Etwas Dortmunder Kiez-Nostalgie und eine jähe Offenbarung der Klassenverhältnisse

Wie ich gemerkt habe, dass es Klassenunterschiede gibt? Über so etwas Unfeines redeten wir zu meiner Grundschul-Kinderzeit nicht.

Blick aus einem Fenster in der Arneckestraße: etliche Jahre nach der skizzierten Zeit und doch auch schon wieder elend lange her. (Foto: Bernd Berke)

Fensterblick in eine Straße des besagten Viertels: etliche Jahre nach der skizzierten Zeit und doch auch schon wieder elend lange her. (Foto: Bernd Berke)

„Unser“ Dortmunder Viertel, etliche Jahre später Szene- und Studentenkiez, heute zu nicht geringen Teilen ein Hort wohlstandsverwöhnter und vielfach ergrauter Bionade-Bürger, war seinerzeit ziemlich homogen kleinbürgerlich. Man kam einigermaßen zurecht, konnte aber „keine großen Sprünge machen“, wie man das damals ausdrückte.

Über soziale Hierarchien machte man sich also wenig Gedanken, schon gar nicht als Kind. Da hat man ja beispielsweise auch die eigentlich nicht zu übersehenden Ensembles der Gründerzeitbauten kaum bemerkt, in denen die meisten wohnten und die man erst rund zwanzig Jahre danach schätzen lernte.

In der fraglichen Zeit gab es beinahe an jeder zweiten Ecke einen „Tante-Emma-Laden“, allein zwei Mädels aus unserer Schulklasse hatten einen Ladeninhaber zum Vater. Da konnte man sich entscheiden, bei wem man nun kaufte. Meist gab die schrittweise kürzere Entfernung den Ausschlag. Und so gab es eben die Kundschaft bei Sch. und die Kundschaft bei M. Später eröffnete dann eine Tengelmann-Filiale. Erstes Zeichen einer neuen Zeit.

Hinzu kamen im näheren Umkreis noch zwei Milchgeschäfte, wo man seine Blechkanne füllen lassen, aber auch schon die Sorten „Gold“ und „Silber“ in Flaschen kaufen  konnte, eine Bäckerei sowie ein Zigaretten- und Zeitschriftenladen, der anfangs zugleich eine private Leihbücherei war. Die zusätzlichen Schutzumschläge waren aus schmucklosem Packpapier. Die betagte Frau K. in dem einen Milchgeschäft sagte immer „Juchott“ statt Joghurt. Und „anne Bude“ sagten wir nur „Was zu trinken“ – und erhielten für ein paar Pfennige ein gefärbtes No-Name-Gesöff.

Hach ja.

Aber ich schwiff und schwoff ab. Was ich eigentlich erzählen wollte: Eines Tages kam ein kleiner Junge in einen der besagten Läden und verlangte: Erbswurst.

Betretenes Schweigen. Man wartete ab, bis er das Geschäft verlassen hatte. Dann ging’s aber los. Die versammelten älteren Frauen zerrissen sich die Schandmäuler. „Och je. Erbswurst hat er gewollt!“ – „Na, das sind ja Verhältnisse!“ – „Der arme Junge…“ Und man wunderte sich, dass das Kind nicht vollends in Lumpen herumlief.

Nun, immerhin hatte der Laden Erbswurst im Angebot. Was also war falsch? Das war Grübelstoff, den ich mir – wie ihr seht – bis heute gemerkt habe.

Während in der Grundschule die Kinder des Viertels unter sich blieben, erhob sich die soziale Frage hernach im Gymnasium, das vielfach auch Kinder aus betuchteren Familien des Dortmunder Südens anzog. Nun gehörte man eher zur vergleichsweise „einfacheren“ Schicht – und manche Lehrer waren geradezu fassungslos, dass meine Mutter (als einzige der ganzen Klasse) arbeiten ging. Dass sie das offenbar nötig hatte…

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Preisfragen: Wie heißt das Viertel – und wie hießen die erwähnten Ladengeschäfte?

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Über Bernd Berke

Langjähriger Kulturredakteur bei der Anfang 2013 verblichenen Westfälischen Rundschau (Dortmund), die letzten elf Jahre als Ressortleiter. Zwischenzeitlich dies und das, z. B. Prosaband „Seitenblicke" (edition offenes feld, 2021), vereinzelt weitere Buchbeiträge, Arbeit für Zeitschriften, diverse Blogs und andere Online-Auftritte. Seit 2011 hier. Und anderswo. Und überhaupt.
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2 Antworten zu Etwas Dortmunder Kiez-Nostalgie und eine jähe Offenbarung der Klassenverhältnisse

  1. Bernd Berke sagt:

    Ans Café Bauschulte kann ich mich auch noch gut erinnern. Es wurde meist dann frequentiert, wenn ein Krankenbesuch in den gegenüber liegenden Städtischen Kliniken zu absolvieren war…
    Dass ein Friseurgeschäft „Fax“ hieß, hat allein schon sprachlich wirklich was… „Gehsse zu Fax?“

  2. Ich bin in der Johannesstr./Innenstadt aufgewachsen und die alte Milchgeschäftsfrau in der Wilhelmstrasse sagte immer „Jochurt“ – offenbar war das ein Wort, dass in diversen Stadtvierteln auch unterschiedlich falsch ausgesprochen wurde…
    Ansonsten sind meine Erinnerungen aber sehr ähnlich. An der Ecke war „Cafe Bauschulte“ und um die Ecke „Blumenhaus Wachtmann“. Es gab eine Drogerie Pöll, wo man alles „Seifige“ kaufte und ich glaube mich zu erinnern, dass die auch einen „Laufmaschenreparaturdienst“ anboten, dann gab es in der kleinen Beurhausstrasse das Fischgeschäft (Brand?) mit den äußerst rustikalen Damen in den gefliesten Räumen, es gab diverse „Tante Emma-Läden“, bis dann auf der Hohen Str. auch ein Tengelmann (oder Konsum? ich weiß nicht mehr genau) eröffnete, die Brötchen kosteten 7 Pfennig und ich war – weil rechenschwach – extrem froh, als der Preis auf 10 Pfennig stieg.
    Dann gab es noch den Friseur „Fax“, bei dem Omma jeden Samstag ihre kumulusartigen Wasserwellen produzieren ließ und – ungeachtet irgendwelcher Preiserhöhungen – immer 5 DM an der Kasse abgab. Ich erinnere mich noch an die weltraumfahrttechnisch anmutenden Trockenhauben und die foltermäßigen Dauerwellwickeldinger, der Geruch war grausig….
    Hüte kauften die Damen meiner Familie im Hutgeschäft an der Ecke Beurhausstr. / Friedrichstrasse. Der Schuster war ein paar Häuser weiter. Und als Kleinkindererinnerung ist da noch der Markt am Westpark und das weiße Pony, das immer an der Mauer an den damaligen Klohäuschen abgestellt war – da kaufte Mama immer eine Möhre extra, die ich dann an das Pony verfüttern durfte – mein persönliches Highlight an Markttagen!

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