigenen Vorteil ausnutzen) brachten ihm mehrere Gefängnisstrafen ein.

Der alte Friedrich Engels hilft dem nach London geflüchteten Siegel

Anfang Januar 1892 sollte Siegel eine neunmonatige Haftstrafe im Zuchthaus Siegburg, einer ehemaligen Irrenanstalt, antreten. Fünf weitere Anklagen standen noch aus. Ludwig Schröder riet seinem Freund zur Flucht. Am 12.Januar 1892 machte sich Siegel aus Dorstfeld davon. Erste Station seines Asyls: London. Hier halfen dem mittlerweile steckbrieflich Gesuchten Friedrich Engels und Julius Motteler bei der Übersiedlung nach Schottland, wo Siegel im Bergbau Arbeit fand und bald seine Familie nachreisen lassen konnte.

Beim alten Engels hat Siegel einen guten Eindruck gemacht: „Das ist doch mal wieder ein deutscher Arbeiter, mit dem man sich vor allen anderen Nationen sehen lassen kann.“ Er empfahl Siegel eindringlich die englische Sprache zu lernen und „täglich, wenn nicht stündlich“ Kontakt zu den schottischen Arbeitern zu halten.

Als Mitglied der Bergarbeitergewerkschaft und der sozialistischen Independent Labour Party (ILP) beteiligte sich August Siegel an zahlreichen Streiks der britischen Bergarbeiterbewegung. Auch hier wurde er als Streikführer gemaßregelt. Als deutscher Asylant verlor er während des Ersten Weltkrieges seinen Arbeitsplatz. Bald folgte die Ausweisung als „lastiger Ausländer“.

Ausweisung und Rückkehr ins Ruhrgebiet

Im Januar 1919 kehrte Siegel ins Ruhrgebiet zurück. In Bochum, in der Hautpverwaltung des Bergarbeiterverbandes, arbeitete der humorvolle Graubart noch bis zu seiner Pensionierung 1929. Er starb im Alter von 80 Jahren am 5.Oktober 1936.

Geprägt durch die Aufbruchstimmung der frühen Sozialdemokratie sowie etlicher Arbeitskämpfe verkörperte August Siegel die Gründergeneration der heutigen Gewerkschaften. Sein Leben umfaßt eine Periode der Arbeiterbewegung, die vom Sozialistengesetz, dem ersten Massenstreik 1889 und den ersten stabilen Gewerkschaftsorganisationen bis zur kampflosen Zerschlagung der Gewerkschaften durch den Faschismus reicht. Ein Gewerkschaftsbeamter, ein Apparatschik ist August Siegel nie geworden. Weil die Gewerkschaft als Organisation erst mit ihm aufgebaut wurde und weil für ihn die Sache selbst wichtiger war als die eigene Karriere.

Durch und durch Sozialist und Idealist

Bernhardine Gierig, 88 Jahre alt, hatte Siegel in den zwanziger Jahren über ihren Vater persönlich kennengelernt. Tief beeindruckt erzählt sie heute noch: „Siegel war ein richtiger Mensch. Er machte kein Theater daraus, daß er gelitten hat für die Bewegung; er wollte keinen Profit aus der Sache schlagen. Er war sozialistisch gesonnen durch und durch. Ein wirklicher Idealist.“

Die Heilige Barbara wird an diesem Pionier der Bergarbeiterbewegung sicher ihre helle Freude gehabt haben.




Bühnenarbeit mit Häftlingen im Gefängnis Köln-Ossendorf: Die Produktion „Antikörper“ spielt irritierend mit Klischees

Es gibt Orte, über die man ungern redet, geschweige denn, dass man diese gern betritt. Dazu gehören Krankenhäuser, Altenheime, Schlachthöfe und sicher auch das Gefängnis. Dieses kann man auch nicht einfach so betreten, sondern es bedarf eines Sicherheitsvorlaufes. Hier in der JVA Köln-Ossendorf ist dies ein mühsames Kontrollprozedere. Man endet in einem Saal mit Bühne.

An den Wänden befinden sich zahlreiche Plakate von vorherigen Veranstaltungen. Hier wird also für Sonderabwechslung gesorgt, meist dargeboten durch Comedians oder Live-Musiker. Das Kölner Festival der Multipolarkultur, „Sommerblut“, veranstaltet an diesem Ort zum zweiten Mal eine Festivalproduktion, eine Bühnenarbeit mit Häftlingen. In der 17. Ausgabe des Kulturfestivals dreht sich alles um den Schwerpunkt KÖRPER. Das Festival greift das Thema in allen Formen der Kunst auf.

Zu Beginn wird aus dem Grundgesetz zitiert

Und es sind eben die Körper, die wir zuvorderst zu sehen bekommen. Die Innenansichten stammen von den 20 Häftlingen, Frauen und Männern, die sich hier erfolgreich der Theaterarbeit gestellt haben, inklusive eines Beamten, der zu Beginn Artikel 1 des Grundgesetzes zitiert: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Am Ende führt er die Gefangenen wieder zurück in ihre Zellen, bevor das Publikum den Raum verlassen darf.

Eine projizierte Schrift leitet das performative Bühnengeschehen ein: „Die Bestrafung wird zum verborgensten Teil der Rechtssache. Sie verlässt den Bereich der alltäglichen Wahrnehmung und tritt in den des abstrakten Bewusstseins ein. Ihre Wirksamkeit erwartet man von ihrer Unausweichlichkeit, nicht von ihrer sichtbaren Intensität.“ (Michel Foucault „Überwachen und Strafen“).

Was mögen die wohl verbrochen haben?

Beauftragt mit der komplizierten Arbeit in einem „Knast“ wurde die Kölner Regisseurin Elisabeth Pleß. Man braucht Enthusiasmus und viel Einfühlungsvermögen für solch ein Unterfangen und das bewies sie mit ihrer Einrichtung von „Antikörper“, choreografisch unterstützt von Andre Jolles. Vor „ausverkauftem Haus“ zeigen die Männer und Frauen ihre Körper in gestylten Kostümen. Die Text stammen von ihnen selbst, zusammengestellt aus Gesprächen und Lebensläufen. Hier wird nicht auf die Mitleids- oder Verständnistube gedrückt. Sie sind, wie sie sind – und das irritiert das Publikum. Ist es doch hier umgekehrt: Im Theater macht sich wohl kaum jemand Gedanken über die Person des Schauspielers. Hier entscheidet die Rolle. Im Fall von „Antikörper“ erwischt man sich bei der Frage: Was mögen die wohl verbrochen haben? Man bemüht Klischees, um der Sache näher zu kommen. Es gelingt nicht. Es wird auch nicht gesagt.

„Ich bin jetzt Kunst, gezeichnet vom Leben“

Eine Zuschauerin meinte: „Die sehen doch alle zu gut aus. Ganz normal, eher attraktiv.“ Es ist ein Spiel mit Klischees und gleichzeitig sitzt man temporär in einem Gebäude, in dem Körper und Seelen eingesperrt sind und teilweise noch lange bleiben. Natürlich spielen Tattoos eine Rolle. Da kommt man offensichtlich nicht drumherum. Hier erfahren wir die Gründe für die Einmarkungen auf der Haut. Ihre Texte bestehen aus Träumen und Versprechen. Was sonst? Man hört: „Hallo Vergangenheit, hallo Selbstmitleid.“ Und: „Ich werde das Selbstmitleid aus meinem Leben verdammen. Die Zuschauer sind hier, um etwas Gutes zu sehen. Wir bieten Vorurteile, Neugier und Ängste. Die „Hauptsprecherin“: „Ich bin jetzt Kunst, gezeichnet vom Leben.“ Wer sind diese Menschen, was sind ihre Berufe? Das wird nicht beantwortet und führt zu einer besonderen Beziehung zwischen Darstellern und Publikum.

Hoffnung auf die kreativen Kräfte

Es ist ein vor allem gut choreografierter Abend, der 20 Menschen bewegt, um zu bewegen. Einmal ruft jemand: „Ich bin ein Star. Holt mich hier raus!“ Wunderbar – diesen Dschungelsatz zu einem anderen Lacher zu machen. Es gibt jedoch auch einen Teil, der eher trivial daherkommt. Man erzählt von glücklichen Momenten, wozu meist die Geburt der Kinder gehört. Okay. Es darf auch ein Rap nicht fehlen, der aber anständig rübergebracht wurde, gefolgt von einem kroatischen Lied, begleitet auf der Gitarre – so still und so eindringlich und natürlich authentisch, so weit es in diesen Gemäuern geht. „Ich lebe mit verschlossenen Augen in meiner Festung, in meiner Zelle.“

Enthusiastischer Applaus am Ende. Wir können wieder raus. Den einen oder die andere hätte man gern näher kennengelernt. Mutmaßlich war dies eine einmalige Begegnung und man wünscht allen, nach der Haft sich der Kreativität zu besinnen und diese unkriminell einzusetzen.




Die wundersame Macht des Zufalls: „Das rote Notizbuch“ von Paul Auster liegt endlich vollständig auf Deutsch vor

Das Leben hängt am seidenen Faden, der Zufall regiert die Welt, und wer du bist und was du wirst, hängt oft allein davon ab, welche Entscheidung du an einer unscheinbaren Wegmarke triffst oder ob du die Telefonnummer wählst, die auf einem Zettel notiert ist, den du im Hotel unter einem Stuhl findest.

Es gibt wohl kaum ein Buch des jüdisch-amerikanischen Autors Paul Auster, in dem der Zufall nicht eine entscheidende Rolle spielt und darüber wacht, ob die Protagonisten weiter in einer Welt leben dürfen, die ohnehin nicht aus Wirklichkeit, sondern aus Sprache gebaut ist.

Zuletzt hatte Auster in seinem 1200-seitigen Opus Magnum „4, 3, 2, 1“ sein Lebensmotto und den Schreibimpuls („Was wäre geschehen, wenn…“) am Beispiel von Archibald Ferguson gleich viermal durchgespielt und furios vorgeführt, welche Variationen möglicher Identitäten eine Lebensgeschichte haben kann, wenn man an einer bestimmten Stelle aus dem Tritt gerät, dem Schicksal in die Quere kommt oder dem Tod noch einmal von der Schippe springt.

Als der Jugendfreund vom Blitz erschlagen wurde

Paul Auster war 14, als ihm schmerzlich bewusst wurde, wie wenig ein Leben wiegt und wie schnell es vorbei ist: Bei einer Jugendfreizeit geraten er und ein Freund in ein heftiges Gewitter. Während sein direkt neben ihm stehender Freund vom Blitz erschlagen wird, kommt Paul mit dem Schrecken davon. Auster hat dieses traumatische Erlebnis oft erzählt und vielfach literarisch variiert. Natürlich findet sich diese Geschichte auch in der Sammlung seltsamer Wechselfälle des Lebens, die er schon vor Jahren unter dem Titel „Das rote Notizbuch“ veröffentlichte und die jetzt erstmals vollständig auf Deutsch erscheint: Auster berichtet von kuriosen Begegnungen und oft bizarren Zufällen, vollkommen verrückt erscheinenden Ereignissen, die jeder Logik spotten und doch, darauf besteht er mehrfach, nicht erfunden, sondern wahr sind.

Das unverhoffte Erscheinen eines Retters

Als es ihm in jungen Jahren einmal besonders dreckig geht und er als unbekannter Autor fast verhungert, taucht im letzten Moment eine Retter am Horizont auf und will ihn unbedingt – warum eigentlich? – zum Essen einladen. Als er sich einmal abends im Stadion bei einem Baseballspiel bückt, um eine am Boden liegende Münze aufzuheben, ist es – das kann doch nicht sein! – dieselbe Münze, die er morgens vor seinem Haus in Brooklyn verloren hat. Das vergriffene Buch, nach dem sein Freund seit langem vergeblich sucht, taucht plötzlich in den Händen einer fremden Frau auf, die es gerade auf der Straße, lässig an ein Marmorgeländer gelehnt, liest. Als der Freund die Frau ansprichst, und ihr erzählt, wie sehr ihm an diesem Buch liegt, antworte sie: „Nehmen Sie meins.“ Und als der überraschte Mann zur Frau sagt: “Aber das gehört doch Ihnen“, meint die Frau nur lächelnd: „Es hat mir gehört, aber jetzt bin ich damit fertig. Ich bin heute hierher gekommen, um es Ihnen zu schenken.“

Die Welt ist klein, die Literatur ist groß

Es sind nicht nur unglaubliche, sondern auch unglaublich schöne und verwirrende Geschichten, die Auster aus seinen Erinnerungen ans Tageslicht zieht und die von Menschen erzählen, die auf wundersame Weise mit seinem Leben verbunden sind. Eine handelt von zwei jungen amerikanischen Frauen, die in Taiwan Chinesisch studieren und feststellen, dass ihre in New York lebenden Schwestern sich zwar (noch) nicht kennen, aber im gleichen Haus wohnen. Eine heißt Siri Hustvedt. Auster wird sie kennen lernen und heiraten. Beide werden viele Jahre später von einer fremden Frau in einer Buchhandlung angesprochen, die ihnen erklärt, dass ihre Schwester und Siris Schwester zusammen in Taipeh studiert haben.

Die Welt ist ein Dorf. Der Mensch ist klein. Aber die Literatur ist groß. Und Paul Auster ist einer der ganz großen Autoren, einer, der in den Falten der Zeit das Verdrängte und in den Schwarzen Löchern der Fantasie das Vergessene sucht und uns davon erzählt, warum das Schicksal ungewiss ist, aber doch einen Namen hat: Zufall.

Paul Auster: „Das rote Notizbuch. Wahre Geschichten“. Aus dem amerikanischen Englisch von Werner Schmitz. Rowohlt Verlag, Reinbek. 112 Seiten, 15 Euro.




„Es kommen härtere Tage“ – Hans Magnus Enzensberger hat 99 literarische Überlebenskünstler porträtiert

Zum Berufsbild von Dichtern und Denkern (jedenfalls von denen, die etwas auf sich und ihr Werk halten) gehört es, den Macken und Marotten des Zeitgeistes zu widerstehen, den Aufregungen der politischen Zeitläufte zu widersprechen, vermeintliche Gewissheiten anzuzweifeln und nicht Öl ins Getriebe der Welt zu gießen, sondern Sand Sand dorthin zu streuen.

Dass sie den Mächtigen stets schwer auf die Nerven gingen, die Geheimdienste schon immer ein Auge auf sie hatten und manche für immer in den Kerkern der Polizei und den Arbeitslagern der Parteidiktaturen verschwanden, liegt auf der Hand. Doch erstaunlich viele dieser Querdenker und literarischen Quälgeister haben die Krisen und Katastrophen des 20. Jahrhunderts überlebt, sind ins Exil geflohen oder in die innere Emigration gegangen, haben sich zum Schein angepasst, um im Stillen einfach weiter zu schreiben an ihrem intellektuellen Aufklärungs- und literarischen Zerstörungs-Werk.

Strategien gegen Verführung und Vermarktung

Wie man zwischen Widerstand und Anpassung jongliert und den Kompromiss zum Lebens-Elixier macht, haben so manche Schriftsteller vorgeführt. „Es kommen härtere Tage“, schreibt Ingeborg Bachmann 1958 in ihrem Gedicht „Die gestundete Zeit“ den Kollegen ins Stammbuch: „Für den Fall, dass sie recht hat, könnte ein Training in der Kunst des Überlebens von Nutzen sein.“ Das jedenfalls meint Hans Magnus Enzensberger (Jahrgang 1929), dieser literarische Tausendsassa und intellektuelle Luftikus, der in seinem langen Leben schon manchen politischen Drahtseilakt und einige rhetorische Wendemanöver vollführt und es geschafft hat, sich dem Zugriff seiner Feinde und den Umarmungen seiner Freunde zu entziehen. Weil Enzensberger wissen will, welche Strategien Schriftsteller haben, um Verführung und Vermarktung zu widerstehen und Terror und Säuberungen zu überleben, porträtiert er „Überlebenskünstler“ und skizziert „99 literarische Vignetten aus dem 20. Jahrhundert.“

Von Hamsun über Feuchtwanger bis zu Irmgard Keun und Peter Weiss

Seine Auswahl und Herangehensweise ist radikal subjektiv. Er beschreibt nur, was ihn interessiert und seine Fantasie anregt. Knut Hamsun, der mit den Faschisten flirtete, ist genauso dabei wie Maxim Gorki, der sich bei Stalin anbiederte. Lion Feuchtwarmer, der vor Hitler über Frankreich nach Amerika floh und es im Exil schaffte, seinen aufwendigen Lebensstil fortzusetzen. Jaroslav Hasek, der mit seinem braven Soldaten Schwejk listig lächelnd alle Weltbeglücker und Staatenlenker verlachte. Anna Achmatowa und Nelly Sachs, Boris Pasternak und Johannes R. Becher, Irmgard Keun und Peter Weiss – die Liste der Autoren, deren Überlebenskünste Enzensberger mit wenigen Worten umreißt, ist lang.

Das alles ist, weil Enzensberger ein ironischer Flaneur ist, meistens nicht nur ziemlich lehrreich, sondern und oft auch reichlich komisch. Am schönsten aber sind seine „Vignetten“ bei den Autoren, die er persönlich kannte, mit denen er befreundet war oder intellektuelle Scharmützel ausgefochten hat. Mit Heiner Müller hat er sich gern gestritten und ihn, als er bei einer Veranstaltung einen Toast auf ihn ausbrachte, seinen Bewunderern als den „führenden Sado-Marxisten“ ans Herz gelegt.

Die unbegreifliche Tragik des Imre Kertész

Warmherzig denkt Enzensberger an Imre Kertész, der Auschwitz überlebte, sich im stalinistischen Ungarn der Nachkriegszeit mit Gelegenheitsjobs über Wasser hielt, bevor er mit dem „Roman eines Schicksallosen“ zu Weltruhm gelangte und den Literaturnobelpreis bekam. Doch auch das schützte den todkranken jüdischen Autor, der 2001 ins Berliner Exil ging, in seiner Heimat nicht vor antisemitischen Anfeindungen. Mit Rührung und Verehrung notiert Enzensberger: „Imre konnte, als ich ihn zum letzten Mal sah, nicht mehr schreiben, er stotterte, zitterte und war hinfällig. Ich wundere mich darüber, dass er es so lange unter uns ausgehalten und dass er es fertigbrachte, auch dieses Wunder noch zu überleben.“

Hans Magnus Enzensberger: „Überlebenskünstler. 99 literarische Vignetten aus dem 20. Jahrhundert“. Suhrkamp Verlag, Berlin, 377 S., 24 Euro.




Bis das Herz bricht: Jankel Adler in Wuppertal

Er war ein Freund von Otto Dix, ein naher Kollege von Paul Klee, inspiriert von Pablo Picasso, Marc Chagall, Max Ernst. Er kannte sie alle, die vergötterten Meister der Epoche, die man heute „Klassische Moderne“ nennt. Und er gehörte dazu. Der Maler Jankel Adler (1895-1949), geboren in Tuszyn bei Lodz, ging in den Westen und erneuerte die Kunst genau wie die anderen.

Jankel Adler: "Der Künstler" (Artist), 1927 (French & Company, New York / © VG Bild-Kunst Bonn, 2018)

Jankel Adler: „Der Künstler“ (Artist), 1927, Öl auf Leinwand (French & Company, New York / © VG Bild-Kunst Bonn, 2018)

Er wurde zu seiner Zeit anerkannt und geehrt, für die Dichterin Else Lasker-Schüler war er „der hebräische Rembrandt“. Doch heute ist sein Name weitgehend vergessen. Im Wuppertaler Von der Heydt-Museum wird Adler endlich wieder mit der ruhmreichen Avantgarde verbunden.

Um es gleich zu betonen: Anders als die Manet-Ausstellung im vergangenen Winter ist diese ambitionierte Schau keine Mogelpackung mit zu wenigen bedeutenden Originalen. Was der Welt vom Werk Jankel Adlers blieb, kann in Wuppertal weitgehend gewürdigt werden.

110 Bilder und Zeichnungen des Künstlers und noch einmal die gleiche Anzahl an Exponaten seiner Zeitgenossen hat Kuratorin Antje Birthälmer in der gut bestückten Sammlung des Hauses sowie bei 28 Leihgebern zwischen Düsseldorf, London und Tel Aviv zusammengesucht. In zweijähriger Fleißarbeit sorgte sie zudem für einen 416 Seiten starken, bleischweren und beeindruckenden Katalog, der alle relevanten Adler-Forschungen zusammenfasst – wenn er auch, wie viele Publikationen dieser Art, seltsam seelenlos bleibt.

Nichts Leichtes im Leben

Dem Menschen Jankel Adler, den muss man schon selbst aufspüren in den Sälen der Ausstellung. Und man kann ihn finden hinter all den Fakten und nüchternen Texten und auch hinter Fotografien, die einen schönen ernsten Mann im tadellosen Anzug zeigen. Man kommt ihm nahe, weil er in der Kunst all seine Gefühle ausdrückte: Schmerz, Angst, Wut und Sehnsucht. Mit blanker Brust, das Hemd zurückgeschlagen, steht sein „Artist“ von 1927 da, muskulös, aber schutzlos. Adler hat den Mann, der eine Art inneres Selbstporträt sein könnte, mit groben, grau-braunen Strichen gemalt. Man erkennt seine Kraft, aber auch die Anspannung, den bitteren Zug um den Mund und die Schatten um die Augen.

August Sander: Maler (Jankel Adler), 1924 (Silbergelatine-Abzug - Reprint Gunter Sander 1978 / Von der Heydt-Museum, Wuppertal / © VG Bild-Kunst, Bonn 2018)

August Sander: Maler (Jankel Adler), 1924 (Silbergelatine-Abzug – Reprint Gunter Sander 1978 / Von der Heydt-Museum, Wuppertal / © VG Bild-Kunst, Bonn 2018)

Auch wenn Adler durchaus einmal eine Vase mit Dahlien malte und, wie ein Bild von Arthur Kaufmann offenbart („Jankel Adlers Traum“, 1920), die blauen Schwebegestalten des Kollegen Chagall liebte – nichts war ein Leichtes im Leben von Jankel Adler. Seine Farben blieben düster, was womöglich auch den heutigen Mangel an Popularität erklärt. Typisch für ihn ist der Kopf eines gezeichneten Menschen mit verschobenem Profil, der die Hand vor das Gesicht schlägt, um die Zerstörung von Lodz im Ersten Weltkrieg zu beklagen: „Was für eine Welt“, heißt das Bild aus den frühen 1920er-Jahren.

Die Mahnung der Eltern

Zu jener Zeit lebte Jankel Adler längst in Deutschland und malte doch immer wieder die Erinnerung an Polen, wo er gegen Ende des 19. Jahrhunderts als siebtes oder achtes Kind (man weiß es nicht genau) eines frommen jüdischen Kaufmanns geboren wurde. Hochformatig, in düsterer Enge, porträtiert er 1921 „Die Eltern“: Der bärtige Vater doziert aus der Thora, die strenge Mutter erhebt den Zeigefinger, ewige Mahnung.

Vielleicht war Jankel nicht der Artigste. Mit sechs Jahren hatte er heimlich angefangen zu malen. 1909 zog er als Halbwüchsiger zu einer verheirateten Schwester nach Barmen, heute Teil von Wuppertal. Goldschmied und Graveur sollte er werden, wie sein Onkel in Serbien. Er hatte die Lehre absolviert, reiste arbeitend durch den Balkan, kehrte aber 1912 zurück an die Wupper, wo er während des Ersten Weltkriegs zwar als „verdächtiger Ausländer“ galt, aber doch an der Kunstgewerbeschule studieren durfte.

Jankel Adler: "Katzen", 1927 (Öl, Kreide, Sand auf Leinwand - Museum Ludwig, Köln / Foto: Rheinisches Bildarchiv, Köln - © VG Bild-Kunst Bonn, 2018)

Jankel Adler: „Katzen“, 1927 (Öl, Kreide, Sand auf Leinwand – Museum Ludwig, Köln / Foto: Rheinisches Bildarchiv, Köln – © VG Bild-Kunst Bonn, 2018)

Eine endgültige Heimat wird Jankel Adler weder in Deutschland noch sonst wo auf Erden finden. Aber er findet Gleichgesinnte unter den Künstlern, knüpft Kontakte zur Gruppe „Das junge Rheinland“ und zu den „Kölner Progressiven“, lernt im Düsseldorfer Aktivistenbund seine Lebensgefährtin Betty kennen, gehört zwischendurch zu den Mitbegründern der Vereinigung „Jung Jiddisch“ in Lodz, wo er seinen Gott sucht und mit hebräischen Buchstaben ein inbrünstiges Poem zeichnet: „Ich singe majn t’file“, ich singe mein Gebet.

Zwischen Freiheit und Bedrohung

Im Westen lebt Jankel Adler in einer anderen Welt. Er reist nach Paris und Berlin, wo die Freiheit auf den Tischen tanzt, während der rechte Mob schon lauert. Er experimentiert mit dem Kubismus, wie man auf seinem formal zerlegten „Paar“-Bild von 1921 sieht. Er schafft Stillleben, die er aufraut mit Sand und Gips, als könnte er keiner Idylle trauen.

Jankel Adler: "Angelika", 1923 (Von der Heydt-Museum, Wuppertal / © VG Bild-Kunst, Bonn 2018)

Jankel Adler: „Angelika“, 1923, Öl auf Leinwand (Von der Heydt-Museum, Wuppertal / © VG Bild-Kunst, Bonn 2018)

Einige Zeit lebt er in Düsseldorf, wo er sich im Künstlerkreis um die Bäckerswitwe und Instinktgaleristin Mutter Ey mit dem schicken und markanten Otto Dix anfreundet. Und während Dix sich als Dandy in einer surrealen Bar in Szene setzt („An die Schönheit“, 1922), versteckt Adler sein Gesicht auf einem collagierten „Selbstbildnis“ (1924) hinter erdigem Papier und Teilen einer brüchigen Zeichnung. Als wäre er nie ganz da.

Und obgleich die Nationalsozialisten noch nicht an der Macht sind, spricht Verlust aus allen Bildern des ahnungsvollen Jankel Adler. „Der Geiger“ von 1928 hat sein Instrument abgelegt und starrt den Betrachter aus dunklen Augen an, als könne es keine Musik mehr geben. Selbst das aparte, expressionistische Porträt der emanzipierten „Angelika“ mit ihren Katzen ist ein Werk der Trauer. Die junge Künstlerfrau starb an Tuberkulose. Überhaupt Katzen: Adler liebte diese Tiere, malte sie oft, doch ohne jede Niedlichkeit. Geradezu erschreckend ist ein Großformat, auf dem sich ein Kater auf ein Weibchen stürzt, der Trieb wird zum Gewaltakt. Das Bild wurde 1928 bei der Ausstellung Deutsche Kunst in Düsseldorf mit der Goldenen Medaille ausgezeichnet.

Wanderer zwischen den Welten

Bald darauf entscheiden Hitler und seine Schergen, was deutsche Kunst zu sein hat. Jankel Adlers Bilder werden aus öffentliche Sammlungen beseitigt und später in der Schandausstellung „Entartete Kunst“ präsentiert. Adler räumt schon 1933 das Düsseldorfer Akademie-Atelier, das er gleich neben Paul Klee innehatte und flieht – nach Paris, Polen, Russland, erneut Frankreich. Während des Krieges gelangt er als freiwilliges Mitglied der polnischen Armee nach Schottland und lässt sich schließlich, wegen eines Herzleidens aus dem Militärdienst entlassen, in London nieder.

Seine Liebste Betty und die gemeinsame Tochter Nina sieht er nur noch zweimal kurz auf der Durchreise und zieht allein weiter. Man weiß nicht genau, ob das so sein musste. Aber man steht vor Bildern wie der zerfurchten „Mutter“ von 1941, die ein Kind umklammert und nichts anderes ausdrückt als Sorge und Müdigkeit. Selbst ein praller „Liegender Akt“ vor matt rotem Hintergrund wirkt verstörend, der Gesichtsausdruck spricht nicht von Liebe.

Jankel Adler: "Komposition", 1946 (Goldmark Gallery / Aukin Collection - © VG Bild-Kunst Bonn, 2018)

Jankel Adler: „Komposition“, 1946, Öl auf Leinwand (Goldmark Gallery / Aukin Collection – © VG Bild-Kunst Bonn, 2018)

Nach 1945 erfährt Adler, dass alle seine Geschwister ums Leben gekommen sind, es gibt nur noch eine Nichte und einen Neffen. Die Figuren und Gegenstände auf seinen Bildern werden immer abstrakter, sie verwandeln sich in geometrische, leicht verzerrte Elemente, eine letzte „Große Figurengruppe“ ist kaum noch als solche zu erkennen. Das mag dem Zeitgeist geschuldet sein, es passt zur aufkommenden Kunstmode. Aber die hat ja ihren Ursprung in der Ablösung von den unerträglichen Realitäten der Vergangenheit.

Auch Jankel Adler will sich lösen. Er kann sich vorstellen, ein neues Leben anzufangen – mit Frau und Tochter in Israel, wo man ihn und sein Werk zu schätzen weiß. Doch sein Herz macht nicht mehr mit. 1949 stirbt Jankel Adler mit nur 53 Jahren, nirgendwo heimisch geworden.

„Jankel Adler und die Avantgarde: Chagall, Dix, Klee, Picasso“. 17. April bis 12. August im Von der Heydt-Museum Wuppertal, Turmhof 8. Geöffnet Di. bis So. 11 bis 18 Uhr, Do. bis 20 Uhr. Eintritt regulär: 12 Euro. Katalog (416 Seiten) 25 Euro.




Wie die Kunst zu mir kam und blieb – ein Lebenslauf zwischen Beruf und Berufung

Gastautorin Melanie Tilkov über ihr Leben als Künstlerin:

Ich bin freischaffende Künstlerin im Bereich Malerei, Grafik und Bildhauerei, außerdem Dozentin für Kunst an einer Kunstschule, Lehrkraft für Kunst an einem Gymnasium und habe einen Lehrauftrag an der fadbk/HbK Essen. Mein Studium der Kunst und das darauf folgende Berufsleben im Kunstbetrieb habe ich nach einem wechselvollen und unbefriedigendem Berufsleben als ein „endlich angekommen“ begriffen.

Die Künstlerin Melanie Tilkov mit ihren Arbeiten am Stand der Galerie Augarde (Daun) bei der Straßburger Messe START. (Foto: © Melanie Tilkov)

Verfasserin dieses Beitrags: die Künstlerin Melanie Tilkov, hier mit ihren Arbeiten am Stand der Galerie Augarde (Daun) bei der Straßburger Kunstmesse ST.ART. (Foto: © Melanie Tilkov)

Seitdem bin ich im Kunstbetrieb auf unterschiedlichen Ebenen aktiv – und sehr zufrieden damit. Dass ich noch studieren würde, war alles andere als klar, bin ich doch die Erste in meiner Familie, die akademisch ausgebildet ist.

Zu „abstrakt“ für den Alltag?

Vom Elternhaus her war klar, dass ich eine Lehre mache, Geld verdiene und somit schnell selbstständig würde. Zwar ist die Familie meines Vaters tendenziell handwerklich und auch künstlerisch unterwegs, Werkstätten und ihre Gerüche prägten meine frühesten Erinnerungen. Aber Kunst? Kunst war zu „abstrakt“ und somit als Beruf nicht vorstellbar.

Trotz der anderen Berufe, und auch während meiner Erziehungszeit, begleitete mich handwerklich-künstlerische Arbeit, meine Ideen im Kopf mussten eine fühlbare/sichtbare Umsetzung in der Realität erfahren.

Aber erst durch das Studium erfuhr ich, wie schwer die künstlerische Arbeit wird, wenn nicht allein die handwerkliche Fähigkeit und Begabung wichtig sind, sondern die intellektuelle Auseinandersetzung mit dem „Warum“ hinzukommt.

Zuerst kommt das Handwerk

Dennoch erachte ich es als essentiell, dass das „Handwerk“ sitzt: Grundausbildung Maltechnik, Zeichentechnik, Wissen um Farben, ihre Wirkungsweise, wie man sie einsetzt, wie ich Holz bearbeite, Ton, Stein…

Künstler, die nicht durch eine traditionelle Ausbildung gehen sondern von Anfang an in ihrem „Suppentopf“ weiter rühren, nie Stilleben gemalt, geschweige denn daran gelernt haben, die nie Menschen zeichnen mussten, nie Perspektive usw. lernten, denen fehlt etwas in ihrer Ausdruckskraft, auch in ihrem Spektrum. Natürlich kann man von Anfang an „abstrahieren“, aber nur wer die Basics lernte und das oft schmerzhaft lang, versteht, wie Abstraktion entsteht, wie Minimalismus sich entwickelt.

Es geht um das Können, nicht um das Wollen

Oft sind heute gezeigte Bilder von erschütternder Ahnungslosigkeit geprägt, was mich gleichermaßen verärgert, wie auch sehr traurig macht. Dadurch wird Kunst in ihrer Aussage entwertet, sie verliert, was sie eigentlich ausmacht. Nicht das Wollen, das Können zeichnet den Künstler aus. Und da gehört auch ein gehöriger Anteil an Praxis dazu, bis man dort ist, wo es einen, oft über Jahre, hingezogen hat.

Kreatives Chaos im Atelier von Melanie Tilkov. (Foto: @ Melanie Tilkov)

Kreatives Chaos im Atelier von Melanie Tilkov. (Foto: @ Melanie Tilkov)

Ich malte Landschaften, Abstraktionen, Spuren; nur um da endlich zu landen, am Ende meines Studiums, wo es mich immer hingetrieben hat. Endlich „konnte“ ich gegenständlich, figurativ malen, gestalten. Alles andere vorher begreife ich nun als handwerkliche und auch gedankliche Vorbereitung darauf. Ohne das Wissen um die Naturabstraktion wäre heute keiner meiner Hintergründe möglich, ohne die Abstraktion allgemein nicht das Wissen um die Auflösung im Prozess.

Eine Arbeiterin in der Kunst

Ich sehe mich als „Arbeiterin in der Kunst“. Meine Hände führen aus, was mein Kopf vorbereitet, gemalt, gebildhauert, gezeichnet hat, oft über Wochen, Monate, bis ich dann zum für mich erlösenden, praktischen Teil komme und alles in ein Medium fließt, Farbe auf Leinwand, Holz wird bearbeitet, behauen, Ton aufgebaut usw.

In der Renaissance gab es einen für uns heute sehr prägenden Wendepunkt. Aus einer anonymen Kunsthandwerkerschaft, aus den „Werkstätten” traten Einzelne hervor, brillierten und wurden, peu à peu, ganz langsam als Individuen wahrgenommen. Plötzlich wurden einzelne Künstler verehrt, Leonardo da Vinci und Dürer, das sind Namen, die noch heute „klingen“ und nachhallen.

Bis in unsere Zeit kam es dann zur starken Verklärung des Künstlers als „anders, wunderbar und sonderbar zugleich“. Dabei haben wir Kunstschaffenden auch nur eine Begabung, in der wir arbeiten (müssen). Auch Chirurgen, Architekten, Lehrer usw. fühlen mit Sicherheit so etwas, was sie in die berufliche Richtung trieb, eine „Berufung“.

Gegen die Verklärung

Vielleicht ist dieser Ruf, dem wir Künstler folgen, nur etwas drängender als der anderer Berufsgruppen, etwas elementarer. Aber gegen eine Verklärung wehre ich mich vehement, ich arbeite. Kunst. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Alles Aufgeblasene, Überzogene, Divenhafte mancher Künstler, die genau diese Verklärung befeuern, stört mich.

Nicht der Mensch, sondern sein Produkt sollte wahrgenommen werden. Ist mein Bild schlecht, sollte nicht das größte Theater und der bunteste Budenzauber, die fieseste Provokation über dieses Defizit hinwegtäuschen. Und doch ist es heute (leider) oft so. Das Event steht über dem Produkt. Damit gehe ich nicht konform. Und sehe mich lieber als Handwerkerin in Sachen Kunst. Der guten Sache wegen.




Alfried Krupp auf der Bühne: Heinrich Marschners Bergbau-Oper „Hans Heiling“ als Ruhrgebiets-Familienstory in Essen

Zechenschließungen drohen und Hans Heiling (Heiko Trinsinger) liebt ein Mädchen aus dem Arbeitermilieu. Foto: Thilo Beu

Zechenschließungen drohen und Hans Heiling (Heiko Trinsinger) liebt ein Mädchen aus dem Arbeitermilieu. Foto: Thilo Beu

Die Schätze, die schliefen in ewiger Nacht, fördern die Erdgeister in Heinrich Marschners „Hans Heiling“ ans Licht – den Menschen zum „Heil und Verderben“. Das „schwarze Gold“, das dem Ruhrgebiet fast 200 Jahre lang Reichtum und Elend gebracht hat, versiegt in diesem Jahr: Mit Prosper-Haniel in Bottrop schließt am 21. Dezember 2018 die letzte Steinkohlenzeche. So lag es für das Aalto-Theater nahe, sich mit Marschners romantischer Oper an den vielfältigen Aktivitäten rund um das Ende dieser Ära zu beteiligen.

Der junge Heinrich Marschner. Zeitgenössische Lithographie. Foto: Archiv Häußner

Der junge Heinrich Marschner. Zeitgenössische Lithographie. Foto: Archiv Häußner

Marschner wusste, worüber er Musik schrieb; er erinnerte sich wohl an die Braunkohlenförderung rund um seine Heimatstadt Zittau und den traditionsreichen Bergbau im benachbarten Gebirge.

Regisseur Andreas Baesler und sein Bühnenbildner Harald B. Thor knüpfen daran an: Sie rücken die böhmische Sage vom designierten König der Erdgeister, der auf die Erde flieht, um menschliche Liebe zu erlangen und dabei scheitert, eng an eine Geschichte aus dem Ruhrgebiet. Und decken verblüffende Parallelen auf: Hans Heiling wird zu Alfried Krupp von Bohlen und Halbach, die Königin der Erdgeister schreitet als perlenbehangene Mutterfigur Bertha Krupp umher.

Zwei gescheiterte Verbindungen

Der Konflikt erinnert an die Heirat Alfrieds mit der geschiedenen Anneliese Lampert im Jahr 1937. Sie mag den Krupp-Erben glücklich gemacht haben, war aber eine Ehe gegen den Willen seiner Eltern. Nach drei Jahren trennte er sich – wohl auf Betreiben der Mutter – von Frau und Sohn, übernahm die Firma, führte aber ein zurückgezogenes, innerlich einsames Leben.

Hans Heiling muss entsetzt erkennen, wie seine mit „rasendem Verlangen“ geliebte Anna ihrem unheimlichen Bräutigam aus einer anderen Sphäre immer fremder wird, sich in der Gesellschaft der einfachen Leute wohler fühlt und schließlich (ihre wahren Gefühle erkennend und unter dem Einfluss der Geisterkönigin und ihres dämonischen Gefolges) Konrad heiratet, einen einfachen Mann aus ihrer Schicht.

Die herrschaftliche Sphäre der Villa Hügel als Reich der Erdgeister, in dem die Königin (Rebecca Teem) ihren Sohn Hans Heiling (Heiko Trinsinger) vom Weg in der Menschenwelt abhalten will. Foto: Thilo Beu

Die herrschaftliche Sphäre der Villa Hügel als Reich der Erdgeister, in dem die Königin (Rebecca Teem) ihren Sohn Hans Heiling (Heiko Trinsinger) vom Weg in der Menschenwelt abhalten will. Foto: Thilo Beu

Bis ins Detail arbeitet das Produktionsteam die Gleichsetzung durch: Gabriele Heimann lässt sich von dem bekannten Familienporträt der Krupps zu nobel-dezenter Nachkriegsmode inspirieren. Der Chor trägt das Gewirk einfacher Leute aus den sechziger Jahren, als sich die Zechenstilllegungen ankündigten, aber in dem im Bild zitierten Essener „Blumenhof“ bei Tanztee und Schnitzeltag das gesellschaftliche Leben florierte.

Der gewaltige vertäfelte Saal der Villa Hügel kontrastiert mit der beengten Stube mit Bett, Kohleherd und Schwarz-Weiß-Fernseher, in der Witwe Gertrud die Rückkehr ihrer Tochter Anna bei nächtlichem Sturm erwartet. Gefeiert wird in einem hohen, schmutzigweißen Raum, wie einst auf großen Zechen als Lohnhallen oder Waschkauen zu finden. Dort spielt auch das Bergwerksorchester Consolidation aus Gelsenkirchen in schönsten Bergmannsuniformen das Glückauf-Lied.

Das Bergwerksorchester Consolidation aus Gelsenkirchen wirkt auf der Aalto-Bühne mit. Foto: Thilo Beu

Das Bergwerksorchester Consolidation aus Gelsenkirchen wirkt auf der Aalto-Bühne mit. Foto: Thilo Beu

Popularmythen des Potts strapaziert

Couleur locale also allenthalben, liebevoll entworfen. Das geht immerhin über die bloße Äußerlichkeit hinaus, wie sie 2008 in Essen in Wagners „Tannhäuser“ von Hans Neuenfels und Reinhard von der Thannen bemüht wurde. Lästig wird’s dann aber, wenn Hans-Günter Papirnik langwierige Dialoge in breiten Ruhri-Slang überträgt und von der Brieftaube bis zum Karnickel alle Popularmythen des Potts bemüht. Zur Sinnfindung tragen derlei biedere Anleihen, wie wir sie aus missglückten Operettenabenden kennen, nichts bei.

Unheimliche Heimeligkeit: Die Wohnung von Annas Mutter Gertrud erinnert an die Verhältnisse im Ruhrgebiet in den Sechziger Jahren. Foto: Thilo Beu

Unheimliche Heimeligkeit: Die Wohnung von Annas Mutter Gertrud erinnert an die Verhältnisse im Ruhrgebiet in den Sechziger Jahren. Foto: Thilo Beu

Auch im ehrgeizig gedachten dramaturgischen Ausbau knirschen die Stempel. Die Bergleute-Metapher funktioniert noch einigermaßen: Unter Tage sind die Arbeiter mit Helm und Grubenlampe die Geister, die ihren König zurückhalten wollen und deshalb gegen die Verbindung mit einem Menschen opponieren. Oben demonstrieren sie mit Spruchband und Schildern gegen Stilllegungen und damit gegen den Krupp-Heiling aus der Oberschicht.

Grenzen der soziologischen Sicht

Aber wenn Anna in der neusachlichen Sechziger-Jahre-Villa ihres noblen Bräutigams im „Zauberbuch“ blättert und maßlos erschrecken soll, aber nur die Vorhänge wehen wie in einem schlechten Gruselfilm; wenn in der von Marschner genial konzipierten Arie „An jenem Tag“ Hans Heiling plötzlich in türkisgrünes Licht getaucht ist, wenn im nächtlichen Park rotes Hilfslicht die Erscheinung der „Geister“ beglaubigen soll, ist sichtbar, wie das Konzept Baeslers an seine Grenzen kommt. Der Konflikt erschöpft sich eben nicht in der Klassen-Herkunft seiner Protagonisten, lässt sich soziologisch nur oberflächlich beschreiben. Eher wäre danach gefragt, die Konstellationen psychologisch zu erschließen oder die romantische Doppelnatur eines Hans Heiling überzeugend zu dechiffrieren.

Noch eins ist schade: Die bemühte Verortung in der Region rückt Marschners allzu selten gespielte Oper in die Ecke einer Ausgrabung, die man gerade mal aus passendem Anlass auf den Spielplan setzen kann. Mitnichten: Schon in den siebziger Jahren haben Aufführungen in Frankfurt, Zürich oder Bielefeld die innovativen musikalischen Errungenschaften Marschners und die dramatische Qualität des Librettos von Eduard Devrient erwiesen. Dass „Hans Heiling“ auf der Bühne selten zu erleben ist – zuletzt am Theater an der Wien und in Regensburg – spricht nicht gegen die Oper, sondern eher gegen routinierte Spielplan-Bastler.

Der Dirigent der Premiere von "Hans Heiling", Frank Beermann, bei einer Probe. Foto: TuP Essen

Der Dirigent der Premiere von „Hans Heiling“, Frank Beermann, bei einer Probe. Foto: TuP Essen

Frank Beermann und die Essener Philharmoniker machen die Qualität der Musik hörbar – und lassen nebenher erfahren, wie ungeniert sich etwa der Bayreuther Meister Richard Wagner bei Marschner bedient hat, dessen Oper er 1833 brandneu in Würzburg mit einstudiert und den er später in seinen Schriften höhnisch niedergemacht hat.

Dirigent Beermann setzt auf eine aufgehellte, vor allem zu Beginn im Tempo etwas zu rasche Lesart, auf brillant-durchsichtige Bläser und schlanke, manchmal zu wenig betonte Streicher. Aber in Szenen wie dem unerhört expressiven Melodram der Gertrud, in den bedeutenden Arien von Heiling und Anna oder in den auffallend großräumig konzipierten Finali kehrt er die vielgestaltige und farbenreiche Musik heraus und zeigt, dass sich Marschner vor Zeitgenossen nicht verstecken muss.

Bedauerlich, dass der spätere Hannoveraner Hofkapellmeister nie wieder ein so zündendes Libretto gefunden hat: In späteren Jahren beklagt er sich bitter über die Qualität der Opern-„Dichtungen“. Aber über die Qualitäten seiner Musik lässt sich nichts aussagen. Opern wie „Des Falkners Braut“, „Das Schloss am Ätna“ oder „Der Bäbu“ kennt einfach kein Mensch mehr, und die Forschung ist über tradierte Allgemeinplätze auch kaum hinausgekommen.

Bewährtes Ensemble im Einsatz

Das Aalto-Theater setzt bei den Sängern auf sein bewährtes Ensemble und fährt in den meisten Partien gut damit. Heiko Trinsinger fügt mit „Hans Heiling“ seinem breiten Repertoire – das etwa auch Marschners „Vampyr“ umfasst – eine weitere wichtige Bariton-Rolle hinzu. Wirkt die fordernde Höhe anfangs noch etwas erzwungen und fest, steigert sich Trinsinger in der früher noch in Wunschkonzerten und Arienabenden beliebten große Szene „An jenem Tag“ überzeugend, befeuert den brennend schmachtenden Ton des rasend Verliebten, verliert sich in seine Rachefantasien, falls Anna – was später ja auch geschieht – ihm die Treue bräche. Als Darsteller bleibt er in der steifen Rolle des Außenseiters in allen Welten; am Ende bricht er als Entwurzelter zusammen und löst eine Sprengung aus: Im Hintergrund fliegt in historisierendem Schwarz-Weiß ein Zechengebäude in die Luft, stürzen Fördergerüste ein – eine Projektion, die Heilings innere Katastrophe nachzeichnet: Den Wunsch, diese Welt hinter sich zu lassen, die ihm kein Heil, aber bitteres Verderben brachte.

Psychologisches Meisterstück in der Musik

Oft unterschätzt wird die Figur der Anna, die Jessica Muirhead vor Soubretten-Putzigkeit bewahrt. Die Rolle entwickelt sich vom leichten Tonfall der jungen, noch recht naiven Tochter zu den dramatischen Linien einer jungen Frau, die sich und ihrer wahren Gefühle bewusst wird. In der Stimme beglaubigt Muirhead diesen Weg in leuchtendem Ton, in der Gestaltung der Rolle lässt sie die Regie in diesem Punkt eher im Stich. Auch Bettina Ranch als Gertrud erfasst das Spektrum der Figur zwischen den angedeutet buffonesken Zügen der Mutter, die ihrer Tochter die reiche Partie zuschanzen will, und des im Melodram vom Unbewussten ins Erkennen wandernden Schrecken – ein stimmlich einfühlsam nachgezeichnetes psychologisches Meisterstück in Marschners Musik.

Jeffrey Dowd ist über den Konrad längst hinaus: Statt seines reifen Tenors, dem in der Höhe Glanz und Frische fehlt, bräuchte es ein jugendliches Timbre für den Liebhaber und Retter Annas. Rebecca Teem orgelt als Königin der Erdgeister nach schlechter Wagner-Manier – das bedeutet flackernde, bisweilen gewaltsame Tonemission, und eine monochrome tour de force. Teem ist freilich nicht die einzige Sängerin, die mit dieser Partie ihre Probleme hat: Den Typ des dramatischen, aber schlank-beweglichen Soprans mit strahlender Höhe, wie ihn etwa auch Rezia in Webers „Oberon“ fordert, gibt es kaum mehr. Karel Martin Ludvik und Hans-Günter Papirnik stehen ihren Mann an der Seite des forschen Konrad.

Der Opernchor des Aalto-Theaters wirkt in der Szene der Erdgeister anfangs noch dünn und inhomogen – liegt das an der breiten Aufstellung im Hintergrund? –, findet aber schnell seine bewährte Form, für die Jens Bingert als Chordirektor in allen Stilformen einsteht.

Heinrich Marschners Oper „Hans Heiling“ steht bis Juni auf dem Spielplan in Essen. Am 10. März um 19.05 Uhr wird die Aufzeichnung aus dem Aalto-Theater auf Deutschlandradio Kultur übertragen, am 1. April um 20.04 Uhr auf WDR 3. Eine CD-Aufnahme ist geplant.




Widerstand im Zeichen von Glauben und Menschlichkeit: Vor 75 Jahren wurden drei Mitglieder der Weißen Rose hingerichtet

„Es lebe die Freiheit“, schallt es am 22. Februar 1943 kurz nach 17 Uhr durch den Hinrichtungsraum im Gefängnis in München-Stadelheim. Es sind die letzten Worte von Hans Scholl, bevor er durch das Fallbeil sein Leben verliert. Kurz vor dem 24-jährigen starb seine jüngere Schwester Sophie, wenig später der dreifache Vater Christoph Probst. Am Vormittag hatte der berüchtigte Bluthund der NS-Regimes, Roland Freisler, ihr Todesurteil gesprochen.

Büste von Sophie Scholl in der Walhalla (seit 2003). (Bildhauer: Wolfgang Eckert / Foto: Ryan Hulin - Wikimedia Commons - Link zur Lizenz:

Büste von Sophie Scholl in der Walhalla (seit 2003). (Bildhauer: Wolfgang Eckert / Foto: Ryan Hulin – Wikimedia Commons). Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/

Freisler war extra aus Berlin nach München gereist. Er wollte einen Schauprozess. Aber die drei jungen Leute, Akteure der Widerstandsbewegung „Weiße Rose“, stahlen dem brüllenden Präsidenten des Volksgerichtshofs die Schau. Ruhig und gefasst vertraten sie ihre Überzeugungen, entgegneten sie den Tiraden.

„Ich bin nach wie vor der Meinung, das Beste getan zu haben, was ich gerade jetzt für mein Volk tun konnte. Ich bereue deshalb meine Handlungsweise nicht und will die Folgen … auf mich nehmen“, ist im Vernehmungsprotokoll Sophie Scholls zu lesen. „Heute hängt ihr uns, und morgen werdet ihr es sein“, sollen die letzten Worte von Hans Scholl vor dem Scheingericht gewesen sein.

„Arbeiten wider die Geißel der Menschheit“

Der aktive Widerstand der „Weißen Rose“ begann Ende Juni 1942, als Hans Scholl und Alexander Schmorell das erste von sechs Flugblättern verfassten und verteilten. „Nichts ist eines Kulturvolkes unwürdiger, als sich ohne Widerstand von einer verantwortungslosen und dunklen Trieben ergebenen Herrscherclique ‚regieren‘ zu lassen“, beginnt der Text, und appelliert dann an die Leser: „Daher muß jeder einzelne seiner Verantwortung als Mitglied der christlichen und abendländischen Kultur bewußt in dieser letzten Stunde sich wehren, soviel er kann, arbeiten wider die Geißel der Menschheit, wider den Faschismus und jedes ihm ähnliche System des absoluten Staates. Leistet passiven Widerstand … wo immer Ihr auch seid, verhindert das Weiterlaufen dieser atheistischen Kriegsmaschine, ehe es zu spät ist, ehe die letzten Städte ein Trümmerhaufen sind, gleich Köln, und ehe die letzte Jugend des Volkes irgendwo für die Hybris eines Untermenschen verblutet ist.“

In den weiteren Flugblättern prangerten die jungen Widerständler die Massenmorde an Juden und Polen an, von denen Hans Scholl an der Front erfahren hatte. Sie verdeutlichten die Mitschuld aller Deutschen, die das Unrecht ertrugen statt es zu bekämpfen. „Wir schweigen nicht, wir sind Euer böses Gewissen, die Weisse Rose lässt Euch keine Ruhe!“, heißt es am Ende des vierten Flugblatts.

Tiefes christliches Grundverständnis

Zum Verhängnis wurde den Geschwistern Scholl eine Aktion am Vormittag des 18. Februar. Beim Auslegen des sechsten, von dem später ebenfalls verhafteten und ermordeten Kurt Huber verfassten Blatts in der Universität stieß Sophie Scholl einen Stapel vom zweiten Stock in den Lichthof des Gebäudes. Sie wurden vom Hausmeister, einem SA-Mann, entdeckt und nach Verhör durch den Universitätspräsidenten, einem überzeugten Nationalsozialisten, der Gestapo überstellt. In den Verhören, so ist den Protokollen zu entnehmen, bekräftigten die Geschwister ihre prinzipielle Gegnerschaft zum NS-Regime und seiner Ideologie.

Hans und Sophie Scholl verteidigten Freiheit und Menschenwürde aus einem tiefen christlichen Grundverständnis heraus. Aufgewachsen in einem liberalen evangelischen Elternhaus, zeigten sie anfangs Sympathien für die NS-Jugendorganisationen, wandten sich aber ab, als sie die totalitären Ziele des NS-Staates immer deutlicher erkannten.

Hans Scholl kam in Kontakt mit katholischen Theologen wie Theodor Haecker und Carl Muth. Eine wichtige Rolle für seinen Entschluss, Widerstand zu leisten, dürften neben seinen Fronterlebnissen auch die Predigten des Bischofs von Münster, Clemens August Graf von Galen spielen.

Das Gewissen in barbarischen Zeiten

Für die umfassend gebildete, musikalisch und literarisch interessierte Sophie Scholl war ein intensiver Glauben einer der wesentlichen Impulse, dass sich die 21-Jährige – gegen den Willen ihres Bruders – der Widerstandsbewegung aktiv anschloss. Die Biologie- und Philosophie-Studentin wirkte im Januar 1943 erstmals daran mit, ein Flugblatt herzustellen und zu verteilen.

Für Sophie wie für Hans Scholl war die Entwicklung ihres politischen Bewusstseins eng mit der Vertiefung ihres Christentums verbunden. Der „christliche Mensch sei Gott mehr als dem Staat verantwortlich“, waren sie überzeugt. Der Münchner Weihbischof Ernst Tewes brachte es auf den Punkt: „Sie hatten die Unbedingtheit ihres Gewissens erfahren und wurden durch nichts davon abgebracht.“

Heute, 75 Jahre nach ihrer Hinrichtung, sind die Geschwister Scholl und die anderen Mitglieder der Weißen Rose ein Beweis, dass selbst unter barbarischen Zeitläuften der Einzelne die Chance hat, nach seinem Gewissen zu handeln.




Rausch und Ruhm eines Selbstzerstörers: „Panikherz“ nach Stuckrad-Barres Roman am Berliner Ensemble

Alkohol und Ecstasy, Kokain und Heroin: Er lässt nichts aus. Keine Droge ist ihm genug. Immer lebt er auf der Überholspur, hat unstillbare Sehnsucht nach dem großen Kick, dem Außergewöhnlichen, der Entgrenzung, dem totalen Erlebnis. Doch immer wieder findet er nur Absturz und Enttäuschung.

"Panikherz"-Szene mit Carina Zichner (li.), Nico Holonics (vorn) und Laurence Rupp (hinten). (Foto: © Julian Röder)

„Panikherz“-Szene mit Carina Zichner (li.), Nico Holonics (vorn) und Laurence Rupp (hinten). (Foto: © Julian Röder)

Irgendwann ist der Schriftsteller und Szene-Reporter, Gag-Schreiber und Selbstdarsteller vollkommen am Ende. Er kann die Hotelrechnung nicht mehr bezahlen und ist ein hoffnungsloser Fall für die Psychiatrie. Da taucht aus dem Nebel der Fantasie Udo Lindenberg auf: „Keine Panik auf der Titanic“, raunt Udo ihm ins Ohr, hinter dem Horizont geht´s weiter, ein neuer Tag“!

„Panikherz“ heißt der autobiographische Roman von Benjamin von Stuckrad-Barre, in dem er Rausch und Ruhm eines notorischen Selbstzerstörers ebenso dringlich wie selbstironisch beschreibt. Oliver Reese hat die von Narzissmus, Drogenexzess und Sinn-Suche handelnde Pop-Literatur für die Bühne bearbeitet und aus dem 500-seitigen Roman-Ungetüm eine Theater-Collage von gerade einmal 40 Seiten herausdestilliert.

Neuer Intendant wagt sich aus der Deckung

Bisher hatte der neue Intendant am Berliner Ensemble Gast-Regisseuren wie Frank Castorf und Michael Thalheimer den Vortritt gelassen und einige ältere Inszenierungen vom Schauspiel Frankfurt (Main) nach Berlin umgetopft. Mit „Panikherz“ wagt sich Oliver Reese jetzt erstmals selbst aus der Deckung: Es ist ein Triumph. Das liegt weniger an Stuckrad-Barres oft witzigen, aber auch mindestens genauso oft nervigen und überdies obsessiv-egozentrischen Text-Bausteinen, als vielmehr an der grandiosen Schauspiel- und hinreißenden Gesangs-Kunst seiner Darsteller.

Weil Stuckrad-Barre viele sich widersprechende Facetten in sich vereint, steht er gleich viermal auf der Bühne: Nico Holonics, Bettina Hoppe, Laurence Rupp und Carina Zichner, sie wuseln sich durch ein wild-verrücktes Leben, liefern sich rhetorische Scharmützel, spielen sich die biografischen Bälle zu, fallen sich ins Wort, zerstören genüßlich das Selbstbild des kleinen Jungen aus der niedersächsischen Provinz, der sich als Musik-Kritiker erste Meriten verdient, irgendwann das ganz große Rad dreht und zum It-Boy der Kultur-Schickeria wird.

Nico Holonics und Bettina Hoppe. (Foto: © Julian Röder)

Nico Holonics und Bettina Hoppe. (Foto: © Julian Röder)

Songs von Nirvana, Oasis, Rammstein und Udo L.

Zum Soundtrack über Aufstieg und Fall eines selbsternannten Superstars spielt eine fünfköpfige Live-Band den passenden, fetzigen Rock´n´Roll. Songs von Nirvana, Oasis und Rammstein wummern aus den Lautsprechern. Und, natürlich, immer wieder Lieder von Udo Lindenberg. Der Mann mit der Sonnenbrille und dem schnoddrigen Genöle ist Ratgeber und Rettungsanker. Ohne Udos Lebenshilfe würde der kaputte Benjamin wohl längst in irgendeinem Grab vermodern.

Die Band zersplittert die alten Songs und setzt sie wieder ganz neu zusammen. Die vier wunderbar wandelbaren Mimen singen sich dazu die Kehle wund und turnen durch Zeiten und Räume. Literatur und Leben, Wunsch und Wirklichkeit vermischen sich. Das Theater wird, ganz klassisch, zum Ort der (Selbst)Erkenntnis, Reinigung und Erlösung. Keine Panik: die Kunst heilt jede Wunde und kann jede zerfaserte Biografie wieder richtig zusammensetzen.

„Panikherz“. Berliner Ensemble, nächste Aufführungen am 20. und 28. Febr., 9. und 16. März, Karten unter 030/28408155.




Willi Sitte – ein durchaus widersprüchliches Leben als Maler und DDR-Kulturfunktionär

Gastautor Heinrich Peuckmann erinnert an den umstrittenen DDR-Maler Willi Sitte:

Mit Willi Sitte ist 2013 auch der letzte der vier großen DDR-Maler gestorben. Werner Tübke zählte dazu, dessen Bauernkriegs-Panoramabild in Bad Frankenhausen sicherlich zu den großen malerischen Leistungen des letzten Jahrhunderts gehört. Werner Mattheuers Skulptur „Der große Schritt nach vorn“ über die politischen, vor allem blutigen Illusionen des letzten Jahrhunderts steht in Leipzig direkt vor dem Eingang zu Auerbachs Keller. Und Bernhard Heisig wurde im Westen bekannt, weil er Helmut Schmidt gemalt hat, als dessen Kanzlerschaft endete.

Der Maler Willi Sitte begrüßt den Staats- und Parteichef Erich Honecker zur Eröffnung der X. Kunstausstellung der DDR im Jahr 1987. (Foto: Bernd Sattnik / ADN / Bundesarchiv Bild 183-1987 - Wikimedia Commons, Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en)

Der Maler Willi Sitte begrüßt den Staats- und Parteichef Erich Honecker (rechts) zur Eröffnung der X. Kunstausstellung der DDR im Jahr 1987. (Foto: Bernd Sattnik / ADN / Bundesarchiv Bild 183-1987 – Wikimedia Commons, Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en)

Sitte war der umstrittenste von ihnen, was einerseits an seiner kraftvollen, mit viel Sinnlichkeit gewürzten Malerei, hauptsächlich aber an seiner Tätigkeit als Kulturfunktionär lag. Sitte war von 1974 bis 1988 Präsident des Verbandes bildender Künstler, war Volkskammerabgeordneter und Mitglied im ZK der SED, alles Tätigkeiten, die ihm nach der Wende heftig vorgeworfen wurden.

Dabei wurde jedoch oft verschwiegen, dass Sitte in den fünfziger und sechziger Jahren selbst erhebliche Konflikte mit der DDR-Führung hatte. Seinem „Lidice-Bild“, gemalt in Erinnerung an die Gräueltaten der Nazis, fehlte nach Ansicht der Kulturverantwortlichen das Heroische, weil es Sitte um die Brutalität anonymer Mörder gegenüber den Opfern ging: Mehrfach wurde er zur Umarbeitung gedrängt, bis man das Bild schließlich aus dem Verkehr zog. Heute ist es verschollen.

Für gewisse Freiräume gesorgt

Die Graphikerin Lea Grundig war vor Sitte Verbandschefin, formale und inhaltliche Neuerungen  waren ihr suspekt. Sitte erzählte mal, dass sie schon bei seinem Erscheinen zu einer Sitzung gerufen hätte: abgelehnt! So wurde er später von einigen seiner Freunde gedrängt, selber für das Amt zu kandidieren und für Freiraum in der DDR-Malerei zu sorgen. Selbst seine Gegner bestätigen heute,  dass er diesem Auftrag gefolgt ist. Vieles wurde unter seiner Regie möglich, was vorher undenkbar war, zum Beispiel auch, dass Heisig Helmut Schmidts Bitte, ihn zu malen, annehmen durfte. Aus Sicht der DDR-Betonköpfe war das immerhin der Auftrag des reaktionären Feindes.

Sitte stammte aus einer einfachen Bauernfamilie. Im böhmischen Kratzau, heute Chrastava, wurde er 1921 geboren. Mehrfach hat er seine Eltern gemalt, immer in verschiedenen Lebensabschnitten. Es sind sehr warmherzige Darstellungen, die die Armut seiner Herkunft nicht verschweigen, aber auch die menschliche Zuneigung zeigen. Sie gehören zu den großen Zeugnissen der Porträtkunst.

Orientierung an Expressionismus und Kubismus

Am Ende des Krieges wurde er an die Front nach Italien verlegt, wo Sitte desertierte und sich den Partisanen anschloss. Noch heute genießt er deshalb südlich der Alpen höchstes Ansehen. Diesem Land seiner Zuneigung ist er Zeit seines Lebens verbunden geblieben. Der ursprünglichen Absicht, dort zu bleiben, folgte er jedoch nicht, sondern ließ sich in Halle nieder. Dort holte er in den fünfziger Jahren vieles in seiner Ausbildung als Maler nach, was vorher nicht möglich gewesen war.

Sitte orientierte sich den Großen des letzten Jahrhunderts, an Picasso vor allem, dessen kubistische Formgebung ihn stark beeindruckte, aber auch an Léger und Corinth. Mit der Zeit fand er seinen Stil, und wer dabei genau hinschaute, der entdeckte weniger sog. „Sozialistischen Realismus“, was immer das gewesen sein mag, sondern Bezüge zum Expressionismus.

„Ich bin ein dramatischer Typ“

Sitte  malte und zeichnete gerne kraftvolle Körper, meistens nackt, weil Kleidung mit Zeit identifiziert wird, und Sitte das Typische und Grundsätzliche im menschlichen Leben darstellen wollte. Er löste den Strich auf, setzte differenziert Farbflecken an seine Stelle und zeigte auf diese Weise genau die Facetten eines Körpers. „Ich bin ein dramatischer Typ“, hat er mal seine prallen Liebesakte erläutert, die manchmal an einen Ringkampf erinnern. Daneben teilte er seine Bilder in Flächen auf, zeigte in einem Teil das Hauptthema, auf nebengeordneten Flächen Teilaspekte, einen Betrachter der Szene etwa, oft  sich selber.

Großartig sind seine Wasserbilder, in denen er das Durchsichtige wie mit leichter Hand sichtbar macht. Dazu gehört etwa der kraftvolle Schwimmer, ein Motiv, das anlässlich der Moskauer Olympiade 1980 eine Briefmarke zierte.

Kein platter Sozialistischer Realismus

Wer seine Bilder sieht, merkt schnell, dass Sitte keinen platten Sozialistischen Realismus malte, wie ihm das oft unterstellt wurde. Die Themen waren politisch, gelegentlich zudringlich, das stimmt, aber in der formalen Umsetzung war er sehr modern. Manchmal so modern, dass er auch noch in der Zeit seiner Präsidentschaft Anstoß in der DDR erregte.

Angesichts seiner großen, auch als Triptychen anlegten Bilder werden oft Sittes Zeichnungen vergessen. Er war ein großartiger Zeichner, sehr genau in der Darstellung und auch dort findet man wieder Bezüge zu den Großen der Malerei. „Hommage an …“ steht unter vielen seiner Zeichnungen. Sie beziehen sich auf Goya, Camille Claudel und andere. Diese Zeichnungen sind noch nicht genügend in der Beurteilung von Sitte gewürdigt worden.

Tiefer Sturz nach der „Wende“

Der Sturz nach der Wende war jedenfalls für tief für ihn. Gestern noch geachteter Staatsmaler, wollten nun selbst enge Freunde nichts mehr von ihm wissen. Freunde, denen er nachweislich geholfen hatte. Sitte war darüber enttäuscht, aber nicht verbittert. Zu optimistisch hat er das Leben gesehen, die Vitalität, die seine Bilder vor und nach der Wende ausstrahlen, bestätigt das.

Die ursprüngliche Absicht, nicht mehr in den neuen Bundesländern, also der alten DDR auszustellen, hat er am Ende aufgegeben. Zu seinem 90. Geburtstag erinnerte sich Halle an seinen großen Künstler und organisierte eine große Ausstellung, bei der den Zeichnungen breiter Raum gegeben wurde. Sitte war da schon so krank, dass er sie nicht mehr hingehen konnte.

Chance auf spannende Dialoge vertan

Gesehen hat er aber noch das eigens für ihn geschaffene Museum in Merseburg, die Willi-Sitte-Galerie am Domplatz, die einen Besuch wert ist. Neben Sitte-Bildern gibt es dort immer auch Wechselausstellungen.

Die bildende Kunst in Deutschland hat nach der Wende eine große Chance vertan. Zu schnell und zu oberflächlich wurden die DDR-Maler niedergemacht, so dass es gelegentlich wie ein Konkurrenzkampf um Marktanteile wirkte. Die deutsche Malerei hatte plötzlich zwei Wurzeln. Die westliche, die sich an der amerikanischen Moderne, vor allem der abstrakten Kunst orientierte. Und die östliche, die an den Expressionismus anknüpfte und das Gegenständliche bevorzugte. Hier hätte es zu einem spannenden Dialog kommen können, denn Vielfalt ist Reichtum.




Der „andere“ Don Giovanni: Vor 200 Jahren starb der italienische Komponist Giuseppe Gazzaniga

Anmerkungen zu einer Fußnote der Musikgeschichte: Heute, am 1. Februar vor 200 Jahren, starb in Crema in Italien der Schöpfer des „Don Giovanni“. Wie? Mozart, das wissen wir doch, verblich am 5. Dezember 1791, und zwar in Wien. Richtig, dennoch gilt es, eines Komponisten zu gedenken, der eine der mindestens siebzig Don-Juan-Versionen für die Opernbühne geschaffen hat – und zwar nicht die schlechteste: Giuseppe Gazzaniga.

Der Komponist Giuseppe Gazzaniga um 1780. (Bild: Wikimedia /gemeinfrei - Link: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Giuseppe_Gazzaniga.jpg)

Der Komponist Giuseppe Gazzaniga um 1780. (Bild: Wikimedia /gemeinfrei – Link: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Giuseppe_Gazzaniga.jpg)

Heute meist nur noch beiläufig erwähnt, war Gazzaniga zu Lebzeiten eine europäische Berühmtheit. Seine Opern, er hat mindestens 50 geschrieben, wurden zwischen 1770 und 1800 – also zu Lebzeiten Mozarts – in ganz Europa gespielt. Und sein „Don Giovanni“ mit einem Text des Wiener „kaiserlichen Poeten“ Giovanni Bertati begann erstmals am 5. Februar 1787 die Damen auf den Brettern des Teatro San Moïsè in Venedig zu verführen.

Das Grausen wird weggelacht

Mozarts Librettist Lorenzo da Ponte hat sich allen Anscheins nach bei der venezianischen Karnevalsoper Gazzanigas und Bertatis bedient: Die Eröffnungsszene mit Leporello – der bei Gazzaniga Pasquariello heißt –, dem Terzett und dem Tod des Komturs, die „Registerarie“ des Dieners, das letzte Mahl Giovannis und seine Höllenfahrt finden sich in der früheren Oper in verblüffend ähnlicher Form.

Das Finale freilich ist ein karnevalesker Scherz: Während Don Giovanni mit Krach-Bumm und sprühendem Feuer in teuflische Gefilde abfährt, starten die Überlebenden eine schmissige Tarantella. Das Grausen vor dem dämonischen Ende wird gekonnt weggelacht und weggetanzt.

Karriere auf europäischer Ebene

Gazzaniga war bereits ein Jahr zuvor von seinem Förderer Antonio Sacchini in Wien eingeführt worden – mit einer Oper auf ein Libretto von Lorenzo da Ponte: „Il finto cieco“ („Der falsche Blinde“), die am 20. Februar 1786 eine offenbar viel beachtete Premiere feierte. Zu dieser Zeit war Gazzanigas europäische Karriere schon in Gang gekommen. „La vendemmia“ etwa, 1778 in Florenz uraufgeführt, erreichte bis 1785 Wien, Dresden, Prag, London, Lissabon und als „Die Weinlese“ Berlin.

Begonnen hatte der 1743 in Verona geborene Gazzaniga, der eigentlich Priester werden sollte, vor 250 Jahren mit einem 1768 in Neapel vorgestellten Intermezzo („Il barone di Trocchia“), dem eine Reihe von Buffonerien für den unersättlichen venezianischen Opernbetrieb folgten. Unter Titeln wie „Das Grab des Merlin“ oder „Die Insel der Alcina“ kann man sich noch etwas vorstellen – aber was sich hinter dem 1773 in Mailand erschienenen „Zon-zon, Fürst von Kibin-kin-ka“ verbirgt, hätte zu wissen doch einen gewissen Reiz. Allerdings versuchte sich Gazzaniga auch an ernsten Stoffen wie „Ezio“ auf das oft vertonte Libretto von Metastasio, „Armida“ oder „Perseus und Andromeda“. Auch ein „Idomeneo“ (1790) steht im Verzeichnis seiner Werke.

Kurzlebige Werke für den unersättlichen Opernbetrieb

Gazzanigas „Don Giovanni“ habe ich vor mehr als 35 Jahren einmal im Heidelberger Schlosshof gesehen: In einer turbulenten Inszenierung nach Art einer Wanderbühne, mit einem großen Knall am Ende – ein sommerlicher Gute-Laune-Spaß mit einer spritzigen, gekonnt fabrizierten Musik, freilich meilenweit von der Tiefgründigkeit Mozarts entfernt. Gazzanigas Musik spiegelt die neapolitanische Oper der Mitte des 18. Jahrhunderts, wie sie seine Lehrer Antonio Porpora und Niccoló Picinni verkörpert haben. Die (spärliche) Literatur hebt seinen Sinn für Situationskomik und seine melodische Erfindungsgabe hervor, die offenbar schon seine Zeitgenossen gerühmt haben.

Als Komponist gehört Gazzaniga zu den zahlreichen Produzenten kurzlebiger Werke für den täglichen Bedarf der italienischen Opernhäuser, vergleichbar vielleicht heutigen Spielfilm- oder Fernsehserienproduzenten. Unter welchen Bedingungen gearbeitet werden musste, wird in einer Episode aus den Memoiren Lorenzo da Pontes deutlich: Von der Theaterdirektion beauftragt, ein Libretto für Gazzaniga zu verfassen, schusterte da Ponte in ein paar Tagen aus einer französischen Komödie ein Stück zusammen. Eine wohl heftige Liebschaft beschäftigte Gazzaniga und hinderte ihn, die Oper in der festgesetzten Zeit fertigzustellen. So bastelte er zwanzig Jahre zuvor geschriebene Musik und Szenen aus eigenen und fremden Werken zu einem Mischmasch zusammen, der „weder Hand noch Fuß“ hatte und nach drei Aufführungen „in den Schlaf geschickt“ wurde.

Als sein kompositorischer Stil unmodern wurde

Da Ponte bezeichnet Gazzaniga in seinen Erinnerungen als Komponisten von einigem Verdienst, dessen Stil aber nicht mehr modern sei. Und das genannte Machwerk verhöhnt er mit einem unübersetzbaren italienischen Begriff: „guazzabuglio“, der so etwas wie Kuddelmuddel bedeutet.

Dass der rasche Wandel und die Entwicklung in der Opernmusik Italiens und Europas seine Art zu komponieren unmodern werden ließ, scheint Gazzaniga selbst bemerkt zu haben: 1791 übernahm er das Amt des Domkapellmeisters an der Kathedrale von Crema, das er bis zu seinem Tod 1818 versah. In dieser Zeit entstanden zahlreiche geistliche Kompositionen, deren Handschriften in Verona und Bologna in Archiven schlummern.

Sich von seinen Opern ein Bild zu machen, wäre ebenfalls nur durch ausgiebige Quellenstudien möglich. Die Produktion für das Musiktheater hat Gazzaniga bis 1807 weitergeführt, wenn auch nicht so intensiv wie vorher. Hin und wieder taucht sein „Don Giovanni“ auf der modernen Bühne auf, zuletzt meines Wissens 2015 in Pisa, ein reizvoller Kontrast zum unvergänglichen Meisterwerk Mozarts.




Natur und Kunst, Schönheit und Grauen: Vor 150 Jahren starb der Biedermeier-Schriftsteller Adalbert Stifter

Kann man ihn überhaupt noch lesen, diesen Biedermeier-Schriftsteller? Ist seine Sittlichkeit nicht längst altmodisch? Sind diese langatmigen Schilderungen von Landschaften und Naturidyllen nicht jedem modernen Gefühl zuwider? Fehlt ihm nicht, was schon Joseph von Eichendorff vermisste, der über ihn sagte, er habe „nicht eine Spur von moderner Zerrissenheit“?

Adalbert Stifter, vor 150 Jahren (am 28. Januar 1868) gestorben, galt einst als der bedeutendste Autor des Biedermeier. Man schätzte seine Naturdarstellungen. Bis in die 1960er Jahre hinein war seine Prosa Stoff für die Schule, seine Texte fanden sich in Lesebüchern. Werke wie „Die Mappe meines Urgrossvaters“, seine Erzählungs-Sammlung „Bunte Steine“ oder sein wohl berühmtester Roman „Der Nachsommer“ gehörten zum literarischen Bildungsgut.

Sogar Karl Kraus hat ihn gepriesen

Der Philosoph Friedrich Nietzsche etwa bewunderte diesen groß angelegten Bildungsroman und zählte ihn – neben Goethe – zum „Schatz der deutschen Prosa“. Der scharfzüngige Karl Kraus ließ allein Stifter unter allen Schriftstellern dieser Epoche gelten, die anderen „sollten diesen Heiligen für ihr lautes Dasein um Verzeihung bitten …“. Und kein Geringerer als Thomas Mann preist ihn in höchsten Tönen: „Stifter ist einer der merkwürdigsten, hintergründigsten, heimlich kühnsten und wunderlich packendsten Erzähler der Weltliteratur.“

Die Sprache bleibt für die Gegenwart

Kritiker dagegen bemängeln, dass die Figuren seiner Werke als Menschen blass bleiben und hinter den allzu ausgiebigen Natur- und Landschaftsschilderungen zurücktreten. Sein Stil wird als weitschweifig getadelt. „Die Ergebenheit in alles von der Natur Vorgegebene beginnt selbst den geneigten Leser zu martern“, schreibt Ilse Aichinger über seine Erzählung „Bergkristall“. Was für heute bleibt, glaubt man der österreichischen Schriftstellerin, ist die Sprache: Sie „entdeckte in der Schilderung die Definition der Räume und Landschaften, in der Gelassenheit und Ergebenheit den reißenden, fast verzweifelten Strom der Sprache, ihre Hochkarätigkeit, den Tod zu ihren Seiten.“

Das Abgründige in Stifters Werk, das wohl auch Franz Kafka erspürt hatte, die Natur als Raum und Spiegel der Seele – das braucht offenbar Zeit und Einfühlung, um entdeckt zu werden. Das Grauenvolle, Unergründliche, zutiefst Erschreckende, dessen Walten in der Natur Stifter eben auch entdeckt, hat man gern und geflissentlich übersehen.

Solche Bilder leisteten der Idyllisierung Vorschub: Adalbert Stifter, Im Gosautal, ein Gemälde aus dem Jahr 1834. Bild: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Adalbert_Stifter_-_Im_Gosautal.jpg

Solche Bilder leisteten der Idyllisierung Vorschub: Adalbert Stifter, „Im Gosautal“, ein Gemälde aus dem Jahr 1834. Bild: https://commons.wikimedia.org/wiki/File: Adalbert_Stifter_-_Im_Gosautal.jpg

Sehnsucht nach Harmonie

Adalbert Stifter, 1805 in Oberplan an der Moldau in Böhmen (heute Horni Planá in Tschechien) geboren, stammt aus den armen Verhältnissen einer Leinweberfamilie. Der Großvater brachte ihn auf die Lateinschule und ab 1818 in das Stiftsgymnasium der Benediktiner von Kremsmünster. Eine Zeit, die er später als die schönste seines Lebens beschrieb. Er lernte Zeichnen und wollte Landschaftsmaler werden – einige Bilder zeugen von seinem Talent.

Die Schule vermittelte ihm Religion, Philosophie, Kunst und Naturwissenschaft gleichermaßen, führte ihn in den Kosmos der christlichen Weltanschauung ein, unterwies ihn aber auch in der Philosophie der Aufklärung. Im Schönen entdeckte er das Göttliche. Das Göttliche aber strebe, so schrieb er selbst, überall nach beglückender Entfaltung, als Gutes, Wahres, Schönes. Die Sehnsucht nach dieser harmonischen Weltschau sollte sein späteres Denken und Schreiben prägen.

Unglückliche Liebe und materielle Not

Als Student der Rechte in Wien begann er auch zu dichten. In Wien verliebte er sich heftig und unglücklich in Fanny, die Tochter eines wohlhabenden Kaufmanns. Sie erwiderte seine Leidenschaft nicht. Stifter verfiel dem Alkohol und musste das Studium ohne Abschluss abbrechen. In dieser Zeit entstanden erste Erzählungen, die aber nicht oder erst später veröffentlicht wurden. Um die Ordnung in seinem Leben wieder herzustellen, vermählte sich Stifter mit der Putzmacherin Amalia Mohaupt, die ihn über 30 Jahre lang liebevoll umsorgte.

In den ersten Jahren plagten das Paar erhebliche materielle Sorgen. Die Lage wandelte sich allmählich, als 1840/41 die Erzählungen „Der Condor“ und „Feldblumen“ veröffentlicht wurden und auf positives Echo stießen. Stifter unterrichtete als Hauslehrer den Sohn des österreichischen Staatskanzlers Metternich und fand einen Verleger, der ihn förderte. Die Schicksalserzählung „Abdias“ brachte ihm 1842 den literarischen Durchbruch. Zwei Jahre später erschienen erste Bände seiner gesammelten Erzählungen.

Keine Gegenliebe für pädagogische Reformideen

Im Revolutionsjahr 1848 zog Stifter, der auf der Seite der Erneuerung stand, von Wien nach Linz. Die Erzählung „Die Landschule“ spiegelt sein lebenslanges pädagogisches Interesse wieder. Nach einigen vergeblichen Versuchen gelang es ihm, 1850 einen Posten als Schulrat zu erreichen.

Gut zwei Jahre später wurde er auch zum Landeskonservator für Oberösterreich der k.k. Central-Commission zur Erforschung und Erhaltung der Baudenkmale ernannt. Sehr engagiert widmete er sich dem Denkmalschutz und der Förderung der bildenden Kunst, in der er die „irdische Schwester der Religion“ erkannte. Seine pädagogischen Reformideen jedoch stießen bei Kirche und Behörden nicht auf Gegenliebe.

Neu bei dtv: Wolfgang Matz hat Stifters Erzählungen nach den Erstdrucken herausgegeben - rechtzeitig zum 150. Todestag des Autors. Cover: dtv

Neu bei dtv: Wolfgang Matz hat Stifters Erzählungen nach den Erstdrucken herausgegeben – rechtzeitig zum 150. Todestag des Autors.

Gesundheitliche Gründe und ein Schicksalsschlag – der Tod seines Adoptivkindes Juliane, wohl ein Suizid – führten dazu, dass Stifter seinen Tätigkeiten nicht mehr nachgehen konnte. Seinen historischen Roman „Witiko“ vollendete er nach jahrelanger Arbeit.

Stifter war ein übermäßiger Esser und Trinker, der sechs Mahlzeiten am Tag verschlang. Als sein Tod infolge einer Leberzirrhose absehbar war, öffnete er sich auf dem Krankenbett mit einem Rasiermesser die Halsschlagader und starb zwei Tage nach diesem Suizidversuch am 28. Januar 1868.

Neue Bücher:

Der Münchner Literaturwissenschaftler, Lektor und Träger des Paul-Celan-Preises Wolfgang Matz hat 2016 mit „Adalbert Stifter oder Diese fürchterliche Wendung der Dinge“ eine Biografie auf aktuellem wissenschaftlichen Stand vorgelegt.

Stifters großer Roman „Der Nachsommer“ ist in einer neuen Ausgabe beim Deutschen Taschenbuch-Verlag (dtv) erhältlich, der auch „Bergkristall“ und „Witiko“ im aktuellen Programm führt. Wichtige Werke von „Abdias“ bis „Bunte Steine“ sind als gelbe Reclam-Ausgaben erhältlich.

Hier noch ein Gedicht von Adalbert Stifter:

Abschied

Nun sind sie vorüber, jene Stunden,
Die der Himmel unsrer Liebe gab,
Schöne Kränze haben sie gebunden,
Manche Wonne floß mit ihnen ab.

Was der Augenblick geboren,
Schlang der Augenblick hinab,
Aber ewig bleibt es unverloren,
Was das Herz dem Herzen gab.

 




Die Masse als politischer Akteur: Zum 100. Geburtstag Gottfried von Einems zeigt Magdeburg seine Oper „Dantons Tod“

Am 24. Januar 1918, vor 100 Jahren, erblickte in Bern einer der bekanntesten Komponisten der fünfziger und sechziger Jahre das Licht der Welt: Heute nur noch Insidern der Operngeschichte ein Begriff, entfaltete Gottfried von Einem nach der Uraufführung seiner Oper „Dantons Tod“ in Salzburg das musikalische Nachkriegs-Leben in Deutschland und Österreich entscheidend mit. Magdeburg würdigt nun als bisher einziges deutsches Opernhaus von Einem mit einer Premiere seines erfolgreichen Opern-Erstlings von 1947.

Beim Wiener Verlag Kremayr und Scheriau erschienen: Joachim Reibers Biografie des Komponisten Gottfried von Einem. Coverabbildung: Verlag

Beim Wiener Verlag Kremayr und Scheriau erschienen: Joachim Reibers Biografie des Komponisten Gottfried von Einem. Coverabbildung: Verlag

Von 1948 an hatte Gottfried von Einem als Mitglied des Direktoriums der Salzburger Festspiele – mit Unterbrechung bis 1964 – weitreichenden Einfluss, gestützt durch seine hervorragende Vernetzung, unter anderem mit der Familie Wagner, den Komponistenkollegen Boris Blacher und Werner Egk oder dem in vielen Bereichen aktiven Rolf Liebermann.

Die Opern „Der Prozess“ nach Franz Kafka (1953) und „Der Besuch der alten Dame“ nach Friedrich Dürrenmatt (1971) sicherten dem eher konservativ eingestellten, der neuen Musik der Schönberg-Schule und der Darmstädter Kreise abholden „Componist“ – so die Selbstbezeichnung – einen festen Platz auf den Spielplänen der Opernhäuser, den er erst nach seinem Tod 1996 langsam einbüßte.

Mit „Jesu Hochzeit“ auf ein mystisch-esoterisches Libretto seiner zweiten Frau, der Schriftstellerin Lotte Ingrisch, verursachte von Einem 1980 in Wien einen veritablen Opernskandal. Gottfried von Einem verstand es, sich einerseits mit den Verhältnissen während des Dritten Reiches äußerlich zu arrangieren, half aber auch, Juden zu schützen und wurde daher 2002 posthum als „Gerechter unter den Völkern“ ausgezeichnet. In Deutschland und Österreich galt von Einem dank seiner Oper „Dantons Tod“ als „Komponist der Stunde Null“ – eine Bezeichnung, die heute angezweifelt wird, etwa in der neuesten Biografie von Joachim Reiber.

Bogen von der Französischen Revolution bis zur NS-Diktatur

Die Vorlage zu von Einems Oper, Georg Büchners „Dantons Tod“ lässt sich von vielschichtigen Zeitebenen aus lesen: Da ist das Stück über die Französische Revolution, zugespitzt auf ein paar Wochen des Jahres 1794. Da ist der Blick des jungen, unruhevollen Geistes auf Danton, Robespierre, Saint-Just, Desmoulins und ihre Gefolgschaften aus der Perspektive der restaurativen Gesellschaft der 1830er Jahre in Deutschland, eingespannt zwischen brutaler Unterdrückung des politischen Lebens und gärendem Freiheitswillen. Da ist die illusionslose Realität des Polizeistaats Hessen-Darmstadt, in dem Büchner ein System von Bespitzelung, Willkür und Gewalt am eigenen Leibe erfährt. Und da ist, unvermeidlich, der Blick der eigenen Gegenwart auf den historischen Stoff.

Noa Danon als Lucile in "Dantons Tod" von Gottfried von Einem in Magdeburg. Foto: Kirsten Nijhof

Noa Danon als Lucile in „Dantons Tod“ von Gottfried von Einem in Magdeburg. Foto: Kirsten Nijhof

Gottfried von Einem zieht noch einmal eine Ebene ein: Unverkennbar reflektieren er und sein Librettist Boris Blacher – selbst ein begabter Komponist – die zwölf Jahre der braunen Diktatur. Das geschieht nicht direkt, sondern wirkt subtil, dem schnellen Blick kaum bemerkbar. Aber die Masse als politischer Akteur und gleichzeitig Material in den Händen weniger Demagogen, das „Volk“ als Faktor der ideologischen Auseinandersetzung führt über Büchner hinaus.

Gottfried von Einem hat mit dem Werk kurz nach dem Attentat auf Hitler 1944 begonnen. Er selbst beschreibt die Situation als „unerträglichen Druck“, unter dem wie er Millionen Menschen standen: „Ständige Spannung, Schrei nach Erlösung von ihr.“ Wie gebannt sei er unter dem Zwang des Stoffes gestanden: „Das Werk brannte ab mit mir, mit meiner Musik.“

In Magdeburg tut Intendantin Karen Stone gut daran, die Handlung nicht eindeutig zu verorten, weder im Paris des 18. Jahrhunderts noch im Ambiente einer der Diktaturen der Gegenwart oder jüngeren Vergangenheit. Die Szene von Ulrich Schulz, eine Brücke aus kaltem Metall, flankiert von zwei Treppen, öffnet oder schließt je nach Bedarf einen flexiblen Spielraum, der sich mit einer Tapete mit französischen Lilien in einen Wohnraum oder mit einem hochgefahrenen Lichtkäfig in ein Gefängnis verwandeln lässt. Auch Requisiten und Kostüme spielen mit den Zeitebenen, lassen an Barock, 68er oder die uniformierten Einheitsschnitte östlicher Diktaturen denken.

Inszenierung rückt Rolle der Massen in den Mittelpunkt

Stone rückt in ihrer Inszenierung die Rolle der Massen in den Mittelpunkt. Unterstützt von Choreograph David Williams sucht sie den Weg zu stilisierter Aktion, die der Falle des so gut wie immer unglaubwürdigen Bühnen-„Realismus“ entgeht. Das gelingt nicht durchweg: Die zweite Szene, in der ein junger Adliger (Peter Diebschlag) gelyncht werden soll, sieht ein wenig aus wie eine schlechte Victor-Hugo-Verfilmung.

Aber wenn Stone bei den großen Reden Robespierres und Dantons das Volk wie in Trance wandeln lässt, wenn sie in der Gerichtsszene des zweiten Teils den unheimlichen Sog zeigt, der jede Individualität von den Einzelnen abzieht, machen die gleichgeschalteten Bewegungen dieser Marionetten und ihre mechanischen Reaktionen auf den Bann der Macht deutlich, wie wenig sich der Einzelne, und sei er ein mutiger Revolutionär wie Danton, der Wucht der Masse entziehen kann.

„Wir sind das Volk und wir wollen, dass kein Gesetz sei …“ skandiert eine zwielichtige Menge. Robespierre schafft es, die ungeordnete Menschenschar in Reih‘ und Glied hinter sich zu bringen. „Égalité“ prangt in blutigen Lettern im Hintergrund – und Gottfried von Einems Musik spiegelt das emotional wirksame Pathos, das wir aus den Aufmärschen aller Diktatoren der Welt nur zu gut kennen. Die Statisterie und der von Martin Wagner höchst sicher einstudierte Chor haben diese Szenen bravourös bewältigt und die Faktur der für viele wohl völlig unbekannten Musik bis hin zum „Brüllen“ der Menge anstandslos umgesetzt.

Der „Blutrichter“ zeigt die unheimliche Einsamkeit der Macht

Sobald es um die Rolle von Einzelnen im Getriebe der Revolution geht, wird Stones Regieansatz unschärfer, zeichnet am ehesten noch Robespierre als einsamen Gesinnungstäter durch: Stephen Chaundy färbt seinen Tenor schneidend-gequält, um die eisige Tugend-Ideologie eines Mannes darzulegen, der eine Welt zurücklässt, die er mit den Worten der Bibel für das Chaos vor der Schöpfung beschreibt: wüst und leer. Die unheimliche Einsamkeit der Macht, die glaubt, sie mache sich nicht die Hände schmutzig: Während der Vorhang langsam fällt, zieht sich der „Blutrichter“ der Revolution Handschuhe über.

Szene aus dem zweiten Teil von "Dantons Tod" im Bühnenbild von Ulrich Schulz. Foto: Kirsten Nijhof

Szene aus dem zweiten Teil von „Dantons Tod“ im Bühnenbild von Ulrich Schulz. Foto: Kirsten Nijhof

Danton wird im puffigen Pink eines Vergnügungsetablissements als Epikureer eingeführt, für den „liberté“ wohl eher in Richtung eines Libertinismus zu lesen sei: Jeder möge seine Natur ausleben und auf diesem Wege selig werden. Zu wenig, um die markigen Ansprachen zu erklären, mit denen sich Peter Bording später mit beeindruckender deklamatorisch gefasster Stimmwucht zu verteidigen sucht. Johannes Stermann gibt als Saint-Just den „Mann aus dem Volk“, dessen todbringenden Einfluss auf Robespierre und das Tribunal er mit der Gelassenheit des Siegers ausspielt.

Auch Simon (Paul Sketris) ist eine zwielichtige Figur, die mit roter Mütze als Einpeitscher oder williges Echo durch die Szene geistert. Amar Muchhala bemüht sich nach Kräften, mit seinem schlank-klaren Tenor den Alpträumen des traumatisierten Camille Desmoulins im Gefängnis Ausdruck zu geben, wird aber szenisch von der Regie eher allein gelassen.

Eine Oper für Frauen ist „Dantons Tod“ wirklich nicht; dennoch war die Rolle der Lucile bei der Uraufführung in Salzburg mit Maria Cebotari prominent besetzt. In Magdeburg tritt Noa Danon in die Fußstapfen ihrer großen Vorgängerin und erfüllt die entscheidenden Szenen am Ende des dritten und des sechsten Bildes mit Stimmglanz und Gestaltungskraft. Wenn sie über den Leichen das alte Volkslied „Es ist ein Schnitter, der heißt Tod“ anstimmt, fasst sie das Elend des einzelnen Menschen angesichts des grässlichen Fatalismus der Geschichte in einem anrührenden Moment zusammen. Über ihr glänzen die Schlagworte der Revolution auf der Schneide einer riesigen Guillotine im Blut.

Handwerklich sattelfeste Musik

Gottfried von Einems Musik lässt hören, dass sich da jemand mit dem Studium des „strengen Kontrapunkts“ handwerklich sattelfest gemacht hat, bevor er dem Genius der Inspiration freien Flug zugestand. Die hochdifferenziert ausgearbeitete Partitur gebraucht die Mittel des Orchesters sich souverän beschränkend, kammermusikalisch filigran, aber auch mit Gewicht und Klangpracht, wenn es auf (falsches) Pathos oder aufgewühlte Massenszenen ankommt.

Kimbo Ishii und das Magdeburger Orchester widmen sich der Musik mit Klangsinn und Präzision, lassen hören, wie sich von Einem der tonalen Tradition zugehörig fühlt, aber sich auch die Freiheit zu einer Moderne nimmt, die sich nicht an den damals tonangebenden Richtungen zeitgenössischer Musik orientiert.

Schöne Melodie für zwei Henker

Die schönste Melodie erfindet von Einem für die beiden Henker (Frank Heinrich und Alejandro Muñoz Castillo), die nach getaner Arbeit nach Hause gehen: Ganz „normale Männer“, die den schönen Mond besingen – so wie die Hunderttausende von Tätern des Dritten Reiches. Ein Hinweis auf die Gefährlichkeit des deutschen romantischen Gefühls, der schaudern lässt.

Von Einems Oper ist ein Werk kultivierter Autoren für ein gebildetes Publikum, ein kaum dramatisch motiviertes Philosophieren in Musik. Der Hunger nach Geist hat im Jahr 1947 dieses Werk sicher mit Sehnsucht begrüßt. Dass diese Reflektion über die Bedingungen und Grenzen der Freiheit und der an Büchner angelehnte fatalistische Blick auf den Lauf der Geschichte in den achtziger und neunziger Jahren aus der Zeit gefallen schien, ist verständlich. Heute, mit dem Plärren des „Volks“ im Hintergrund, blitzt in „Dantons Tod“ wieder eine Zeit-Aktualität auf, die es lohnend macht, sich jenseits einer Gedenkveranstaltung zum 100. Geburtstag eines verdienten Autors mit dem Stück zu beschäftigen.

Magdeburg war der mutige Vorreiter – die bisher einzige deutsche Bühne, die sich in dieser Spielzeit an von Einem gewagt hat. Es folgt noch „Der Besuch der alten Dame“ in Radebeul am 26. Mai. Wien würdigt von Einem mit der Premiere von „Dantons Tod“ an der Staatsoper am 24. März und von „Der Besuch der alten Dame“ im Theater an der Wien am 16. März 2018.




Kein dürres Gedenkdatum: Was mir der Élysée-Vertrag und die deutsch-französische Freundschaft persönlich bedeuten

Da durften wir uns noch kohlrabenschwarz anmalen: Lang zurückliegender deutsch-französischer Moment. (Foto: pivat)

Da durften wir uns noch kohlrabenschwarz anmalen: Lang zurückliegender deutsch-französischer Moment. (Foto: pivat)

Was sehe ich denn da im Gedenktagekalender? Der deutsch-französische (oder auch französisch-deutsche) Élysée-Vertrag jährt sich heute zum 55. Mal? Für mich ist das kein abstraktes Datum aus ferner Vergangenheit. Es ist mit persönlicher Bedeutung angefüllt. Lasst mich kurz davon erzählen.

Der französische Staatspräsident Charles de Gaulle und Bundeskanzler Konrad Adenauer unterzeichneten das historische Vertragswerk am 22. Januar 1963. Damit wurde die fürchterliche „Erbfeindschaft“ zwischen beiden Ländern, die in den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts so viele Menschenleben kostete, höchst offiziell und feierlich beendet. Und es blieb gottlob keine bloße Symbolik.

Tatsächlich herrscht seit 1945 und erst recht seit 1963 dauerhafter Frieden zwischen diesen beiden Völkern, etwaige Konflikte klärt man zeitnah bei regelmäßigen Konsultationen. Dabei spielt es bisher keine Rolle, welche Regierung jeweils am Ruder ist. Und die europäische Einigung wäre ohne Frankreich und Deutschland nicht so immens vorangeschritten – mancherlei Mängel inbegriffen, von denen wir aber jetzt einmal absehen wollen.

Dortmund verkündete schon 1960 Partnerschaft mit Amiens

Im Gefolge des Vertrages gab es nicht nur zahlreiche Jugendbegegnungen zwischen beiden Ländern, es entstanden auch etliche Städtepartnerschaften. Dortmund war ganz früh mit von der Partie, schon vor dem Élysée-Vertrag. Man knüpfte Verbindungen zu Amiens und proklamierte die Partnerschaft bereits 1960. Just aus Amiens kamen die Kinder, mit denen fortan viele Dortmunder Kinder- und Jugendgruppen einige Wochen der Sommerferien verbrachten. Ich durfte mehrmals dabei sein. Schon kurz nach der Anfangsphase. Welch ein Glück des Beginnens.

Urlaub mit meinen Eltern habe ich so gut wie gar nicht erlebt, höchstens mal ein paar Tage an der holländischen Küste oder in der Eifel. An Fliegen oder gar Fernreisen war noch nicht zu denken, ein eigenes Auto hatten wir damals auch nicht. Statt dessen ging’s – erstmals mit elf Jahren – mit dem Bus auf deutsch-französische Gruppenreisen, zunächst dreimal nach Mollseifen im Sauerland, später nach Rieseberg/Königslutter (Niedersachsen), einmal auch nach Sanary in Süfrankreich und nach Marina di Massa in Italien.

Wie Pfadfinder am Lagerfeuer - die französischen Jungs Jacques, Eric und Marc aus Amiens. (Foto: privat)

Nach Pfadfinder-Art am Lagerfeuer: die französischen Jungs Jacques, Eric und Marc aus Amiens. (Foto: privat)

Herrliches Gemeinschaftserlebnis

Sauerland klingt für heutige Begriffe vielleicht langweilig, war aber als Gemeinschaftserlebnis wunderbar und teilweise abenteuerlich nach Pfadfinder-Art. Allein die Schnitzeljagden, Budenbauten und Indianerspiele in den Wäldern… Ich will nicht behaupten, dass man davon bis heute zehrt. Aber unvergesslich sind so manche Augenblicke doch. Und es will mir scheinen, als sei dies noch wirkliche Kindheit gewesen.

Leider hatten wir anfangs in der Schule noch keinen Französisch-Unterricht, so dass die Kommunikation überwiegend nonverbal erfolgen musste. Doch wie gut das unter uns Kindern ging! Für Zweifelsfälle waren da ja auch noch ein sprachkundiger „Moniteur“ bzw. eine „Monitrice“ (GruppenleiterIn). Wenn wir zusammen durch die Wälder streiften, hitzige Wettspiele austrugen, miteinander malten oder einander Lieder aus dem jeweiligen Land vorsangen, spielte Sprache eh nur eine Nebenrolle.

Die Jungs aus Frankreich waren galanter

Mit der Zeit bemerkten wir auch Unterschiede, die teilweise den Klischees entsprachen: Gleichaltrige französische Jungs waren einfach „früher dran“ und entschieden frecher, was den galanten Umgang mit Mädchen anbelangte; die französischen Mädchen wiederum hatten – wie soll man sagen – vielfach mehr Geheimnis und schon früh etwas Apartes, Anmutiges. Oder war’s eher das lockende Unbekannte, das einen verwirrte? Allein, dass sie mit so wohlklingenden Lauten sprachen, deren Wortsinn sich einem nicht erschloss. Jedenfalls glaube ich, dass aus der Zeit meine – und nicht nur meine – spätere Vorliebe für französische Filme (Truffaut, Rohmer, Rivette etc.) herrührte. Ja, in jenen Ferienzeiten erfuhren wir vielleicht einen Hauch von Nouvelle Vague…

Ich erinnere mich an jenen Tag, als abends „Teppichtanz“ gespielt wurde, in dessen Verlauf man sich unschuldige Küsschen geben durfte. Doch schon das brachte uns ca. Dreizehnjährige einigermaßen in (bestenfalls halbwegs begriffene) Wallung. Sagte nicht eine Monitrice nach Ende des Spiels zu ihrem Kollegen, das habe uns wohl zu sehr aufgeregt? Was sie wohl gemeint hat? Wenn Adenauer und de Gaulle geahnt hätten, was sie uns da beschert haben… Adenauer hätte vielleicht mit rheinischem Zungenschlag einen seiner Lieblingssätze gesagt: „Meine Herren, die Situation ist da…“

„Hitler – c’est fini…“

Und der Krieg? War anfangs noch keine 20 Jahre her, spielte aber unter uns Kindern praktisch keine Rolle mehr. Alles schmeckte so herrlich nach Neuanfang. Einmal sagte ein kleiner Franzose mit plötzlichem Ernst zu uns: „Hitler (sprich: „Itlère“) – c’est passé, c’est fini!“ Hatten sie ihm zu Hause wohlmeinend aufgetragen, das zu sagen? Egal. Jedenfalls haben wir ihn verstanden und waren wirklich erleichtert.

Diese bedeutsamen kleinen Momente. So unscheinbar, doch noch nach Jahrzehnten präsent.




Vom fernen Freigeist fasziniert – Werner Streletz‘ Versuch über den französischen Dichter Robert Desnos

Man tritt dem Bochumer Autor Werner Streletz wohl nicht zu nahe, wenn man ihn einen fleißigen, produktiven Schreiber nennt.

2011 erschien „Volkers Lied der Nibelungen. Eine Annäherung“, 2013 der Roman „Rohbau“, 2014 „Gewaltig endet so das Jahr. Meine Tage mit Georg Trakl“. 2016 folgte wiederum ein autobiographisch getönter Roman: „Rückkehr eines Lokalreporters“.

Im Umkreis des Surrealismus

Und nun liegt, noch 2017 erschienen, ein freilich nur 66 Seiten schmaler Band mit dem Titel „Der freieste aller Dichter vor“, der als Novelle firmiert und in dem Streletz Annäherungsversuche an den französischen Dichter Robert Desnos (1900-1945) unternimmt.

Streletz ist geradezu getrieben vom Impuls, zumal in der Literatur-, Theater-, Film- und Rockmusik-Geschichte Geistesverwandtschaften aufzuspüren oder – wer weiß – vielleicht auch erst zu kreieren. Nun also Robert Desnos, der vor allem als sprühend inspirierter Lyriker im Umkreis der Pariser Surrealisten auftrat, sich aber von deren selbsternanntem „Papst“ André Breton keineswegs vereinnahmen ließ und auch dessen kommunistische Orientierung nicht teilte.

„Der freieste aller Dichter“

Unterdessen verdingte sich Desnos als durchaus fähiger Journalist und „Werbefuzzi“, um mit Streletz zu reden. Das Ehrenzeichen, „der freieste aller Dichter“ zu sein, bekam Desnos vom Schriftstellerkollegen Paul Eluard angeheftet.

Werner Streletz zeigt sich durchweg angetan, ja fasziniert vom französischen Freigeist und imaginiert die eine oder andere Begegnung mit diesem „Sekretär des Unbewussten“ – nach dem Leitmotto „Wenn ich ihn gekannt hätte…“ Es ist, als wolle sich der Bochumer partout eines weiteren Vorläufers oder zumindest Anregers versichern.

Einmal verfassen die beiden sogar quasi ein Gedicht miteinander, genauer: Der Bochumer ermuntert Desnos, in einer schwachen Stunde wieder in seine literarische Spur zu finden. Zuweilen fallen Streletz zu Begebenheiten aus Desnos‘ Biographie eigene Erinnerungen aus der Ruhrgebiets-Kindheit ein. So beispielsweise, wenn es um die Angst vor dem eigenen Vater geht.

Nicht alles will sich zueinander fügen

Doch nicht immer will sich das wirklich zueinander fügen. Manches wirkt eher wie zwanghaft herbeigeschrieben. Die Lebensläufe lassen sich natürlich nicht ohne weiteres miteinander kurzschließen. Und man fragt sich im Lauf der Lektüre, ob Werner Streletz vielleicht gerade auch die Schwierigkeit herausstellen wollte, sich solch einer literarischen Gestalt tatsächlich zu nähern. Der unentwegt betonte Modus des „Es wäre möglich, dass…“ würde sich somit teilweise als illusorisch erweisen.

Robert Desnos mit seiner Gefährtin Youki Foujita im Jahr 1933. (Foto: Archives Desnos / Menerbes - public domain / gemeinfrei bei Wikimedia Commons)

Robert Desnos mit seiner Gefährtin Youki Foujita im Jahr 1933. (Foto: Archives Desnos / Menerbes – public domain / gemeinfrei bei Wikimedia Commons)

Es ist eine manchmal geradezu leichtfertige, dann aber auch wieder recht mühselige Annäherung, in deren Verlauf Streletz zuweilen auch sprachlich sehr vorsichtig tastend und manchmal geradezu umständlich zu Werke geht. Hie und da droht er sich in Zeitebenen und konjunktivischen Formen geradewegs zu verheddern. Ein literarischer Draufgänger ist er nicht; eher schon einer, der sich immerzu in Frage stellt.

Tod im KZ Theresienstadt

Etwa in der Mitte des Textes ist es aufs Schrecklichste vorbei mit der einst herrlich behaupteten Freiheit der Kunst und des Künstlers. Die Nazi-Truppen sind in Frankreich einmarschiert und können sich auch auf Denunzianten und Kollaborateure stützen. So kommt es, dass auch Robert Desnos, der für die Résistance im Untergrund gearbeitet und zuvor mit der Japanerin Youki Foujita ein privates, jedoch auch öffentlich zelebriertes Glück gefunden hat, verhaftet und nacheinander in verschiedene Konzentrationslager deportiert wird. Kurz nach der Befreiung des Konzentrationslagers Theresienstadt stirbt Desnos dort unter absurd tragischen Umständen am 8. Juni 1945.

Überflüssig zu sagen, dass eine „Annäherung“ an den französischen Dichter mit dieser Zeit in der Hölle noch unendlich problematischer, wenn nicht vollends unmöglich wird. Was zuvor streckenweise mühselig erschien, wird nun in jeder Hinsicht quälend.

Im letzten Satz der Novelle (wir wollen hier nicht über Gattungs-Definitionen streiten) schwingt denn auch leise Resignation mit: „Seltsam eigentlich, dachte ich: Vielleicht ist das alles doch schon zu lange her.“

Werner Streletz: „Der freieste aller Dichter. Unterwegs mit Robert Desnos“. projekt verlag, Bochum/Freiburg. 66 Seiten. 12,80 Euro.

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Nachspann

P.S.:

Eine heitere Gedichtprobe von Desnos, die in Streletz‘ Buch zitiert wird und von Morgenstern oder Ringelnatz stammen könnte – oder auch von Villon:

Der Pelikan

Der Kapitän Jonathan
Fing schon mit 18 Jahr’n
Eines Tages einen Pelikan
Auf einer Insel im Ozean.

Der Pelikan von Jonathan
Legt morgens ein schneeweißes Ei,
Und daraus schlüpft ein Pelikan
Der ihm erstaunlich gleicht.

Und dieser zweite Pelikan
Legt auch ein schneeweißes Ei,
Aus dem schlüpft unvermeidlich dann
Ein neuer und tut es ihm gleich.

Ich glaub, dass dies so ewig währte,
wenn man sie nicht vorher als Omelett verzehrte.

P.P.S.:

Zufallsfund während der Streletz-Lektüre: „Der freieste Schriftsteller aller Zeiten“ war – nach dem Urteil von Friedrich Nietzsche – übrigens (auch) Laurence Sterne („Tristram Shandy“), ein unübertroffener Großmeister der Abschweifungen.

P.P.P.S.:

Und noch ein Fund, verzeichnet im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek; eine ausgesprochene Rarität, sogar mit Ruhrgebiets-Bezug: Anno 2008 ist in der von Louis Flamel betriebenen Dortmunder edition alicorn ein druckgraphisches Mappen-Buch über Robert Desnos erschienen: „L’étoile de mer oder die Sirene des Schlafs. Robert Desnos & Louis Flamel“. edition alicorn. Trémoigne (= Dortmund) 2008.

 




Diese wunderbare Vielfalt auf dem Planeten – mit den Reisefilmen auf 3sat wachsen Neugier, Staunen und Verstehen

Jüngst habe ich ein Filmgenre für mich (wieder)entdeckt, dem ich zuvor – aus unerfindlichen Gründen – wenig Aufmerksamkeit geschenkt habe.

Teilstück der legendären Route 66, die heute abseits der Hauptstrecken liegt. (Foto: © ZDF/SRF, RTS)

Teilstück der legendären Route 66, die heute abseits der Hauptstrecken liegt. (Foto: © ZDF/SRF, RTS)

Es begab sich auf dem Umweg über die Internet-Seite www.sendungverpasst.de Wenn man da einmal zu stöbern beginnt, findet man so allerlei Sehenswertes in den diversen Mediatheken. Ich bin vor allem bei 3sat hängen geblieben, genauer: bei den zahlreichen Dokumentarfilmen über fremde und zumeist ferne Länder.

So bin ich jetzt in wenigen Tagen filmisch nach Tasmanien, Tokio und über die legendäre Route 66 quer durch die USA sowie durch den nordwestkanadischen Polarwinter gereist. Mal schauen, wohin es mich demnächst so treibt, wahrscheinlich erst einmal zum Aufwärmen in die Südsee. Auch wenn das alles natürlich keine echten Reisen ersetzen, sondern bestenfalls anregen kann, nimmt man auf solchen Wegen doch schon ein paar Eindrücke mit.

Von Tasmanien bis kurz vor den Nordpol

Nehmen wir den Filmen die Befunde einfach mal ab: Welche wunderbaren, inzwischen freilich auch schon bedrohten Refugien seltene Tierarten in Tasmanien vorfinden, wie sehr sich Einzelne dafür engagieren! Wie verblüffend regelhaft rund 37 Millionen Japaner in der weiteren Agglomeration von Tokio miteinander und einsamst ohne einander leben, so dass sich viele von ihnen Gesprächspartner(innen) stundenweise mieten, während sie mit ihren direkten Nachbarn oft kein einziges Wort wechseln. Wie staunenswert aufgeräumt und wie wenig aggressiv diese Megalopolis erscheint.

Straße im Tokioter Vergnügungsviertel Kabukicho. (Foto: © ZDF/SR/Stephan Düfel)

Straße im Tokioter Vergnügungsviertel Kabukicho. (Foto: © ZDF/SR/Stephan Düfel)

Und weiter: Was für sympathisch eigenwillige Leute entlang der längst nostalgisch gewordenen Route 66 leben, die durch acht Bundesstaaten von Chicago bis Los Angeles führt. Vergesst mal allen sonstigen Ärger über „die“ Amis, solche Zuschreibungen sind eh meistens Quatsch; hier begegnet man jedenfalls prächtigen Typen! Und wie heroisch die Menschen im äußersten Nordwesten Kanadas irrsinnige Temperaturen mit Blizzards als schiere Alltagszutaten ertragen, so dass sie bei Minus 15 Grad schon aufatmen und den nahenden Frühling wittern. Man sollte daran denken, wenn man das nächste Mal über lachhaft kleine Schneehügelchen jammert.

Mit wachen Sinnen unterwegs

Obwohl 3sat als renommierter Kultursender gilt, sind die vier erwähnten Dokus nicht einmal sonderlich tiefgründig, sie dringen (in jeweils nur rund 45 Minuten) kaum wesentlich in verborgene Schichten des gesellschaftlichen Lebens vor, sie folgen ihren mehr oder weniger vorgezeichneten Spuren aber mit wachen Sinnen und ausgeprägt ästhetischem Sensus, immer bereit, am Wegesrand noch etwas Neues wahrzunehmen.

Jeder dieser Filme bringt Besonderheiten ans Licht, die es so nur in den jeweiligen Gegenden gibt. Doch eines haben sie letztlich alle gemeinsam: Man begreift noch einmal neu die ungeheure Vielfalt auf diesem Planeten, die sich hoffentlich durch jede Globalisierung hindurch fortsetzen wird. Man lernt, verschiedenste Fähigkeiten zu bewundern, etwaige spezielle Schwächen zu verstehen und überhaupt tausend Lebensformen nicht nur zu tolerieren, sondern zu schätzen. Ein Grundgefühl dabei: Freundliche, warmherzige Menschen, die gleich für sich einnehmen, gibt es gottlob überall. Und auch solche, deren Eigenarten oder Schroffheiten man eben zu akzeptieren hat. Dass unser gutes altes Europa bei all dem nicht im Zentrum, sondern gleichrangig neben anderen Weltzonen steht, versteht sich von selbst.

Und nun schaut. Oder noch besser: reist.




Suche nach dem Gral – Peter Handke (75) und sein neues Werk „Die Obstdiebin oder Einfache Fahrt ins Landesinnere“

Gastautor Frank Dietschreit über das neue Buch von Peter Handke, der gestern (6. Dezember) 75 Jahre alt geworden ist:

Er weiß um „Die Angst des Tormanns beim Elfmeter“ und wie schwer „Das Gewicht der Welt“ wiegt. „Wunschloses Unglück“ hat er erfahren und „Die Stunde der wahren Empfindung“ durchlebt. Wenn er sich nicht gerade der „Publikumsbeschimpfung“ widmet und sich zum „Bewohner des Elfenbeinturms“ stilisiert, fließt ihm „Der kurze Brief zum langen Abschied“ aus der Feder.

Peter Handke, seit gestern 75 Jahre alt, hier eine Aufnahme von 2006. (GFDL Free Documentation License / Wikipedia - © Wild + Team Agentur UNI Salzburg - Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/)

Peter Handke, seit gestern 75 Jahre alt, hier eine Aufnahme von 2006. (GFDL Free Documentation License / Wikipedia – © Wild + Team Agentur UNI Salzburg – Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/)

Selbst wer nie einen Roman von Peter Handke gelesen oder eines seiner Theaterstück gesehen hat, kennt die zu poetischen Gemeinplätzen und literarischen Sprichwörtern gewordenen Titel seiner Werke.

Peter Handke, am 6. Dezember 1942 in Kärnten geboren, zählt, auch wenn er seit vielen Jahren in einem verwunschenen Haus in der Nähe von Paris lebt, zu den bekanntesten deutschsprachigen Schriftstellern der Gegenwart. Lange Zeit war er, der zusammen mit Filme-Macher Wim Wenders den „Himmel über Berlin“ engelsgleich erstrahlen ließ, so etwas wie der Lieblingsautor der linken Kultur-Schickeria.

Mit vielen Leuten hat er es sich verscherzt

Doch seit er eine „winterliche Reise“ auf den von blutigen Bürgerkriegen zerstörten Balkan unternahm, gar „Gerechtigkeit für Serbien“ forderte und beim Begräbnis von Massenmörder Milosevic als Grabredner auftrat, hat Handke, der gern gegen den politischen Mainstream anschwimmt und auf politische Korrektheit pfeift, es sich mit den meisten ehemaligen Fans und Freunden gründlich verscherzt. Nur mit spitzen Fingern werden seine Bücher noch zur Kenntnis genommen.

Aber das dürfte dem fröhlich in seiner weltabgewandten „Niemandsbucht“ hockenden Handke ziemlich schnuppe sein, hat er seinen Kritikern und vielen Kollegen doch immer schon eine notorische „Beschreibungs-Impotenz“ attestiert und ihre Literatur als „idiotisch“ und „läppisch“ beschimpft. Dass Handke sich nun zu seinem 75. Geburtstag mit einem Buch beschenkt, das vollgepackt ist mit literarischen Anspielungen und poetischen Fantasien, die nur er selbst wirklich verstehen und genießen kann, liegt auf der Hand.

Märchen, Meditation, Gebet und Gesang

„Die Obstdiebin oder Einfache Fahrt ins Landesinnere“ trägt Züge eines Alterswerks und wirkt, als wolle Handke seinen Nachlass sichten. Die zwischen Märchen und Meditation, Gebet und Gesang angesiedelte Geschichte beginnt „an einem jener Mittsommertage, da man beim Barfußgehen im Gras zum ersten Mal im Jahr von einer Biene gestochen wird.“

Der Erzähler, Handke selbst, bricht von Chaville bei Paris auf zu einer dreitägigen Reise ins Umland, in die Picardie, die Kornkammer Frankreichs. Doch bis er sein Haus aufgeräumt, das Gartentor verschlossen und sein Bahnticket gekauft hat, sind schon fast 100 Seiten vergangen. Alles was er erlebt, sieht und denkt, muss noch schnell aufs Papier.

Und kaum sitzt er im Zug, glaubt er sie unter den Mitreisenden zu erkennen, Alexia, die Obstdiebin, auf deren Spuren er sich begeben, die er beobachten und begleiten möchte auf ihrem Weg zu einem Familientreffen. Der mit dem Handke-Kosmos vertraute Leser kennt sie aus dem Theaterstück „Die Unschuldigen, ich und die Unbekannte am Rand der Landstraße“: Dort huschte sie einmal als „Parzivals Schwester“ und „im Gewand einer Obstdiebin“ durch die an Wolfram von Eschenbach erinnernde Szenerie.

Am Wegesrand alles Vorhandene aufsammeln

Wolframs Geschichte von der Gralssuche spielt auch jetzt wieder eine mit kulturgeschichtlichen Querweisen verkomplizierte Rolle und ergibt reichlich Stoff für viele neunmalkluge Seminararbeiten. Schauen wir lieber auf die Diebin, die alles aufsammelt, was sie am Wegesrand so findet, Obst, Blumen, Menschen und Gedanken. Kaum hält der Zug auf freier Strecke, eilt sie über die Stoppelfelder davon. Der Erzähler hinterher. Er hört jetzt auf, von sich und seinen Befindlichkeiten zu sprechen, sondern denkt sich ganz in die junge Frau hinein und beschreibt nur, was sie sieht und fühlt.

Mal übernachtet sie in einer aus der Zeit gefallenen trostlosen Herberge, mal gabelt sie einen melancholischen Jungen auf und rettet ihn vorm Selbstmord. Mal sitzt sie am Rande eines Dorfplatzes und beobachtet das Treiben, als wären wir in Handkes Schauspiel über „Die Stunde, da wir nichts voneinander wussten“. Sie ist eine Wahlverwandte von Handkes Tochter Léocadie, die einmal in der Erzählung von der „morawischen Nacht“ auftrat und nun für den Rapper Eminem schwärmt. Überhaupt spielt Handke auf der Klaviatur der Pop-Musik, zitiert, wie in seinem „Versuch über die Jukebox“, die Beatles herbei, Janis Joplin und Johnny Cash.

„Der Schuh im Straßengraben war ein Schuh im Straßengraben“

Die Geschichte der streunenden Obstdiebin, die vielleicht nicht den Gral, aber dafür in tiefster Provinz Vater, Mutter und Bruder wiederfindet, kennt keine Begründung und ihre Figuren haben keine Psychologie. Auf die Frage „Warum?“ antwortet der Erzähler: „Kein Warum“. Für die Obstdiebin wie für Handke gilt: „Alles war, was es war. Der Schuh im Straßengraben war ein Schuh im Straßengraben. Und das jetzt ist das, und das jetzt das, und so fort.“

Eigentlich unterscheidet sich der von unzähligen Frage- und Ausrufezeichen, Gedankenstrichen und Reflexionen unterbrochene Erzählstrom kaum von all seinen Vorgängern. Doch dann schwappt der Terror, die allgegenwärtige Bedrohung und Verunsicherung immer mal wieder ans Ufer der Realität. Nachrichten flackern durchs Bild, bewaffnete Polizisten sichern das Terrain, verschleierte Frauen verbreiten Furcht.

Nch drei Tagen Fahrt ins Landesinnere ist alles erlebt und alles gesagt, ist „jede Stunde dramatisch gewesen, auch wenn sich nichts ereignete.“ Jetzt aber schnell zurück nach Hause, in die „Niemandsbucht“. Oder doch lieber woandershin, gar etwas Neues wagen?

Peter Handke: „Die Obstdiebin oder Einfache Fahrt ins Landesinnere.“ Suhrkamp, Berlin 2017. 560 Seiten, 34 Euro.

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Stichworte zur Vita:

Geboren wird Peter Handke am 6.12.1942 in Griffen/Kärnten. Einen Teil seiner Kindheit verbringt er im zerbombten Berlin.

1966 wird Handke mit seinem Roman „Die Hornissen“ und dem von Claus Peymann uraufgeführten Stück „Publikumsbeschimpfung“ schlagartig bekannt. Im selben Jahr beleidigt er bei einer Tagung der Gruppe 47 die anwesenden Kritiker und Kollegen, polemisiert gegen politisch engagierte Literatur und erklärt sich zum Bewohner des Elfenbeinturms.

Mehrfach arbeitet er mit Filmemacher Wim Wenders zusammen („Die Angst des Tormanns bei  Elfmeter“, „Der Himmel über Berlin“, „Die schönen Tage von Aranjuez“).

Als er 1996 „Gerechtigkeit für Serbien“ fordert, fällt er bei vielen Kritikern und Kollegen in Ungnade.

Zweimal ist Handke mit Schauspielerinnen verheiratet, zuerst mit Libgart Schwarz, dann mit Sophie Semin.

Seit 1990 wohnt Handke in einem Haus in Chaville bei Paris und unternimmt von seiner „Niemandsbucht“ aus literarische Wanderungen durch europäische Landschaften und Kriegsgebiete.




Eine Begegnung mit dem großen Journalisten Georg Stefan Troller (96) – und ein verdienstvoller Verleger aus Köln

Unser Gastautor Heinrich Peuckmann über eine Begegnung mit dem vorbildlichen Journalisten Georg Stefan Troller, der inzwischen 96 Jahre alt ist. Anlass war die Verleihung des Hermann-Kesten-Preises in Darmstadt:

Diesjähriger Träger des Hermann-Kesten-Preises, gestiftet von der Autorenvereinigung PEN und vom Land Hessen, ist der Kölner Verleger Thomas B. Schumann, der in seinem Verlag Edition Memoria ausschließlich Bücher verfolgter Schriftsteller herausbringt, die vor den Nazis fliehen mussten und die nach dem Ende der Nazizeit oftmals nicht mehr die Anerkennung fanden, die sie vorher gehabt hatten.

Von links: der legendäre Journalist Georg Stefan Troller, der Verleger Thomas B. Schumann und unser Gastautor, der Schriftsteller Heinrich Peuckmann. (Foto: Tanja Kinkel)

Von links: der legendäre Journalist Georg Stefan Troller, der Verleger und Kesten-Preisträger Thomas B. Schumann und unser Gastautor, der Schriftsteller Heinrich Peuckmann. (Foto: Tanja Kinkel)

Es ist eine höchst verdienstvolle Arbeit, die Schumann da für die deutsche Literaturgeschichte leistet und die ihn oft genug an finanzielle Grenzen gebracht hat. Die Laudatio bei der Preisverleihung in Darmstadt war etwas ganz Besonderes, denn sie hielt zur Freude der Veranstalter der Fernsehjournalist Georg Stefan Troller, der, inzwischen 96 Jahre alt, extra aus Paris angereist war.

Troller ist unter den Journalisten eine Institution, sein „Pariser Journal“ im Fernsehen ist unvergessen. Der Bezug zwischen Preisträger und Laudator ist schnell geklärt. Troller veröffentlicht noch jedes Jahr ein neues Buch, gerne in Schumanns Edition. Entsprechend persönlich fiel Trollers Rede aus, in die er das Schicksal einiger der verfolgten Schriftsteller einflocht. Eingeleitet hat er sie aber mit einem schönen Zitat. Nach viel Lob bei seiner Vorstellung zitierte er seinen Vater, einen jüdischen Pelzhändler, der mal zu ihm gesagt hat: „Also Georgie, dass aus dir noch was geworden ist, ich hätte es nicht gedacht.“

Für die US-Army gegen die Nazideutschland gekämpft

Troller ist als österreichischer Jude selbst ein Opfer der Nazis, musste über die Tschechoslowakei und Frankreich in die USA fliehen, wurde dort eingezogen und kämpfte in der US-Army gegen Nazideutschland. Nach dem Krieg blieb er in Europa, fand aber, wie viele Exilierte, keinen Anschluss mehr in seiner alten Heimat und blieb daher in Frankreich. Auch dies ist ein Faktum, dass es zur Kenntnis zu nehmen gilt, genau wie die Tatsache, dass hauptsächlich im Westen die Exilautoren wenig bis gar nicht beachtet wurden, in der DDR dagegen schon.

In der Reihe seines Pariser Journals, in dem er mit sonorer Stimme seine Kommentare vortrug, hat er großartige Sendungen produziert und dabei oft verfolgte Autoren vorgestellt. Dazu gehörte Georg K. Glaser, dessen großartiger Roman „Geheimnis und Gewalt“ etwa alle zwanzig Jahre wiederentdeckt wird. Seine kommunistische Jugend schildert Glaser darin in einer großartig-kraftvollen Sprache, die an Luther erinnert. Von den Nazis wurde er in Abwesenheit zum Tode verurteilt, floh nach Frankreich, kam als französischer Soldat in deutsche Gefangenschaft, aber die Nazis fanden nicht heraus, wer dieser vermeintliche Franzose in Wirklichkeit war. Später blieb auch er in Frankreich und betrieb bis zu seinem Tod 1995 eine Silberschmiede in der Nähe der „Place de la Concorde“.

An Glasers Roman ist die Schilderung seiner Abkehr vom Stalin-Kommunismus besonders interessant, die er beeindruckend schildert. Auch entlarvt er anhand von eindrucksvollen Erlebnissen diese Ideologie. Eines der wenigen Bilddokumente über diesen völlig unterschätzten Autor hat Troller produziert.

Gespräche mit Ezra Pound und William Somerset Maugham

Troller war es auch, dem der große Ezra Pound ein Interview gab, das einzige nach Pounds vielen Jahren in der Psychiatrie. Groß war Pound in zweifacher Hinsicht, in seiner Lyrik nämlich, den Pisaner Elegien – und in seinem schrecklichen Irrtum bei seinen Hetzreden im italienischen Rundfunk für Mussolini. Wie ein solcher Autor beides zusammen bringen konnte, diese großartigen Gedichte, dazu seine absolute Hilfsbereitschaft für andere Autoren und dann die rassistischen Nazireden, wird vielleicht nie ganz zu klären sein. Troller hat er gesagt, dass er nach seinem Irrtum schweige, das sei es, was ihm übrig geblieben sei. Aber er hätte das Schweigen nicht gesucht, es sei zu ihm gekommen. Nach der Preisverleihung hatte ich Gelegenheit, mit Troller darüber zu sprechen. Eine tiefere Erklärung für Pounds Handeln hat auch Troller bis jetzt nicht.

Die ehemaligen Autorenfreunde, die Pound vor der Nazizeit hatte, haben ihn übrigens alle fallen gelassen, Ausnahmen waren William C. Williams, obwohl Pound ihn in seinen Hetzreden auch noch verleumdet hatte – und Ernest Hemingway. Was dann doch für die Menschlichkeit dieser beiden Autoren spricht.

Somerset Maugham hat Troller ebenfalls ein Interview gegeben und dabei tiefe Einblicke in sein Seelenleben gegeben. Das war halt die Stärke von Troller, dass er den Nerv seiner Interviewpartner traf und sie ihm vertrauten. Maugham, der über 80 Bücher schrieb, die fast alle Bestseller wurden, vertraute Troller an, dass er selten in seinem Leben glücklich gewesen sei. An ihm nagten bis ins hohe Alter (auch er wurde über 90) die Demütigungen aus der Jugendzeit, denn Maugham war Stotterer. Der Spott, den er als Kind deswegen ertragen musste, hat ihn lebenslang verletzt.

Wenn das Gegenüber tiefes Vertrauen fasst

Das war es, was Trollers Reportagen so einzigartig macht, der tiefe Einblick in die porträtierten Menschen. Es war seine große Kunst, sein Gegenüber so gut zu verstehen, dass der Vertrauen zu ihm fasste.

Troller ist den damaligen Verantwortlichen in den Sendern dankbar, dass sie ihm die Chance gaben, bei ihnen mitzuarbeiten. Wenigstens hier hat der Exilautor wieder Tritt fassen können. Er hat es den verantwortlichen Redakteuren mit unvergesslichen Reportagen gedankt. Troller hat sich immer dem deutschen Sprachraum zugehörig gefühlt, nur hier wieder heimisch zu werden, das hat er nicht geschafft.

So bleibt ein geteilter Blick auf Troller. Einmal die Freude über seine journalistische Arbeit und der Respekt davor, dann die Wehmut, dass solche Sendungen heute fehlen. Einen zweiten Georg Stefan Troller müsste es geben, habe ich gedacht, als ich ihm in Darmstadt begegnete. Der Original allerdings, das konnten alle Zuhörer bei der Darmstädter Preisverleihung erleben, ist trotz des hohen Alters noch erstaunlich fit. Weitere Bücher in Schumanns Edition Memoria sind bestimmt noch zu erwarten.




Operetten-Passagen (6): Rauschender Erfolg, tragischer Fall – Leben und Werk des „Operettenkönigs“ Paul Abraham

Der junge Paul Abraham auf einer historischen Fotografie.

Der junge Paul Abraham auf einer historischen Fotografie.

Vor 125 Jahren (am 2. November 1892) erblickte, wohl im ungarischen Apatin, eine der prägenden Gestalten der Berliner Operette des 20. Jahrhunderts das Licht der Welt: Paul Abraham, um dessen Leben sich zahllose Mythen und Legenden ranken, hat mit „Viktoria und ihr Husar“, „Die Blume von Hawaii“ und „Ball im Savoy“ in der kurzen Zeitspanne zwischen 1930 und 1932 drei Meisterwerke der „leichten Muse“ geschaffen, bevor er von den Nazis ins Exil getrieben wurde.

In Witten/Ruhr lebt der Journalist Klaus Waller, der seit seiner Jugend von Abrahams Musik und seinem farbigen, selbst an eine Operette erinnernden Leben fasziniert ist.

Der Autor einer Abraham-Biographie erzählt in einem exklusiven Interview mit Werner Häußner über das Leben des „tragischen Königs der Operette“.

Frage: Herr Waller, wie kam es bei Ihnen zu der Begeisterung für den Komponisten Paul Abraham?

Klaus Waller: Für heutige Ohren mag das merkwürdig klingen: In den fünfziger Jahren war es unvermeidlich, den Melodien Paul Abrahams in den Rundfunkprogrammen zu begegnen. Da ich nach dem Krieg aufgewachsen bin und ein begeisterter Radiohörer war, kannte ich alle seine Melodien. Die Filme, die nach seinen Operetten gedreht wurden, habe ich damals allerdings nicht gesehen.

Den Anstoß zur näheren Beschäftigung mit Abrahams Leben gab mir viele, viele Jahre später eine Zeitungsnotiz anlässlich einer Tourneeaufführung von „Die Blume in Hawaii“. In dieser Meldung wurde über seine psychiatrische Erkrankung in New York berichtet. Ich versuchte, mich über Abraham zu informieren, aber es gab nichts. So habe ich mir Literatur besorgt und bin in das Thema ‚reingerutscht‘.

Der Autor und Abraham-Forscher Klaus Waller. Foto: Werner Häußner

Der Wittener Autor und Abraham-Forscher Klaus Waller. (Foto: Werner Häußner)

2012 habe ich dann eine Webseite erstellt. Dort habe ich Fakten gesammelt, die durch veröffentlichtes Material zur Verfügung standen. Die Recherchen zu meinem Buch haben mir gezeigt, dass die Materialien nicht nur lückenhaft, sondern vielfach fehlerhaft waren.

Was hat Sie auf die Spur der Quellen zu Paul Abraham gebracht?

Waller: Das Nachprüfen der Informationen war ein mühevolles Geschäft. Ich entdeckte zunächst viele Widersprüche, auch in den Aussagen von Abraham selbst. Mein wichtigstes Arbeitsmittel beim Mangel an zuverlässigen Quellen war die Prüfung jeder Aussage auf Plausibilität. Die Internet-Seite eröffnete mir neue Kontakte; außerdem bekam ich neues Archivmaterial, etwa von der Franz-Liszt-Akademie in Budapest, das mir dankenswerterweise Magdolna Wiebe von der Ruhr-Uni Bochum übersetzt hat. Dabei zeigte sich: Vom ‚Wunderkind‘ Abraham, als das er sich selbst stilisiert hat, kann keine Rede sein.

Gerade die Zeit, in der Abraham in Budapest studierte und seine ersten Schritte in eine berufliche Existenz startete, liegt im Dunkel. Was haben Sie herausgefunden?

Waller: Die Merkwürdigkeiten beginnen schon mit der Geburt. Alle Quellen und auch Abraham selbst geben das damals ungarische Apatin – heute im Nordwesten Serbiens – als Geburtsort an. Aber ich fand auch heraus, dass in seiner Heiratsurkunde die dortige Kreisstadt Sombor als Geburtsort genannt wurde. Dort wiederum gibt es aber keinen Eintrag im jüdischen Geburtsregister. Abraham ist jedenfalls in Apatin aufgewachsen, wo seine Familie seit Generationen lebte.

Auch die Zeit zwischen 1923 und 1927 bleibt dunkel. Sicher ist, dass Abraham als Börsenmakler gearbeitet hat und nach einem Konkurs im Januar 1924 verhaftet wurde. Keine Belege habe ich dafür gefunden, dass er mit Jazzbands musiziert oder in Kneipen Klavier gespielt habe, wie oft berichtet wird.

1927 taucht er als Kapellmeister am Hauptstädtischen Operettentheater Budapest wieder auf, schreibt 1928 für die Operette „Zenebona“ einige Lieder und führt mit „Der Gatte des Fräuleins“ seiner erste eigene Operette auf – unter anderem mit dem späteren Ufa-Star Marta Eggerth.

Waren seine ersten Operetten erfolgreich?

Waller: Die Rezension zu „Zenebona“ füllt eine ganze Zeitungsseite. Das deutet auf einen großen Erfolg hin. Abraham steht auch als Autor der Operette im Verzeichnis des ungarischen Operettentheaters. Aber der erste internationale Theatererfolg stellte sich erst mit „Viktória“ 1930 ein. Seinen ersten Hit landete Abraham allerdings schon 1929 mit dem Lied „Bin kein Hauptmann, bin kein großes Tier“ aus dem Film „Melodie des Herzens“. Danach hat er in rascher Folge bis 1940 – zuerst in Berlin, nach 1933 in Ungarn – eine Reihe von Filmmusiken geschrieben.

Wie kam es zur Übersiedlung nach Berlin im Sommer 1930? Spielte da der Film eine Rolle?

Waller: Der näherliegende Weg aus Ungarn wäre tatsächlich der nach Wien gewesen, um das Talent aus der ‚ungarischen Provinz‘ zur Geltung zu bringen. Offenbar hatte ihn Erich Pommer nach Berlin empfohlen. Pommer, der Entdecker Marlene Dietrichs und 1930 Produzent von „Der blaue Engel“, hatte in den USA für Paramount und MGM gearbeitet und war bei der UfA als Produzent verpflichtet. Erich Pommer hatte „Melodie des Herzens“ produziert, der als erster deutscher komplett vertonter Spielfilm gilt.

Es folgten knapp drei Jahre rauschhaften Erfolgs in Berlin, bis Abraham im Februar 1933 vor dem Nazi-Terror ziemlich überstürzt aus seiner großzügigen Wohnung in der Berliner Fasanenstraße nach Budapest flüchtete. Wie waren für Abraham die Jahre in Ungarn zwischen 1933 und 1939?

Waller: Auch für diese Jahre ist die Quellenlage dürftig. Nach Auskunft von Abrahams Frau Charlotte war Budapest ihr Lebensmittelpunkt. Abraham fuhr allerdings häufig nach Wien, schrieb die Operette „Märchen im Grand Hotel“, die 1934 im Theater an der Wien uraufgeführt wurde, und landete mit „Roxy und ihr Wunderteam“ 1936 in Budapest und ein Jahr später in Wien noch einmal einen großen Erfolg. Darüber, wie seine weiteren ungarischen Operetten, die nicht übersetzt wurden, aufgenommen wurden, kann ich nicht berichten: Die dortigen Kritiken konnte ich bisher nicht einsehen.

1939 verließ Abraham Ungarn und ging über Paris in die USA. Dort erlitt er nach Jahren der Erfolglosigkeit 1946 einen völligen psychischen Zusammenbruch und verbrachte die Jahre bis zu seiner Rückkehr nach Deutschland 1956 in der Psychiatrie. Was ist über diese Zeit bekannt?

Waller: Abraham schrieb in den USA die Operette „Tamburin“ nach einem Libretto von Alfred Grünwald, die bis heute niemand kennt. Sie ist nie aufgeführt worden; das Material liegt in der Nationalbibliothek in New York. Ich kann nicht einmal sagen, bis zu welchem Grad dieses Werk überhaupt vollendet ist. Mehr würde ich gerne auch über die Jahre nach 1956 wissen, als ein Kreis von Freunden Abraham nach Deutschland zurückgeholt hat. Er kam ja zunächst in die Eppendorfer Psychiatrie, lebte danach aber mit seiner Frau in einer Wohnung in Hamburg. Sicher ist: Er wurde nie wieder in der Öffentlichkeit gesehen. Und der Erzählung nach soll er bis zu seinem Tode geglaubt haben, in New York zu sein.

Wie würden Sie Paul Abraham als Person charakterisieren?

Waller: Abraham war eine einzigartige, ausgesprochen schillernde Person.  Er war wohl äußerst gewinnend, aber auch prahlerisch. Über sein Leben hat er viele widersprüchliche, auch erfundene Angaben verbreitet. Er musste sich selbst stets größer machen, als er war. Und er lebte immer in der Angst vor dem Fall. Seine Tragik ist, dass er höher gestiegen ist, als er es sich je erträumt hätte, aber dafür auch tiefer fiel, als er sich das in seinen schlimmsten Albträumen ausmalen konnte.

Und Abrahams Bedeutung als Komponist? Woher kommt seine Aktualität, die Renaissance seiner Werke?

Waller: Wie bedeutend Abrahams Musik ist, möchte ich nicht beurteilen, da ich kein Musikwissenschaftler bin. Für herausragend halte ich seine melodische Erfindungsgabe. Abraham hat Melodien geschrieben, die nach 100 Jahren immer noch gültig sind. Er hat den Sprung geschafft aus der Walzerseligkeit der alten Wiener Operette in die Moderne mit ihren Jazz-, Show- und Folklore-Elementen.

Das Jazzige, Revuehafte seiner Operetten trifft das Herz unserer Zeit. Die Unruhe und Unsicherheit der Zeit Abrahams, die sich in seinen Werken spiegelt, scheint uns anzusprechen. Heute erkennen wir: Seine Musik ist fetzige Unterhaltung; sie muss raus aus dem Seniorenprogramm.

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Im 125. Geburtsjahr Paul Abrahams gibt es an einigen wenigen deutschen Bühnen Neuinszenierungen und Wiederaufnahmen seiner Operetten:

Nach der deutschen Erstaufführung von „Roxy und ihr Wunderteam“ 2014 in Dortmund zeigt das Theater Augsburg ab 9. Dezember eine neue Produktion der Fußball-Operette. Das Theater Koblenz setzt die Aufführungsserie von „Ball im Savoy“ der letzten Jahre (u.a. in Hagen) fort und bietet bis 18. März 2018 noch 13 Vorstellungen.

Die Komische Oper Berlin, an der sich Barrie Kosky – unter anderem mit einer viel beachteten Inszenierung von „Ball im Savoy“ – sehr für Paul Abraham einsetzt, eröffnet mit einer konzertanten Aufführung von „Märchen im Grand Hotel“ am 17. und 30. Dezember eine Serie, die in den nächsten Jahren unbekannte Abraham-Operetten vorstellen soll.

Die Westfälischen Kammerspiele Paderborn zeigen ab 27. Januar in einer Regie von Ingmar Otto Abrahams Hit „Die Blume von Hawaii“. Auch in Hildesheim hat die turbulente Operette am 5. Mai 2018 Premiere; es dirigiert Florian Ziemen, der sich mit historisch-kritischen Aufführungen von Operetten einen Namen gemacht hat. Ab 27. Januar 2018 spielt das frisch renovierte Gärtnerplatztheater in München Abrahams ersten internationalen Erfolg, „Viktoria und ihr Husar“.

Zur ausführlichen Information über das Leben des Komponisten:

Klaus Waller: „Paul Abraham. Der tragische König der Operette“. 240 Seiten. Erschienen 2017 in zweiter Auflage als book on demand und für 14,90 im Buchhandel erhältlich (ISBN 978-3-7431-4328-9).

 




Auf Fehmarn und Kreta, zwischen Hendrix und Dylan: Plötzlich drängen sich Erinnerungen an die 60er und 70er Jahre auf

Es war nicht geplant, es hat sich einfach so ergeben. Auf meinen/unseren letzten beiden Reisen hat sich eine gewisse Andacht auf Popmusik-Größen vergangener Zeiten gerichtet bzw. auf diese vergangenen Zeiten selbst. Der Geist der Orte war freilich nicht mehr ohne weiteres spürbar, er waberte nicht von selbst, man musste ihn schon willentlich beschwören.

Mit bescheidenen Mitteln "Love and Peace" beschwören: Jimi-Hendrix-Gedenkstein auf Fehmarn. (Foto: Bernd Berke)

Gemeißelte Gitarre mit eingelassener Blumenvase und knapper Inschrift – mit solch bescheidenen Mitteln wird „Love and Peace“ beschworen: Jimi-Hendrix-Gedenkstein auf Fehmarn. (Foto: Bernd Berke)

Kommen wir zur Sache.

Im Sommer ging es hinauf nach Fehmarn. Was nicht jeder Rockfan weiß: Dort hat einst der geniale Gitarrist Jimi Hendrix das allerletzte Live-Konzert seines Lebens gegeben – exakt datiert: am Sonntag, dem 6. September 1970. Nur zwölf Tage später ist er in London gestorben.

„Woodstock an der Ostsee“?

Laut Reiseführer und anderen Quellen hatten seinerzeit drei – in derlei Dingen völlig unerfahrene – Kieler Jungspunde ein dreitägiges Festival aus dem insularen Boden gestampft und dafür nicht „nur“ Hendrix, sondern mal eben auch Ten Years After, Canned Heat, Taste und andere Spitzenbands jener Jahre engagiert. Sie wollten quasi ein „Woodstock an der Ostsee“ stemmen.

Das Ganze scheiterte freilich nicht nur am stürmischen Regenwetter, sondern vor allem am organisatorischen Chaos mit Hamburger Rockern als „Ordnungs“-Kräften, die am Schluss das Festivalzentrum abfackelten, weil es nicht sofort Geld für ihre zweifelhaften Dienste gab.

Regen damals, Regen jetzt

Trotz alledem überwog bei vielen Besuchern die Sehnsucht nach „Love & Peace“, die sich später zusehends in Nostalgie verwandelte. So nimmt es nicht Wunder, dass heute ein recht unscheinbarer Gedenkstein (unsere Tochter, generationsbedingt von keinerlei Hippietum angekränkelt: „Der ist aber ipsig“) auf dem früheren Festival-Gelände am Flügger Strand wehmütige Erinnerungen weckt. Gar manche(r) pilgert hin, so auch wir. Übrigens bei heftigem Regen, der just einsetzte, als wir uns dem Steine näherten. Ein Zeichen, ein Zeichen! Aber wofür bloß?

Auch hier ist "Love and Peace" angesagt: Wandbild in der Nähe der Höhlen von Matala/Kreta. (Foto: Bernd Berke)

Auch hier ist „Love and Peace“ angesagt: Wandbild in der Nähe der Höhlen von Matala/Kreta. (Foto: Bernd Berke)

In den Herbstferien lag jetzt noch eine kurze letzte Sonnenwoche auf Kreta an. Licht schöpfen für den langen Winter. Und siehe da, ob nun Zufall oder nicht: Wiederum manifestierten sich die 60er und 70er Jahre an einer bestimmten Stätte auf unseren Wegen, nämlich in Matala. Kreta-Kenner haben sicherlich zumindest von den dortigen Felshöhlen gehört oder sie aufgesucht, die in frühchristlicher Zeit als Gräber genutzt wurden.

Hippies in den Höhlen

In den späten 60er und frühen 1970er Jahren kamen dann Hippies aus aller Welt hierher, darunter im Gefolge auch Bob Dylan und Cat Stevens, der damals eine Größe war, sich aber leider längst aus dem Olymp des Rock verabschiedet hat. Ja, das musste mal wieder gesagt werden.

In den Höhlen von Matala gab es, wie man sich denken kann, keinerlei sanitäre Einrichtungen, so dass… Nun ja, auch das kann man sich sozusagen olfaktorisch vorstellen. Doch man mag es nicht tun. Lieber blumig erinnert als erstunken.

Im milden Licht des Spätnachmittags: Blick auf die Felshöhlen von Matala. (Foto: Bernd Berke)

Im milden Licht eines Spätnachmittags: Blick auf die Felshöhlen von Matala. (Foto: Bernd Berke)

Heute jedenfalls sind die meisten Geschäfte rings um die Höhlen auf Touristennepp ausgerichtet. Man sollte ihnen nicht auf den Leim gehen. Ein paar Kilometer weiter normalisieren sich Freundlichkeit und Preise.

Und wo bleibt der ästhetische Mehrwert?

Auch in Matala sucht man, noch deutlich unbeholfener und naiver als auf Fehmarn, ausdrücklich „Love & Peace“ zu beschwören. Doch angesichts der beiden Gedenkorte im Norden und Süden wage ich melancholisch zu behaupten: So sehr diese Musik einmal befreiend und belebend gewirkt hat; bei Licht und nüchtern aus der Distanz betrachtet, zeitigt die bloße Erinnerung an große Zeiten von Rock und Pop ästhetisch nicht unbedingt fruchtbareren Mehrwert als die heimelige Tümelei vorheriger Generationen. Beweist mir doch bitte das Gegenteil!




Beunruhigend kontemplativ: „Kleine Seelen“ nach Louis Couperus bei der Ruhrtriennale

Die Ruhrtriennale 2017 ist zu Ende, wieder mal erfolgreich, wieder mit guten Auslastungszahlen und viel Lob von allen Seiten. Der turnusgemäß scheidende Intendant Johan Simons, künftiger Schauspielchef in Bochum, hat die menschliche, emotionale Dimension der Werke in den Vordergrund geschoben.

Szenenbild aus "Kleine Seelen" (Foto: Jan Versweyfeld / Ruhrtriennale)

Szenenbild aus „Kleine Seelen“ (Foto: Jan Versweyfeld / Ruhrtriennale)

Die Industriekulissen sind nach wie vor Anziehungspunkt fürs Publikum, nicht nur für das auswärtige. Es entsteht bei den meisten Inszenierungen eine andere Nähe, eine andere Realität. Es muss kein Tempel betreten werden, eher ein Raum des Erkenntnisgewinns. So war es auch bei der Schauspiel-Inszenierung „Kleine Seelen“ in der Maschinenhalle Zweckel in Gladbeck.

Die Unzulänglichkeiten des Lebens

Zum dritten Mal wählt einer der bekanntesten Regisseure Der Niederlande, Ivo van Hove, einen Roman des Schriftstellers Louis Couperus als Vorlage für eine Inszenierung. „Die Bücher der kleinen Seelen“ schrieb Couperus zwischen 1901 und 1903, in der unruhigen Übergangszeit vom 19. zum 20. Jahrhundert. Es geht um eine Familie, die sich in einem Haus außerhalb der Stadt eingerichtet hat und daran verzweifelt.

Ihre Lebenslinien sind anders verlaufen als erhofft. Sie befinden sich alle in einem Dilemma mit sich selbst. Nun ist dies keine muffige Replik auf die Zeit der Jahrhundertwende, sondern eine immerzu aktuelle Auseinandersetzung mit dem Leben, mit den Unzulänglichkeiten, den unerfüllten Wünschen. In einem großen, fast leeren Raum auf einem riesigen grünen Teppich spielen die Monologe und Dialoge zwischen Mann und Frau, Vater und Sohn, Mutter und Anverwandten. Die Oma gehört zum Mobiliar und fabuliert übers Wetter, den Wind.

Verloren in der großen Welt

In den zwei Stunden geschieht nicht viel. Es ist eher beunruhigend kontemplativ. Man beobachtet missvergnüglich die kaputten Seelen dieser „sozialen Gemeinschaft“. Dann und wann scheinen Perspektiven auf, die das Leben doch noch zu einem lebenswerten machen könnten, aber am Ende wird es nicht funktionieren. Man ist gefangen. Die „kleinen Seelen“ sind scheinbar in der großen Welt verloren.

Nur die Innenleben spielen eine Rolle, selbstbezogene Menschenkinder sind zur Beobachtung freigegeben. Die niederländischen Darsteller von der Toneelgroep Amsterdam haben den starken Applaus verdient. Gut gelaunt geht niemand nach Hause, aber nachdenklich.




„Mit jedem Jahr“ – Simon Van Booy erzählt die Geschichte einer unwahrscheinlichen Adoption

Das Mädchen Harvey lebt das typische unbeschwerte Leben eines amerikanischen Mittelstandskindes. Doch im zarten Alter von sechs Jahren wird ihre Welt plötzlich auf den Kopf gestellt. Ihre Eltern kommen bei einem Autounfall ums Leben und sie bleibt nicht nur mittellos, sondern auch ohne nähere Angehörige zurück.

Sie kommt in verschiedene Heime und Pflegeheime, ihre einzige richtige Bezugsperson ist die einfühlsame, unkonventionell agierende Sozialarbeiterin Wanda. Ihr vertraut sie das Geheimnis des verstorbenen Vaters an: Irgendwo lebt noch ein Onkel Harveys, der ältere Bruder des Vaters. Ihre Familie sprach nie offen über ihn, weil ihre Mutter ihn als Bedrohung empfand. Aber ihr Vater hat ihr erzählt, wie gut dieser Onkel Jason ihn und seinen kleinen Hund vor den gewalttätigen Großeltern beschützt hat.

Wanda folgt einer Ahnung und macht diesen Onkel ausfindig. Jason lebt nach einer Knast-Vergangenheit ein einsames Leben und ist zudem körperlich eingeschränkt nach einer harten Schlägerei. Seinen Lebensunterhalt bestreitet er mit einer kleinen Rente und dem Verkauf von Trödel übers Internet. Seine schwelende Wut auf die Ungerechtigkeit des Lebens hält er nur sehr mühsam unter Kontrolle.

Auf ein Leben mit einem traumatisierten Kind ist Jason so unvorbereitet, wie man nur sein kann. Doch Wanda vertraut auf seine weichere Seite, seinen Beschützerinstinkt und setzt durch, dass Jason Harveys gesetzlicher Vormund wird. Sie ist sich sicher, dass jeder die letzte Chance des anderen sein kann. Und „mit jedem Jahr“, das ins Land geht, wird sie mehr recht behalten.

Simon Van Booys bewegender Roman über eine ganz und gar unwahrscheinliche Adoption entfaltet sich auf zwei Zeitebenen. Die erste beginnt mit dem sechsjährigen Mädchen, auf der zweiten begegnen wir einer erwachsenen Harvey. Seit ihrem 26. Geburtstag lebt und arbeitet sie in Paris. Als wir ihr dort begegnen, bereitet sie gerade Jasons ersten Besuch bei ihr vor. Der Vatertag, den sie immer besonders gefeiert haben, steht vor der Tür und Harvey plant eine Reihe von Überraschungen für ihren Ziehvater. Sie hat eine ganze Kiste voller Geschenke für ihn, für jeden Tag seines Besuchs eins. Jedes ist eine besondere Reminiszens an ein Ereignis ihrer Kindheit.

„Mit jedem Jahr“ bringt Simon Van Booy nicht nur die Gegensätze zwischen dem verwaisten Mädchen Harvey und dem unruhigen Jason zusammen, sondern er schafft auch das Kunststück, eine bewegte Kindheit in zarten, ruhigen Nuancen zu erzählen. Ganz zurückhaltend entfaltet sich langsam die Botschaft des Buches: Wie es ein Leben verändern kann, wenn man für einen anderen da ist und wie es einen selbst verändern kann.

So ist der Roman bei weitem nicht nur eine weitere klassische Coming-of-Age-Geschichte, sondern es ist auch die Geschichte eines Mannes, der gegen seine Dämonen und Schuldgefühle kämpft und den Mut findet, sich auf ein Leben mit Verantwortung einzulassen. Er ist dafür über seinen Schatten gesprungen, nicht widerwillig, aber voller Ängste und ohne rechtes Zutrauen in sich selbst. Getragen wurde er von tiefem Mitgefühl, welches irgendwann zur Liebe wurde. Schließlich ist es die junge Harvey, die ihn erlöst. So kindlich, wie sie ist, so sehr hat sie doch ein Gespür für Jasons Qualen und Verwundbarkeit. Sie verhilft ihm zu einer überraschenden Absolution.

Der vielseitige und preisgekrönte britische Schriftsteller Simon Van Booy, der zurzeit mit seiner Familie in New York lebt, gibt beiden Charakteren eigene unverwechselbare Stimmen. Kurze, knackige Sätze, minimale Interpunktion kennzeichnen Jasons lakonischen Charakter, Harvey hingegen erzählt eher poetisch.

Der Autor begleitet beide Figuren mit viel Empathie, er weiß um ihre Schwächen und Fehler, aber er begegnet ihnen gnädig und gibt ihnen stets eine Chance. Es hätte eine kitschige Geschichte werden können, aber er schafft es, sentimentale Klippen zu umschiffen. Nicht zuletzt durch die allgegegenwärtige Bedrohung von Jasons lange nur mühsam unterdrückter Aggressivität.

Das letzte Geschenk aus Harveys Kiste enthüllt ein Familiengeheimnis, auf welches Harvey ganz zufällig gestoßen ist. Leider wirkt genau dieses arg konstruiert und zu sehr darum bemüht, den Kreis sich schließen zu lassen. Simon Van Booy hätte diese Effekthascherei nicht nötig gehabt.

Simon Van Booy: „Mit jedem Jahr“. Roman. Insel Verlag, 307 Seiten, €22,00




„Wenn der Wind von Hörde kam, roch es wie Pech und Schwefel“ – Erinnerung an eine Kindheit im Dortmunder Süden

Unsere Gastautorin, die aus Dortmund stammende Malerin und Lyrikerin Marlies Blauth, ergänzt und erweitert mit diesem Beitrag die vor wenigen Tagen erschienene Dortmunder Kindheitsskizze von Bernd Berke:

Der Appetit der frühen Jahre. Unsere Gastautorin Marlies Blauth in einer anderen Zeit. (Bild: privat)

Der Appetit der frühen Jahre. Unsere Gastautorin Marlies Blauth in einer anderen Zeit. (Bild: privat)

Der Dortmunder Süden, jedenfalls Berghofen, war früher noch ziemlich ländlich. Niemand wäre auf die Idee gekommen, sich was drauf einzubilden, dort zu wohnen – allenfalls wusste man zu schätzen, einen Garten zu haben und nutzen zu können. Es gab kaum einen, in dem nichts Essbares wuchs. Auch die „besseren“ Leute hatten immerhin ein Eckchen mit Johannisbeeren im Garten und zogen ein paar Kräuter und Salatköpfe.

War Erntezeit und diese ertragreich, wurde wild herumverschenkt oder getauscht: Birnen hin, Kartoffeln zurück. Ab einem bestimmten Alter hatte ich diese Botengänge zu übernehmen. Wir besaßen mittlerweile ein Auto, wären aber nie auf die Idee gekommen, damit zwei Kilo Kartoffeln eine Straße weiter zu transportieren.

Der Eierkauf war manchmal Glückssache

Auch einzukaufen war meine Aufgabe. Bereits als ich vier Jahre war, schickte man mich zum Tante-Emma-Laden „umme Ecke“, um „mal eben ein Pfund Mehl“ zu holen. Man gab mir einen Zettel ins Portemonnaie, ich reichte es an der Theke vorbei (da ich noch nicht oben dran kam), erhielt meine Sachen und das Wechselgeld auf demselben Weg und dackelte nach Hause.

Manchmal musste ich auch zweimal gehen, wenn etwas bei Tante Emma (es waren in Wirklichkeit zwei Schwestern, die den winzigen Laden betrieben) bereits ausverkauft war. „Dann gibt’s halt Wirsing, wenn kein Rotkohl da ist. Geh nochmal schnell.“ Eier wurden grundsätzlich bei Omma L. gekauft, die Hühner hielt. Manchmal bekam man die Anzahl, die man wollte, manchmal nicht, manchmal gab es überhaupt keine, weil auch die allerbeste Legehenne mal Urlaub braucht.

Ein Uhrengeschäft – welch ein Luxus

Nach Norden sahen wir auf das Himmelrot von Phoenix. Das war Hörde, da begann „die Stadt“. Denn dort gab es größere Läden als Tante Emmas. Ein Uhrengeschäft, wahrer Luxus! Eine Schulfreundin träumte einmal, dass der Phoenix-Kühlturm explodiert sei, an dem wir oft vorbeifuhren. An diesen dramatischen Traum muss ich manchmal denken, wenn ich heute von derselben Stelle zum Phoenixsee (durch-)gucke, ohne den Turm.

Manchmal, wenn der Wind von Hörde kam, roch es „wie Pech und Schwefel – mach’s Fenster zu“. Die Emscher und deren kleinere Bach-Geschwister kommen als „grauer Leberpudding, der aus dem Mund stank“ in einem meiner Gedichte vor. Ich war übrigens schon länger in der Schule, als Berghofen noch immer nicht vollständig kanalisiert war: Bäche mit Bäh-Wasser flossen neben der Straße her.

Einfaches „Häuschen“ auf gepachtetem Acker

Diejenigen, die dem Süden seinen Ruf einer privilegierten Gegend verpassten, kamen erst deutlich später, ich mag so im dritten oder vierten Schuljahr gewesen sein. Meine Eltern hatten zwar auch neu gebaut, allerdings ohne jedes Kapital ein „Häuschen“, einfach und dünnhäutig, auf gepachtetem Acker. Diese Bedingungen waren es wohl, weshalb wir überhaupt in Berghofen gelandet sind.

Natürlich waren wir nicht wirklich arm, da mein Vater Lehrer war; der aber wurde er erst ziemlich spät im Leben, da er sieben Jahre seines Lebens in Krieg und Gefangenschaft gezwungenermaßen vergeudet hatte, krank zurückkam, seine musikalische Aufnahmeprüfung ein zweites Mal machen musste (alle Dokumente waren verbrannt) und sich – früh vaterlos geworden – sein Studium mit irgendwelchen musikalischen „Jobs“ finanzieren musste.

Die wenigsten Kinder hatten ein eigenes Zimmer

Meine Mutter war das älteste Kind einer Flüchtlingsfamilie. Meine Eltern hatten also beide bei Null angefangen, es gehörte ihnen vom „Häuschen“ erstmal so gut wie nix. Vielen Nachbarn ging es damals ähnlich. Obwohl es sich in unserer Straße ja um durchweg neue Häuser handelte, war es nicht üblich, dass jedes Kind ein eigenes Zimmer besaß. Bei mir war das allein deshalb so, weil ich keine Geschwister hatte. Waren mehr Kinder da, teilten sie sich selbstverständlich einen Raum.

Ich kannte auch eine Familie, die gar kein Kinderzimmer hatte, die drei Kinder wurden einfach irgendwo in der engen Wohnung verteilt. Ein Kind aus meiner Klasse wohnte die ersten Jahre sogar in einer Baracke. Ein Spielkamerad lebte mit seiner Mutter, auch einer Lehrerin, im winzigen „Keller“ (also Souterrain) eines Hauses in unserer Straße.

Einige Jahre später bei der Arbeit im kleinen Garten der Familie. (Bild: privat)

…und einige Jahre danach bei der Arbeit im kleinen Garten der Familie. (Bild: privat)

Ich erinnere mich auch an eine Berghofer Familie mit zehn Kindern, sie wohnten in einem abgerumpelten Bauernhaus neben dem Friseur, zu dem ich gescheucht wurde, wenn meine Haare „keine Facon mehr“ hatten. „Aber lass dir genug abschneiden, sonst musste bald wieder hin“ (und das wäre zu teuer). Scheußlich, den Friseurladen jedesmal als hässliches Entlein zu verlassen!

…und später zogen ein paar hochnäsige Leute zu

Eins von den „edlen“ Kindern, die dann später zuzogen (und in größeren, aufwändiger gebauten Häusern wohnten), bekam hingegen seine Haare jede Nacht „aufgedreht“, damit sie morgens zu schönen Löckchen würden. Diese Familie war es auch, die eines Tages meinte, hochnäsig feststellen zu müssen, dass ich „wieder mal was Selbstgestricktes“ trug. Bislang war das ganz normal, wir liefen meistens in geflickten und gestopften Sachen herum und fanden nichts dabei. Beim Herumstrolchen und Baumklettern war das ohnehin egal. Viele Anziehsachen waren auch gebraucht übernommen; das „beleidigte“ mich insofern, als die Mädels, von denen ich den Kram bekam, einen völlig anderen Geschmack hatten als ich. Aber das half überhaupt nichts. Was „noch gut“ war, wurde genutzt, egal, um was es ging.

Bei uns gab es fast immer einfaches Essen, und auch damit standen wir nicht allein. Der riiiesige Luxus eines jeden Kindergeburtstages bestand aus zwei oder drei Kuchen (einer davon war „Kalter Hund“, mit dem ich mich regelmäßig überfressen habe), abends dann Bockwürstchen mit Kartoffelsalat.

Der Wohlstand kam auf ganz leisen Sohlen

Der Wohlstand erwischte uns alle auf ganz leisen Sohlen, und er brauchte viele Jahre dafür. Irgendwann „ließ“ meine Mutter mal irgendwas machen, das war ein Anzeichen. Einige Bekannte hatten dann bessere (und auch zweite) Autos.

Ich erinnere mich allerdings auch an die Zeit, in der es nur ganz wenige Autos gab und stattdessen immer mittwochs der „Gemüsewagen“ kam. Na klar, und die Milch wurde jahrelang gebracht; „gold und silber“. Die gespülten Glasflaschen stellte man wieder raus, sie wurden bei der frischen Lieferung mitgenommen.

Der Bierkutscher mit seinem Gaul

Der Bierkutscher – ich glaube, er hieß Hoffmann – kam jahrzehntelang mit seinem Gaul vorbei, ich höre immer noch sein „Hüah“. Meine Mutter bedauerte das Pferd jedesmal, da es doch nun Autos gab. Und wenn ich heute fahrende Schrotthändler sehe, denke ich immer dran, dass „unsere“ früher grundsätzlich aus Essen kamen und noch auf einer richtigen Flöte „piffelten“. Vor allem fuhren sie viel langsamer als heute, so dass jeder es noch in den Keller schaffte, um irgendwas Metallenes nach oben zu wuchten. Und man bekam noch Geld dafür.

„Die Reichen“ wohnten, so hörten wir, in Kirchhörde, die „ganz Reichen“ in Lücklemberg. Einmal war ich dort, bei so entfernten wie ungeliebten Bekannten in deren Haus, dessen Ausmaß mir unbegreiflich vorkam und auf dessen „offenen Treppen“ über drei Stockwerke ich einen Heulanfall kriegte, weil mir vor Höhenangst schwindelig wurde.




Einsatz für die Menschenwürde: Vor 100 Jahren wurde Erzbischof Oscar Romero geboren

Wandbild von Oscar Romero vor der „Casa de la Juventud“, einem Adveniat-Projekt für Jugendliche in einem Vorort von San Salvador. Foto: Pohl/Adveniat

Wandbild von Oscar Romero vor der „Casa de la Juventud“, einem Adveniat-Projekt für Jugendliche in einem Vorort von San Salvador. Foto: Pohl/Adveniat

Der Mann war ein Profi, sein Schuss saß perfekt: Oscar Romero hatte sich gerade am Altar umgewandt, um mit der Bereitung von Brot und Wein für die Heilige Messe zu beginnen, da traf ihn das Geschoss in die Brust. Nur kurze Zeit später erlag Romero am Montag, 24. März 1980, seinen inneren Blutungen. Der Killer entkam unerkannt; bis heute ist niemand in El Salvador wegen dieses Mordes vor Gericht gestellt worden.

Als sicher gilt, dass der Mord von dem Geheimdienstler und Politiker Roberto d’Aubuisson in Auftrag gegeben wurde, der jedoch bis zu seinem Tod 1992 nie angeklagt wurde. Oscar Arnulfo Romero, seit 2015 selig gesprochen, war der Militärdiktatur und den Reichen in El Salvador ein Dorn im Auge, eine ständige Provokation. Schon 1977, in seinem ersten Jahr als Erzbischof von San Salvador, erreichten ihn anonyme Drohbriefe. Romero fürchtete um sein Leben; seinen Einsatz für die Armen, Entrechteten und Gewaltopfer seines Landes aber führte er unbeirrbar weiter. Dabei schlug er sich nicht einfach politisch auf die eine oder andere Seite seines tief zerrissenen Landes. Er versuchte zu versöhnen, auf der Basis der Gerechtigkeit Lösungen zu vermitteln.

Zwei Tage vor seinem Tod noch kritisierte er „die falschen Visionen … die den Menschen zu einem Instrument herabwürdigen, das man ausbeuten kann, oder auch jene Weltsicht der marxistischen Ideologien, die im Menschen nichts weiter als eine Spielfigur in einer Verkettung sehen.“ Was die Militärjunta in El Salvador gegen Romero aufbrachte, war vor allem seine Kritik an der „Nationalen Sicherheit“, mit der Verbrechen und Menschenrechtsverletzungen gerechtfertigt wurden. Diese Ideologie – so sagte er – mache „aus dem Menschen einen Diener des Staates, so als ob der Staat der Herr und der Mensch der Sklave wäre, während doch im Gegenteil nicht der Mensch für den Staat, sondern der Staat für den Menschen da ist.“ Der Mensch stehe über jeder Organisation. „Das ist die Basis unserer Sicht von der Gesellschaft. Wir haben sie von Christus in seinem Evangelium gelernt.“

Lehre und Praxis bilden untrennbare Einheit

Oscar Romero. Foto: Adveniat/Tutela legal

Oscar Romero. Foto: Adveniat/Tutela legal

Oscar Romero gilt heute als einer der wichtigsten Träger der Befreiungstheologie, nicht zuletzt, weil bei ihm Lehre und Praxis eine untrennbare Einheit bilden. Was er in Schriften und Predigten verkündete, setzte er konsequent in die gesellschaftliche und politische Wirklichkeit um. Damit machte er sich Feinde auch in seiner eigenen Kirche. Vor allem zwei der Bischöfe in El Salvador griffen Romero öffentlich an, diskreditierten ihn auch auf der Lateinamerikanischen Konferenz der Bischöfe in Puebla, weil er die Verbrechen der salvadorianischen Militärjunta anprangerte. Im Vatikan gab es starke Kreise, die Oscar Romeros Einsatz für die Armen und Unterdrückten missbilligten oder ihn zumindest nicht unterstützten.

Dabei war der vor 100 Jahren, am 15. August 1917, in bescheidenen Familienverhältnissen geborene Romero zunächst alles andere als ein befreiungstheologisch orientierter Priester. Er studierte in San Salvador und an der Gregoriana in Rom Theologie und kehrte 1942 als Pfarrer nach El Salvador zurück. Bald beförderte man den jungen Theologen zum Sekretär der Bischofskonferenz. 1970 ernannte ihn Papst Paul VI. zum Weihbischof von San Salvador. 1974 wurde er Bischof von Santiago de María, 1977 Erzbischof von San Salvador. In dieser Zeit war sein theologisches Denken durch und durch römisch geprägt. Der Befreiungstheologie stand er misstrauisch gegenüber; bei seiner Ernennung zum Erzbischof hielt man ihn für einen Vertreter der konservativen Richtung, der mit der Politik der herrschenden Oligarchen kein Problem haben würde.

Der Geist weht, wo er will

Aber der Lebensweg Romeros zeigt, wie „Bekehrung“ wirkt. Die brutale Gewalt in El Salvador wurde für ihn zum Anstoß, sein Denken und seine politische Haltung zu revidieren: Er sah nicht nur die soziale Not in seinem Land als Herausforderung an. Ein Schlüsselerlebnis war das Massaker durch Sicherheitskräfte im Februar 1977 auf der „Plaza Libertad“ in San Salvador. Sie schossen in die Menge, die gegen Betrug bei den Präsidentschaftswahlen protestierte. Kurz darauf, am 12. März 1977, ließen die Militärs einen von Romeros Freunden, den befreiungstheologisch orientierten Jesuiten Rutilio Grande erschießen.

Romero nahm hinfort an keinen offiziellen Anlässen mehr teil. Konsequent trat er nun für eine Kirche der Armen und Entrechteten ein, verschrieb sich dem Einsatz für die Menschenrechte und begann auch theologisch neu zu denken. Die Erklärungen der lateinamerikanischen Bischöfe aus den Konferenzen von Medellín und Puebla las er nun im Licht der Erfahrungen von Unterdrückung und Gewalt in seinem Land. In einem seiner Hirtenbriefe stellte er ein „erwachendes Selbstverständnis des Volkes als Glaubens- und Lebensgemeinschaft“ fest. Diese Gemeinschaft sei „dazu aufgerufen, ihre eigene Geschichte in einem Prozess der Erlösung zu akzeptieren, der mit ihrer eigenen Befreiung beginnen soll.“

Verbindungen nach Essen

Bei der Seligsprechungsfeier für Erzbischof Romero wird ein überlebensgroßen Bild enthüllt. Foto: Adveniat

Bei der Seligsprechungsfeier für Erzbischof Romero wird ein überlebensgroßen Bild enthüllt. Foto: Adveniat

Nach seinem Tod, der einen Bürgerkrieg mit geschätzt 75.000 Toten auslöste, wurde Oscar Romero bald als Märtyrer im Volk verehrt. Nicht so in Rom: Der 1994 begonnene Seligsprechungsprozess wurde immer wieder verzögert. Das Argument war, der Mord an Romero sei politisch motiviert gewesen, der Erzbischof sei nicht seines Glaubens wegen gestorben. Erst unter Papst Franziskus erfolgte 2015 die lang erhoffte Seligsprechung. Heute ist festzuhalten, dass Oscar Romero gerade wegen seines befreiungstheologischen Begriffs vom Glauben gestorben und damit einer der wegweisenden Märtyrer der Christenheit des ausgehenden 20. Jahrhunderts geworden ist.

Romero war auch mit Essen verbunden. Hier hat er die Geschäftsstelle von Adveniat, des Lateinamerika-Hilfswerks der Katholischen Kirche in Deutschland besucht. Mit Romero als Partner hat Adveniat seit 1970 zwölf Projekte durchgeführt. Auf den Webseiten von Adveniat ist zu erfahren, dass auch am 100. Geburtstag Romeros der Großteil der 6,4 Millionen Menschen in El Salvador in Armut lebt. Die Kluft zwischen Arm und Reich ist groß: „Der Reichtum der Reichen steht im krassen Gegensatz zur bitteren Armut, die im Land herrscht“, sagt Inés Klissenbauer, Mittelamerika-Referentin bei Adveniat. Es fehle am Zugang zu Bildung, Gesundheitsversorgung und menschenwürdigem Wohnraum. Die Gewaltsituation sei aber das alles beherrschende Thema im Land. „Deshalb fördert Adveniat in El Salvador gezielt Projekte in der Friedensarbeit, die sich an die Bewohner der Armenviertel richten.“ Seit 1961 hat Adveniat nach eigenen Angaben über 4.000 Projekte in Romeros Heimatland unterstützt. Im Jahr 2016 waren es 40 basis- und armutsorientierte Projekte mit einer Fördersumme von rund einer Million Euro.




„reboot : jetzt erst recht“ – nach neun Jahren wieder zurück auf den Kunstmarkt

Als Künstler mit Ende 40 nach einer fast 9jährigen Auszeit mit Burnout-Qualität doch wieder zurück auf den »Markt«.

Kulitattoo "Jetzt erst recht"

Jetzt erst recht – Entwurf für eine Tätowierung / s/w-Foto / 18x24cm / mit schwarzem Rahmen: 28x38cm / 2017 / Preis auf Anfrage

Die alten Freundschaften zerbrochen wie die Netzwerke von damals.
Ne Ausstellung organisieren? Wie geht das nochmal? WTF Pressearbeit? Texte schreiben? Flyer machen? Plakate? Hä?
Der Autopilot funktioniert noch, stottert aber ’n bißchen.

Und überall tummeln sich eh schon die Jungen, Glücklichen, Erfolg­reichen, die Generation, die von den Eltern überall hingefahren wurde oder die Alten, die alles richtig gemacht haben und von Ausstellung zu Ausstellung zu Sammler zu Katalog zu Buch zu Besprechung in der FAZ zu Ankäufen rumgereicht werden. (Ok, die andern gibt’s auch noch.)

Selber schleppt man dieses Stigma rum, daß man zu lang weg vom Fenster war, weil man bei dem ganzen Kunstmarktscheiß nur noch kotzen mußte. Bin ich Künstler oder Verkäufer?

Irgendwann guckt man dann zum tausendsten Mal seine Sachen an und weiß, jetzt geht’s nicht mehr anders und man kann ja eh nur das und was anderes will man sowieso nicht.

Also anfangen, unbeholfen, Müll wegräumen, ständig fällt was runter, kippt um, nix klappt ohne Knirsch, man stellt sich an wie ein Depp. Trotzdem. Zurück ans Fenster. Was nutzt die beste Kunst, wennse keiner sieht?

Dann steht und hängt alles, ’n paar Leute sind auch da, ich hab mich wie ein Viertklässler durch die Begrüßungsrede und’s Künstlergespäch gewurschtelt.

Ich atme tief, guck mir das Kulitattoo auf meinem Arm an (Preis auf Anfrage) und mach mir ’n Bier auf:

reboot : jetzt erst recht
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(Text und Bild sind meine Bewerbung für den den open call »Haut zu Markte tragen« der Künstlergruppe Group Global 3000 [https://groupglobal3000.de/haut-zu-markte]
Das Foto ist/war Teil meiner Ausstellung »Thomas Scherl aka ©scherl @ Galerie Erika«, 13. – 27.7.2017, Quickborn, »Jetzt erst recht« der Arbeitstitel.
Dokumentation: https://www.facebook.com/events/102826140305647
Galerie Erika: http://www.galerie-erika.de)




„Der war nicht drin!“ – über den Dortmunder Torwart Hans Tilkowski und den umstrittensten Treffer aller Zeiten

Unser Gastautor, der Schriftsteller Heinrich Peuckmann, über den legendären Torhüter von Westfalia Herne und Borussia Dortmund:

Untrennbar ist seine Fußballkarriere mit einem einzigen Tor verbunden. „Herr Tilkowski“, rufen ihm bis heute wildfremde Menschen zu, „ich habe da mal eine Frage.“ Und noch im Umdrehen antwortet er: „Der war nicht drin!“ Hans Tilkowski und das Wembley-Tor, er wird es einfach nicht los.

Torwart-Legende Hans Tilkowski an seinem 70. Geburtstag im Juli 2005. (Foto: Helmut S. / Redaktion "Die Kirsche" - Permission: Wikimedia Commons) - Permission: https://commons.wikimedia.org/w/index.php?title=File:Hans_Tilkowski.jpg&action=edit

Hans Tilkowski an seinem 70. Geburtstag im Juli 2005. (Foto: Helmut S. / Redaktion „Die Kirsche“ – Wikimedia Commons)

1966 hat dieses Tor, das keines war, das WM-Finale entschieden, die Engländer wurden  Weltmeister, Hans Tilkowski blieb die Ehre, Torhüter im Endspiel einer Fußball-Weltmeisterschaft gewesen zu sein.

Vor oder hinter der Torlinie?

Der aserbaidschanische Linienrichter Tofiq Bachramow hat die folgenreiche Entscheidung nach einem Schuss von Geoff Hurst getroffen. Tilkowski hatte den Ball noch mit den  Fingerspitzen berührt und an die Unterkante der Latte gelenkt, von wo er, da ist er sich sicher, auf und nicht hinter die Torlinie tickte. Schiedsrichter Dienst aber folgte der Meinung von Bachramov und erkannte auf Tor. Es war das 3:2 für England und die Entscheidung bei dieser WM. 

Als 2009 die deutsche Fußballnationalmannschaft in einem WM-Qualifikationsspiel gegen Aserbaidschan antreten musste, sind Tilkowski und ich im Vorfeld des Spiels nach Baku gereist. Bachramow war nämlich nicht einfach nur ein Linienrichter, er war später der berühmteste Fußballfunktionär des Landes geworden, er hat den Verband nach dem Auseinanderbrechen der Sowjetunion gegründet. Es gibt eine Briefmarke mit seinem Konterfei, nach seinem Tod wurde das Nationalstadion nach ihm benannt und überlebensgroß, in Bronze gegossen, steht sein Denkmal davor.

Eine versöhnliche Rede an den früheren Linienrichter

Der aserbaidschanische Fußballverband und Vertreter der deutschen Industrie wünschten sich vor dem Länderspiel eine versöhnliche Geste. Was lag da näher, als Hans Tilkowski einzuladen? Und wenn es um Werte wie Versöhnung oder soziales Engagement geht, ist Tilkowski immer ansprechbar. Da lebt fort, was er als Kind einer Bergarbeiterfamilie in Dortmund-Husen erfahren hat, Solidarität nämlich und ein tief empfundenes Gerechtigkeitsgefühl.

Vor der versammelten Presse, vor Fernsehen, Funktionären und Regierungsvertretern hat er in Baku, unter dem Bachramow-Denkmal stehend, eine beeindruckende Rede zur Fairness im Sport gehalten. Der erste Satz stand natürlich schon beim Abflug fest: „Der Ball war nicht drin.“ Aber dann wies Tilkowski auf die völkerverbindende Funktion des Fußballs hin, der es immer wieder schaffe, Menschen zusammen zu führen und so seinen Beitrag zu leisten zu einer friedlichen Welt. Zum Schluss hob er den Kopf und  sprach das Denkmal direkt an: „Tofiq, wenn du noch leben würdest, hätten wir garantiert ein schönes Gespräch über Fairplay im Sport.“

Es begann beim Vorortverein SV Husen

Das kam gut an, Tilkowski war ein überzeugender Botschafter des deutschen Fußballs. Trotz solcher Momente, seine Karriere auf das  Wembley-Tor zu reduzieren, ist aber ebenso falsch  wie ungerecht. Beim SV Husen, dem Dortmunder Vorortverein, hat er begonnen, Fußball zu spielen. Ganz nebenbei hat er auch noch geboxt, es waren die beiden Sportarten, die Arbeiterjungen im Ruhrgebiet damals gerne ausübten. Samstags boxen, sonntags Fußball.

Der Fußball war aber doch Tilkowskis große Liebe. Nach der Zwischenstation beim SuS Kaiserau, dem Verein im Schatten der Sportschule, wo er schon als ganz junger Mann in der ersten Mannschaft spielte, wechselte er 1955 zu Westfalia Herne in die Oberliga. Fußballlegende Ernst Kuzorra hätte ihn gerne „auf Schalke“ gesehen, aber Tilkowski hatte die Sorge, an deren Stammtorwart Orzessek nicht vorbeizukommen. Und er wollte vor allem eins, nämlich spielen.

Als Sepp Herberger aufmerksam wurde

Seine Entscheidung erwies sich als goldrichtig, Trainer Fritz Langner vertraute dem jungen Torwart und Westfalia konnte, nicht zuletzt dank seiner tollen Paraden und seines noch besseren Stellungsspiels, jahrelang die Klasse halten. Schnell fiel er Bundestrainer Herberger auf, der Torhüter ohne Showeinlagen liebte, und im April 1957 war es so weit. Beim Länderspiel in Amsterdam, das 2:1 gewonnen wurde, stand der junge Hans Tilkowski zum ersten Mal im Tor der deutschen Nationalmannschaft. Auf insgesamt 39 Einsätze hat er es gebracht und war damit für einige Zeit Rekordnationaltorhüter.

1959 wurde dann zum großen Jahr von Westfalia Herne. Noch vor den Großvereinen Schalke und Borussia Dortmund wurde völlig überraschend die westdeutsche Meisterschaft gewonnen. Bei der darauf folgenden Endrunde zur Deutschen Meisterschaft fehlte den Spielern allerdings die Kraft. Fritz Langner, unsterblich mit der Trainingsanweisung „Ihr fünf spielt jetzt vier gegen drei“, hatte wohl zu hart trainieren lassen.

Funkstille mit dem Bundestrainer

In dieser Zeit stieg Tilkowski zum Stammtorhüter der Nationalmannschaft auf. Er bestritt alle Qualifikationsspiele für die WM 1962 in Chile, beim Turnier selbst aber  erlebte er eine bitterböse Überraschung. Nicht er durfte nämlich spielen, sondern der unerfahrene Wolfgang Fahrian. Vier Jahre vorher hatte Herberger Tilkowski nicht zur WM in Schweden mitgenommen, weil er zu jung sei und zu wenige Länderspiele bestritten hätte. Vier Jahre später war Fahrian noch jünger und hatte noch weniger Länderspiele als Tilkowski 1958 bestritten. Der hat mit dem Bundestrainer danach für einige Zeit kein Wort mehr gewechselt.

Eineinhalb Jahre lang herrschte Funkstille zwischen den beiden, denn Tilkowski hat Stolz und ein bisschen ist er auch ein westfälischer Dickkopf. Er stand in dieser Zeit trotzdem im Blickpunkt des Fußballs. 1964, mit Einführung der Bundesliga, war er  zu Borussia Dortmund gewechselt und lieferte mit dem Verein glanzvolle Spiele im Europapokal, vor allem gegen Titelverteidiger Benfica Lissabon.

1966 Europapokalsieger mit dem BVB

Tilkowski hielt in diesen Spielen, was zu halten war und immer auch ein bisschen mehr. Sogar  in eine Europaauswahl wurde er berufen. Schließlich war es Herberger, der ganz gegen seine Gewohnheit nachgab. Ob er ihn mal anrufen dürfe, hat er ihn beim Bankett nach einem Europapokalspiel gefragt. Er durfte und am Neujahrstag 1964 stand Tilkowski wieder im Tor der Nationalmannschaft. Es war aber kein guter Neueinstand, das Spiel gegen Algerien ging mit 0:2 verloren.

Mit Borussia Dortmund feierte Tilkowski weiter Erfolge. 1965 wurde die Mannschaft Pokalsieger und im Jahr darauf gewann sie als erste deutsche Mannschaft einen Europapokal, den der Pokalsieger. Nach Libudas sagenhaftem Heber aus vierzig Metern wurde Liverpool in Glasgow mit 2:1 geschlagen.

Die deutsche Meisterschaft hätte die Mannschaft  auch gewinnen können. Trainer „Fischken“ Multhaup wollte den Feiern aus dem Wege gehen und die Mannschaft für die letzten Bundesligaspiele abseits vom Trubel in aller Ruhe vorbereiten, aber das ließ sich in Dortmund, das im Freudentaumel lag,  nicht durchsetzen. Nach vielen Feiern gingen die letzten drei Spiele allesamt verloren,  1860 München überflügelte im letzten Moment die Borussia und wurde Deutscher Meister. So blieb Tilkowski, 1965 Fußballer des Jahres, der Meistertitel verwehrt.

Zwei Jahre spielte er noch bei Eintracht Frankfurt, dann begann er eine Karriere als Trainer. Werder Bremen, der 1. FC Nürnberg, auch AEK Athen waren u.a. seine Wirkungsstätten.

Soziales Engagement – vor allem für Kinder

Danach engagierte sich Tilkowski für Sozialprojekte, für das Friedensdorf in Oberhausen zum Beispiel, wo in Kriegen verwundete Kinder operiert und wieder  gesund gepflegt werden. Er sammelte Geld für Aktionen der Unicef, für leukämiekranke Kinder und vieles mehr. Eine Hauptschule in Herne, wo er noch immer wohnt, ist  nach ihm benannt worden. Natürlich sorgte Tilkowski dafür, dass diese  Multikulti-Schule einen Bolzplatz bekam, getreu seinem Motto, dass der Fußball über alle Unterschiede hinweg Gemeinschaft stiftet.

Neuerdings ist er Botschafter für den westfälischen Fußball-  und Leichtathletikverband und weist beharrlich daraufhin, dass Westfalen und das Ruhrgebiet viel zu bieten haben, auch im Sport. Er muss in dieser Eigenschaft oft in die Sportschule Kaiserau, wo er als junger Spieler unter Leitung von Dettmar Cramer seine Torwartausbildung erfuhr und wo inzwischen ein Neubau nach ihm benannt wurde. So schließt sich bei ihm, der immer wieder gerne nach Kaiserau zurückkommt, der Kreis.

Auch mit 82 noch drahtig und rege

Skandale sind Tilkowski fremd. Er ist noch immer mit seiner Frau Luise, mit der er drei Kinder hat, verheiratet.

Am 12. Juli wurde er, der noch immer regelmäßiger Tribünenbesucher bei den BVB-Heimspielen ist, 82 Jahre alt. Wer diesen drahtigen, geistig regen und immer, wenn es um eine gerechte Sache geht, streitbaren Mann sieht, wird ihm das Alter kaum abnehmen. Er müsste, denkt man, nur seine Torwartkluft anziehen, dann könnte es wieder losgehen.




Aus der Hammer Wunderkammer – Museum zeigt Querschnitt durch die Sammlung seines Namensgebers Gustav Lübcke

Sie haben am Ende gar nicht mehr genau nachgezählt. Ungefähr 500 Exponate sind jetzt in einem großen Saal des Hammer Gustav-Lübcke-Museums zu sehen. Doch gemach, man schafft das Pensum in ein bis zwei Stunden: Denn zur imposanten Anzahl der Exponate tragen auch etliche Vitrinenobjekte wie Münzen, Kunsthandwerk (Gläser, Keramik) oder kleinteilige archäologische Fundstücke bei. Der Namensgeber des Hauses, Gustav Lübcke (1868-1925), hat nach dem Wunderkammer-Prinzip gar vieles erworben, was dem gehobenen Bürgertum seiner Zeit zusagte. Ein wahres Sammelsurium.

Auch Heiligenfiguren hat Gustav Lübcke gleichsam en gros gesammelt. (Foto: Bernd Berke)

Auch Heiligenfiguren hat Gustav Lübcke gleichsam en gros gesammelt. (Foto: Bernd Berke)

„Hereinspaziert!“ lautet der etwas unbedarft und geradezu circensisch klingende Titel der Ausstellung, die einen historischen Anlass hat: Fast genau 100 Jahre ist es nun her, dass die Stadt Hamm Gustav Lübcke diese denkbar breit gefächerte Kollektion als gesamtes Konvolut abgekauft hat. Im April 1917 wurde der Vertrag aufgesetzt.

Im Gegenzug erhielt der in Düsseldorf ansässige Antiquitätenhändler, der hinfort in seine Geburtsstadt Hamm zurückkehrte, eine lebenslange Jahresrente von 6000 Mark – damals eine passable bis ordentliche Summe. Nach Lübckes Tod erhielt seine 20 Jahre ältere Frau Therese geb. Nüsser (1848-1930) die Rente weiter. Beide hatten sich für Hamm entschieden, weil sie die Sammlung in den Wirren des Ersten Weltkriegs in Düsseldorf stärker bedroht sahen.

Gestrenge Dienstanweisungen 

Praktischerweise ließ sich Lübcke, eigentlich gelernter Buchbinder, 1917 gleich auch zum ersten Direktor der nach Hamm umgezogenen Sammlung ernennen und verfügte, dass ein künftiges Museum seinen Namen tragen solle. Eingangs der jetzigen Rückschau findet sich eine seiner strengen Dienstanweisungen, die zur Wachsamkeit vor Kunstdieben auffordert (auf Menschen mit weiten Mänteln achten!) und die tägliche gründliche Reinigung seines Arbeitsbereichs anordnet. Der Tonfall ist recht barsch und unduldsam. Ob Lübcke ein angenehmer Chef gewesen ist?

Unsigniert und namentlich nicht zuzordnen: filigraner Scherenschnitt "Leichenzug der Tiere". (© Gustav-Lübcke-Museum / Foto: Bernd Berke)

Unsigniert und namentlich nicht zuzuordnen: filigraner Scherenschnitt „Leichenzug der Tiere“. (© Gustav-Lübcke-Museum / Foto: Bernd Berke)

Und was hat der Mann gesammelt? Nun, wie schon angedeutet: alles Mögliche. Neben den stichwortartig erwähnten Beständen zählen beispielsweise auch wertvolle alte Möbel (Truhen, Schränke etc.), Heiligenfiguren und weitere sakrale Kunst, Scherenschnitte, Malerei (Düsseldorfer Schule, niederländische Genrebilder aus der „zweiten Reihe“ des 17. Jahrhunderts), Schnupftabaksdosen, ägyptologische Objekte, koptische (also christliche) Kunst aus Altägypten und kostbare Bücher zum Gesamtumfang, der in die zigtausend Stücke gehen dürfte.

Immer noch keine Inventarlisten

Und so hat sich in all den vielen Jahrzehnten bisher niemand gefunden, der es geschafft hätte, auch nur halbwegs komplette Inventarlisten zu erstellen. Die jetzige Ausstellung, kuratiert von Diana Lenz-Weber, die immerhin ein paar Schneisen durchs Dickicht geschlagen hat, könnte ein Anstoß zur Katalogisierung sein. Erstmals überhaupt befasst man sich so eingehend mit den Hinterlassenschaften Lübckes. Doch um eine präzise Erfassung der Bestände zu bewerkstelligen, bräuchte man mehr Personal, das möglichst eigens dafür eingesetzt wird. Hoffen darf man ja, es kostet nichts.

Tiroler Truhe aus dem 15. Jahrhundert, darüber zwei Gemälde von Adriaen van de Venne (17. Jhdt.). (Foto: Bernd Berke)

Eine mächtige Truhe, darüber zwei Gemälde von Adriaen van de Venne (17. Jhdt.). (Foto: Bernd Berke)

Man wird in dieser Retrospektive keine Sensationen finden, aber doch einen soliden, bewahrenswerten Grundstock, der freilich zu weiten Teilen etwas „altfränkisch“ anmutet. Schon zu seiner Zeit gehörte Gustav Lübcke nicht zu den Leuten mit avantgardistischen Neigungen. Spätimpressionistische Ausläufer sind schon das höchste der Gefühle, Symbolismus und Jugendstil sucht man bereits vergebens. Lübcke hatte mit einem Mann wie Karl Ernst Osthaus, der damals von Hagen aus die neuesten Strömungen aufspürte, praktisch keine Gemeinsamkeiten – außer der westfälischen Herkunft und der schieren Sammelleidenschaft.

Konservativer Geschmack

Gustav Lübcke hat also ausgesprochen konservativ gesammelt. Ein besonders gewichtiges Stück ist z. B. jener mit Geheimfächern ausgestattete, machtvolle Tiroler Büffetschrank im gotischen Stil aus dem 15. Jahrhundert, den Lübcke damals auf einen Wert von 5000 Mark taxiert hat – annähernd seine eigene jährliche Leibrente also.

Auch die liebevoll restaurierten Stoffstücke koptischer Kunst oder allerfeinstens ausgeführte Scherenschnitte („Leichenzug der Tiere“) sind mehr als einen Blick wert. Von kulturgeschichtlichem Interesse sind zudem Gemälde wie die lebensprall-derben Genrebilder eines Adriaen van de Venne („Bauerntanz“), die „Winterlandschaft“ des Anthonie (van) Beerstraaten oder Einzelbeispiele der Düsseldorfer Malerschule. Ansonsten gilt die Devise: Wer vieles bringt, wird jedem etwas bringen.

Schätze blieben lange „heimatlos“

Im Vorfeld dieser Ausstellung hat das Museum einige Restaurierungs-Aufträge vergeben können. Doch zugleich zeigte sich, dass manche Stücke höchstwahrscheinlich gar nicht mehr zu retten sind. Einige beklagenswert ramponierte Exponate sind nun – bewusst in einer zerbrochenen Glasvitrine präsentiert – beisammen. Ein Bild des Jammers. Und nebenher eine eindringliche Mahnung zum sorgsamen Umgang mit Kunst und Kunsthandwerk.

Freilich war die Sammlung lange Zeit „heimatlos“ und irrte gleichsam durch diverse, unter konservatorischen Gesichtspunkten ungeeignete Gebäude. Erst 1993 (!) wurde, mit Fertigstellung des jetzigen Museumsbaus, Gustav Lübckes Forderung nach einem eigenen Ort für seine Schätze wahr. Gut Ding will manchmal sehr viel Weile haben.

„Hereinspaziert! 100 Jahre Sammlung Gustav Lübcke“. 16. Juli (Eröffnung 11.30 Uhr) bis 15. Oktober 2017. Geöffnet Di-Sa 10-17, So 10-18 Uhr. Eintritt 5 Euro (ermäßigt 2,50 Euro). Kinder bis 15 Jahre freier Eintritt. Gustav-Lübcke-Museum, Hamm, Neue Bahnhofstraße 9. Tel.: 02381 / 17-57 14. www.museum-hamm.de




In der Fremde soll man sich ändern – Matthias Polityckis anregendes Buch über das Reisen

Auf der Rückseite des Umschlags steht es abermals: Matthias Politycki (Jahrgang 1955) wird gelegentlich als Abenteurer und Draufgänger der deutschen Gegenwartsliteratur bezeichnet. Das mag ja stimmen. Fest steht jedenfalls: Der Mann ist ungeheuer viel und zuweilen recht riskant gereist – bis in die letzten Weltwinkel. Davon legt er in seinem neuen Buch beredtes Zeugnis ab.

Der längliche Titel zieht schon entsprechend weite Horizonte auf: „Schrecklich schön und weit und wild. Warum wir reisen und was wir dabei denken“ heißt der Band, der wirklich auf ausgesprochen vielfältigen Reiseerfahrungen basiert. Auch die allermeisten Backpacker dürften auf vergleichsweise ausgetretenen Pfaden unterwegs sein. Von verwöhnten Individual- oder Pauschaltouristen ganz zu schweigen.

Wo ist nur die alte Freiheit geblieben?

Gleich eingangs benennt Politycki ein Grundproblem heutigen Reisens, das – von Ausnahmen abgesehen – bis vor einiger Zeit noch relativ ungebrochen als Synonym für Freiheit gegolten hat. Jetzt freilich, unter dem Eindruck von Krieg, Terror, Globalisierung und weltweiten Flüchtlingsströmen, habe sich ein tiefer Bedeutungswandel vollzogen. „Reisen hat seine Unschuld verloren“. Sagen wir mal: spätestens jetzt, vielleicht für alle restliche Zeit.

Die einst als „Exotik“ wahrgenommene Fremde könne nun bereits beginnen, wenn wir aus der heimischen Haustür gehen. Andererseits gebe es „da draußen“, also rund um den Erdball, oft nichts grundsätzlich „Anderes“ mehr zu entdecken. Da stellt sich die Frage, was denn eigentlich authentisch sei. Vielleicht gar nichts? Oder eben alles. Auf seine Weise. Doch trotz wachsender Bedenken treibt es Politycki immer wieder hinaus in die Ferne. Es ist eine unstillbare Sehnsucht.

Immer neue Bewährungsproben

Aber keine Angst. Politycki theoretisiert und reflektiert natürlich nicht nur, er wird sozusagen tausendfach konkret und schöpft freigebig aus dem reichen Reservoir seiner Erfahrungen. Dabei geht es vor allem um die Haltung des Reisenden, der sich in verschiedenen Weltgegenden jeweils ganz anders benehmen und bewähren müsse, nirgendwo jedoch unterwürfig.

Auf Reisen, so Politycki, treffe man vor allem Menschen aus der Unterschicht der jeweiligen Länder. Daher müsse man sich – zumal als Alleinreisender – handfest und selbstbewusst behaupten, notfalls gar hart auftrumpfen, um nicht unterzugehen und seine Würde zu wahren. Da man sich – auch mit Englisch – längst nicht überall verständlich machen könne, müsse man sich dafür auch eine angemessene Körpersprache zulegen.

Ist das ein Beispiel neudeutscher Überheblichkeit? Wohl kaum. In entlegenen Gebieten unterwegs, muss man sich schon so mancher Zudringlichkeit zu erwehren wissen, diese Einsicht vermittelt Politycki sehr glaubhaft. Ansonsten ist er jederzeit bereit, seine Urteile zu korrigieren, zu relativieren und neu zu fassen. Eben das sollte ja eine Frucht wirklichen Reisens sein.

Auch Müllberge und Slums nicht gemieden

Mit wohlmeinender politischer Korrektheit, so der Autor, komme man jedenfalls nicht weit. Und überhaupt: „Je weiter er in der Welt herumgekommen ist, desto schwerer wird es dem Reisenden fallen, zu übergreifenden Meinungen und Etikettierungen zu gelangen.“ Somit erweist sich intensives Reisen auch als permanente Verunsicherung.

Touristische Stätten erscheinen dem erfahrungshungrig Suchenden in aller Regel als Enttäuschungen, als hoffnungslos überfüllte Plätze, an denen „sich die Weltjugend zum Posen trifft“ und Millionen Selfies knipst. Der Autor hingegen scheut sich nicht, beispielsweise indische Müllberge zu besteigen, um auch diese abscheuliche Seite des ungeheuren Subkontinents am eigenen Leibe zu erfahren. Ebenso ist er (notgedrungen „kalten Blickes“) durch etliche Slums gezogen, um alle Stufen des Elends zu sehen und also vor der furchtbaren Wirklichkeit nicht die Augen zu verschließen. Es ist sicherlich kein zynischer Voyeurismus, der ihn treibt, sondern Erkenntnisdrang. Das darf man ihm glauben.

Wer so unbedingt reist, kommt zwangsläufig in extreme, manchmal auch gefährliche Situationen, in physische und psychische Grenzbereiche – ob nun in Nepal, Samarkand, Ruanda, Lateinamerika oder Japan, um nur ganz wenige Zielgebiete zu nennen.

Wo gibt es die besten Barbiere der Welt?

Politycki erzählt von all dem sehr anschaulich und keineswegs mit dem Gestus des Eroberers oder Triumphators. Er erwähnt auch manche Peinlichkeit, manche „Niederlage“ in der Fremde. Es sind buchstäblich Erfahrungen fürs Leben. In der Fremde ist man zuweilen rundum gefordert, kann und muss man ein Anderer werden, sich neu erproben. Das fängt schon mit äußerlichen, nur scheinbar „banalen“ Dingen wie dem indischen Straßenverkehr oder dem japanischen Straßensystem an.

Anregend sind auch einige Exkurse wie etwa der aufschlussreiche Vergleich von Barbier-Besuchen in verschiedenen Ländern. Der Autor greift nach und nach zahllose Aspekte des Reisens auf und zitiert dabei, um den Kreis nochmals zu erweitern, en passant nicht nur große Reiseschriftsteller wie etwa Bruce Chatwin, sondern auch ähnlich reisesüchtige Gefährten und Freunde.

Ein gewisser Überdruss gehört irgendwann dazu

Als Signale vom Gegenpol liest man in diesem Kontext Zeilen des Reise-Skeptikers Gottfried Benn: „Ach, vergeblich das Fahren! / Spät erst erfahren Sie sich: / bleiben und stille bewahren / das sich umgrenzende Ich.“ Nein, dieser Stubenhocker! Doch den Überdruss am Reisen, das Gefühl, alles schon (eindrucksvoller) gesehen zu haben, den kennt selbstverständlich auch Politycki.

Unterdessen fragt man sich, wann und wie Politycki neben den Reisen überhaupt noch die Zeit zum Bücherschreiben aufgebracht hat. Egal. Er hat’s ja mal wieder geschafft. Dieses mit Erfahrung gesättigte, durchlebte und durchdachte Buch kann die Einstellung zum Reisen und damit zum Dasein ändern. Es gehört ins Regal – oder besser noch: gleich ins Reisegepäck.

Matthias Politycki: „Schrecklich schön und weit und wild. Warum wir reisen und was wir dabei denken“. Hoffmann und Campe. 351 Seiten. 22 €.




Was die Förster von mir wollen

„Liebe Waldfreunde“, so beginnt der Brief, der jetzt in etlichen Kästen steckt. Die Wurfsendung richtet sich jeweils unterschiedslos an „die Bewohner des Hauses“. Und sie hat es in sich.

Bevor ich gegen das Urheberrecht verstoße und FriedWald-Bilder verwende: Friedliches Grün kann ich auch selber... (Foto: Bernd Berke)

Bevor ich gegen das Urheberrecht verstoße und ungefragt Bilder der FriedWald GmbH verwende: Friedliches Grün kann ich auch selber, notfalls sogar mit Schäfchen… (Foto: Bernd Berke)

Der unbekannte Texter fängt gleich an zu säuseln. Er möchte einen bei Waldeslu-hu-hust und Naturliebe packen. Von der „friedlichen Atmosphäre im FriedWald Möhnesee“ (man beachte die friedvolle Redundanz) könne man sich in Kürze selbst überzeugen, wird uns verheißen. Persönliche Anmeldung genügt.

„Wir FriedWald-Förster begleiten Sie“, heißt es weiter. Wie überaus nett von den Förstern! Wie man weiß, genießt dieser edle Berufsstand – auch jenseits des Silberwalds – gerade bei älteren Leuten besonderes Vertrauen.

Über den lieblichen Zeilen prangt jedenfalls ein Bild von grünen, grünen Blättern im milden Sonnenlicht. Ach, wer sich dort entspannen dürfte! Vielleicht sogar für immer?

Auf einem weiteren, nicht minder anheimelnden Bild (Ich sage nur: flatternder Schmetterling) sind Gedichtzeilen des Mörike-Zeitgenossen Martin Greif eingerückt, die uns vollends einlullen sollen:

„Am Waldsaum lieg ich im Stillen, rings tiefe Mittagsruh,
nur Lerchen hör ich und Grillen und summende Käfer dazu.“

Nun ja. Man hat schon ausgefeiltere Reime gelesen. Doch, doch.

Auf der ausgesprochen professionell eingerichteten Homepage der FriedWald GmbH (da ist wirklich an alles gedacht worden) übernimmt dann ein Eichhörnchen den Part der unwiderstehlichen Niedlichkeit. Oder ist es Putzigkeit? Egal.

Jetzt mal Prosa und Klartext: Besagte Förster wollen mir auf ihrem Spaziergang doch wohl nicht den Weg zu Vögelchen und Käferlein weisen, sondern fuchsschlau einen Ort zeigen, an dem ich mich – möglichst bald? – beisetzen lassen möge, denn: „Immer mehr Menschen entscheiden sich für eine Bestattung in der Natur.“ Diesen Trend will ich doch wohl nicht verschlafen, womöglich gar versterben? „Schon zu Lebzeiten“, so lockt man, dürfe ich hier meine letzte Ruhestätte aussuchen. Ja, wann denn auch sonst? Hinterher is‘ immer schwierig.

Und was zahlt man für die Chose? Pfui über diese garstige Frage! Von Geld reden sie (vorläufig) nicht, die Waldführung sei kostenlos, wie im Fettdruck betont wird. Sie fragen nur schon mal an, ob sie weiteres Werbematerial schicken sollen und verbleiben
„Mit freundlichen Grüßen
Ihr Förster-Team aus Möhnesee“

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Nachlese:

Laut Homepage der FriedWald GmbH ist die Reservierung eines Einzelbaums ab 2700 Euro zu haben. Flächenmäßig hochgerechnet, ergibt das ganz schön happige „Grundstückspreise“. Aber wie sagt man so schön sarkastisch: „Umsonst ist der Tod – und auch der kostet das Leben.“

Die GmbH verfügt demnach bundesweit über Waldstücke. Ausgerechnet in und um München klafft auf der Karte eine größere Lücke. Liegt’s etwa an den horrenden Bodenwerten? Das kann nicht der einzige Grund sein: Auch in Mecklenburg-Vorpommern gähnt noch weithin Leere.

Einen ausführlichen Artikel mit dem Titel „Bestattungswald“ findet man bei Wikipedia. Dort ist auch von rechtlichen und ökologischen Problemen der Waldbeisetzung die Rede.




Dem „göttlichen Claudio“ zum 450. Geburtstag: Monteverdi bringt in seinen Opern die Seele zum Singen

Claudio Monteverdi auf einem Stich aus dem 19. Jahrhundert. Alle Abbildungen des Komponisten sind dem einzigen überlieferten Porträt von Bernardo Strozzi nachempfunden, das im Tiroler Landesmusem Innsbruck hängt.

Claudio Monteverdi auf einem Stich aus dem 19. Jahrhundert. Alle Abbildungen des Komponisten sind dem einzigen überlieferten Porträt von Bernardo Strozzi nachempfunden, das im Tiroler Landesmusem Innsbruck hängt.

Über seine Heimat Oberitalien ist Claudio Monteverdi nie hinausgekommen. Aber seine Wirkung als Erneuerer in der Zeit eines gewaltigen Umbruchs war in der gesamten Welt der Musik zu spüren. Vor 450 Jahren in dem damals minder bedeutenden Städtchen Cremona geboren, hat Monteverdi in der Entwicklung der Musik eine Rolle gespielt, die höchstens noch mit Namen wie Georg Friedrich Händel, Ludwig van Beethoven, Richard Wagner oder Arnold Schönberg zu vergleichen wäre.

Dabei hat sich der Sohn eines Baders – damals ein Beruf, der sich zwischen Medizin und Körperpflege bewegte – nie als musikalischer Rebell verstanden. Aber seine geistlichen und weltlichen Kompositionen und vor allem seine Opern haben Geschichte geschrieben.

Cremona, damals eine Stadt im Herzogtum Mailand, hatte kaum politischen Einfluss, aber ein reges geistiges Leben. Die Gebildeten trafen sich in einer Akademie, an einem Priesterseminar wurde moderne Theologie gelehrt. Die Instrumentenbauer Andrea Amati, Andrea Guarneri und Antonio Stradivari hatten den Ruf Cremonas als Stadt exzellenter Geigen in ganz Europa verbreitet. In der Pfarrei SS. Nazzaro e Celso wurde der erste Sohn von Baldassare Monteverdi, am 15. Mai 1567 auf den Namen Claudio getauft.

Der Dom von Cremona, Geburtsort Claudio Monteverdis. Foto: Werner Häußner

Der Dom von Cremona, Geburtsort Claudio Monteverdis. Foto: Werner Häußner

Der Vater wollte seinen Kindern den gesellschaftlichen Aufstieg durch Bildung ermöglichen und förderte ihre Begabungen. Die Bedingungen waren günstig, die katholischen Reformer legten großen Wert auf Bildung. Monteverdi selbst bezeichnet sich als Schüler des „herausragenden Ingegneri“. Der erfahrene Domkapellmeister gab ihm umfassende Grundlagen mit, zu denen Singen und das Spielen von Instrumenten gehörte, und bildete ihn planmäßig in Komposition heran. Als Fünfzehnjähriger veröffentlichte Claudio Monteverdi seine „Sacrae Cantiunculae“, kleinere geistliche Gesänge. Ein Jahr später erschienen vierstimmige Madrigale und wieder nach einem Jahr sein Probestück in der weltlichen Musik, eine Sammlung vierstimmiger „Canzonette“.

Die folgenden Jahre seines Lebens liegen im Dunkeln; offenbar perfektioniere sich Monteverdi in der Kunst des Komponierens. Das Ergebnis waren zwei Madrigalbücher, von denen das zweite von 1590 Monteverdi auf der Höhe seiner Kunst zeigt: „Hätte Monteverdi nur dieses Madrigalbuch hinterlassen – er hätte sich gleichwohl in die Geschichte der Musik eingeschrieben“, urteilt die Musikwissenschaftlerin Silke Leopold in ihrer erst vor wenigen Wochen erschienenen Biografie. Denn die Gesänge zeigen bei „außerordentlicher musikalischer Sensibilität“ eigene künstlerische Ideen. In ihnen entwickelt Monteverdi, was sein Schaffen und vor allem seine Opern kennzeichnen sollte: Die musikalische Erfindung steht konsequent im Dienst des Textes.

Trotz der bedeutenden Komposition erhielt Claudio Monteverdi seine erste Stelle, weil er gut Viola da gamba spielen konnte. Am Hof des kunstliebenden Herzogs Vincenzo Gonzaga in Mantua begann er seine Karriere: In der Widmung seines dritten Madrigalbuchs 1592 lobt er die „glückliche Tür“, die ihm sein Spiel geöffnet habe. 22 Jahre blieb er in Mantua, heiratete und verlor seine Frau nach nur acht Jahren Ehe. Monteverdi spielte bei Festen und Gottesdiensten, an der Tafel und bei repräsentativen Anlässen. Zehn Jahre veröffentlichte er kein neues Werk, aber sein Ruhm verbreitete sich: In Venedig, Nürnberg und Antwerpen wurden seine Noten gedruckt.

Ab 1601 Kapellmeister, machte er Mantua zu einem Zentrum moderner Musik, dessen Glanz bis heute nachwirkt. Jetzt entstanden zahlreiche Kompositionen, die weitgehend ungedruckt blieben und verschollen sind. Hier schrieb Monteverdi aber auch die erste seiner Opern, uraufgeführt unter der Schirmherrschaft des Thronfolgers Francesco Gonzaga am 14. Februar 1607 – ein „künstlerisches Großereignis und ein Meilenstein der Operngeschichte“.

Monteverdi hat zwar die Oper nicht erfunden. Dieser Ruhm gebührt dem Florentiner Jacopo Peri mit seiner 1598 entstandenen „Dafne“, mit der die antike Theatertradition wiederbelebt werden sollte. Aber ohne Monteverdis „L’Orfeo“ wäre – so Silke Leopold – die Entwicklung der Oper vielleicht gar nicht richtig in Gang gekommen. Auch seine ein Jahr später geschriebene Oper „L’Arianna“, aus der nur der weltberühmte Trauergesang, das „Lamento“, überliefert ist, wurde ein riesiger Erfolg. Monteverdi war überzeugt, darin den Ausdruck menschlicher Emotionen am besten getroffen zu haben. Er blieb aber auch als geistlicher Komponist aktiv: 1610 entstand mit der „Marienvesper“ sein wohl bekanntestes sakrales Werk.

Venedig, letzter Wirkungsort von Monteverdi. Foto: Werner Häußner

Venedig, letzter Wirkungsort von Monteverdi. Foto: Werner Häußner

Ruhm und Können halfen jedoch nicht, als 1612 Francesco die Nachfolge des verstorbenen Herzogs von Mantua antrat und sich daran machte, die zerrütteten Staatsfinanzen zu sanieren. Monteverdi wurde regelrecht hinausgeworfen und war mit 45 Jahren arbeitslos. Bis Oktober 1613 sollte es dauern – dann aber erreichte ihn ein Angebot aus Venedig und er erhielt eine der angesehensten Stellen im Bereich der Kirchenmusik: Monteverdi wurde Kapellmeister von S. Marco.

Es begann seine produktivste Zeit: Er reformierte die Kirchenmusik, erneuerte das Repertoire, sorgte sich um die soziale Stellung seiner Musiker und komponierte geistliche wie weltliche Musik, darunter drei neue Madrigalbücher. Für die damals einzigartigen öffentlichen Opernhäuser Venedigs schrieb er Opern und Ballettmusik, erhalten sind aber nur „Die Heimkehr des Odysseus“ und „Die Krönung der Poppea“. 1643 starb Claudio Monteverdi, begraben liegt er in der Kirche S. Maria Gloriosa dei Frari in Venedig.

Monteverdis drei erhaltene Opern gehören seit den bahnbrechenden Aufführungen durch Nikolaus Harnoncourt in den siebziger Jahren wieder zum Repertoire und werden in diesem Jubiläumsjahr u.a. in Berlin, in Venedigs Teatro La Fenice und bei den Festivals in Luzern, Innsbruck, Salzburg und Schwetzingen aufgeführt. In der Region planen die Theater Bielefeld und Aachen, Monteverdi mit „L’Incoronazione di Poppea“ zu würdigen. Die Premieren sind am 10. Juni (Bielefeld) und am 24. September (Aachen).




Neuer Intendant für das Theater Hagen: Was treibt Francis Hüsers dazu, diesen Posten anzustreben?

Gestern Abend war es am Rand eines Konzerts in Hagen zu erfahren: Der neue Intendant des Theaters steht fest. Francis Hüsers, bis 2015 Operndirektor und Stellvertretender Intendant der Staatsoper Hamburg, sei einstimmig gekürt worden, hieß es.

Francis Hüsers (Foto: Jörn Kipping)

Francis Hüsers (Foto: Jörn Kipping)

Kurze Zeit später hatte auch die Westfalenpost eine Meldung auf ihrer Webseite. Die Entscheidung des Rats am 18. Mai dürfte Formsache sein: Niemand wird die Qual der Wahl fortsetzen wollen, die sich in der finanziell schwer gebeutelten Stadt nun schon seit Mitte 2015 hinzieht.

Imposanter Lebenslauf

Der 57-jährige Francis Hüsers, aufgewachsen in Krefeld und Mönchengladbach, hat auf seiner Webseite einen imposanten Lebenslauf aufzuweisen: Dramaturg zwischen Hamburg und Berlin, Zusammenarbeit mit profilierten Regisseuren wie David Alden, Johannes Erath oder Jochen Biganzoli, von 1995 bis 2005 Referent und Künstlerischer Produktionsleiter an der Hamburgischen Staatsoper, dann Leitender Dramaturg und Künstlerischer Produktionsleiter an der Staatsoper Unter den Linden Berlin.

2010 holte ihn Simone Young zurück nach Hamburg und machte ihn zu ihrem Stellvertreter. Derzeit arbeitet Hüsers frei als „Autor, Dozent und Dramaturg für Oper und Musiktheater sowie als Fachberater für Kulturschaffende“. Seine letzten Projekte als Dramaturg: „Tosca“ in Halle in einer – ziemlich missglückten – Regie von Jochen Biganzoli, „Lohengrin“ in Sankt Gallen mit Vincent Boussard, dem Regisseur der von der Kritik nicht eben günstig aufgenommenen Inszenierung von Meyerbeers „Le Prophète“ in Essen, zuvor Korngolds „Die tote Stadt“ an der Oper Graz mit Johannes Erath, ausgezeichnet mit dem Österreichischen Musiktheaterpreis.

Langwieriges Berufungsverfahren

Stellt sich die Frage, was den 1960 geborenen studierten Soziologen, Germanisten und Sozialpädagogen daran reizt, ausgerechnet nach Hagen zu gehen. Denn nicht nur das turbulente Berufungsverfahren stellt der Stadt kein gutes Zeugnis aus: Im April 2016 endete die erste Runde ohne einen geeigneten Kandidaten, nachdem sich das Verfahren seit August 2015 hingeschleppt hatte.

Das Theater Hagen, aufgenommen 2014. Foto: Werner Häußner

Das Theater Hagen, aufgenommen 2014. Foto: Werner Häußner

Der aussichtsreichste Bewerber, Ex-Marketingleiter Jürgen Pottebaum, verzichtete, nachdem ihm offenbar klar geworden war, dass die vorgesehenen Kürzungen des Theaterzuschusses der Stadt von 15 auf 13,5 Millionen Euro ab 2018 nicht zu realisieren seien. Im September 2016 kam Dominique Caron, Leiterin der Eutiner Festspiele in Schleswig-Holstein, als neue Intendantin ins Gespräch. Die Wahl schien perfekt. Aber nach harscher Kritik, unter anderem an ihrem Führungsstil, zog Caron ihre Bewerbung im November 2016 zurück.

Ein Mann für Kürzungen und Einsparungen?

Francis Hüsers wirkt nicht wie ein Theatermann ohne künstlerischen Ehrgeiz. Er wirkt auch nicht wie einer der eiskalt-glatten Kulturmanager oder wie einer jener eilfertigen Liebediener der Politik, die noch jedem versprechen, mit der Hälfte des Geldes des Vorgängers doppelt so gutes Theater zu machen. Seine Hamburger Bilanz liest sich eindrucksvoll, wenn man auch über den künstlerischen Ertrag in einigen Fällen geteilter Meinung sein kann. Sie zeigt Offenheit für neue Werke und für das an den Rand gedrängte Repertoire – eben das, was das Theater Hagen schon vor der Zeit des verdienstvollen scheidenden Intendanten Norbert Hilchenbach über die Region hinaus bekannt gemacht hat.

Umso rätselhafter ist Hüsers Interesse an einem Theater, das bisher schon auf dem Level eines kleineren Stadttheaters arbeiten musste, mit der Absenkung des Zuschusses aber nach jeder seriösen Prognose unter die Deadline eines noch einigermaßen funktionsfähigen Mehrspartenhauses fällt. Hat er’s wirklich so nötig? Oder treibt ihn unstillbarer Ehrgeiz auf den Schleudersitz eines Intendanten, der gezwungen ist, vor allem durch Kürzungen und Einsparungen aufzufallen? Der Mann muss ein Geheimnis haben.

Und so darf man, um die abgestandene Formulierung jedes ratlosen Journalisten zu bemühen, gespannt sein, was er an Lösungen für die Hagener Malaise mitbringt. Glück muss man ihm auf jeden Fall wünschen!




Unsterbliche Stimme des Jazz: Vor 100 Jahren wurde Ella Fitzgerald geboren

Summertime. Das Leben ist leicht. Ella Fitzgerald, die „große alte Dame des Jazz“, singt den unsterblichen Song aus Georges Gershwins „Porgy and Bess“ schwebend leise, träumerisch, jedes Wort, jeden Klang auskostend. Sie lässt die Stimme flirren, setzt das Vibrato ausdrucksstark ein, scheint über jedes Wort nachzudenken. Eine andere Aufnahme: Die Sängerin nimmt das Lied hell, strahlend, mit Sonne in der Stimme und mit improvisierten Silben, dazwischen einem Lachen – und in schnellerem, energischerem Tempo.

Ella Fitzgerald. Foto: www.pexels.com

Ella Fitzgerald. Foto: www.pexels.com / pixabay.com / Lizenz: https://www.pexels.com/de/fotolizenz/

Zwei Facetten eines Songs, die viel über die außerordentliche Kunst Ella Fitzgeralds aussagen. Sie war meisterhaft, wie sie sich auf ihre Musiker-Kollegen einstellte, wie sie den geforderten Sound erspürte, für sich umsetzte und den anderen zurückgab. Eine echte Jazzerin eben – und viel mehr als das: Peggy Lee, selbst eine erfolgreiche Sängerin, Texterin und Komponistin, sagte über Ella Fitzgerald, sie sei die „größte Jazz-Sängerin unserer Zeit“ und setze den Standard, an dem alle anderen gemessen werden.

Ein amerikanischer Traum

Das Leben Ella Fitzgeralds hat etwas von einem märchenhaften amerikanischen Traum: Sie wuchs in ärmlichen Verhältnissen bei ihrer Mutter auf, ihren Vater hat sie nicht gekannt. Am 25. April 1917 wurde sie in Newport News in Virginia geboren, zog mit ihrer Mutter, einer Hausangestellten, nach Yonkers in der Nähe von New York. Als sie vierzehn Jahre alt war, starb die Mutter; Ella kam ins Waisenhaus und lebte später bei einer Tante. Geld verdiente sie sich, indem sie auf der Straße tanzte; was sie sparen konnte, verwendete sie für Klavierstunden.

1934 überredete sie ein Freund, an einem Amateur-Wettbewerb im Harlem Opera House teilzunehmen. Ella sollte tanzen, hatte aber solches Lampenfieber, dass ihr die Beine zitterten. So schaltete sie schnell um und sang ein Lied des bekannten Stars Hoagy Carmichael mit dem Titel „Judy“. Die Zuhörer, so wird berichtet, applaudierten der Sechzehnjährigen heftig und beruhigten sich nicht, bis sie zu einer Zugabe bereit war.

Die zaghaften Schritte in eine professionelle Sängerinnen-Karriere führten sie zu einem Wettbewerb im damals berühmten Apollo Theater. Sie siegte und Bardu Ali, ein Mitarbeiter des Bandleaders Chick Webb sorgte dafür, dass Ella engagiert wurde. Webb ermöglichte der jungen, unerfahrenen Sängerin den Einstieg und eine erste Plattenaufnahme. 1935 sang Ella Fitzgerald „I’ll Chase the Blues Away” und „Love and Kisses”.

Kinderlied als Millionenhit

Auch ihr erster Millionenhit entstand, glaubt man den Erzählungen, eher zufällig: Der Arrangeur Van Alexander hörte, wie Ella am Klavier ein Kinderlied anspielte. Er schrieb eine eingängige Version und „A Tisket, A Tasket“, aufgenommen im Mai 1935, wurde ein riesiger Erfolg, der sich wochenlang an der Spitze der Hitparaden hielt.

Vier Jahre später war Ella Fitzgerald so bekannt, dass sie, als ihr Förderer Chick Webb starb, dessen Band übernahm. Sie war damals begeistert von Bebop, einer neuen Richtung im Jazz, künstlerisch anspruchsvoll, mit rhythmischen Freiheiten, komplexen Harmonien und langen Improvisationen. Ella Fitzgerald arbeitete eng mit Dizzy Gillespie zusammen. Für sich selbst entdeckte sie den „Scat-Gesang“, in dem Silben ohne Wortsinn gesungen werden, so, als sei die Stimme ein bloßes Instrument. Diese Technik entwickelte Ella Fitzgerald zur Perfektion.

Sie war schon eine Berühmtheit, als sie den Musikmanager Norman Granz kennenlernte. Er verhalf ihr zum internationalen Durchbruch. Von 1956 an entstanden ihre „Songbooks“ – Platten, auf denen sie bekannte Titel berühmter amerikanischer Komponisten interpretierte. Beginnend mit Cole Porter umfasste die Reihe bis 1964 acht Alben, gewidmet Größen wie Duke Ellington, Irving Berlin, George und Ira Gershwin oder Jerome Kern.

Legendär ist die Aufnahme von Gershwins „Porgy and Bess“ 1957 mit Louis Armstrong. Immer auf der Suche nach wirkungsvollen Hits nahm sie – so erzählte sie selbst dem Jazz-Kenner John Chilton – ein kleines Notizbuch mit ins Kino und notierte sich die Lieder, die ihr gefielen.

Die Liste ihrer Alben, die man auf der Webseite der Ella Fitzgerald Foundation finden kann, ist lang: Sie reicht von einem ersten Gershwin-Album 1950 über „Sweet Songs for Swingers“ (1959) und „Ella in Berlin: Mack the Knife“ (1960) bis zu ihren legendären Auftritten in Rom, Hamburg, Newport, London, Montreux und ihrem letzten Album „All That Jazz“ 1989.

In den letzten Jahren ihres Lebens machten ihr die Folgen der Diabetes schwer zu schaffen: Ella Fitzgerald erblindete. Am 15. Juni 1996 starb die „First Lady of Song“, die Königin unter den Jazz-Sängerinnen und eine der bedeutendsten Musikerinnen des 20. Jahrhunderts, in Beverley Hills.




Der Vater der Luftschiffe: Vor 100 Jahren starb Ferdinand Graf von Zeppelin

Graf Zeppelin als Hauptmann und Adjudant des Königs von Württemberg auf einer Abbildung um 1870.

Graf Zeppelin als Hauptmann und Adjudant des Königs von Württemberg auf einer Abbildung um 1870.

Hin und wieder sieht man sie noch, die fliegenden Zigarren: Sie tragen Werbeaufschriften und schweben lautlos über dem Getümmel von Großstädten. Ihr eigentlicher Ruhm als Luftschiffe an der Schwelle des modernen Verkehrszeitalters ist verblasst. Auch ihr Entwickler, Graf Ferdinand Adolf Heinrich August von Zeppelin, ist 100 Jahre nach seinem Tod am 8. März 1917 in Berlin weitgehend vergessen. Noch in der Kinderzeit unserer Großväter war das anders: Zeppelin war damals ein Star. Das „Zeppelinbuch für die deutsche Jugend“ schwärmte 1909, das Luftschiff sei „ein in der ganzen Weltgeschichte unerhörtes Werk“.

So stimmte das freilich nicht: Vom Ballon der Gebrüder Montgolfier über Lenkballons bis hin zum motorgetriebenen Ballon des Leipzigers Friedrich Hermann Wölfert und den ersten Gleitfliegern und Flugzeugen gab es viele Versuche, die Luft zu erobern. Aber der württembergische Graf hatte wohl die richtige Idee zum passenden Zeitpunkt – und er war hartnäckig und ausdauernd, trotz vieler Rückschläge. „Man muss nur wollen, daran glauben, dann wird es gelingen“, war eine Richtschnur seines Handelns. Den „dümmsten aller Süddeutschen“ beschimpfte Kaiser Wilhelm II. den Luftfahrtpionier. Gegen Zeppelins „Wunderwaffe“ herrschte in Berlin Skepsis – obwohl das Berliner Kriegsministerium selbst seit 1886 eine Abteilung für „Luftschiffer“ unterhielt.

Ein Wunder schwebt über dem Bodensee

Als sich am Abend des 2. Juli 1900 eine riesige, 130 Meter lange Wurst über dem Bodensee bei Friedrichshafen in den Himmel hob, stand Zeppelin kurz vor seinem 62. Geburtstag. Geboren in Konstanz, aufgewachsen auf Schloss Girsberg im Schweizer Emmishofen, hatte er bis dahin einen für einen Adligen seiner Zeit typischen Lebensweg durchlaufen: Erst von Hauslehrern unterrichtet, nach dem Besuch des Polytechnikums Stuttgart Kriegsschule in Ludwigsburg. Als junger Leutnant Studium in Tübingen, u.a. Maschinenbau und Chemie. Militärlaufbahn bis zum General. Als Beobachter im amerikanischen Bürgerkrieg erlebte Zeppelin zum ersten Mal den militärischen Einsatz von Ballons und nahm selbst an einer Ballonfahrt teil – ein Erlebnis, das ihn tief geprägt hat.

Das "Zeppelinbuch für die deutsche Jugend" (ca. 1909) lässt den Kult erkennen, der damals um den Luftfahrtpionier entstand.

Das „Zeppelinbuch für die deutsche Jugend“ (ca. 1909) lässt den Kult erkennen, der damals um den Luftfahrtpionier entstand.

Erst nach seinem nicht ganz freiwilligen Abschied 1891 – Zeppelin hatte durch eine Denkschrift den Unwillen des Kaisers hervorgerufen – widmete er sich ganz seinen Visionen vom Luftschiffbau. Eine Kommission von Sachverständigen und das Berliner Kriegsministerium lehnten seine Projekte ab, in der Öffentlichkeit wurde Zeppelin verspottet. Trotzdem gelang es ihm, sich die Unterstützung des Vereins Deutscher Ingenieure zu sichern und 1898 die „Aktiengesellschaft zur Förderung der Luftschiffahrt“ zu gründen. Die Hälfte des Stammkapitals steuerte er aus seinem Privatvermögen bei.

Der Durchbruch kam mit einem Unglück

Finanzielle Schwierigkeiten, technische Probleme und Unfälle: Die nächsten Jahre waren für Zeppelin und sein Unternehmen hart. Letztlich brachte ein Unglück die Wende: Am 5. August 1908 musste der Prototyp LZ 4 in Echterdingen bei Stuttgart notlanden und wurde durch ein Gewitter zerstört. Das Luftschiff war auf einem Probeflug, von dem es abhing, ob die Reichsregierung die weitere Entwicklung der Zeppeline finanzieren würde. Noch am Unglücksort hielt ein Unbekannter eine offenbar flammende Rede, erste Geldspenden wurden gesammelt. Reichsweit lösen die Sympathie für den unbeirrbaren Grafen und die Begeisterung für die Luftfahrt eine Welle der Hilfsbereitschaft aus: Die „Zeppelinspende des deutschen Volkes“ erbrachte sechs Millionen Mark. Jetzt war es Zeppelin möglich, die „Luftschiffbau Zeppelin GmbH“ und die „Zeppelin-Stiftung“ zu gründen. Er kaufte bei Potsdam ein Gelände und begann mit dem Bau der fliegenden Zigarren.

Der jubelnde Empfang des "Graf Zelppelin" auf dem Luftschiffhafen in Berlin-Staaken im Juni 1930. Foto: Bundesarchiv, Bild 102-09992 / CC-BY-SA 3.0

Der jubelnde Empfang des „Graf Zelppelin“ auf dem Luftschiffhafen in Berlin-Staaken im Juni 1930. Foto: Bundesarchiv, Bild 102-09992 / Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/

Als Offizier hatte Zeppelin vor allem die militärische Nutzung im Visier, begonnen hat die Karriere des Flugfahrzeugs aber im zivilen Bereich: Die „Deutsche Luftschifffahrts AG“ beförderte bis 1914 auf 1588 Fahrten 34.028 Menschen unfallfrei durch die Lüfte. Die erste Fluggesellschaft der Welt bot der Oberschicht ein mondänes Vergnügen: Die Passagiere schwebten mit dem Komfort einer Erste-Klasse-Zugreise über die Landschaft.

Als 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, nutzte das deutsche Heer zunächst drei Zeppeline als Aufklärer. Bald wurden Kriegsluftschiffe gebaut: In Friedrichshafen produzierten rund 17.000 Menschen 100 Luftschiffe, später auch Flugzeuge. Sie warfen Bomben auf Antwerpen, London und Edinburgh. Zeppelin träumte von einer Tausend-Kilo-Bombe, die über der britischen Hauptstadt abgeworfen den blutigen Krieg verkürzen solle. Der schwäbische Pietist wusste um die Ambivalenz des Bombenkriegs und lehnte zivile Opfer ab. Der Kaiser verhing ein Redeverbot.

Das Kriegsende erlebt Zeppelin, der an den Folgen eines operativen Eingriffs starb, nicht mehr – ebenso wenig den Aufstieg seiner Luftschiffe zu Verkehrsmitteln und das jähe Ende durch den Brand der LZ 129 in Lakehurst/USA 1937, bei dem 36 Menschen ums Leben kamen. Das Unglück markiert auch das Ende der großen Passagier-Zeppeline.

Reichhaltige Ausstellung in Friedrichshafen

Im Zeppelin Museum in Friedrichshafen am Bodensee sind Entwicklung, Höhepunkt und eine mögliche Zukunft der Zeppeline in einer reichhaltigen Ausstellung thematisiert. Mit der nach eigenen Angaben weltweit größten Sammlung zur Technik und Geschichte der Luftschifffahrt und mit einer Kunstsammlung bedeutender Künstler Süddeutschlands vom Mittelalter bis zur Neuzeit eröffnete  das Museum 1996 in der unverkennbaren Bauhaus Architektur im Hafenbahnhof von Friedrichshafen. Das Museum zieht heute jährlich über 250.000 Besucher an.

Mit der Ausstellung „Kult! Legenden, Stars und Bildikonen“ vom 2. Juni bis 15. Oktober 2017 hinterfragt das Zeppelin Museum (ausgehend vom Kult um die ersten Luftschiffe) kritisch die Entstehung, Verbreitung und Rezeption des Phänomens Kult. Der zweite Teil der Ausstellung setzt sich mit den unterschiedlichen Strategien der „Verkultung“ und „Entkultung“ in der Kunst auseinander. Mechanismen des Kults in Gesellschaft, Politik und Populärkultur werden reflektiert und machen deutlich, wie sehr das Phänomen „Kult“ heute relevant ist. Die Ausstellung wird gefördert von der Kulturstiftung des Bundes.

Info: www.zeppelin-museum.de




Journalist damals: Möblierter Herr mit mechanischer Schreibmaschine

„Wie war das Leben ehedem / als Journalist doch angenehm.“ Dieser soeben flugs erfundene, allerdings recht wilhelmbuschig oder nach Heinzelmännchen-Ballade klingende Reim stimmt natürlich inhaltlich nicht, aber ein paar Dinge waren damals doch besser. Oder halt anders.

Zepter und Reichsapfel (alias Typometer und Rechenscheibe) als frühere Insignien der Zeitungsredakteure. (Foto: BB)

Zepter und Reichsapfel (alias Typometer und Rechenscheibe) als frühere Insignien der Zeitungsredakteure. (Foto: BB)

Jetzt erzähl ich euch mal was aus der Bleizeit, jedoch quasi impressionistisch, wie es mir gerade in den Sinn kommt:

Zeitungs-Volontär war ich mit knapp 20 Jahren, bereits vor dem Studium. Damals ging so etwas noch. Ich habe etwa 600 DM (Deutsche Mark) im Monat verdient, es gab jede Menge Abendtermine, lediglich 14 Tage Jahresurlaub und für allfällige Sonntagsarbeit noch keinerlei Freizeitausgleich.

Für die paar Kröten…

Mit anderen Worten: Für die paar Kröten hat man aber so richtig geschuftet – bei der „Westfälischen Rundschau“ (WR) damals letzten Endes für die Kassen der SPD, die WAZ-Gruppe ist erst später eingestiegen. In seinen frühen Zwanzigern hielt man Frondienste dieser Sorte noch klaglos aus; zumal man ja glaubte, den Job für alle kommenden Zeiten sicher zu haben.

Ich fand es sogar aufregend. Meine allererste Meldung mit Cicero-Zeile, meine allererste Reportage, meinen allerersten Gerichtsbericht, meine allererste Theaterkritik (zunächst lokalen Ausmaßes). Alles war noch so neu und frisch. Fotos durfte man ebenfalls machen und in abgedunkelten Hinterzimmern oder dito Toiletten selbst entwickeln. Toll.

Von Ort zu Ort

Man war als „Volo“ gehalten, alle paar Monate von Ort zu Ort zu wechseln (in meinem Falle waren das: Olpe, Ennepetal/Gevelsberg, Hamm, Ahlen mit Zwischenstationen in Dortmund und Wanne-Eickel – ich sag’s euch) und wohnte dort jeweils residenzpflichtig in möblierten Zimmern, die der Verlag angemietet hatte. Ja, ich bin als Jungspund in den frühen 70er Jahren tatsächlich noch ein „möblierter Herr“ gewesen. Schon damals hatte es etwas Vorgestriges.

Andererseits sind Journalisten zu jener Zeit von diversen Institutionen noch ein wenig hofiert und umgarnt worden, auch gab es prozentual und absolut ungleich mehr Zeitungsleser, die überdies noch etwas mehr Respekt hatten. Wir „Zeitungskerle“ (so mein altvorderer Kollege Charly P.) galten noch etwas, jedenfalls auf lokaler Ebene. Da gab’s vielleicht schon mal einen erzürnten Leserbrief, aber keine wüsten Beschimpfungen, erst recht keinen „Shitstorm“ oder gar Drohungen wie hie und da jetzt.

Klare Partei-Präferenzen

Der Deutsche Journalistenverband (DJV) hat kürzlich in seinem Newsletter aus einer Studie über die erschreckenden Erfahrungen zitiert, die viele Kollegen heute, in den Zeiten des „Lügenpresse“-Gegröles, damit machen müssen. Früher waren solche Zustände undenkbar.

Als WR-Redakteur hielt man es damals tunlichst eher mit den Sozialdemokraten. Ruhrnachrichten und Westfalenpost galten hingegen als CDU-nah. Wie hübsch die Präferenzen damals noch verteilt waren… Und damit es nur deutlich gesagt ist: Journalisten fungierten in dieser anscheinend klar gegliederten Welt zuweilen auch als nützliche Idioten, als Erfüllungsgehilfen der Polit-Darsteller ihrer jeweiligen Couleur. Manchmal ging es vollends unverblümt her: Ein WR-Lokalchef war zugleich SPD-Ratsherr – in der Nachbarstadt, so dass er wenigstens nicht über sich selbst berichten musste.

Zigaretten zur Selbstbedienung

Jedenfalls war es in den 70ern und bis in die frühen 80er hinein noch üblich, dass bei so manchen lokalen Pressekonferenzen Kästchen mit Zigaretten zur gefälligen Selbstbedienung auf dem Tisch standen. Geraucht wurde immer und zu jeder Gelegenheit. Der eine oder andere Kollege verließ den Termin nicht, ohne den notorischen „Journalisten-Rollgriff“ angewendet zu haben, sprich: Er nahm noch einige zusätzliche Zichten als Wegzehrung mit. Wie hatte Kurt Tucholsky in den 20er Jahren schon geschrieben: Journalismus sei ein Beruf, den man (nur) mit der Zigarette im Mundwinkel ausüben könne.

Grundnahrungsmittel Bier

Hinzu kam, bevor die Computer Einzug hielten und die Korrektoren eingespart wurden, als tägliches Grundnahrungsmittel mindestens das Bier. Gelegentlich ging es damit schon (oder erst?) mittags los, wenn andere Berufe schon ihren Grundpegel erreicht hatten. Die mit der mechanischen Schreibmaschine gehackten und per Kurier oder Regionalzug zur Zentrale geschickten Manuskripte wurden ja dort allesamt noch mehrfach überprüft. Was sollte also schon passieren? Noch Mitte der 80er Jahre gab es vereinzelt Ausstellungs-Vorbesichtigungen, zu denen stilvoll und kultiviert Cognac gereicht wurde, was allerdings auch mit der Disposition gewisser Museumsleiter zu tun hatte. Zum Wohle? Nun ja. Wie man’s nimmt.

In New York verwöhnt

Heute ziemlich undenkbar wäre auch ein Kulturtermin, der die seinerzeit noch zahlreicheren Regionalblätter von Nordrhein-Westfalen mit einem beachtlichen Tross nach New York führte und aus dem Etat des Düsseldorfer Kulturministeriums bestritten wurde. Einziger Anlass war ein bevorstehendes NRW-Kulturfestival im Big Apple, von dem unsere Leser eigentlich herzlich wenig hatten. Doch man verwöhnte uns geradezu korrumpierend mit Linienflug, Unterkunft in einem noblen Hotel und einem hochinteressanten Programm, das vom Besuch bei der New York Times bis zum eigens polizeilich geschützten Trip durch die seinerzeit so gefährliche Bronx reichte. Als das Land NRW noch glaubte, Geld freihändig ausstreuen zu können…

Auch hättet ihr gestaunt, wenn ihr gesehen hättet, was in der Vorweihnachtszeit an Firmen-Präsenten in unserer Wirtschaftsredaktion eingetroffen ist. Die Kollegen konnten die Gaben schwerlich zurückschicken, machten das Beste daraus und organisierten alljährlich eine Verlosung, zu der sich auch noch unsere betagten Rentner bemühten.

Aber ich verplaudere mich.

Verdichtung der Arbeit

Spätestens seit Anfang der 80er wurde die gesamte Zeitungsbranche mit Aufkommen der Computer recht zügig diszipliniert. Die Arbeit verdichtete sich zusehends, man schrieb nicht nur, sondern war nun auch gleichzeitig Layouter, Setzer, Korrektor und Schlussredakteur. Irgendwann war es so weit, dass man sich keine Mittagspausen mehr erlauben konnte, sondern nur noch hastig etwas nebenbei verschlang. Die Leute, die in den Beruf nachrückten, waren im Schnitt stromlinienförmiger als ihre älteren Kolleginnen und Kollegen. Vorher gab es noch Typen. Typen…




Helmuth Macke stand stets im Schatten seines Cousins August – Jetzt holt das Kunstmuseum Ahlen seine Bilder ans Licht

Helmuth Macke: "Karussell am Rheinufer", 1924 (Öl auf Leinwand / Kunstmuseum Krefeld)

Helmuth Macke: „Karussell am Rheinufer“, 1924 (Öl auf Leinwand / Kunstmuseum Krefeld)

Wenn ein Museum bestimmte Künstler präsentiert, so will es ihnen in aller Regel besondere Wertschätzung erweisen oder sie überhaupt erst aufwerten, auf sie aufmerksam machen. Häufig könnte das Motto lauten: Seht her, diese Kunst wird bisher weithin unterschätzt, wir wollen dies ändern. So auch jetzt im Kunstmuseum Ahlen, wo Helmuth Macke in den Blickpunkt rückt, der Cousin des vier Jahre älteren, ungleich berühmteren August Macke.

Die Ahlener Schau ist zweite Station einer fünfteiligen Tournee mit jeweils wechselnden Werkschwerpunkten. Anlässe waren der 125. Geburtstag und der 80. Todestag Helmuth Mackes (1891-1936). Auf Konstanz (schon vorbei) und Ahlen folgen noch Penzberg, Erfurt und das August Macke Haus in Bonn.

Eine Frohnatur und ein Grübler

Ahlen ist mit von der Partie, weil es einschlägigen Eigenbesitz auch aus Mackes Umfeld vorweisen kann und weil der scheidende Museumsleiter Burkhard Leismann das Werkverzeichnis Helmuth Mackes erarbeitet; ein Projekt, das noch nicht abgeschlossen ist. Seit rund 30 Jahren bewegt sich Leismann, der nun quasi nach und nach in den Ruhestand geht, forschend auf Helmuth Mackes Spuren. Mit der jetzigen Ausstellung schließt sich also ein Kreis. Dass Leismann sich vollends aus dem Kunst-Kontext zurückzieht, mag man freilich kaum glauben.

Der scheidende Museumsleiter Burkhard Leismann, Kuratorin Ina Ewers Schulz vor Helmuth Mackes "Selbstporträt mit Palette", um 1910/11 (Öl auf Leinwand / Kunstmuseum Krefeld - Foto: Bernd Berke)

Der scheidende Ahlener Museumsleiter Burkhard Leismann und die Kuratorin Ina Ewers Schulz vor Helmuth Mackes „Selbstporträt mit Palette“, um 1910/11 (Öl auf Leinwand / Kunstmuseum Krefeld – Foto: Bernd Berke)

Helmuth und August Macke also. Die beiden haben stets freundschaftlich aneinander Anteil genommen, doch waren sie von sehr unterschiedlicher Gemütsart. Während der in Meschede geborene August Macke als Frohnatur galt, war der aus Krefeld stammende Helmuth Macke eher grüblerisch veranlagt. Immer wieder plagten ihn Selbstzweifel und Existenzängste. Bis heute steht er im Schattenbereich der Kunstgeschichte. Man fragt sich angesichts seiner Bilder, warum das so gekommen ist. Es hätte vielleicht nicht sein müssen.

Fast das ganze Frühwerk im Krieg zerstört

Schon mit 15 verließ Helmuth Macke die Schule, er hatte nicht einmal das „Einjährige“ (Realschulabschluss); ein Manko, das ihm später noch zu schaffen machen sollte. Immerhin kam er als junger Mann in Krefeld zeitig mit der künstlerischen Moderne in Berührung. Die dortige Kunstgewerbeschule, wo der Niederländer Johan Thorn-Prikker (der u. a. auch in Hagen wirkte) sein Lehrmeister war, öffnete sich den damals neuesten Strömungen aus Frankreich viel bereitwilliger als etwa die Akademie in Düsseldorf, die auf ältere, größtenteils verkrustete Traditionen hielt. Dort studierte August Macke also eher auf althergebrachte Art. Was die Moderne anging, hatte Helmuth anfangs einen gewissen „Vorsprung“. Doch was half’s?

Helmuth Macke: "Wasserkessel mit Rübe", 1909/10 (Öl auf Leinwand) (Privatbesitz)

Helmuth Macke: „Wasserkessel mit Rübe“, 1909/10 (Öl auf Leinwand) (Privatbesitz)

Es ist, als hätte das Unglück Helmuth Macke auch noch nach dem Tode verfolgt. Fast sein gesamtes Frühwerk ist im Zweiten Weltkrieg zerstört worden. Kuratorin Ina Ewers Schultz hat natürlich versucht, Raritäten aus den Anfangszeiten zeigen zu können, doch deren (Privat)-Besitzer mochten sich nicht von ihren Stücken trennen. Daher setzt diese Ausstellung erst um 1910 ein.

Kurz zuvor hatte Helmuth Macke am Tegernsee Künstler wie Franz Marc, Marianne von Werefkin, Jawlensky, Kandinsky und Gabriele Münter kennen gelernt – sozusagen die erste Riege der damaligen Avantgarde. Am Tegernsee entstand z. B. Helmuth Mackes Gemälde „Heuhocken in Sindelsdorf“ (um 1910) mit seiner durchaus eigenwilligen Formfindung und Farbigkeit. Im „Selbstporträt mit Palette“ (um 1910/11) zeigt er sich noch geradezu trotzig selbstbewusst.

Helmuth Macke "Niederrheinische Landschaft bei Lank am Rhein", 1926 (Privatbesitz)

Helmuth Macke „Niederrheinische Landschaft bei Lank am Rhein“, 1926 (Privatbesitz)

Hernach begegnete er in Berlin ja auch noch den Künstlern der „Brücke“-Vereinigung und freundete sich speziell mit Erich Heckel an. An hochkarätigen Inspirationen und an prominentem Zuspruch hat es mithin nicht gemangelt. Helmuth Macke gehörte einem regelrechten „Netzwerk“ an. Doch im Nachhinein scheint es, als sei er so etwas wie das schwächste Glied in der Kette gewesen.

Nirgendwo angekommen

Der schwerblütige Mann war keiner, der sein Glück beim Schopfe packte. Auch waren es mörderische Zeiten. Durch den Ersten Weltkrieg verlor er zwei seiner besten Gefährten, den Cousin August Macke und Franz Marc, der eine 27, der andere 36 Jahre jung. Helmuth Macke selbst wurde kriegsverletzt und erkrankte auf dem Balkan an Malaria. Seine Ortswechsel in all den folgenden Jahren wirken plan-, rast- und ruhelos, ja letztlich sogar im Wortsinne ortlos, als wäre er nie irgendwo richtig „angekommen“. Es wäre eine Frage von beträchtlicher Tragweite, ob dies auch die Kraft seiner Kunst geschmälert hat.

Die Ahlener Ausstellung umfasst rund 130 Bilder, etwa 80 stammen von Helmuth Macke und 50 von Freunden und Weggefährten aus dem Umkreis des Expressionismus. Zu nennen sind beispielsweise der schon erwähnte, einflussreiche Lehrer Johan Thorn-Prikker, sodann Heinrich Campendonk (ebenfalls Schüler bei Thorn-Prikker), Wilhelm Wieger und Heinrich Nauen. An mehreren Stellen sind auch einzelne Bilder von August Macke im Vergleich zu sehen. Und man kann nicht auf Anhieb sagen, dass er seinen Cousin Helmuth bei weitem überragt hätte, der sich nach 1914 übrigens intensiv um den Nachlass von August gekümmert hat.

Helmuth Macke: "Porträt Grete Hagemann (Frau Hoff", 1920, Öl auf Leinwand (Privatbesitz)

Helmuth Macke: „Porträt Grete Hagemann (Frau Hoff)“, 1920, Öl auf Leinwand (Privatbesitz)

Überhaupt ergeben sich hie und da ebenbürtige „Dialoge“, so etwa, wenn Katzen-Studien von Franz Marc, August und Helmuth Macke nebeneinander hängen. Oder wenn eine Serie von Badenden ahnen lässt, wie sehr sich Helmuth Macke ein zentrales Thema der „Brücke“-Künstler anverwandelt hat, das ihm zuvor fremd gewesen sein mag. Auch als Porträtist hat Helmuth Macke, wie hier mehrmals zu gewärtigen ist, Außerordentliches vermocht. Diese Bildnisse sind ausgesprochen lebendig und erfassen spürbar das Wesentliche.

Unterwegs zur Neuen Sachlichkeit

Wenn es dann auf den Stilwandel vom Expressionismus hin zur Neuen Sachlichkeit zugeht (generell eine hochinteressante, noch zu wenig erforschte Phase der Kunstgeschichte), hat Helmuth Macke gerade an den epochalen Schnitt- und Wendepunkten einige bemerkenswerte Bilder geschaffen. Am rätselhaft melancholischen „Paar am Tisch“ (1924) und am rasanten Auf und Ab beim „Karussell am Rheinufer“ (1924) wird man sich nicht so schnell sattsehen. Rein „sachlich“ gerierte er sich sowieso nicht, immer behielt er lyrische Momente bei.

Das Exponat mit dem größten Volumen ist indes kunsthandwerklicher Art: Ab 1925 schuf Helmuth Macke jenes apart blau grundierte und symbolträchtig bemalte Schlafzimmer-Ensemble (Bett, Kommode, Nachttisch, Spiegel, Schreibtisch und Stühle), das sich heute im Besitz eines Kunsthändlers befindet und – wie man gerüchteweise hört – für etwa 150.000 Euro auf den Markt kommen soll.

Ein Schlafzimmer für Dortmund?

Gelinde Überraschung: Indirekt hat dieses Schlafzimmer mit Dortmund und dem Museum Ostwall zu tun. Entstanden ist es nämlich für den Sommersitz des Maschinenfabrikanten Karl Gröppel am Chiemsee. Gröppel sammelte seinerzeit Kunstwerke der Avantgarde – und 1957 kaufte just das Ostwall-Museum das bedeutende Konvolut von rund 200 Werken an. Die Kollektion bildet den Kernbestand des Dortmunder Hauses.

Helmuth Macke: "Blaues Zimmer" (achtteiliges Schlafzimmer-Ensemble), für das sich im Hintergrund auch ein TV-Kameramann interessiert. (Artax Kunsthandel KG)

Helmuth Macke: „Blaues Zimmer“ (achtteiliges Schlafzimmer-Ensemble), für das sich im Hintergrund auch ein TV-Kameramann interessiert. (Artax Kunsthandel KG) (Foto: Bernd Berke)

Burkhard Leismann hält dafür, dass das von Helmuth Macke für Gröppel geschaffene Mobiliar ein idealer Zukauf für Dortmund wäre. Ergänzend wäre anzumerken, dass es nicht nur zum Geist des Ostwall-Museums, sondern wahrscheinlich auch gut zu den Sammelschwerpunkten des Dortmunder Museums für Kunst und Kulturgeschichte sich fügen würde. Fein. Jetzt müsste nur noch jemand den Dortmundern mal eben 150.000 Euro plus minus X anreichen…

Rätselhafter Tod im Bodensee

Zurück zu Helmuth Macke, dessen Tod bis heute rätselhaft anmutet. 1933 war er an den Bodensee gezogen. Der ohnehin zu Depressionen neigende Künstler litt am Unwesen der NS-Zeit und sah sich in die innere Emigration gedrängt.

Das eigentlich so idyllische Bodensee-Gemälde „Segelboot und badende Frauen“ (1933/36) wirkt unversehens wie ein Menetekel, wenn man dies weiß: Am 8. September 1936 ging Helmuth Macke mit einem Freund auf Segeltörn über den – je nach Wetterlage – manchmal äußerst tückischen Bodensee. Als ein Gewitter aufkam, kenterte das Boot. Der Freund konnte sich mit knapper Not retten, der geübte Schwimmer Macke nicht. Die näheren Umstände sind nie hinreichend geklärt worden. Es hört sich fast an wie ein Stoff für Martin Walser. Man könnte über einen kaschierten Freitod spekulieren. Man kann es aber auch bleiben lassen.

Helmuth Macke. Im Dialog mit seinen expressionistischen Künstlerfreunden. 19. Februar bis 1. Mai 2017. Kunstmuseum Ahlen, Museumsplatz 1/Weststraße 98, 59227 Ahlen/Westfalen. Geöffnet Mi-Fr 14-18, Sa/So/Feiertage 11-18 Uhr, Mo/Di geschlossen. Tageskarte 8 Euro, ermäßigt 4 Euro. Katalogbuch 24,80 Euro.

www.kunstmuseum-ahlen.de