Als man sich noch für „richtig links“ halten wollte

Kinners, heute erzählt Euch der Boomer-Opa ein klitzekleines bisschen von früher. Keine Angst, es werden nur ein paar Schlaglichter sein. Und nur die fernen Echos wahrer Klassenkämpfe. Wie denn damals im Revier überhaupt nur der Widerhall aus den wirklichen Metropolen zu vernehmen war.

Icke, wa?! Wie man halt „damals“ aussah. (Foto: Norbert Hell)

Als ich studiert habe, hatte man gefälligst „links“ zu sein, was immer das wirklich heißen mochte. Wir waren uns jedenfalls fraglos sicher – und es schien ja in dieser Hinsicht auch noch wesentlich übersichtlicher zu sein als heute. Freilich sinnierte schon damals Botho Strauß in Gestalt seiner Lotte im Stück „Groß und klein“: „In den 70er Jahren finde sich einer zurecht…“

Bevorzugte „Quelle“ bzw. Hilfsmittel für jegliche Interpretation waren jedenfalls damals bei den Bochumer Historikern die blauen Bände der Marx-Engels-Ausgabe. Es herrschte unter den Studierenden (die damals noch Studenten geheißen wurden) weithin die Auffassung, alle geschichtlichen Geschehnisse jedweder Epoche müssten damit abgeglichen werden. Umso pikierter war ich, als ich eines Tages einen Brief von Karl Marx an seine Geliebte zu lesen bekam, der mit dieser Anrede begann: „Viellieb!“ Das wollte mir süßlich-kitschig vorkommen und sich so gar nicht zu seinen politischen Einsichten fügen. Ach, Gottchen!

Ein unerbittlicher „Anarchist“

In jenen seltsamen Zeiten gerierte sich ein Altersgenosse vehement als „Anarchist“. In einer stundenlangen hitzigen Wohnzimmer-Debatte ließ er sich nicht erweichen. Er hätte am liebsten alles in die Luft gesprengt, wie er posaunte. Wir anderen waren hingegen der Ansicht, dass er damit erst recht die volle Staatsgewalt gegen uns alle entfessele. Schließlich suchte ich den Kompromisslosen zu besänftigen, indem ich ihn zum Abschied herzhaft mit „Rot Front!“ grüßte. Er aber dröhnte, vollends unversöhnlich: „Schwarz Front!“ Wüsste gerne, was später aus ihm geworden ist. Vielleicht denn doch noch eine Gestalt auf der allseits abgesicherten Beamtenlaufbahn? Ist aber auch piepegal. Kaum jemand, der sich nicht angepasst hätte.

Den Hass auf die Bourgeoisie fühlen

Unwesentlich später war man schon auf die damals so genannte „Neue Sensibilität“ verfallen, die längst nicht mehr so harsch politisierte, sondern in Sanftmut und Milde daherkam, gleichsam auf Samtpfoten. Dennoch ließ ich mich bei irgend einer obskuren Splittergruppe für ein ganzes Wochenende auf eine „trotzkistische Schulung“ ein. Es blieb beim einmaligen Besuch, wie ich denn überhaupt nie dauerhaft Partei ergreifen mochte. Wer zweimal bei denselben sitzt, bekommt schnell den Verstand stibitzt. Gut, wa? Von mir. Ganz spontan.

Dem unerträglichen Trotzkisten-Präzeptor, der keinen Widerspruch duldete, sondern nur von oben herab dozierte, wagte ich die Frage zu stellen, ob denn bei ihnen alles nur rational vonstatten gehe oder ob man irgendwann auch Gefühle zeigen dürfe. Er, vollends am Sinn der Frage vorbei: „Ja klar, den Hass auf die Bourgeoisie!“ Aha. Zur Erholung vom stundenlangen Gefasel durften wir dann nachmittags Fußball spielen. Immerhin. Man war nicht nur ein Tor, man schoss auch eins. Harr, harr.

Durften die Beatles Mao schmähen?

Man war, so cirka zwischen 16 und 24 Jahren, dermaßen verblendet, dass man die Mao-Bibel reichlich unkritisch memoriert hat. Sogar den vor- und nachmals so verehrten Beatles nahm man die Zeilen aus dem Song „Revolution“ übel: „But if you go carrying pictures of chairman Mao, you ain’t gonna make it with anyone anyhow…“ Wie? Was? Nö, die Stones waren auch nicht viel mutiger, siehe ihren resignativen Text über den „Street Fighting Man“: „But what can a poor boy do except to sing for a Rock’nRoll Band, cause in sleepy London town there’s just no place for a street fighting man, no!…“

Jetzt mal gar nicht zu reden von Bettina Soundso, in die ich mich für einige Monate verguckte, weil sie (die es mit dem MSB Spartacus hielt) mir so heroisch wie eine zweite Rosa Luxemburg vorkam. Hach. Später ward sie wahrhaftig Geschichts-Professorin. Aber wie sie damals ihren Haarvorhang herunterlassen konnte, um dahinter gewichtig zu reflektieren! Überhaupt erwies sich das unentwegte Politisieren gelegentlich als „Liebes“-Beschleuniger, wahrscheinlich aber auf längere Sicht noch öfter als zerstörerisch.

„Deutscher Herbst“: Polizei in der Pizzeria

Zeitsprung: Aus dem „Deutschen Herbst“ um 1977 habe ich unter anderem in Erinnerung, wie die Polizei mit Maschinenpistolen im Anschlag eine Pizzeria enterte, in der wir friedlich beisammen saßen. Wiederum einige Jahre später suchte mich ein Mann vom Verfassungsschutz zu Hause in meiner kurzzeitigen WG auf, um mich nach einem Schulfreund auszufragen, der die Beamtenlaufbahn einschlagen wollte. Aber da waren wir schon in den öden 1980ern gestrandet. Und es gab überhaupt nichts zu beichten.

 




Trunk, Zeitreise, Einsamkeit und mehr – ein Stapel mit neuen Büchern

Was die Dichter im Glase hatten

Welch eine Idee, gegenläufig zum oft eher abstinenten Zeitgeist: vorwiegend alkoholische Lieblings-Drinks ruhmreicher Schriftsteller, wie sie in ihren Werken vorkommen, als Rezepte herauszubringen und mit anekdotischen Anmerkungen zu versehen. Das Resultat, übersetzt aus dem amerikanischen Englisch: „Trinken wie ein Dichter. 99 Drinks mit Jane Austen, Ernest Hemingway & Co.“ (Klett-Cotta, 217 Seiten, 24 Euro). Die größten Fraktionen bevorzugen – in allerlei Formen und Kombinationen – entweder Gin oder Whisky, dahinter folgen die Anhänger von Rum und Wodka. Einige Beispiele: Edgar Allan Poe hielt es mit Brandy, Rum und Schlagsahne. Gustave Flaubert bevorzugte Apfelcider mit Calvados und Aprikosenbrand. James Joyce nahm – wenig überraschend – gern Kaffee mit irischem Whisky zu sich. E. T. A. Hoffmann mixte sich sozusagen „Elixiere des Teufels“, z. B. aus Lipari-Wein, Kirschwasser und Champagner. Novalis fand die „Blaue Blume“ mit Hilfe von Bittermandel-Schnaps, Kirschsaft und – Mohnsirup. Pablo Neruda goss vorzugsweise Cognac und Cointreau ins Glas, Sylvia Plath hingegen Wodka und Martini, der notorische Trinker Joseph Roth schlichtweg am liebsten Pernod, während Friedrich Dürrenmatt Bordeaux-Wein mit Rum zusammenbrachte. Und Goethe? Verkostete schon mal das eine oder andere Glas fränkischen Weines. Prosit!

Ein Frauenleben im Rausch

Wir schließen thematisch ans vorherige Buch an: Wohin verschärfter Alkoholkonsum führen kann, schilderte anno 1929 Colette Andris (Pseudonym für Pauline Totey) in ihrem Debütroman „Eine Frau, die trinkt“ (Aus dem Französischen von Jan Rhein, Wagenbach, 156 Seiten, 22 Euro), der als lohnende Wiederentdeckung erschienen ist. Die Autorin führte in den „wilden Zwanzigern“ – also vor rund 100 Jahren – ein bewegtes Leben mit allen Höhen und vor allem Tiefen. Sie war eine der allerersten Nackttänzerinnen, wurde hernach Schauspielerin und eben Autorin. Eine durchaus mögliche Professorinnen-Karriere hatte sie zuvor in den Wind geschlagen. Bereits mit 8 Jahren war sie das erste Mal betrunken, um die Eltern gezielt zu schockieren. Der Suff wurde später ihr täglicher Begleiter. Nur im Rausch glaubte sie, gewisse Männer ertragen zu können. Ein Inferno aus Lebensdurst und Abstürzen, trotz der historischen Distanz ungemein gegenwärtig.

Auf eine Zeitreise geschleudert

Der Schweizer Christian Kracht war vor allem zu Zeiten seines Romans „Faserland“ enorm „angesagt“ und galt als große literarische Hoffnung seiner Generation. Nun hat er mit „Air“ (Kiepenheuer & Witsch, 215 Seiten, 25 Euro) erneut die literarische Szene betreten und sogleich wieder Scharen von Rezensenten auf den Plan gerufen. Erlesen schon die bloßen Orte der weit ausgreifenden Handlung: Paul, ein Schweizer Innenarchitekt, lebt auf den abgelegenen schottischen Orkney-Inseln und erhält einen rätselhaften Auftrag aus Norwegen, er soll den perfekten White Cube erschaffen. Durch eine Sonneneruption wird er freilich auf eine Zeitreise geschleudert, die ihn u. a. in eine mittelalterlich anmutende Welt führt. Wer will, kann nun am großen Motiv-Entschlüsselungs-Wettstreit teilnehmen – zwischen germanischen Mythen, KI-Phantasien, Dichtung und Philosophie. Wahrhaft gehobene Fantasy, zuweilen poliert wie ein Design-Produkt erscheinend, doch staunenswert reichhaltig und nicht nur ästhetisch überzeugend.

Ein allgegenwärtiges Gefühl

In letzter Zeit haben manche Politiker das Thema Einsamkeit als eines entdeckt, das sie mit ihren begrenzten Mitteln bekämpfen wollen. Die Erfolgsaussichten sind freilich fraglich, denn Einsamkeit könnte ja vielleicht als Konstante zur universellen Conditio humana gehören. Allerdings sollte man sich nicht einfach damit abfinden, und man darf auch die jeweiligen Ursachen und Beweggründe nicht verkennen. Der in Kassel lebende Janosch Schobin, studierter Soziologe, Hispanist u n d Mathematiker (!), legt mit „Zeiten der Einsamkeit. Erkundungen eines universellen Gefühls“ (Hanser, 224 Seiten, 24 Euro) ein Standardwerk zum Thema vor, das so ziemlich alle Ausfaltungen des Phänomens in Historie und vor allem Moderne erkundet. Einsamkeit zeigt sich dabei keineswegs nur als individuelles, sondern als kollektives, gesellschaftliches Problem. Für solche Bücher werden am besten feste Plätze im Regal reserviert – zur ständigen „Wiedervorlage“.

Bis in die Bochumer Discos

Maja aus Montenegro wird in Deutschland aufwachsen. Die Geschichte ihres spurlos verschwundenen Vaters Miko und seiner Familie kennt sie noch nicht. Ihre Mutter wird sie ihr erzählen. Es ist eine rasante, ziemlich abenteuerliche Migrations-Geschichte, die in den 1980er Jahren aus einem montenegrinischen Dorf bis nach Bochum und in die dortigen Discos führt. Die 1978 in Gelsenkirchen geborene Ines Habich-Milović, auch als Theatermacherin und Theaterautorin tätig, kündet davon in ihrem Romandebüt „Dein Vater hat die Taschen voller Kirschen“ (Rowohlt Berlin, 302 Seiten, 24 Euro). Der Titel bezieht sich auf einen Kirschenklau in Nachbars Garten, der hier eine treibende Rolle spielt. In mancherlei Facetten geht es darum, wie kulturelle Identitäten überhaupt entstehen. Dieses Buch beweist, dass Unterhaltsamkeit und Anstöße zur Nachdenklichkeit durchaus miteinander einhergehen können.

Neue Rock- und Pop-Geschichten

Wir bleiben in Bochum: Der aus dieser Stadt stammende Ulli Engelbrecht ist ein Kenner und emsiger Sammler von Rock- und Popmusik. Zudem häuft er allerlei Geschichten rund um Songs und Sounds an, die gewiss einen wesentlichen Teil seines Lebens und des Lebensgefühls seiner Altersgenossen ausmachen. Man tritt ihm sicherlich nicht zu nahe, wenn man Leute wie den Mit-Bochumer Frank Goosen und den Briten Nick Hornby zu seinen Anregern zählt. Auch im neuen Buch mit dem zunächst seltsam klingenden Titel „Klaus Nomi war ja eigentlich Konditor“ (BoD / Books on Demand, Paperback, 180 Seiten, 13 Euro) erzählt Engelbrecht wieder amüsante Rock- und Popgeschichten, vornehmlich gespeist aus den 70er- und 80er Jahren. Er scheint auf ein schier unerschöpfliches Reservoir an solchen Stories zurückgreifen zu können. Bisher lagen aus diesem Themenkreis bereits vor: „Mir brennen die Schläfen“, „Klingende Wunder“ und „Runde Dinger“. Wohl dem, der ein dermaßen gut sortiertes Archiv hat und es so launig ausbreiten kann!

Lektüre vorzeitig abgebrochen

Dass der Franken Verlag als ambitioniertes Projekt in Dortmund an den Start geht, hat sich verheißungsvoll angehört. Gleich mit der ersten Publikation wird die Vorfreude etwas gedämpft. Die aufs Jahr 1992 und die Folgezeit bezogene, nacholympische Stadterkundung „Feinschnitt Barcelona“ von Adrià Pujol Cruells (Aus dem Katalanischen von Matthias Friedrich, Franken Verlag, Dortmund, 256 Seiten, 24 Euro) mag im Original ein großer Wurf sein, doch das teilt sich in der deutschen Übertragung nur bedingt mit. Der Franken Verlag will Übersetzerinnen und Übersetzer durch Namensnennung auf dem Cover eigens würdigen. Gut so. Auch gebührt prinzipiell allen Respekt, die sich übersetzend ans Katalanische begeben. Nun kann ich mangels Kenntnis dieser Sprache nicht beurteilen, inwieweit die vorliegende Übersetzung gelungen ist. Ich nehme allerdings wahr, dass das Resultat im Deutschen gewöhnungsbedürftig klingt. Gleich die ersten Sätze lauten so: „Aus den Laternen auf der Plaça del Sortidor rinnsalt kränkliches Licht… Die Stadtreinigung hat die Pflastersteine mit phreatischem Wasser begossen…“ – „Rinnsalt“, „phreatisch“. Das sind einfach hinderliche Lesebremsen. In ähnlichem Duktus geht es vielfach weiter. Ich gestehe freimütig, die Lektüre vorzeitig abgebrochen zu haben. Vielleicht passe ich ja einfach nicht zu diesem Buch.




Duell der Giganten: Gil Mehmert inszeniert am Broadway ein Stück über Bernstein und Karajan

Gil Mehmert, der an der Folkwang Hochschule Essen lehrt, setzt Bernstein und Karajan am Broadway in Szene. Foto: Felix Rabas

Gil Mehmert goes Broadway: Der Regisseur, der seit 2003 im Fachbereich Musical an der Folkwang Hochschule in Essen lehrt und in den Theatern im Revier kein Unbekannter ist, hat sich in New York mit einem Stück über zwei Dirigier-Giganten des 20. Jahrhunderts vorgestellt.

Leonard Bernstein und Herbert von Karajan, jedem Musikfreund ein Begriff, trafen sich zum letzten Mal 1988 im legendären Hotel Sacher in Wien. Die beiden Rivalen um Marktmacht und musikalische Meinungen verbrachten eine Nacht in der „Blauen Bar“, mit einem einzigen Zeugen, dem Kellner. Der bemerkt dreißig Jahre später, wie der amerikanische Schriftsteller, Filmemacher und Komponist Peter Danish Bernsteins Gesammelte Briefe liest, erzählt ihm von dieser Begegnung – und der fantasiebegabte Autor füllt die dürre Information mit Leben und imaginiert die Inhalte des nächtlichen Gesprächs. Peter Danish kennt die Welt der klassischen Musik gut; sein Debütroman „The Tenor“, 2014 erschienen, erzählt auf der Basis der frühen Biografie von Maria Callas die Geschichte eines jungen Opernsängers, dem der Zweite Weltkrieg die Karriere ruiniert.

Begegnung im Hotel Sacher: Leonard Bernstein (Helen Schneider) und Herbert von Karajan (Lucca Züchner); in der Mitte der Kellner als einziger Zeuge des Abends (Victor Petersen). Die Bühne schuf Chris Barreca, die Kostüme René Neumann. (Foto: Maria Barnova)

Mit „Last Call“, so der Titel des neuen, im März in New York uraufgeführten Stücks, wagt die junge Kölner Produktionsfirma apiro Entertainment den Sprung an den Broadway und hat mit Gil Mehmert einen erfahrenen Regisseur mitgenommen. Er hat u. a. „Cabaret“ an der Volksoper Wien und Michael Kunzes & Sylvester Levays „Elisabeth“ in Wien inszeniert. Seit er 2011 „Ganz oder gar nicht“ von David Yazbek und 2016 Webbers „Sunset Boulevard“ am Theater Dortmund auf die Bühne gebracht hat, ist er immer wieder als Regisseur auch in der Region hervorgetreten, so zuletzt mit Sondheims „Sweeney Todd“ in Dortmund und John Kanders „Chicago“ an der Oper Bonn.

„Last Call“ kreist 90 Minuten lang um Tiefsinn und Tratsch: Danish verwebt mit der leichten Hand des geübten „well made play“-Autors spritzige Pointen mit komplexen Themen. Es geht um die Art der Lebensführung – der ernsthafte Karajan versus den lockeren Lebemann Bernstein –, um die jüdischen Proteste gegen den Auftritt des im Dritten Reich regimenahen Österreichers mit mazedonischen Wurzeln 1955 in der Carnegie Hall, um Karajans Vergangenheit im Nazi-Reich und um Bernsteins unkonventionellen Zugang zur Musik, um Homosexualität und Lebensgenuss, um originäre und nachschöpferische Kreativität, aber auch um Selbstzweifel und Lebensbilanzen.

Und so spitzen die beiden Kontrahenten ihre Wortspiele zu und rüsten sich zum Duell der Taktstöcke. Das Publikum in einem der fünf „New World Stages“-Theater, einem Off-Broadway-Kulturkomplex, geht lebhaft mit: Viele Zuschauer sind zu jung, um die beiden Musik-Giganten noch persönlich erlebt zu haben. Wann und warum gelacht wird, lässt durchaus einen Generationen-Unterschied erkennen, aber das Florett der Worte touchiert auch die Jüngeren treffsicher. Man ist offenbar gut informiert. Und lässt sich auch von einer Debatte über den passenden Zugang zu Bruckner und Mahler mitreißen.

Helen Schneider als Bernstein. (Foto: Maria Barnova)

Weil es Gil Mehmert, wie er in einem Interview sagt, mehr auf die Seelen, Herzen und Gedanken als auf die äußere Erscheinung der beiden Protagonisten ankommt, hat er sie mit zwei Frauen besetzt: Helen Schneider, die brillante Musical-Darstellerin und Weill-Interpretin, gibt der Figur Bernstein die weltläufige Nonchalance, den souveränen Humor, eine heitere Gelassenheit, aber auch eine spitze Angriffslust und den beweglichen Intellekt. Ihre Mimik, wenn sie über Karajans Sottisen die Augen rollt oder seine künstlerischen Belehrungsergüsse mit einer beiläufigen Geste beiseite wischt, zieht Lacher und Sympathie auf ihre Seite.

Lucca Züchner als Karajan. (Foto: Maria Barnova)

Die Münchner Schauspielerin und Musicalsängerin Lucca Züchner schafft es als Karajan, dem Charmebolzen stand zu halten. Wie sie den alten, vom Schmerz gezeichneten Dirigenten mit den typisch nach hinten frisierten grauen Haaren durch die Szene wanken lässt, hat große Klasse. Bei ihr blitzt Karajans Energie auf, die sich aus dem Willen zu unbedingter Professionalität, künstlerischer Qualität, musikalischer Vollkommenheit speist. Sie verkörpert in manchmal schnarrender Härte, was der „echte“ Karajan in einem Spiegel-Interview 1979 gesagt hat: „Ich gehe auf keine Party. Was ich liebe, ist das Gespräch mit einem oder zwei Menschen, bei dem ernsthaft diskutiert wird. Mich interessieren eigentlich nur Leute, von denen ich was lernen kann. … Party-Geschwätz passt nicht in mein Dasein. Ich habe Besseres zu tun.“

Was für ein Gegensatz zu Bernstein, dem der Gesellschafts-Glamour und die „unterhaltende“ Musik wichtig war – was ihm Lucca Züchner mit vorschnellendem Zeigefinger auch vorwirft. Deutscher Ernst gegen amerikanische Lässigkeit: Solche Szenen belichten die Gegensätze in aggressiver Pointe, um sie Sekunden später witzig und leichtfüßig zu entschärfen, aber nicht zu verharmlosen. Schauspieler-Theater vom Feinsten, zu dem auch Victor Petersen als Kellner seinen Beitrag leistet.

Wenn Peter Danishs Dirigenten-Gefecht etwas vermissen lässt, dann ist es ein Spannungsbogen, der auf einen finalen Coup zuläuft. Sicher beeindruckt, wenn die alten Herren auf der Toilette alleine reflektieren und dabei die Zweifel und Wahrheiten ihrer Existenz streifen. Das Ende allerdings strebt nach Friede, Freude, Sachertorte; der „last call“ gibt sich versöhnlich im Zeichen der Musik. Ein Stück, das man in einer flotten deutschen Übersetzung gerne auf intimer Bühne oder bei Musikfestspielen wiedersehen würde – unterhaltsam reflektierend, wo Grenzen und Größe epochaler Musiker wie Bernstein und Karajan liegen.

Info: https://lastcalltheplay.com/




Im Bann der miesen Machenschaften – Andreas Maiers Roman „Der Teufel“

Eine Kindheit in den frühen 1970er Jahren, vermeintlich recht speziell und doch wohl typisch. Da wird der kleine Junge dauernd vor dem Fernsehgerät „geparkt“ und guckt schier alles weg – von der Sesamstraße bis zum „Blauen Bock“. Bald darauf bemisst sich die soziale Stellung unter Schulfreunden danach, ob jemand eine Carrera-Bahn hat oder nicht. Kommt einem irgendwie bekannt vor, wenn man ein paar Jährchen auf dem Buckel hat, nicht wahr?

Immer wieder lesenswert sind all die Episoden, die Andreas Maier so unprätentiös aus seiner Kindheit und Jugend hervorholt. Was muss der Mann für einen Schatz an Notizen und Tagebüchern haben! Oder ein untrügliches Gedächtnis, gepaart mir ausschmückender Phantasie… Jedenfalls hat er Friedberg, die Wetterau, Bad Nauheim und angrenzende Gebiete nachhaltig der literarischen Landkarte einbeschrieben. Er entwirft keine großen Geschichten und erfasst doch – von unscheinbaren Rändern her – abermals einige Essenzen der 70er und 80er Jahre. Auch dieser Band ist wieder Teil seines fortwährenden Projekts der Vergegenwärtigung.

In Maiers neuem Buch „Der Teufel“ geht es wiederholt um heftig gewollte, bewusst lancierte Zuschreibungen guter und vor allem böser Eigenschaften, nicht zuletzt in den Fernsehnachrichten. Alle paar Jahre wurden dort neue „Teufel“ ausgerufen und hernach vorzugsweise flugs mit Hitler verglichen, die man bis dahin nicht einmal namentlich gekannt hatte. Beispielsweise in Panama, in Rumänien, im Irak, in Serbien (Noriega, Ceausescu, Saddam, Milosevic). Wie da auf einmal der vormals so nette und gastfreundliche Dragoslaw vom örtlichen Jugo-Grill misstrauisch beäugt wurde! Und so weiter, immer fort. Mehrfach taucht zwischendurch und gegen Ende hin der gemalte „Friedberger Teufel“ auf, wie er offenbar in der örtlichen Stadtkirche vorgefunden werden konnte, die – allen linken Umtrieben zum Trotz – eine seltsame Anziehungskraft auf den Heranwachsenden ausübt. Oder sollte dieser Teufel schließlich unversehens verschwunden sein, wie so vieles aus der Vergangenheit?

Jene Zeiten waren ein vielfaches Entweder-Oder: entweder katholisch oder evangelisch, entweder CDU oder SPD, entweder Fleischmann oder Märklin, entweder links oder spießig und (schon etwas feiner justiert): entweder Led Zeppelin oder Roxy Music. Es waren jene Jahre, als man in links sich wähnenden Kreisen Svende Merians sensibilistisch frauenbewegtes Buch „Der Tod des Märchenprinzen“ las. Um es mit einem Titel von Peter Rühmkorf zu sagen: „Die Jahre, die ihr kennt“. Im Gefolge Merians hat sich der jugendliche Erzähler fest vorgenommen, beim Debüt mit der neuen Freundin bloß nicht machomäßig zu ejakulieren. Und so sehr betont er im Nachhinein, man sei damals keinesfalls „uniformiert“ herumgelaufen, dass das Dementi geradezu eine Bekräftigung ist.

Prägnant auch jene eingestreuten Skizzen, etwa vom grotesken Tanzlehrer, vom allfälligen kollektiven Abhängen in Jugendjahren, vom geistig geschwächten Onkel, der sich in ängstlicher Beflissenheit an den schütteren Meinungsfragmenten seines Bruders (Vater des Erzählers) zu orientieren sucht, wenn sie gemeinsam Tagesschau gucken. Auch die gleichförmigen Tage der Oma, die zusehends auf den Tod zulebt, verdichten sich ebenso qualvoll wie anrührend von Zeile zu Zeile. Sodann 1989 und die Folgen: die lästigen „Ossis“, die nun auch in Hessen penetrant auftauchten und z. B. in HiFi-Geschäften begehrlich Bauklötze staunten.

Andreas Maier lotet das Verhältnis des privaten Nahbereichs zu den großen Polit-Machenschaften der Zeit aus. Die Letzteren erweisen sich als üble Kulissenschieberei, während es doch für die Einzelwesen aufs Privatleben ankommen sollte. Verfeindet sind freilich auch Zweige der Familie, die einander wiederum teuflische Eigenschaften zuschreiben. Allenthalben werden Teufel an die Wand gemalt. Fast möchte man meinen, es sei hohe Zeit für eine Teufelsaustreibung. Aber wie? Doch nicht etwa wie gehabt?

Andreas Maier: „Der Teufel“. Roman. Suhrkamp Verlag, 248 Seiten, 25 Euro.

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P. S.: Hier noch ein krittelnder Hinweis auf Seite 62, zur Nachbearbeitung empfohlen: „…und schindeten dadurch Eindruck bei den Frauen…“ ist einfach kein herkömmlich korrektes Deutsch. Oder lässt der Duden auch das schon wieder gelten?

 

 




Diese ungeheure, schöpferische Wut – Biographie über Rolf Dieter Brinkmann

Eigentlich kommt sie reichlich spät auf den Markt, diese Biographie des – je nach Observanz – genialen oder genialischen Dichters Rolf Dieter Brinkmann. Der Mann starb bereits am 23. April 1975, als er in London von einem Auto erfasst wurde. Seither hat das Mythenwesen um seine Person unter mehr oder weniger Kundigen kaum abgenommen, ja, es hat mitunter kultische Züge getragen.

Die Lebensbeschreibung, die Michael Töteberg und Alexandra Vasa jetzt vorlegen, ist recht ausführlich geraten, sie geht in manchen Passagen gar sehr ins Detail und zitiert seitenweise aus Notizen, Briefen und sonstigem Nachlass, dessen Inhalt bislang noch weitgehend unbekannt war. Es gilt eben, manch Versäumtes nachzuholen und verborgene Quellen zu öffnen. Brinkmanns Lebensgefährtin Maleen und der langjährige Wegbegleiter Ralf-Rainer Rygulla haben unschätzbar wertvolle Einblicke ermöglicht.

Es beginnt mit Brinkmanns Kindheit, aus der ein fortwährendes Kriegstrauma erwuchs. Brinkmann wurde am 16. April 1940 im späterhin hassgeliebten, ausgesprochen provinziellen Vechta (Niedersachsen) geboren. In seinen frühen Lebensjahren hat er kriegerische Zeiten miterlebt, ohne etwas davon begreifen zu können. Da dürfte einiges flackernd nachgewirkt haben.

Viele fürchteten sich vor ihm

Mit Worten, die heute korrekterweise nicht mehr verwendet werden, beschrieb er hernach seine Schulzeit: „Ich bin von Krüppeln erzogen worden mit Krüppelvorstellungen!“ Auf „Korrektheiten“ hat er eh nie etwas gegeben, oft hat er sich wie ein unerbittlicher Berserker oder auch (Zitat) „Kotzbrocken“ aufgeführt. Er sorgte für manchen Skandal, ließ manche Veranstaltung entgleisen. Er war einer, vor dessen Zorn viele sich fürchteten – ob nun im alltäglichen Umgang oder in literarischen Debatten. Schon Leute, die ihn ungefragt „duzten“, mussten sich auf Tiraden gefasst machen.

Bereits mit 16 Jahren hatte er Schreibversuche an diverse Verlage geschickt – zunächst vergebens. Es war die Zeit der notdürftig hektographierten Blätter. Immerhin gab es bald knappe (ziemlich negative) Gutachten von Größen wie Enzensberger und Rühmkorf oder auch Dieter Wellershoff, der anfangs sehr skeptisch war, sich aber irgendwann als Lektor bei Kiepenheuer & Witsch für den jungen Autor einsetzte – bis der allzeit reizbare Brinkmann auch ihn vor den Kopf stieß.

Finanziell äußerst prekäres Dasein

Nach einigen Umwegen (u. a. Buchhandels-Lehre in Essen) war Brinkmann nach Köln gezogen, wo er – ungeachtet gewisser Erfolge – über Jahre hinweg ein finanziell äußerst prekäres Dasein fristete; an seiner Seite: die Gefährtin Maleen und der geistig behinderte Sohn Robert. Lastender Alltag, fürwahr, dessen Niederungen wohl vor allem Maleen zu bewältigen hatte.

Von den wenigen Buchpublikationen (Roman „Keiner weiß mehr“) konnten sie jedenfalls kaum leben, sie darbten immerzu auf Pump. Nur die Arbeit für Rundfunkanstalten (zumal Hörspiele, wobei er sich etwa für Schmerzensschreie authentische Anlässe wie unverhoffte Ohrfeigen für die Sprecher wünschte) hielt die Kleinfamilie halbwegs über Wasser. Es gibt in allen Künsten so viele dieser betrüblichen Geschichten.

Mit ihm dämmerte Künftiges herauf

Zusammen mit (und doch zutiefst getrennt von) schreibenden Kollegen wie z. B. Nicolas Born, H. P. Piwitt, Hans Christoph Buch, Peter O. Chotjewitz und schließlich Jürgen Theobaldy verkörperte Brinkmann so etwas wie die anfängliche Aufbruchstimmung, aber auch die baldige Verzweiflung und Resignation der 1960er und frühen 70er Jahre. Wer immer damals ins vertiefte Lesen gefunden hat, wird eine solch exemplarische und zugleich außerordentliche Biographie gewiss mit besonderem Interesse goutieren. An einem wie Brinkmann kam man damals schwerlich vorbei. So grundverschiedene Zeitgenossen wie Peter Handke und Marcel Reich-Ranicki sahen mit ihm schlichtweg Zukunft heraufdämmern.

Angewidert vom verfallenden Rom

Ausgiebig nachgezeichnet werden Phasen wie Brinkmanns Stipendiaten-Aufenthalt in der Villa Massimo zu Rom (literarische Frucht: „Rom, Blicke“), wo er sich von allen anderen Stipendiaten, deren Kunstanstrengungen und geldversessene Gelegenheitenmacherei er verachtete, entschieden unfreundlich absetzte. Die „ewige Stadt“ bestand nach seinem Empfinden ohnehin nur aus Schmutz und Verfall. Man liest es mit Befremden, auch Töteberg und Vasa kommentieren es sehr distanziert. Es war das Gegenteil von Goethes verzücktem Italien-Erleben. Und doch ist zu ahnen, dass auch Brinkmanns monströse Wut ungeahnte Energien freigesetzt haben muss, deren Furor sich nicht zuletzt gegen die konsumistische Zurichtung der „westlichen“ Lebenswelt richtete. Was hätte Brinkmann wohl zu vollends entfesselten Zuständen im Zeichen von Internet und KI gesagt?

Näher beschrieben wird auch Brinkmanns Gastdozentur in Austin (Texas/USA), wo er den Germanistik-Studenten von jederlei öder Sekundärliteratur abriet und statt dessen ureigene, möglichst kreative Ansätze im Umgang mit Literatur empfahl. In diesem Sinne steht zu vermuten, dass Brinkmann eine Biographie über sein gelegentlich wüstes Erdenwallen (Suff und gezielter, nicht grenzenloser Drogenseinsatz inklusive) wohl in Bausch und Bogen verworfen hätte. Allerdings entflammte er in Austin auch für Ideen zu einem ganz anderen Grundschul-Unterricht, was so gar nicht zum unversöhnlichen Wutschreiber zu passen scheint.

Leitfiguren Jahnn, Benn und Arno Schmidt

Gegen Ende hin geht es noch um die Geburtswehen seines literarischen Vermächtnisses, des ungemein komplexen Gedichtbandes „Westwärts 1 & 2″, der heute zu den wahrhaft unklassischen „Klassikern“ aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zählt. Tatsächlich sollte man sich diesen Band nach Kräften intensiv erschließen. Eine biographische Annäherung mag hilfreich hinzukommen, reicht aber bei weitem nicht an sein Werk heran. Welche Dimension es haben könnte, deutet ein Zitat von Heiner Müller auf dem Buchumschlag an: Brinkmann sei „Vielleicht das einzige Genie der westdeutschen Nachkriegsliteratur“.

Zwischendurch ist man geradezu froh und erleichtert, wenn man erfährt, dass Brinkmann auch ein paar wenige Schaffende gelten ließ: Hans Henny Jahnn allen voran. Gottfried Benn. Arno Schmidt. Die Filmemacher der Nouvelle Vague (Truffaut, Godard etc.). Und natürlich US-amerikanische Beatpoeten und Pop-Dichter wie Burroughs, die ihn auf seine spezielle Spur brachten. Im deutschsprachigen Raum war es beispiellos, wie Brinkmann Gedichte mit Alltagsfetzen, Popsongs, Kinoschnipseln und spontan fotografierten Bildern collagierte. Die Verlage kapitulierten beinahe vor seinen formalen und inhaltlichen Ansprüchen. Hätten sie in allen Punkten nachgegeben, wären die Bücher schier unbezahlbar geworden. So aber ist es immer noch auf- und anregend, dass es sie gibt.

Michael Töteberg / Alexandra Vaasa: „Ich gehe in ein anderes Blau. Rolf Dieter Brinkmann – eine Biographie“. Rowohlt, 398 Seiten mit einigen Bildtafeln, Fundstellen- und Literatur-Verzeichnis. 35 Euro.

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P. S. Hinweis für etwaige weitere Auflagen: Der denn doch sehr bekannte Künstler, der auf Seite 285 „Emil Schuhmacher“ genannt wird, schreibt sich ohne „h“, also Schumacher.




Sechs Stunden sind nicht genug – In Bochum inszeniert Johan Simons Elena Ferrantes Roman „Meine geniale Freundin“

Freundinnen fürs Leben: Elena Greco (Jele Brückner, links) und Raffaela Cerullo (Stacyian Jackson) (Foto: Jörg Brüggemann/Ostkreuz/Schauspielhaus Bochum)

Sechs Stunden! Wo sitzt man noch so lange im Theater? Die Schauspielexzesse Peter Steins fallen einem ein, sein Antiken-Projekt, der Faust, der Wallenstein. Doch das ist Jahrzehnte her, und seitdem sind „90 Minuten, keine Pause“ längst schon so etwas wie gültiger Bühnenstandard geworden. Man mag das bedauern. Oder sich dem widersetzen. Johan Simons tut das, in Bochum.

Neapolitanische Saga

Er macht es wieder, seine „Brüder Karamasow“ nach Dostojewskij, Premiere im Oktober 2023, dauerten gar sieben Stunden, inklusive zweier Pausen nebst Gastmahl. Zu essen gab es diesmal auch, doch dazu später (vielleicht) mehr. Nun also: Premiere der Bühnenadaption von Elena Ferrantes Romanen um zwei Freundinnen aus dem armen italienischen Süden, deren erster den Titel „Meine geniale Freundin“ trug und die als Zyklus „Neapolitanische Saga“ enorm erfolgreich waren und sind. Die Textfassung stammt von Koen Tachelet, einem langjährigen Mitstreiter Simons‘ seit gemeinsamen Zeiten am NTGent.

Jele Brückner als Elena am Schreibtisch und in der Videoprojektion (Foto: Jörg Brüggemann/Ostkreuz/Schauspielhaus Bochum)

Rechtlose Frauen

Erzählt werden die Lebensgeschichten von Elena und Raffaela, kurz Lenù und Lila, beginnend mit ihrer Kindheit in einem armen Stadtviertel Neapels. Das Viertel heißt Rione, was das italienische Wort für Viertel ist, und von wo man vor allem weg will. Doch die Möglichkeiten sind begrenzt, mafiöse Strukturen herrschen, und die faktische Rechtlosigkeit der Frauen scheint gottgegeben zu sein. Das Rione ist ein Hort der strukturellen Gewalt, zu der brutale Erniedrigungen und Vergewaltigungen ebenso zählen wie das ängstliche Festhalten an traditionellen Rollenbildern. In dieses Milieu werden die beiden Protagonistinnen hineingeboren. Elena, unschwer erkennbar als Alter Ego der Autorin, schafft die Aufnahmeprüfung einer Elitehochschule in Pisa, wird eine erfolgreiche Journalistin und Schriftstellerin; Raffaela heiratet früh, bekommt früh ein Kind von einem anderen, trennt sich von ihrem gewalttätigen Ehemann, schließt eine „Vernunftehe“, landet schließlich als Arbeiterin in der Fleischfabrik.

Feministischer Jahrhundertroman

Natürlich geschieht noch viel mehr in den Romanen, sind atmosphärische Elemente von großer Bedeutung. Elena Ferrante hat weit über tausend Seiten mit ihren Beschreibungen gefüllt, daran gemessen sind sechs Stunden Theater – netto vielleicht um die fünf – immer noch wenig, auch wenn fast pausenlos dialogisiert wird. Offenbar hat sich die Inszenierung, was man begrüßen mag, zum Ziel gesetzt, die biografische Grobstruktur beizubehalten. „Kindheit und Jugend“ ist der erste Teil überschrieben, es folgen „Erwachsenenjahre“ und „Reife und Alter“. Das Dilemma dieses Vorgehens ist jedoch die weitgehende Reduktion auf biografische Fakten – Männergewalt, Kinderkriegen, Trennungen, persönlicher Erfolg. Den feministischen Jahrhundertroman, den manche Kritiker in Ferrantes Werk sehen, findet man hier nicht wieder, gesamtgesellschaftliche Themen wie bürgerlicher Reichtum, organisierte Kriminalität oder Vetternwirtschaft bleiben lediglich strukturelle Grundierung.

Bühnenbild aus der Zentralperspektive. Es soll sich um eine typische italienische Piazza handeln. (Foto: Jörg Brüggemann/Ostkreuz/Schauspielhaus Bochum)

68 und danach

Gewiß gibt es im Stück auch Klassenkampf und revolutionäre Bestrebungen. Die Zeit nach 1968 und die 70er Jahre waren davon geprägt, in Italien verübten die Roten Brigaden Gewalttaten, ermordeten Politiker wie den christdemokratischen Ministerpräsidenten Aldo Moro. Ferrante, Jahrgang 1943, erzählt vermutlich vieles aus eigenem Erleben im universitären Milieu. Wiederholt werden (vorwiegend im zweiten Teil des Abends) Nachrichten von revolutionären Taten in das Bühnengeschehen getragen, treten klassenkämpferische junge Männer aus gutem Haus als Agitatoren auf, gibt es den Versuch, Arbeiter und Studenten im Klassenkampf zu vereinen. Doch bei den Frauen reift die Erkenntnis, daß offenbar auch die Revolution Männersache ist, sich strukturell für sie somit nicht viel ändern würde. Hier finden sich die Wurzeln der autonomen Frauenbewegung, und wer etwas älter ist und früher mal „links“ war, kennt das vielleicht auch alles. Dieser Wiedererkennungseffekt hat sicherlich einen nicht geringen Anteil am Erfolg der Ferrante-Bücher, auch beim deutschen Publikum.

Strukturelle Zusammenhänge

In Bochum indes, kommen wir zum Theaterstück zurück, zeigt die Inszenierung letztlich wenig Interesse daran, strukturelle Zusammenhänge herauszuarbeiten. Einige Male liest Elena Sätze aus ihren Texten vor, die man vielleicht als analytischen Versuch bezeichnen könnte. Aber sie bleiben isoliert. Doch bietet diese Art der Inszenierung immerhin eine gute Wiedererkennbarkeit der Textvorlage. Wer die Bücher gelesen hat, kann alte Bekannte grüßen.

Ein bißchen wie bei Pina Bausch: Das Bühnenpersonal nimmt auf gereihten Stühlen Platz. (Foto: Jörg Brüggemann/Ostkreuz/Schauspielhaus Bochum)

Johans Stühle

Von Johan Simons wissen wir, daß er gerne Stühle auf der Bühne mag. So auch hier. Und die Schauspieler sind gut damit beschäftigt, Stühle hin und her zu tragen, aufzureihen, abzuräumen. Wenn gar ein Erdbeben die Stadt erschüttert, bleibt als bildlicher Ausdruck ein großer Haufen Stühle, unter denen (Trümmer!) Opfer zu beklagen sind. Doch mehr als einprägsame Bilder entstehen so nicht; anders als in manchen Psychotherapien erklären die Stühle in ihren Anordnungen nicht die Beziehungen der Menschen zueinander, bleibt es bei allgemeiner Symbolik von Verortung und Seßhaftigkeit.

Es soll eine italienische Piazza sein

Zweites prägendes Bühnenelement ist die permanent rotierende Drehbühne. Sie bewahrt vor allzu großer Statuarik des Geschehens und bietet in Verbindung mit mitkreisenden Videokameras zudem den Vorteil, daß auf allen Plätzen – es gibt sie im Zuschauersaal wie auch hinten auf der Bühne – in Verbindung mit der Videoprojektion alles gesehen und verfolgt werden kann. Zu Beginn rotieren zwei Schreibtische mit den beiden jungen Mädchen, umlegt mit Büchern der eine (von Elena), mit Schuhen der andere. Der Bühnenraum selbst, war vor der Premiere in einem Vorgespräch zu erfahren, sei einer italienischen Piazza nachempfunden, aber wenn man das nicht weiß, kommt man auch nicht drauf. Dafür bleibt es zu abstrakt, trotz der warm erstrahlenden Straßenlaterne.

Nicht folkloristisch

In gewisser Weise ist der hohe Abstraktionsgrad dieser Ausstattung aber auch vorteilhaft, bewahrt er das Publikum doch vor allzu folkloristischer Deutung des Geschehens. Etwas anderes wäre es vielleicht gewesen, wenn die Inszenierung sich statt für eine lineare Protokollierung für punktuelle Verdichtung der Handlung entschieden hätte.

Nochmal die Freundinnen: Stacyian Jackson als Raffaela links, Jele Brückner als Elena rechts. . (Foto: Jörg Brüggemann/Ostkreuz/Schauspielhaus Bochum)

Ideale Besetzung

Schauen wir auf die Darsteller. Jele Brückner ist Elena Greco, schon vom Typ her eine geradezu ideale Besetzung. Nachdem sie sich mit etwas Verzögerung „warmgespielt“ hat, ist sie eins mit ihrer Rolle. Die Zumutungen des Lebens – Freude, Angst, Selbstzweifel, Bedürftigkeit wie auch späterhin Selbstbewußtsein und Kraft weiß sie intensiv zu geben. Später wird ihr dafür reicher Applaus zuteil. Ihre Freundin Raffaela Cerullo wird von Stacyian Jackson gegeben, deren körperlicher Einsatz beeindruckt, die sprachlich aber nicht überzeugt. Sie spricht mit starkem (amerikanischen?) Akzent, was immer wieder zu Verständnisschwierigkeiten führt. Zudem gibt es ärgerliche Versprecher, die dem Redefluß ebenfalls nicht guttun. Außerdem legt sie (legt der Regisseur) die Rolle der Lila recht prollig an, was Leser der Bücher für unzutreffend halten.

Unmengen von Text

Mit Ausnahme der beiden Hauptkräfte spielen die anderen meistens mehrere Rollen. Garderobenwechsel geschieht oft auf der Bühne, was der Produktion die Anmutung des Unfertigen gibt. Darstellerinnen und Darsteller schlagen sich gut, stundenlang, bewältigen eine Unmenge von Text, beeindrucken mit ihrer scheinbar grenzenlosen Beweglichkeit. Wir erleben in Bochum ein hochwertiges, homogenes Ensemble, das die Inszenierung, die nicht immer frei von Längen ist, souverän trägt und alles in allem und trotz vieler bedrückender Handlungselemente zu einem unvergeßlichen Theaterabend macht.

Ein Solitär in der deutschsprachigen Theaterwelt

Erwähnt werden muß noch, daß es bei der Premiere eine ca. viertelstündige Unterbrechung durch einen Notarzteinsatz gab. Schließlich aber: Stehender Applaus, lang anhaltend. Mit seiner selbstbewußten Art, Theater zu machen, ist der 78jährige Johan Simons mittlerweile ein Solitär, nicht nur im Ruhrgebiet, sondern im ganzen deutschsprachigen Theaterraum.

Ach ja: Zu essen gab es verschiedene italienische Vorspeisen, vom Caterer in praktischen Einmalverpackungen dargeboten, außerdem Brot und Wasser. Man nahm es dankbar an an diesem beeindruckenden Theaterabend, der erst weit nach Mitternacht sein Ende fand.

Weitere Aufführungen: 1., 2., 23. Februar, jeweils 16:00 Uhr
www.schauspielhausbochum.de




Zukunft noch im Nebel: Die Revierpassagen wünschen alles Gute für 2025!

Dortmund Hauptfriedhof, 27. Dezember 2024, zur Mittagszeit. (Foto: Bernd Berke)

Noch liegt im Nebel, was das neue Jahr bringen wird. Aber bald wird sich der Dunst ein wenig lichten – und wir werden schon sehen (hoffentlich auch einige Verheißungen).

Eins steht jetzt schon fest: Wir sind auf dem besten Wege, das erste Viertel des 21. Jahrhunderts hinter uns zu bringen. So oder so.




Nur Kunst, Liebe und Tod – Horst Bieneks Tagebücher

Der 1930 im oberschlesischen Gleiwitz geborene Horst Bienek konnte sich nach dem Krieg in die „Sowjetische Besatzungszone“ absetzen, ein Volontariat in Potsdam ergattern und erste Prosa-Texte veröffentlichen.

Im September 1951 nimmt ihn Bertolt Brecht in seine Meisterklasse am Berliner Ensemble in Ost-Berlin auf und der junge Autor beginnt mit einem Tagebuch, in dem er fortan seine Gedanken und Erlebnisse akribisch festhalten will.

Bert Brecht erwiderte seine Bewunderung nicht

Er beobachtet Brecht bei den Proben („…er klatschte in die Hände, kicherte, schnaubte; es war köstlich.“) Seine Begeisterung und Bewunderung für Brecht, das epische Theater und die ketzerische Lyrik, wird Bienek zeitlebens bewahren. Leider wurde sie nicht erwidert. Denn weder Brecht noch Helene Weigel machten einen Finger für ihn krumm, als ihn die Stasi im November 1951 wegen angeblicher Spionage verhaftete und zur Zwangsarbeit in ein sowjetisches Gulag verfrachtete. Nur einem Zufall ist es zu verdanken, dass Bienek im Rahmen politischer Abkommen 1955 entlassen und in die Bundesrepublik abgeschoben wurde.

Netzwerker in der Literaturszene

Es dauerte Jahre, bis Bienek künstlerisch wieder Fuß fasste, als Kultur-Redakteur beim Hessischen Rundfunk, Herausgeber verschiedener Zeitschriften und Verlagslektor bei dtv zu einem gefragten und einflussreichen Netzwerker in der Literaturszene wurde und schriftstellerisch die Traumata seines Lebens bearbeiten konnte.

Die Tagebücher, 1951 mit großen Hoffnungen begonnen, weisen denn auch eine große Leerstelle auf. Erst 1959 holt Bienek die Hefte wieder hervor, wird dann aber bis zu seinem Tod kein Blatt mehr vor den Mund nehmen und jedes noch so intime Detail seines ruhelosen und obsessiven Lebens aufschreiben.

Völlig ungeschütztes Schreiben

Die jetzt unter dem Titel „Es gibt nur die Kunst, die Liebe und den Tod. Dazwischen gibt es nichts“ veröffentlichten Tagebücher sind eine editorische Großtat, die dem Leser viel abverlangt. Denn Bienek schreibt völlig ungeschützt und oft polemisch über seine Begegnungen mit Kritikern wie Marcel Reich-Ranicki und Joachim Kaiser, seine Freund- und Feindschaften mit Kollegen wie Wolfgang Koeppen und Hans Magnus Enzensberger; er diskutiert mit Ingeborg Bachmann und Max Frisch und gibt freizügige Einblicke in seine sexuellen Vorlieben, beschreibt seine Ausflüge in die Schwulen-Bars, seine wüsten Ausschweifungen, die ihn vom Schreiben abhalten und in schummrige Klappen und dunkle Parks führen. Erst als AIDS unter seinen schwulen Freunden wütet, schränkt er seine sexuellen Obsessionen etwas ein.

„Ein flackernder Blick ins Leere“

Michael Krüger, sein Lektor und Verleger, beschreibt ihn als rastloses und „verletztes Kind“, das nur unter großen Schmerzen vom Verlust der Heimat („Die erste Polka“), von Verhaftung und Tortur im Gulag („Die Zelle“) erzählen und in zeitlos gültige Romane verwandeln konnte. Am 7. Dezember 1990 ist Bienek in München nach langem Siechtum an AIDS gestorben. „Das letzte Bild, das ich von ihm habe“, schreibt Krüger im Nachwort, „ist sein abgemagerter, geschrumpfter Körper, ein flackernder Blick ins Leere, ein Würgen, als wollte er noch etwas Wichtiges sagen. Er hat es für sich behalten müssen.“

Horst Bienek: „Es gibt nur die Kunst, die Liebe und den Tod. Dazwischen gibt es nichts.“ Die Tagebücher 1951-1990. Hrsg. von Daniel Pietrek u.a., mit einem Nachwort von Michael Krüger, Hanser Verlag, München. 1712 S., 58 Euro.




„Ausgeliefert“ – Klassenkampf mit Apps und GPS

Damn, clusterfuck, cringe as fuck, shiny. Nur eine kleine Auswahl zwischendurch hingeworfener Wörter aus dem Prolog zum eigentlich auf Deutsch verfassten Buch. Sollte das etwa besonders „cool“ klingen?

Orry Mittenmayers Buch „Ausgeliefert“ prangert jedenfalls die Methoden gewisser Essens-Lieferdienste an, enttäuscht allerdings am Anfang, wo es doch gerade in den Text locken sollte. Auch der einschläfernde Bandwurmsatz des Untertitels ist in diesem Sinne nicht hilfreich, er lautet: „Wie Lieferdienste ihre Fahrer ausbeuten, warum uns das alle ärmer macht – und was wir dagegen tun können.“  Erst der konkrete, recht späte Einstieg in die eigentliche Materie liest sich dann deutlich spannender.

Lückenlose Überwachung

Da erfährt man endlich einiges aus dem miesen Alltag der Auslieferungsfahrer („Rider“). Es geht – am Beispiel Köln – um die lückenlose Orts- und Zeit-Überwachung per GPS; um die fiesen Kontrollanrufe der oft gerade mal dem BWL-Studium entronnenen „Dispatcher“, die schon bei der kleinsten Verzögerung ihr armseliges Repertoire zwischen geheuchelter Jovialität, Herablassung und Drohung abspulen. Zynischer noch: Sie verkaufen den gehetzten Radfahrern den ausbeuterischen Knochenjob als sportlichen Startup-Lifestyle. Die sportive „challenge“ bestand u. a. darin, kaum Zeit für Toilettengänge oder sonstige Pausen zu haben. Der Algorithmus der Firmen-Apps gab den gnadenlosen Takt vor.

Wo ist nur das Trinkgeld geblieben?

Der aus einfachen Verhältnissen stammende Mittenmayer war dringend auf den (kargen) Lohn angewiesen, weil er die Zeit bis zum BAföG überbrücken, die Abendschule besuchen und anschließend studieren wollte. Für ein 2024 erscheinendes Buch ist das Geschehen schon recht lange her und eventuell nur bedingt aktuell: Ab 2016 nahm der Autor Jobs bei Foodora und Deliveroo an, zwischen 9 und 10 Euro gab’s damals pro Stunde. Der Umgang mit umso dringender benötigtem Trinkgeld war wohl alles andere als transparent. Sollte da vielleicht mancher per Karte oder Überweisung zugezahlte Euro in der Unternehmenskasse statt in den Taschen der Fahrer gelandet sein?

Schon zu Beginn mussten die Fahrer für die Lieferboxen offenbar je 50 Euro Pfand entrichten. Auch danach trugen sie alle Risiken, beispielsweise mussten sie etwaige Schäden am eigenen Fahrrad auf eigene Kosten beseitigen. Von Gefahren im hektischen Straßenverkehr mal ganz großzügig abgesehen.

Unaufhörliches Lob der Gewerkschaft

Als Mittenmayer und andere sich wehrten, versuchten die Firmen alles, um die Gründung von Betriebsräten zu verhindern. Doch mit der rasant anwachsenden Protest-Aktion „Liefern am Limit“ erlangten er und seine Mitstreiter bundesweite Aufmerksamkeit – nicht zuletzt durch die Hilfe der Gewerkschaft. Solidarität hat eben auch im Klassenkampf neuerer Machart keineswegs ausgedient.

Gegen Schluss plätschert das Buch leider etwas entkräftet aus. Mittenmayer betont noch und noch, was er bis dahin schon vielfach mitgeteilt hat: Wie wichtig Gewerkschaften (hier besonders: die NGG) seien, wie ihn der Kampf für Arbeitnehmerrechte „empowered“ habe, wie er als Schwarzer und (Hör)-Behinderter gegen alle Wahrscheinlichkeit und viele Widerstände doch noch höhere Bildungsabschlüsse erlangt habe. Alles gut und richtig. Respekt vor dieser Energie- und Lebensleistung. Aber irgendwann klingt es dann doch nach Gebetsmühle und Litanei.

Orry Mittenmayer (mit Harald Braun): „Ausgeliefert“. Kiepenheuer & Wisch, 224 Seiten, 18 Euro.




„Es musste etwas besser werden“ – Jürgen Habermas und die Pflicht zur Vernunft

„Ich halte das Streben, die Welt um ein Winziges besser zu machen oder auch nur dazu beizutragen, die stets drohende Regression aufzuhalten, für ein ganz unverächtliches Motiv. Daher bin ich mit der Bezeichnung ,Philosoph und Soziologe‘ ganz zufrieden.“

So äußert sich Jürgen Habermas in einem neuen Buch, in dem er über die Motive seines Denkens, die Umstände, unter denen es sich entwickelte, und die Veränderungen, die es im Laufe der Jahrzehnte erfuhr, Auskunft gibt.

Debatten und Diskurse beispielhaft geprägt

Dass der inzwischen 95-jährige Intellektuelle, der mit seinen Beiträgen und Büchern wie kein anderer die politischen Debatten und wissenschaftlichen Diskurse in Deutschland geprägt hat, mit dieser Selbstbeschreibung tiefstapelt, weiß er natürlich auch. Denn Habermas war nie nur ein „Philosoph und Soziologe“, der sich im universitären Elfenbeinturm verschanzt und von oben herab seine neuesten Erkenntnisse zu gesellschaftlichen Transformationen, kulturellen Phänomenen und kommunikativen Strategien verkündet.

Ob als Hochschullehrer in Frankfurt und Heidelberg oder als Autor der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“: Sich mit sozialwissenschaftlichen Argumenten und historischen Erkenntnissen in die aktuellen Debatten einzumischen, war stets sein größtes Bestreben, die Europäische Einigung sein größter Wunsch und die Abwehr rechtsnationaler Tendenzen der innerste Antrieb des enzyklopädisch gebildeten Großintellektuellen, der sich in jungen Jahren in einer von Alt-Nazis beherrschten Universitätslandschaft durchsetzen musste.

„Es musste etwas besser werden“, sagt Habermas (so auch der Titel des Buches), „und es lag an uns, ob sich die Welt zum Besseren verändern würde.“ Uns, das sind seine aus dem Exil heimgekehrten Kollegen von der „Kritischen Theorie“ der Frankfurter Schule: Adorno, Marcuse, Horkheimer, aber auch seine linksliberalen Mit-Studenten Karl-Otto Apel, Ernst Tugendhat und Michael Theunissen.

Wider die bleierne Zeit der Restauration

Im Gespräch mit Stefan Müller-Doohm und Roman Yos umkreist Habermas die Anfänge seiner wissenschaftlichen Biografie und die bleierne Zeit der bundesrepublikanischen Restauration, in der Habermas und sein Konzept einer auf die Demokratisierung der Gesellschaft und die Formulierung einer vernunftgeleiteten Kommunikation ausgerichteten Sozialwissenschaft wie ein Fremdkörper wirkte und als linksradikal diffamiert wurde.

Dabei hatte Habermas längst den ollen Marx neu interpretiert, auch Freuds Psychoanalyse und vor allem die US-amerikanischen Forschungen zur Linguistik und Sprechakt-Theorie in sein Werk einbezogen, Bücher verfasst, die heute legendär sind: „Strukturwandel der Öffentlichkeit“, „Erkenntnis und Interesse“, „Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus“, „Theorie des kommunikativen Handelns.“

Aber hört ihm auch noch jemand zu?

Im kollegialen Diskurs schreitet Habermas die wichtigsten Stationen seines Lebens und zentrale Begriffe seines Denkens ab, plädiert eindringlich für das Projekt der Europäischen Einigung, fordert ein entschlosseneres Handeln zur Verhinderung der Klimakatastrophe, kommentiert den völkerrechtswidrigen Überfall Russlands auf die Ukraine, mahnt Israel, bei seinem gerechtfertigten Krieg gegen den Terror der Hamas die zivilgesellschaftlichen Maßstäbe zu beachten, erinnert an die „Pflicht zum Gebrauch unserer Vernunft“. Habermas hat recht. Aber hört ihm auch noch jemand zu?

Jürgen Habermas: „Es musste etwas besser werden.“ Gespräche mit Stefan Müller-Doohm und Roman Yos. Suhrkamp, 254 Seiten, 28 Euro.




Die Welt als Todesacker – „Mein drittes Leben“

Sie hatte alles: eine riesige Wohnung, einen spannenden Beruf und eine tolle Familie. Doch dann zerbricht Lindas Leben in einem einzigem Moment. Sonja, die geliebte Tochter, passionierte Rennradfahrerin und lebensfroher Freigeist, wird auf dem Weg zu einem Arzttermin von einem Lastwagen überrollt und zermalmt.

Alles, was für Linda eine Bedeutung hatte, löst sich mit einem Schlag auf. Sämtliche Gewissheit, alle Kraft und jeder Lebenssinn verlässt die Frau, die eben noch eine gefragte Kunstkuratorin war und ein schillerndes Dasein führte. Sie ist untröstlich, taumelt ziellos durch die Tage, kann keine Kunstschönheiten und keine fröhlichen Menschen mehr ertragen. Sie verlässt Richard, ihren Mann, einen nur mäßig erfolgreichen Maler, der lustlos dem Brotberuf eines Lehrers nachgeht.

Wenn die Zukunft versinkt

Statt sich in teurem Outfit hübsch herausgeputzt in der Leipziger Kunst-Szene zu sonnen, hockt Linda jetzt allein auf einem alten Bauernhof, füttert die Hühner, mistet den Stall aus, kämpft gegen den Impuls, sich mit einer Überdosis Schlaf-Tabletten aus dem sinnlos geworden Dasein zu verabschieden. Sie spricht mit der toten Tochter, lässt immer wieder die letzten Momente Revue passieren, bevor Sonja die Wohnungstür hinter sich zuzog, auf ihr Rad stieg und in den Tod raste: „Daraus leitet sich seither alles ab“, murmelt die in selbstgewählter Einsamkeit vor sich hin fantasierende Linda. „Wie ein schwarzes Loch steht es im Zentrum meines Seins und schluckt jede Zukunft, bevor sie beginnen kann.“

Linda, Hauptfigur und Erzählerin von „Mein drittes Leben“, berichtet in schonungslosen und schmerzlichen Gedanken-Splittern und Erinnerungs-Sequenzen, wie sie in ein schwarzes Loch der Trauer versinkt. Jede Bewegung ist eine Last, schon das Aufstehen eine Qual, und nur schwer gelingt es ihr, wieder ins Leben und in so etwas wie eine Normalität zu finden.

Dieses fragile Leben

Daniela Krien, die in Leipzig lebende Autorin, die in ihrem Debütroman „Irgendwann werden wir uns alles erzählen“ die emotionalen Verwirrungen und politischen Verwerfungen der Wendezeit beschrieb und mit „Die Liebe im Ernstfall“ aus der Sicht fünf verschiedener Frauen einen fulminanten Besteller über die Verwicklungen der Liebe in Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche landete, hat den Lesern immer schon einiges zugemutet. Ihre Figuren hatten stets einen Hang zu Selbstzerstörung und Melancholie. Krankheit und Tod lauerten im Hintergrund: das Leben ist ein fragiles Gebilde, das Glück nur ein Zufall, der Abgrund nur einen Schritt entfernt.

Jetzt legt die Autorin noch einmal kräftig zu und dreht an der Schraube seelischer Pein, körperlicher Beeinträchtigung und tödlicher Gewissheit. Mit scharfem literarischen Seziermesser zerschneidet sie sämtliche Fäden, mit denen die trauernde Linda, die sich immer tiefer in ihren Schmerz fallen lässt, noch am Leben hängt. Wenn sie sich nicht gerade mit Tabletten betäubt, grübelt sie sich durch ihr verkorkstes Leben, verstößt alle Menschen, die es gut mit ihr meinen, suhlt sich in ihrem Leid.

Überall wird gelitten

Dass die Medizin es schafft, den Krebs, der in ihr wuchert, zu besiegen, ist Linda eigentlich gar nicht recht. Gern würde sie sterben. So wie die alte Bäuerin, deren Haus sie nun bewohnt. Oder wie ihr treuer Gefährte, ein altersschwacher Hund, der sich irgendwann zum Sterben in den Hühnerstall legt. Ob ihr Mann, dem sie sich langsam wieder annähert und der seine Verzweiflung in seine Bilder hinein malt, dem Tod entgehen kann, bleibt offen. Kaum hat er die Chance, in einer bekannten Galerie auszustellen, sucht auch ihn der Krebs heim.

Wohin Linda auch schaut, überall wird gelitten und gestorben. Eine Nachbarin hat, trotz Chemotherapie, nur noch wenige Monate zu leben. Lindas beste Freundin Natascha spielt, weil sie ihren Alltag nicht mehr bewältigen kann, mit dem Gedanken, zusammen mit ihrer schwerbehinderten, aber musikalisch hochbegabten und mit einem absoluten Gehör ausgezeichneten Tochter Nine aus dem Leben zu scheiden. Hinter der penibel geschminkten Fassade von Lindas Mutter, die nach der Wende in den Westen und in die Arme eines reichen Mannes floh, liegt der Schutt der Selbstverleugnung.

Ein unheimlicher Sog

Wenn man glaubt, es reicht, packt Krien noch ein Elend dazu, sieht mit Lindas Augen das Leben als apokalyptischen Reigen und die Welt als staubigen Todesacker. Nebenbei werden Kuschel-Pädagogik, sprach-politisch korrekte Bevormundung und küchenpsychologische Ratgeber im Orkus der zeitgeistigen Oberflächlichkeit versenkt.

Der Roman, der von Trauer-Ritualen und Identitäts-Suche, von Ort- und Heimatlosigkeit in einer unübersichtlichen Welt handelt, entwickelt einen seltsamen, unheimlichen Sog, dem sich der Leser nicht entziehen kann. Vorangestellt ist dem Buch eine Zeile aus einem alten Song von DDR-Liedermacher Gerhard „Gundi“ Gundermann: „Wir wissen, dass alles, was kommt, auch wieder geht, warum tut es dann immer wieder und immer mehr weh?“

Daniela Krien: „Mein drittes Leben“. Roman. Diogenes Verlag, Zürich 2024, 304 Seiten, 26 Euro.

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Info

Daniela Krien, geboren 1975 in Neu-Kaliß, einem Dorf bei Schwerin. In Hof an der Saale arbeitete sie zunächst als Zahnarzthelferin, studierte dann Kultur-, Kommunikations- und Medienwissenschaften in Leipzig. Ihre Karriere als Schriftstellerin begann sie mit „Später werden wir uns alles erzählen“ (2011), es folgten der Erzählband „Muldental“ (2014) sowie die Bestseller-Romane „Die Liebe im Ernstfall“ (2019) und „Der Brand“ (2021). Wie die meisten ihrer Figuren lebt sie in Leipzig. Sie hat eine schwerbehinderte, musikalisch hochbegabte und mit dem absoluten Gehör ausgezeichnete Tochter, deren Schicksal sich in „Mein drittes Leben“ spiegelt. (FD)




„Die Geschichten in uns“ – Leben und Schreiben des Benedict Wells

Immer wieder er hat seine Coming-of-Age-Story vom schüchternen Jungen in einem amerikanischen Provinzkaff der 1980er Jahre verändert und umgeschrieben, das ausufernde Manuskript radikal eingekürzt, an der Alltagssprache des Erzählers geschraubt.

Nächtelang hat er gegrübelt, warum er die Geschichte so wichtig findet und sie anderen mitteilen will, was sie mit seinem eigenen Leben zu tun haben könnte und ob die darin verwickelten Figuren vielleicht Gedanken und Wünsche von ihm selbst, dem Autor Benedict Wells, transportieren. Auch am Einstieg, mit dem er seine Leserschaft sofort neugierig machen, fesseln und nicht mehr vom Haken lassen will, hat er unzählige Male gefeilt.

Plötzlich ist alles ganz klar

Manchmal hatte er Angst, er kriege den Roman einfach nicht in den Griff und müsse ihn erst einmal für ein paar Jahre in die Schublade versenken. Dann plötzlich ist ihm alles ganz klar, er weiß, dass alles gut werden wird und tippt ohne zu wissen, wie ihm gerade geschieht, den ersten Satz in seinen Computer, der alles auf den Punkt bringt und den Kern des Buches enthält, das ein paar Monate später unter dem Titel „Hard Land“ herauskommt, ein Riesenerfolg werden und ihm einige Preise einbringen wird: „In diesem Sommer verliebte ich mich, und meine Mutter starb.“

Den vorbelasteten Namen abgelegt

Der 1984 in München geborene Benedict Wells gehört zu den herausragenden Autoren der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Sein vierter Roman („Vom Ende der Einsamkeit“) stand mehr als anderthalb Jahre auf der Bestsellerliste und wurde in 38 Sprachen übersetzt. Für „Hard Land“ bekam er den Deutschen Jugendliteraturpreis. Dass es einmal so kommen würde, hatte der Autor, der sich aufgrund der Nazi-Verstrickungen seiner Familie von seinem eigentlichen Nachnamen (von Schirach) verabschiedete, sich eine neue Identität zulegte und sich – zunächst ohne jede Aussicht auf Anerkennung – ganz dem Schreiben hingab, nicht erwartet.

Noch dazu genau der richtige Verlag

Mehrfach kappte er Freundschaften und Verbindungen, vagabundierte durch die Welt, lebte in Berlin und Barcelona, hielt sich mit Jobs über Wasser, arbeitete beharrlich weiter an seinen Texten, die damals niemanden interessierten. Dann waren die Jahre der selbstquälerischen Einsamkeit urplötzlich vorbei: Ein Literaturagent nahm sich seiner an und vermittelte ihn ausgerechnet an jenen Verlag, zu dem er immer wollte, weil dort all die Autoren erschienen, die er insgeheim anhimmelte.

Auch davon berichtet Benedict Wells jetzt in seinem autobiografischen Buch, in dem er über sein Werden und Wollen, seine Familien-Abgründe, literarischen Vorlieben und schriftstellerischen Ambitionen Auskunft gibt: „Die Geschichten in uns“ ist eine Expedition in die literarische Werkstatt des Autors. Wells öffnet Türen in sein Innerstes, zeigt seine Verletzlichkeit, nimmt uns mit auf die Suche nach neuen literarischen Möglichkeiten.

Wie Texte wirksam gekürzt werden

Manches liest sich wie ein Handbuch für Autoren, die lernen möchten, wie man verquasselte Texte auf das Wichtigste kürzt, Gedanken verdichtet und die Erzählperspektive wechselt, Figuren entwickelt und Themen variiert. Er fuhrwerkt in seinen eigenen Romanen und zitiert seine Lieblingsautoren. Joey Goebel gibt dem unsicheren Autor den Rat: „Eine wirklich starke Figur wird innerhalb des Buches geboren.“ Philip Roth rät ihm zur unbedingten Ausdauer: „Amateure warten auf Inspiration. Profis setzen sich hin und arbeiten.“

Wells verrät uns, warum er schreibt und warum wir lesen sollten: „Wir brauchen die Geschichten in uns, aber auch die von anderen, weil wir in ihnen unser Menschsein erkennen. Denn wieso fühlen wir uns auch von Texten verstanden, die nichts mit unserer Lebensrealität zu tun haben, deren Figuren aus anderen Ländern kommen und mit anderen Problemen kämpfen? Weil wir an Wahrheit interessiert sind und wissen wollen, wer wir sind.“

Benedict Wells: „Die Geschichten in uns. Vom Schreiben und vom Leben“. Diogenes, Zürich 2024., 401 S., 26 Euro.




Erzählstoff überall – Judith Kuckarts „Die Welt zwischen den Nachrichten“

Jede(r) möge es für sich bedenken: Welche – mehr oder weniger vagen – Berührungspunkte hatte mein Leben mit der Sphäre der Nachrichten? Und was folgt womöglich daraus? Judith Kuckart schneidet derlei Fragen in ihrem neuen, autobiographisch grundierten Roman „Die Welt zwischen den Nachrichten“ keineswegs umweglos an, sondern vielschichtig, hintergründig, zuweilen auch irrlichternd.

Staunenswert, welche Zeitlinien bis in die westfälische Provinzstadt Schwelm reichten, in der Judith Kuckart am (west)deutschen Einheits-Feiertag (17. Juni 1959) geboren wurde. Da war etwa die Schwelmer Apothekertochter Ina, die öfter auf die kleine Judith aufgepasst hat und sich Jahre später in Berlin (im Gefolge des Attentats auf den Studentenführer Rudi Dutschke) links radikalisiert hat. Noch etwas später war sie auf Plakaten der RAF-Terrorfahndung zu sehen und dürfte sich danach in der noch real existierenden DDR versteckt haben. Womit ihre Geschichte noch nicht zu Ende war. Der „Deutsche Herbst“ ist überhaupt prägend gewesen: Als Judith Kuckart in Köln studiert, wird ganz in der Nähe der Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer von der RAF entführt und bald darauf ermordet. Aber was ändern solche Koinzidenzen am täglichen Sein?

„Alle Geschichten gehören irgendwie zusammen“

Etliche Befunde und Annahmen über die Lebenswelt „zwischen den Nachrichten“ müssen in einem Roman erzählend überprüft und geformt werden. „Schreibe ich“, so lautet mehrfach das lakonisch innehaltende Zwischenfazit nach gewissen Erzählpassagen. Also kein blankes „So (und nicht anders) war es“, sondern „So ist es aus meiner Sicht gewesen“ oder noch skeptischer: „So könnte es gewesen sein“. Eigentlich, darauf läuft ein Hauptstrang des Buches hinaus, sind sowohl öffentliche als auch vermeintlich private Geschehnisse just Erzählstoff, der aus Buchstaben, Worten, Sätzen usw. besteht und sich hier wieder einmal zum Roman weitet. „Alle Geschichten gehören irgendwie zusammen“, heißt es schon auf Seite 57. Und kurz vor Schluss, auf Seite 186: „Am Ende gilt doch nur das Erzählen. Wer erzählt, kann Engel über Toronto fliegen lassen oder Möwen über den Bahnhof Zoo.“

Jegliches Menschenleben enthält exemplarische, aber auch scheinbedeutsame Vorfälle in Hülle und Fülle. Bei Lebensneugierigen wie Judith Kuckart steigern und verdichten sich die Kreuz- und Querbezüge wahrscheinlich. Jedenfalls werden sie ungleich schlüssiger erzählend verknüpft. Allerdings gilt erzählerische Distanz, denn: „(…) man weiß immer erst im Nachhinein, dass das, was man gerade erlebt, ein Stoff zum Erzählen ist. Denn wer sagt schon, Achtung, jetzt erlebe ich gerade eine Geschichte…“ Außerdem heißt es auf Seite 161, wie in Gedichtzeilen gesetzt:

„Das Seltsame an der Wirklichkeit ist
sage ich wieder und wieder –
dass jedes Ereignis auch ganz anders hätte stattfinden können.“

Eindrücke von Pina Bausch bis Pierre Brice

Nur mal ganz kursorisch aufgegriffen: Mit 15 Jahren taucht die tanzbegeisterte und dito begabte Judith ein einziges Mal inkognito beim nahe Schwelm gelegenen Wuppertaler Tanztheater der legendären Pina Bausch auf. Als Regisseurin und Tänzerin frönt die Schwelmerin später weiterhin der Tanzleidenschaft. Ihr Roman gliedert sich denn auch in eine Reihe von Theater-Kantinengesprächen. Nach dem Abi arbeitet sie vorübergehend in einer Lokalredaktion der Schwelmer Nachbarschaft und interviewt sogleich den Kino-Winnetou Pierre Brice. (Das erinnert mich, mit Verlaub, an meine Volontärzeit, die ein paar Jahre früher zeitweise in dieselbe Gegend – nach Gevelsberg – führte).

Die Eltern und sonstigen Vorfahren der Autorin kommen im Verlauf des Romans ebenso in Betracht wie eine Cousine, die mit zehn Jahren stirbt, die besonderen Frauen Ellen R. und Eva K., die Freundin „Bee“, die spiegelbildlich von ihren Vätern so benannten Judith Martina (also die Erzählerin) und Martina Judith, wodurch weitere biographische Vexierbilder entstehen. Liebhaber scheinen hingegen eher Randerscheinungen zu bleiben, zumindest treten sie nicht ins literarische Rampenlicht. Hier geht es vor allem ums Frauenleben – bis hinab zu den schauderhaften Abgründen einer erlittenen Vergewaltigung.

Heidegger und Genazino, nahezu geisterhaft

Judiths Vater Leo brachte es realiter vom Waschmaschinen-Vertreter bis zum CDU-Landtagsabgeordneten. In diesem Zusammenhang ist die kleine Judith einmal mit Franz Josef Strauß fotografiert worden. Als Kind mit ihren Eltern im Schwarzwald-Urlaub, sieht sie aus der Ferne schemen- und geisterhaft den steinalten Martin Heidegger, natürlich ohne Näheres über ihn zu wissen. Später haben u. a. der Schriftsteller Wilhelm Genazino und der Polyhistor Alexander Kluge ihre kurzen Auftritte, wobei Genazinos Part seltsam gespenstisch anmutet.

Und die große Historie, die Welt der Nachrichten? Seitdem die Autorin in Berlin lebt (wo sie anfangs Filmkritikerin beim „Tagesspiegel“ war), ergeben sich Geschichts-Ablagerungen wie von selbst, nicht zuletzt durch Erlebnisse des Zeitenwandels beim Transit in die DDR anno 1976, 1983, 1986 und dann nach der „Wende“. Damit können Schwelm oder Dortmund (wo die Autorin so manchen Kindheitssommer verbracht hat) denn doch nicht mithalten.

Schließlich finden sich solche Zitate, die man sich einfach zum Nachsinnen notieren sollte, um bald einmal darauf zurückzukommen: „Sie ist darauf gefasst, dass das Unglück so selbstverständlich ist wie der Tod und keine Sprache hat.“ – „Wir sitzen zu dritt in unserer Kindheit herum…“ – Oder jene (wiederum im lyrischen Zeilenfall aufscheinenden) aphoristischen Schlussworte:

Nicht wichtig
ist
was man aus uns gemacht hat
wichtig ist
was wir aus dem machen
was man
aus uns gemacht hat.

Judith Kuckart: „Die Welt zwischen den Nachrichten“. Roman. DuMont- Verlag, Köln. 190 Seiten, mit ca. 25 Schwarzweiß-Fotos. 24 Euro. 

 




„Nachspielzeit“ des Lebens – Späte Lyrik von Jürgen Becker

Mit den vielen Lebensjahren wird der menschliche Handlungsradius spürbar kleiner und enger, es zählen nun zusehends Dinge und Zustände im Nahbereich. Was man sich darunter vorstellen kann, beschreibt der 1932 in Köln geborene Büchnerpreisträger Jürgen Becker in seinem Lyrik-Band „Nachspielzeit“, der – dem Untertitel zufolge – „Sätze und Gedichte“ enthält.

Eine „Nachspielzeit“ gibt es nicht nur in diversen Sportarten, sondern auch im Leben. Es ist jene Zeit, in der nach und nach die meisten Freunde und Weggefährten sterben und das Gefühl sich einstellt, man sei aus seiner Kohorte nahezu allein übrig geblieben. Es ist das Dasein im Wartestand, in „zugezählten Stunden“, wie es einmal bei Lessing hieß. Die Tage bestehen größtenteils aus Wiederholungen und Gewohnheiten. Keine Zeit für hochfliegende Hoffnungen oder große Entwürfe, sondern für leise, sanft verhallende Töne. Gleichwohl gibt es noch immer ein „Netz der Zusammenhänge“, in dem man sich auch verheddern kann.

Beckers Gedichte kreisen vor allem um Schwund und Verschwinden, vielfach auch um Leere und Alleinsein, wenn nicht Einsamkeit. Sehr innig und still verweilen Gedanken und Empfindungen bei Jürgen Beckers verstorbener Frau Rango Bohne. Wie ließe sich eine solch umfassende Abwesenheit auch verwinden?

In den Blickpunkt rückt nunmehr der kleinteilige Alltag, rücken die Gegenstände im Haus – buchstäblich von der Waschmaschine bis zur Eieruhr. Politische Ereignisse dringen, wenn überhaupt, eher als restliche Sinnfetzen, als allzu bekannte Partikel in diese eng gewordene Welt; ein Zustand, der vom lyrischen Ich offenbar gelegentlich als befreiend empfunden wird. Es gibt eben auch wohltuende Leere, sofern man die Medien beiseite lässt. Allerdings:

„Ich kann nur sagen, daß ich versuche,
mit der Leere zurande zu kommen, die jeden Morgen
aufs neue beginnt.“

Einmal zitiert Becker wörtlich das (zuweilen besonders ergiebige) Naherlebnis aus Gottfried Benns Gedicht „Was ist der Mensch“ herbei:

„Du mußt aus deiner Gegend alles holen,
Denn auch von Reisen kommst du leer zurück.“

Immer wieder geraten jedoch, zumal in den Träumen, Phänomene aus früheren Lebensphasen an die Tages-Oberfläche – besonders die als Kind in Thüringen durchlittenen Bombennächte des Zweiten Weltkriegs. Mehrfach werden Bezeichnungen von „damals“ aufgerufen, die bei jüngeren Menschen überwiegend in Vergessenheit geraten sind; Schockmomente auch hier inbegriffen. Beispiel:

„Das Fräulein vom Amt. Die Küchenmamsell.
Die Zugehfrau. Das Kinderfräulein. Die Handarbeitslehrerin.
Die Gouvernante. Die KZ-Aufseherin. Das Milchmädchen…“

Vergessen wäre vielleicht heilsam, doch es wird auf Erden nicht gewährt. Zitat:

„– glaub ja nicht, es sei vergessen,
was du einmal gesagt hast,
es kommt alles wieder (…)
irgendwo glimmt alles weiter
und das Gedächtnis kennt keine Gnade.“

Das höhere Alter bringt bekanntlich auch den Unwillen mit sich, ständig auf Veränderung zu sinnen. Hier gerinnt diese Haltung zur Absage an Rilkes berühmte Zeile „Du mußt dein Leben ändern“. Becker hingegen postuliert:

Du mußt dein Leben nicht ändern. Geändert hat sich schon alles allein.“

Jürgen Becker hat im Lauf der Jahrzehnte einen ganz eigenen Kosmos aus Lyrik und Journalen erschaffen. Seinem künstlerischen Können darf man sich lesend getrost anvertrauen. Diese späten Gedichte sind assoziativ, flüchtig, sie versammeln Momente und Fragmente, alles gerundet Ganze stünde wohl unter Lügenverdacht. Und doch spürt man in all diesen Zeilen mehr oder weniger deutlich, was – aus höchst subjektiver Sicht – eigentlich vorgeht.

Einzelne Worte wie „Gehöft“ oder „Häher“ scheinen überdies feinsinnig hinzudeuten auf die karge Nachkriegslyrik von Günter Eich, mithin auf eine Inventur von Restbeständen. Auch auf solch unscheinbare Weise können sich Traditionsstränge bilden.

Jürgen Becker: „Nachspielzeit“. Sätze und Gedichte. Suhrkamp. 106 Seiten. 24 Euro.




Bücher, kurz vorgestellt: Hotel, Proletariat, Apokalypse

Ich leiste Abbitte. Hier sind noch drei Bücher, die wohl eine ausführlichere Besprechung verdient hätten. Doch fehlte mir wegen besonders misslicher Umstände schlicht und einfach die Zeit, die jetzt schon wieder in Richtung Herbst galoppiert. Drum seien die Bände hier immerhin kurz vorgestellt:

Eine veritable Wiederentdeckung ist der Roman von Maria Leitner: „Hotel Amerika“ (Reclam, 256 Seiten, 25 Euro). Das erstmals 1930 erschienene Buch zählt zur Spezies der urbanen Hotelromane, die in den bewegten 1920er Jahren aufblühte. Kein Geringerer als Siegfried Kracauer rezensierte das Buch damals für die legendäre Frankfurter Zeitung und arbeitete die Unterschiede zu thematisch ähnlich gelagerten Schöpfungen von Vicki Baum und Joseph Roth heraus.

Maria Leitner, die selbst in prekärer Stellung in einem New Yorker Hotel gearbeitet hatte, schildert die Verhältnisse von „ganz unten“, aus Sicht des irischen Wäschemädchens Shirley, konzentriert auf Ereignisse eines einzigen Tages. Machart und Stil muten noch heute prickelnd modern an.

Man staunt immer wieder, welche Schätze literarische Scouts aus fast vergessener Vergangenheit heben. In diesem Falle war es die Chemnitzerin Helga W. Schwarz, die sich beharrlich für eine Neuentdeckung eingesetzt hat, nachdem sie in der DDR wiederaufgelegte Bücher gelesen hatte. Eigentlich fast überflüssig zu sagen, dass die NS-Machthaber Maria Leitner ins Exil getrieben haben. Was hätte sie in einer besseren Welt noch bewirken können!

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Seitdem das proletarische Milieu weitgehend geschwunden ist, erscheinen – im Zeichen der biographischen Selbstvergewisserung – umso mehr Erzähltexte, die Bruchstücke jener Vergangenheit bewahren wollen. Hierher gehört, mit eigenen Akzenten, letztlich auch der von Martin Becker verfasste Roman mit dem schlichten Titel „Die Arbeiter“ (Luchterhand, 302 Seiten 22,70 Euro).

Der 1982 geborene, im sauerländischen Plettenberg aufgewachsene Autor erzählt die Geschichte einer Arbeiterfamilie aus dem Ruhrgebiet. Auch er weiß genau, wovon er schreibt: Sein Vater war Bergmann, seine Mutter Schneiderin. Er kennt also die einfachen Verhältnisse, in denen man sich für ein kleines bisschen Wohlstand abrackert. Die Rückschau hat denn auch so gar nichts von nostalgischem Beigeschmack.

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T. C. Boyle muss wirklich nicht mehr großartig gewürdigt werden, er zählt zu den Weltbestsellern von gehöriger Substanz. Mit seinen Short Stories in „I Walk Between the Raindrops“ (Hanser Verlag, 272 Seiten, 25 Euro – Übrigens eine seltsame Marotte im Verlagswesen: englische Titel für ins Deutsche übersetzte Bücher) entwirft er wieder einmal Szenarien des allmählichen, jedoch zunehmend rasanten, offenbar unaufhaltsamen Weltuntergangs. Wie er das fertigbringt, macht ihm das so leicht niemand nach. Wenn ein Schriftsteller auch technisch auf Höhe dieser Zeit ist, dann sicherlich er (na, gut: und ein paar wenige andere). Fragt sich nur, wie man nach solchen Büchern guten Gewissens und frohen Herzens weiterleben soll. Und doch: es geht. Höchstwahrscheinlich.

Ganz nebenbei: Auf dem Cover stört eigentlich nur der obligatorische Spruch des nahezu unvermeidlichen Denis Scheck: „Starke Geschichten für heftige Zeiten.“ Aha. Muss man solche Testimonials wirklich unbedingt auf die Titelseite heben?

 




Freiheit, Albtraum und Erschöpfung – Theresia Enzensbergers Gedanken übers Schlafen

Hanser Berlin bringt derzeit und bis zum Frühjahr 2026 sukzessive 10 Bände über die wichtigsten Dinge des menschlichen Daseins heraus (Liste am Schluss dieses Beitrags). Theresia Enzensberger, 1986 geborene Tochter von Hans Magnus Enzensberger, Romanautorin („Blaupause“, 2017 – „Auf See“, 2022), außerdem Mitarbeiterin etlicher Premium-Medien, ist dabei schreibend fürs Schlafen zuständig.

Ein Hauptstrang ihres Essays handelt vom Schlaf unter kapitalistischen Bedingungen. In dieser Hinsicht diene er lediglich dazu, die Arbeitskraft wiederherzustellen. Dabei könnte er doch – mitsamt den Träumen – ein unkontrollierbares, unverfügbares Reich der Freiheit sein. Prinzipiell stehe der Schlaf außerhalb der sonst so universellen kapitalistischen Verwertbarkeit. Theresia Enzensberger ergreift die Gelegenheit, in solchen Zusammenhängen wieder einmal Karl Marx zu zitieren – ehedem flächendeckend üblich, heute eher selten.

Die Autorin geht nicht strikt systematisch vor, sondern zuweilen eher kursorisch und assoziativ, wobei sie auch die eigene Schlafbiographie einbezieht, die phasenweise von anhaltenden Schlafstörungen gekennzeichnet war; ein offenbar immer weiter verbreitetes Leiden, das besonders Frauen, Ältere und Arme plagt. Alltäglich und millionenfach. Am anderen Ende des Spektrums gibt es eine extreme Schlaflosigkeits-Krankheit, die zu 100 Prozent tödlich verläuft: die „Fatal Familial Insomnia“. Wie man annimmt, sind sind davon gottlob weltweit nur 40 Familien betroffen.

Als Kronzeugin der Insomnie fungiert auch Marie Darrieussecq mit ihrem Buch „Sleepless“. Im weiteren Kontext ist die zürnende Rede vom neoliberalen Sozialdarwinismus, der mitleidlos mit den Schwachen und Kranken umgehe – auch und gerade nach der Corona-Krise. Kleine Nebenbemerkung: Hat nicht jüngst ein „liberaler“ Politiker „Lust auf Überstunden“ eingefordert – ohne Rücksicht auf mancherlei Erschöpfungs-Zustände?

Zurück zum Buch: Ein Exkurs erkundet das zugehörige, auch politisch und religiös konnotierte Wortfeld des Aufwachens und der Wachheit zwischen „woke“ und „Schlafschaf“, „Erweckung“ und „Auferstehung“. Ferner geht es um die düsteren Seiten der Schlafwelt mit schauderhaften Nachtmahren, die das albtraumhafte Genre der Gothic Novel geprägt haben. Teilweise erschreckend weite innere Landschaften tun sich da auf, die auf 112 Seiten freilich nur gestreift werden können.

Der schmale Band enthält gleichwohl einige spannende Mitteilungen, denen man gern weiter nachgehen möchte. So stellt Enzensberger fest, dass es in der Literatur viele „Meister der Erschöpfung“ gegeben habe, die unter erheblichem Schlafmangel gelitten hätten. Womöglich befördert ja das Wachbleiben ungeahnte Phantasien. Im Gedächtnis bleiben auch Mitteilungen über die hohe Todesrate beim Erwachen aus dem tierischen Winterschlaf, den man sich keinesfalls als gemütliche Auszeit vorstellen darf. Im Gegenteil: Danach fehle vielen Wesen schlichtweg die Energie, weiterzumachen wie zuvor.

Theresia Enzensberger: „Schlafen“. Hanser Berlin, 112 Seiten. 20 Euro.

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Weitere vorliegende und geplante Bände der zehnteiligen Reihe „Das Leben lesen“, die fast ausschließlich von Frauen verfasst wird:

Elke Heidenreich „Altern“ (bereits erschienen)
Svenja Flasspöhler „Streiten“ (23.9.2024)
Emilia Rosig „Lieben“ (23.9.2024)
Doris Dörrie „Wohnen“ (Frühjahr 2025)
Heike Geißler „Arbeiten“ (Frühjahr 2025)
Daniel Schreiber „Essen“ (Herbst 2025)
Karen Köhler „Spielen“ (Herbst 2025)
Felicitas Hoppe „Reisen“ (Frühjahr 2026)
Daniela Dröscher „Sprechen“ (Frühjahr 2026)

 

 




Erlittenes Leben, betrübliches Altern – Didier Eribons Buch „Eine Arbeiterin“

Vor allem mit seinem Buch „Rückkehr nach Reims“ war Didier Eribon – u. a. nach und neben Nobelpreisträgerin Annie Ernaux – einer derjenigen, die das autobiographische („autofiktionale“) Erzählen neuerer Prägung enorm beeinflusst haben. Selberlebensbeschreibungen, zumal von hernach mühsamst aufgestiegenen Kindern aus dem Arbeitermilieu, hatten jüngst geradezu Konjunktur. Auch jetzt wendet sich Eribon nicht von diesem Themenkreis ab, er fokussiert seinen Blick aber anders, und zwar aufs Leiden am Altern.

Sein neues Buch „Eine Arbeiterin. Leben, Alter und Sterben“ setzt ein, als der Ich-Berichterstatter (unverhüllt Eribon selbst) in der nordfranzösischen Provinz ein passendes Altenheim für seine hinfällige Mutter sucht. Dies erweist sich als außerordentlich schwieriges Unterfangen.

Was als Schilderung aus dem misslichen Alltag beginnt, verzweigt sich in Reflexionen zu gesellschaftlichen Zuständen und allerlei theoretischen Exkursen, die ums Altern kreisen. Besonders kommen dabei Bücher von Simone de Beauvoir (ihr im Vergleich zu „Das andere Geschlecht“ weniger bekanntes Spätwerk „Das Alter“ von 1970) und Norbert Elias („Über die Einsamkeit der Sterbenden“) in Betracht. Außerdem zitiert: Theodor W. Adorno, Bert Brecht („Die unwürdige Greisin“), Danilo Kiš („Die Enzyklopädie der Toten“), Michel Foucault und etliche andere.

Das Private bleibt nicht privat

Eribon bringt es zuwege, dass im Privaten das größere Ganze, das Gesellschaftliche erhellend aufscheint. Das Private bleibt nicht privat, sondern gehört ersichtlich in weitere Zusammenhänge. Erfahrung und Nachdenken steigern sich gleichsam aneinander. Eribon will buchstäblich alles ausleuchten, er will nicht weniger als die erreichbare Wahrheit.

Die Erzählung erschöpft sich also nicht in theoretischen Erwägungen, sondern umschreibt eben auch gelebtes, erlittenes Leben, zumal die Erfahrungen einer gealterten Frau, die in der Unterschicht ums bloße Überleben kämpfen musste. Diese Einzelkämpferin bekommt, anders als oft bürgerliche Frauen mit ihren gewachsenen Freundinnenkreisen, auch im Altenheim kaum Besuch – außer von ihrem Sohn Didier, dessen Brüder sich so auf Berufe und eigene Familien konzentrieren, dass sie sich von der alten Frau fernhalten oder wenigstens alles schnellstens „geregelt“ wissen wollen. Die Mutter wiederum, ehedem aus gutem Grund gewerkschaftlich orientiert, hat mit der Zeit rechtslastige und fremdenfeindliche Regungen entwickelt; ein Umstand, der Eribon spürbar zu schaffen macht, den er aber nicht verschweigt. Alles muss auf den Tisch.

Keine Erinnerung an glückliche Tage

Rückblickend kann sich die Mutter generell nicht an glückliche Tage erinnern, auch ihre Ehe war quälend, der Mann ein tyrannischer Ausbund an Eifer- und Tobsucht. Eribon registriert gar einen allgemein grassierenden Witwenhass auf verstorbene Ehemänner. Auch so ein gesellschaftlicher Befund aus einer Zeit, als die Frauen noch nicht wagten, sich scheiden zu lassen.

Im hohen Alter kommt hinzu, dass eine eklatante Unterversorgung mit passablen Pflegeplätzen herrscht. Die Zustände in den Heimen sind betrüblich bis skandalös, öffentliche Einrichtungen sind unterfinanziert, private in erster Linie auf Gelderwerb ausgerichtet – gewiss nicht nur in Frankreich.

Das Buch mündet in eine Klage und Anklage: Das höhere Alter bedeute den rasant zunehmenden Verlust von Räumlichkeit und Zeitlichkeit. Vom Leben bleiben nur noch kümmerliche Reste. Die Hochbetagten selbst sind zu schwach, um ihre Stimme zu erheben, ja überhaupt „wir“ zu sagen, sie müssten Fürsprecher haben und haben sie kaum. Appellierender Schlusssatz: „(…) sind dann nicht andere aufgerufen, ihnen eine Stimme zu geben?“

Didier Eribon: „Eine Arbeiterin. Leben, Alter und Sterben“. Suhrkamp Verlag, 272 Seiten, 25 Euro.




Jede Oper eine eigene Welt: Mit Peter Eötvös verliert die musikalische Welt einen prägenden Komponisten

Das Bild zeigt Peter Eötvös bei einem Gespräch am 25. Juni 2014 anlässlich der Uraufführung seiner viel gespielten Oper „Der goldene Drache“ in Frankfurt. (Foto: Werner Häußner)

Eine typische Selbsttäuschung: Zuerst wollte ich die Nachricht gar nicht glauben, dachte, es sei eine Falschmeldung. Doch schnell bestätigte sich: Peter Eötvös ist am Sonntag, 24. März gestorben, mit 80 Jahren. Innerhalb nur weniger Tage hat die musikalische Welt nach Aribert Reimann (1936-2024) einen zweiten prägenden Komponisten der letzten Jahrzehnte des 20. und ersten des 21. Jahrhunderts verloren. Nachrufe wird es genug geben, daher hier ein paar persönliche Erinnerungen an einen Herzblut-Musikmenschen, der auch mit dem Rheinland eng verbunden war.

Der Ungar Peter Eötvös, geboren 1944 in Székelyudvarhely in Siebenbürgen, war ein wunderbar kreativer Kopf. Seine vierzehn Opern sind jede für sich ein individuelles Meisterwerk, verbinden immer neu gedachte Musik und mitreißende Bühnenwirkung. „Jede Oper muss eine eigene Sprache, eine eigene Welt, eine eigene stilistische Klangsprache haben“, sagte er einmal. 1998 gelang ihm der internationale Durchbruch mit der in Lyon uraufgeführten Oper „Tri Sestri“.

Schon ein Jahr später brachte die Deutsche Oper am Rhein in Düsseldorf das Werk nach dem Drama „Drei Schwestern“ von Anton Tschechow nach Deutschland, wo es mehrfach nachgespielt wurde: Gabriele Wiesmüller inszenierte es mit scharfem Blick auf die ausweglose Situation der Figuren in Koblenz; im letzten Jahr war in Hagen eine Inszenierung von Friederike Blum zu sehen. Sie ließ erleben, wie die Menschen in folgenlosen Träumen und vergeblichen Sehnsüchten gefangen sind. Eötvös und sein Librettist Claus H. Henneberg weichen von der linearen Erzählweise Tschechows ab und nehmen in drei Sequenzen die Perspektive der Figuren Irina, Andrej und Mascha ein.

Auf dem Deckchen: „Tri Sestri“ in Hagen mit Vera Ivanovic (Natascha) in der Mitte. (Foto: Leszek Januszewski)

Über 200 Uraufführungen dirigiert

1998 war Eötvös bereits als Dirigent hervorgetreten. Zuvor hatte er 1958 mit Vierzehn das Studium an der Budapester Musikakademie bei Zoltán Kodály aufgenommen und ab 1966 in Köln Dirigieren studiert. Ab 1968 arbeitete er eng mit Karlheinz Stockhausen zusammen; zehn Jahre später übertrug ihm Pierre Boulez die Leitung des Ensembles „Intercontemporain“. Eötvös stellte das Komponieren zurück und widmete sich dem Dirigieren. Über 200 zeitgenössische Werke konnte er mit dem Ensemble uraufführen.

Aber er brachte mit seiner freundlichen Art und seiner Leidenschaft vielen großen Orchestern seinen Begriff von zeitgenössischer Musik nahe, vom Concertgebouw Orkest Amsterdam über die Berliner bis zu den Wiener Philharmonikern  – und nicht zuletzt seinem Radio Kammerorchester Hilversum, das er zehn Jahre bis 2004 leitete. Im Funkhaus Köln hatte Eötvös seine ersten Schritte getan; sein geplantes Konzert am 23. September 2023 mit dem WDR Sinfonieorchester mit eigenen Werken und Kompositionen seines Landsmanns György Kurtág und seines langjährigen künstlerischen Partners Karlheinz Stockhauen musste er bereits „aus anhaltenden gesundheitlichen Gründen“ absagen.

Stockhausen-Uraufführung in Mailand

Der Besetzungszettel der Uraufführung von „Donnerstag aus Licht“ aus dem Teatro alla Scala in Milano mit Peter Eötvös als Dirigent. (Repro: Archiv Werner Häußner)

Das erste Mal als Dirigent habe ich ihn in „Donnerstag aus Licht“ von Karlheinz Stockhausen 1981 an der Mailänder Scala erlebt. Das war die szenische Uraufführung des ersten Tages aus dem riesigen, alle sieben Wochentage umfassenden Zyklus des „Licht“-Musiktheaters.

Und die erste Oper, die ich von Eötvös gesehen habe, hat mich sofort fasziniert: „Love and other Demons“ 2009 in Chemnitz unter Frank Beermann hat in der subtilen Regie von Dietrich Hilsdorf den „magischen Realismus“ der Vorlage von Gabriel García Márquez eingefangen. Nichts in dieser Welt war so, wie es schien, Bilder und Figuren blieben unaufgelöst mehrdeutig: Die Offenheit erzeugte eine kaum mehr erträgliche Spannung. Dahinter blieb die Kölner Inszenierung von Silviu Purcarete 2010 in ihrer erzählenden Eindeutigkeit weit zurück.

Denn Eötvös erzählt in seinen Opern nicht einfach Geschichten. Ohne in platte Aktualisierung zu verfallen, greift er gesellschaftliche Entwicklungen auf. Dabei bleibt er aber nicht stehen, sondern gibt seinen Stoffen durch die Musik die Qualität erzählter Philosophie – etwa in der „Tragödie des Teufels“ durch einen vielfach gebrochenen, gleichnishaften Blick auf die in sich zerrissene menschliche Existenz, in „Liebe und andere Dämonen“ auf die unkalkulierbare Welt und den „romantischen“ Verdacht, hinter den erfahrbaren Eindrücken könnten noch ganz andere Kräfte stecken. „Angels in America“, in Frankfurt von Johannes Erath beklemmend intensiv inszeniert und in Münster von Carlos Wagner zu einer Weltentragödie erweitert, ist so nicht nur ein Stück über die zerstörerischen Folgen von HIV, sondern eines über die Zerbrechlichkeit des Menschen und seiner Beziehungen.

Bei der bislang einzigen Inszenierung seiner erfolgreichen, 2014 in Frankfurt uraufgeführten Oper „Der goldene Drache“ in der Rhein-Ruhr-Region 2019 in Krefeld durch Petra Luisa Meyer kam Eötvös zur B-Premiere nach Mönchengladbach und sprach – wie so oft andernorts – mit dem Publikum im Theatercafé. Zum „Requiem“ für ihn wurde nun die jüngste Uraufführung seiner Oper „Valuschka“ in Regensburg am 3. Februar 2024. Zur Premiere konnte er – schwer erkrankt – schon nicht mehr kommen, begleitete aber aus der Ferne den Produktionsprozess. Die groteske Tragikomödie über das Hereinbrechen einer Katastrophe thematisiert Angst, Macht und entfesselte Gewalt.

Peter Eötvös hat wie der am 13. März mit 88 Jahren verstorbene Aribert Reimann – dessen Oper „Bernarda Albas Haus“ in einer Inszenierung von Dietrich Hilsdorf in der vergangenen Spielzeit in Gelsenkirchen zu den Höhepunkten der Saison gehörte – gezeigt: Die Oper im 21. Jahrhundert ist keineswegs tot. Sie hat die Kraft, Menschen in ihren Bann zu ziehen und bleibt auch unter den Vorzeichen der Postmoderne ein unerschöpfliches „Kraftwerk der Gefühle“.




Entdeckung der Gelassenheit – „Das kleine Haus am Sonnenhang“ von Alex Capus

„Als ich noch ein ziemlich junger Mann war, nicht mehr Student und noch nicht Schriftsteller, habe ich für fast kein Geld im Piemont ein kleines Haus gekauft.“ Das marode Gemäuer, versteckt in einem Seitental an einem Sonnenhang gelegen, ist schwer und bei schlechtem Wetter nur zu Fuß zu erreichen. Es zieht durch alle Fugen und Ritzen, aber in den Augen des neuen Besitzers ist es genau das Richtige, um auszusteigen und sich neu zu erfinden.

Denn der junge Mann, der bisher ziellos durchs Leben geisterte und sich mit journalistischen Arbeiten über Wasser hielt, will seinen ersten Roman schreiben und Schriftsteller werden. Zwei, drei Jahre lang wird er sich in die Einsamkeit zurückziehen, die Ruhe genießen und die Gelassenheit entdecken, die er braucht, um aus seiner überbordenden Fantasie ein Buch zu formen. Irgendwann wird es fertig sein, dann wird er über verschneite Wiesen ins Tal hinabsteigen und ein neues Leben beginnen.

Schönheit der kleinen Dinge

Mit „Das kleine Haus am Sonnenhang“ entwirft Alex Capus nicht nur eine Philosophie der Langsamkeit und besingt die Schönheit der kleinen Dinge, er führt uns auch durch die schlingernden Pfade seines Daseins und öffnet die Tür in seine literarische Werkstatt. Capus, inzwischen längst ein Autor mit Bestseller-Garantie, beschreibt mit sanfter Ironie, wie er sich das schriftstellerische Handwerk selbst beibrachte und langsam begriff, dass Schreiben und Leben zwar zusammengehören, aber nie dasselbe sind.

Während er an seinem ersten Roman bosselt, in den Schreibpausen Reparaturen an seinem Haus vornimmt und manchmal ins nächste Städtchen wandert, in einer mit flackernden Neonröhren notdürftig beleuchteten Bar ein Glas Wein trinkt und mit den immergleichen Besuchern die immergleichen Gespräche führt, denkt er darüber nach, ob und wie ein Autor seine Biografie verwenden, verfremden und in Literatur verwandeln kann. Oder wie er das Chaos und den Zufall, der sein Leben beherrscht, in eine logische Kette von Wahrscheinlichkeiten verbiegen kann, die dem Leser glaubwürdig erscheint.

Als die Welt sich langsamer zu drehen schien

Reflektierend reist er durch die Weltliteratur und macht gelegentlich Station bei seinen eigenen, späteren Romanen. Wer würde ihm schon abnehmen, dass er – was der Wirklichkeit entspricht – fünf Söhne hat? Also belässt er es in einem autobiografisch grundierten Romane lieber bei drei. Wovon das Buch handelt, an dem Capus in seinem „kleinen Haus am Sonnenhang“ schreibt, bleibt im Ungefähren. Wichtiger ist, welche Gedanken ihm beim Schreiben durch den Kopf gehen oder wie er Macken und Marotten der kleinen Leute in dieser weltabgewandten Gegend (nicht ohne nostalgische Reminiszenzen) einfängt; damals, Mitte der 1990er Jahre, als mobile Telefone noch die Ausnahme waren, als man noch überall und immer rauchen durfte, an den Tankstellen noch persönlich bedient wurde und die Welt sich nur sehr langsam zu drehen schien.

Capus hat damals begriffen, was Zufriedenheit bedeutet, wie man Glück findet und ein gelassener Mensch wird: Warum sollte er ständig eine neue Pizza ausprobieren, wenn doch seine geliebte Pizza Fiorentina völlig in Ordnung ist? Und was bringt es, auf einer Urlaubsinsel täglich nach anderen Stränden zu suchen, wenn der eine – meistens gleich der erste – bereits gut genug ist und völlig ausreicht?

Alex Capus: „Das kleine Haus am Sonnenhang“. Hanser, München 2024, 160 Seiten, 22 Euro.




Zwischen Bühne und Familie – Jörg Hartmanns Chronik „Der Lärm des Lebens“

Gibt es überhaupt noch Fernsehprominenz ohne Buchveröffentlichung? Schwerlich. Jetzt ist endlich auch Jörg Hartmann (weithin bekannt als Dortmunds zur Depression neigender „Tatort“-Kommissar Faber) an der Reihe.

Bei seinem Buch „Der Lärm des Lebens“ handelt es sich um eine streckenweise sehr nachdenklich und zuweilen melancholisch, zwischendurch aber auch süffig erzählte Autobiographie. Eine lebensnahe Mixtur also, die vom etwas aufdringlichen Titel (Stichwort „Lärm“) gar nicht so recht erfasst wird.

Zungenschlag des östlichen Ruhrgebiets

Der 1969 im westfälischen Hagen geborene Hartmann ist im eher beschaulichen Herdecke bei Dortmund aufgewachsen. Wann immer er auf diese Vergangenheit zurückblickt oder spätere Besuche bei den Eltern schildert, gibt er die Dialoge in der charakteristischen Mundart des östlichen Ruhrgebiets wieder. Dabei stimmt nicht nur der Zungenschlag, auch die „Seele“ des Gesprochenen und der Sprechenden kommt glaubhaft hervor. Als in Dortmund aufgewachsener Mensch kann ich’s bezeugen. Stellenweise erzählt Hartmann auch hinreißende Dönekes mit Revier-Anklang: Wer hat denn nur einst die „Eier“ am Pferd des Kaiserdenkmals auf Dortmunds Hohensyburg poliert? Hier erfährt man’s. Übrigens haben zeitweise auch Roy Black und – viel später – Jürgen Klopp in Herdecke gelebt. Hätten Sie’s gewusst?

Zur Sache: Die zeitlich hin und her pendelnde Handlung setzt mit einem großen Traum des jungen Mannes ein, der dringlich bei der großen Regisseurin Andrea Breth an der Berliner Schaubühne vorsprechen und möglichst engagiert werden will. Wie das abläuft, wird hier nicht verraten. Zu jener Zeit ist Stuttgart Hartmanns Lebensmittelpunkt, die Alternativen am Theater heißen Wuppertal und Meiningen. Als dann noch der Mauerfall hinzukommt, erscheint Berlin demgegenüber noch attraktiver. Man kann’s nachvollziehen, wenn auch die Berlin-Schwärmerei mitunter ein wenig nervt.

Theater-Laufbahn mit Umwegen

Ein Umweg der Laufbahn führt über die Münchner Kammerspiele, wo Hartmann die Bühnen-Granden Thomas Holtzmann und Rolf Boysen um Beihilfe, Zuspruch und Fürsprache bitten möchte. Holtzmann ist quasi unansprechbar, Boysen erteilt immerhin telefonisch knappen, aber weisen Rat. Derweil wittert der gleichfalls schon etablierte Ulrich Matthes in seinem vermeintlichen „Doppelgänger“ Hartmann (nanu?) offenbar unliebsame Konkurrenz. In Berlin wird ihm Hartmann abermals begegnen…

Bis Jörg Hartmann tatsächlich eines Tages an der Schaubühne (ab 1999 unter Leitung von Thomas Ostermeier) reüssiert, dauert es seine Zeit. All die vorherigen Fährnisse lassen ahnen, dass der Berufseinstieg junger Schauspieler(innen) wahrlich mühselig ist und nicht nur vom Talent, sondern auch von Glücksumständen abhängt. Ohnehin hadert Hartmann auch hernach immer mal wieder mit der Profession, die ihn geradezu aufzufressen droht. Heute Lyon oder Brüssel, morgen Prag, irgendwann auch ein Gastspiel in Shanghai. Da kann man sich durchaus verlieren. Und das Privatleben leidet auch erheblich.

Pommesbude nach Feierabend

Ein zweiter Handlungsstrang ist Hartmanns Familie gewidmet, besonders seinen Eltern und hier wiederum vornehmlich dem Vater, der mit fortschreitendem Alter an Demenz leidet und vor der Zeit stirbt. In Herdecke und darüber hinaus war der Vater (Handwerksmeister im Stromwerk, phasenweise nach Feierabend Betreiber einer Pommesbude, außerdem bestens vernetzter Handball-Freak) bekannt wie der sprichwörtliche bunte Hund, was Jörg Hartmann mit einigen Anekdoten zu unterfüttern weiß.

Zunehmend rücken auch Hartmanns Frau und die drei Kinder in den Blickpunkt, womit die Handlung (seine Großeltern inbegriffen) vier Generationen umfasst, was wiederum zeitgeschichtliche Bezüge mit sich bringt – bis hin zur Gehörlosigkeit der Großeltern, die schon allein wegen dieses Leidens unter bedrohlicher Beobachtung der Nazis standen.

Es mag keine große, wortmächtige Literatur sein, die Jörg Hartmann verfasst hat, doch ist es eine durchaus achtbare Chronik der laufenden Ereignisse aus dem Bühnen- und Familienleben. Ein Gipfelpunkt wird, wie es sich wohl gehört, gegen Ende erreicht, als Hartmann eine blasierte Kita-Party bei stinkreichen Eltern in Berlin beschreibt. Da freut man sich inständig, dass man nicht dabei sein musste.

Jörg Hartmann: „Der Lärm des Lebens“. Rowohlt Berlin. 300 Seiten. 24 Euro.

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Lesungen (Auswahl – Einzelheiten bitte per Suchmaschine o. ä. ermitteln)

12. März Berlin (20 Uhr)
14. März Dortmund (19.30 Uhr / ausverkauft)
21. März Leipzig (10, 11, 15, 17 und 20.30 Uhr – Buchmesse)
6. April Münster (20 Uhr)
7. April Unna (18 Uhr)
11. April Gladbeck (19.30 Uhr)
13. April Menden (19 Uhr)
9. Juni Herdecke (18 Uhr)
29. Juni Essen (20 Uhr)




Loslassen lernen – Bernhard Schlinks Roman „Das späte Leben“

Martin ist sechsundsiebzig und blickt auf eine erfolgreiche Karriere als Jurist und Uni-Professor zurück. Spät hat der notorische Junggesellen noch das kleine private Glück gefunden.

Warum sich die viel jüngere Ulla, eine lebenslustige Frau und Malerin abstrakter Bilder, mit denen Martin nichts anzufangen kann, sich für den verschlossenen Juristen entschieden hat, ist ihm ein Rätsel. Doch er genießt ihre Liebe und freut sich jeden Tag darauf, Sohn David in den Kindergarten zu bringen und nebenbei noch als Autor von juristischen Aufsätzen gefragt zu sein.

Es bleiben nur wenige Wochen

Doch von einer Sekunde auf die andere zerbricht die Idylle, sind alle Träume von einem geruhsamen Alter dahin. Die Diagnose seines Arztes lautet: Bauchspeicheldrüsen-Krebs im Endstadium. Was fängt er an mit den wenigen Wochen, die ihm bleiben? Wie verabschiedet er sich und was kann er hinterlassen? Wie wäre es, wenn er seinem Sohn zeigt, wie man nachhaltig kompostiert? Soll er beim Buchhändler eine größere Geldsumme hinterlegen, damit David sich jederzeit mit neuem Lesestoff versorgen kann? Und ist es nicht eine schöne Idee, einen langen Brief zum kurzen Abschied zu schreiben, in dem er seinem Sohn die Welt erklärt, über Gott und Gerechtigkeit, Frieden und Freiheit, Leben und Tod philosophiert?

Unaufgeregtes Erzählen, nah am Klischee

Wie sein literarischer Wahlverwandter, so hat auch Bernhard Schlink eine juristische Karriere hinter sich: Uni-Professor, Richter am Verfassungsgericht in Nordrhein-Westfalen, Gutachter am Bundesverfassungsgericht. Irgendwann fing er an, Krimis zu schreiben und startete dann mit dem (auch erfolgreich verfilmten) Roman „Der Vorleser“ (1995) international durch. Seine Bücher haben eine Bestseller-Garantie, das dürfte auch für seinen neuen Roman „Das späte Leben“ gelten. Bei Schlink weiß jeder, was er bekommt: unaufgeregtes, klassisches Erzählen, sympathische Figuren mit kleinen Macken und Marotten, eine Handlung, die ganz leicht am Klischee vorbei schrammt, mit Pathos ins Menschlich-Allzumenschliche driftet, nach einigen Wendungen zu einem harmonischen Ende findet.

Martin muss noch viel lernen, bevor er mit sich im Reinen ist und sich aufs Sterbebett legen darf. Dass er glaubt, noch als Toter die Zukunft seines Sohnes mitbestimmen zu können, indem er ihm Aufgaben und Briefe hinterlässt, geht seiner Frau gehörig auf die Nerven: „Deine Hand, deine Gedanken, dein Brief, deine Bücher, dein Kompost – alles dein. So kann es nicht bleiben. David muss dich loslassen, er muss sich finden – und mich. Warum machst du es mir so schwer? Es macht mir Angst.“

Auf sanfte Weise übergriffig

Klar, dass Martin Läuterung verspricht und Ulla schließlich besänftigen kann. Nett, dass er seiner Gattin einen Seitensprung verzeiht, den Liebhaber aufsucht und ihn bittet, sich nach seinem Tod um Ulla und David zu kümmern und gut zu ihnen zu sein. Aber ist das nicht auch schon wieder etwas übergriffig? Auch dass er, ohne seine Frau einzuweihen, eine Detektei beauftragt, nach ihrem verschollenen Vater zu suchen, hätte er wohl besser mit ihr absprechen müssen. Aber alles nicht so schlimm. Die Liebe heilt alle Wunden. Sterben heißt: Frieden schließen. Das ist zwar ziemlich kitschig, aber auch irgendwie tröstlich.

Bernhard Schlink: „Das späte Leben“. Roman. Diogenes. Zürich 2023, 240 Seiten, 26 Euro.




Auf den Spuren des Unnahbaren – Karl Ove Knausgard über Anselm Kiefer

Mit seinem sechsbändigen autobiografischen Roman-Projekt „Mein Kampf“ wurde Karl Ove Knausgard zu einem der wichtigsten Schriftsteller der Gegenwart. Der norwegische Autor hat wohl kaum je eine Zeile geschrieben, die nicht auf seinen eigenen Erlebnissen und Erfahrungen beruht und ein Spiegel seiner Gedanken und Wünsche ist.

Als er in London eine Retrospektive mit Werken von Anselm Kiefer besucht, ist er erschüttert und zugleich fasziniert. Wie kann es sein, fragt sich Knausgard, dass Bilder von blutbefleckten Schneelandschaften, dunklen Wäldern und leeren Äckern, bedeckt mit Stroh und Asche, von Blei übergossen, mit krakeligen Schriftzeichen versehen, Bilder, in denen keine Menschen vorkommen, „trotzdem randvoll mit dem Menschlichem aufgeladen“ sind? Wo kommen all die verstörenden Werke her, die einem das Gefühl geben, „die Existenz an sich zu sehen“? Was treibt den Künstler an, wo ist „Kiefer in seiner Kunst?“

Fünf Jahre lang auf der Suche

Fünf Jahre wird Knausgard versuchen, dem Rätsel auf die Spur zu kommen, sich dem Unnahbaren zu nähern und einen Zusammenhang zwischen Leben und Werk zu suchen. Von 2015 bis 2020 wird Knausgard den Künstler immer wieder interviewen, mit ihm durch seine gigantischen Ateliers in Paris und Barjac schlendern, ihm beim Erschaffen seiner Werke beobachten, ihn bei Vernissagen treffen, bei seinen Vorträgen im Saal sitzen, er wird seine früheren akademischen Lehrer befragen und mit Kiefer die Orte der Kindheit aufsuchen. Fünf Jahre wird Knausgard brauchen, bis er endlich eine Form findet für seinen Artikel, der im „New York Times Magazine“ erscheinen und Grundlage des Buches wird, das Titel „Der Fluss und der Wald“ trägt.

Kiefer ist nicht nur in einer von Wäldern und Flüssen geprägten Landschaft rund um Donaueschingen aufgewachsen, in einem Land, das alles daran setzte, die verbrecherische Vergangenheit in Schweigen zu hüllen. Dass Kiefer mit einer Kunst-Provokation bekannt wurde, als er in den einst von Nazi-Truppen besetzten Gebieten den Hitler-Gruß zeigte und die verdrängte Vergangenheit in einer umstrittenen Performance heraufbeschwor, war vielen unbequem. Dass in seinen Werken der Wald für das Unbewegliche und Geheimnisvolle, der Fluss für das Veränderliche und Grenzenlose steht, könnte, muss aber nicht sein.

Mit dem Fahrrad durch Kunst-Lagerhallen

Was legt der Künstler, der mit dem Rad durch seine Kunst-Lagerhallen von einem angefangenen Bild zum anderen radelt, der in seinen mit Fundstücken vollgestopften Ateliers wohnt und die Orte seiner Kunst selbst zu Kunstwerken macht, von sich und seinem Leben in die Kunst hinein? Was verraten die Wälder und Wiesen seiner Kindheit oder die Tatsache, dass der kleine Anselm jahrelang bei seiner Großmutter und nicht bei seinen Eltern wohnte, über sein Werk, in dem die Grenze zwischen Kunst und Wirklichkeit aufgehoben ist?

Nach vielen Begegnungen und Gesprächen meint Knausgard, dass Kiefers Kunst außerhalb dessen ist, was er sagt und denkt: Sie ist „der Ort, in den er hineingeht, wenn er Schicht auf Schicht aus Farbe, Blei, Stroh, Asche auf die Leinwand aufträgt. Ein Ort, der in ihm und außerhalb von ihm ist. Ein Ort, an dem Mythologie, Geschichte, Religion, Literatur, Dinge und Landschaften zusammengeführt werden, und der Sinn, der dabei entsteht, ist unendlich, denn er wird von jedem Einzelnen und jeder Einzelnen aktiviert, der und die ihn sieht.“

Karl Ove Knausgard: „Der Wald und der Fluss. Über Anselm Kiefer und seine Kunst.“ Aus dem Norwegischen von Paul Berf. Luchterhand, München 2023, 186 S., 25 Euro.




„Also hieß es wieder Koffer packen“ – Erinnerungen des Theatermannes Jürgen Flimm

Schon als kleiner Kölner Junge ist Jürgen Flimm rettungslos dem Theater und der Musik verfallen, er singt im Knabenchor und liebt kindliche Rollenspiele. Im Schlepptau seiner Großmutter besucht er die städtischen Bühnen und Konzerthallen. Die Freikarten werden ihnen von einem Onkel zugesteckt, der als Organist und Journalist in der Domstadt sein kulturelles Unwesen treibt.

Jürgens Vater ist tagsüber Mediziner und verbringt abends als Theater-Arzt viele Stunden im Dunstkreis der Bühnen. Kaum verwunderlich, dass es auch den jungen Studenten Jürgen magisch zur Kunst und zur Avantgarde zieht. Von Dada ist es nicht weit zu Fluxus, von Kurt Schwitters und Hans Arp ist es nur ein Steinwurf zu Karlheinz Stockhausen, Joseph Beuys, Pina Bausch und Samuel Beckett. „Keine Frage, ich wollte Regisseur werden, was das auch immer war. Wie aber lernt man das? Und wo?“

Ein Weltbürger aus Köln

In seinen „Erinnerungen“, an denen Jürgen Flimm lange gefeilt hat und die jetzt (ein Jahr nach seinem Tod) erschienen sind, beschreibt der 1941 geborene Theater- und Opern-Berserker, der an vielen Bühnen Spuren hinterließ, mit rheinischem Humor, wie er zum künstlerischer Weltbürger wurde. Geradezu larmoyant schreitet er wichtige Stationen seines von Erfolgen und Niederlagen gezeichneten Weges durch die internationale Bühnenwelt ab, lässt nebenbei die Namen von unzähligen Kollegen wie Brosamen vom Kultur-Tisch fallen, skizziert Intention und Machart seiner Inszenierungen, die ihm oft Einladungen zum Berliner Theatertreffen bescherten.

Tief steigt Jürgen Flimm hinab in die Abgründe und Intrigen der Kulturpolitik, die ihn immer wieder sprachlos machten, deren Spiel er aber furios beherrschte. Wäre Flimm, dem das Genialische fehlte, sonst als Intendant ans Kölner Schauspielhaus und ans Hamburger Thalia Theater berufen worden, zum Leiter der Ruhrtriennale und der Salzburger Festspiele und zum Intendant der Berliner Staatsoper geworden? Flimm wusste, wie man bei Sponsoren Geld locker macht, Politiker umgarnt und Schauspieler bezirzt.

Mannheim – welch ein Irrtum!

Vieles ist ihm, der sich alles hart erarbeiten musste, gelungen. Sein Bayreuther „Ring“ war denkwürdig, seine Arbeiten an der Met in New York sorgten für Furore. Doch einige bittere Pillen musste auch er schlucken: Seine Zeit als Spielleiter an der Salzach (2006-2010) bezeichnet er freimütig als „Fehler“, den kurzen Abstecher (1972/73) nach Mannheim als „Unglück“: Der damals noch ziemlich unbekannte Flimm hatte Rosinen im Kopf, sagte sich: „Geh doch erst mal in die Provinz, da lernst du, abseits der Metropolen. Da kannst du in der Abgeschiedenheit sorgsam vor dich hin werkeln. Welch ein Irrtum!“ Flimm und das Ensemble, besoffen von Mitbestimmungs-Ideen, Kollektiv- und Kommune-Idealen, „scheiterte dann aber schnell an der städtischen Kulturbürokratie und der Verantwortungsphobie des Generalintendanten“. Die Inszenierungen zündeten nicht, die Stimmung wurde frostig.

Dazu kam ein privates Unheil, als nur drei Wochen nach der Geburt sein kleines Kind starb. Flimm und seine damalige Ehefrau, die Schauspielerin Inge Jansen, entschlossen sich zur „hastigen Flucht“ aus Mannheim: „Also hieß es wieder Koffer packen.“ Weiter ziehen. Irgendwo wartete bestimmt eine neue Herausforderung, eine neue Inszenierung von Büchners „Leonce und Lena“, die ihn schon als Student in einem Kölner Kellertheater faszinierte und die er später immer wieder – auch in New York – inszenierte. Mit leichter Hand und feinem Schmunzeln erzählt Flimm davon in seinen „Erinnerungen“, deren Titel („Mit Herz und Mund und Tat und Leben“) er sich bei Johann Sebastian Bach und seiner wunderbaren Kantate „Jesus bleibet meine Freude“ ausgeliehen hat. Flimm griff eben immer gern ins ganz große Regal. Schade nur, dass der Verlag auf ein Namens- und Inszenierungs-Verzeichnis verzichtet hat.

Jürgen Flimm: „Mit Herz und Mund und Tat und Leben. Erinnerungen.“ Kiepenheuer & Witsch. Köln 2024, 350 Seiten, 26 Euro.




Immanuel Kant – auch am Billardtisch der Beste

Manchmal höre ich in den inspirierenden Podcast „ZEIT Geschichte: Wie war das noch mal?“ hinein. Die neueste Folge vom 27. Januar befasst sich mit der philosophischen Übergröße Immanuel Kant – zum Jubiläumsjahr (300. Geburtstag des Denkers) wahrlich keine Überraschung.

Titelblatt von Kants „Kritik der reinen Vernunft“ aus dem Jahre 1781. (Wikimedia Commons / gemeinfrei)

Zwei Leute aus der ZEIT-Redaktion haben mit dem Kant-Spezialisten Prof. Marcus Willaschek (Frankfurt) gesprochen. Selbstverständlich ging es vor allem um Hauptgedanken aus Kants denkerischen Kraftakten „Kritik der reinen Vernunft“, „Kritik der praktischen Vernunft“ und „Kritik der Urteilskraft“. Natürlich kam der kategorische Imperativ („Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“) ebenso zur Sprache wie die Bewunderung und Ehrfurcht, die Kant zufolge von zweierlei Phänomenen ausgelöst werden und immer wieder das Gemüt erfüllen: „Der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir“.

Zwischendurch erhob sich die Frage, ob Kant etwa Rassist gewesen sei. Vorsichtiges Fazit: Er habe einige zweifelhafte Sätze geschrieben, was aber der überragenden Bedeutung seines Gesamtwerks keinen Abbruch tue. Freilich genüge es nicht, ihm als „Kind seiner Zeit“ Generalabsolution zu erteilen. Das Für und Wider wollen und können wir an dieser Stelle nicht vertiefen. Hierzu sei beispielsweise Marcus Willascheks Buch „Kant. Die Revolution des Denkens“ (Verlag C. H. Beck, 28 Euro) empfohlen. Einen etwas leichteren Einstieg ermöglicht das neue Heft von „ZEIT Geschichte“, das gleichfalls um Kant kreist. Damit genug der gar nicht so schleichenden, sondern fast polternden Werbung. Smiley.

Ansonsten hangelte man sich durch ein paar Episoden aus dem Leben des weltberühmten Königsbergers, der vor 300 Jahren (22. April 1724) als Kind einfacher Handwerksleute geboren wurde und die Philosophie „grundstürzend“ verändert habe, wie es hieß. Entgegen gängigen Klischees, muss es dabei  phasenweise auch schon mal feuchtfröhlich zugegangen sein. Doch in etwas reiferen Jahren soll Kant – nach dem Vorbild des engen Freundes Joseph Green – gelebt haben wie ein Uhrwerk, nach dem die Bürger angeblich sogar ihr Zeitempfinden justierten. Wenn er aus dem Haus ging, war es hohe Zeit, um zu… Allerdings sprach Willaschek von einer Art Anekdoten-Übertragung, wie sie häufig vorkomme. Demnach soll sich das ungeheure, stadtbekannte Regelmaß des Alltags damals auf Green bezogen haben. Erst später habe man es Kant selbst zugeschrieben. Auch sei die gängige Behauptung, Kant habe zeitlebens niemals Königsberg verlassen, etwas übertrieben. In der umgebenden Region habe er sich gelegentlich schon bewegt.

Doch nun kommt’s, was trivial anmuten mag, aber vielleicht dennoch von Bedeutung ist. Hand aufs Herz: Wem ist denn schon geläufig, dass Immanuel Kant ein höchst versierter Billardspieler gewesen ist? Zeitweise habe er gar seinen Lebensunterhalt damit verdient, dass er mit anderen um die Wette spielte. Er soll dabei so überlegen gewesen sein, dass irgendwann keiner mehr mit ihm spielen mochte – jedenfalls nicht um Geld. Ob man daraus folgern kann, dass Billard ein besonderes Maß an Intelligenz erfordert?

Wer schreibt nun die Abhandlung darüber, ob sich das raffinierte Spiel mit den Kugeln auch in Kants Gedankenwelt abbildet? Gibt es wohl so etwas wie „Gedankenbillard“, gleichsam a priori über die Bande gespielt?

 




„Der doppelte Erich“ – wie Kästner sich durch die NS-Zeit lavierte

Erich Kästner scheint, von heute aus betrachtet, zu den Unbezweifelbaren zu gehören. War er nicht eindeutig „links“ und somit unverdächtig, es auch nur ansatzweise mit dem NS-Regime gehalten zu haben? Wenigstens bis in die späten 1960er Jahre galt er quasi als geheiligt, und bis heute scheint sein Andenken gegen Attacken gefeit. Sind seine Bücher nicht schon 1933 auf den schändlichen Scheiterhaufen der Nazis verbrannt worden? Ja, gewiss, so war es. Und doch…

…und doch gibt es jetzt ein bedenkenswertes Buch, in dem etliche Zweifel an seiner Redlichkeit laut werden. Diese Einwände lassen sich wohl nicht so einfach beiseite wischen. Kästner, schon am Vorabend des „Dritten Reiches“ mit Büchern wie „Emil und die Detektive“ (1931) weithin berühmt, ist alle die finsteren Jahre über – bis zum „bitteren Ende“ – in Deutschland geblieben, ja, er hat in dieser Zeit (wenn auch meist unter Pseudonymen schreibend) zuweilen gar nicht schlecht verdient. Propagandaminister Joseph Goebbels ließ Kästner gewähren, als der das Drehbuch des groß angelegten Films „Münchhausen“ (Kinostart März 1943, Hauptrolle Hans Alberts) zum Ufa-Jubiläum schrieb. Mit dieser Produktion wollten die NS-Machthaber zeigen, dass der längst „abgehängte“ deutsche Film Hollywood mindestens ebenbürtig war – natürlich ein lachhafter Trugschluss. Übrigens: Erst Hitler selbst setzte der stillschweigenden Schreiberlaubnis für Kästner ein abruptes Ende.

Nach 1933 nur Harmloses geschrieben

Buchautor Tobias Lehmkuhl, Journalist u. a. für „Zeit“, „FAZ“ und Deutschlandfunk, hat erwartungsgemäß gründlich recherchiert, um Kästner auf die teilweise verdächtigen Spuren zu kommen. Zwar trägt er viele, viele Fakten zusammen, doch muss er auch immer mal wieder spekulieren. Demnach ist es dann nicht unwahrscheinlich oder einigermaßen wahrscheinlich, dass Kästner zu dem oder jenem Zeitpunkt diesen oder jenen Menschen getroffen und dieses oder jenes Thema mit ihm besprochen hat. Na, wenn das so sein soll… Da steht spürbar so manches auf tönernen Füßen.

Der Buchtitel „Der doppelte Erich“ ist eine etwas wohlfeile, aber griffige Anspielung auf Kästners Erfolg „Das doppelte Lottchen“ (erst 1949 erschienen) und überdies ein Hinweis darauf, dass dieser Autor fast durchweg Maskierungs- und Doppelgänger-Geschichten ersonnen und erzählt habe. Daraus wiederum leitet sich die hartnäckig verfolgte Annahme her, dass er selbst ein Meister im Verschleiern und im geschickten Rollenspiel war. Während des „Dritten Reiches“ hat Kästner, der zuvor den beachtlichen „Fabian“ geschrieben hatte, nur noch Harmlosigkeiten wie „Drei Männer im Schnee“ oder „Die verschwundene Miniatur“ hervorgebracht. Er war, wie es hier heißt, sozusagen ein amputierter Autor, der sich hin und wieder sogar von der unmenschlichen Sprache der Faschisten (von Victor Klemperer LTI = „Lingua Tertii Imperii“ genannt) infiziert zeigte.

Kompromisse fürs (finanzielle) Überleben

Tatsächlich muss einem längst nicht alles sympathisch oder auch nur geheuer sein, was Kästner damals unternommen und unterlassen hat. Zwar hat ihm der von den Besatzern als deutscher Kronzeuge eingesetzte Carl Zuckmayer schon 1943 eine Art Unbedenklichkeits-Bescheinigung („Persilschein“) ausgestellt, doch hatte Kästner zuvor mehrfach nachdrückliche Versuche unternommen, in die NS-geführte Reichsschrifttumskammer aufgenommen zu werden. Fürs finanzielle Überleben scheint er zu einigen (faulen) Kompromissen bereit gewesen zu sein. Er selbst stand übrigens unerkannt in hinterer Reihe dabei, als (auch) seine Bücher verbrannt wurden – und hat keinesfalls dagegen die Stimme erhoben, weil ihm sein Leben lieb war.

Nach dem Krieg hat Kästner Legenden verbreitet wie jene, dass er als einziger unter Tausenden bei einer Propaganda-Veranstaltung im Berliner Sportpalast nicht mitgesungen habe und nicht aufgestanden sei, was Tobias Lehmkuhl füglich in Zweifel zieht. Man darf wohl schließen: Ein Kurt Tucholsky, mit dem Kästner in den 20ern zusammengearbeitet hatte, war und ist sicherlich eine verlässlichere moralische Instanz als der zur Nonchalance neigende Kästner.

Schattierungen des unfreiwilligen Mittuns

Der in Zeitungs-, Literatur- und Filmszene bestens vernetzte Caféhausliterat (eine Feststellung, keine Abwertung!) Kästner hat sich den Zumutungen der Zeit oft durch seinen Charme und durch Verhandlungsgeschick zu entziehen vermocht. Weiterhin pflegte er laut Lehmkuhl seinen verfeinerten Lebensstil zwischen Tennissport und Teintpflege. So detailfreudig wird sein Verhalten und werden seine beruflichen Freundschaften seit den „Goldenen“ Zwanzigern durchgespielt, dass mancherlei Schattierungen des unfreiwilligen Mittuns sich offenbaren. Auch scheint Kästner hin und wieder Gesinnungs-Verrat an einstigen Mitstreitern verübt zu haben, womit er heftige Kritik z. B. von Walter Benjamin oder Klaus Mann (Wie sich das angepasst hat (…) bis zum morastischen Schlammgrund der Ufa-Presse“) auf sich zog. Gegen solche harschen Anwürfe nimmt auch Lehmkuhl seinen Protagonisten in Schutz. Überhaupt ist er bemüht, möglichst Mittelwege einzuhalten. Auch damit entspricht er seinem Thema, das man wahrscheinlich nicht anders als schwankend schildern kann.

Fragen zur „Inneren Emigration“

Ein eigenes Kapitel ist Kästners ebenfalls zwiespältigem Verhältnis zu Frauen gewidmet. Der Mann, der allzeit sein Dresdner „Muttchen“ (freilich arg geschönt und verharmlost) brieflich auf dem Laufenden hielt, gestand – damals keine Selbstverständlichkeit – seinen zahlreichen Liebschaften zwar einen eigenen Kopf und eigene Freiheiten zu, ließ aber gelegentlich Frauenverachtung durchblicken. Auch dafür bringt Lehmkuhl passende Belegstellen bei. Mit Treue hatte Kästner es eh nicht. Beispiel: Just als eine Gefährtin beim Autounfall verstarb, lag er mit einer anderen zu Bette. Etwas küchenpsychologisch werden folglich Vermutungen über seine Beziehungsunfähigkeit angestellt.

Noch einmal wirft dieses Buch häufig gestellte Fragen zur „Inneren Emigration“ auf, die auch anhand anderer Zeitgenossen (Gottfried Benn, Axel Eggebrecht etc.) aufgeworfen werden, wobei u. a. die wirklichen Emigranten Thomas Mann und Theodor W. Adorno als moralische Maßstäbe angelegt werden. Auch dabei gibt es kein reines Schwarz oder Weiß, es geht um vielerlei Grautöne. Hatte Kästner anfangs vielleicht wirklich noch angestrebt, einen größeren Roman übers „Dritte Reich“ zu verfassen und eben deshalb im Lande zu bleiben, so sind kaum Notizen für ein solches Projekt erhalten – geschweige denn, dass ein veritables Werk dieser Art entstanden wäre. Nur: Konnte jemand unter vergleichbaren Bedingungen wesentlich anders handeln als Kästner?

Gar lange lässt eine Schilderung von Kästners Nachkriegs-Existenz auf sich warten, die dann leider auch etwas knapp ausfällt. Speziell hätte mich zum Beispiel Kästners patenschaftliche Rolle bei Gründung des legendären Satiremagazins „Pardon“ (1962) interessiert. Aber das ist vielleicht noch mal ein anderes Kapitel.

Tobias Lehmkuhl: „Der doppelte Erich. Kästner im Dritten Reich“. Rowohlt Berlin. 305 Seiten, 24 Euro.




Namen über Namen: Michael Krügers „Verabredung mit Dichtern“

Eines gleich vorweg: Der Lebensleistung von Michael Krüger, dem langjährigen Leiter des Münchner Hanser-Verlags und – keinesfalls nur nebenbei – Schriftsteller, gebührt unbedingt großer Respekt, ja Bewunderung. Kaum einer neben und nach dem Suhrkamp-Doyen Siegfried Ungeld hat dermaßen viel für die Literatur seit den mittleren 1960er Jahren bewirkt. Umso mehr Aufschlüsse erwartet man von Krügers Buch „Verabredung mit Dichtern“, das im Untertitel „Erinnerungen und Begegnungen“ verheißt.

Der Band umfasst immerhin 447 Seiten, lässt also eigentlich Raum für Gründlichkeit. Doch, ach! Satt dessen wird man geradezu erdrückt von lauter Namedropping. Wenn Krüger erst einmal in Fahrt geraten ist, vergisst er (obwohl er mehrmals auf sein schwaches Gedächtnis verweist) offenbar gar keine Begegnung mit höchstkarätigen Literaten und sonstigen Künstlern aus Musik, Bildnerei, Film und Theater zu erwähnen. Nur leider erschöpfen sich seine Aufzählungen eben oftmals darin. Häufig driften sie ins bloß Anekdotische oder schlimmstenfalls ins Prätentiöse ab.

Worüber hat er mit Susan Sontag gesprochen?

Nur ein Beispiel von Hunderten: Da lässt uns Krüger wissen, er habe mit der legendären Susan Sonntag (eine von relativ wenigen Frauen als Protagonistinnen im Buch, viele andere haben lediglich Kurzauftritte als kluge Partnerinnen berühmter Schriftsteller) in der ebenso legendären Berliner „Paris Bar“ gesessen. Was sie dort geredet haben, bleibt freilich im Verborgenen. Es hätte sehr interessant sein können – wie so vieles andere. Ist es Diskretion, Notizen-Chaos, Erinnerungsverlust oder Unlust, die uns so manches vorenthält?

Offenbar hat niemand bei Suhrkamp einem wie Michael Krüger dreinzureden gewagt. Seine Einleitung folgt etwa dem Motto „Kinder, wenn ich wollte, könnte ich ungeheuer viel erzählen.“ Doch dafür, so Krüger in majestätischer Bescheidenheit, sei er gar nicht so recht begabt. Dann legt er allerdings los…

Bloß niemanden verprellen!

Nach einem längeren Exkurs zu seiner Berliner Nachkriegsjugend wendet sich der 1943 geborene, schwer an Leukämie erkrankte Krüger (der am 9. Dezember 80 Jahre alt geworden ist) seinen verlegerischen Anfängen zu. Zunächst absolvierte er eine Art Praktikum in London, dann ging’s alsbald zu Hanser in München – in einer enorm spannenden Zeit des politischen und literarischen Aufbruchs, in der freilich die Literatur zu Krügers Leidwesen von vielen Leuten totgesagt und der Politik untergeordnet wurde.

Bis hierhin wird das Geschehen noch ziemlich plastisch wiedergegeben, Krügers Stil wirkt zunächst angenehm entschlackt. Doch dann hat er immer mehr, wenn nicht nahezu alle damaligen und späteren Berühmtheiten des Literaturbetriebs kennen gelernt. Deshalb gerät er nun immer öfter in Versuchung, Namenslisten aufzustellen und abzuarbeiten, ja durchzuhecheln. Bloß niemanden durch Nichtnennung verprellen!

Einer, der zu rühmen weiß

Da könnte man wirklich neidisch werden: Wen er gekannt hat! Bei wem er eingeladen war oder ein und aus ging. Mit wem er nach eigenem Bekunden befreundet war. Wo und bei wem er genächtigt hat und an traumschönen Orten dieser Welt Wochen oder Monate verbringen durfte! Stets in ungemein anregendem, hochgeistigem Ambiente, versteht sich. Überdies in einer Ära, in der das Verlagswesen noch nicht so durchkommerzialisiert war…

Michael Krüger ist einer, der vor allem zu rühmen weiß. Auch scheut er das zwischenzeitlich in der Literaturwissenschaft verpönte, recht weihevolle Wort „Dichter“ nicht. Die allermeisten, die er erwähnt, waren oder sind demnach ungemein polyglott und haben die Inhalte abertausender Bücher in ihren Köpfen. Nie versäumt es Krüger, geradezu unfassbare geistige Kräfte seiner Freunde zu schildern. Wie Koketterie mutet es an, wenn er immer mal wieder betont, wie wenig fähig und berühmt er selbst im Vergleich sei (Zitat, anlässlich einer Tagung: „…außer mir alles berühmte Namen, die zu dem Thema wichtige Gedanken liefern konnten“). Sollte das etwa Fishing for compliments sein?

Warum denn kein Personenregister?

Die lange Liste der Namen füllt sich zunächst mit einem Aufenthalt in der römischen Villa Massimo, der sich als ausschweifender persönlicher Streifzug durch die italienische Gegenwartsliteratur und darüber hinaus erweist. Weitere Kapitel heißen z. B. „Meine schwedischen Freunde“, „Meine israelischen Dichter“, „The Boys und einige andere“ (USA), „Meine holländischen Dichter“ und „Meine polnischen Freunde“. Wohlgemerkt: Meine…

Da gibt es Abschnitte, in denen sich weltweit geschätzte Autoren wie Derek Walcott,  Joseph Brodsky, Seamus Heaney und Philip Roth gleichsam die Klinke in die Hand geben oder gleich mit Krüger beieinander sitzen. Da wohnt er in London beim ruhmreichen Pianisten Alfred Brendel, um Julian Barnes zu treffen, wobei auch… Halt! Wir wollen hier nicht die schier endlosen Namenslisten der Kulturgrößen nachbeten. Es fragt sich jedoch, warum gerade ein solcher Band völlig ohne Personenregister auskommt. Die ganze Herangehensweise ruft doch nach abschließender alphabetischer Sortierung und Überblick. Auch hätte man sich ein paar prägnante Abbildungen mehr gewünscht.

Manches bleibt noch zu tun

Dass Krüger ein Verleger war, der sich für „seine“ Autorinnen und Autoren eingesetzt und sie – bei fachlicher Kritik im Detail – grundsätzlich „beschützt“ hat, ahnt man gleichwohl in vielen Passagen dieses Buches. Dass er außerdem über weitaus subtilere Ausdrucksmöglichkeiten verfügt, als er sie hier über weite Strecken erkennen lässt, zeigen eingestreute Auszüge aus seinen Gedichten und etliche Zitate aus Nachrufen und Preisreden, die er auf Schriftsteller gehalten hat. Apropos: Im obligatorischen Frack hat er die eine oder andere Nobelpreisverleihung erlebt. Hingegen schreibt er mit einer Regung zwischen Scham und Stolz, über Jahrzehnte keinen kompletten Anzug getragen zu haben.

In einer knappen Nachbemerkung entschuldigt sich Michael Krüger, einige Literatur-Nationalitäten diesmal noch nicht berücksichtigt zu haben. Er nennt mal eben pauschal: Frankreich, Spanien, Portugal, das Baltikum, Russland, die Ukraine, Ungarn, Bulgarien, Rumänien, Griechenland, die Türkei, Japan, China – und last, but not least: all die „deutschen Dichter, mit denen ich mein Leben verbracht habe (…) Es bleibt also noch etwas zu tun.“

Michael Krüger: „Verabredung mit Dichtern. Erinnerungen und Begegnungen“. Suhrkamp, 447 Seiten, 30 Euro.

 

 




Jenseits der Mythen – Interview mit dem Callas-Biographen Arnold Jacobshagen

Vor 100 Jahren, am 2. Dezember 1923, wurde in New York eine der bedeutendsten Sängerinnen der Musikgeschichte geboren: Maria Callas. Zum ihrem 100. Geburtstag sprach Werner Häußner mit dem Autor einer neuen Biographie, dem Kölner Musikwissenschaftler Arnold Jacobshagen, über das Geheimnis der Gesangskunst der Callas und die Mythen um ihre Person.

Als Achtzehnjährige begann Maria Callas 1942 in Giacomo Puccinis „Tosca“ eine beispiellose Karriere. Mit Rollen wie Vincenzo Bellinis Norma und Amina („La Sonnambula“), Gaetano Donizettis Lucia di Lammermoor und Anna Bolena, Giuseppe Verdis Aida und Violetta („La Traviata“), vor allem aber mit der Wiederentdeckung von Opern wie Luigi Cherubinis „Medea“, Gasparo Spontinis „La Vestale“ oder Gioachino Rossinis „Armida“ wurde Maria Callas zur bis heute unerreichten Wegbereiterin des damals vergessenen Belcanto-Repertoires des 19. Jahrhunderts und eines technisch perfektionierten, von dramatischem Ausdruck geprägten Singens. Der Kölner Musikwissenschaftler Arnold Jacobshagen hat sich in seinem im Reclam-Verlag erschienenen Buch „Maria Callas. Kunst und Mythos“ auf die Spuren der großen Künstlerin jenseits des Mythos und hartnäckig wiederholter Klatschgeschichten begeben.

Was war Ihre Motivation, ein Buch über Maria Callas zu schreiben, nachdem es von John Ardoin bis Jürgen Kesting bereits viel und auch seriöse Literatur über diese Jahrhundertsängerin gibt?

Maria Callas ist für jeden, der sich intensiv mit Oper beschäftigt, eine Herausforderung. Besonders für mich, weil mich das italienische Belcanto-Repertoire von Rossini bis Puccini sehr interessiert. Ihre Stimme ist für viele Partien aus diesem Repertoire bis heute unübertroffen, auch wenn ich die Schwierigkeiten in ihrer stimmlichen Entwicklung sehe und hoffentlich auch gerecht beschrieben habe. Was die Callas-Literatur betrifft: Es gibt einige sehr gute und sehr viele nicht so gute Bücher, die leider bis heute das Callas-Bild prägen. Dieses etwas zu entrümpeln und einige Mythen zu hinterfragen war das eine Anliegen meines Buches. Das andere ist, ihre künstlerische Entwicklung möglichst genau zu beschreiben.

Wissenschaftler interessieren ungeklärte Fragen und Gebiete, auf denen man etwas Neues entdecken kann. Gibt es im Leben und der Karriere von Callas überhaupt noch „weiße Flecken“?

Ja, angefangen mit ihrer frühen Karriere in Athen, wo sie doch mehr als bisher bekannt von der Protektion der deutschen Besatzungsherrschaft profitiert hat. Das führte allerdings auch dazu, dass sie 1945 von der Operndirektion in Athen entlassen wurde und erst einmal zwei Jahre nicht auftreten konnte. In der späteren Karriere ist vieles gut bekannt. Wenig reflektiert sind die wahren Hintergründe ihres stimmlichen Abbaus, die vermutlich mit der erst 1971 diagnostizierten Dermatomyositis zusammenhängen. Die schleichende, aber dramatische und seltene entzündlichen Muskelerkrankung war ihr selbst bis dahin nicht bekannt. Sie führt zu einem kontinuierlichen Abbau des Muskelgewebes mit allen Konsequenzen für die Stimme. Den stimmlichen Niedergang, der ab 1957 offensichtlich war, kann man heute aus medizinischer Sicht besser verstehen. Die anderen Geschichten, die in der Callas-Literatur angeführt werden, die Onassis-Beziehung zum Beispiel, spielen hier keine wichtige Rolle.

Der Kölner Musikwissenschaftler und Callas-Biograph Arnold Jacobshagen. (Foto: privat)

Gehört dann auch die Rolle, die ihrer Gewichtsabnahme zugeschrieben wird, zu den aufklärungsbedürftigen Mythen?

Das ist ein komplexer Prozess, der auf die Singstimme unterschiedliche Auswirkungen haben kann. Es gibt positive wie negative Effekte; die positiven werden, denke ich, überwogen haben. Singen ist eine körperliche Ausdauerleistung. Gerade in den Jahren 1953 bis 1955, die den Höhepunkt ihrer künstlerischen Karriere bilden und die größte Dichte und Intensität an Auftritten in großen, unterschiedlichen Partien aufweisen, hat sie sehr wenig gegessen und einige Spezialbehandlungen wahrgenommen, um ihr erwünschtes Gewicht zu erreichen und zu halten. Über andere Ursachen für den frühzeitigen Verschleiß der Stimme kann man spekulieren. Man muss auch bedenken, dass Maria Callas sehr früh ihre Karriere begonnen hat. Aus meiner Perspektive müssen diese Faktoren eben anders gewichtet werden als bisher in der Literatur.

Stichwort Karriere: Es ist aus heutiger Perspektive sehr ungewöhnlich, dass eine 15-Jährige Santuzza, eine Frau mit Anfang Zwanzig Tosca, Kundry, Isolde und kurze Zeit später Bellinis Norma und Elvira in „I Puritani“ singt. Kommt man dem Geheimnis der Gesangstechnik auf die Spur, die so etwas ermöglicht?

Man kann vergleichen mit Sängerinnen der Gegenwart, aber auch der weiter zurückliegenden Vergangenheit. Im 19. Jahrhundert gibt es dafür Beispiele wie die von Callas bewunderte Rosa Ponselle oder Maria Malibran, die auch schon mit Fünfzehn die Rosina in Rossinis „Barbiere di Siviglia“ in London, einer der wichtigsten Bühnen der damaligen Welt, gesungen hat. Natürlich waren das Ausnahmepersönlichkeiten – genau wie Maria Callas. Da muss man andere Maßstäbe anlegen als an den Durchschnitt von Bewerberinnen an einer heutigen deutschen Musikhochschule.

Die Vielfalt der Repertoires, das sie in jungen Jahren gesungen hat, gehört dazu – gerade die Wagner-Partien, die sie zwischen 1947 und 1950 mit großer Freude gesungen hat. Sie sagte, Wagner sei einfach zu singen, da es keine komplizierten Verzierungen und Kadenzen gebe. Und dann habe man noch das wunderbare Orchester, das die Stimme trägt! Die meisten Sängerinnen fürchten sich dagegen davor, vom Orchesterklang erschlagen zu werden.

Callas hatte die enormen Möglichkeiten einer „grande vocaccia“, einer großen Stimme, die gepaart mit einer brillanten Technik Wagner und Bellini-Partien mit anspruchsvoller Agilität scheinbar mühelos bewältigen konnte. Größere Probleme hatte sie etwa mit der Partie der Turandot, die auch hochdramatisch ist, aber im Unterschied etwa zu Kundry ständig sehr hoch liegt. Turandot hat sie 1948/49 häufig gesungen, aber diese Rolle hat sie, wie sie selbst beklagt, zu viel Kraft gekostet.

Es gibt ja auch andere, die gesangstechnisch ein unglaubliches Repertoire auf einem ähnlichen Qualitätslevel gesungen haben, Lilli Lehmann etwa. Heute gibt es solche Sängerinnen so gut wie nicht mehr. Warum nicht?

Eine schwierige Frage. Es gibt ja hin und wieder Sängerinnen, die versuchen, in die Fußstapfen von Maria Callas zu treten, zuletzt Anna Netrebko. Heute gibt es eine starke Spezialisierung der Fächer, die Callas immer vehement bestritten hat. Sie hat immer gesagt, ein Sopran müsse alles singen können. Heute wird man schon in der Ausbildung auf Fächer festgelegt, in denen die Lehrer das Entwicklungspotenzial der Stimme sehen. Das hat alles gute Gründe. Solche Ausnahmeerscheinungen wie Maria Callas sehe ich heute allerdings nicht mehr.

In der Ausbildung von Maria Callas spielt Elvira de Hidalgo ja eine entscheidende Rolle. Sie haben aber noch einen Gesangslehrer erwähnt, Ferruccio Cusinati, langjähriger Chordirektor der Arena di Verona: Ist das eine Person, die bisher nicht genügend gewürdigt wurde auf dem Weg der Callas zum technisch perfekten Singen?

Das wäre übertrieben, aber er wird in der bisherigen Callas-Literatur nicht einmal erwähnt; der einzige war Callas‘ Ehemann Giovanni Battista Meneghini, der den Kontakt zu Cusinati vermittelt hatte. Es ging ab 1947 einfach darum, bei Callas, die zwei Jahre ohne wesentliche Auftritte in New York gelebt hat und nun in die italienische Opernszene eingeführt werden sollte, möglichst schnell Lücken ihres Repertoires zu schließen, damit sie als Primadonna auf dem Markt von ihrem künftigen Ehemann platziert werden konnte. Cusinatis Leistung war, mit ihr Rollen zu studieren, wohl auch Schwächen auszubügeln und die italienische Diktion zu perfektionieren. Die technischen Grundlagen hat Elvira de Hidalgo gelegt, die eine der letzten virtuosen Koloratursoprane war.

De Hidalgo hat ihre Partien ja noch ganz aus dem Geist des Belcanto gesungen, mit völlig ebenmäßig gebildeten Tönen und einer tollen Projektion des Klangs in den Raum, aber eben auch sehr instrumental. Dieses Streben nach absoluter Schönheit unterscheidet sie von Callas, die all ihre Farben einsetzt, um ihre Partien zu gestalten.

Der Vergleich vokal – instrumental ist interessant, denn es ist eine der besonderen Qualitäten der Stimme von Maria Callas, dass sie über unglaublich viele Schattierungen und Facetten verfügte. Darin liegt aber auch ein Problem des Kontrollverlustes. Man kennt ja die Schwierigkeiten, die sie bei Registerübergängen immer hatte. Es gibt auch unterschiedliche Meinungen zu der Frage, ob Callas diese Palette vokaler Schattierungen bewusst eingesetzt oder aus der Not eine Tugend gemacht und dieses unglaubliche Organ gar nicht kontrolliert eingesetzt habe, so wie es Elvira de Hidalgo in dieser Feinheit und Instrumentalität beherrscht hat. Für Callas war der Ausdruck der notwendige Kontrapunkt zur vorhandenen technischen Meisterschaft. Eines der Geheimnisse ihrer Stimme ist sicher, dass sie Expressivität mit einer stupenden Technik vereinen konnte.

Maria Callas war ja keine Intellektuelle. Woraus speist sich ihre unglaubliche dramatische Kompetenz? War das ein instinktives Erfassen ihrer Rollen, eine Empathie, die in ihrer Persönlichkeit wurzelt? Oder hatte sie ein tiefes Verständnis von den tragischen Seiten der menschlichen Existenz?

Ich denke beides. Es ist nicht notwendig, eine belesene Intellektuelle zu sein, um eine tragische Partie zu durchdringen, Dazu gehört eher Lebenserfahrung, Charakter, Empathie, Musikalität sowieso, weil Callas überzeugt war, dass alles, was eine Partie ausmacht, aus der Musik kommt. Sie hat auch viel übernommen von ihren Lehrern und den Dirigenten, mit denen sie zusammengearbeitet hat. Und so unbelesen war sie gar nicht: Zumindest nach dem Abschied von der Bühne hat sie sich Bücher empfehlen lassen und gelesen. Aber ich bezweifle, dass es unter den Sängerinnen ihrer Generation sonst so viele ausgewiesene Intellektuelle gab. Dessen ungeachtet ist die Frage nach der Bildung für das Verständnis der Partituren, die Aufführungspraxis oder die Art und Weise der Interpretation sehr wichtig. Maria Callas hatte eine rasche Auffassungsgabe, ihre Partien in kürzester Zeit beherrscht und ihre eigene Interpretation immer weiter verfeinert und vertieft.

Maria Callas wird in der Literatur als Persönlichkeit unterschiedlich beschrieben. Es gibt diesen Mythos von der tragisch verschatteten Existenz. Sie schreiben, sie sei in den meisten Phasen ihres Lebens ein glücklicher Mensch gewesen, der viel Liebe erfahren und sich wohl gefühlt habe.

Es wurden viele kurzschlüssige Folgerungen gezogen. Man hat ihre Bühnenpräsenz und ihre tragischen Rollen zum Ausgangspunkt genommen, ihre Persönlichkeit zu bewerten. Das heißt, man hat die vielen tragischen Frauenschicksale der Opern auf sie selbst projiziert. Die äußeren Umstände, besonders die Begegnung mit Aristoteles Onassis und der Verlust dieser Beziehung durch die auftretende Rivalin Jackie Kennedy, boten genügend Anlass, diese Mythen weiterzuspinnen. Aber selbst diesen Schicksalsschlag scheint sie einigermaßen schnell bewältigt zu haben, abgesehen davon, dass er mit ihrer künstlerischen Karriere nichts zu tun hat, denn er lag Jahre nach ihren großen Opernauftritten.

Was ist aus Ihrer Sicht des kritischen Wissenschaftlers der ärgerlichste Mythos über Maria Callas?

Das ist die Vorstellung, dass eine Frau aus Liebe zu ihrem Mann ihre Karriere aufgibt und dadurch in eine tragische Sackgasse gerät. Das ist vollkommen absurd: Maria Callas hat ihre Karriere aus künstlerischen und gesundheitlichen Gründen Ende der fünfziger Jahre stark reduzieren müssen und natürlich in ihrem Privatleben dann größere Erfüllung gefunden. Das eine muss man vom anderen trennen, und das geschieht in der Literatur nicht.

Ich halte es für ein sexistisches Element, Frauen grundsätzlich anders zu bewerten als Männer. Niemand käme auf die Idee, einen männlichen Sänger in gleicher Weise in einer – fast sklavischen – Abhängigkeit von einer Liebesbeziehung darzustellen. Ein Mann macht seinen Weg, aber von einer Frau wird erwartet, dass sie durch eine schicksalhafte Begegnung mit einem Mann ihre ganze Karriere verändert? Das mag man im 19. Jahrhundert erwartet haben – und diese Vorstellung scheint heute in vielen Köpfen noch so präsent, dass man einer Jahrhundertkünstlerin nicht zugesteht, auch unabhängig von Männergeschichten großartige Kunstwerke auf die Bühne zu stellen. Das finde ich sehr ärgerlich, obwohl ein guter Teil der Callas-Literatur von Frauen verfasst wurde.

Eine Frage zur Diskografie. Callas hat viel aufgenommen, es gibt auch viele Live-Mitschnitte. Welche Aufnahmen würden Sie als maßstäblich und unverzichtbar bezeichnen? Welche wären für Sie für die „einsame Insel“?

Heute hat man’s einfach, weil man mit der 131-CD-Box von Warner Classics alles mit auf die Insel nehmen kann. Aber im Unterschied zu vielen Callas-Enthusiasten würde ich die Studioproduktionen der früheren Zeit komplett mitnehmen. Sie war ja der erste Superstar in der Ära der neu entwickelten Langspielplatte. Wie Enrico Caruso durch die Schellackplatte hat Maria Callas von dieser medientechnischen Innovation profitiert. Gerade die frühen Aufnahmen sind technisch perfekte, mustergültige Interpretationen „für die Ewigkeit“, und es ist zu bedauern, dass Produzent Walter Legge kein großer Kenner des italienischen Opernrepertoires war und viele Rollen, die Callas live gesungen hat, nicht im Studio produziert hat. Umgekehrt finden viele Enthusiasten die wahre Diva in ihren Bühnenauftritten und nicht in den Studioaufnahmen.

Callas und die Region: Ihre deutschen Stationen waren Berlin und Köln.

Ja, in Köln gab es im Juli 1957 eine Jubiläumswoche der Mailänder Scala zur Eröffnung des Kölner Opernhauses. Zwei der insgesamt vier Opernvorstellungen mit Maria Callas in Deutschland fanden in Köln statt, beide Male Vincenzo Bellinis „La Sonnambula“. Die beiden anderen, zwei Mal „Lucia di Lammermoor“, gingen unter der Leitung von Herbert von Karajan in Berlin über die Bühne. Köln ist also eigentlich eine der deutschen Callas-Metropolen. Später ist sie noch öfter in Deutschland aufgetreten, aber nur in Konzerten – bis hin zu der problematischen Abschiedstournee mit Giuseppe di Stefano 1973/74.

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Arnold Jacobshagen: „Maria Callas. Kunst und Mythos“. Reclam, 367 Seiten, 38 Abbildungen. 25 Euro.




Dem Tod gefasst entgegensehen – Paul Austers Roman „Baumgartner“

Ein doppeltes Missgeschick wirft das Gedanken-Karussell des Erzählens an: Zuerst hantiert Professor Seymour T. Baumgartner (genannt „Sy“), emeritierter Phänomenologe und Schriftsteller aus Princeton (USA), höchst ungeschickt mit einem glühend überhitzten Topf. Kurz darauf stürzt er eine Treppe hinunter. Slapstick mit schmerzlichen Folgen.

Doch da ist ein bleibender, ungleich tieferer Schmerz, der phantomhaft fortwirkt: Vor einigen Jahren ist Anna, die Frau seines Lebens, wider seinen Rat abends noch einmal zum Schwimmen ins Meer gegangen und von einer tödlichen Monsterwelle erfasst worden. Wie kann der Hinterbliebene das aushalten? Zitat: „Leben heißt Schmerz empfinden, sagte er sich, und in Angst vor Schmerz zu leben, heißt das Leben verweigern.“ Für eine solche Einsicht muss das Ereignis wohl schon eine Weile zurückliegen.

Seit Annas Tod schwindet jenes Gefühl nicht mehr, dass einem immer und überall etwas zustoßen kann. Aus dem andauernden Bewusstsein von Endlichkeit und Vergänglichkeit erwächst hier mit der Zeit Gefasstheit, während die Panik sich nach und nach vermindert.

Auf schwankendem Boden

Gleichwohl: Auf unsicherem, schwankendem Boden bewegt sich Paul Austers Roman „Baumgartner“, der aus Reflexionen und Erinnerungen des nunmehr 71 Jahre alten Witwers besteht; freilich nicht in der Ich-Form, sondern distanziert in der dritten Person wiedergegeben, doch kaum minder eindringlich. Es stehen nun solche Fragen an:  Wie viel Zeit bleibt noch auf Erden? Was geschieht nach dem Tod? Besteht dann noch eine geheime Verbindung mit einst geliebten Lebenden?

„Er ist jetzt einundsiebzig, in sechs Wochen steht der nächste Geburtstag an, und ist man erst einmal in dieser Zone schrumpfender Perspektiven angelangt, muss man mit allem rechnen.“ Gekommen sind demnach die Zeiten, in denen nicht nur generell das Gedächtnis nachlässt, sondern man auch öfter vergisst, den Hosenstall zuzumachen. Das Altern als lachhaft traurige Groteske… Aber wäre es denn besser, so früh, selbstgewiss, kühn und aufrecht in den Tod zu gehen wie seinerzeit Anna?

Lektüre unter anderen Vorzeichen

Unterdessen schweifen Baumgartners Gedanken in die Vergangenheit. Es ziehen so manche Szenen aus seinem Leben noch einmal vorüber; besonders aus der Frühzeit, als er Anna kennenlernte, die damals zunächst den Ehrgeiz hatte, Baseball-Spielerin zu werden, um es den Jungs zu zeigen. Ein Paar wurden sie erst nach etlichen Jahren, vor dem Zeithorizont des Vietnamkriegs und der heftigen Proteste dagegen. Durch Zufall sind sie einander wieder begegnet, doch auch wie vorherbestimmt. Es wurde eine anfangs wild erotische, sodann zunehmend intellektuell bereichernde Partnerschaft.

Austers treue Leserinnen und Leser mögen hierbei an sein reales Leben mit der ebenfalls ruhmreichen Schriftstellerin Siri Hustvedt denken. Es bleibt ihnen unbenommen. Aber in derlei Analogien geht dieses Buch natürlich längst nicht auf. Seit Siri Hustvedt die (literarische) Welt hat wissen lassen, dass Paul Auster an einer schweren Krebserkrankung leidet, liest man einen solchen Roman allerdings unter anderen Vorzeichen und mit anderen Regungen. Je nach Lebensalter dürften sich zudem verschiedene Lektüren ergeben. Doch darunter sollte keinerlei fruchtlose Lektüre sein.

Ukraine als Zone des Schreckens

Die Rückblicke führen jedenfalls über die wechselhafte Lebensgeschichte der Eltern (welche Optionen hatten sie, welche haben sie genutzt?) bis in die Kindheit und weiter hinab zum Gedenken an den jüdischen Großvater in der Ukraine, wo Baumgartner sich viele Jahrzehnte später – am Rande einer PEN-Autorentagung – in der entsprechenden Region um Lwiw umsehen konnte. In der Gegend sind viele Gräuel des 20. Jahrhunderts kulminiert, sie war wiederholt eine Zone schrecklichen Massensterbens. Dieser Roman schildert eben keine rein persönliche Geschichte, er umgreift auch das Weltgeschehen. Übrigens erinnert sich Auster und mit ihm Baumgartner in diesem Zusammenhang an ein deutsches Gedicht, das Georg Trakl in jenen Breiten über den Ersten Weltkrieg geschrieben hat. Es heißt „Im Osten“ und endet mit der Strophe:

Dornige Wildnis umgürtet die Stadt.
Von blutenden Stufen jagt der Mond
Die erschrockenen Frauen.
Wilde Wölfe brachen durchs Tor.

Gegen Ende hin scheint die Handlung gleichsam ein wenig ins Schlingern zu geraten, als würde es Auster aus der Kurve tragen. Auch Baumgartner hat ein Buch mit dem Titel „Rätsel des Steuers“ vollendet, das sich zwischen Aristoteles und allerlei Erwägungen zum „autonomen Fahren“ ergeht. Er fragt sich selbst, ob etwa seine Kraft zum Schreiben nachgelassen habe. Auch hier also das Menetekel des Alterns. Doch noch einmal, ein letztes Mal, so scheint es, hat er einen Text auf eigener Höhe verfasst.

An wessen Türe klopft er schließlich an?

Es geht derweil nicht nur um Todesnähe und Zeitvergang, sondern zuinnerst auch um die Liebe. Nach Jahren der flehentlichen Trauer hatte Baumgartner jüngst eine Affäre, aus der mehr zu werden schien und aus der dann doch nichts geworden ist. Und nun? Hat sich eine junge, offenbar ausgesprochen kluge und vitale Wissenschaftlerin gemeldet, die sehr eingehend über Annas vorliegendes und verborgenes Werk forschen möchte, wobei ihr Baumgartner sicherlich am besten helfen kann. Er lädt sie auf unbestimmte Dauer ein, lässt eigens ein Einlieger-Apartment für sie herrichten, blüht auf vor lauter Vorfreude, ja Vor-Verliebtheit. Ist sie nicht gar so etwas wie eine wiedergeborene Anna? Als sie im fernen Bundesstaat losfährt, macht er sich ungeheure Sorgen wegen der Wetterverhältnisse. Ob und wann diese Beatrix („Bebe“) Coen bei ihm eintrifft, erfahren wir jedoch nicht mehr. Der Roman nimmt ein jähes Ende, das ins Leere zu laufen scheint. Ob es auch im Nichts endet, steht dahin.

An diesem Ende geschieht abermals ein Unfall, diesmal mit dem Auto, in das sich Baumgartner gegen alle Vernunft beim widrigem Winterwetter gesetzt hat. Er scheint nur leicht verletzt zu sein und selbst Hilfe in einem nahegelegenen Haus aufsuchen zu können. Doch dann klingt es in den vieldeutigen Schlusssätzen so, als habe er vielleicht nicht bei gewöhnlichen „Leuten“, sondern an die Tür des Todes geklopft. Welch ein rätselvoller Aus- und Übergang. Niemand weiß mehr.

Paul Auster: „Baumgartner“. Roman. Aus dem Englischen von Werner Schmitz. Rowohlt, 204 Seiten, 22 Euro.




„Nie in Mode gewesen“ – Julien Gracq und seine „Lebensknoten“

In der Handschriftenabteilung der „Bibliothèque Nationale de France“ befinden sich neunundzwanzig mit „Notules“ (Randnotizen) betitelte Hefte des Schriftstellers und Dichters Julien Gracq. Ihre Veröffentlichung hat der Autor bis 2027, zwanzig Jahre nach seinem Tod, untersagt. Jedoch hatte Gracq einige Prosastücke ins Reine geschrieben und zum Abtippen gegeben, die 2021 in Frankreich unter dem Titel „Noeuds de vie“ („Lebensknoten“) und jetzt in der Friedenauer Presse auf Deutsch erschienen sind.

Abseits des Literaturbetriebs

Nachdem Julien Gracq mit seinem ersten Roman „Auf Schloss Argon“ (1938) und seinem einzigen Theaterstück „Le Roi pêcheur“ (UA 1949) bei Verlagen und Kritikern nicht die erhoffte Anerkennung fand, wandte er sich enttäuscht vom französischen Literaturbetrieb ab, unterrichtete unter seinem bürgerlichem Namen Louis Poirier bis zu seiner Pensionierung im Alter von sechzig Jahren als Gymnasiallehrer Geografie und Geschichte, schrieb in dieser langen Zeit ununterbrochen weiter, hielt sich aber von der Öffentlichkeit fern. Das änderte sich auch nicht, als ihm 1951 für seinen Roman „Das Ufer der Syrten“ der Prix Goncourt zuerkannt wurde. Die bedeutende Auszeichnung nahm er nicht an – eine solche Ablehnung war beispiellos in der Geschichte des renommierten Preises, was umso mehr für Furore sorgte. „Es ist für einen Schriftsteller heute ein Glücksfall, nie in Mode gewesen zu sein, sondern in einer Zone des Rückzugs und Halbschattens verweilt zu haben“, wird er später in einem seiner Notizbücher festhalten.

In den letzten Lebensjahren zog er sich in seinen Geburtstort Saint-Florent-le-Vieil an der Loire zurück, wo er 2007 im Alter von 97 Jahren starb. „Nie in Mode gewesen“ – das schließt einige bedeutsame Ehrungen und eine große Zahl literaturwissenschaftlicher Studien über den Autor und sein Werk nicht aus. Julien Gracq gehört zu den wenigen Literaten, deren Gesamtwerk bereits zu seinen Lebzeiten in die „Bibliothèque de la Pléiade“ aufgenommen wurde, die in Frankreich gleichsam den Kanon der Literatur bestimmt.

Nähe zum Surrealismus

Anfang der 1930er Jahre entdeckte der Zwanzigjährige das „Manifest des Surrealismus“ und André Bretons 1928 erschienenen Roman „Nadja“, der ihn tief beeindruckte. Umgekehrt schuf er durch die Zusendung seines ersten Romans an André Breton auch die Voraussetzung, um von den Surrealisten entdeckt und als einer der Ihren wahrgenommen zu werden. Seine Nähe zum Surrealismus wird beispielsweise in den frühen Prosagedichten des Bandes „Liberté Grande“ (1946) deutlich, aus dem die Literaturzeitschrift „Sinn und Form“ (Heft 1, 2019) eine Auswahl veröffentlichte, die ebenso wie der vorliegende Band „Lebensknoten“ von Gernot Krämer ins Deutsche übersetzt wurde.

Julien Gracq wird mit Breton bis zu dessen Tod 1966 eine lebenslange Freundschaft verbinden. Gleichwohl blieb er skeptisch gegenüber so manchem, wodurch sich der Surrealismus auszeichnet. Mit dessen Ursprüngen aus der Dada-Bewegung konnte Gracq wenig anfangen. Ebenso wenig sah er in der „Écriture automatique“, dem Schreiben unter Ausschaltung aller inneren Kontrollinstanzen, einen Ansatz, den zu verfolgen sich für ihn gelohnt hätte. Er trat auch nie, wie ein Großteil der Surrealisten, in die Kommunistische Partei ein, und es lag ihm fern, sein Schreiben in den Dienst der Revolution zu stellen.

Gracq betont jedoch wie die Surrealisten die Kraft von Träumen. Bei seinem bevorzugten kleinen Schreibtisch, von dem ein Foto in den Band aufgenommen wurde, ist ihm die Nähe zum Bett wichtig, als „Symbol für Rückzug und nächtlichen Rat“. Wie aus einer anderen Notiz hervorgeht, teilt er jedoch keineswegs die Begeisterung vieler Surrealisten für Traumdeutung und die psychoanalytischen Theorien Sigmund Freuds. „Wie sollte man nicht argwöhnisch sein gegen einen Magier, dessen Zaubertricks die Rätsel weitgehend erst schaffen, die er lösen will?“

Verlockende Fahrten

Für den Band „Lebensknoten“ hat die Herausgeberin Bernhild Boie die literarischen Miniaturen in vier Themenbereiche untergliedert. Im ersten Teil führen uns Notizen unter der Überschrift „Wege und Straßen“ durch verschiedene Landschaften Frankreichs und der Schweiz, etwa von Sancerre aus nordwestlich durch die als finster beschriebene Sologne – „Frankreichs Kuhle, (…), ein stehender, eingekellerter Nabel, den nur selten der Wind besucht und der wie ein Tümpel unter grünem Schaum schläft“; in das winterliche Loire-Tal und durch die rechts und links des Flusses gelegenen Orte.

Die Landschaften der Vendée und der Bretagne stellt Gracq vergleichend gegenüber – in detailreichen sprachlichen Momentaufnahmen, mit denen der Autor Stimmungen evoziert. Vom Boot aus betrachtet er das französische und das Schweizer Ufer des Genfer Sees, das sich mit den Jahren nicht zu seinem Vorteil verändert hat. So beginnt der Band mit mehreren Fahrten, die trotz ihrer stillen Melancholie zum Nachreisen verlocken. Auf seinen Spaziergängen rund um seinen Geburts- und letzten Rückzugsort Saint-Florent-le-Vieil empfindet Gracq auch in der vertrauten Umgebung „keine Ruhe, kein ermutigendes Gefühl der Beständigkeit, sondern eher das sorgenvolle Unbehagen, das uns vor einer zur Fällung markierten Baumgruppe beschleicht, vor einem vertrauten Bauwerk, das abgerissen werden soll (…)“. Im Garten seines Großvaters erinnert er sich an „einen auf Spalier gezogenen Apfelbaum und einen Streifen Wermutsetzlinge“.

Kristallisationspunkte

Während sich der erste Teil den räumlichen Bewegungen widmet, versammelt der zweite Teil, „Augenblicke“, verschiedene Kristallisationspunkte im Längsschnitt der Zeit, historische Momentaufnahmen oder Erlebnisse von subjektiver Wichtigkeit. Für das Jahr 1945 stellt er in Frankreich „in jeder Hinsicht eine Krise des Ausdrucks“ fest; die Zeit schreie „verzweifelt nach einer Form“ – „Ein Verlangen nach Dichtern vielleicht, auf jeder Ebene.“ Eine Ausstellung im Invalidendom zum sogenannten „Sitzkrieg“ (im Französischen bekannt als „Drôle de guerre“), der von September 1939 bis Mai 1940 andauerte und den Gracq als Soldat erlebte, enttäuscht ihn durch ihre, wie er findet, dürftigen, belanglosen Exponate. „Nichts verbindet diese mittelmäßigen Beweisstücke mit dem taghellen Somnambulismus, der sich acht Monate lang einer ganzen Nation bemächtigt hatte.“

Kriegsschilderungen

Gracq weiß, wovon er spricht, hat er doch  in zahlreichen Prosaskizzen den Zweiten Weltkrieg in unideologischer, poetischer Sprache eindringlich festgehalten – die Absurdität eines gewaltigen, desorganisierten Militärapparats, surreal und als komische Farce. Julien Gracqs „Manuscrits de guerre“ wurden 2011 posthum aus seinem Nachlass veröffentlicht und sind als „Aufzeichnungen aus dem Krieg“ (2013) im Literaturverlag Droschl erschienen. Aber auch in seinen Romanen wie „Das Ufer der Syrten“ (1951) und „Der Balkon im Wald“ (1958) ist der Krieg präsent. In Besprechungen und literaturgeschichtlichen Arbeiten zu Gracq wurde auf die frühe, ihn prägende Lektüre von Ernst Jüngers „Auf den Marmorklippen“ hingewiesen, einem Autor, mit dem er sich später anfreunden sollte; zwei Schriftsteller der „alten Schule“. Aus manchen seiner Texte spricht eine Haltung, ähnlich wie Gracq sie 1986 im Gespräch mit Jean Carrière geäußert hat (von Bernhild Boie in ihrem Vorwort zitiert): „(…) man kann die Welt sehr wohl als unersetzliches Wunder für den Menschen betrachten und in aller Gelassenheit bar jeder Hoffnung sein.“

Der Autor als Leser

Gracqs frühe Lektüren zeugen von einer Vorliebe für Abenteuer und Phantastik: James Fenimore Cooper, Jules Verne, Robert Louis Stevenson, E. A. Poe, „Die Gesänge des Maldoror“ von Lautréamont. Gracq benennt die Imagination als „eine Vitalfunktion genau wie die Atmung“, ja mehr noch: „sie ist es, die die Luft atembar macht.“ Als handele es sich dabei um eine Selbstverständlichkeit, setzt er solche literarischen Preziosen in die Klammern eines Satzes, der auf Pierre Reverdy und nebenbei auch auf Hegel antwortet. Im dritten Teil der „Lebensknoten“ können wir einige der klugen Beobachtungen des lesenden Autors Julien Gracq goutieren. Etliche Schriftsteller des 19. und 20. Jahrhunderts geraten unter sein Seziermesser und werden entweder für ihre Verdienste gewürdigt, oder aber es werden, oft mit einem von Ironie gewürzten Urteilsvermögen, ihre Schwächen aufgezeigt.

Da ist Stendhal, den er früh schon bewunderte, Arthur Rimbaud, mit dem er sich sehr gut auskennt, Henry de Montherlant, dessen „herrliche Sprache“ darüber hinwegtäuschen könnte, „dass er doch nur das tägliche Brot austeilt.“ Zwei Buchseiten über J. R. R. Tolkien – und damit eine der längsten Notizen dieses Bandes – mögen überraschen. Die Lektüre von „Der Herr der Ringe“ erlebt er als befreiend, nicht zuletzt, weil nach seiner Lesart das dort beschriebene Geschehen unter kompletter Auslassung „geltender und praktizierter Religionen entstanden“ sei. „Hier treffen Mächte aufeinander und nicht Werte; nicht Gut und Böse, sondern weiße Mächte und schwarze Mächte.“ Gracqs Anfang der fünfziger Jahre begonnenes, aber erst posthum veröffentlichtes Romanfragment „Das Abendreich“ wurde von einigen Kritikern mit Tolkiens Großepos verglichen.

Dichterisches Selbstverständnis

Aus seinen scharfsinnigen Analysen und pointierten Kommentaren zu Zeitgenossen und älteren Autoren spricht ein dichterisches Selbstverständnis, das sich, wie selbst die relativ wenigen in „Lebensknoten“ versammelten Notizen erkennen lassen, zu einer eigenen Poetologie erweitert. „Niemand ist wirklich in Kommunion mit der Literatur, der nicht das Gefühl für das Ganze hat, das noch im kleinsten ihrer Teile vorhanden ist.“ Bei einem Roman sei die „Navigation“ entscheidender als „die Häfen und Landstriche, die unterwegs besucht werden.“ Es gelte zunächst, eine „bestimmte Anfangsgeschwindigkeit zu erreichen“, danach dürften Kräfte auf den „vorwärts getriebenen Körper einwirken, die seine Richtung verändern, ihn bremsen, wieder beschleunigen.“ Die Macht der Bewegung müsse stark genug sein, um jeden Gedanken an ein Ziel auszulöschen. Darüber werde das Sujet beinah nebensächlich.

Worauf es beim Romanschreiben ankommt

Einige solcher Statements, die er in der Auseinandersetzung mit schreibenden Zeitgenossen entwickelt, werden im vierten Teil der Textsammlung aufgegriffen, wenn es um Gracqs eigenes Schreiben geht. Eine Formulierung Paul Valérys zum Vorausdenken beim Schach und die Übertragbarkeit dieser Fähigkeit auf das Schreiben von Romanen nimmt er zum Anlass, darzulegen, worauf es ihm beim Schreiben mehr noch ankommt als auf das Durchspielen vieler möglicher Varianten: Auf die „Fähigkeit, blitzschnell, instinktiv zwischen aufscheinenden Kombinationen zu wählen, automatisch, ohne auch nur zehn Sekunden zu verschwenden, acht von zehn Möglichkeiten auszuschließen.“ Ein „Tastsinn für Positionen“, die „Fähigkeit umfassender Ortung“ – „Am Anfang eines Romans steht keineswegs die tatsächliche Richtung des künftigen Werks, sondern das Vorgefühl seiner Autonomie.“ In einer anderen Notiz hält er folgerichtig fest: „Seinen Zauber und seine Würze erhält ein Roman allein durch das Schwänzen der Schreibschule und nicht durch den unfehlbaren Konstruktionsplan.“

Solche Sätze machen neugierig auf Julien Gracqs Romane, die in insgesamt 26 Sprachen und von denen mehrere auch auf Deutsch erschienen sind. Hoffentlich gelingt es dem schönen und handlichen Band aus der Friedenauer Presse, den Autor Julien Gracq auch Leserinnen und Lesern zugänglich zu machen, die bislang noch nicht zu seinen Verehrern zählten. Die Voraussetzungen dafür dürften durch die gelungene Übersetzung geschaffen und der Zeitpunkt für eine (Wieder-)Entdeckung des Autors dürfte mehr als reif sein.

Julien Gracq: „Lebensknoten“. Aus dem Französischen von Gernot Krämer. Friedenauer Presse, 174 Seiten, 20 Euro.




Aus dem Leben gerissen: Klavier-Festival-Intendant Franz Xaver Ohnesorg ist tot

Franz Xaver Ohnesorg, + 14. November 2023. (Foto: Mark Wohlrab)

„Mitten wir im Leben sind mit dem Tod umfangen“:  Der alte gregorianische Choral hat sich bitter bewahrheitet, als am Morgen des 15. November die schockierende Nachricht eintraf: Franz Xaver Ohnesorg, Intendant des Klavier-Festivals Ruhr, ist tot.

Man kann es kaum fassen, es dringt erst allmählich vom Verstand ins Herz vor: Der dynamische 75-Jährige, vor zehn Tagen noch brillant plaudernder Moderator einer Benefiz-Jazz-Gala in Duisburg zugunsten der Stiftung Klavier-Festival Ruhr, soll nicht mehr unter uns sein? Kein melodisches „Ohnesorg“ mehr am Telefon, kein charmanter Gastgeber mit der obligatorischen Fliege für sein kommendes, den Abschied vom Klavier-Festival markierendes Benefizkonzert in Essen, zu dem er noch einmal Musiker aus der Elite der Weltkünstler begrüßen wollte, von Martha Argerich bis Anne-Sophie Mutter? Man schaut verstört auf den Stuhl in seinem kleinen Büro und versteht nicht, dass er nie mehr hier sitzen wird, über Unterlagen gebeugt, ein Kännchen Tee an der Seite.

Franz Xaver Ohnesorg war ein Begriff in der Musikwelt, in die er 1979 mit einem Paukenschlag eingetreten ist, als der junge Orchesterdirektor der Münchner Philharmoniker den kapriziösen Sergiu Celibidache als Generalmusikdirektor gewann. Seine 16 Jahre Intendanz der Kölner Philharmonie ab 1983 waren prägend: Noch heute kursieren unter alten Hasen die Geschichten über ihn als Gründungsintendant; noch heute sind die Spuren seines Wirkens sichtbar. Sein phänomenales Händchen für das Knüpfen stabiler Beziehungen, heute zum „Networking“ vertechnisiert, sicherte den Kölnern den Genuss vieler Künstler von Weltrang. Mit Durchschnitt hat sich „FXO“ nie zufrieden gegeben.

Auch sein Intermezzo in New York ging er mit der ihm eigenen Energie und Zielstrebigkeit an. Isaac Stern, der legendäre Geiger, hatte ihn dazu gebracht, als erster nicht-amerikanischer Executive and Artistic Director die Leitung der Carnegie Hall zu übernehmen. Dass diese Zeit nur bis 2002 dauerte, ist den Berliner Philharmonikern zu verdanken. Als deren Intendant gestaltete Ohnesorg die ausklingende Ära von Claudio Abbado und den Beginn der Regentschaft von Sir Simon Rattle mit.

28 Spielzeiten beim Klavier-Festival Ruhr

So kannte man ihn: Am 1. Juli 2023 sprach Franz Xaver Ohnesorg vor dem Konzert mit Evgeny Kissin beim Klavier-Festival Ruhr in Essen. (Foto: Peter Wieler)

Das Klavier-Festival Ruhr hat er sagenhafte 28 Spielzeiten unter seine Fittiche genommen, zunächst 1996 als künstlerischer Leiter, ab 2005 als Intendant. In seinem Fall bedeutete das weit mehr als das Bestimmen einer künstlerischen Linie. Das Klavier-Festival als vollständig privat finanziertes kulturelles Leitprojekt des Initiativkreises Ruhr fordert einen Intendanten, der Jahr für Jahr die Finanzierung sichern muss.

Seine faszinierende Vielseitigkeit im Umgang mit Menschen machte ihn zur Idealbesetzung auf diesem Posten: Sponsoren, Donatoren und Förderer des Festivals können erzählen, wie „Xaver“ seinen bestrickenden Charme einsetzte, um an Ruhr, Rhein und Wupper große Klavierkunst zu ermöglichen, aber auch hoffnungsvollen jungen Pianisten einen Start in eine internationale Karriere zu ebnen. Joseph Moog oder Sergio Tiempo, die am 25. November auf dem Programm des Essener Benefizkonzerts stehen, sind ebenso Beispiele wie Fabian Müller, der fünf Preise beim ARD Musikwettbewerb 2017 abräumte und – inzwischen Professor an der Musikhochschule Köln/Wuppertal – international konzertiert.

Ohnesorg hat das Klavier-Festival zu dem gemacht, was es heute ist: das wohl weltweit größte Pianistentreffen, ein Zentrum großer, vielfältiger Klavierkunst. Ob er stolz darauf war? Wenn ja, ließ er es sich nicht anmerken, rückte immer die Künstler in den Mittelpunkt. Aber in seiner Stimme schwang der Enthusiasmus mit, wenn er berichtete, wie er beim Festival etwa George Antheils „Ballet Mecanique“ ermöglichte, wie viele Uraufführungen von Philip Glass – zuletzt sein Klavierkonzert – im Ruhrgebiet stattfanden, wie er immer wieder Pianisten dazu brachte, beim Klavier-Festival exklusive Programme zu präsentieren. Dass sein Herz besonders an der Musik von Franz Schubert hing, hat er in seiner letzten Saison vor seinem geplanten Abschied als Intendant zum 31.12.2023 immer wieder in bewegenden Worten bekundet.

Erzähler mit leuchtenden Augen

Richtig leuchtende Augen bekam er aber, wenn er von den Education-Programmen des Klavier-Festivals berichten konnte. Die Projekte für Kinder und Jugendliche, denen der Zugang zur Musik nicht in die Wiege gelegt wurde, hielt er für eine „moralische Pflicht“. Wichtig waren ihm dabei Nachhaltigkeit und Qualität. Dafür holte er sich bewährte Mitarbeiter ins Boot. „Glücklich bin ich, wenn ich in die Gesichter der Kinder in Marxloh schaue, wie sie durch unsere ‚Piano School‘ das Zuhören lernen oder bei Tanzprojekten stolz sind auf eigene Erfolge“, sagte er in einem Interview.

Faszinierender Erzähler: Franz Xaver Ohnesorg und Bundestagspräsident a. D. Norbert Lammert bei der Veranstaltung „Ein Gast. Eine Stunde“ am 23. Juni 2023 im Schauspielhaus Bochum. (Foto: Werner Häußner)

Das Erzählen lag ihm. Franz Xaver Ohnesorg hatte ein unbestechliches Gedächtnis, wusste auf Anhieb, wer wann und wo beim Klavier-Festival was gespielt hat. Als er im Juni 2023 an einem Sonntagvormittag im Bochumer Schauspielhaus in der Reihe „Ein Gast – eine Stunde“ auf der Bühne saß, sprudelte er vor Erinnerungen, Anekdoten, Bonmots. Unterhielt man sich mit ihm über Musik, zog er mühelos große Linien, beleuchtete wie selbstverständlich wichtige Details. Und er kannte buchstäblich Gott und die Welt, unter den Pianisten sowieso, aber auch unter Geigern, Cellisten, Bläsern und Dirigenten. Spannend war aber auch, wer bei ihm durchs Raster fiel. Das geschah meist durch beredtes Schweigen.

Perfektion im Dienste der Künstler

Franz Xaver Ohnesorg (links) bedankt sich bei den Künstlern des Galakonzerts des Klavier-Festivals Ruhr am 27. Oktober 2023 in der Historischen Stadthalle Wuppertal. (Foto: Peter Wieler)

Ohnesorg war ein Perfektionist, und was er von sich selbst verlangte, erwartete er auch von seinen Mitarbeitern. Alles musste stimmen, von Details des äußeren Rahmens der Konzerte bis zur hingebungsvollen Betreuung der Musiker. Er wollte „Künstlern helfen, besonders gut zu sein“ und ihnen das Musizieren leicht machen, „von der Abholung vom Flughafen bis zum idealen Saal.“ Sie sollten sich umsorgt fühlen. Große Stars und junge Pianisten dankten es ihm durch ihre Treue. Ein Lieblingsprojekt in seinen letzten Jahren waren die „Lebenslinien“: In seinen Ansprachen und in den Programmen der Konzerte zählte er gerne auf, wie oft die Künstler beim Klavier-Festival aufgetreten sind und wie lange die Verbundenheit schon währt.

Diese freundschaftlichen Beziehungen kamen nicht nur der Programmatik des Festivals zugute, sondern eröffneten dem Publikum die Chance, alle Facetten des Könnens berühmter Pianisten kennenzulernen, die Entwicklung von Künstlerpersönlichkeiten mitzuverfolgen, Legenden der Klaviermusik hautnah zu erleben, musikalische Aufbrüche und junge Talente zu bestaunen. Und wer kann sich schon ans Revers heften, eine Martha Argerich 30 mal, einen Pierre-Laurent Aimard gar 36 mal, einen Grigory Sokolov 25 mal zu Gast gehabt zu haben?

Bei einer Pressekonferenz am 22. Mai 2022 stellte Franz Xaver Ohnesorg Katrin Zagrosek, seine Nachfolgerin ab 1. Januar 2024, vor. (Foto: Peter Wieler)

Zur Ruhe wollte er sich nicht setzen, der unermüdliche Franz Xaver Ohnesorg. Sicher, er wünschte sich mehr Zeit für die Familie und für Freunde, mehr Muße für Bücher und versäumte Filme. Ehrenamtlich hatte er vor, sich um das Kölner Kammerorchester zu kümmern, dessen Trägerverein er bereits als Vorsitzender diente. Der plötzliche Tod hat einen grausamen Strich durch diese Planung gemacht.

Franz Xaver Ohnesorgs Memoiren bleiben ungeschrieben: Sie hätten mit Sicherheit viel Gewinn bei der Lektüre und manche Erkenntnis bereitgehalten. Das letzte der drei Benefizkonzerte – nach einer grandiosen Gala in Wuppertal und einem Fest für Jazz-Freunde in Duisburg – wird nun am 25. November in Essen zum Gedächtniskonzert für einen Menschen, dem nicht nur das Ruhrgebiet unschätzbar viel verdankt, sondern der bei jedem, der die Gunst hatte, ihm zu begegnen, markante Spuren hinterlassen hat. Requiescat in pace, lieber FXO!

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(Transparenzhinweis: Der Autor ist seit 2016 für die Pressearbeit des Klavier-Festivals Ruhr zuständig).




Abschied ohne Nostalgie: Waltraud Meier hat die Opernbühne verlassen

Waltraud Meier auf der Bühne der Berliner Lindenoper. Die große Künstlerin hat ihre Karriere beendet. (Foto: Jakob Tillmann)

Eine der prägenden Künstlerinnen der Opernbühne der letzten Jahrzehnte hat Abschied genommen: In Berlin sang Waltraud Meier zum letzten Mal die Klytämnestra in Richard Strauss‘ „Elektra“. Werner Häußner kennt die Sängerin seit ihrem Debüt in Würzburg 1976 und lässt Stationen einer Karriere Revue passieren, die von 1980 bis 1983 auch nach Dortmund führte. Dort sang Meier erstmals die Kundry in Wagners „Parsifal“. Eine Rolle, die ihr 1983 den Durchbruch in Bayreuth bescherte.

Was soll man zum Bühnenabschied einer Sängerin schreiben, über die in den 47 Jahren ihrer Karriere wohl alles schon in Zeilen gefasst wurde, was öffentlich zu sagen ist? Wozu den Lebenslauf rekapitulieren, der überall nachzulesen ist; wozu das umfangreiche Repertoire aufzählen, das nun eh der Vergangenheit angehört?

Oder sollte man die Stimme von Waltraud Meier preisen, die am Freitag, 20. Oktober 2023, in der Berliner Staatsoper unter den Linden zum letzten Mal in einem Theater erklungen ist? Sollte noch einmal das „Bühnentier“ in den Vordergrund treten, das um 20.44 Uhr, nach langem herzlichem Beifall raschen Schrittes von der offenen Szene eilt, die Richard Peduzzi einst für Patrice Chéreaus „Elektra“ gebaut hat und die nun abgespielt ist?

„Tschüss“ für ein wunderbares Publikum

Waltraud Meier hat beklagt, dass heutzutage keine Blumen mehr geworfen werden. Bei ihrem Abschied in Berlin war das anders. (Foto: Jakob Tillmann)

Berlin erlebte den Bühnenabschied einer Sängerin, die mehr ist als eine verkörperte Stimme, die als „Jahrhundertsängerin“ bewundert, als „Callas der Jetzt-Zeit“ gerühmt wurde. Alle Rekapitulationen oder Lobeshymnen klingen in einer solchen Situation wie ein Nachruf, und den hätte Waltraud Meier noch lange nicht verdient und hoffentlich noch viel länger nicht nötig. Von ihrem „wunderbaren treuen Publikum“ verabschiedet sich mit einem fast schüchtern klingendem „Tschüss“ eine entschlossene Frau, bereit, das Leben nach dem Bühnendasein anzupacken und zu genießen. Wehmut? Wenn, ist er tapfer verborgen. Nostalgie oder gar Tränen? Das sind Waltraud Meiers Sachen nicht.

In Interviews hat sie deutlich gemacht: Es wird keine Rückkehr mehr geben, Altersrollen sind ausgeschlossen, und das Leben geht auch ohne Klytämnestra, Kundry, Waltraute oder Isolde weiter. Waltraud Meier hat musikalisch gesagt, was sie zu sagen hatte, jetzt ist Schluss. So kontrolliert, so entschieden und klar kennt man die Fränkin, die 1976 am Stadttheater Würzburg als Lola in Mascagnis „Cavalleria rusticana“ ihre Bühnenkarriere begann. Da hatte sie die Szene noch nicht betreten und war schon nach Mannheim wegengagiert.

Zum letzten Mal Klytämnestra in „Elektra“ von Richard Strauss, u. a. mit Ricarda Merbeth (Elektra) und Vida Miknevičiūtė (Chrysothemis). Dirigiert hat den Abschiedsabend Markus Poschner anstelle des ursprünglich vorgesehenen Daniel Barenboim, der leider nicht anwesend sein konnte. Waltraud Meier bedankte sich mit warmen Worten bei ihrem „Lebensdirigenten“: „Ich habe den ganzen Abend an ihn gedacht und er bleibt in meinem Herzen“. (Foto: Jakob Tillmann)

Was bleibt also noch übrig? Vielleicht ein paar persönliche Erinnerungen an die Anfänge von Waltraud Meiers Laufbahn, ein paar Eindrücke von Stationen dieses beinahe halben Jahrhunderts, in dem sich auch die Welt der Oper neuen Zeiten angepasst hat. Welcher Intendant würde heute eine zwanzigjährige Romanistikstudentin verpflichten, die keine „ordentliche“ Hochschulausbildung absolviert hat, beim Chordirektor des Hauses (damals war das Anton Theisen) Unterricht bekam und ansonsten „nur“ von unbändiger Lust am Singen angetrieben war? Wo fände sich noch ein Ensemble wie die Bühnenfamilie in Würzburg, die dieses Küken aufnimmt und mitträgt? Welcher Regisseur hätte noch die Geduld, mit einer unerfahrenen, aber selbstbewussten jungen Frau kleine Rollen sorgfältig einzustudieren? Aus Würzburg kann Waltraud Meier köstliche Anekdoten erzählen – sympathische Reminiszenzen an ein Theater, das es heute so wohl kaum mehr gibt.

Angeschwipst die Treppe runter

Die Lola habe ich von ihr gesehen und gehört, kann mich aber eher an die fulminante Gertraud Halasz-Kiefel erinnern, die Santuzza des Abends. Genauer steht mir die Rolle der Berta vor Augen, deren hübsche melodische Arie Waltraud Meier im Würzburger „Barbier von Sevilla“ singen durfte. Regisseur Wolfram Dehmel wollte sie als angeschwipstes, gar nicht so ältliches Fräulein eine Treppe hinuntertänzeln lassen, und in solchen Szenen zeigte sich ihre rasche Auffassungsgabe und ihre Bewegungsfreude. „Ich bin eigentlich ein Bewegungsmensch. Mein Ausdruck kommt nicht nur über die Stimme, sondern auch über den Körper, die Bewegung“, sagt sie in einem Interview.

Das war in Würzburg schon zu erkennen: Ihre Muse in „Hoffmanns Erzählungen“ und die Concepcion in Ravels „Die spanische Stunde“ profitierten nicht nur vom jugendlich frischen, warmen, dunkel-sinnlichen Klang ihres Mezzosoprans, sondern auch von diesem Geschick, eine Person mit dem Körper zu formen. Waltraud Meier stand auch in diesen Jahren nie einfach herum; sie hatte selbst dem provinziellsten Stückeeinrichter etwas anzubieten.

„Lebensfreude, Lebensenergie, Lebenslust will sich manifestieren durch Stimme. Wo das Wort nicht ausreicht, da geht die Emotion in Gesang über.“
(Waltraud Meier)

Die Stimme: Erinnerungen, die ein halbes Jahrhundert alt sind, drohen zu verblassen oder verklärter zu schimmern, als sie in der Routine-Wirklichkeit der Zeiten tatsächlich waren. Waltraud Meier sang 1976 in einer bemerkenswert atmosphärischen Inszenierung von Manfred W. von Wildemann die Alisa in „Lucia di Lammermoor“. Einer der beteiligten Sänger hatte sich einen Mitschnitt angefertigt, auf dem auch der noch nicht erstrahlte künftige Star zu hören ist.

Waltraud Meier. (Foto: Nomi Baumgartl)

Das Dokument bestätigt: Bei aller Entwicklung, die Waltraud Meier vor allem in ihren „Galeerenjahren“ in Mannheim und Dortmund durchmachte und für die sie immer wieder den Dirigenten Hans Wallat erwähnte: Die Stimme von damals ist in ihrer Klarheit und in ihrem sinnlich-individuellen Timbre unzweifelhaft identifizierbar. Der Keim des Erfolgs spross damals schon ins schummrige Licht eines stilisierten schottischen Friedhofs, mit dem Wildemann in der „Provinz“ die Oper Donizettis ernst genommen und aus der Rolle des „Primadonnenvehikels“ erlöst hat, als die sie in den siebziger Jahren an den Staatstheatern noch zelebriert wurde.

Wort und Klang durchdringen sich

Für den Belcanto hat sich Waltraud Meier in den kommenden Jahren nicht besonders interessiert. Die artifizielle Kunst des Singens, so sehr sie auch Seelenströme offenbaren kann, blieb ihr fremd. Klar, die großen Verdi-Partien, die Azucena, die Amneris, die Eboli waren von ihr zu hören – und manchmal bedauerte sie, auf Wagner festgelegt und für Verdi nicht gefragt zu werden. Aber ihre Domäne lag woanders. Nicht umsonst bestimmte Richard Wagner einen großen Teil ihres Bühnenlebens. Das „Gesamtkunstwerk“ hatte sie gepackt.

Mit Regisseuren wie dem von ihr unendlich geschätzten Patrice Chéreau, mit Dirigenten wie dem seit Jahrzehnten mit ihr verbundenen Daniel Barenboim („mein Lebensmensch“) konnte sie Musik, Wort und Szene mit der Intensität durchdringen, die für sie Voraussetzung einer gelingenden, glaubwürdigen, fundierten Interpretation ist. Das war in ihrer letzten Rolle in Berlin noch einmal deutlich zu spüren: Der Moment, in dem Klytämnestra auf extra ausgelegtem rotem Teppich aus dem Palast eilt und Ricarda Merbeth als Elektra fixiert, reißt in den wenigen Sekunden einer stummen Konfrontation dieses verdorbene Mutter-Tochter-Verhältnis auf. Und das Erschlaffen der anfangs so beherrschten Königin – „Götter … warum verwüstet ihr mich so“ – ist das erste Signal, dass diese Frau nur mit „furchtbarer Anstrengung“ Haltung bewahren kann.

„Was die Wahrheit ist, das bringt kein Mensch heraus“ singt Waltraud Meier mit der ihr eigenen Gabe, Wort und Klang zu Ausdruck zu verschmelzen. Hier ist sie, die Größe einer Sängerin, die über die schönen Töne hinaus in die Tiefe des Gesungenen dringt. Joachim Kaisers Wort von der „Callas“ wirkt in solchen Momenten zutreffend: Waltraud Meier ist nicht zum Scherzen aufgelegt, wenn es darum geht, eine glaubwürdige Figur zu erschaffen. Da arbeitete sie so hart und beharrlich wie Maria Callas. Der Scherz kommt später, in den Anekdoten, in den witzig absurden Momenten, die sich ereignen, weil auf der Bühne eben auch „nur“ Menschen arbeiten. Aber: Was die Wahrheit einer Rolle ist, das herauszubringen, war ihr Ziel.

Mit Loriot ins komische Genre

In einem der hoffentlich nächsten Gespräche werde ich ihr die Frage stellen, welches Verhältnis sie eigentlich zur „lustigen Person“ auf der Bühne hat. Komische Rollen? Ihr Repertoireverzeichnis auf ihrer Webseite verzeichnet keine einzige. Wie gut hätte man sich vorstellen können, in Otto Nicolais „Die lustigen Weiber von Windsor“ oder als Lady Billows in Brittens „Albert Herring“ ganz andere Seiten als die Wagner’sche Schwere an Waltraud Meier zu entdecken. Aber das hat sie ihrem Publikum – soweit ich mich erinnere – nur einmal wirklich von Herzen gegönnt: als Vicco von Bülow, der im November 100 Jahre alt werden würde, in Stuttgart Friedrich von Flotows „Martha“ als feine erotisch-ironische Petitesse inszeniert hat. Da war sie, Loriot zuliebe, mit allem Spielwitz dabei.

„Das hier ist das Ende einer Ära“, sagte ein Besucher der Lindenoper beim Rausgehen im Foyer. Das stimmt, weil mit Waltraud Meier eine prägende Bühnenkünstlerin der letzten 40 Jahre ihre Karriere beendet hat. Aber es stimmt auch nicht: Das Pathos, das im Begriff der „Ära“ steckt, wollte sich nicht einstellen, weil der Abschied die unverkennbar frischen Züge eines Aufbruchs trägt. Ein Aufbruch in einen neuen Abschnitt des Lebens. „Io me ne vado“, singt Lola leichtherzig bei ihrem Abgang in „Cavalleria rusticana“.

Auch Waltraud Meier hat nun die Bühne verlassen – und wie sie immer wieder beteuerte, nicht mit Herzensschwere. So wünschen wir der wunderbaren, einzigartigen Künstlerin dankbar auch für die kommenden Jahre die Leichtigkeit des Herzens und die Lebensfreude und Lebenslust, aus der heraus sie ihr Publikum 47 Jahre lang mit ihrer Stimme, ihrer Kunst und ihrem Wesen beschenkt hat.




Jane Birkin – Fülle des Lebens

Jane Birkin, wahrhaftig eine Ikone ihrer Generation, ist mit 76 Jahren gestorben. Aus diesem traurigen Anlass nochmals der Text einer Kurzbesprechung, die erstmals am 16. Februar 2008 in der Westfälischen Rundschau erschienen ist:

Wenn Jane Birkin singt, sind Geister gegenwärtig. Dann wird Musik schon mal zur gehauchten Beschwörung.

Nein! Diese knabenhafte Frau in Cargo-Hosen und T-Shirt, die fast zwei Stunden ohne Pause auf der Bühne des Dortmunder Konzerthauses steht, kann keine 61 Jahre alt sein. Niemand mag es glauben.

Und besagte Geister? Nun, natürlich schwingt vor allem die Erinnerung an ihren langjährigen, 1991 gestorbenen Lebens- und Bühnenpartner Serge Gainsbourg mit. Obwohl sie sich einst von ihm getrennt hat: Diese Liebe wirkt spürbar nach – schier grenzenlos. Jane Birkin ist denn auch so klug, seither mit keinem anderen das berüchtigte Stöhn-Lied „Je t’aime – moi non plus…“ (Skandal von 1969) darzubieten. Darauf müssen wir also verzichten.

Sonst aber enthält das Konzert so ziemlich alles, was man sich von ihr wünschen kann. Flankiert wird sie von einem famosen Trio: Die drei Herren beherrschen neben Klavier, Gitarre, Geige und Schlagzeug manche andere Instrumente virtuos. Eine ideale Tragfläche für Jane Birkins sanft-brüchigen Gesang, der zwischen Liebes-Melancholie und kindlicher Freude etliche Schattierungen umfasst.

Eine Glockenstimme hat Jane Birkin nicht. Aber es klingt ihre ganze Lebensfülle an – und das ist mehr. In dieser Liga, in die auch eine Marianne Faithfull gehört, zählt erfahrene, erlittene Individualität. Auch politische Appelle (gegen die Diktatur in Birma) haben da ihren Platz, weil sie von Herzen kommen.

Sie trifft genau die richtige Mischung aus englischen und französischen Akzenten, angejazzten Rock- und Chanson-Elementen. Titel aus neueren Alben und Rückgriffe bis in die 70er Jahre runden sich zum bewegenden Ereignis. Bravo!




Nicht schön, aber viel besser als früher – Bilder aus der „Eulenkopf“-Siedlung

Frontale Aufnahme auf dem Cover des Fotobandes von Merle Forchmann: „Eulenkopf“-Bewohnerin Rosi, die sich „damals“ so sehr über eine eigene Wohnungsklingel gefreut hat, hier aber eine durchaus abwehrbereite Haltung einzunehmen scheint. (Fotografie: © Merle Forchmann / Cover-Gestaltung: Verlag Kettler, Dortmund)

Das kann man wohl teilnehmende Beobachtung nennen: Rund zwei Jahre lang ist die in Düsseldorf lebende Dokumentar-Fotografin Merle Forchmann immer und immer wieder nach Gießen gefahren – und dort stets zur „Eulenkopf“-Siedlung. Mit der hat es seine spezielle Bewandtnis.

In den frühen 1950er Jahren wurde diese Siedlung in erbärmlicher Schlichtheit so errichtet, dass vormals Wohnungslose zwar ein notdürftiges Dach über dem Kopf hatten, aber ganz bewusst vom Rest der Stadt separiert und damit als „sozial Schwache“ oder gar „Asoziale“ gebrandmarkt wurden. Sie wohnten buchstäblich im Dreck und wurden behandelt wie „Schmuddelkinder“. Desolate soziale Verhältnisse mit häufiger familiärer Gewalt waren in dieser Frühzeit die unausbleibliche Folge. In den Nachkriegsjahren waren ringsum viele US-Soldaten stationiert. Sie haben in der Gegend so manche Kinder gezeugt und sind oft nicht bei ihnen und den Frauen geblieben. Familien mit mehr als fünf Kindern waren hier anfangs die Regel. Da wurde das Elend nicht kleiner.

Im Zuge der Studentenbewegung formierte sich in den frühen 1970er Jahren in Gießen ein Hilfsprojekt, das den „Abgehängten“ beistehen wollte und gründliche Sanierungen (unter Beteiligung der Betroffenen) voranbrachte. Besonders engagierte sich dabei auch der prominente Prof. Horst-Eberhard Richter, der damals die psychosomatische Klinik in Gießen leitete. Merle Forchmann ist seine Enkelin und hatte daher auch ein persönliches Interesse an einer ausgiebigen Spurensuche – etwa 50 Jahre nach Gründung jener studentischen Initiative. Sie konzentriert sich freilich nicht auf Meriten ihres Großvaters, sondern auf die jetzigen Bewohner der Häuser.

Zufrieden mit einem bescheidenen Leben

In dem angemessen schmucklosen Bildband „Eulenkopf. Eine Wohnsiedlung“ werden nicht lang und breit die Zusammenhänge aufgerollt. Wir erfahren das Nötige, lernen einige Bewohner anhand von Porträts, alltäglichen Szenen und kurzen Selbstaussagen kennen. Skizzenhaft, versteht sich. Da ist zum Beispiel Tamara, die tatsächlich Weltmeisterin im Powerlifting (eine Art Gewichtheben) gewesen ist und dann an Krebs erkrankte. Da ist Rosi, die noch heute von der Zeit schwärmt, als ihre Behausung ein eigenes Klo und eine eigene Klingel bekommen hat. Da ist Adelheid, die schon in fünf verschiedenen Häusern des Blocks gewohnt hat. Da ist Gela, seit 1969 hier, die auch künftig für immer bleiben will. Da ist Udo, der bereits dieses bescheidene Leben als „Luxus“ begreift.

Die Momentaufnahmen wirken vielfach wie pure Zufallsauswahl, sie beruhen aber just auf genauer Langzeitbeobachtung und zunehmend vertrauensvollen Gesprächen. Es sind visuelle Essenzen; Ansichten aus dem nachhaltig verbesserten, aber immer noch alles andere als komfortablen Alltag der Siedlungsbewohner, die übrigens auch einen eigenen Verein für Kraftsport und Fußball gegründet haben. Auch das hat ihnen über missliche Situationen hinweggeholfen.

Die Dinge sprechen ihre eigene Sprache

Es entspricht sicherlich nicht dem gängigen Mittelschichts-Geschmack, doch auch die Dinge, mit denen sie sich hier seit längerer Zeit umgeben, sprechen eine eigene, oft geradezu anrührende Sprache. Es finden sich Spuren gelebten Lebens darin, das beileibe nicht einfach war. Erst recht sind die Gesichter von Mühsal gezeichnet. Sie haben ihre kleine Welt ein wenig erträglicher gestalten können. Nach ihrem Maß. Schön ist das alles immer noch nicht, doch der Flecken ist durchsetzt mit einigen Vorzeichen eines lohnenden Lebens.

Die meisten Leute wohnen schon seit den 1960er Jahren hier bzw. sind hier aufgewachsen und inzwischen alt geworden. Insofern hat Merle Forchmann Bilder einer allmählich verblassenden Lebenswelt eingefangen. Und woher diese Siedlungstreue? Einerseits sind sie wohl geblieben, weil man nur schwer von dort wegkommt, andererseits scheint es einen sozialen Zusammenhalt zu geben, den sie selbst dann noch aufsuchen, wenn ihnen der „Absprung“ gelungen ist. Fast alle Verwandten und viele langjährig befreundete Menschen wohnen ja weiterhin hier. Selbst ein Sohn des Viertels, der es zum Gymnasiallehrer gebracht hat, kommt jederzeit zu Besuch, obwohl seine Partnerin mit all dem wenig anfangen kann.

Es lassen sich hier nicht zuletzt eigene Vorurteile überprüfen. Was hält man spontan vom Anblick dieser Menschen? Ändert man seine Meinung, wenn man ein paar Zeilen über sie liest? Kommen sie einem nicht nach Durchsicht des Bandes schon wesentlich vertrauter vor? Oder bleiben sie dennoch seltsam fremd?

Merle Forchmann: „Eulenkopf. Eine Wohnsiedlung“ (Hrsg.: Jonny Bauer). Verlag Kettler, Dortmund. 116 Seiten Softcover, Format 18×23 cm, Texte in Deutsch und Englisch. 19 Euro.

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Der Dortmunder Verlag Kettler – eine stille Sensation

Der Verlag Kettler darf als eine der stillen Sensationen von Dortmund gelten. In dieser Stadt werden ansonsten kaum noch Bücher hergestellt, seit etwa grafit (Regionalkrimis etc.) und Harenberg (populäre Lexika usw.) die einst stolzer geblähten Segel gestrichen haben.

Die wenigsten Einheimischen dürften schon von Kettler gehört haben, dabei produziert der Verlag im Schatten des „Dortmunder U“ (und mit eigener Druckerei im nahen Bönen) u. a. Kataloge für erstrangige Institute wie die Bundeskunsthalle (Bonn) oder den „Hamburger Bahnhof“ (Berlin). Mit solchen Publikationen zählt Kettler zu den führenden Kunstverlagen der Republik.

In der Region kooperiert man regelmäßig mit dem Emil-Schumacher-Museum (Hagen), dem NRW-Baukunstarchiv (Dortmund) oder dem Marta in Herford. Auch ein enorm anspruchsvoller, auf Katalog-Qualität versessener Künstler wie Christo vertraute Kettler eine voluminöse Werkübersicht über sich und Jeanne-Claude an. Eine Art Ritterschlag in dieser Branche.

 




Schlechtes Gewissen im Wohlstand – „Geld spielt keine Rolle“ von Anna Mayr

Nach ihrem bitteren Armutsbericht „Die Elenden“ (2020) legt Anna Mayr nun ein Buch über ihren und anderleuts (letztlich doch begrenzten) finanziellen Aufstieg vor: „Geld spielt keine Rolle“.

Der Titel ist natürlich nicht wörtlich zu nehmen. Im Gegenteil. Geld spielt immer und überall eine Rolle, so lautet der unumstößliche Befund. Über Geld redet „man“ nicht? Oh, doch! Hier schon. Jedes einzelne Kapitel ist mit einem konkreten Geldbetrag überschrieben: „600 Euro für einen Umzug“. – „200 Euro für Falafel“. – „225 Euro für eine Katzentherapeutin“ – „149 Euro für einen Elektrogrill“. Und so weiter, aus etlichen Lebensbereichen. Das Buch enthält somit (bestürzend) viele und genaue Proben des bundesdeutschen Alltags.

Als Frau, die in ärmlichen Verhältnissen am Ostrand des Ruhrgebiets aufgewachsen ist, „genießt“ Anna Mayr street credibility. Ihre Mitteilungen fußen zuerst auf schmerzlichen Erfahrungen, seither auch auf vielen Lektüren und Gesprächen. Inzwischen geht es ihr finanziell ungleich besser und sie macht sich oft ein schlechtes Gewissen daraus. Immer noch wundert sie sich darüber, welche Dinge sie sich leisten und erlauben kann, doch schwindet das Staunen allmählich. Sie hadert und ringt gleichsam mit sich selbst, ob sie sich diesen Sinneswandel verzeihen kann. Bloße Reflexion und Wohlmeinen reichen ja nicht aus. Irgendwann steht man mit seinem Geld „auf der falschen Seite“.

Nicht Leistung, sondern glückliche Umstände

Schon der rasante Einstieg („Eat The Rich“) enthält steile Behauptungen, die allerdings einiges für sich haben: Erfolgreiche berufliche Laufbahnen und höheres Einkommen hätten gar nichts mit Leistung, sondern allemal mit Glück (sprich: Herkunft, Erbschaften, Beziehungen) zu tun. Die grundsätzliche Ungerechtigkeit hat demnach weitreichende Folgen, auch für den Seelenhaushalt. Zitat: „Je mehr Geld man den Leuten gibt, desto unempathischer werden sie, desto unsozialer verhalten sie sich (…) Reich zu sein erhöht die Wahrscheinlichkeit, schäbig zu sein…“ Wie lautet doch das derzeit medial dauerverwendete Modesätzchen: „Da hat sie einen Punkt.“ Und nicht nur diesen einen. „Geld verdirbt den Charakter“ – haben ja auch schon unsere Großeltern gesagt, sofern sie keine prallen Portemonnaies hatten.

Die Autorin Anna Mayr. (Foto: © Anna Tiessen)

Je nach Betrachtungswinkel ist ein Besuch beim Bundespresseball in Berliner Edelhotel Adlon ein Tief- oder Höhepunkt des Buches. Da lassen sich eben mancherlei Studien zum Gebaren der Wohlhabenden betreiben. Der Autorin wurde dabei reichlich unbehaglich zumute, was sich durchaus nachfühlen lässt. Der uralte Satz, dass Reichtum nicht glücklich mache, findet sich – in entschieden abgewandelter Form – auch bei ihr: „Viele reiche Leute sind nicht besonders glücklich. Weil sie immer denken, dass es noch nicht genug ist.“ Wer sich und das Seine missgünstig vergleicht, kann sich leicht benachteiligt vorkommen. Jeff Bezos, Elon Musk, Bernard Arnault und Konsorten seien einmal weitgehend ausgenommen von solcher Selbstquälerei. Aber wer weiß, ob nicht sogar sie auf die Besitztümer von ihresgleichen schielen. Aber ich schweife ab.

Ganz bewusst ohne finale Moral

Zurück zu irdischen Verhältnissen. Gar viele Phänomene und Situationen kommen einem bekannt vor. Da geht es etwa um (vielfach unsinnigen) Konsum als Trost und „Leistungsnachweis“, um die Gemengelage zwischen dem Kauf eines Brautkleids und den Fallstricken von Eheverträgen, ums komplizierte Verhältnis zwischen Haupt- und Zuverdienern, um die feinen Unterschiede zwischen gesetzlich und privat Versicherten… Geld durchdringt eben alles und jedes. Mit mehr Geld nehmen so manche Sorgen und Leiden ab, da lebt es sich in aller Regel gesünder. Ohne genügend Geld wissen viele nicht aus noch ein und sterben folglich früher.

In einem Exkurs verteidigt Anna Mayr geradezu trotzig ihren vor Jahren neu entdeckten Hang zu vegetarischer und veganer Ernährung. Einst hat sie das Recht der weniger Begüterten auf Schnitzel verteidigt, heute hält sie das für einen gesundheitsschädlichen Fehler. Vorschriften will sie freilich niemandem machen. Aber zuraten möchte sie gern.

Sehr deutlich an die finanziellen Grenzen stößt die Autorin – mit den allermeisten anderen Menschen – beim tollkühnen Vorhaben, eine Immobilie in Berlin zu erwerben. Mit normalen Gehältern, selbst im relativen Komfortbereich, geht das einfach nicht mehr.

Und die Moral von der Geschicht‘? Gibt es nicht. Ganz bewusst und explizit verweigert Anna Mayr eine allgemein gültige Schlussfolgerung aus all ihren Beobachtungen. Mit unserem Verhältnis zum Geld müssen wir also selbst klarkommen. Doch sie hat dazu ein paar Fährten gelegt. Vertrackt genug: Wer sich dieses Buch kaufen kann, zählt schon mal nicht zu den ganz Bedürftigen. Auch kluge Denkanstöße sind käuflich.

Anna Mayr: „Geld spielt keine Rolle“. Hanser Berlin. 172 Seiten. 22 Euro.

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Nachbemerkung: Als einstiger Redakteur der Westfälischen Rundschau freue ich mich besonders über zwei Leute, die ihre journalistischen Anfänge in Lokalredaktionen dieser Zeitung hatten: Navid Kermani, heute hochgeachteter Publizist und u. a. Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels, hat seinen Weg in der WR-Lokalredaktion Siegen begonnen. Und just Anna Mayr, jetzt vielzitierte Politik-Redakteurin der „Zeit“, ist aus der WR-Redaktion in Unna hervorgegangen.

 




Furchtlosigkeit, Demut und Liebe – Helga Schubert über den Alltag mit ihrem demenzkranken Mann

„Darum sorgt nicht für den andern Morgen“, heißt es bei Matthäus (Kapitel 6, Vers 34), „denn der morgende Tag wird für das Seine sorgen. Es ist genug, dass ein jeglicher Tag seine eigene Plage habe.“

Diese Bibel-Zeilen stellt Helga Schuber ihrem neuen Buch voran: „Der heutige Tag. Ein Stundenbuch der Liebe“ konzentriert sich ganz auf das Hier und Jetzt, das Schöne und das Schreckliche des Moments. Es ist ein Buch, das furchtlos und bewegend beschreibt, wie Liebe und Leid Hand in Hand gehen, wie qualvoll es ist, seinen schwer an Demenz erkrankten Ehemann zu pflegen, einen ehemals starken Kerl und klugen Kopf, der jetzt ans Bett gefesselt ist und sich einnässt, der seine Frau oft nicht wieder erkennt und seltsame Dinge vor sich hin brabbelt.

Helga Schubert ringt ihre Notizen dem Alltag ab und kann sie nur nachts in den Laptop eingeben, wenn ihr Mann ein paar Stunden schläft und das an seinem Krankenbett platzierte Babyphone, mit dem sie jeden seiner Atemzüge überwacht, einmal Ruhe gibt.

Jahrzehntelang wurde das Werk von Helga Schubert kaum wahrgenommen. In der DDR war die Psychotherapeutin und Schriftstellerin wegen ihrer kritischen Haltung zum „realen Sozialismus“ und ihrer religiösen Bekenntnisse eine Außenseiterin. Im wieder vereinigten neuen Deutschland hatte man kein Ohr für die leise und nachdenkliche Stimme einer Autorin, die nur noch selten in ihrer Wohnung im hyperventilierenden Berlin war, sich lieber in ihr altes Haus mit dem verwunschenen Garten in einem Dorf in Mecklenburg-Vorpommern verkroch, der Natur Respekt zollte und dem Leben Demut zeigte.

Als sie 2020 für ihren Geschichten-Band „Vom Aufstehen“ den Ingeborg-Bachmann-Preis erhielt, war sie bereits 80. Aber noch 13 Jahre jünger als ihr Mann, der Psychologe, Maler und Schriftsteller Johannes Helm, der inzwischen schwer erkrankt ist und dem sie nun ihr neues Buch widmet. Denn die Liebe, die sie dem Mann, den sie im Buch nur „Derden“ nennt, nach unzähligen gemeinsamen Jahren immer noch entgegenbringt, ist durch nichts zu erschüttern. Nicht durch Katheter und Windeln, die ständig gewechselt werden müssen, und auch nicht dadurch, dass Helga Schubert kaum noch aus dem Haus kommt und fast jede Einladung zu Lesungen ausschlagen muss, weil sie niemanden findet, der sich ein paar Stunden oder gar für einen Tag um ihren Mann kümmern möchte. „Jede Sekunde mit dir ist ein Diamant, sagt Derden zu mir und umarmt mich, als ich morgens in sein Zimmer und an sein Pflegebett komme. Wir sind seit 58 Jahren zusammen. Zwei alte Liebesleute. Ist es morgens oder abends, fragt er mich dann.“

Manchmal ist Helga Schubert zornig und traurig. Dass die Politik die immer drängender werdenden Probleme von Alter, Krankheit und Pflege verdrängt, macht sie fassungslos. Meistens aber ist sie erstaunlich gelassen, erträgt ihr Schicksal, als sei es ihr von Gott aufgegeben. Als eine Ärztin zu ihr sagt: „Hören Sie auf, ihm so hohe Dosen Kalium zu geben. Damit verlängern sie doch sein Leben!“, denkt sie: „Was für eine Anmaßung gegenüber der Schöpfung. Als ob ich Herrin darüber sein dürfte. Ein bisschen Sahnejoghurt im Schatten, eine Amsel singt, Stille. So darf ein Leben doch ausatmen.“

Helga Schubert: „Der heutige Tag. Ein Stundenbuch der Liebe“, dtv, München 2023, 268 Seiten, 24 Euro.




Schmerzlicher Verlust: Der Bonner Operndirektor Andreas Meyer ist überraschend gestorben

Andreas K. W. Meyer, Aufnahme aus dem Jahr 2012. Foto: Christian Hahn

Die Nachricht ist schockierend: Einer der profiliertesten Dramaturgen in der europäischen Opernlandschaft ist tot. „Mit großer Bestürzung“ teilte das Theater Bonn am Ostermontag den Tod seines Operndirektors Andreas K. W. Meyer mit. Meyer verstarb mit 64 Jahren infolge von Herzversagen am Karsamstag, 8. April 2023.

Andreas K. W. Meyer war keiner von denen, die sich an den Top-Positionen der Aufführungsstatistik entlanghangeln und ihre Spielpläne basteln, garniert mal mit einer Rarität, mal mit einer Uraufführung. Er schaute genau hin und durchforstete die Geschichte der Oper nicht unter der fragwürdigen Annahme, der historische Rezeptionsprozess habe in einer quasi natürlichen Auslese das Beste überleben und das weniger Gute in den Archiven verschwinden lassen.

Er war sich der Bedingungen bewusst, unter denen gerade im ideologisch aufgeladenen 20. Jahrhundert, aber auch schon zuvor Werke von den Bühnen verbannt wurden, deren Aktualität sich unter veränderten Konstellationen und in einem gewandelten geistigen Klima heute überraschend offenbart. Meyer hat bei einem untrüglichen Gespür für Qualität nicht einfach „Raritäten“ ausgraben lassen, sondern die Neuentdeckungen stets in einem größeren historischen, gesellschaftlichen und philosophischen Kontext betrachtet. Genauso, wie er scheinbar Bekanntes unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen aufregend neu zu lesen verstand, so etwa die Werke Richard Wagners.

Beispielhaft: Die Reihe „Fokus ’33“

Höhepunkt seiner Arbeit in den letzten Jahren war in Bonn die ehrgeizige und einzigartige Reihe „Fokus ’33“, eine „Forschungsreise zu den Ursachen von Verschwinden und Verbleiben“. In diesem beispielhaft auf mehrere Spielzeiten angelegten Inszenierungsreihe zeigte sich die Aktualität eines modernen, aber weitgehend vergessenen Werks wie Rolf Liebermanns „Leonore 40/45“. Die Ausgrabung von Giacomo Meyerbeers „Ein Feldlager in Schlesien“ brachte eine spannende Facette des Pariser Meisters der „grand opéra“ und preußischen Generalmusikdirektors auf eine opulent ausgestattete Bühne.

Eine Szene aus Rolf Liebermanns „Leonore 40/45“ an der Oper Bonn in der Inszenierung von Jürgen R. Weber und der Ausstattung von Hank Irwin Kittel. Foto: Thilo Beu

„Asrael“ des jüdischen italienischen Komponisten Alberto Franchetti konfrontierte mit einem symbolistischen, religiös aufgeladenen Stück Operntheater mit faszinierender Musik. Meyers Programmhefte zu solchen aus dem Bewusstsein entschwundenen Werken waren voluminöse Kompendien mit nicht selten grundlegenden Beiträgen. Besonders am Herzen lag Meyer die Wiederaufführung von Clemens von Franckensteins „Li-Tai-Pe“. Zuletzt arbeitete er mit Hochdruck an der ersten ungestrichenen Wiederaufführung von Franz Schrekers „Der singende Teufel“, deren Premiere am 21. Mai ansteht.

Seit 2013/14 an der Oper Bonn

Als Dramaturg prägte Andreas Meyer seit der Spielzeit 2013/14 das Gesicht und die Geschicke des Bonner Opernhauses entscheidend mit. Zu Beginn seiner Bonner Zeit brachte das Haus Opern wie „Der Traum ein Leben“ von Walter Braunfels, Emil Nikolaus von Rezniceks „Holofernes“ oder Hermann Wolfgang von Waltershausens „Oberst Chabert“ zur Aufführung. Doch das Interesse des 1958 in Bielefeld geborenen Musikdramaturgen und –publizisten an solchen Entdeckungen setzte nicht erst in Bonn ein, wurde dort aber von Intendant Bernhard Helmich nachhaltig gefördert.

Die Oper Bonn, letzte Wirkungsstätte von Andreas Meyer, hier mit Werbung für „Li-Tai-Pe“ und Giuseppe Verdis „Ernani“. Foto vom Mai 2022: Werner Häußner

Nach einem privaten Kompositionsstudium bei Rudolf Mors studierte Andreas K. W. Meyer ab 1981 Musikwissenschaft sowie Kunstgeschichte und Germanistik an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster. 1987 begann er eine Tätigkeit als freier Kritiker, unter anderem für die Frankfurter Rundschau und verschiedene Rundfunkanstalten, vornehmlich für den WDR und den BR.

Stationen in Kiel und Berlin

Von 1993 bis 2003 arbeitete er als Musikdramaturg an der Oper Kiel, zunächst unter Generalintendant Peter Dannenberg, ab 1995 als leitender Musikdramaturg sowie ab 2002 als Chefdramaturg Musik und stellvertretender Opernintendant unter Kirsten Harms. 2004 wechselte er zusammen mit ihr an die Deutsche Oper Berlin, deren Chefdramaturg er bis 2012 war. Die Wiederentdeckung von Franco Alfanos „Cyrano de Bergerac“ hatte ein europäisches Echo.

Auch ein Zyklus mit weniger bekannten Werken von Franz Schreker und die Neubefragung von Gian Francesco Malipieros „I Capricci di Callot“ oder Richard Strauss’ „Die Liebe der Danae“ verhalfen der Oper Kiel zu erheblichem überregionalem Interesse. An der Deutschen Oper Berlin kamen Alberto Franchettis „Germania“ und Alexander von Zemlinskys „Der Traumgörge“ hinzu. Die „Szenen aus dem Leben der Heiligen Johanna“ von Walter Braunfels in der Regie von Christoph Schlingensief wurden bei der Kritikerumfrage der Zeitschrift Opernwelt im Jahre 2008 zur „Wiederentdeckung des Jahres“ gekürt.

Andreas K. W. Meyer wird schmerzlich fehlen. Seine ruhige, beharrliche Ernsthaftigkeit, sein Humor und sein enormes Wissen sind nicht zu ersetzen. All jene, die ihn gekannt und gemocht haben, werden ihn als Freund oder Ratgeber vermissen. Was bleibt, ist Trauer, aber auch zuneigende Erinnerung und Dankbarkeit für ein großes Lebenswerk.




Raus aus dem ärmlichen Dortmunder Dreck: Jörg Thadeusz‘ Nachkriegs-Roman „Steinhammer“

Vorab eine persönliche Anmerkung, die mit dem vorliegenden Buch zu tun hat: Vor allem die erste Hälfte dieses Romans habe ich mit fliegendem oder angehaltenem Atem gelesen, weil – ich den anfänglichen Haupt-Schauplatz aus frühester Kindheit „kenne“ oder wenigstens genau dort gelebt habe, bis ich sechs Jahre alt war. An den durchgehenden Lärm der Bahnstrecke und an den Güterbahnhof kann ich mich jedenfalls noch erinnern. Da haben wir Kinder einmal Rüben aus Waggons geklaut und es gab „eine Tracht Prügel“. Ein ähnlicher Vorfall aus demselben Jahrzehnt kommt auch im Roman vor…

Gemeint ist die Dortmunder Steinhammerstraße im Schatten der damals noch mächtig aktiven Zeche Germania. Just dort hat der Roman „Steinhammer“ sein Gravitations-Zentrum. Verfasst hat ihn der TV-bekannte, 1968 in Dortmund geborene Moderator und Journalist Jörg Thadeusz. Die Handlung kreist um den nachmals ruhmreichen Künstler Norbert Tadeusz. (Ja, Freunde, T(h)adeusz einmal mit und einmal ohne „h“ ist korrekt). Jörg Thadeusz‘ Vater war ein Cousin des Malers. Ein eher schwach anmutender Anstoß. Doch Jörg T. scheint zum Schreiben außerordentlich motiviert gewesen zu sein, so sehr hat er sich in sein familiäres Thema vertieft.

Kaum Hoffnung auf ein besseres Dasein

„Steinhammer“. Schon das klingt, als ob das Schicksal hier unentwegt mit harten Schlägen niedersause. Und so war es ja auch. Die Gegend ist – wir sind (nach einem Prolog von 1942) zunächst im Jahr 1957 – ungemein dreckig, verrußt, kreischend laut, erbärmlich und ärmlich. Folglich sind die Menschen vielfach verzweifelt und versoffen; halt so, wie sich manche Unberatene in „feineren“ Gegenden noch heute das ganze Revier vorstellen. Wer damals hier lebte, hatte so gut wie keine Chance auf ein besseres Dasein. Allenfalls die Maloche im „Pütt“, im „Loch“, konnte passable Einkünfte bringen – aber um welchen Preis der gesundheitlichen Ruinierung! Ansonsten blieben, wie man hier ausgiebig erfährt, allenfalls viertklassige Arbeitsorte wie eine heimische Nähstube, ein baufälliger Kiosk oder ein dito Spielzeug- und Schreibwarenladen.

Panoptikum der Ruhrgebiets-Typen vom alten Schlage

Dieses desolate Milieu schildert Jörg Thadeusz mit ordentlich aufgetragenem Kolorit, wobei er sich hütet, die (sub)lokale Mundart mit ihren derben Redensarten zu sehr zu strapazieren. Gleichwohl lässt er ein wahres Panoptikum von Ruhrgebiets-Typen der 1950er Jahre auftreten: Jupp, den Onkel und Stiefvater der Hauptperson Edgar (mehr zu ihm folgt gleich), der einen Friseursalon betreibt und meistens sehr übel gelaunt ist, der allzeit säuft und flucht. Ringsum vegetieren Leute wie „Ötte“, wie „der Schäbbige“ oder der „Aschentonnen-Tiger“. Schon jetzt möchte man wetten, dass dieser streckenweise saftige und süffige Roman irgendwann verfilmt werden wird. Ein paar geeignete Darstellerinnen und Darsteller würden einem schon dazu einfallen. Und ein Musikstück wäre geradezu Pflicht: der so herrlich leicht-sinnige, zuversichtliche Schlager „Es liegt was in der Luft“ (1954) mit Mona Baptiste und Bully Buhlan, der in diesem Roman einige Momente der vagen Hoffnung markiert.

Apropos Musik: Es gibt einen grandiosen Song, der mir bei der Lektüre immer wieder eingefallen ist und der ziemlich genau zur smogdichten Atmosphäre der Steinhammer-Kapitel passt, obwohl er aus dem proletarischen England kommt: der alte Animals-Hit „We Gotta Get Out Of This Place“, gesungen von Eric Burdon. Wir müssen hier weg. Egal, was es kostet. Und wenn es das Letzte ist, was wir tun.

Diese notorischen Wutanfälle

Zurück zum Roman und hin zu den jungen Leuten, die in der Steinhammerstraße aufwachsen müssen. Sie wollen sich nicht einfach abfinden, sie wollen wirklich weg: der erwähnte Edgar, damals noch nicht einmal 17, eine kaum fassbare Naturbegabung im Zeichnen und Malen. Aber wie soll die Welt davon erfahren? Sein bester Freund Jürgen, gleichaltrig, Sohn eines ertaubten ehemaligen Deutschlehrers, daher mit Buchwissen und höheren Zielen. Er träumt von einem komfortablen Leben in Amerika, wo angeblich alle Leute über alle Annehmlichkeiten verfügen. Und schließlich Nelly, mit der Edgar eine scheue und doch innige Beziehung hat, immer mal wieder von seinen notorischen Wutanfällen durchkreuzt.

Schicksalsschlag auch hier: Nellys Mutter fällt der geistigen „Umnachtung“ anheim, die damit quasi elternlose Nelly selbst kommt durch autoritäre Fürsprache einer reichen (wegen ihrer Nazi-Anwandlungen verhassten) Oma aus Mülheim/Ruhr nach Hamburg, wo sie für die Edelfirma Montblanc arbeiten darf. Damit ist sie schon mal raus aus dem Ruhrgebiets-Elend. Ihr gut gepolstertes Leben wird wenigstens äußerlich zur Erfolgsgeschichte. Und auch Jürgen wandert mit Freundin tatsächlich in die USA aus, sozusagen stilecht mit Riesendampfer ab Bremerhaven. Aber mit Flüchtlingskoffer.

Vom Kaufhaus bis zur Kunstakademie

Zwischendurch haben Edgar und Jürgen im Kaufhaus Horten gearbeitet, was schon ein erheblicher Aufstieg war. Jürgen verkaufte Kleidung, Edgar lernte Schaufenster dekorieren, durfte aber bald auch größere Kreativ-Projekte anfassen. Ein Abteilungsleiter erkannte seine großen Talente und sorgte dafür, dass er (alias Norbert Tadeusz) zum real existierenden Gustav Deppe an die Dortmunder Werkkunstschule kam – ein weiterer Schritt zu künstlerischen „Weihen“, die er nie und nimmer so genannt hätte.

Hin und wieder ist man versucht, chronologische Details zu bezweifeln. Gewiss: Jörg Thadeusz hat spürbar sorgfältig und in die Tiefe reichend recherchiert, doch gab es 1957 wirklich schon ein Horten-Kaufhaus in Dortmund oder nur einen Vorläufer? Hat man seinerzeit schon „Geh sterben!“ gesagt oder kam der derbe Spruch nicht viel später in Gebrauch? Eigentlich Nebensache, oder? Wir lassen’s mal als offene Fragen stehen und erwähnen keine weiteren dieser Sorte.

Die zweite Hälfte des Romans schildert überwiegend Edgars Zeit an der Düsseldorfer Kunstakademie. Die war auch schon Anfang der 60er Jahre eine Elite-Schmiede, in der sich Edgar abseits der Malerei oft unwohl fühlt – neben manchen Schnöseln aus reichen Elternhäusern. Steinreich statt Steinhammer… Haben wir hier einen Schlüsselroman mit Kurzauftritten von lauter Künstlerpersönlichkeiten der nachfolgenden Jahrzehnte? Nur sehr bedingt. Jörg Thadeusz hat Personal und Gegebenheiten teilweise stark verfremdet und kräftig hinzu erfunden. So kommt Norbert Tadeusz‘ Akademie-Lehrer Joseph Beuys höchstpersönlich nicht vor, jedoch…

Zwiespältige Lebensbilanz

Schließlich ergibt sich noch eine zwiespältige Lebensbilanz im Vorfeld von Edgars 70. Geburtstag, den er in Spanien begeht – übrigens viele Jahre nach einem bitter nötigen Alkoholentzug. Abermals kommt es jetzt zu diesen herzbewegenden Begegnungen zwischen Ankunft, Abschied und Bleiben, die diesen Roman überhaupt auszeichnen und die ahnen lassen, dass im Bann von „Steinhammer“ fast nichts von wohltuend unbezweifelbarer Dauer ist. Fast.

Der Wahrheit die Ehre: Thadeusz ist keiner von den ganz großen deutschsprachigen Schriftstellern, er hat aber ein durchaus achtbares bis beachtliches und lohnendes Buch geschrieben – „well made“, wie man andernorts anerkennend sagt. Ich hab’s „verschlungen“, nicht nur wegen der örtlichen Bezüge.

Jörg Thadeusz: „Steinhammer“. Roman. Kiepenheuer & Witsch. 344 Seiten, 23 Euro.

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Lesungen (Auswahl)

Dienstag, 11. April, 20 Uhr: Pfefferberg Theater, Berlin
Mittwoch, 12. April, 19 Uhr: Keuning-Haus, Dortmund
Donnerstag, 13. April, 18 Uhr: Lehmbruck Museum, Duisburg
Samstag, 6. Mai, 20 Uhr: Centralkomitee, Hamburg

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Nachbemerkung: Bildband zur Steinhammerstraße

Allmählich will es mir scheinen, als habe sich pfeilgrad in der Dortmunder Steinhammerstraße das eine oder andere exemplarische Stück westdeutscher Nachkriegsgeschichte abgespielt. Vor rund elf Jahren konnte ich an dieser Stelle einen ebenfalls sehr empfehlenswerten Foto-Bildband besprechen, der auch in jener Straße angesiedelt ist. Hier ein Link zur damaligen Rezension:

https://www.revierpassagen.de/10682/vergehende-zeit-hier-im-revier-zum-beispiel-die-dortmunder-steinhammerstrase/20120727_1521

P. S.: Ich schätze mich glücklich, Norbert Tadeusz wenigstens einmal persönlich erlebt zu haben – bei einem Ausstellungstermin in Bochum. Sogleich ist er mir als ausgesprochen sympathischer und bodenständiger Mensch erschienen. Auch hierzu ein Link:

https://www.revierpassagen.de/1771/norbert-tadeusz-und-der-collagierende-blick/20090827_2231




Im 100. „Schreibheft“: Vergessene, verkannte, verschollene Autorinnen und Autoren

Kürzlich ist die einhundertste Ausgabe der Literaturzeitschrift Schreibheft erschienen. Zu diesem Anlass hat der Schriftsteller Frank Witzel einen umfangreichen Essay verfasst, mit dem Titel „Von aufgegebenen Autoren – 100 Vergessene, Verkannte, Verschollene“.

Mit einigen der darin auftauchenden Namen erinnert der Autor an die inzwischen 46-jährige Geschichte der Zeitschrift. An Ernst Müller beispielsweise, der nicht nur in der legendären Rowohlt-Reihe das neue buch, sondern auch in den Schreibheft-Ausgaben 18 und 19 (beide aus dem Jahr 1982) veröffentlicht wurde, oder auch an den in ganz frühen Heften mehrfach vertretenen Uli Becker. Ein Wiedersehen mit Emil Szittya gibt es, dessen Buch Das Kuriositäten-Kabinett von 1923 in einer schönen Ausgabe 1979 im Verlag Clemens Zerling neu aufgelegt wurde, von dem sonst aber wenig auf dem deutschen Markt zu haben ist.

Manche Nennungen fordern unser Gedächtnis heraus; an viele aber dürften auch die langjährig Lesenden sich nicht erinnern, soweit sie die Namen überhaupt jemals gehört haben. Das sind keineswegs solche Autorinnen und Autoren, die sich mit ihren Texten zeitlebens bei einer Vielzahl von Verlagen erfolglos beworben haben; keine dritte, vierte oder noch niedrigere Liga aus der Schar der kreativ Schreibenden. Frank Witzel nennt ausschließlich einzigartige Autorinnen und Autoren, die aus verschiedensten oder aber aus unersichtlichen Gründen nicht zum verdienten Erfolg gelangten, beziehungsweise nach einer kurzen Zeit relativer Bekanntheit wieder in Vergessenheit gerieten. Gleichwohl bleibt die Frage nach dem Warum beim Autor wie bei uns staunend Lesenden im Raum.

Größenwahn oder falsche Bescheidenheit

Einige der hier vorgestellten Autorinnen und Autoren dürften an den eigenen Ansprüchen gescheitert sein. Sei es, dass die gefühlte Größe nicht mit den sichtbaren literarischen Hervorbringungen korrespondierte; oder sei es, dass es schlicht an Durchsetzungswillen haperte, der für den erfolgreichen Kunstschaffenden ebenso wichtig ist wie sein schriftstellerisches Talent. Gigantomanie und falsche Bescheidenheit können gleichermaßen dem Erfolg im Wege stehen.

Manchen der im Dossier Genannten mochte das Realistische immer einige Nummern zu klein erschienen sein. Die bei Verlegern beliebte Ablehnungsbegründung – „genial, aber leider völlig unverkäuflich“ – könnten einige dieser Hundert als durchgehendes Thema in verschiedenen Variationen zu hören bekommen haben. Wenn ihnen nicht gar offenes Misstrauen entgegenschlug, wie im Fall von Jaron Kohler, dessen konzeptionell angewandtes Schreiben in den frühen 1990er Jahren in 25 „Selbstauskünften“ darin bestand, vermeintlich eigene Werke zu beschreiben und zu analysieren, die als solche nicht existierten. Mit Anschuldigungen konfrontiert, wollte er den Beweis der Echtheit seiner Werke nachreichen, was dann aber zu dauerhaftem Verstummen führte.

Selbstaussagen zur eigenen Erfolglosigkeit

„Die Dunkelziffer derer, die schreiben oder einmal geschrieben haben, ohne je etwas zu veröffentlichen, und von denen nie jemand etwas erfahren wird, weil sie ihre Werke niemandem zeigen und rechtzeitig für deren Vernichtung sorgen, ist groß“, vermutet Frank Witzel und weist auf den Versuch einer wissenschaftlichen Ursachenforschung hin. Der Herausgeber der Untersuchung Abfertigung – Was die Umsetzung von Ideen verhindert (2014), Jan Hettinger, gibt sich selbst als „gescheiterter Romancier“ zu erkennen und interviewt siebzehn Personen, bei denen er eine ähnliche Problematik annimmt. Zwei seiner Interviews aus dem Band werden im Schreibheft gekürzt wiedergegeben. Die 37-jährige Germanistin Carol Meyerhuth aus Düsseldorf sagt über sich aus, dass es ihr nicht an Arbeitseifer mangele, sie vermute vielmehr, „dass es dieser Arbeitseifer ist, der den Abschluss eines Werks verhindert.“ Dabei scheint sie es ohne Verbitterung ertragen zu können, wenn ihr größere öffentliche Anerkennung versagt bleibt.

Kunst und Gesellschaft

„Vielleicht hat Kunst nie etwas mit Gesellschaft zu tun gehabt; vielleicht war sie immer nur Ausdruck der Panik, daß man es immer nur mit sich selber zu tun hat“, notierte Wilhelm Genazino am 8. September 1985 (nachzulesen in: Wilhelm Genazino „Der Traum des Beobachters. Aufzeichnungen 1972–2018“; Hanser München 2023). Unter den in Frank Witzels Essay mit ausführlichen Leseproben wiedergegeben Autorinnen und Autoren sind einige, die weder den Hallraum eines großen Publikums suchen noch sich in Konkurrenzsituation begeben möchten. „Der Geist entwickelt sich nur allein, nur dort, wo er sich nicht ständig messen muss“, schreibt der 1927 in Hannover geborene Friedrich Ellmenbeck, einer der 100 ausgewählten Autoren.

Manche ziehen sich bewusst und willentlich zurück, denn die Aussicht auf Erfolg kann auch Ängste hervorrufen. So mutmaßt Frank Witzel etwa im Zusammenhang mit dem ihm aus frühen Jahren bekannten „genialischen Dichter“ Erwin Kliffa, mit dem er ein gemeinsames Projekt begonnen und der sich trotz einer realen Publikationsmöglichkeit daraus zurückgezogen hat, dass dieser den letzten Schritt der Veröffentlichung scheute – „Nicht allein aus der Angst heraus, dass nun die eigene Arbeit bewertet wird, sondern im Bewusstsein, dass die Unschuld des Für-sich-Schreibens und damit auch des Vor-sich-Hinschreibens ein für alle Mal verloren ist.“

Vertraue Innen- und kritische Außenwelt

Unter den im 100. Schreibheft auftauchenden Unbekannten sind einige, denen die Notwendigkeit täglichen Schreibens vertrauter gewesen sein dürfte als das Bedürfnis, etwas davon vorzuzeigen. Was nicht bedeutet, dass sie ihr Schreiben als ein bloßes Steckenpferd ansahen. Es sind Autorinnen und Autoren, die eher in eine Literaturgeschichte gehören als auf den Markt. Damit sind sie im Schreibheft an einem guten Platz, fügen sich doch die bisher erschienenen hundert Hefte zu einer besonderen Geschichte der Gegenwartsliteratur zusammen.

In guter Gesellschaft

Große Namen, die keineswegs vergessen sind, blinken – nicht unter den Hundert, aber in den Erklärungsversuchen – als Leuchtfeuer auf: Wolfgang Koeppen, der mit seinem über vierzig Jahre hinweg immer wieder angekündigten letzten Werk nicht fertig wurde, Wolfgang Hildesheimer, der mit dem Schreiben aufhörte (ergänzt werden könnte auch Reinhard Jirgl), der lange Zeit unterschätzte Ludwig Hohl, und nicht zuletzt Samuel Beckett, der so gekonnt zu scheitern verstand, dass er dafür die höchste Auszeichnung erhielt, die für Literatur vergeben wird, den Nobelpreis, was aus seiner subjektiven Sicht wiederum die schlimmstmögliche Katastrophe war.

In einem Interview sagte Wolfgang Koeppen: „Das Schreiben, um das es hier geht, ist keine Frage der Erwägung, der Marktanalyse, der Berechnung, der Erfolgsaussicht. Dieser Schriftsteller kann nur sein, was er ist, er selbst, er kann nur schreiben, wie er schreibt, das ist ein Zustand, keine Wahl…“ (nach: Wolfgang Koeppen – Gespräche und Interviews. Werke, Band 16; hrsg. Von Hans-Ulrich Treichel; Suhrkamp Verlag; vgl. auch Revierpassagen am 12.04.2019).

Der Zufall möglicherweise

Frank Witzel weist darauf hin, wie subjektiv seine Zusammenstellung geraten ist und dass es zu anderen Zeiten auch andere Namen hätten sein können. Jedem fallen wohl Schriftstellerinnen und Schriftsteller ein, die man selbst gern zu den Vergessenen rechnen würde. Keine „Gegengeschichte“ der Literatur strebt Witzel mit seinem fast 130-seitigen Essay an: „Mit meiner rein subjektiven Sammlung möchte ich meinem Erstaunen Ausdruck geben, von wie vielen Zufällen, seien sie persönlich oder zeithistorisch, es abhängig ist, ob ein Werk bekannt und rezipiert wird.“ Sein Essay „will deshalb auch nichts anderes sein als ein mit einhundert Beispielen unterstützter Hinweis auf eine literarische Welt, von der wir wenig wissen und manchmal noch nicht einmal etwas ahnen.“

So gerät das Schreibheft-Dossier vielleicht zu einer Art Trost-Büchlein für die weit mehr als hundert Vergessenen, Verkannten und Verschollenen, die auch in diesem verdienstvollen Beitrag nicht auftauchen und die gegenüber den Anerkannten und hinreichend Gewürdigten in der Überzahl sein dürften. Doch Vorsicht: Es gilt zu unterscheiden zwischen denen, die verkannt oder vergessen wurden, und denen, die literarisch wirklich schlecht sind. Aber solche findet man schon sehr, sehr lange nicht mehr im Schreibheft.

Eine Typologie bedeutender Unbekannter

Subtil zeichnet sich in Frank Witzels kluger Zusammenstellung so etwas wie eine Typologie verschiedener großer Unbekannter ab. Manche der Topoi tauchen bei ganz unterschiedlichen Schriftsteller-Persönlichkeiten auf: Das stille Wirken abseits des Marktes etwa, oder die Vermeidung von Rivalität; die Einsicht, dass das Schreiben nie an ein Ende gelangt, verbunden mit einem Hang zum offenen, sich stets verändernden und prinzipiell nicht abschließbaren Lebenswerk.

Viele der Selbstaussagen und Charakteristiken der 100 im Dossier vorgestellten Autorinnen und Autoren passen perfekt zum Schreibheft. „Kommerzielles bitte an einen Publikumserfolgsverlag einsenden!!!“, stand bereits in der ersten Ausgabe, die im März 1977 erschienen ist. Über die Jahrzehnte hinweg widmete sich die Zeitschrift solcher im Grunde unverkäuflichen Literatur. Was nicht heißen soll, dass sich nicht auch das Schreibheft erfolgreich in der deutschsprachigen Literaturlandschaft behauptet hätte. Selbstverständlich kann man die einzelnen Ausgaben kaufen und besser noch das Schreibheft als Ganzes abonnieren. Etwa ab dem Heft 18 mit Norbert Wehr als alleinigem Herausgeber nähert sich das Periodikum der Form an, die es spätestens mit Heft 22 (1983) gefunden hat (die Hefte 22–50 sind 1998 auch im Reprint bei Zweitausendeins erschienen). Ein Kosmos für sich, mit einem stets sich erweiternden Kreis von Autorinnen und Autoren, stellt die Zeitschrift in ihrer Gesamtheit gleichsam ein Kompendium der anspruchsvollen und innovativen Gegenwartsliteratur dar, ihre frühen Wegbereiter eingeschlossen.

Singuläre Autorin: Marianne Fritz

Traditionell stellt jedes Schreibheft eine sorgfältig ausgetüftelte Komposition aus zwei oder drei Themenschwerpunkten und einigen weiteren passenden Texten dar. So auch das 100. Heft. Frank Witzels langer Essay stimmt uns gut auf das in derselben Ausgabe folgende Dossier zu der österreichischen Extremautorin Marianne Fritz (1948–2007) ein. Nach literarischen Großprojekten, wie das mit dem Arbeitstitel Die Festung, oder der zwölfbändige Roman Dessen Sprache du nicht verstehst (1985), mit dem sie, ausgehend vom Jahre 1914, hunderten ausschließlich dem Proletariat zugeordneten Haupt- und Nebenfiguren eine eigene Sprache gibt und sich von der „offiziellen“ Geschichtsschreibung absetzt – und erst recht durch ihre in den folgenden Jahren entstandenen Arbeiten „Naturgemäß I, II und III“ ließe sich die Autorin gut in die im vorausgegangen Dossier beschriebenen Schriftstellerbiographien einreihen.

Schon die Einzeltitel des 1996 in fünf Bänden erschienenen Werkes Naturgemäß I: Entweder Angstschweiß / Ohnend / Oder Pluralhaft lassen eine Lektüre fernab der Bestsellerlisten erwarten. Doch Marianne Fritz, deren Bücher ab 1978 im Verlag S. Fischer und ab 1985 bis zu ihrem Tod bei Suhrkamp erschienen sind, kann man schwerlich als eine vom Literaturbetrieb Verkannte bezeichnen; gleichwohl droht ihr das Vergessenwerden, würde nicht eine Zeitschrift wie das Schreibheft – nun über einen längeren Zeitraum bereits zum dritten Male – an sie erinnern. In den 1990er-Jahren wurden die ersten beiden Teile der auf drei Abteilungen angelegten Riesenarbeit „Naturgemäß I, II und III“ als Faksimile des Typoskripts veröffentlicht, das die wechselnden Schriftbilder, Karten, Formeln und Randnotate wiedergibt, sodass der dem Satiremagazin Titanic nahestehende Schriftsteller Gerhard Henschel urteilte: „Wer ‚Naturgemäß II‘ lesen möchte, muß die Bände drehen wie ein Lenkrad.“

Erstaunliche Materialfülle

Naturgemäß III, ein Werk, das Marianne Fritz nicht mehr beenden konnte, gibt es seit 2011 auf der Seite www.mariannefritz.at in einer Online-Fassung. Im zweiten Dossier des 100. Schreibheft setzen sich Kennerinnen und Kenner ihres Werkes mit der singulären Wiener Autorin auseinander. Lesenswert! Ebenso wie zwei Beiträge am Ende des Heftes, die angesichts der Materialfülle fast unterzugehen drohen: Esther Kinskys Rede zum Kleist-Preis und Hervé Le Telliers Text zu drei „Begegnungen“ mit Italo Calvino, dem zum Autorenkreis Oulipo (Ouvroir de littérature potentielle) gehörenden Klassiker der Postmoderne. Vielleicht enthält jedes Schreibheft einfach zu viel des Guten.

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Veranstaltungshinweis:

SCHREIBHEFT, ZEITSCHRIFT FÜR LITERATUR – DIE 100. AUSGABE. Ingo Schulze im Gespräch mit Frank Witzel und Norbert Wehr über 100 vergessene, verkannte und verschollene Autoren; Donnerstag, 16. März 2023, 19.30 Uhr, im LeseRaum in der Akazienallee, Essen (gegenüber Akazienallee 8-10).




Wenn das Ungeheuerliche alltäglich wird, gewöhne dich (nicht) daran…

Einbahnstraße zum Pfandhaus. (Foto: Bernd Berke)

„Gewöhn dich nicht.
Du darfst dich nicht gewöhnen.“

So lauten zwei Gedichtzeilen Hilde Domins. Doch liest man die Gazetten, hier im Ruhrgebiet vor allem die der Funke Mediengruppe, oder sieht fern (also weder weit noch tief), dann lautet der einem jetzt überall entgegenschlagende Imperativ: „Gewöhn dich endlich. Du sollst dich gewöhnen!“

Unter dem Deckmantel journalistischer Objektivität (meist also: fehlender Haltung) werden die Welt-Erklärungen aus den oberen Etagen einer sich selbst zur Elite stilisierenden Geld- und Machtkaste an das Wahlvolk durchgereicht. Nur wenige Journalisten/Formate versuchen, der Meinungsmache in oder außerhalb medialer Blödmaschinen etwas entgegenzusetzen. Lieber bleibt die Journaille im Mitläufer-Pulk, gebiert unaufhörlich neoliberale Kopflanger, jene Tuis, die Brecht einst so beschrieb: „Der Tui ist der Intellektuelle dieser Zeit der Märkte und Waren. Der Vermieter des Intellekts.“ Sofern denn von Intellekt noch die Rede sein darf.

Geistmangellage

Gerne würden diese Tuis eine manchmal noch zu störrische Masse an Worte wie „Krieg“, „Waffenlieferung“, „Inflation“ oder auch „Energiearmut“ gewöhnen. Ein Wort, das jüngst sogar der Eigentümerverband „Haus und Grund“ benutzte und das hier ausgerechnet einmal nicht die Verknappung der Energiereserven meinte, sondern den miserablen Zustand jener Menschen, die zu neuen Armen werden oder arme Alte bleiben, weil sie die horrenden Energiepreise hochsubventionierter Kartelle und Konzerne nicht mehr zahlen können. Und das, obwohl die Erdgaspreise erheblich sinken und die vielbeschworene Gasmangellage ausgefallen ist.

Aber die Ölpreise legen doch zu? Kein Problem, meldet boerse.de: „Starke Gewinne auf Wochensicht“ – für Unternehmen und Aktionäre selbstverständlich. Mir dagegen teilt man mit, dass die Strom-Vorauszahlung trotz „Gaspreisbremse“ um knapp 35 Prozent steigen wird. (Und nebenbei: Gewöhne dich auch daran, dass nicht nur die sogenannten „Schwarzen Schafe“ unter den Wohnungseigentümern schon jetzt ihre Mieter bei Mieterhöhungen und Nebenkosten obszön abzocken; Stichwort „Index-Miete“). Gewöhne dich an Wohnungsnot und Obdachlosigkeit, auch, weil Hunderttausende Sozialwohnungen fehlen und der Wohnungsmarkt – politisch flankiert – schon lange zur Beute von Investoren, Spekulanten und Maklern geworden ist.

Wortgemetzel

Gewöhne dich an Bürgergeld als Würgegeld. Gewöhne dich an ein Ende der Maskenpflicht und daran, dass viele ihre Maske niemals ablegen werden. Gewöhne dich daran, dass auf der „Achse des Bösen“ immer die anderen die Schurken sind: „Klimaterroristen“ zum Beispiel, Pazifisten, Migranten, ukrainische Flüchtlinge und ihr „Sozialtourismus“. Mit Worten werden Menschen abgerichtet, in vielen Teilen der Welt sogar hingerichtet als „Gotteslästerer“, „Präsidentenbeleidiger“ oder „Agent“ und nicht zuletzt „Vaterlandsverräter“, ein Wort, das vielleicht demnächst auch bei uns wieder Konjunktur haben könnte.

Preis-Lohn-Spirale

Gewöhne dich daran, dass du hinters Licht in die Dunkelheit geführt wirst, dass du besser das Kurzgemeldete und Kleingedruckte auf Wirtschaftsseiten lesen solltest und jenes, das zwischen und hinter den Zeilen steht, wenn du dem Klima systematisch geschürter Angst und Kriegstreiberei etwas entgegensetzen willst. Dann wirst du nicht verblüfft sein, wenn von dpa gemeldet wird, dass die deutsche Wirtschaft Krieg und Krise trotzt: „Die angesichts von Ukraine-Krieg, Rekordinflation und Energiepreisschock düsteren Prognosen erfüllten sich nicht. Stattdessen war das BIP 2022 preisbereinigt um 0,7 Prozent höher als 2019, dem letzten Jahr vor der Pandemie.“ Frag nicht nach, mit welchen offenen und versteckten Subventionen das gelungen ist, während sie Gewerkschaften und Arbeitnehmern predigen, dass eine Lohnerhöhung, die auch nur in die Nähe eines Inflationsausgleichs käme, die deutsche Wirtschaft zerstören und global wettbewerbsunfähig machen würde.

Der Autor beim Mülltauchen in der Dämmerung - Selfie

Der Autor beim Mülltauchen in der Dämmerung (Selfie)

Gewöhne dich an Worte wie „Aktienrente“, mit denen sich der Staat endgültig als Sozialstaat verabschiedet und so tut, als könnte er ausgerechnet über Finanzspekulation den Lebensabend der Alten sichern, also mit Hilfe jener Hasardeure, die global die Existenzgrundlagen vieler Menschen gründlich zerstören. Gewöhne dich daran, dass auf lange Sicht unter dem Deckmantel von Freiheit und Selbstverantwortung die finanzielle Absicherung des Alters den Einkommensschwachen selbst aufgebürdet werden wird. Spätestens Friedrich Merz, der Ex-BlackRocker, wird als Kanzler dafür sorgen. Und Lindner stielt es schon heute ein. „Privatisierung“ heißt vor allem, was vielen Menschen jede menschenwürdige Privatheit verweigert.

Gewöhne dich an die weitere Nutzung von Atomkraft, an den Einkauf von Fracking-Gas, an die vorläufige „Endlagerung“ von Brennstäben und CO₂, an die Öldeals mit menschenverachtenden Regimen.

Hoch die nationale Solidität!

Gewöhne dich nach der Ökonomisierung aller Lebensbereiche auch an die Militarisierung der Sprache und des Denkens, an „Sondervermögen“, also horrende Schulden zur Nach- und Hochrüstung, aus denen kommende Generationen nie mehr herauskommen werden, eine Erblast, so zerstörerisch wie die Folgen der Klimakatastrophe. Gewöhne dich daran, dass „der Krieg“ neben der Menschlichkeit an den Fronten vor allem nach innen Tugenden und Werte einer zivilen Friedensgesellschaft zerstört und toxische Männlichkeit neuerdings zu Heroismus verklärt wird. Als Waffen-Narr trägt man Camouflage-Shirts, als Etappenhase beantragt man vorsichtshalber den kleinen Waffenschein. Der Krieg heiligt die Mittel, aber leider frisst er auch seine Kinder. Gewöhne dich an Doppel- und Dreifachmoral, daran, dass Menschenrechte und „unsere westlichen Werte“ nur noch in Sonntags- und Fensterreden vorkommen, aber nirgendwo mehr gelebt werden.

Gewöhne dich an „Übergewinne“ bei Rüstungsfirmen, Energieriesen, Kriegs- und Krisengewinnlern, die aber kaum etwas davon an das Gemeinwesen abzuführen haben, um bessere Infrastrukturen, offenere Bildungseinrichtungen oder medizinische Versorgung abzusichern und weiterzuentwickeln. Gewöhne dich an Kummer und Cum-Ex, an Suizid und Success.

Trümmermänner: Aufgewachsen als Ruinen

Gewöhne dich an korrupte Politikerinnen und Politiker und an Medien als Beifall-Klatschblätter. Medien, die meist jenen gehören, die hierzulande vor und hinter den Kulissen den Ton und die Börsenkurse angeben. Gewöhne dich an Putinismus, Trumpismus, Gottesstaaten, Autokraten, Oligarchen und Superreiche wie Musk, die jeden Rest von Demokratie endgültig aushöhlen werden. Gewöhne dich daran, dass die AfD und damit ausgewiesene Faschisten in ihren Reihen als koalitionsfähig gelten und hetzende Antisemiten als meinungsstark: Wer, wenn nicht die werden ja wohl noch sagen dürfen, was wir Verblödeten uns zu sagen (noch) kaum trauen.

Gewöhne dich an den Gedanken eines alltäglichen Gangs zur Tafel e.V., wo sie dir einen verwelkten Kohlkopf in den Korb legen werden, einen Joghurt jenseits des Haltbarkeitsdatums, aber nur, falls du deine Armut umfassend nachweisen kannst. Gewöhne dich daran, dass du so nur ungleich Ärmeren einen Platz in der Warteschlange der Lebensmittelausgabe wegnehmen wirst. Wie gut für uns, dass Containern bald straffrei bleiben soll.

Tauche also ein in den Müll der Millionen und Milliardäre, dann kannst du jedweden Hunger getrost vergessen. Doch gewöhne dich an eine Scham, der du nicht mehr entkommen wirst.




F. C. Delius: „Erinnerungen mit großem A“ (und ein paar anderen Buchstaben)

Na, da hat Friedrich Christian Delius – häufig gekürzelt als F. C. Delius – aber ein bisschen geschummelt. Die selbstgesetzte Vorgabe für seine „Erinnerungen mit großem A“ (Untertitel) lautete, dass die Bruchstücke aus seiner Biografie allesamt, quasi-lexikalisch, just mit dem Anfangsbuchstaben A überschrieben sein sollten.

Doch einer wie Delius hat sich nicht in ein derartiges Schreibkorsett gezwängt, er ließ mit Freuden fünfe gerade sein. Will er etwas über den Beatle Paul McCartney mitteilen, so läuft das eben unter A wie Abbey Road, geht es um den großen Georg Christoph Lichtenberg, so lautet das Stichwort „Agamemnon“ (weil L. diesen Namen in einem berühmten Aphorismus verwendet hat). Und so weiter, über zahllose Einträge hinweg. Viele stimmen jedoch auch bruchlos überein, was das A anbelangt. Beispiel: Adorf, Mario. Ein grundsympathischer Mensch, dessen Heiterkeit in wohltuender Weise ansteckend gewesen sei. Auch das glauben wir gern.

Delius, am 30. Mai 2022 verstorben, würde am 13. Februar 80 Jahre alt werden. Er ist eines von etlichen Pastorenkindern der deutschen Literatur, sein Vater war zeitweise Pfarrer an der Deutschen Evangelischen Kirche in Rom, deswegen ist F. C. Delius dort geboren, dann freilich in der hessischen Provinz (genauer: Wehrda bei Marburg) aufgewachsen, die es literarisch ebenfalls „in sich“ hat.

Ein erbärmlich schlechter Schüler – sogar in Deutsch

Tatsächlich zieht Delius hier, aller Fragmenthaftigkeit zum Trotz (das Leben besteht ja eh aus Bruchstücken), eine biographische und vielfach auch literarische Bilanz (wer will das bei ihm voneinander trennen?), die durch das Auswahlprinzip kleinteilig, kurzweilig und kristallin funkelnd geraten ist. Ein Leitsatz dazu stammt von Annie Ernaux, derzufolge es keine zweitrangigen Erlebnisse gibt. Man muss sie halt „nur“ zu schildern wissen. Bei Rilke wiederum holte sich Delius ein ergänzendes Motto, das da sinngemäß heißt, bloße Erinnerung reiche nicht aus, es müsse ein Gärungsprozess hinzukommen. Delius war stets klug und vorsichtig genug, derlei Entwicklungen abzuwarten, bevor er geschrieben hat. Gleichwohl haben seine Prosa und die Gedichte auch einen entschieden spontanen, erfrischenden Anteil.

Unter dem Zensuren-Schlagwort „Ausreichend“ berichtet Delius, dass er – selbst im Fach Deutsch – ein erbärmlich schlechter Schüler gewesen sei und lange Zeit heftig gestottert habe. Auch mit sportlichen oder musikalischen Taten habe er die Defizite bei weitem nicht ausgleichen können. Drum hat er oft lieber geschwiegen und sich den sprachlichen Innenwelten zugewandt. Gut denkbar, dass „1968″ mit seinen Vorläufern (Delius bezeichnete sich lieber als „66er“) für ihn als Befreiung gerade recht kam. Später hat er sich couragiert in mancherlei Debatten eingemischt und Reden vor hunderten Zuhörern gehalten. Erstaunlich genug und Hoffnung für viele verheißend.

Als sich Autoren ums „richtige“ Schreiben prügelten

Eine gewisse Schüchternheit muss dennoch nachgewirkt haben, hat er doch nach eigenem Bekunden eher befremdet und etwas ängstlich verfolgt, wie sich Autorenkollegen in den zuweilen so rigorosen Meinungskämpfen der 1970er Jahre über die richtige Art des Schreibens lauthals gestritten haben. Nach langem, immer wieder an der Beleidigungsgrenze fortgesetztem Disput, hatte sich zwischen Yaak Karsunke und Hans Christoph Buch so viel Wut aufgestaut, dass sich diese beiden Schriftsteller um die wahre Lehre geprügelt haben. Ja, auch solche anekdotisch getönten Innenansichten aus dem Literaturbetrieb zumal der 60er bis 80er Jahre enthält dieses Buch reichlich. Somit ist es eine Zeugenschafts-Quelle ersten Ranges.

Und wen hat er nicht alles gekannt! Mehr oder weniger alle wichtigen Protagonisten der Nachkriegsliteratur seit den Tagen der „Gruppe 47″, auch war er ein Wanderer und Mittler zwischen dem östlichen und dem westlichen Deutschland. Hier kommt er abermals auf seinen zermürbenden und kostspieligen juristischen Streit mit dem Siemens-Konzern (über das Buch „Unsere Siemens-Welt“) zurück; zudem greift er noch einmal die bewegten Verlagsjahre als Lektor bei Wagenbach auf, wo harsche ideologische Frontstellungen (vor allem die Haltung zum RAF-Terrorismus betreffend) zur Spaltung und zur Gründung des Rotbuch-Verlages führten, wo sogleich Peter Schneiders exemplarische Erzählung „Lenz“ Furore machte. Schneider forderte – sicherlich auch in Delius‘ Sinn – im literarischen Gewand mehr lebendige Dimensionen von den „Achtundsechzigern“ ein, die übers rein Politische hinausweisen sollten. Eine Diskussion, die damals praktisch alle linken Gemüter bewegte, sofern sie nicht in Rechthaberei erstarrt waren.

Ein undogmatischer Linker, dessen Stimme fehlt

Mit Klaus Wagenbach hat sich Delius nie wieder so richtig aussöhnen können, obwohl er es „beim Italiener“ versucht hat. Aber dazu hätten zwei gehört. F. C. Delius war ein durch und durch undogmatischer, geistig beweglicher Linker, dem die Orthodoxie vieler Richtungen und Splittergruppen fremd war. Gerade in den heutigen Zeiten vermisst man eine solche Stimme schmerzlich. Auch in diesem Buch benennt er das ein- und nachdrückliche Festhalten von Augenblicken als Wesen der Literatur, statt dass sie Gesinnungsprosa gleich welcher Couleur liefere.

Das Buch ist eine Fundgrube, so recht zum Stöbern, auch hin und her, vorwärts und rückwärts ist es lesbar, immer mit Gewinn. Gar manche Erfahrung lässt sich nur zu gut nachvollziehen, so etwa unterm Stichwort „Ahnung“ Delius‘ vage Frühzeit-Erinnerung an die Sechsjährige mit Erstklässler-Schulranzen, in die er sich als Fünfjähriger „verguckt“ hat. Bemerkenswert die ängstliche Regung des längst arrivierten Autors, vom hellsichtigen Großdenker Alexander (mit A) Kluge als „mittelmäßig“ durchschaut zu werden. Auch der einstige „Literaturpapst“ Marcel Reich-Ranicki kommt vor. Wohl kein Kritiker seiner Generation habe mit seinen Urteilen so oft danebengelegen wie MRR. Dennoch zollt Delius ihm milden Respekt. Auch seine Kritik am Kultautor Rolf Dieter Brinkmann hat etwas für sich. Über Brinkmanns „Rom, Blicke“ heißt es: „…teils geniale, teils banale Tiraden, aber sein Hass, seine Ego-Sicht machen ihn blind für die Widersprüche der Stadt und ihrer Bewohner…“

Was die junge Japanerin filmen wollte

Und dann ist da noch die Story unter dem Etikett „Ärsche“ – mit den beiden jungen Frauen, darunter eine Japanerin, die ihn und einen Freund 1967 in London bei einem Rockkonzert angesprochen haben, weil sie ihrer beider nackte Hinterteile filmen wollten. Holla! Nach etwas Hin und Her lehnten die Deutschen ab. Später erfuhren sie, dass es sich bei der Asiatin um die seinerzeit noch nicht so bekannte Yoko Ono handelte, die wahrhaftig zu ihrem Karrierestart einen solchen Film gedreht hat. Delius fragt sich nachträglich: Wäre die Rockgeschichte anders verlaufen, wenn sie zugesagt hätten? Hätte Yoko Ono dann eventuell John Lennon nicht oder erst später kennengelernt? Delius‘ Freund galt schließlich als ausgemachter Womanizer. Dabei kann man anderswo nachlesen, dass John und Yoko sich zum fraglichen Zeitpunkt bereits gekannt haben. Egal. Trotzdem eine nette Was-wäre-wenn-Geschichte.

So weit ein paar willkürlich gewählte Beispiele. Den ganzen großen „Rest“ möge jede(r) für sich erschließen. Bliebe lediglich noch zu klären, warum das Buch so heißt, wie es heißt: „Darling, it’s Dilius“ war der Ausruf mit angloamerikanischem Zungenschlag am anderen Ende der Leitung, wenn Delius bestimmte Freunde in den USA angerufen hat. Auch eine hübsche Idee, daraus den Titel zu basteln.

Friedrich Christian Delius: „Darling, it’s Dilius!“ Erinnerungen mit großem A. Rowohlt Berlin, 320 Seiten. 24 Euro.

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Gewissermaßen eine Vorläufer-Publikation war der 2012 erschienene Delius-Band „Als die Bücher noch geholfen haben“ – unsere damalige Besprechung findet sich hier.