„Die Besessenheit“ – Annie Ernaux‘ Selbsterforschung zur Eifersucht

Die französische Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux sieht sich als „Ethnologin ihrer selbst“. Ihre Romane und Erzählungen kreisen immer um ihr eigenes Leben, berichten von schmerzlichen Kindheitserinnerungen, privaten Nöten, erotischen Obsessionen: eine oft quälende, aber immer ungemein aufschlussreiche Lektüre. Leider werden ihre Bücher zumeist mit großer Verspätung ins Deutsche übersetzt: „Die Besessenheit“ (Originaltitel „L’occupation“) ist bereits 2002 in Frankreich herausgekommen.

In klaren Sätzen und fast klinischen Worten beschreibt Annie Ernaux, wie sie von der Wucht einer Eifersucht ergriffen wurde, die sie an den Rand der Selbstauflösung und Selbsterniedrigung führte. Jeder Gedanke drehte sich um eine Frau, von der sie zunächst nichts wusste, außer dass sie die neue Geliebte ihres Liebhabers ist: „Das Sonderbarste an der Eifersucht ist, dass man eine Stadt oder die ganze Welt mit einem Menschen bevölkert, dem man vielleicht nie begegnet.“

Sie will wissen, wie die fremde Frau heißt, wo sie wohnt, was sie beruflich macht. Sobald ihr (ehemaliger) Geliebter, mit dem sie sich immer noch gelegentlich im Café trifft, nur eine kleine Andeutung über die fremde Frau macht, begibt sie sich auf Spurensuche, versucht sich ein Bild dieser geheimnisvollen Fremden zu machen, sieht in jeder Frau, die ihr zufällig auf der Straße oder in der Metro begegnet, ein Spiegelbild der Anderen. „Die Frau füllte meinen Kopf, meine Brust und meinen Bauch, begleitete mich überallhin, diktierte mir meine Gefühle. Gleichzeitig ließ mich diese ständige Anwesenheit intensiver leben.“ Die aus dem Nichts aufgetauchte „Besessenheit“ schärft ihre Sinne, befähigt sie, sich schreibend zu analysieren. Das Schreiben führt zu psychoanalytischer Erkenntnis und seelischer Katharsis: „Ich schreibe über die Eifersucht, so wie ich sie durchlebt habe, indem ich meine damaligen Wünsche, Gefühle und Handlungen aufspüre und erforsche. Schreiben ist im Prinzip nichts anderes als eine Eifersucht auf die Wirklichkeit.“

Nachdem sie einiges über die fremde Frau in Erfahrung gebracht hat, begreift sie, dass sie selbst nicht einzigartig, sondern nur Teil einer Serie im Liebesleben ihres ehemaligen Geliebten ist, der mit Anfang dreißig sich stets zu älteren Frauen hingezogen fühlt: Frauen, die (wie Annie Ernaux und die neue Geliebte) finanzielle Unabhängigkeit mitbringen, vielfältige erotische Erfahrungen und die Fähigkeit zu zärtlicher Bemutterung.

Sich schreibend von der „Besessenheit“ zu befreien, heißt für Annie Ernaux, ihre Scham zu überwinden, ihre Obsessionen zu benennen: „Ich will nur die Fantasien und Verhaltensweisen der Eifersucht erforschen, die in mir am Werk war, will etwas Individuelles, Intimes zu einer greifbaren, verständlichen Substanz machen, zu etwas, das fremde Menschen sich vielleicht aneignen können.“ Genau dieses Kunststück gelingt Annie Ernaux: Denn sie beschreibt nicht nur ihr Verlangen und ihre Eifersucht, sondern ein Verlangen und eine Eifersucht, gibt sich selbst preis und zeigt ihre Wunden, um anderen zu sagen, dass man sich, wenn man radikal ehrlich ist, selbst aus dem Sumpf der „Besessenheit“ emporziehen kann: Ein Buch von großer gedanklicher Klarheit und bedrückender sprachlicher Schönheit.

Annie Ernaux: „Die Besessenheit“. Aus dem Französischen von Sonja Finck. Bibliothek Suhrkamp, 2025, 68 Seiten, 20 Euro.




Wenn alle Dämme brechen: Takis Würgers tränenseliger Liebesroman „Für Polina“

Bevor Takis Würger Schriftsteller wurde, berichtete er als Journalist aus Afghanistan, Libyen und dem Irak. Sein erster Roman („Der Club“) wurde zum Bestseller. Sein zweiter Roman („Stella“) löste eine Feuilleton-Debatte über die Frage aus, ob es erlaubt sei, eine jüdische Gestapo-Kollaborateurin zum Mittelpunkt eines Liebesromans zu machen. Sein neuer Roman („Für Polina“) hält sich von allen Fallstricken fern.

Die literarischen Figuren müssen diesmal über kein politisches Glatteis schlittern und werden in keine historisch und ideologisch kontaminierten Handlungen verwickelt. Nachteil: Takis Würger hat einen tränenreichen, herzerweichenden Liebesroman geschrieben, der in all seinen Wegen und Irrwegen vollkommen voraussehbar ist.

Beinahe wie einst Beethoven

Gefüllt ist der Roman mit musikalischen und literarischen Verweisen, die den unglücklich verliebten Märchenkindern zeigen könnten, was sie tun müssten, um dem Jammertal ihrer ausweglosen Liebesgeschichte zu entkommen. Hannes wird schon als Jugendlicher ein Klavier-Stück für Polina komponieren und darin all seine Sehnsucht ausdrücken, so wie  Beethoven es getan hat, als er seine Liebe „Für Elise“ auf dem Klavier erklärte.

Aber Polina erkennt die musikalischen Liebes-Zeichen nicht. Also trennen sich ihre Wege, und es warten Jahre einer Liebes-Odyssee, bis sie schließlich, längst erwachsen und vom Leben gezeichnet, begreifen, dass sie schon seit Kindertagen füreinander geschaffen waren. Schließlich lagen sie schon nach der Geburt nebeneinander, ihre Mütter haben im gleichen Krankenhaus entbunden und ihre Babys zum Kuscheln zueinander gelegt. Die beiden Frauen treffen sich oft mit ihren Kindern in der verwunschenen Villa draußen im Moor in der Nähe von Hannover, wo Hannes mit seiner Mutter bei einem kauzigen Alten wohnt, der die russischen Klassiker liebt, eine tolle Schallplattensammlung hat und ein verstimmtes Klavier, auf dem der kleine Hannes seine ersten Stücke komponiert. Der alte Kauz zitiert gern die Romane von Dostojewsi, der zeitlebens die Schriftstellerin und Feministin Polina (!) Suslowa rasend liebte, die dann aber nicht Dostojewski, sondern den Philosophen Wassili Rosanow heiratete.

Klaviere schleppen statt spielen

Hannes, von seiner Polina verlassen, setzt sich jahrelang an kein Instrument, sondern verdingst sich als Möbelpacker und schleppt Flügel und Klaviere von einer schicken Hamburger Altbauwohnung in die nächste. Er gibt sich als vollkommen unmusikalisch aus, solange, bis er eines Tages ein wahres Prachtstück auf seinen Transporter wuchten will und der Besitzer, ein alter Musiker, ihn mit wissenden, weisen Augen ins Visier nimmt und ihm auf dem Kopf zusagt, er würde doch bestimmt auch Klavier spielen.

Da brechen bei Hannes alle Dämme, er setzt sich mitten auf dem Bürgersteig ans Klavier und spielt eine Improvisation der Melodie, die er einst für Polina komponierte. Eine Passantin zückt ihr Handy, filmt das spontane Konzert und stellt das Video ins Netz. Jeder kann sich ausmalen, welch viraler Flächenbrand damit entfacht wird und welche Wendung die Geschichte von diesem Moment an nehmen wird. Wer an die Kunst glaubt und seiner Berufung folgt, lernen wir, kann nicht untergehen und findet am Ende des dunklen Tunnels immer ein Licht. Mehr Kitsch, mehr Klischee geht wirklich nicht.

Takis Würger: „Für Polina“. Roman. Diogenes Verlag, Zürich, 304 Seiten, 26 Euro.

 




Die einen saufen so, die anderen so – zur wiederentdeckten Studie „Betrunkenes Betragen“

Wiederveröffentlichungen nach Jahrzehnten sind in der Belletristik nichts Ungewöhnliches, wohl aber im Sachbuchbereich. „Betrunkenes Betragen“ (Originaltitel „Drunken Comportment“) ist ein solch seltener Fall.

Die ethnologische Studie über den Umgang mit Alkohol bei den verschiedensten Völkern und Gruppierungen, verfasst von den kalifornischen Anthropologen Craig MacAndrew und Robert B. Edgerton, ist bereits 1969 erschienen. Der deutsche Schriftsteller und Psychiater Jakob Hein hat sie nun als wichtige Wiederentdeckung erneut herausgebracht und übersetzt. Vorworte zur alten und zur neuen Ausgabe markieren den historischen Abstand. Das Wort „Betragen“ mutet etwas antiquiert an und dürfte hierzulande vielen Leuten zuletzt auf Schulzeugnissen der 1960er Jahre begegnen sein. Es wird ganz bewusst abgegrenzt vom eher flüchtigen „Verhalten“ („behavior“).

Bis in die hintersten Winkel der Erde

Natürlich trägt ein 55 Jahre altes Buch Signaturen seiner Zeit und muss streckenweise auch „gegen den Strich“ gelesen werden. Das heißt aber keineswegs, dass die damals publizierten Erkenntnisse Makulatur sind. MacAndrew und Edgerton arbeiteten sich mit zahlreichen Beispielen aus aller Welt an der seinerzeit wie heute allgemein bedenkenlos geglaubten Hypothese ab, dass Alkohol eben immer und überall gleichermaßen enthemmend wirke. Die von ihnen emsig gesammelten und zitierten Aufzeichnungen von Ethnologen und sonstigen Beobachtern (bis in jene Zeiten praktisch ausschließlich Männer), die seit den Tagen der großen Entdeckungen in aller (entlegenen) Welt unterwegs waren, lassen freilich andere Schlüsse zu. Demnach gibt es äußerst vielfältige Formen der Trunkenheit, die letztlich auch unseren Umgang mit geistigen Getränken betreffen. Vielleicht hätten wir ja theoretisch mehr Wahlfreiheit, als uns bewusst ist?

Die wechselhaften Verhältnisse werden sozusagen bis in die hintersten Winkel der Erde ausgeleuchtet – von Süd- und Mittelamerika über afrikanische Regionen und Ostasien bis hin zu den indigenen Völkern auf dem Gebiet der heutigen USA. Tagelang ungemein ausschweifende Trinkfeste, so entnehmen wir einer Vielzahl von Augenzeugenberichten, hat es bei den allermeisten Gruppierungen gegeben – nicht erst seit dem fatalen Auftauchen europäischer Kolonisatoren, sondern schon zuvor: mit selbstgebrannten Substanzen von mancherlei Art und zuweilen höchstprozentiger Wirksamkeit.

Mörderische Orgien oder freundliches Beisammensein

Manche alkoholisierte Zusammenkunft artete wohl zu unvorstellbaren Orgien mit Mord und Totschlag aus, man liest hier Schilderungen von grauenhafter Bestialität, angesichts derer einem selbst das Oktoberfest, der Rosenmontag und dergleichen hiesige Besäufnisse wie überaus gemilderte Varianten erscheinen mögen. Oft wurde zunächst zugestochen oder gemeuchelt und erst dann eilends gezielt gesoffen, um eine vermeintliche triftige „Entschuldigung“ zu haben, die in etlichen Gesellschaften tatsächlich anerkannt wurde. Auch in der neueren Rechtsprechung haben sich Spuren davon erhalten. Doch das ist eine Entwicklung späterer Zeiten.

Vor allem dort jedoch, wo der Trunk von tradierten Ritualen eingefasst war, gab es (trotz vergleichbarer Unmengen alkoholischer Getränke) zumeist ein friedliches, freundliches und fröhliches Beisammensein, allenfalls mit Spott und Neckerei gewürzt. Etliche Völker aller Himmelsrichtungen verordneten sich seit jeher selbst „Auszeiten“, bei denen alle denkbaren (sexuellen) Norm-Übertretungen möglich, wenn nicht erwünscht waren. Selbst Kinder und Jugendliche waren wenigstens indirekt beteiligt. Männer wie Frauen duldeten es klaglos, wenn ihre Partner gleich neben ihnen anderweitig aktiv wurden oder „in die Büsche“ gingen, wie es hier mehrfach heißt. Einzig und allein das Inzest-Tabu hatte weiterhin Geltung. Hernach lebten sie wieder so kontrolliert, zivilisiert oder gar streng und freudlos „puritanisch“ wie zuvor; ganz so, als sei nichts geschehen.

Die Eroberer mit dem „Feuerwasser“

Sobald allerdings die (herrschaftlichen und kommerziellen) Interessen europäischer Eroberer sich Bahn brachen und Eingeborene mit „Feuerwasser“ traktiert wurden, lösten sich die wohltätig einhegenden und begrenzenden Bindungen auf. Nur mal nebenbei: Schiffsbesatzungen, die etwa im 18. Jahrhundert in Tahiti eintrafen, bekamen rund 4,5 Liter pro Tag und Mann an Bier, sie waren permanent beduselt. Gleichfalls bemerkenswert: Viele indigene Menschen wehrten sich anfangs vehement gegen den teuflischen Alkohol der Europäer, der für sie mit bösen Geistern zu tun hatte. Sie wurden aber nach und nach daran gewöhnt und gierten irgendwann danach.

Faszinierend die ungeheure Vielfalt der ursprünglichen Gesellschaftsentwürfe, die hier sichtbar wird. So wird etwa eine Ethnie geschildert, die ihre Babys vergöttert, die Kinder ab 5 Jahren aber total vernachlässigt. Andere wiederum sind nüchtern aggressiv und werden unter Alkoholeinfluss verträglich. Oder eben umgekehrt. Fast alles ist kulturell und situativ bedingt, stets zeigt sich, was die Menschen an Beispielen erlernt haben. Es geht eben nicht um Alkohol „an sich“, sondern um seine Wirkungen im gesellschaftlichen Kontext und Gefüge. Ethnologische Forschungen, auch das lernt man bei der Lektüre, sind eine aufregende Materie – bestimmt nicht nur, wenn sie sich um Suff und Sex drehen.

Craig MacAndrew / Robert B. Edgerton: „Betrunkenes Betragen. Eine ethnologische Weltreise“. Wiederentdeckt und übersetzt von Jakob Hein. Galiani Berlin. 296 Seiten. 24 Euro.

 




Lecken, schmecken, lispeln, lallen: Fast alles über die Zunge

Florian Werner knöpft sich die kulturgeschichtlichen Themen vor, wie sie ihm beikommen. Zuletzt hatte er sich mit allerlei Fährnissen rund um die Raststätte befasst, es wurde an dieser Stelle gewürdigt. Nun ist ein ganz spezieller Körperteil an der Reihe: die Zunge, also das eigenwillig schlüpfrige Ding in der Mundhöhle, das manchmal so keck hervorkommt.

Schnell wird klar, wie fleißig der Autor Materialien gesammelt hat. Nahezu jede denkbare (zumindest deutschsprachige) Redensart mit Zungenbezug wird zitiert und aufs pralle Leben bezogen. Da kommt einiges zusammen. Derlei Bücher tendieren überhaupt dazu, die ganze Welt auf ihr Thema zu fokussieren. Dem Zungen-Autor ist irgendwann alles Zunge. Und so heißt es auch hier: bloß nichts vergessen, bloß nichts auslassen, keinen Gag verschenken. So wird die Phänomenologie der Zunge um und um gewendet. Beim Ameisenbär ist sie übrigens rund 60 Zentimeter lang, die Giraffe bringt’s auf 50 Zentimeter. Nur mal fürs Protokoll.

Provokation und Sexualität

Was kann die Zunge nicht alles sein und vollführen – von frühauf: gemeinsam mit den Lippen an der Mutterbrust saugen. Aber sie ist auch körperpolitisch aktiv. Vor allem seit den 1960er Jahren gerät sie zum immer offensiveren Zeichen der Provokation, sofern frech rausgestreckt (man denke ans berühmte Stones-Cover und dergleichen Ikonen); ein höchst bewegliches Organ, schleimig und zuweilen etwas eklig. Sodann die sexuelle Konnotation beim Lecken und Gelecktwerden. Mit den Geschlechtsteilen hört die Leckerei ja noch lange nicht auf, das weite Feld wird von A bis Z (Klartext: Arschlecken bis Zungenkuss) durchbuchstabiert. Feinsinnige Unterscheidung: Kommt die Zunge aus dem Mund und wölbt sich nach oben, so darf die Mimik als lasziv gelten (das walte Mick Jagger), richtet sie sich nach unten, so wird es schnell beleidigend. Bäh!

Beileibe nicht jedes Lecken ist erotisch, es kommt auch in biederen Bereichen vor. Vordem wurden zumeist auch Briefmarken rückseitig geleckt, heute gibt’s überwiegend selbstklebende Postwertzeichen. Da deutet sich wohl ein Wandel zu mehr Sterilität und Hygiene an. Auch so eine Zeitsignatur.

Belege quer durch die Kulturgeschichte

Sodann die Feinheiten der Geschmackswahrnehmung (Nebenaspekt: Abwertung des Süßen, nicht erst seit Özdemir und Lauterbach) und der Sprachlichkeit, deren Artikulation wesentlich von der Zunge erzeugt wird – bis hin zum Lispeln und Lallen. Linguistik kommt vom romanischen Wortstamm für Zunge. Schließlich der verzückt-religiöse und esoterische Aspekt („In Zungen reden“), Teufel und Schlange mit ihren gespaltenen Zungen. Kurzum: Man denke sich irgend etwas Zungenhaftes aus, es wird mit ziemlicher Sicherheit in diesem Buch auftauchen.

Von biblischen und antiken Mythen über die Philosophie (Kant etc.) bis zu Kunst, Kino und Pop-Videos reicht das Spektrum der Beleg- und Beleck-Stücke. Haha, auf diesen halbgaren Gag mochte ich jetzt auch nicht verzichten. Die jeweilige Deutung bewerkstelligt Florian Werner vielfach inspiriert, zumindest aber mit Geschick und Routine. Er hat den nötigen Horizont. Dennoch erschöpft sich das Repertoire irgendwann. Das Buch hätte nicht viel umfangreicher werden sollen.

Als Agassi Boris Beckers Gedanken las

Der Verfasser bringt unterwegs einige hübsche Anekdoten unter, so auch jene, nach der der US-Tennisstar (und nachmalige Ehemann von Steffi Graf) Andre Agassi häufig gegen Boris Becker gewinnen konnte, weil er geahnt hat, wohin Boris schlagen würde. Warum? Weil er Beckers Zunge beobachtete. Sie zeigte die Richtung des Balles vorab an. Agassi konnte sich das Grinsen kaum verkneifen, als er belauschte, wie Becker nebenan der Weltpresse sagte, dieser amerikanische Gegner könne wohl seine Gedanken lesen…

Gegen Ende die multiple Horrorvorstellung: Variationen auf abgeschnittene Zungen. Abgründe brutaler Herrschaftsausübung, vor allem in kolonialistischen Zusammenhängen oder im schwerkriminellen Milieu. Da geht’s beispielsweise um die „Kolumbianische Krawatte“ (die ich hier nicht näher erläutern mag) sowie einschlägige Fundstellen von Ovid über Shakespeare und Houellebecq bis hin zur Netflix-Serie „Breaking Bad“. Am Ende glimmt, trotz viehischer Gewalttaten, so etwas wie vage Hoffnung auf. Werden auch einzelne Zungen verletzt und zerfetzt, so werden sie niemals alle zum Schweigen gebracht.

Florian Werner: „Die Zunge. Ein Portrait“. Hanser Berlin, 216 Seiten, 24 Euro.




Furchtlosigkeit, Demut und Liebe – Helga Schubert über den Alltag mit ihrem demenzkranken Mann

„Darum sorgt nicht für den andern Morgen“, heißt es bei Matthäus (Kapitel 6, Vers 34), „denn der morgende Tag wird für das Seine sorgen. Es ist genug, dass ein jeglicher Tag seine eigene Plage habe.“

Diese Bibel-Zeilen stellt Helga Schuber ihrem neuen Buch voran: „Der heutige Tag. Ein Stundenbuch der Liebe“ konzentriert sich ganz auf das Hier und Jetzt, das Schöne und das Schreckliche des Moments. Es ist ein Buch, das furchtlos und bewegend beschreibt, wie Liebe und Leid Hand in Hand gehen, wie qualvoll es ist, seinen schwer an Demenz erkrankten Ehemann zu pflegen, einen ehemals starken Kerl und klugen Kopf, der jetzt ans Bett gefesselt ist und sich einnässt, der seine Frau oft nicht wieder erkennt und seltsame Dinge vor sich hin brabbelt.

Helga Schubert ringt ihre Notizen dem Alltag ab und kann sie nur nachts in den Laptop eingeben, wenn ihr Mann ein paar Stunden schläft und das an seinem Krankenbett platzierte Babyphone, mit dem sie jeden seiner Atemzüge überwacht, einmal Ruhe gibt.

Jahrzehntelang wurde das Werk von Helga Schubert kaum wahrgenommen. In der DDR war die Psychotherapeutin und Schriftstellerin wegen ihrer kritischen Haltung zum „realen Sozialismus“ und ihrer religiösen Bekenntnisse eine Außenseiterin. Im wieder vereinigten neuen Deutschland hatte man kein Ohr für die leise und nachdenkliche Stimme einer Autorin, die nur noch selten in ihrer Wohnung im hyperventilierenden Berlin war, sich lieber in ihr altes Haus mit dem verwunschenen Garten in einem Dorf in Mecklenburg-Vorpommern verkroch, der Natur Respekt zollte und dem Leben Demut zeigte.

Als sie 2020 für ihren Geschichten-Band „Vom Aufstehen“ den Ingeborg-Bachmann-Preis erhielt, war sie bereits 80. Aber noch 13 Jahre jünger als ihr Mann, der Psychologe, Maler und Schriftsteller Johannes Helm, der inzwischen schwer erkrankt ist und dem sie nun ihr neues Buch widmet. Denn die Liebe, die sie dem Mann, den sie im Buch nur „Derden“ nennt, nach unzähligen gemeinsamen Jahren immer noch entgegenbringt, ist durch nichts zu erschüttern. Nicht durch Katheter und Windeln, die ständig gewechselt werden müssen, und auch nicht dadurch, dass Helga Schubert kaum noch aus dem Haus kommt und fast jede Einladung zu Lesungen ausschlagen muss, weil sie niemanden findet, der sich ein paar Stunden oder gar für einen Tag um ihren Mann kümmern möchte. „Jede Sekunde mit dir ist ein Diamant, sagt Derden zu mir und umarmt mich, als ich morgens in sein Zimmer und an sein Pflegebett komme. Wir sind seit 58 Jahren zusammen. Zwei alte Liebesleute. Ist es morgens oder abends, fragt er mich dann.“

Manchmal ist Helga Schubert zornig und traurig. Dass die Politik die immer drängender werdenden Probleme von Alter, Krankheit und Pflege verdrängt, macht sie fassungslos. Meistens aber ist sie erstaunlich gelassen, erträgt ihr Schicksal, als sei es ihr von Gott aufgegeben. Als eine Ärztin zu ihr sagt: „Hören Sie auf, ihm so hohe Dosen Kalium zu geben. Damit verlängern sie doch sein Leben!“, denkt sie: „Was für eine Anmaßung gegenüber der Schöpfung. Als ob ich Herrin darüber sein dürfte. Ein bisschen Sahnejoghurt im Schatten, eine Amsel singt, Stille. So darf ein Leben doch ausatmen.“

Helga Schubert: „Der heutige Tag. Ein Stundenbuch der Liebe“, dtv, München 2023, 268 Seiten, 24 Euro.




„Nicht dich habe ich verloren, sondern die Welt“ – Ingeborg Bachmann und Max Frisch, der Briefwechsel

Bis zum Sommer 1958 sind sich Ingeborg Bachmann und Max Frisch nie begegnet. Plötzlich schreibt Frisch der jungen Autorin, die mit ihren Gedichten für Furore gesorgt und in die von Männern dominierte Nachkriegsliteratur die starke Stimme einer auf Emanzipation bestehenden modernen Frau eingefügt hat, einen Brief.

Er ist von einem ihrer neuen Hörspiele so begeistert, dass er ihr schreibt, wie gut es sei, „wie wichtig, dass die andere Seite, die Frau, sich ausdrückt“. Gönnerhaft fügt er hinzu: „Wir brauchen die Darstellung des Mannes durch die Frau, die Selbstdarstellung der Frau.“

Ingeborg Bachmann, die gerade dabei ist, sich aus der unglücklichen Liebe zu Paul Celan zu befreien, lässt sich vom leicht herablassenden Ton Frischs nicht beirren, fühlt sich geschmeichelt: „Verehrter, lieber Max Frisch“, antwortet sie, „Ihr Brief ist mir schon vieles gewesen in dieser Zeit, die schönste Überraschung, ein beklemmender Zuspruch und zuletzt noch Trost nach den kargen Kritiken, die dieses Stück bekommen hat.“ Die Antwort (vom 9. Juni 1958) ist Auftakt zur Jahrhundertliebe eines der berühmtesten Paare der deutschsprachigen Literatur.

Die Liebe beginnt förmlich, nimmt aber schnell leidenschaftliche Fahrt auf und findet schließlich nach wenigen Jahren ein ziemlich unrühmliches Ende: Frisch und Bachmann werden sich nicht nur um die Möbel in ihrer gemeinsamen römischen Wohnung streiten, sondern auch über die Deutungshoheit ihrer Liebe: Frisch wird seine Geliebte in „Mein Name sei Gantenbein“ als kapriziöse Diva porträtieren, Bachmann wird in ihrem Roman „Malina“ ihren Geliebten zum Urbild männlicher Überheblichkeit und Gewalt verzerren.

Viel ist darüber spekuliert worden, was die beiden Liebenden vereinte und warum ihre Leidenschaft so gnadenlos unter die Räder des Alltags kam. Genauere Auskünfte erhoffte man sich von den rund 300 Briefen, die in den Archiven lagerten und eigentlich niemals hätten publiziert werden dürfen. Zwar hatte Frisch in seinem letzten Testament verfügt, dass seine privaten Dokumente 20 Jahre nach seinem Ableben veröffentlicht werden können (also ab 2011). Doch Bachmann hatte es kategorisch abgelehnt, ihre Liebe dem Voyeurismus des Publikums auszuliefern. „Ich will alle meine Briefe zurückhaben“, schrieb sie. „Es ist selbstverständlich, dass ich nichts aufbewahren werde.“ Weil Frisch sich weigerte („Deine Briefe gehören mir, so wie meine Briefe dir gehören“), bat sie, die Briefe zu verbrennen, „damit niemand ein Schauspiel hat eines Tages, denn wir wissen ja nicht, wie lange wir im Besitz von Dingen bleiben, die Dich und mich allein etwas angehen.“

Dass der lückenhafte, oft von Phasen des Schweigens begleitete Briefwechsel der Vernichtung entging und jetzt das Licht der Öffentlichkeit erblickt, ist den Erben Bachmanns zu verdanken. Sie haben recht gehandelt. Denn die Briefschaft legt Zeugnis davon ab, wie sich Leben in Literatur verwandelt, Bewunderung in Rivalität umschlägt, aus reiner Liebe quälende Eifersucht wird, Verlustängste und Fluchtimpulse das Miteinander vergiften.

Kaum haben sich die beiden endlich in Paris getroffen und das erste Mal miteinander geschlafen, notiert Frisch: „Ich bin nicht verliebt, Ingeborg, aber erfüllt von Dir, Du bist ein Meertier, das nur im Wasser seine Farben zeigt, Du bist schön, wenn mann Dich liebt, und ich liebe Dich. Das weiss ich – alles andere ist ungewiss.“ Die zu Undine stilisierte Bachmann seufzt: „Ich will Liebe, eine Unmasse Liebe, sonst kann ich nicht mit Dir leben, sonst bin ich lieber allein.“

Die beiden notorischen Einzelgänger, die von einer Liebesaffäre in die nächste taumeln und schwanken zwischen dem Wunsch nach einem gemeinsamen Heim und der absoluten Freiheit des kreativen Geistes, können im Alltag nicht mit, aber auch nicht ohne einander sein. Gemeinsam in einer Wohnung zu arbeiten, ist ihnen ein Graus. Nach vier Jahren trennen sich (1963) ihre Wege, der 51-jährige Frisch verliebt sich in die 23-jährige Studentin Marianne Oellers und mit reist ihr nach New York, um die Premiere eines seiner Stücke zu sehen.

Bachmann bleibt allein und krank zurück, muss sich in einem Zürcher Krankenhaus die Gebärmutter entfernen lassen: „Ich habe kein Geschlecht mehr, keines mehr, man hat es mir herausgerissen.“ Frisch ist betroffen, bittet um Verzeihung: „Wir haben es nicht gut gemacht“, resümiert er. „Es ist mir das Herz gebrochen“, antwortet sie, unversöhnlich und untröstlich.

Nach einigen Jahren des Schweigens meldet sich Frisch noch einmal bei Bachmann, bittet sie für eine Anthologie um Zusendung einiger Gedichte. Sie schickt ihm fünf Texte, darunter „Eine Art Verlust“, das mit den Worten schließt: „Nicht dich habe ich verloren, / sondern die Welt.“ Die Briefe, versehen mit klugen Kommentaren und seltenen Fotos, sind ein poetisches und erschütterndes Literatur-Dokument. Das Werk der beiden, deren Beziehung ein Verhängnis war, muss man fortan mit anderen Augen betrachten.

Ingeborg Bachmann / Max Frisch: „Wir haben es nicht gut gemacht.“ Der Briefwechsel. Hrsg. von Hans Höller u. a., Piper & Suhrkamp Verlag, 2022, 1040 S., 40 Euro.




Die Landkarte der Liebe neu vermessen – Nicole Krauss‘ Storys „Ein Mann sein“

Es ist Sommer. Ein Mann liegt träge am Strand, beobachtet seine spielenden Kinder und seinen alten Vater. Während die Hitze ihn schläfrig macht, lässt er sein Leben Revue passieren, denkt er an das unmerkliche Älterwerden, all die kleinen Veränderungen, die sich ständig ereignen, an das Leben, „das sich immer auf so vielen Ebenen abspielt, alles zur gleichen Zeit.“

Die Gedanken zerfließen, zerrinnen, sind nicht greifbar. Vielleicht ahnt er, dass gerade jetzt, während er mit seinen Kindern Ferien am Meer macht, seine Frau ihren Liebhaber in Berlin trifft und dabei nicht nur beglückende, sondern auch zutiefst beklemmende Erfahrungen macht.

Ein scharfer Cut. Die Perspektive wechselt, wir hören die freimütigen Bekenntnisse der Frau. Lauschen ihren Worten, mit denen sie den hemmungslosen Sex beschreibt, den sie mit ihrem Liebhaber hat, einem Journalisten und passionierten Amateurboxer. Ein großer, starker Mann mit einem emotionalen Handicap. Er kann es nicht ertragen, neben einer Frau einzuschlafen, sie die ganze Nacht in den Armen zu halten. Nach dem Liebesakt muss er das Bett verlassen und in seinem eigenen Bett zur Ruhe kommen. Seine Frau hat sich deshalb von ihm scheiden lassen. Die Liebhaberin, eine Jüdin aus New York, hat dafür Verständnis. Viel verstörender findet sie, dass der deutsche Mann ihr bei einem Spaziergang durch den Grunewald beichtet, er wäre damals bestimmt ein Nazi gewesen: „Ich bin genau der Typ, den sie für die Napola rekrutiert hätten“, sagt er mit Bezug auf die Nationalpolitischen Erziehungsanstalten, in denen die Nazis die Elite der starken und gehorsamen Jugend zu SS-Führern herangezüchtet haben. Dass er eine Schwäche für Ruhm und Ehre hat, lässt die Frau noch durchgehen. Aber dass der Mann glaubt, in ihm schlummere ein willfähriger Massenmörder? „Sie würde lieber glauben, dass der Mann, mit dem sie schläft, niemals, unter keinen Umständen, ein Nazi hätte sein können.“

„Ein Mann sein“, heißt diese verstörende Story, sie ist zugleich der Titel des Erzählbands, in dem die US-amerikanische Autorin Nicole Krauss vom Kampf der Geschlechter und den Zumutungen des Zusammenlebens berichtet. Immer geht es um das Wechselspiel von Macht und Sex, Liebe und Gewalt und den Versuch, die Landkarte der Beziehungen neu zu vermessen und zu beschriften. Einmal erzählt sie, wie eine aus New York nach Tel Aviv gereiste Frau in der Wohnung ihres verstorbenen Vaters einen fremden Mann antrifft. Er hat einen Schlüssel, geht hier ein und aus. Wer ist dieser Unbekannte und warum drängt er sich in den Leben der Frau, die irgendwann glaubt, in einem seltsamen Traum gefangen zu sein? Ein anderes Mal erinnert sie sich an eine Mitschülerin, die eine von Gewalt-Lust und Unterwerfungs-Fantasien dominierte Beziehung zu einem älteren, reichen Mann unterhielt. Was wohl aus ihr geworden ist? Und was mag aus dem jungen Mann geworden sein, in dessen Leben die Erzählerin hineinschlüpft: Viele Jahre war er der Sekretär eines bedeutenden Landschafts-Architekten in Südamerika. Hat erlebt, wie die Generäle der Junta ihn zwangen, in einem seiner prächtigen Parks unzählige Leichen zu verscharren. Warum hat der jüdische Architekt, der vor den Nazis aus Deutschland nach Südamerika geflohen war, das still ertragen und erduldet?

Ein rätselvolles, großes Buch einer großen Autorin.

Nicole Krauss: „Ein Mann sein.“ Storys. Aus dem Englischen von Grete Osterfeld. Rowohlt, Hamburg 2022, 256 Seiten, 24 Euro.




Historie in der Horizontale: „Was im Bett geschah“

Wenn man nur lange genug über ein Thema nachsinnt, scheint der Stoff schier uferlos zu werden. Beispielsweise das Bett und alles Drumherum. Was lässt sich da nicht alles erzählen! Es lassen sich damit zahllose Bücher füllen, beispielsweise das im Titel etwas anzüglich klingende „Was im Bett geschah“ (im Original noch eine Spur aktiver: „What We Did in Bed“), das als „Eine horizontale Geschichte der Menschheit“ firmiert.

Nadia Durrani und Brian Fagan kommen aus der Archäologie und fangen zwar nicht bei Adam und Eva, wohl aber bei unseren frühen Vorfahren vor einigen Tausend Jahren an, die verwertbare Funde hinterlassen haben. In der Vorzeit, so erfahren wir, haben Menschen wohl auf Bäumen geschlafen, andere wiederum in Hockstellung auf dem Erdboden. Wir lernen sodann sehr detailreich, wie es vor allem die alten Ägypter, Griechen, Römer und Chinesen mit dem Schlafe hielten und wann die Vorläufer der Betten gebaut worden sind.

Die vom Boden abgehobene Bettstatt mit Füßen entstand zunächst vor allem als Zeichen sozialer Hierarchie und Distanzierung. Die Höhergestellten waren sozusagen auch Höhergelegte, sie hoben sich somit buchstäblich von ihren Bediensteten und sonstigen Minderbegüterten ab. Im Laufe der Historie wurden daraus unvorstellbar reich ausgestattete Prunkbetten. Ihre Kostbarkeit zu schildern, ja darin verbal zu schwelgen, unternimmt das Autorenduo immer und immer wieder, in dieser Hinsicht wird es durchaus wiederholungsträchtig.

Staatsgeschäfte zwischen den Laken

Ansonsten werden praktisch alle Aspekte rund ums Bett durchgearbeitet: der Schlaf an und für sich, der Sex, das Bett als Ort der Geburt und des Sterbens, als geheimes Machtzentrum von Pharaonen, Königen und sonstigen Potentaten – mit den recht bizarren Gipfelpunkten zur Zeit des „Sonnenkönigs“ Ludwig XIV. und der englischen Königin Elizabeth I. Oft genug wurden gewichtige Staatsgeschäfte wesentlich vom Bett aus besorgt, so auch noch von Winston Churchill.

Eine der spannendsten Fragen betrifft die Privatsphäre, von der sich frühere Zeiten noch gar keinen Begriff machten. Daheim teilten ganze Großfamilien die Lagerstatt. Reisende, sofern nicht bestens betucht, hatten in den Herbergen keine Liegefläche für sich allein. Wann und wie aber ist die Vorstellung eines Rückzugsbereichs und folglich der Intimität entstanden? Sollte es etwa mit dem Heraufkommen der bürgerlichen Gesellschaft zu tun gehabt haben? Das christliche Sündenbekenntnis (Beichte) und die abgesonderte Buchlektüre haben jedenfalls bahnbrechend gewirkt. Insofern waren die 1969 im Bett abgehaltenen Presse-Empfänge von John Lennon und Yoko Ono als Manifestationen einer Gegenbewegung tatsächlich geschichtsträchtig.

In der Flut des Materials ertrinken

Zahllose Phänomene werden erwähnt. Man denke sich irgendein Stichwort zum Thema, es wird mit ziemlicher Sicherheit in diesem Buche vorkommen. Es ist, als hätte man bloß nichts auslassen wollen. Allerdings ertrinkt man auf diese Weise in der Flut des Materials. Nadia Durrani und Brian Fagan haben bienenfleißig Fundsachen zusammengetragen, sie lassen alles Mögliche und Unmögliche Revue passieren, finden aber nur selten zur Analyse von Strukturen. Ein tiegfründelndes Buch ist dies gewiss nicht, eher eine leidlich unterhaltsame Materialsammlung, deren verstreut umher liegende Elemente noch der weiteren Deutung harren.

Auch die Zukunft des Schlafens wird erwogen – vor allem in Form eines schnellen Streifzugs durch die globalen Möbelmärkte. Stehen uns Kapselbetten ins Haus, die die Schlafenden als Vereinzelte völlig umschließen und vielfach (virtuell) verwöhnen? Werden unsere Wohnungen auf Knopfdruck tagtäglich wandelbar sein? Werden wir uns völlig schwerelos auf magnetisch schwebenden Kissen zur Ruhe legen? Fragen über Fragen. Lasst uns mal ein paar Nächte drüber schlafen.

Nadia Durrani & Brian Fagan: „Was im Bett geschah. Eine horizontale Geschichte der Menschheit“. Aus dem Englischen übersetzt von Holger Hanowell. Reclam Verlag, 270 Seiten (mit Bibliographie und Registern), 24 Euro.

 




Woran die geliebte Freundin zerbrochen ist – Roman „Die Unzertrennlichen“ aus dem Nachlass von Simone de Beauvoir

Jean-Paul Sartre fand diesen Text seiner Gefährtin Simone de Beauvoir „zu intim“ für eine Veröffentlichung. Wer weiß, was ihn zu diesem Urteil bewogen hat. Jedenfalls schildert die Beauvoir in „Die Unzertrennlichen“ (Original: „Les inséparables“) ihre erste Liebe – zu einer Schulfreundin, die sie mit neun Jahren kennenlernte und die am 25. November 1929 mit nur 21 Jahren jämmerlich gestorben ist – offiziell an viraler Enzephalitis. Nach Erlaubnis der Adoptivtochter Sylvie Le Bon de Beauvoir kam das Manuskript aus dem Nachlass erst 2020 heraus und ist jetzt auf Deutsch erschienen.

Cover des besprochenen Buches: Freundinnen „Zaza“ (links) und Simone des Beauvoir im Jahr 1928. (© Rowohlt Verlag, Umschlaggestaltung Anzinger und Rasp, München – Fotografie: Éditions de L’Herne)

Diese Élisabeth Lacoin, genannt „Zaza“ (im Buch: Andrée) muss schon als Kind ein ausgemachter Freigeist gewesen sein, sehr klar und bestimmt in ihren spontanen Äußerungen. Einerseits scherte sie sich nicht darum, was „die Leute“ (wie Lehrer und Mitschülerinnen) dachten. Doch sie war und blieb eingeschnürt in ein großfamiliäres, erzkatholisches Korsett, aus dem sie sich in jenen starren Zeiten dann doch nicht befreien konnte. An diesem Widerspruch, so könnte, ja müsste eine plausible Lesart lauten, ist sie zerbrochen und schließlich zugrunde gegangen. Weitet sich der Blick übers Individuelle hinaus, so dürfte es sich hierbei um einen – leider arg verspätet vorliegenden – Gründungstext der neueren feministischen Bewegung handeln, in dem Motive anklingen, die Beauvoirs Oeuvre prägen. Immerhin sind ein paar Einzelheiten in ihre „Memoiren einer Tochter aus gutem Hause“ eingeflossen.

Simone de Beauvoir (im Buch: Sylvie) hat Zaza auf den ersten Blick bewundert. Mit der Zeit wurde ihr bewusst, dass es wohl nicht nur die übliche Mädchenfreundschaft, sondern eine besondere Art von Liebe sein musste. Inwieweit irgendwann auch sexuelles Begehren hineingespielt hat, wird nicht erwähnt oder erwogen. Ohne Zaza konnte sich Simone ihr Leben jedenfalls nicht mehr vorstellen. Doch die schien über derlei „Gefühlsduseleien“ lange Zeit erhaben zu sein. Schlimmer noch: Als Zaza sich mit 15 Jahren in einen Jungen namens Bernard verliebt (hoffnungslos, weil ihre strenge Mutter den Kontakt unterbindet), ist Simone zutiefst enttäuscht, zeigt sich aber gleichwohl großmütig bereit, der Freundin in seelischer Not zu helfen. Jahrzehnte später hätte man einen solchen Stoff bis hierhin vielleicht als „Coming of Age“-Erzählung bezeichnet. Aber egal. Derlei Zuordnungen führen nicht weit.

Es stellt sich dann auch die „Frauenfrage“

Das zweite Hauptkapitel setzt nach bestandener schulischer Reifeprüfung ein. Zaza trifft Simones philosophisch beschlagenen, doch recht verschrobenen Studienfreund Pascal Blondel (im wahren Leben: Maurice Merleau-Ponty) und scheint an seiner zuversichtlichen Wesensart zu gesunden, woraus sich – wie es so gehen kann – Liebe entfaltet. Simone verspürt nun keine Eifersucht mehr, die Freundin bedeutet ihr nicht mehr alles. Doch immer noch sehr viel. Jener Pascal will seinem alten verwitweten Vater kein weiteres Einsamkeits-Leid bereiten und lehnt vorerst eine Verlobung mit Zaza ab, die eine Perspektive eröffnet hätte. Doch nun soll Zaza nach dem Willen ihrer Eltern für zwei Jahre ins edle englische Cambridge gehen. Zur Probe ihrer Gefühle. In Wartestellung. Vielleicht zur „Abkühlung“. Eine so lange Trennung von Pascal, das will und kann sie nicht aushalten… Als alle Hoffnung schwindet, befällt ein wahnhaftes Fieber Zaza. Ihr ist auf Erden nicht mehr zu helfen.

Nicht nur die genannten „Hauptpersonen“ spielen eine Rolle, skizzenhaft kommen auch andere Frauenleben in den Blick: beispielsweise Zazas ältere Schwester, die partout schnellstens verheiratet werden soll, und zwar mit einem Mann nach Wahl der Eltern; sodann just auch Zazas Mutter und Großmutter. All die gesellschaftlichen Zwänge und Unfreiheiten haben sich ja über Generationen hinweg fortgesetzt. Da stellt sich eben die generelle „Frauenfrage“.

Bedauerlich, dass uns dieser „autofiktionale“ Roman avant la lettre bislang vorenthalten geblieben ist. So überaus lebendig, dialogisch markant aufbereitet, schildert Simone de Beauvoir die betrüblichen Geschehnisse, dass man vor dem inneren Auge gleichsam einen jener französischen (Liebes)-Filme mit tragischem Ausgang ablaufen sieht; wie denn überhaupt dieser Stoff nach kongenialer Verfilmung ruft. An solchen Eindrücken hat sicherlich auch die Übersetzung ihren Anteil.

Die Beauvoir muss in der fraglichen Zeit (1916 bis 1929) ausgiebig Tagebuch geführt haben, so detailreich sind ihre im Roman dargelegten Erinnerungen gefasst. Zweifellos handelt es sich um das Werk einer famosen Schriftstellerin. Da fragt sich abermals, warum Sartre (den Beauvoir im Juli 1929 kennenlernte) von einer Publikation abgeraten hat. Sollten etwa seine höchstpersönlichen Befindlichkeiten und Empfindlichkeiten…?

Simone de Beauvoir: „Die Unzertrennlichen“. Roman. Aus dem Französischen von Amelie Thoma. Mit einem Vorwort von Sylvie Le Bon de Beauvoir sowie einem Anhang mit Schwarzweiß-Fotografien und ausgewählten Briefen. Rowohlt Verlag, 144 Seiten (plus nicht paginierter Anhang), 22 Euro.

 




Verlassen für alle Zeit – „Nicht mehr. Mehr nicht“, das neue Buch von Botho Strauß

Nein, beim Lesen dieses Buches gilt es nicht, von A bis Z oder auch nur phasenweise zu „verstehen“. Gegen solche schnöden Kategorien sperrt sich der Text vielfach und nachdrücklich. Vielleicht sollten Lesende sich möglichst absichtslos im (häufig stockenden) Textfluss treiben lassen, doch immer wieder aufmerken.

Wie bei Botho Strauß kaum anders zu erwarten, sondert sich auch sein neues Werk „Nicht mehr. Mehr nicht“ entschieden von alltäglicher Sprache und überhaupt vom Ruch der Gegenwart ab. Der Blick richtet sich ganz aufs Vergangene und Verlorene: „Und es werden schreckliche Zeiten sein, die kein Einstweh mehr kennen.“

Mythen und Metamorphosen

In zahllosen, schier unendlich kreisenden, aber dann doch im Verzagen und Verstummen endenden Variationen vernehmen wir Monologe einer vom Geliebten Verlassenen. Es ist die Dichterin Gertrud Vormweg, die sich freilich in allerlei mythische Gestalten, Situationen und Metamorphosen versetzt, um ihr namenloses Leid vielleicht doch noch fassen oder ertragen zu können. So imaginiert sie sich als karthagische Königin Dido (alias Elissa), bei der Aeneas (alias Lionardo) nicht bleibt. Jener entglittene Geliebte wird als Flüchtling oder Migrant bezeichnet, in ihrer schmerzgetränkten Erinnerung erscheint er einerseits als äußerst behutsam und einfühlsam, dann wieder als gänzlich selbstbezogener Mann, der im Nachhinein auch ihren Zorn anstachelt. Rückblickend und bis zum Ende hin bleibt der Abwesende ungreifbar wie ein Phantom. Mit seinem Fernbleiben rieselt schier alles dahin, auch Schrift, Gedanken und Töne lösen sich auf. Einmal wird das Bild der alles mit sich reißenden Flut aufgerufen, aber natürlich nicht als Tagesereignis, sondern als biblische Metaphernquelle und Mythos.

Jenseits der Lebensweisheit

All das erweist sich als großer, zutiefst ernsthafter Gegenentwurf zu den leichtfertigen Trennungen in unseren Zeiten und Breiten. Statt dessen diese zeitlos gültige Choreographie der Paarungen:

„Drei Körperkehren ergeben ein Zuzweit: Anblick Umarmung Begleitung.
Voreinander Ineinander Nebeneinander.
Eine vierte aber ist Abkehr des einen vom anderen.“

Vom Satz- und Schriftbild her wirkt das Ganze beinahe wie eine Aphorismensammlung, auch inhaltlich ließe sich manche Zeile so auffassen, doch geht es wahrlich nicht um Lebensweisheiten, dazu ist das allermeiste viel zu rätselhaft. Oder wie soll man es nennen, wenn ein Mann vor dem nackten Frauenleib kauert „wie die Deutschen in den Kriegsjahren vor ihrem Volksempfänger, wenn sie den feindlichen Sender hörten.“ Andere Sätze wiederum klingen nach Maximen und Reflexionen, etwa dieser: „Gemessen am Tod verläuft jedes Leben ereignislos.“ Oder auch: „Sich wichtigtun ist unter den Menschen das meiste Tun.“

Auf der Suche nach Chiffren

Zuallermeist weitab vom üblichen Sprachgebrauch und etwaiger Sinnstiftung, deuten sich Partikel uralter Überlieferungen an, kommt somit auch etlicher Bildungsstoff zum Vorschein. Es werden dazu Spurenelemente der Hoch- und Weltliteratur, zumal der ambitioniertesten Lyrik aufgeboten. Zitat der Dichterin: „Wenn schon allein, dann unter Vorbildern begraben.“ Zur Linderung dringlich gebraucht werden Hieroglyphen, werden „Chiffren, die Asyl gewähren den vor Kommunikation geflohenen Worten.“ Dabei kommt es, gottlob sehr selten, auch zu verbalen Verstiegenheiten von solcher Art:

„Der eine heißt Nach-Dir, die andere heißt Vor-Mir. Aber Sie – Er? Da fehlt noch das rettende g, Sie-g-er! … Wer?“

Erlesen ist ansonsten nicht allein die Auswahl der Dichtungen, sondern der ganze sprachliche Duktus, der durchweg kühn und zuweilen tollkühn anmutet. Da wird ein Frauenschuh nicht einfach abgestreift, sondern von der Ferse geschelft. Da tauchen rare Worte auf wie „Proskynese“, „Kukulle“, „verschlaubt“ oder „Etmal der Liebe“, der vollzogene Geschlechtsakt wird umschrieben mit „zupaar gegangen“. Fremd steht uns das entgegen.

Sehnsucht nach Ausbleichen und Erlöschen

Überhaupt ist dies abermals eine schwierige, ja gewichtig lastende, doch durch alle Mühen hindurch ertragreiche Lektüre. Die Verlassene sammelt mit kunstvollen (nur gelegentlich vom Entgleisen bedrohten) Formulierungen Sprachmagie und möglichen Abwehrzauber um sich herum, der jedoch auf Dauer nichts gegen wachsenden Weltüberdruss vermag. Als einzig mögliche Existenzformen werden alsbald das Warten und das Suchen gedacht, nein: innig erlitten. Zusehends überwiegt die Sehnsucht nach Schwinden, Ausbleichen, Stillwerden, Erlöschen.

Vereinzelt weitet sich das individuelle Erleiden zum Befund über die jetzt angebrochene Endzeit:

„Da wir nun Nachzügler sind, Nachzügler des vom Menschen begriffenen Menschen, vielleicht auch der Sprache, der Liebe, der Arbeit, wie nur der Mensch sie verstand, bleibt von uns kaum mehr als das Bild, das die Geräte überliefern werden. Nirgends ein Gleichnis.“

Das Wort ist nur ein „lettrischer Krüppel“

Oftmals kommt das Ungenügen der Sprache zur – Sprache. Da das Gewebe der Worte zwischen den Liebenden einmal zerrissen ist, verliert alles Gerede seinen Sinn. Erklärtermaßen zwecklos auch das Streben nach „treffenden“ Ausdrücken, wo doch ein Anschein von Wahrheit allenfalls im Verschwommenen liege und jedes Wort ohnehin nur ein „lettrischer Krüppel“ sei.

Rundweg verworfen werden überdies großsprecherische, aufs Ganze gehende politisch-moralische Weltdeutungen, mitsamt Ansichten, Haltungen, Standpunkten, unnützer Klugheit oder auch „tieferen Einsichten“: „Klima, Chaos, Virus und Weltende … Das große Ganze verdirbt den Verstand.“

Was aber dann? Am Ende steht hier nicht nur die zwischendurch erhoffte Minderung und Eindämmung, sondern vollends die – verzweifelt gestammelte – Zurückweisung des Vorhandenen, ein Kehraus des Lebens. Letzter Absatz, wobei trotz allem die Nuancen zwischen „Nicht mehr“ und „Mehr nicht“ zu beachten sind:

„Nicht mehr! Mehr nicht! Sie tritt, nur um wegzusehen, vor die Tür. Nicht mehr davon! Und dann einfach: mehr nicht, nicht mehr, nichts mehr. Nicht!“

Ach, wenn es doch möglich wäre, dem ein überlebensgroßes JA! entgegenzusetzen…

Botho Strauß: „Nicht mehr. Mehr nicht
Chiffren für sie„. Hanser Verlag. 156 Seiten, 22 Euro.




Der Stadtnomade als alternder Mann – Paul Nizons Journal „Der Nagel im Kopf“

Der Schweizer Schriftsteller Paul Nizon, seit vielen Jahren in Paris lebend, ist mittlerweile 91 Jahre alt. Es erscheint durchaus als altersgerecht, wenn er in seiner jüngsten Journal-Sammlung weit, weit zurückblickt. So erinnert er sich an Liebschaften, die etliche Jahrzehnte zurückliegen oder gar an die ersten weiblichen Lockrufe, die ihn zur Frühzeit ereilten, überhaupt an die Phasen der „Lebens-Anwärterschaft“, die hernach zum Antrieb seines Schreibens geworden sind.

Der vielfach – zumal in der schreibenden Zunft – verehrte Nizon (ein kostbares Hauptwerk: „Das Jahr der Liebe“ von 1981) ist nie ein Autor für die Menge gewesen, aber einer, der aus der neueren deutschsprachigen Literatur schwerlich wegzudenken ist; erst recht nicht aus französischer Perspektive besehen. Nach wie vor schreibt Nizon seine Bücher auf Deutsch. Wie er auch in seinem Band „Der Nagel im Kopf“ darlegt, betrachtet er sich selbst als einen Miturheber „autofiktionalen“ Schreibens und hält abermals fest, dass seine Literatur weit überwiegend aus Ablagerungen des Selbsterlebten bestehe – und nicht aus freischwebendem Fabulieren.

Unerfülltes Begehren in Rom

Als gar nicht so geheimes, weil wiederholt beschworenes Kraftzentrum auch dieses Buches erweist sich das italienische Erlebnis mit einer gewissen Maria, das den eingestandenermaßen „frauensüchtigen“ Mann seither verfolgt – obwohl oder gerade weil sie den Liebesakt damals nicht vollzogen haben. Die (Nicht)-Affäre und das unerfüllte Begehren sowie die Begleitumstände (seinerzeit lief ein bestürzender KZ-Film im römischen Kino) haben offenbar innig mit seiner kompromisslos anspruchsvollen Künstlerwerdung zu tun. In diesem Zusammenhang steht ein nie ausgeführtes Romanprojekt mit dem Arbeitstitel „Der Nagel im Kopf“ seit Dezennien im Raum. Nun heißen die von 2011 bis 2020 (Corona taucht nur knapp auf) entstandenen Aufzeichnungen so. Zitat: „… das Entsetzen hat sich mir eingebrannt. Es ist in mir steckengeblieben wie ein Nagel im Kopf.“

„So viel Tod“

Durch das Journal ziehen sich Stimmungsschwankungen zwischen Selbstmitleid und Selbstüberhöhung. Die allmähliche Alters-Verdunkelung mit ihren Schwächungen und Gebrechlichkeiten ist ein fortlaufendes Thema, daraus resultierend auch Einsamkeits-Gefühle, denn nach und nach sterben viele seiner Zeitgenossen und Weggefährten, seine Alters-Kohorte „dünnt aus“: „So viel Tod. Und in den Zeitungsmeldungen räumt der Tod die paar Überlebenden meiner Generation weg.“

Manche Passagen mögen dünkelhaft oder hochmütig wirken, andere wiederum ausgesprochen verzagt und entkräftet. Paul Nizon kreist nun einmal sehr um sich selbst. Andernfalls gäbe es sein Oeuvre nicht, jedenfalls nicht das vorhandene. Er sorgt sich um seinen Nachruhm und fragt sich immer wieder, was wohl von seinem Lebenswerk bleiben werde. Hin und wieder vergleicht er sich mit weltweit populären Erfolgsautoren wie etwa John Irving. Doch die eigentlichen Bezugsgrößen sind Schriftsteller wie Robert Walser, Elias Canetti oder – auf andere Art – der gleichfalls in Paris lebende Peter Handke.

Wo der Weltgeist waltet

Apropos Paris: In dieser Metropole waltet für Nizon sozusagen der vitale, stets sich erneuernde Weltgeist in allen Schattierungen. Nizon denkt an sein ruheloses  „Stadtnomadentum“ mit vielfach wechselnden Ateliers („Schreibbuden“) in allen möglichen Arrondissements zurück. Wie anders als die enge, ängstliche Schweiz erscheint ihm diese leuchtende Weltstadt mit ihrer ganz anderen Lebensart! Doch an einem Demo-Tag, an dem das halbe Pariser Zentrum verstopft ist, ergreift ihn eine Panik der Ausweglosigkeit. Überhaupt sieht er Frankreich in den Zeiten der Gelbwesten-Proteste kurz vor einem Bürgerkrieg. Den Präsidenten Macron hält er übrigens für schrecklich profan – im Gegensatz zu Politikern vom Format eines Mitterrand. Zwischendurch beschreibt Nizon seine Haltung zu Ereignissen wie dem Tod des Popstars Johnny Halliday und dem verheerenden Brand der Kathedrale Notre-Dame, die je auf ihre Weise die französische Nation bewegt haben.

Den anfangs stets unsicheren Einkünften zum Trotz, bereut Nizon keinesfalls seine frühzeitige Entscheidung gegen ein Angestellten-Dasein und für seine künstlerische Existenz par excellence. Nicht nur in Paris und Rom hat er gelebt, sondern zeitweise auch in Barcelona und London. Einen Flaneur und fiebrigen Frauensucher wie ihn kann man sich eigentlich nur in solchen Städten vorstellen, nie und nimmer auf dem Lande oder an wenig bedeutsamen Orten. Auch Zürich und Bern waren ihm nicht genug.

Paul Nizon: „Der Nagel im Kopf“. Journal 2011-2020. Suhrkamp Verlag, 263 Seiten, 26 Euro.

 




Zwischen Agitation und Innerlichkeit – Vor 100 Jahren wurde der Dichter Erich Fried geboren

Erich Fried 1988 bei einer Lesung – als Gast des Literaturbüros Ruhr im Mülheimer Theater an der Ruhr. (Foto: Jörg Briese)

Viele Jahre hatte der vor den Nazis aus Wien nach London geflohene Erich Fried als kritischer Journalist und politischer Dichter Texte für ein eher kleines Publikum geschrieben. Als er 1979 einen Band mit Liebesgedichten veröffentlichte, wurde er einem größeren Publikum bekannt. Dem im November 1988 verstorbenen Dichter blieben nur noch wenige Jahre des späten Ruhms. Am 6. Mai jährt sich sein Geburtstag zum 100. Male.

Sein vielleicht bekanntestes Liebesgedicht heißt „Was es ist“, es geht so:

„Es ist Unsinn / sagt die Vernunft / Es ist was es ist / sagt die Liebe // Es ist Unglück / sagt die Berechnung / Es ist nichts als Schmerz / sagt die Angst / Es ist aussichtslos / sagt die Einsicht / Es ist was es ist / sagt die Liebe // Es ist lächerlich / sagt der Stolz / Es ist leichtsinnig / sagt die Vorsicht / Es ist unmöglich / sagt die Erfahrung / Es ist was es ist / sagt die Liebe.“

Typisch für Fried ist die Beharrlichkeit, mit der ein einfacher Gedanke mehrfach umkreist wird, es werden Argumente ausgetauscht und Bedenken vorgebracht: Jemanden zu lieben ist unsinnig, aussichtslos, lächerlich, leichtsinnig, unmöglich und hinterlässt nur Unglück und Schmerz. Gegen die Liebe sprechen Vernunft, Vorsicht und Erfahrung, doch es nützt nichts: „Es ist was es ist“, die Liebe ist zu groß, um sich gegen sie zu wehren.

Keine Scheu vor Selbstentblößung

Etwas gebetsmühlenartig zu wiederholen, suggestiv vorzutragen, lakonisch zu beenden, ist typisch für Fried, dazu eine simple literarische Form, reimloses Sprechen, alltägliche Erfahrungen, keine Scheu davor, sich selbst als verletzlichen Menschen zu entblößen, sich mit allen Schwächen und Stärken, Hoffnungen und Enttäuschungen mit ins Gedicht zu nehmen, sich nicht hinter anderen Figuren oder fremden Stimmen zu verstecken: Das Ich, das hier spricht, der ältere Mann, der in den oft erotisch stark aufgeladenen und sexuell ziemlich freizügigen Liebesgedichten erzählt, wie schön es ist, die Brüste seiner Frau zu streicheln oder ihren Schoß zu küssen, ist immer Erich Fried, der Lust und Sehnsucht offen ausspricht, kein Bedürfnis verschweigt, sich aber auch selbst nicht so ernst nimmt und seine erotischen Obsessionen ironisiert. In seinem Gedicht „Als ich mich nach dir verzehrte“ schreibt Fried: „Wenn ich mich / nach dir / verzehre / heißt das / ich habe zuerst / als Hauptgericht / dich verzehrt / und mich dann / als Nachtisch / oder warst du / die Suppe / und ich / bin das Fleisch?“

Fried hatte zum richtigen Zeitpunkt den richtigen literarischen Ton getroffen, hatte gespürt, dass die Zeit der knallharten Politisierung vorbei war und seine links-alternative Klientel sich danach sehnte, eine neue Beziehung zwischen Kopf und Bauch, Politik und Leben herzustellen und literarisch widergespiegelt zu sehen.

Eine Zuflucht für Rudi Dutschke

Bis Mitte der 1970er Jahre hatte Fried das Gedicht als Mittel zur Verbreitung von Erkenntnissen und des Aufrufs zur Rebellion verstanden: purer Agitprop, vorgetragen bei Versammlungen und Demonstrationen. Fried hatte Rudi Dutschke bei sich in London aufgenommen, als der Studentenführer vom Attentat halbwegs genesen war und sich in Deutschland nicht mehr sicher fühlte. Als Hausbesetzer Georg von Rauch von der Polizei erschossen wurde, bezeichnete Erich Fried die Tat als „Vorbeuge-Mord“ und wurde dafür vor Gericht gezerrt.

Fried hat sich eingemischt, gegen den Krieg in Vietnam genauso angeschrieben wie gegen den Radikalenerlass, das Wettrüsten der Supermächte, die atomare Bedrohung: Es sind Lehr- und Lerngedichte, die über Ausbeutung und Unterdrückung aufklären, zur Solidarität und zum Kampf aufrufen, sie sind der Zeit verhaftet und lesen sich heute wie politisch-historische Dokumente einer hochpolitisierten Epoche, die im Terror der RAF ihren degenerierten Tiefpunkt und ihr blutiges Ende fand.

Manchmal haarsträubend banal

Doch wer eben noch auf den Barrikaden stand und die Weltrevolution predigte, wollte nun in einer Landkommune leben, sich gesund ernähren, grüne Pläne schmieden und sich den eigenen Gefühlen widmen: Die Neue Innerlichkeit griff um sich und Erich Fried wurde ihr literarisches Sprachrohr.

Die Liebesgedichte sind lyrischer Ausdruck einer Ära, in der Liebe und Politik eins sein sollten. Aber worüber und wie die Gedichte sprechen, ist oft haarsträubend banal und auf fast peinliche Weise selbstverliebt. Sprachlich subtil und gedanklich von zeitloser Schönheit sind die Gedichte nur selten. Doch die Liebesgedichte immer mal wieder hervorzukramen und zu lesen, ist bestimmt besser, als sie zu vergessen und nicht zu lesen. Oder?

Erich Fried: „Liebesgedichte.“ Wagenbach, Berlin 1979 (16. Auflage 2013, 18 Euro)

Erich Fried: „Es ist was es ist.“ Wagenbach, Berlin 1983 (19. Auflage 2021, 18 Euro)

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Eine andere Sicht auf Erich Fried offenbart ein 2018 zum 30. Todestag des Dichters entstandener Beitrag, den Gerd Herholz für die Revierpassagen verfasst hat.

 

 




Über alle Regeln hinweg: Als die Tänzerin Lola Montez Bayernkönig Ludwig I. den Thron kostete

Lohnt es sich wirklich, sich mit dieser Frau zu beschäftigen, und das noch 200 Jahre nach ihrer Geburt? Braucht eine Hochstaplerin, eine offenbar nur mittelmäßige Tänzerin, eine unschwer als narzisstisch erkennbare Persönlichkeit noch 2020 eine nagelneue, kritische Biografie?

Marita Krauss‘ Biographie über Lola Montez, im Dezember 2020 erschienen bei C. H. Beck. (343 Seiten, 24 €).

Muss jemand wie jene Lola Montez in Filmen, Dramen und sogar einer – 1937 in Dortmund uraufgeführten, heute vergessenen – Operette von Eduard Künneke („Zauberin Lola“) verewigt werden, nur weil sie sechzehn Monate lang die Geliebte eines Königs war, den sie schließlich sogar die Krone gekostet hat?

Es lohnt sich, weil die kaum 40 Jahre der Lebensspanne dieser Frau bunt, anrüchig und dramatisch waren, wie sie im Roman nicht besser hätten erfunden werden können. Und weil sie zu einer Art Urtyp der „femme fatale“ wurde, die Ende des 19. Jahrhunderts das Frauenbild und die Kultur des Fin de siècle prägte.

Heute vor 200 Jahren geboren

Die Geschichte der Lola Montez beginnt am 17. Februar 1821 – heute vor 200 Jahren – in einem Nest namens Grange im irischen Nordwesten, führt über Indien und Schottland in ein englisches Internat für höhere Töchter, von dort über Spanien und London ins thüringische Reuß-Ebersdorf zur ersten Affäre mit einem regierenden Fürsten. Als ihr im Oktober 1846 an der Münchner Hofbühne die Erlaubnis zu einem Tanzauftritt verweigert wurde, hatte sie bereits ihren ersten Mann verlassen. Sie war aus London geflohen, weil sie sich als spanische Tänzerin „Maria de los Dolores Porrys y Montez“ ausgegeben hatte und als Hochstaplerin aufgeflogen war. Und sie zählte als Halbweltdame in Paris die beiden Schriftsteller Alexandre Dumas den Älteren und den Jüngeren sowie Franz Liszt unter ihre Verehrer, bevor einer ihrer weiteren Liebhaber bei einem – wegen ihr ausgefochtenen – Duell erschossen wurde.

König Ludwig I. von Bayern weiß davon nichts, als ihm in seiner unermüdlichen Kleinarbeit für sein Land auch der Bescheid der Intendanz unter die Augen kommt. Eine spanische Tänzerin mit hochtönend klingendem Namen! Der König, für seinen bisweilen hartnäckigen Eigensinn berüchtigt, wird aufmerksam. Er liebt den Zauber der spanischen Sprache. Der Sechzigjährige, im Grunde einsame Mann ist zudem empfänglich für weibliche Schönheit. Lola Montez versucht, zum König vorzudringen, um doch noch zu ihrem Tanzspiel zu kommen. Sie weiß um die Wirkung ihrer Reize und ist entschlossen, sie einzusetzen.

Nach drei Versuchen erhält sie Audienz. Der König spricht mit ihr lange über Kunst und Literatur – auf Spanisch. Wenig später liegt die Genehmigung vor: Die „Spanierin“ darf tanzen! München ist neugierig, das Theater voll. Stürmischer Beifall für die geheimnisvolle Fremde. Die Kenner stellen fest, dass sie von Fandango und Bolero nichts verstehe. Aber das innere Feuer wirkt. Ludwig ist begeistert, beschließt: Hofmaler Joseph Karl Stieler muss dieses herrliche Wesen für die Galerie der Schönheiten malen. Und Lola Montez nutzt die Zeit der Sitzungen, das „liebeleere“ Herz des Königs für sich zu entflammen.

Feuchter Schimmer wilder Leidenschaft

Das leicht idealisierte Porträt hängt heute noch in der „Schönheitengalerie“ im Münchner Schloss Nymphenburg und entfacht eine ganz eigene Faszination. In seiner Ludwig-Biografie beschreibt Egon Cäsar Conte Corti die gebürtige Irin als „Kunstwerk der Natur“: „Tiefblaue, feurige, glänzende Augen, die zuweilen eine feuchten Schimmer wie von wilder Leidenschaft zeigen, erhellen ein formvollendetes Antlitz, das bei nicht allzu hoher Stirn von seidenweichen, ebenholzschwarzen Haaren überschattet ist… Man sieht ihr an den Augen ab, dass sie nicht unklug ist, aber ihr Herz ist ebenso kühn wie leidenschaftlich, ebenso mutig wie unbändig und setzt sich über alle Regeln hinweg, die ihre Mitwelt in Bann halten.“

Über alle Regeln hinweg: Sehr schnell werden sich die maßgeblichen politischen Kreise bewusst, welche Gefahr ihnen in der ehrgeizigen Frau droht: Elizabeth Rosanna James, geborene Gilbert, beherrscht den König komplett. Minister, Behörden, Polizei, kirchliche Kreise, Adel sind alarmiert. Ihre Versuche, den bezauberten Mann zur Vernunft zu bringen, scheitern. Ludwig empfindet sie „als Angriff auf sein Glück“ und als „Einmengen in sein privates Leben“. Sein Starrsinn ist geweckt: Gelten in Bayern die königlichen Weisungen nicht mehr? Im November 1846 ändert Ludwig sein Testament, vermacht ihr 100.000 Gulden und setzt eine jährliche Rente von 2.400 Gulden aus.

Lola nutzt die Gunst der Stunde. Sie provoziert nicht nur die Politiker, sorgt für den Fall von zwei Regierungskabinetten und für königliche Ungnade gegen ganze Reihe von Beamten. In der Öffentlichkeit provoziert sie einen Skandal nach dem anderen. Dass die Beziehung zu Ludwig wohl so gut wie keusch bleibt, ist erst eine Erkenntnis aus jüngeren Recherchen. Dafür umgibt sie sich mit jungen Liebhabern und einem Kreis von Studenten des Corps Alemannia, die bei den Münchnern verächtlich „Lolamannen“ genannt werden. Ein gewalttätiger Zusammenstoß von Studenten lässt den entrüsteten Ludwig die Universität schließen. Jetzt ist das Maß in der Münchner Gesellschaft voll: Ein Aufstand droht. Der Monarch willigt schließlich ein: Die erst vor wenigen Monaten erhobene „Gräfin von Landsfeld“ muss Bayern verlassen.

Bigamie und Shows in Goldgräber-Städten

Erst allmählich und nach seiner erzwungen Abdankung 1848 wird dem König klar, wie sehr er hintergangen und ausgenutzt wurde. Lola Montez lebt zunächst mit dem Geld Ludwigs luxuriös in der Schweiz, geht dann nach London, wo sie einen jungen Offizier heiratet und wegen Bigamie angeklagt wird, weil ihr früherer Ehemann noch lebt.

1852 spielt sie sich selbst am Broadway in der Revue „Lola Montez in Bavaria“ und kommt mit einer Tournee sogar bis in Goldgräber-Städte Australiens. Bevor sie am 17. Januar 1861 in New York an einer Lungenentzündung stirbt und in Brooklyn begraben wird, sichert sie ihren Lebensunterhalt durch Lesungen und wandelt sich zur bekennenden Christin.

Die Historikerin Marita Krauss gibt ihrer neuen Biografie als Titel ein Zitat von Lola Montez: „Ich habe dem starken Geschlecht überall den Fehdehandschuh hingeworfen.“ Ein „herzloses dämonisches Wesen“, wie Richard Wagner urteilte? Eine machtgierige, berechnende Narzisstin? Oder eine Frau, die mit ihrem Willen zur Selbständigkeit und ihrem ungestümen Temperament an einer Gesellschaft zerbrach, die den Frauen genau das nicht zubilligen wollte?




Liebe, stirb und werde: Die große Chansonette Juliette Gréco (93) lebt nicht mehr / Erinnerung an einen Auftritt in Essen

Allein schon ihre Hände…: Juliette Gréco bei einem Auftritt im Oktober 2006. (Foto: Wikimedia Commons / Victor Diaz Lamich) – Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by/3.0/deed.en)

Ein einziges Mal im Leben habe ich sie auf der Bühne sehen dürfen. Es war, wie kaum anders zu erwarten, unvergesslich. Heute ist die legendäre französische Chansonsängerin Juliette Gréco mit 93 Jahren gestorben. Eine kurze Erinnerung an ihren Auftritt in der Essener „Lichtburg“, anno 2001: 

Essen. Manchmal sind ihre Hände wie kleine weiße Vögel. Sie flattern freudig auf oder sinken verzagt nieder; ganz wie die Gefühle zwischen Glück und Elend der Liebe, Glanz und Last der Freiheit. Juliette Gréco, die große Dame des Chansons, steht auf der Bühne der ausverkauften Essener „Lichtburg“. Ganz in Schwarz gekleidet, natürlich.

Seit über zwei Jahrzehnten ist die jetzt 74-Jährige nicht mehr im Ruhrgebiet aufgetreten. Man kann gar nicht umhin, sich die ganze Geschichte vorzustellen, wenn man sie nun hört und erlebt. Existenzialistische Nachkriegs-Nächte in Pariser Kellern wie dem „Tabou“, wo sie 1949 debütierte. Ihre berühmten Freunde wie Sartre, Camus, Cocteau. Diese speziell stilisierte Essenz französischer Lebensart.

Die Gréco sieht noch so aus wie „damals“. Ihre schlanke, von der Zeit nur ganz leicht gebeugte Silhouette, bleiches Gesicht; vom dunklen Haar umrahmt. Und sie wirkt noch wie ehedem. Freiheitsdurst, Hoffnungs-Glut, flüchtige Lüste und Abstürze der Liebe, der vitale Kosmos von Paris – all das ist präsent, wenn sie die klugen Texte von Jacques Brel, Jean-Claude Carrière oder Serge Gainsbourg vorträgt.

„La chanson des vieux amants“ (Das Lied der alten Liebenden) besingt Höhen und Tiefen eines gemeinsamen Lebens – und schließlich das große „Trotzdem“ der dauerhaften Liebe. „Deshabillez-moi“ (Zieh‘ mich aus) ist eine Miniatur zur erotischen Kultur. „Ne me quitte pas“ beschwört die Bestürzung einer Verlassenen. „Un jour d’été“ (ein Sommertag), dieser verwehende Liebestraum. Wenn Juliette Gréco da „Les yeux bleus“ (die blauen Augen) haucht, enthalten die Silben so viele fragile Sehnsüchte.

Bei aller melancholischen Tönung gerät der Auftritt zur Feier aller Schattierungen des wechselvollen Lebens, zur schmerzlichen Bejahung des Auf und Ab. Um André Heller abzuwandeln: Sie will, dass es das alles gibt, was es gibt. Einige Gesten sehen aus, als wolle die Gréco diese Fülle für die Ewigkeit festhalten. In innigen Momenten verkörpert sie jenes „Stirb und Werde“, das Goethe zu rühmen wusste.




Denn alle Lust will Heiterkeit: In Bochum inszeniert Herbert Fritsch de Sades wilde Fantasien nicht ohne Ironie

Blicke aus dem Abgrund - Ensembleszene. Foto: Birgit Hupfeld

Blicke aus dem Abgrund – Ensembleszene. Foto: Birgit Hupfeld

Nun hat das Schauspiel Bochum also sein erstes Skandälchen. Nach kraftvollem Aufbruch unter dem neuen Intendanten Johan Simons, in Form einer hochintellektuellen, bildmächtigen, exzellent gespielten „Jüdin von Toledo“ (Feuchtwanger) oder der auf ein Zweipersonenscharmützel zentrierten „Penthesilea“ (Kleist), schleicht plötzlich ein Stück herbei, das von Lust und Laster und Gottlosigkeit redet. Dabei klingt der Titel recht harmlos: „Die Philosophie im Boudoir“.

Doch hier geht’s um einen Stoff des Marquis de Sade, des selbsternannten Propheten sexueller Ausschweifungen, eines Libertin im Gefolge der französischen Revolution, dessen Fantasie manche Grenze überschritten hat. Und dann wird das Ganze, in Bochums großem Haus, auch noch von Herbert Fritsch inszeniert, dem Propagandisten des choreographischen Rausches, des Hyperventilierens, des kindlich-kindischen Umhertollens, des ungehinderten Tobens. Also verließen zur Premiere die Gäste scharenweise den Saal, knallten Türen und echauffierten sich – so zumindest ist es Teilen der Presse zu entnehmen.

Penetrant unkeusches Sinnieren über Körperöffnungen

Solcherart lautstarkes Aufbegehren hat indes schon oft genug zu einem „succès de scandale“ geführt, zum aus dem Eklat gewachsenen Erfolg. Hinzu kommt, dass Fritsch mit seiner in Berlin längst Kult gewordenen Produktion „Murmel, Murmel“ auch in Bochum punktete; viele Vorstellungen sind ausverkauft.

Svetlana Belesova,
Jele BrüŸckner und
Anna Drexler (v.l.) im Rausch. Foto: Birgit Hupfeld

Doch bei de Sade liegen die Dinge offenbar anders. Die inflationäre Nutzung des F-Wortes, das penetrant unkeusche Sinnieren über Körperöffnungen, das Beschreiben von Stellungsanordnungen und zügellosen Handlungen haben manchen Theaterbesucher hinausgetrieben. Da nutzte auch die beste philosophische Herleitung nichts – so verstandene allumfassende Aufklärung überschritt wohl jede Vernunftgrenze. Die Folge: Karten fürs „Boudoir“ gibt es noch reichlich.

Diesmal knallen keine Türen

Nun also hinein in die dritte Vorstellung, ins immerhin noch ganz anständig gefüllte Parkett. Viel Jugend sitzt da, nicht wenige haben sich ihr Ticket erst an der Abendkasse besorgt. Und nur zwei ältere Paare, zumindest in unserem Umfeld, verlassen das Haus vorzeitig. Türen knallen keine. Oft ist es sehr still, mitunter wird gelacht im Publikum und am Ende gibt’s beherzten Applaus. Das Skandälchen ist noch weiter in sich zusammengeschrumpft.

Was haben wir auch erwartet? Orgien auf offener Szene, abstoßendes Blut-und-Hoden-Theater? Wildes Geschrei und pikant-detaillierte Einblicke, möglichst noch per Video vergrößert? Nichts von alledem, kein Plaisir dem Voyeur. Stattdessen eine Mischung aus Varieté, Grusel, Trash, Kasperlbude, Slapstick und Karikatur. Die Regie nimmt de Sade ernst und bricht ihm doch manchen Zacken aus der libertären Krone. Mit den Mitteln der Pose, der Überzeichnung, der Repetition oder mimischen Entäußerung.

Philosophische Ergüsse, hehre Religion – und ein bisschen Kitsch

Die philosophischen Ergüsse setzen den Denkapparat in Bewegung, die ausgeklügelte szenische Aktion, verbunden mit den wilden Kostümen Victoria Behrs und dem farbsatten Lichtdesign Bernd Felders, bleiben wohl noch lang im Gedächtnis haften. Dazu die musikalische Untermalung des Pianisten Otto Beatus mit dem zweiten Choral aus Bachs Johannes-Passion und Claydermans „Ballade pour Adeline“ – Kitsch und hehre Religion dem Atheisten und Ästheten de Sade zu Leid.

Karge, aber farbsatte Ausstattung. Nur ein wuchtiger Kubus dient als Requisite. Foto: Birgit Hupfeld

Die Handlung dieses Thesen- und Beischlaf-Stückes ist denkbar simpel. Im Lustschloss der Madame de Saint-Ange wird die Klosterschülerin Eugénie in die scheinbar endlosen Weiten sexueller Praktiken eingeführt. Sie erweist sich schnell als äußerst gelehrig. So entwickelt sich ein lustvoller Reigen, der erst durch das Erscheinen von Eugénies Mutter jäh gestört wird.

Unterfüttert hat der Marquis de Sade dies mit flammenden Reden auf die Herrschaft der grenzenlosen Fantasie sowie spitzzüngigen Debatten über Tugend, Verbrechen und Religion. Zwischendurch wird die eine oder andere besonders perverse Geschichte eingestreut – sei es die von der Unzucht im Irrenhaus oder die von abstrusen Gelüsten eines finsteren Fürsten. Starker Tobak allenthalben, gewiss auch ein wenig länglich. Doch die Regie setzt überwiegend  auf Tempo, vor allem auf die kraftvolle Aktion des sechsköpfigen Ensembles.

Lüsterne Griffe in dichtem Gedränge. Foto: Birgit Hupfeld

Aufmarsch einer Zombiehorde

Das gruppiert sich in Form kleiner Tableaus, lässt die Glieder zucken und die Gesichter grimassieren. Sie wirken, zusammen mit ihren Stecknadelkopfpupillen, wie der Aufmarsch einer Zombiehorde. Oder wie Ausgeburten der Hölle, die sich bühnenmittig und feuerrot vor uns auftut. Bisweilen erwächst aus diesem Inferno ein massiger Kubus – mal als Podest dienend, mal als Klotz, hinter dem sich Unheil verbirgt, oder als Fläche für allerlei Schweinigeleien.

So jongliert Herbert Fritsch mit de Sades Groteske und setzt sie zugleich, untermalt von elektronisch verzerrten Klängen, unter Spannung. Das Ensemble spielt sich entsprechend die Seele aus dem Leib. Wir sehen ein äußerst homogenes Kollektiv statt solistischer Virtuosität, eine Gruppe, die einzelne Rollen im Rotationsverfahren besetzt. Alle seien sie genannt: Svetlana Belesova, Jele Brückner, Anna Drexler, Anne Rietmeijer, Ulvi Teke, Jing Xian sowie Julia Myllykangas als Artistin mit einem stummen, verrätselten Prolog und Epilog.

Trotz kleiner kritischer Einwände: Herbert Fritschs Bild- und Bewegungsvokabular gleicht einer faszinierenden Komposition, so skurril wie durchdacht, wiedererkennbar, doch nie vorhersehbar. Er reiht sich ein in die Gruppe von Regisseuren, deren Handschrift unnachahmlich ist: Fritsch, der Schöpfer des ausgeklügelten Hyperventilierens; Robert Wilson, der Prophet des akribisch ausgeformten, gezirkelt kühlen Gesamtkunstwerks; Christoph Marthaler, Anwalt traumverlorener Seelen, die durch trostlose Räume wie in Trance dahingleiten. Keine schlechte Gesellschaft.

Weitere Termine: 31. Dezember 2018 (16 Uhr und 20 Uhr – mit anschließender Silvesterparty); 4., 5., 12., 25. und 26. Januar 2019, 2., 9. und 16. Februar 2019.

Infos: https://www.schauspielhausbochum.de/de/stuecke/189/die-philosophie-im-boudoir




Untiefen der Liebe – frank und frei dargeboten in Doris Knechts Roman „Alles über Beziehungen“

Ist dieser Viktor einfach sexsüchtig oder treibt er es nun mal gerne mit einer Vielzahl an Frauen, weil es seinem Naturell entspricht? Der Theatermann jedenfalls nimmt, wenn man so will, was ihm vor die Füße kommt und gelangt schließlich an einen Punkt, an dem er ein bisschen nachdenklich wird.

Auch wenn er den Gang zum Psychologen antritt, darf man sich die Hauptfigur in dem Buch „Alles über Beziehungen“ von Doris Knecht nicht als einen Typ vorstellen, der ständig an sich selbst zweifelt. Es sei denn, man versteht ein Leben, wie er es führt, als einen Ausdruck von der Suche nach dem eigenen Ich.

Zwei Ehen, fünf Kinder, etliche Liebschaften

Nun hat dieser Viktor, der kurz vor Vollendung seines 50. Lebensjahres steht, schon einiges geschafft. Dazu gehört nicht nur, dass er gerade Leiter eines Festivals wurde, dazu zählen auch zwei (gescheiterte) Ehen, eine aktuelle Beziehung mit Lebensgefährtin Magda und fünf Kinder, die aus der einen oder anderen Liaison hervorgegangen sind.

Eine stramme Leistung, mag man denken, wobei dem Nachwuchs in seinem Dasein wohl eher eine Nebenrolle zugedacht ist. Zumindest erfährt man weniger über die Sprösslinge, dafür aber mehr von ihm als Kunstschaffenden, der kaum eine Gelegenheit auslässt, sich mit einer Gespielin zu vergnügen.

Die in Wien lebende Autorin erzählt offen, gern auch frivol von den Frauengeschichten, die teils schon passé sind. Als im wahrsten Sinn umtriebiger Mensch ist die Hauptfigur ohnehin oft unterwegs, hat viele Termine, viele Kontakte. Da bleibt kaum noch Zeit für seine Partnerin Magda, die von all den amourösen Abenteuern Viktors nichts ahnt. Ab und an gönnt er sich allerdings auch Zeit mit ihr, doch Erfüllung scheint er nicht zu finden.

Was ist denn eigentlich Untreue?

Während die Autorin, die mit ihrer Erstveröffentlichung „Gruber geht“ (2011) für den Deutschen Buchpreis nominiert wurde, frank und frei über das Liebesleben, durchaus auch mal à trois, erzählt, spricht sie ebenso offen über die Fährnisse der Liebe. Sie erhebt dabei keineswegs den moralischen Zeigefinger, sondern schildert, wie sich Menschen gegenüber denen verhalten, die ihnen doch so unheimlich viel bedeuten. Aber ist ein Viktor denn untreu, wenn er doch eigentlich Magda nie verlassen würde? Oder müssten etwa die Frauen, die sich auf ihn freiwillig einlassen, ein schlechtes Gewissen gegenüber ihren Lebensgefährten haben? Sie gönnen sich doch nur mal was…

Es ist ein weites Feld, das Viktor auch mit seinem Psychologen bereden will. Ob das nun wirklich ein Gespräch ist, das die zwei da führen, mag dahingestellt sein. Auf jeden Fall lässt es der Theatermann an Wortschwall nicht fehlen und ist schließlich mit sich im Reinen. Inwieweit die Therapie nun tatsächlich etwas bewirkt oder nicht – er hat es zumindest versucht…

Doris Knecht: „Alles über Beziehungen“. Roman. Rowohlt Verlag, 288 Seiten, 22,95 €




Wesentlich von Anfang an: Alissa Walsers Erzählband „Eindeutiger Versuch einer Verführung“

Wer eine eher kürzere, sehr unterhaltsame Lektüre für die Ferienzeit sucht, die sich zudem locker im Handgepäck verstauen lässt, dem sei Alissa Walsers Band „Eindeutiger Versuch einer Verführung“ empfohlen.

Die Schriftstellerin, die u. a. mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet wurde, erzählt skurrile, verstörende oder abwegige Geschichten aus dem Alltag. Obwohl es über 50 solcher Begebenheiten sind, die den Leser immer wieder an neue Orte führen und mit anderen Menschen zusammenbringen, braucht die Autorin dafür gerade mal 160 Seiten. Ihre besondere Stärke liegt vor allem darin, sehr prägnant zu erzählen und sich – von der ersten Zeile an – auf das Wesentliche zu beschränken.

Sie schreibt über Zufallsbekannschaften, wie man sie in der U-Bahn erleben kann, oder über Kontakte, die ganz gezielt zustande kommen, weil der Millionär eben Millionär ist, wenn auch mit einem leicht schrägen Charakter. Familien- und Paarbeziehungen betrachtet sie mit feiner, aber wohlwollender Ironie, indem sie beispielsweise den Wortwechsel in Unterhaltungen gleichsam seziert.

Da im Leben so mancher Familien ein Hund nicht mehr wegzudenken ist, kommt den Vierbeinern auch mehrmals eine Hauptrolle zu. Die Vorlieben und Marotten von Menschen sind ein weiteres Sujet, mit dem sich die Autorin auseinandersetzt, darunter durchaus recht urige Anwandlungen wie beispielsweise die, Spinnennetze auf keinen Fall zu zerstören.

Manchmal zeichnet Alissa Walser Charaktere, die auf der Schattenseite des Lebens stehen, aber gelernt haben, dieses Schicksal für sich zu akzeptieren. Mit kritischem Blick schaut sie auf die technologische Welt und gibt dem Leser zu verstehen, dass er durchaus selbst entscheiden kann, wie sehr er sich vereinnahmen lassen möchte. Dass man im eigenen Leben aber nicht immer die Richtung bestimmt, sondern auch von Zufällen abhängig ist, gehört ebenfalls zum Themenkreis des Buches.

Bleibt noch zu klären, was es eigentlich mit dem Buchtitel auf sich hat: Den findet der Leser auch als Titel einer der Kurzgeschichten wieder, in der Alissa Walser die Frage nach der passenden und dem Anlass gemäßen Kleidung recht amüsant verpackt.

Alissa Walser: „Eindeutiger Versuch einer Verführung“. Hanser-Verlag, 160 Seiten, 17 Euro.




Leben wird Literatur, Literatur wird Leben: Navid Kermanis Roman „Sozusagen Paris“

Welch eine Überraschung: Gerade hat der Autor in einer Kleinstadt aus seinem neuen Roman gelesen, da steht die Figur, um die sich im Buch alles dreht, vor ihm. Als Schüler war er unsterblich in ein schönes und kluges Mädchen verliebt: das ist jetzt 30 Jahre her. Beide haben sich aus den Augen verloren. Doch bei ihm ist die Sehnsucht nach der Frau, die er im Roman Jutta nennt, geblieben.

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Nun erfährt er, dass sie verheiratet ist und drei Kinder hat. Sie ist Ärztin geworden und Bürgermeisterin in einem Provinz-Kaff. Als sie ihn spätabends in ihr Haus auf ein letztes Glas Wein, einen Joint und ein Gespräch einlädt, sagt der ebenso faszinierte wie irritierte Autor nicht nein. Doch während Jutta bis zum Morgengrauen von ihrem Leben und ihren Ehekrisen erzählt, denkt der Erzähler bereits darüber nach, wie er aus dem unverhofften Wiedersehen einen Roman machen könnte.

„Sozusagen Paris“, der neue Roman des 1967 in Siegen geborenen und heute in Köln lebenden Navid Kermani, ist kein politisches Buch. Das mag manche überraschen. Denn der streitbare deutsch-iranische Autor, Journalist und Orientalist ist zuletzt nur noch als politische Stimme, als Mahner und Warner wahrgenommen worden. In seiner Dankesrede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels hat der bekennende Moslem dazu aufgerufen, den islamistischen Terror militärisch zu bekämpfen, bevor er die versammelten Honoratioren aufforderte, mit ihm gemeinsamen für den Frieden zu beten.

In seinem Buch „Ungläubiges Staunen“ untersucht Kermani aus muslimischer Sicht die Bilder-Sprache des Christentums und versucht, eine Brücke zwischen den Religionen zu bauen. Manchen gilt er gar schon als geeigneter Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten.

Wer nun aber den neuen Roman nach politisch verwertbaren Statements und Debatten fördernden Argumenten im Streit der Kulturen durchforstet, wird das Buch enttäuscht beiseite legen. Denn auf den ersten Blick ist „Sozusagen Paris“ ein Liebesroman, auf den zweiten eine Reflexion über das Schreiben. Doch eigentlich ist es ein Buch darüber, wie sich Schriftsteller ungeniert bei Vorläufern aus der Weltliteratur bedienen und wie sich das Leben in Literatur verwandelt. Oder ist es nicht vielleicht umgekehrt?

Kermani nimmt Themen und Personal seines Romans „Große Liebe“ wieder auf und verwickelt den Leser erneut in ein literarisches Verwirrspiel: Er hantiert furios mit seiner Rolle als Erzähler, fleddert die französischen Ehekrisen-Romane es 19. Jahrhunderts, zitiert Stendhal und Proust, Balzac, Flaubert und Zola, kommt irgendwann auch bei Adorno vorbei und scheut schließlich nicht davor zurück, seine eigenen Bücher ironisch auszuschlachten.

Warum auch nicht. Denn für alles, was Jutta dem Autor (der eine gewisse Ähnlichkeit mit Kermani hat) in dieser langen Nacht über sich und ihre Arbeit, ihre Ehe und ihre aufgehäuften Frustrationen erzählt, gibt es literarische Vorbilder. Wenn in Juttas Bücherregal Flauberts „Madame Bovary“ oder Balzacs „Erinnerungen zweier junger Ehefrauen“ stehen, warum soll der Erzähler dann nicht daraus zitieren? Alles verwandelt sich in Literatur, die Realität ist nur ein Traum und die Wirklichkeit ein Reise in die Welt der Fantasie.

Weil der Erzähler Moslem ist, möchte Jutta natürlich auch über Terror, Flucht und Integration diskutieren. Doch der Autor, der sein frisch entflammtes Begehren nach seinem alten Jugendschwarm kaum zügeln kann, will viel lieber über Sex und Erotik reden, will mehr darüber erfahren, warum sich Jutta dem indischen Tantra verschrieben hat und wie man es anstellt, nicht enden wollende Orgasmen zu bekommen.

Um das literarische Spiel auf die Spitze zu treiben, streitet sich der Autor auch jetzt schon mit dem Lektor des noch gar nicht geschriebenen Romans, versucht bereits, dessen Kritik an einzelnen Formulierungen und den Vorwurf, der Erzähler würde sich allzu sehr in Ehe-Kitsch und Alltags-Klischees suhlen, zu entkräften.

Immer wieder richtet der Autor auch das Wort an den Leser und macht ihn zum Komplizen seiner Wünsche und Ängste. Die Leser, so scheint es, dürfen entscheiden, ob der Autor die sich in Rage redende und in Tränen ausbrechende Jutta nicht nur tröstend in den Arm nehmen, sondern auch ins Bett begleiten soll. Oder ist das Begehren nur eine nostalgische Lüge und die Sehnsucht ein frommes Gift? Darüber darf der intelligent und vergnüglich unterhaltene Leser (bzw. die Leserin) in Ruhe nachdenken, während der Autor bei Jutta auf dem Gästeklo hockt, seine Liebe zu Neil Young wieder entdeckt und sein altes „Buch der von Neil Young Getöteten“ mit neuen Überlegungen ins Heute weiterdenkt.

Navid Kermani: „Sozusagen Paris“. Roman. Hanser Verlag, München 2016, 287 S., 22 Euro.

Infos:
Geboren wurde Navid Kermani 1967 in Siegen, heute lebt der für sein literarisches und essayistisches Werk vielfach ausgezeichnete Schriftsteller, Journalist und habilitierte Orientalist in Köln. Nach dem Kleist- und dem Joseph-Breitbach-Preis erhielt er 2014 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.
Zu seinen bekanntesten Büchern gehören „Das Buch der von Neil Young Getöteten“ (2002), „Wer ist Wir? Deutschland und seine Muslime“ (2009), „Ausnahmezustand. Reisen in eine beunruhigende Welt“ (2013), „Große Liebe“ (2014), „Ungläubiges Staunen. Über das Christentum“ (2015).
Nachdem Joachim Gauck seinen Verzicht auf eine weitere Amtszeit erklärte, wurde Kermani als möglicher Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten ins Spiel gebracht.




Wo alles unentschieden bleibt: Genazinos Roman „Außer uns spricht niemand über uns“

Schon auf Seite 9 wehrt sich der namenlose Mann auf seine Weise gegen allseitige Überforderung durch anbrandende Wirklichkeit: „Ich schloss die Fenster und schaltete aus Ratlosigkeit das Radio ein.“

Doch dort läuft ein läppisches Gewinnspiel. „Es war unglaublich: Solche zerknautschten Hausfrauenspäße machte der Rundfunk immer noch.“

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Nirgendwo scheint Rettendes zu wachsen, nicht einmal im Rückzug.

Sehnsucht nach Bedeutsamkeit

Auch in seinem neuem Roman, der den bereits zagend klingenden Titel „Außer uns spricht niemand über uns“ trägt, lässt Wilhelm Genazino wieder (s)einen überaus empfindlichen Menschen durch die Stadt streifen und ratlos im Zimmer sitzen, der den Alltag als ungeheure Summierung und Verdichtung kleinster Vorfälle erlebt, welche sich noch und noch häufen und als vielfach zersplittertes Rätsel vor ihm aufragen. Nur wenige Anblicke bieten Labsal, die meisten Erlebnisse verstören.

Eine tiefere, dauerhafte Bedeutung erschließt sich ihm aus all den winzigen Beobachtungen jedenfalls nicht. Dabei sehnt er sich so sehr nach einem bedeutsamen Leben. Doch wie soll man das anfangen, angesichts all der Unübersichtlichkeit?

Unendliche Fortschreibung

Genazinos Romane muten zuweilen wie eine endlose, freilich immer wieder faszinierend genaue Fortschreibung an: Der Ich-Erzähler, naher Verwandter und Wiedergänger bisheriger Figuren des Autors, ist diesmal ein gescheiterter Schauspieler, welcher sich damit durchhangelt, den einen oder anderen Text für den auch unter Sparzwang stehenden Rundfunk zu sprechen. Wegen Geldknappheit muss er sich daher schon mal herbeilassen, Modenschauen in der Provinz zu moderieren. Eine immerhin noch schuldenfreie Existenz, doch nur knapp oberhalb des Prekariats am Rande des Kulturbetriebs.

Zwischendurch hat dieser Mann also viel übrige Zeit zum Grübeln beim eher freudlosen Flanieren (auch Bahnhöfe und Museen sind keine rechten Fluchtorte mehr wie ehedem). Vor allem sinniert er über seine rundum ungeklärte Beziehung zu Carola, deren Tattoo- und Marathonlauf-Anwandlungen ihn irritieren.

Täppische Tröstungen

Ob sie in seine kleine Wohnung zieht, ob sie beide noch Kinder haben wollen, inwiefern sie überhaupt treu sein will – alles bleibt unentschieden in der Schwebe. Es ist eine zuwartende Zuneigung mit täppisch rührenden Momenten, eher unbeholfene Tröstung als Erotik, sozusagen kuschelndes Rest-Sexeln.

Seine Erinnerung schweift zurück zu früheren Begebenheiten mit diversen Frauen, die zumeist einen absurden oder peinlichen Beigeschmack haben. Doch was heißt schon Erinnerung? „Die fehlenden Erlebnisse betätigten sich als Geschichtenfinder und füllten dreist die Erinnerung.“ Auch da gibt es keinen verlässlichen Halt.

Keine Erlösung in Sicht

Die allumfassende Unentschiedenheit mündet in solche Sätze: „Es geschah nichts, es wurde keine neue Schuld sichtbar, aber es trat auch keine Durchsichtigkeit ein und keine Erlösung.“ Große Worte.

In ruhigeren Phasen genießt der Erzähler seine eigene Zerstreuung, er will dann gar nichts anderes mehr. Doch dann naht wieder schleichendes Ungenügen – oder es springt ihn geradezu an.

Zerlumpte Menschen

In sämtlichen Lebens- und Text-Fasern spürbar ist eine soziale Unsicherheit, deren Niederungen sich auch im Stadtbild als öffentliches Elend zeigen: „Ich sah die zunehmende Zerlumptheit der Menschen…“ Es sind nicht nur Übungen in bloßer Empfindsamkeit, dies ist ein sozialer Roman über die Wirklichkeit in unseren Städten, ob sie nun Frankfurt oder sonstwie heißen.

Und wie geht es mit Carola weiter? Katastrophal. Erst erleidet sie eine Fehlgeburt, dann verlässt sie ihn – allerdings auch nicht so ganz richtig. Bald darauf folgt, quasi in einem Nebensatz, die nahezu banale Mitteilung: „Carolas Selbstmord war für alle, die Carola kannten, ein Schock.“ Ja, was denn auch sonst?

Helden der Verschrobenheit

Es reihen sich nun Szenen und Inbilder der hilflosen Trauer, des Stillstands. Überforderung wird vollends zum alles beherrschenden Hauptwort. Gleichzeitig erweisen sich manche Mechanismen der Wahrnehmung als verschlissen. Auch das bislang so heilsame Gehen durch die Stadt hilft wohl nicht mehr. Wo ist die wahre Gegenwart, die nicht gleich wieder vermodert?

Dass ausgerechnet Carolas Mutter die nächste Frau ist, mit der der traurige Held schläft, mag man eigentlich kaum für möglich halten. Und doch hört es sich seltsam glaubhaft an.

Wilhelm Genazino schreibt nach wie vor eine Prosa, der man – auch wenn sie sich im Duktus perpetuiert – mit angehaltenem Atem folgen kann. Man darf möglichst keinen Satz überlesen, keine Regung übersehen. Wer gern aphoristisch zugespitzte Passagen anstreicht, wird ein Genazino-Buch am Ende übersät vorfinden. Und immer wieder liest man staunend von der mal sanften, mal schroffen, immer aber geradezu heldenhaften Verschrobenheit, mit der sich Genazinos Gestalten der zerfaserten Realität stellen.

Übrigens: Gibt es eigentlich schon germanistische Aufsätze über das Motiv der Jacke in Genazinos anschwellendem Oeuvre? Wenn ich mich nicht irre, scheint das Utensil spätestens seit seinem Buch „Der Fleck, die Jacke, die Zimmer, der Schmerz“ immer wieder an markanten Romanstellen aufzutauchen.

Wilhelm Genazino: „Außer uns spricht niemand über uns“. Roman. Hanser Verlag. 155 Seiten. 18 Euro.




Wenn die Historie persönlich wird – „Die Liebesgeschichtenerzählerin“ von F. C. Delius

die Liebesgeschichtenerzählerin Die Strandpromenade von Scheveningen im Jahr 1969: Eine Frau, Marie, sitzt auf einer Bank, schaut dem Wellenspiel zu, atmet die herbe Seeluft. Sie ist von Haus aus die Ostsee gewohnt, die rauen Gezeiten der Nordsee sind ihr neu, die Kraft, welche dieses Meer entfaltet, ebenfalls.

Dennoch spürt sie etwas von dieser Kraft in sich. Sie ist dieser Tage frei von Pflichten, Mann und Kinder kommen auch einmal ohne sie zurecht. Finanziell scheint es in ihrer Familie aufwärts zu gehen, das gibt ihr ungewohnte Freiheiten. Sie hat Zeit und Muße, sich auf sich selbst und ihre Ambitionen zu konzentrieren.

So recherchiert sie in niederländischen Archiven den Liebesgeschichten ihrer Vorfahren hinterher. Den Liebesgeschichten, von denen sie schon lange spürt, dass sie erzählt werden sollten. Die Geschichte des ersten Königs der modernen Niederlande, der mit einer Berliner Tänzerin eine uneheliche Tochter zeugt, welche wiederum in ihre mecklenburgische Adelsfamilie verheiratet wird. Die Geschichte des Urenkels der Tänzerin (Vater der Erzählerin), der Geschehnisse aus seiner Zeit als kaiserlicher U-Boot Kapitän nie ganz verwunden hat. Und schließlich ihre eigene Geschichte. Sie hat einen Spätheimkehrer geheiratet, einen Gutsbesitzersohn. Und  sie entfernt sich immer weiter von ihm.

Friedrich Christian Delius, Träger des Georg-Büchner-Preises, verarbeitet auch in seinem neuen Roman „Die Liebesgeschichtenerzählerin“ Teile seiner eigenen Familiengeschichte. Delius‘ Romane beschäftigen sich meist mit der bundesrepublikanischen Geschichte, so ist er auch einer der Wenigen, die sich literarisch an den „Deutschen Herbst“ wagten. Diesmal erzählt er Sequenzen aus dem ganzen letzten Jahrhundert, dieser von Kriegen nie vorher dagewesen Ausmaßes geprägten Epoche, wobei die Liebesgeschichte des niederländischen Königs und der Berliner Tänzerin dem Leser schon aus „Der Königsmacher“ bekannt sein könnte.

Marie nun, die designierte Liebesgeschichtenzählerin, ist das literarische Denkmal für Delius‘ Tante, Irmgard von der Lühe, die ihr Studium für die Familie abbrach und sich erste Sporen als Biographin verdiente – wie Marie. Von der Lühe publizierte auch später noch, allerdings sind von ihr keine Romane veröffentlicht. In Delius‘ Roman bleibt folgerichtig das Ende offen: Wird Marie es wirklich schaffen, „die Liebesgeschichtenerzählerin“ zu werden? Sie verspürt den inneren Drang, „altes verborgenes Wissen von Not, Liebe und Schmerz als von den Vorfahren geerbtes Wissen weiterzugeben“.

Diese Marie ist keine Rebellin, sie will auch nicht ausbrechen aus ihrem Leben als umsichtige Hausfrau und Mutter, sie mag dieses Leben. Aber sie hofft darauf, dass dieses Leben auch für sie nun Zeit und Gelegenheit bereithält, ihrem kreativen Gestaltungswillen Raum zu geben. Wobei der Leser nie so recht weiß, ob die Recherche für Marie nicht doch eher so etwas wie eine Flucht aus der Realität bedeutet, um sich nicht allzu tief mit der eigenen Vergangenheit als ehemaliges BDM-Mädel auseinandersetzen zu müssen. Dennoch zeigt Delius anhand ihrer Geschichte, wie sehr politische Geschehnisse in das Leben Einzelner eingreifen. Sehr greifbares Anschauungsmaterial gerade auch in unseren turbulenten Zeiten, besonders auch für diejenigen, die meinen, aktuelle Geschehnisse hätten mit ihnen und ihren Leben nichts zu tun.

Delius erzählt mit leiser, sehr eleganter Sprache, seine Figuren beschreibt er behutsam, immer eine gewisse Distanz wahrend. Auch kritischen Themen wie dem der deutsch-niederländischen Aussöhnung nähert er sich mit sehr viel gebotenem Respekt und Feingefühl.

So wie das Ende des Romans offen bleibt, ist auch im Roman selbst bei weitem nicht alles auserzählt. Die Leser mögen die Gelegenheit nutzen, Bruchstücke aus dem eigenen Erinnerungsfundus hinzuzufügen. Auf das, was Marie berichtet, hat sie einen liebevollen Blick, sie ist keine Zynikerin. Auch wenn sie – typisch für ihre Generation – beim Anblick der „Hippies“ im Amsterdam nicht anders kann, als zu denken, ihre Geschichte möge dazu beitragen, dass diese Gestalten erkennen, wie gut sie es doch haben.

Im Roman nimmt die Vater-Tochter-Beziehung einen weiten Raum ein. Viel eher noch als das, was man von einer „Liebesgeschichtenerzählerin“ erwartet, ist er das eigentliche Thema der Marie: der Vater, der nach dem enttäuschten Kaiser-Gehorsam nahtlos zum Gottesgehorsam wechselte und Marie unbewusst im Geiste des calvinistisch geprägten Teils der Niederlande erzog. Aber sei es drum: Ist die Vater-Tochter-Beziehung nicht auch eine Liebesgeschichte? Die, aus der sich weitere entwickeln? Insofern folgt Marie dem Leitsatz ihres altes Deutschlehrers: Schreiben heißt ordnen. Auch einordnen.

Im Zug auf der Rückfahrt von den Niederlanden am Rhein entlang ordnet Marie das Recherchierte in ihr eigenes Leben ein: Sie ist eine Überlebende und sie ist stolz darauf. Marie ist fest entschlossen, noch vor ihrem Fünfzigsten sich im Familienleben einen neuen Platz als „Liebesgeschichtenerzählerin“ zu erobern und keine Rücksicht mehr darauf zu nehmen, was vor den Augen der Eltern und des Ehemanns Bestand haben könnte. Und vor allem will sie nicht mehr den vom Vater eingebimsten Familien-Imperativ „Schlucks runter, schlucks runter“ befolgen. Immerhin.

Friedrich Christian Delius: „Die Liebesgeschichtenerzählerin“. Roman. Rowohlt Berlin. 206 Seiten, € 18,95.




3000 Liebesschlösser bitte im Stadion abholen – In Oberhausen dürften viele Tränen fließen…

Über die Emschergenossenschaft und den Regionalverband Ruhr erreicht uns eine bemerkenswerte Nachricht: Für die illuminierte Oberhausener Emscherkunst-Brücke („Sinky Springs to Fame“) soll ein neues Brückengeländer für rund 100.000 Euro errichtet werden.

Das allein wäre ziemlich normal. Aber die Begründung lässt aufmerken. Anscheinend tragen die Liebenden und wohl vor allem die Entliebten mit den mutmaßlich etwas schlichteren Gemütern Schuld am Erneuerungsbedarf. Sie haben am bisherigen Brückengeländer mehr als 3000 (!) so genannte „Liebesschlösser“ angebracht. Leute mit Geschmack sehen diese Dinger ohnehin stets mit einer Mischung aus Seufzen und Stöhnen. Oder so.

Vergleichsweise harmlos: "Liebesschlösser" an einer Brücke im Dortmunder Rombergpark. (Foto: Bernd Berke)

Vergleichsweise harmlos: „Liebesschlösser“ an einer Brücke im Dortmunder Rombergpark. (Foto: Bernd Berke)

Doch schlimmer noch: In Oberhausen ging es offenbar ziemlich rabiat zu. Vielleicht im Suff und Zorn über zerbrochene „Beziehungen“ wurden zahlreiche Schlösser gewaltsam entfernt. Die dadurch entstandenen Schäden am Geländer sollen, so heißt es, schon eine Gefahr für die Sicherheit gewesen sein. Wobei die Schwelle des Unsicherheitsgefühls in Deutschland ja weltweit die niedrigste sein dürfte.

Jedenfalls zieht man jetzt in Oberhausen zwei Konsequenzen: Erstens erneuert man das Geländer und zweitens ist es künftig verboten, dort Liebesschlösser anzubringen. Vor allem Punkt zwo klingt vernünftig, doch fragt man sich, wie das Verbot überwacht und durchgesetzt werden soll. Kameras? Wachleute? Hunde?

Den letzten Satz der Pressemeldung zitieren wir wörtlich, die verbliebenen Schlösser vom alten Geländer werden nicht einfach fortgeworfen, sondern: „Besitzer eines Liebesschlosses können dieses am 12. Dezember, ab 16 Uhr, im RWO-Stadion auf der Emscherinsel abholen.“ Das muss man sich mal vorstellen: im Stadion! Es ist zu und zu schön. Hach.

Ich sehe schon die Boulevard-Fotografen dort herumlungern, denn das dürfte ein – um im bunten Redaktions-Jargon zu reden – „emotionaler“ Termin werden, bei dem (so oder so) manches Tränchen fließen wird, ob nun der Rührung oder der Wut. Doch auch dabei fragen wir uns, ob man für die Aushändigung eines Schlosses die Ausweise vorzeigen muss, damit wenigstens die Vornamen stimmen (hat da jemand „Chantal & Kevin“ gesagt?). Mag aber sein, dass treuherzige Blicke reichen.




Das Unheil der Liebe – Auftakt zu Luc Percevals Zola-Trilogie bei der Ruhrtriennale

Foto: C.Smailovic

Szene aus „Liebe. Trilogie meiner Familie 1“ (Foto: Carmin Smailovic)

Luc Perceval, seit Jahren Garant für außergewöhnliche Inszenierungen, baut für die Ruhrtriennale eine Trilogie nach dem Romanzyklus von Emile Zola, „Les Rougon-Macquart“ (1893). Teil 1 – „Liebe. Trilogie meiner Familie 1“ wurde jetzt in der Gießhalle im Landschaftspark Duisburg-Nord aufgeführt.

Man sitzt im Halbfreien, zwar ein Dach über dem Kopf, aber der Wind fegt etwas Wirklichkeit in die unglückselige Szenerie. Es geht im ersten Teil um Liebe und die ist in diesem Fall ein reiner Unglücksfall. Oder ist das Unglück programmiert? Wird man in Situationen hineingeboren? Sind Herkunft und Stand von vorneherein Schicksal, dem kaum zu entkommen ist? Das Thema klingt heutig und es wird in der Bildungsstatistik täglich betont.

Auf der Bühne gibt es ein Oben und ein Unten, allerdings bewegen sich die Figuren auf dem oberen kleinen Hügel immer am Rande des Abrutschens. Unten ist mehr Ruhe, herrscht halbwegs vornehmes Unglück. Wie ein verbeultes Schiff, festgeklemmt in unruhiger See, im Auf und Ab – zeigt uns die Szenerie Versatzstücke von Beziehungen.

Gabriele Maria Schmeide gibt die Gervaise, eine Wäscherin. Wenige glückliche Momente werden vom Überlebenswillen überdeckt, der sich ums Brot dreht, also ums Auskommen mit dem Einkommen. Da liebt man, wen man braucht und sie ist auf der ewigen Suche nach Glück, das anhält. Ihre Männer sind kein Halt, ihre Kinder kommentieren das zerrüttete Familienbild. Allein sie zu erleben in dieser Rolle, ist ein Erlebnis.

Die besser gestellte Familie des Dr. Pascal ist auf dem absteigenden Ast. Stephan Bissmeier vergöttert seine Ziehtochter vergöttert und gibt sein Geld gedankenlos für Schönes aus. Auch hier Unheil – Verzicht, Verzweiflung, Verstoß. Der Ruf ist hin und somit auch die Liebe. Welch ein Sittenbild!

Die Inszenierung ist gutes Stadttheater mit ausgezeichneten SchauspielerInnen des Hamburger Thalia-Theaters. Die Aufführung in der Gießhalle gibt dem Ganzen einen atmosphärischen Mehrwert. Moderner Schnickschnack findet nicht statt. Es ist, wie es war oder vielleicht immer noch ist. Paare verlassen das Stück in engerer Nähe als vorher. Haltet Euch fest und genießt die glücklichen Momente!




„Das Nichts und die Liebe“: Ingo Munz‘ Versuch über den geglückten und den missratenen Tag

Zwei Männer und eine Frau, doch zum Glück keine Dreiecksbeziehung. Oder wenn, dann eine abstrakte. Denn alle drei verbindet ein Hang zum Philosophischen.

Die Versuchsanordnung: Ein trostloser Abend, dem ein katastrophal verlaufender nächster Tag folgt, wird parallel zum Modell seines scheinbaren Gegenteils erzählt, einem äußerst gelungenen Abend, einschließlich der Nacht und des folgenden Morgens. Hier der gedankenverlorene einsame Mann, dort das harmonisierende, äußerlich perfekte Liebespaar.

Quelle: www.ingomunz.com/presseinformationen/

Quelle: www.ingomunz.com/presseinformationen/

Der einsame und fast geldlose Grübler heißt Robert, und wir können ihn uns vielleicht ein bisschen wie eine Figur aus einem Roman oder einer Erzählung Robert Walsers vorstellen, oder, wenngleich er ein Mann mit Eigenschaften ist, uns an die Gedankenprosa von Robert Musil erinnert fühlen.

Über den Anlass seiner Reise in eine ihm fremde deutsche Großstadt erfahren wir gleich zu Beginn, dass es um das Wiedersehen mit einer Frau geht. Am Tag seiner Ankunft versetzt sie ihn, und so spaziert er allein durch die „windige“ Stadt, beobachtet Menschen in einer heruntergekommenen Kneipe („Hier, hier sterben die Leute“) und anschließend in einer stärker herausgestylten Café-Bar, die sich für ihn nur auf eine andere Art als traurig erweist.

Währenddessen (oder an einem anderen Abend?) gibt die gutaussehende Jung-Philosophin Rebekka in ihrem Appartement am alten Hafen von Marseille dem langjährigen Freund ihres Vaters ein mehr als zärtliches Stelldichein. Er hat alles zu bieten, was heutzutage von einem erfolgreichen Philosophen erwartet wird – Fernsehauftritte, körbeweise Fanpost und natürlich beste Chancen nicht nur bei der Tochter seines Freunds, die er schon als kleines Mädchen kannte.

„Das berühmte achtzehnte Kapitel“ (der in Essen lebende Autor nennt es so) spart nicht an deutlichen Beschreibungen von Körperstellen und -vorgängen, doch weit von Pornographie entfernt, wird vielmehr über den Einfluss von Pornographie auf zeitgemäße sexuelle Praktiken nachgedacht. Deren Ausübungen entbehren nicht der Mühsal, aber am Ende gelingt es dem schwächelnden Philosophen, mit Methode, Erfahrung und Rebekkas Mitarbeit die Nacht zu einem gelungenen Abschluss und in deutlich abgekühlte, jedoch die gute Form wahrende, Frühstücksdialoge zu retten.

Wer historisch und regional weitgefächert liest, den können Ingo Munz‘ gewählte Spracheigentümlichkeiten nicht abschrecken – wie die durchgängig starke Konjugation von „fragen“ (frug), die wiederholte Voranstellung richtungsanzeigender Präpositionen (nur ein Beispiel: „fast blickte der Philosoph weiterhin hindurch Rebekka auf die Badezimmertüre“) oder ein zuweilen an Hölderlin-Gedichte erinnernder Satzbau. Vielleicht wären zur Kennzeichnung der Grundstimmungen, die diesen Roman tragen, aber auch die Namen der anderen Autoren aussagekräftig, die Ingo Munz in seinem Erzählwerk nennt: Samuel Beckett, Rolf Dieter Brinkmann, Françoise Sagan, Georges Bataille.

Dass sich erst auf den letzten fünfzig Seiten Zusammenhänge schließen, weitere Personen ins Spiel kommen, vom Autor bis dahin zurückgehaltene Informationen mitgeteilt werden – wie (relativ belanglos) der Name der Stadt oder (wichtiger) Roberts Beziehung zum „Anlass seiner Reise“ – bedeutet nicht, alles Vorausgegangene sei lediglich ein langer Anlauf. Keineswegs. Seite für Seite bietet das Buch beeindruckende Beschreibungen, originelle Vergleiche, hübsche Formulierungen. Nicht zuletzt gibt Ingo Munz durch dezent eingesetzte Schlüsselwörter sein Informiertsein über aktuelle Debatten auf den Grenzgebieten von Philosophie, Soziologie, Kommunikationstheorie und Ideen zur Schonung unseres arg ausgebeuteten Planeten zu erkennen.

Warum Roberts Ausflug so völlig misslingt (nicht literarisch), kann nicht verraten werden, ohne einen der wenigen Momente von Handlungsspannung in diesem reflektierten Werk preiszugeben. Und schließlich darf nach dem Ende der Lektüre jede Leserin und jeder Leser für sich entscheiden, wessen Lebensweise gelungen und wessen missraten ist.

Bleibt nur noch zu sagen übrig, dass „Das Nichts und die Liebe“ – über die literarische Schönheit hinaus – ein ästhetisch erfreuendes, in der Gestaltung und mit Zeichnungen von Stefan Michaelsen handwerklich gut gemachtes Buch ist.

Ingo Munz: „Das Nichts und die Liebe. Ein gänzlich humorloses, dafür durchaus politisches Erzählwerk“. Mit 25 Zeichnungen von Stefan Michaelsen, 216 Seiten, Fadenheftung mit Umschlagprägung. Verlag Ingo Munz, Essen (ISBN: 978-3-944585-03-1). Preis: 24,90 Euro.




Geistig angereicherte „Stellensuche“ – André Comte-Sponvilles kleine Sex-Philosophie

978-3-257-06924-2Was macht ein Philosoph, wenn er mal ordentlich abverkaufen will? Richtig, er schreibt ein Buch, das beispielsweise so heißt: „Sex. Eine kleine Philosophie“.

Andererseits hat man in lüsterner Laune relativ wenig mit Philosophie im Sinn. Egal. Der Franzose André Comte-Sponville, ehemals Philosophie-Professor an der Sorbonne, hat ein Buch herausgebracht, das auf Deutsch just so heißt wie oben erwähnt.

Und was steht drin?

Nun, zunächst der Versuch einer Definition von Sexualität an und für sich. Beim Menschen ist sie bekanntlich von der bloßen Fortpflanzung entkoppelt, sie speist sich zudem aus dem Trieb, weniger aus Instinkt. Obwohl wir immer auch Tiere bleiben. Auch behalte der Sex – aller rüden Pornographie zum Trotz – stets einen Rest an Geheimnis.

Na, und so weiter.

Sodann gibt’s einen flotten Streifzug durch ein paar Gefilde der Philosophie-Geschichte, entlang der großen Namen wie etwa Platon, Epikur, Augustinus, Spinoza, Montaigne (dem besondere Aufmerksamkeit zuteil wird), Kant, Schopenhauer, Nietzsche, Sartre und Bataille. Wer hat was zur Sexualität gesagt, welche Passagen lassen sich herauspicken und dingfest machen? Jaja, die gute alte „Stellensuche“.

Nur ein paar Beispiele. Kant sieht in der Sexualität vorwiegend Erniedrigung am Werk, da hierbei das Geschlechtliche im Vordergrund und das Menschliche hintan stehe. Laut Schopenhauer ist der Sex der Brennpunkt des Willens, und natürlich hat der Erzpessimist in der Fortpflanzung vorwiegend die Fortsetzung des Leids der menschlichen Gattung kommen sehen.

Bei Nietzsche, der sich immerhin gegen die christliche Sex-Verteufelung ausspricht, heißt es dann kurz und bündig: „Des Mannes Art ist Wille, des Weibes Art Willigkeit…“ Noch aphoristischer zugespitzt im „Zarathustra“: „Das Glück des Mannes heißt: ich will. Das Glück des Weibes heißt: er will.“ Bei Bataille stehen Überschreitung und Gewalt im Zentrum. Wo immer ein Gesetz walten will, da wird es umso lieber gebrochen. Im deutschen Text fällt hierbei häufig das Wort „aufwühlend“. Wer wollte da widersprechen?

Genug. Das alles ergibt eine hübsche kleine Sammlung, die allerdings nicht immer vielsagend und vielfach ziemlich unzeitgemäß erscheint. Was ja auch unser Fehler sein könnte. André Comte-Sponville müht sich nach Kräften, noch halbwegs brauchbare Äußerungen der Philosophen den heutigen (Geschlechter)-Verhältnissen und also dem jetzigen Zeitgeist anzubequemen.

Geistig angereicherte Erotik grenzt Comte-Sponville sorgsam von der Pornographie ab. Fortdauerndes Begehren stellt er über schnöde Befriedigung, wobei das Begehren als Mangel und als Vermögen betrachtet werden könne. Gut, dass wir darüber geredet haben. Auch über Phänomene wie Burka und Nudismus. Und immer wieder über das Animalische in uns.

Unterwegs entstehen zahlreiche Klammer-Sätze (immer gilt es einzuschränken), die von einer gewissen Hilflosigkeit künden. Wollten wir manches komplett zitieren (etwa den ungelenken letzten Absatz auf Seite 157), so würden Leser(innen) dieser Rezension zu schlummern beginnen. Hallo?!

Ob das Ganze auf Französisch anders wirkt? Mag sein. Sie haben ja fürs Leibliche die schöner klingenden Worte. Aber auch der schiere Wohlklang dürfte die Sache nicht retten. Wobei man der Gerechtigkeit halber sagen muss, dass dies Buch aus einem Essay besteht, der einer umfangreicheren Originalausgabe („Le sexe ni la mort“) entnommen wurde. Immer diese Häppchen.

Auf Deutsch ist’s jedenfalls keine prickelnde oder lustvolle Lektüre, sondern es sind Gedankenspiele, die recht fruchtlos um sich selbst kreisen. Mal wieder ein Buch, in dem die Sexualität zerredet wird.

André Comte-Sponville: „Sex. Eine kleine Philosophie“. Aus dem Französischen von Hainer Kober. Diogenes Verlag, Zürich. 169 Seiten. 19,90 Euro.




Sie geht, er geht auch: „Gift. Eine Ehegeschichte“ am Schauspielhaus Bochum

Irgendwann steht die Frau ganz alleine auf der Bühne der Bochumer Kammerspiele, der Theaternebel wabert langsam ins Publikum und mit ihm eine große Traurigkeit, während die Frau sich mit geschlossenen Augen dem Regen hingibt.

Die namenlose Frau (Bettina Engelhardt), die vor zehn Jahren erst ihr Kind, dann sich selbst und dann ihren Mann verlor, hat diesen gerade zum ersten Mal seit zehn Jahren wiedergesehen – auf dem Friedhof, auf dem das gemeinsame Kind liegt. Denn Jacob soll umgebettet werden: Der Boden des Friedhofs ist vergiftet. Die Frau fühlt sich nun bereit für die gemeinsame Trauerarbeit, die direkt nach dem tödlichen Unfall des Kindes unmöglich war. Doch ihr Ex-Mann (Dietmar Bär) fand eine andere Strategie der Bewältigung. Er, der sie nach dem Unglück verlassen hatte, hat sich „damit abgefunden, dass das Kind jeden Tag fehlt“, und ist nun dabei, eine neue Familie zu gründen.

Szene aus "Gift. Eine Ehegeschichte" mit Dietmar Bär und Bettina Engelhardt (Foto: Diana Küster/Schauspielhaus Bochum)

Szene aus „Gift. Eine Ehegeschichte“ mit Dietmar Bär und Bettina Engelhardt (Foto: Diana Küster/Schauspielhaus Bochum)

„Gift. Eine Ehegeschichte“ heißt das Zweipersonen-Stück der holländischen Autorin Lot Vekemans, das am Samstag Premiere in Bochum hatte. Ein dichtes, intensives Konversationsstück, das davon erzählt, wie es sein kann, wenn ein Paar ein Kind verliert. 80 Prozent aller Ehen, heißt es, scheitern nach einer solchen privaten Katastrophe.

Ricarda Beilharz‘ Bühne spiegelt das Seelenleben der Eltern: Alle Erinnerungen und Spuren sind noch da, notdürftig verpackt und verhüllt. Weißer, fließender Stoff bedeckt Wände und Boden, Möbel und Kinderzimmerausstattung. Ein nur auf den ersten Blick leerer Raum, der auch an das Innere eines Sarges erinnert – und damit an die unendliche Einsamkeit der Trauernden.

Die Szene, in der sich der Nebel (das Gift?) verzieht und der Regen kommt, liegt genau in der Mitte des Stücks. Bislang war zu sehen, wie Mann und Frau die riesige emotionale und räumliche Distanz versuchen, in den Griff zu bekommen. Denn nicht nur der Friedhofsboden, auch die Atmosphäre ist vergiftet. Es dauert keine fünf Minuten, da verfallen die ehemaligen Partner in vertraute Mechanismen: „Ich rede von Jacobs Umbettung, du redest von den Kosten!“, wirft sie ihm vor. „Leiden macht süchtig, findest du nicht auch“, stichelt er. Die alten Psychospielchen. Er geht, er kommt zurück. Sie geht. Er geht auch.

Im Stücktext folgt dann eigentlich die Wende: Mann und Frau finden nach und nach im Gespräch wieder zu einer gemeinsamen Sprache, erinnern sich an die letzten Minuten mit ihrem Kind und schaffen es, ihre Geschichte nachträglich in Würde zu beenden.

Regisseurin Heike M. Götze hat sich etwas anderes ausgedacht. Bei ihr geht die Geschichte nach der Regen-Szene zunächst noch einmal von vorne los – allerdings mit vertauschten Rollen. Im zweiten Durchgang ist die Frau diejenige, die einen neuen Partner gefunden hat und schwanger ist. Der Mann ist zurück geblieben und hat sich in seiner Trauer eingerichtet. Das Publikum erlebt die gleichen Dialoge noch einmal – aus anderer Perspektive.

Damit rückt das Geschehen zwangsläufig ein Stück vom Zuschauer weg, der nun nicht mehr eine individuelle Geschichte sieht – sondern eine Studie zur Trauer- und Beziehungsarbeit. Götze nimmt dem Stück damit seine Wucht und Intensität. Der Erkenntnisgewinn bleibt dagegen gering und ein wenig im Vagen: Was soll das Experiment bedeuten? Dass Trauerstrategien nicht geschlechtsspezifisch sind? Dass Verständigung nur funktioniert, wenn man mal die Perspektive wechselt? Dass es keinen Unterschied macht, wie man nach so einem Ereignis weitermacht – Hauptsache man tut es?

Bettina Engelhardt und Dietmar Bär gehen ihre (wechselnden) Rollen sehr unterschiedlich an: Engelhardt macht sich komplett durchlässig, wirft sich mit voller Intensität in die Figuren und zeigt Aggression, Zynismus, Hysterie, dann wieder enorme Verletzlichkeit und tiefe, tiefe Trauer. Dietmar Bärs Spiel ist dagegen stark zurückgenommen, zeitweise wirkt er wie ein Stichwortgeber, dessen Sätze nur Reaktionen seiner Partnerin provozieren sollen. Körperliche Interaktion zwischen den Protagonisten findet kaum statt – ein heftiger, fast aggressiver Kuss – ansonsten halten beide die meiste Zeit über größtmöglichen Abstand. „Ich würde mich freuen, ab und zu von dir zu hören“, sagt am Ende die eine Figur. „Ich auch“, erwidert die andere – mehr Happy End kann man nicht erwarten.

Zu den Terminen, Karten unter 0234 / 33 33 55 55.

(Die Kritik erschien auch im Westfälischen Anzeiger, Hamm)




„Wie die Karnickel“: Eine Papst-Äußerung mit weitreichenden Folgen

Herrje! Jessas! Dschieses! Da ist aber der Rauch des Satans in die druckdichte Kabine des päpstlichen Flugzeugs eingedrungen! Hat doch das Oberhaupt der Katholiken verkündet, dieselben müssten sich nicht „wie die Karnickel“ vermehren…

Bergoglio, das war missgetan! Denn ungeachtet möglicher weitreichender moraltheologischer Schlussfolgerungen aus dem tierischen Vergleich meldete sich prompt der Zentralverband Deutscher Rasse-Kaninchenzüchter zu Wort: Die Fortpflanzung deutscher Rasse- und Zuchtkaninchen erfolge in geordneten Bahnen. Sexuelle Ausschweifungen träfen nur auf freilebende Tiere zu!

Um Himmels willen! Das Karnickel - ein Problemtier? (Foto: pixabay/SpiritBunny)

Um Himmels willen! Das Karnickel – ein Problemtier? (Foto: pixabay/SpiritBunny)

Wir folgern aus dieser Expertise: Die langohrigen Mümmelmänner – ach so, es gibt auch kurzohrige? – mögen sich vielleicht in der argentinischen Pampa unkontrolliertem Geschlechtsverkehr mit anschließend überhöhten Geburtenraten hingeben; in Deutschland geht das unter dem Lehramt der Züchter keinesfalls! Und da die Kirche mit den knuffigen Schnüfflern schon mal Pech hatte – die Bibel ordnete sie fälschlich den Wiederkäuern zu –, möchte man dem Heiligen Vater zurufen: Schuster, bleib bei deinen Leisten!

Leisten? Oh! Soeben meldet sich die Interessengemeinschaft Deutscher Qualitätsschuh: Diese mittelalterliche Aussage sei wohl nicht mehr angebracht. Ob ich etwa beabsichtige, die zeitgemäße Herstellung von Fußbekleidung willentlich und wissentlich zu diffamieren. Die moderne, orthopädisch auf dem neuesten Stand befindliche Schutzhülle für menschliche Fortbewegungsorgane komme in ihrer elektronisch gesteuerten Produktion selbstverständlich ohne „Leisten“ aus. Hm – ein übler Fehlgriff. Man sollte nachdenken, bevor man Metaphern nutzt. Ist doch eigentlich klar wie Kloßbrühe, oder?

Moment mal! Kloßbrühe? Da reklamiert die Arbeitsgemeinschaft ostthüringischer Kloßhersteller Kompetenzen für sich. Hätte ich mich jemals der fachgerechten Zubereitung der mitteldeutschen Spezialität oder ihrer bayerischen und k.u.k.-Varianten gewidmet, wüsste ich, dass es ein Kennzeichen des Qualitätskloßes sei, nach dem Kochvorgang eine verunklarte Brühe zu hinterlassen. Und die „dumpling control commission“ der EU meldet sich mit der Information zu Wort, dass die Kloßbrühe nach der 1997 in der Drucksache 97/D/44-238-sh17it von der Kommission festgelegten und für die Gastronomie verbindlichen Standardkochzeit nach ISO 38447 einen Trübungsgrad von -2,4 dump aufweisen müsse. Zum Vergleich: Das Wasser, in dem Politiker zu fischen pflegen, dürfe nach dem Ethikkodex des Europäischen Parlaments keinen Trübungsgrad über -7,8 dump aufweisen. Der Transparenz wegen.

Ich gebe mich geschlagen. Keine Sprachbilder mehr! Schluss mit unsachgerechten Metaphern. Es ist einfach zum Mäusemelk …. Oh, Mist! Wer ist am Telefon? Das Komitee zum Schutz von Quadrupeden? Es sei inhuman, Kleinsäuger der schmerzhaften und entwürdigenden Prozedur des Melkens zu unterwerfen? Ich solle mich doch besser an Turbokühe halten?

Moment, es klingelt. Die Post bringt ein Einschreiben. Absender: Niedersächsischer Hochleistungsrind-Zuchtverband. Wie ich auf die dämliche Idee käme, das zeitgemäße Qualitätsmilchrind werde noch „gemolken“? Vielmehr werde die Milch zitzenfreundlich durch Delactosierungsgeräte auf dem neuesten Stand der Technik schonend aus dem milchführenden Drüsen- und Eutergewebe entfernt! Lieber Papst Franziskus, ich reiche Eurer Heiligkeit die Hand: Was biological correctness betrifft, haben wir noch viel dazuzulernen.




Guten Rutsch…

Alles Gute zum neuen Jahr

wünscht das Team der Revierpassagen

(Foto: Bernd Berke)

(Foto: Bernd Berke)




Das Elend wird seziert – Ingmar Bergmans „Szenen einer Ehe“ im Dortmunder Schauspiel

Szenen einer Ehe

Szene einer Ehe mit (v.l.) Sebastian Kuschmann, Julia Schubert, Uwe Schmieder und Bettina Lieder. (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Es ist so deprimierend. Vermeintlich freie Menschen in einer modernen, selbstbewußten Bürgergesellschaft haben alle Möglichkeiten, ihr Leben zu regeln, und sie schaffen es nicht.

Früher einmal konnte man die Ursachen vieler Probleme in überkommenen Tabus und im verdrucksten Umgang mit der Sexualität finden, lag die Lösung logischerweise in der Überwindung dieser Zwänge. Im schwedischen Mittelstandsmilieu jedoch, das Ingmar Bergman 1973 für einen Fernseh-Sechsteiler portraitierte, ist die Sexualität – oder das Geschwafel über sie – geradezu allgegenwärtig.

Doch der – vermeintlich – freie Umgang mit der Sexualität ist längst schon nicht mehr Teil der Lösung, sondern Teil des Problems. Denn persönliche Freiheit zu haben bedingt ja auch die Fähigkeit, sie sich nehmen zu können. Aber jetzt wird es vielleicht schon zu küchenphilosophisch. Blicken wir lieber zum Dortmunder Schauspielhaus, wo Bergmans „Szenen einer Ehe“ jetzt in einer recht umgangssprachlichen Umsetzung ins Deutsche von Renate Bleibtreu eine Bühnenpremiere erlebten.

Handlungsort ist ein Allerweltswohnzimmer mit eigenen Wänden und seitlichem Flur, eine Bühne auf der Bühne somit, angesiedelt vielleicht in einem Fernsehstudio, das ein Beleuchter ab und zu ausleuchtet (Bühne und Kostüme: Patricia Talacko). Die Mitwirkenden haben keine Rollennamen, was schlüssig ist, da die Rollen im gnadenlosen Partnerschaftsspiel immer wieder wechseln. Zudem zerlegt Regisseurin Claudia Bauer die Reaktionsmuster der Rollen höchst sorgfältig in ihre Bestandteile und ordnet sie verschiedenen Akteuren zu. Die Frau zum Beispiel, die ihr Mann verlassen will, reagiert mit Zorn, mit Klage, mit Flehen, mit dem verzweifelten Versuch, das ganze noch einmal neu auszuhandeln, mit scheinbar cooler Akzeptanz; und mit jedem Stimmungswechsel wechselt auch die Darstellerin. Ähnliches geschieht beispielsweise im Verhältnis von Mann und Frau, die es ebenso wenig miteinander wie ohneeinander aushalten.

Szenen einer Ehe

Ensemble. (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Mal werden Paarbeziehungen in starken, tänzerischen Bildern vervielfacht, mal läßt die Inszenierung die Darsteller pantomimengleich agieren, während Sprecher außerhalb der Szene ihnen Stimmen verleihen, mal ist das Klo der Ort der Selbstbekenntnisse, mal haben alle Eselsköpfe aufgesetzt, mal wird, warum auch immer, das Handlungsentscheidende hinter der Kulisse gespielt und von einer Videokamera übertragen, kurz: das analytische Seziermesser ist gut beschäftigt in dieser Inszenierung.

Doch das macht den Zuschauer, wie gesagt, nicht glücklicher. Denn aus dem Bergmanschen Ehekosmos gibt es kein Entrinnen. Die sprichwörtlichen zehn Prozent Humor, die für den erfolgreichen Verlauf einer Psychotherapie unverzichtbar sind, würden auch hier helfen, aber Bergman gönnt sie uns nicht. Und Regisseurin Claudia Bauer, auch in diesem Punkt sehr auf Linie des Meisters aus Schweden, zeigt eine etwas leichtere, entspanntere Weltsicht lediglich in der Detailzeichnung mancher Paarsituationen, beispielsweise im komischen Geschlechtertausch eines der (rechnerisch) vier Paare.

Szenen einer Ehe

Szene einer Ehe mit Carlos Lobo und Merle Wasmuth. (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Man könnte darüber nachsinnen, ob ein skandinavisch-protestantisches Milieu, das scheinbar nichts tabuisiert, aber alles zur Gewissensentscheidung des Einzelnen macht (und ihn in dieser scheinbar grenzenlosen Freiheit überfordert) zur hier inszenierten Ausweglosigkeit beiträgt. Aber kaputte Ehen gibt es nicht nur im hohen Norden. Nun ja.

Obwohl Erkenntnisgewinn nicht unbedingt das hervorstechende Merkmal dieser Einrichtung ist, besticht sie doch durch einige eindringliche Bilder. Wenn etwa nach der Pause das „Wohnzimmer“ verschwunden ist, die Videokamera dankenswerterweise Pause hat und das Ensemble der „Sprachlosigkeit“ (das Stück hat, wohl in Analogie zum Fernseh-Mehrteiler, Zwischentitel) in einer athletischen Choreographie Ausdruck verleiht, gewinnt sie doch erfreulich an Intensität.

Sehr zu loben sind wiederum Einsatz und Präsenz des Ensembles, das aus Frank Genser, Sebastian Kuschmann, Bettina Lieder, Carlos Lobo, Uwe Schmieder, Julia Schubert, Friederike Tiefenbacher und Merle Wasmuth besteht.

Herzlicher, anhaltender Applaus.

Die nächsten Termine: 4., 21. Dezember 2014, 9., 25. Januar 2015 (Karten 9 bis 23 Euro – Tel. 0231 / 5027 222). www.theaterdo.de




Vom Weiterleben nach einem Todesfall: Angelika Reitzers Roman „Wir Erben“

Mit den ersten Sätzen in Angelika Reitzers Roman „Wir Erben“ mag man als Leser zunächst Schwierigkeiten haben. Doch bald werden sie klar als Widerhall einer Traumsequenz Mariannes, die sich alsbald als erste wichtige, vielleicht wichtigste Figur dieses Romans herausstellt.

Die Ausgangssituation ist interessant. Die vielverzweigte Mehr-oder-minder-Patchwork-Familie Mariannes hat gerade in großer Anzahl Weihnachten miteinander gefeiert bzw. begangen. Nun stirbt kurz danach – wie nebenbei – die „Familien“-Matriarchin Jutta, die Großmutter Mariannes. Die zumeist gerade Abgereisten aus dem großen Kreis der Verwandten, Bekannten, Verschwägerten und Freunde (unter ihnen auch Mariannes Sohn Lukas) werden nun wieder zurückgerufen. Die Beerdigung steht an und bald danach auch der Erbfall.

reitzer_wir_erbenMit dem Tod einer Hauptperson beginnen so manche Romane, in der deutschen Literatur zum Beispiel Jean Pauls „Flegeljahre“ und Wilhelm Raabes „Im alten Eisen“ sowie Hans Erich Nossacks „Der jüngere Bruder“. So werden Vergleiche interessant: Wie unterschiedlich gehen die jeweils Hinterbliebenen mit einem solchen Todesfall um und wie prägt ein derartiger Beginn ein ganzes Buch?

Eines der Hauptthemen des Romans von Angelika Reitzer ist ganz konkret: Wie kommen wir Menschen, insbesondere wir mitteleuropäischen Menschen der Gegenwart und jüngsten Vergangenheit unter diesen ganz bestimmten Bedingungen im jeweiligen Einzelfall mit unserem Leben zurecht? Dabei steht das Leben der Frauen vor allem im Blick, auch wenn Männer durchaus vorkommen und gelegentlich auch eine Rolle spielen.

Das Leben dreier, wenn nicht vierer Frauengenerationen wird – ab und an bruchstückhaft sichtbar gemacht – der Gegenwartsebene unterlegt. Dieses Wichtignehmen der Generationen macht das Buch zu einem Dialogpartner und Gegenstück zum nun schon eine ganze Generation älteren, verdienstvollen Roman Ingeborg Drewitz‘ „Hundert Jahre Gegenwart“.

Liest man das Buch der österreichischen Autorin nicht zügig durch, wird man die genauen Familien-, Bekanntschafts- und Freundschaftsverhältnisse vielleicht nicht immer ganz genau im Gedächtnis behalten. Vielleicht wollte Angelika Reitzer mit dieser Figurenfülle gerade das charakteristisch Patchwortartige der Lebensverhältnisse in unserer Zeit zu betonen? Und das Zurückgeworfensein einer jeden einzelnen Person auf ihr eigenes, ureigenes Leben?

Ich habe ja dieses Buch bis zu Ende gelesen, habe nicht ein einziges Wort, geschweige denn eine ihrer Passagen ungelesen gelassen, obwohl ich nach einigen Seiten nicht mehr ganz so interessiert wie zu Anfang gewesen bin. Aber wenn ich in der Nacht, aus Träumen gerissen oder aus anderen Gründen wach geworden, wieder auf andere Gedanken kommen wollte, habe ich jeweils zu diesem Buch gegriffen, an genau der Stelle, an der ich am Vortag zu lesen aufgehört hatte, weitergelesen und danach wieder weiter gut geschlafen.

Indes: Ein Spannungsmoment gab es in diesem Roman für mich nach wie vor. Erzeugt wurde dies merkwürdigerweise durch die Vorgriffe auf dem Buchumschlag. Zum ersten Mal durfte ich erleben, dass ein Klappentext durch seine Vorankündigungen nicht etwa schon zuviel verrät und damit Spannung im Voraus wegnimmt, sondern dass er gerade durch seine vorwegnehmenden Vorankündigungen eine Spannung und Neugier aufrechterhält, die der Roman selbst (in seinem ersten Teil) aufrechtzuerhalten nicht in der Lage war. Im „Waschzettel“ nämlich ist die Rede von einer zweiten nicht aus Österreich, sondern aus der ehemaligen DDR stammenden Frau, die zur Freundin der Österreicherin, also Mariannes, wird bzw. geworden ist.

Und so habe ich gewartet, bis diese zweite Person mit ihrer wahrscheinlich (und dann auch tatsächlich) ganz anderen Vorgeschichte in diesem Roman auftritt. Und das geschieht erst im zweiten Teil des Romans, einem Teil, der etwa ein Drittel des Gesamtromans umfasst. Und ehe diese zweite zentrale Hauptfigur des Romans vollends in den Blick rückt, schiebt sich die Geschichte ihrer Familie, insbesondere die ihrer Eltern, in den Vordergrund. Kurz vor dem Fall der Mauer flüchtet diese Familie über das „freundliche sozialistische Ausland“ aus der DDR in die Bundesrepublik und kehrt nach einigen dort verlebten Jahren wieder an ihren Ursprungsort zurück, um dort von neuem Fuß zu fassen, was nicht sehr leicht fällt.

Diese Geschichte aus dem zunächst noch getrennten, dann vereinten Deutschland ist recht interessant, hat aber auf den ersten Blick mit dem ersten weit umfangreicheren, vorwiegend in Österreich in der Nähe Wiens auf dem Lande spielenden Romanteil nicht allzuviel zu tun. Wie also wird es der Autorin gelingen, eine glaubhafte Verknüpfung beider Lebensgeschichten herzustellen, habe ich mich bei der Lektüre des zweiten Teils fortlaufend gefragt und dabei die Hoffnung nie ganz aufgegeben, dass durch eine überzeugende Verknüpfung auch der erste Romanteil nachträglich noch aufgewertet werden würde.

Es dauert lange, fast bis zum Ende des Romans, bis sich die beiden Frauen, Marianne und Siri, zufällig zum ersten Mal begegnen, auf der Toilette, in der Pause eines Konzertes in Wien. Daraus entwickelt sich nun nach und nach eine Freundschaft. Eine Liebe auf den ersten Blick, wie sie sich – fast gleichzeitig mit Siris zunächst nur flüchtiger Erstbegegnung mit Marianne – zwischen Siri und „Hans dem Bauer“ spontan ergibt, läuft, obschon zunächst auf scheinbar gutem Wege, ins Leere.

Der zweite Romanteil endet chronometerzeitlich früher als der erste. Umso stärker beschäftigt mich immer noch die Frage, wieso nicht schon im ersten Romanteil wenigstens andeutungsweise von der Freundschaft zwischen Marianne und Siri die Rede gewesen ist, wo doch andere Freundschaften und unproblematische wie problematische Zuneigungen durchaus ausführlich vorgekommen sind. Diese Aussparung kommt zwar romantechnisch der Spannung zugute, hat aber die Logik bzw. die Psychologik nicht so ganz auf ihrer Seite. (Indessen: ein blindes Motiv und eine indirekte Vorausdeutung ist mir aus dem ersten Teil durchaus noch in Erinnerung. Es soll da einmal eine junge Frau, die ursprünglich aus der DDR stammt, von Jutta, ihrer Großmutter empfohlen, bei Marianne als Hilfe eingestellt werden, wozu es aber nicht kommt.)

Was mich jetzt noch an diesem beobachtungssicheren, zeitsymptomatischen Roman interessiert, ist dies: Wie anders lesen (diese oder jene) Frauen diesen Roman als (manche) Männer? Oder sind die Leseunterschiede gar nicht so groß, wie man immer meint?

Zugegeben: Um dem Roman Angelika Reitzers angemessen gerecht zu werden, müsste ich ihn zuvor mindestens noch einmal lesen.

Auf der Seite 322 dieses Romans wird ein Gespräch zwischen Marianne und Siri über Goethes Roman „Die Wahlverwandtschaften“ wiedergegeben. Dort findet man u. a. diese Sätze: „Sie klappte das Buch zu, schaute Siri an. ‚Würdest du ein Buch lesen, das so anfängt?‘ Sie stellte ein anderes Buch ins Regal, auch die anderen, dann schloss sie die Glastür.“

„Würdest du ein Buch lesen, das so anfängt?“, solch eine Frage in ihrem eigenen Roman zu stellen bzw. stellen zu lassen, ist von der Autorin mutig. Auf den ersten Blick. Denn: Vielleicht besteht ja die Hoffnung, dass auch dieser Roman bei abermaliger Lektüre gewinnt.

Angelika Reitzer: „Wir Erben“. Roman. Verlag Jung und Jung, Salzburg und Wien. 343 Seiten, 22,90 €




Die Ferres als Kanzlerin – Romanze geht vor

Wer lässt sich nur solche Romanzen einfallen? Blonde deutsche Bundeskanzlerin, Single und kinderlos, trifft beim Staatsbesuch erstmals den neuen französischen Präsidenten. Beide kommen einander „irgendwie bekannt“ vor.

Und siehe da: Sie hatten vor 25 Jahren – just in Berlin beim Mauerfall – eine heiße Nacht miteinander. Nur: Das Adresszettelchen, das ihr der damalige französische Student ins Handtäschchen steckte, das wurde vom Winde verweht. Ob die Liebe immer noch Bestand hat?

Ein wahres Spitzentreffen

Bei solchen Herzblatt-Angelegenheiten treten auch Polit-Petitessen wie das deutsch-französische Energieabkommen erst einmal flugs in den Hintergrund. „Die Staatsaffäre“ (SAT1) ist also durchaus wörtlich zu nehmen. Das Gipfeltreffen wird sozusagen zum Spitzentreffen, wobei man dann feixend an Spitzenhöschen denken darf.

Dabei wollte die edelmütig, aber auch machtbewusst denkende Kanzlerin Anna Bremer (Veronica Ferres) doch richtig ernsthaft Politik machen und sich auf keine Glamour-Geschichten einlassen. Doch ach! Als der französische Staatspräsident mit dem ähnlich trivialen Namen Guy Dupont (Philippe Caroit) mit einem Model als Begleitung aufkreuzt und der Kanzlerin zunächst die Schau stiehlt, zählen andere Qualitäten. Fortan menschelt und knistert es – gelegentlich bis zur Peinlichkeitsgrenze.

Nackter Präsident

Da gibt’s neckische Szenen noch und noch. Monsieur le Président versteckt sich nahezu nackt im Hotelzimmer der Kanzlerin, in das er sich als Kellner geschlichen hat. Zwei Begleiterinnen des italienischen Regierungschefs (Versuch einer Berlusconi-Parodie) kratzen einander eifersüchtig die Augen aus – vor laufenden Fernsehkameras und zum Quietschvergnügen der penetranten TV-Reporterin namens Gretchen Hammerstein.

Ja, wenn sich Klein-Mäxchen die große Politik ausmalt, dann kommt womöglich so etwas dabei heraus. Mit Angela Merkel und sonstigen Realitäten hatte das jedenfalls herzlich wenig zu tun. Veronica Ferres sagt indessen, sie habe Merkels Haltungen genau studiert. Wahrscheinlich glaubt sie auch, die Hauptrolle in einem politischen Film gespielt zu haben.

Ein bisschen Jux ist auch dabei

Es ist – zumal in den Nebenrollen – auch ein bisschen Jux im Spiel. Da wird ein wenig mit Klischees über Deutsche und Franzosen gescherzt, auch gibt’s den einen oder anderen Ulk über Macho-Attitüden. Stellenweise komisch die deutsche Parteikonkurrenz, die jede Schwäche der Kanzlerin nutzen will und ihr erpresserisch nachspioniert. Doch am Schluss werden alle Gegensätze überwunden.

Die wahre Macht, so muss man anfangs denken, liegt in den Händen der Berater. Der Filou Bernhard (Martin Brambach) sucht der Kanzlerin so manches einzuflüstern – allerdings vergebens. Doch der Darsteller ist stärker als Veronica Ferres, die die Kanzlerin zuweilen wie nach dem Musterbogen einer Zeitschrift für starke Frauen mit Gefühl verkörpert. Vielleicht trotzdem kein Zufall, dass in den Werbepausen viel von Lockenpracht und Haarpflege die Rede war.




Wenn Junggesellen die Sau raus lassen

Ein fast normaler Samstag in der Düsseldorfer Altstadt. Viele Menschen sind unterwegs oder sitzen an den Kneipentischen in der Abendsonne, und fast ebenso viele laufen gruppenweise in seltsamen Uniformen herum – bedruckte T-Shirts mit mehr oder weniger peinlichen Sprüchen. Abschied vom Junggesellen-Leben wird da gefeiert – oder auch vom Junggesellinnen-Leben.

Vor dem "Uerige" geht es nicht immer si gesittet zu. (Foto: Pöpsel)

Vor dem „Uerige“ geht es nicht immer so gesittet zu.          (Foto:Hans H.  Pöpsel)

Schon im Hauptbahnhof beginnt dieses Treiben. Gefühlt jede zweite Menschentraube im Tunnel unter den Gleisen ist in die Landeshauptstadt gedüst, um mit ihrem besten Kumpel oder der treuesten Freundin vor deren Gang zum Traualtar noch einmal die Sau rauszulassen.

Die Braut kennzeichnet meist ein angedeuteter Schleier, am liebsten in Rosa, und mancher Bräutigam wandert in Frauenkleidern durch die Altstadt. Dort müssen dämliche Aufgaben erfüllt werden, zum Beispiel einer fremden Frau den BH abzuschwatzen. Oder ähnlich geistreiche Spiele warten auf Erledigung, und das wird im Laufe des Abends immer schwieriger, weil das Alt in den Adern das Blut ersetzt. Der eine oder andere bricht daraufhin alles wieder aus, und am Morgen danach fragt er sich noch einmal nach dem Sinn der Ehe.

Diese schnell zunehmenden Feierabende sind meines Erachtens ein weiteres Zeichen für einen Wandel im Geschlechterverhalten: Heiraten wird nicht mehr so sehr als lebenslanges Treueversprechen empfunden, sondern als ein weiteres Event im ansonsten trostlosen Büroalltag. Manche Bald-Eheleute beschäftigen sich ein ganzes Jahr mit dem kleinsten Detail ihrer Hochzeitsfeier, damit sie ganz gewiss ein vorzeigbares Erinnerungsstück erhalten. Das „Ja“ im Standesamt scheint da zu einem Nebenanspekt zu werden.

Nun ja, es wird immer noch etwa jede dritte Ehe nach einigen Jahren geschieden, und eine solche Scheidung wird inzwischen gelegentlich auch schon zu einem Event, denn die ersten Scheidungsfeier-Grüppchen wurden in der Altstadt bereits gesichtet.




Tiefen und Untiefen des Alltags: David Gutersons Erzählungen „Zwischen Menschen“

Für die Redewendung, wonach der Alltag die besten Geschichten schreibt, bietet der US-Schriftsteller David Guterson mit seinem neuen Band „Zwischen Menschen“ gelungene Beispiele. Der Autor, der durch seinen Roman „Schnee, der auf Zedern fällt“ weltweit Berühmtheit erlangte, erzählt von menschlichen Begegnungen. In den zehn Episoden erscheint das Aufeinandertreffen der Beteiligten anfangs eher belanglos, bevor sich die eigentlichen Dimensionen erschließen.

Mit jedem Kapitel beweist Guterson sein Talent, die Figuren psychologisch exakt zu taxieren, wodurch ihre Gegensätze und die Spannungen in den jeweiligen Beziehungen deutlich zu Tage treten. Ganz selten nur ist harmonische Stimmung zu spüren, die will auch nicht in der Kurzgeschichte „Paradise“ aufkommen, die davon handelt, dass sich zwei ältere Menschen, eine Soziologin und ein Handelsrechtler, über eine Kontaktbörse kennen gelernt haben und nun auf den richtigen Partner für den Lebensabend hoffen. Doch die Vergangenheit kann manchmal dunkle und vor allem lange Schatten werfen, wenn Kindheits- und Jugenderlebnisse nicht aufgearbeitet werden.

9783455404814„Problems with people“ lautet der Originaltitel des Buches, eine Überschrift, die auf alle Erzählungen zutrifft. Da möchte ein Vermieter wohl gerne enger verbandelt sein mit seiner Mieterin, doch die Annäherungsversuche sind zwar nicht plump, aber auch keineswegs gelungen. Aber selbst wenn er überzeugender aufgetreten wäre, stellt sich die Frage, ob sie ihm wirklich eine Chance gegeben hätte. Diese Geschichte lebt vor allem durch eine aus Sicht des Wohnungsbesitzers eher ungewollte Komik.

Wortwitz prägt vor allem die Zusammentreffen eines Seniors mit der Hundesitterin, die er für seinen Vierbeiner gebucht hat. Die Gespräche lassen den Kontrast zwischen den beiden Menschen überdeutlich werden, doch trotz aller Rivalität entwickelt sich eine tiefe Bindung, die auch noch hält, als der ältere Herr ins Hospiz kommt.

Wie sich das Leben durch Demenz verändert, darüber sind schon Bücher über Bücher geschrieben worden. Guterson schildert das Schicksal eines an Demenz erkrankten Anwalts, der kurz nach seiner Pensionierung die Diagnose erhält. Nun möchte er wenigstens noch die größte innere Belastung loswerden und wissen, wie es um den Sohn bestellt ist, zu dem seit Jahren kein Kontakt mehr besteht. Ob die Entscheidung am Ende aber wirklich so glücklich war, darüber lässt sich vortrefflich streiten.

Immer wieder erweist sich Guterson als Schriftsteller, der die Gefühle der Menschen zu beschreiben weiß, ihren Unmut, ihre Freude, ihre Wut oder auch ihre Verzweiflung. Die prägt das Leben eines Paares, dessen Sohn durch ein Unglück auf einem Schiff starb. Nun müssen sich die Eltern der Situation stellen, dass der Kapitän mit ihnen über den Unfall sprechen möchte.

Die wohl stärkste Geschichte hat sich der Autor für den Schluss seines Buches aufbewahrt. Er schildert darin den Aufenthalt eines Juden in Deutschland, der im Alter von sechs Jahren und kurz vor der Reichspogromnacht mit seinen Eltern aus Deutschland floh. Eine Woche verbringt der Mann nun mit seinem Sohn in dem Land, für das er eigentlich nichts anderes als Verachtung übrig hat.

Als Leser empfindet man tiefe Sympathie für diesen Menschen, der eine Gedenkstätte nach der anderen aufsucht, um das Unfassbare zu verstehen. Am Ende hat er sich in die Reiseführerin verguckt. Krasawize hätte man sie zu seiner Jugendzeit genannt, erzählt er. So lautete der Ausdruck für eine Klassefrau.

David Guterson: „Zwischen Menschen“. Aus dem Englischen von Georg Deggerich, Gerlinde Schermer-Rauwolf und Robert A. Weiß. Hoffmann und Campe, 208 Seiten, 19,99 Euro.




Würdig und töricht zugleich ist die Liebe – Navid Kermani verknüpft Zeiten und Kulturen

Kermani - grosse Liebe Was löst Liebe aus bei einem Menschen und wie verändert er sich dadurch? Dieser Frage geht Navid Kermani in seinem Roman „Grosse Liebe“ in Gedanken nach. Die Liebe – so das Fazit des Romans – ist, muss es sein, was Menschen über alle Kulturen, Religionen und Jahrhunderte hinweg verbindet.

Navid Kermani erinnert sich an seine Schulhofliebe in den 80er Jahren. Fünfzehn Jahre war er alt und es waren nur wenige Tage, in denen er alle Phasen der Liebe durchlebte. Von der alle Sinne verwirrenden Schwärmerei für die Allerschönste aus der Raucherecke im gymnasialen Pausenhof über den ersten Kuss, die erste Aufopferungsbereitschaft bis schließlich hin zum radikalen Bruch, der schroffen Zurückweisung durch die Geliebte. Kermani erzählt von dieser Liebe vor dem Hintergrund der friedensbewegten 80er Jahre und verknüpft seine Erinnerungen mit Erzählungen islamischer Liebesmystiker aus dem 12. und 13. Jahrhundert.

Der zwischen Unschuld und Verzweiflung schwankenden Liebe des 15jährigen stellt er die Erzählung Ibn Arabis über die sagenhaft schöne Leila und den ihr verfallenen Madschnun gegenüber. Die Erkenntnis hier wie dort: Würdevoll und töricht zugleich ist die Liebe, sie adelt den Menschen und gibt ihn gleichzeitig der Lächerlichkeit preis. Nicht ohne Erleichterung kommt der erwachsene Erzähler dennoch zu der Erkenntnis, dass bei aller Narrheit des 15jährigen die hemmungslose Demut des Madschnun seiner Lebenswirklichkeit nicht entspricht und entsprach. „Ich glaube allerdings, der Junge hätte Ibn Arabi den Vogel gezeigt“.

„Grosse Liebe“ ist ein Roman, der von Erinnerungen eines ungestümen Jugendlichen lebt, doch das Buch ist weder als klassischer Liebesroman noch als Coming-of-Age-Geschichte angelegt. Auch die schwärmerische Huldigung an die Schönste ist nur mehr ein Mosaikstein zur Lösung des Rätsels der Liebe. Die Erzählungen der arabisch-persischen Liebesmystik sind das ureigene Metier des habilitierten Orientalisten Kermani. Es sind diese alten, aber zeitlosen Geschichten, mit denen er zeigt, dass sich Liebe nie ändert und mit denen er einen ganz eigenen, sehr behutsamen beschriebenen Beitrag zum Verständnis untereinander über alle Kulturen hinweg leistet.

Wenn einem der Sohn entgleitet

Doch es ist nicht nur das Wesen der Liebe, das er mit der Erzählung dieser (von ihm als rein und wahrhaftig empfundenen) ersten Liebe erinnern will. Gleichzeitig reflektiert er auch die Angst vor dem Verlust, es ist ein Versuch, diese Angst in ihre Schranken zu verweisen. Er will nicht nur seinem eigenen 15jährigen Ich nachspüren, es ist auch sein Weg, seinen nunmehr 15jährigen Sohn zu verstehen.

Der Sohn entgleitet ihm jäh und unvermutet, er verschmäht den häuslichen Geburtstags-Frühstückstisch mit dem liebevoll gebackenen Schokoladenkuchen zugunsten eines Treffens mit Freunden in einer neumodischen Kaffeehaus-Kette. Kermani erinnert sich an den Kummer, den sein durch die Liebe verursachtes irrationales Handeln seinen Eltern bereitet hat. Nicht nur, dass er ohne Meldung über Nacht wegblieb, einmal musste der Vater ihn sogar aus einer Arrestzelle holen. Da ist die Kaffeehaus-Kette ja noch das kleinere Übel.

Kermani erzählt diese Geschichte auf allen Ebenen in einer sehr melodiösen, wohlgesetzten, gleichwohl leicht zu lesenden Sprache, die den Leser angenehm durch die Geschichte gleiten lässt. Wenn überhaupt etwas den Lesefluss unterbricht, dann seine gelegentlichen, bemüht wirkenden Abstecher in die Meta-Ebene. Einhundert Schreibtage habe er sich gegeben, einhundert kurze Abschnitte sollten es werden und sind es geworden. Doch nicht immer passt es so, wie es der um stete Perfektion bemühte Erzähler wünscht. Da wird der Plan mal nach vorne, mal nach hinten geschoben, solange bis die Schönste aus der Raucherecke auch genau in der Mitte der Erzählung ihre Schenkel öffnet. Die Geschichte wirkt dadurch gewollt harsch unterbrochen, warum der Erzähler das allerdings möchte, bleibt im Verborgenen. Vielleicht will er seine gelegentlich ins Schwärmerische abgleitenden Beschreibungen dadurch relativieren, doch das hätte es nicht gebraucht.

Große Rede zum Jahrestag des Grundgesetzes

Navid Kermani gilt in der deutschen Kulturszene als bedeutender Intellektueller, nicht zuletzt auch durch die Gründung der Kölner Akademie der Künste der Welt. Er ist vielfach preisgekrönt, nicht immer unumstritten und hat sich sowohl als Wissenschaftler wie auch als Autor einen Namen gemacht. Er selbst sagt, seine Aufgabe als Autor sei die (Selbst-)Kritik der europäischen und der islamischen Kultur. Im Mai hielt er im deutschen Bundestag eine vielbeachtete Laudatio zum 65. Jahrestag des Grundgesetzes. Getreu seiner selbstgestellten Aufgabe konfrontierte er die Abgeordneten und mit ihnen das ganze Land mit Lob und Kritik gleichermaßen. Er hielt Deutschland einen Spiegel vor, der nicht nur aber doch auch die guten Seiten des Landes zeigte.

Genauso macht er es in seinem Roman mit den Erinnerungen an die 80er Jahre. „Grosse Liebe“ ist kein politisch motivierter Roman, aber die Handlung ist eingebettet in die Zeit der Friedensbewegung, der Demos im Bonner Hofgarten, der Hausbesetzerkommunen. Bis ins kleinste Detail, vom Räucherstäbchenduft über selbstgetöpferte Teetassen bis hin zu den unvergessenen Latzhosen jener Tage lässt Kermani die Atmosphäre wieder auferstehen und rahmt seine Erinnerungen darin ein. Es sind Erinnerungen, die ein Teil seiner Generation kennt und die heute phantastisch naiv anmuten. Leider. Wie auch Kermani bedauernd anmerkt.

Als Altruismus eine Tugend war

Denn so unpolitisch sein Roman auf den ersten Blick daherkommt, ist er denn doch nicht. Es ist eine der ganz großen Stärken des Erzählers, dass immer wieder ein Nebensatz, eine beiläufig gezogene Schlußfolgerung kommt, von der man erst Tage später merkt, dass man dauernd darüber nachdenkt. So zum Beispiel, wenn er aufrichtig bedauert, dass von der Zeit der 80er nichts im kollektiven Gedächtnis der heutigen Bundesrepublik blieb, so dramatisch und umstürzlerisch sie den Beteiligten auch damals vorgekommen sein mag. Er schätze diese Zeit, „weil sie eines nicht war, nämlich cool und ironisch„. Es sei „das bisher letzte Mal in der westlichen Welt gewesen, dass das Gutmeinen, Altruismus, Sanftmut als Tugend galt“ – genau wie in den traditionellen arabischen Geschichten.

Diejenigen aus Kermanis Generation, die seine Erinnerungen an etliche im Buch beschriebene Ereignisse teilen, werden – wenn sie ehrlich zu sich selber sind – zu der Schlußfolgerung kommen: Er hat recht. So idealistisch, so begeisterungsfähig, so vom Glauben an den Frieden beseelt war keine Generation mehr danach und auch diese Generation hat sich längst in den Zynismus geflüchtet. Was daraus resultierte und noch resultieren mag – diese Frage sollte man sich in der Tat stellen, diesen Gedanken in der Tat zu Ende denken.

Und so ist dieses Buch über die Liebe vielleicht auch grundsätzlich zu verstehen. Als Buch nicht nur über die Liebe zwischen zwei Menschen, sondern auch zu den Menschen.

Navid Kermani: „Grosse Liebe“. Roman. Carl Hanser Verlag, München. 224 Seiten, 19,50 €.




Wenn die Idylle in Gefahr gerät – John Cheevers Roman „Ach, dieses Paradies“

Sind es zwei, drei oder vielleicht sogar vier Geschichten, die John Cheever in seinem knapp 120 Seiten umfassenden Roman „Ach dieses Paradies“ miteinander verknüpft? Diese Frage stellt man sich als Leser unweigerlich, will man doch irgendwie die Handlungsstränge verstehen und ordnen.

Aber vollkommen unabhängig davon, auf welche Zahl man sich verständigt: Das Buch, das 1982 (im Todesjahr des Autors) erstmals im amerikanischen Original erschien, besticht durch eine einmalige Erzählkunst. Ihr ist es letztlich zu verdanken, dass die einzelnen Geschehnisse ein Gesamtbild ergeben, mit dem der Autor wohl auch eine Botschaft vermitteln will.

Cheever

Dabei beginnt der Roman eher lapidar, stellt Cheever doch einen älteren Mann vor, der leidenschaftlich gern Schlittschuh läuft. Doch als der Senior eines Tages feststellen muss, dass der Lieblingsort für seinen Lieblingssport, ein idyllisch gelegener Teich, zu einer Mülldeponie verkommen ist, schaltet er sich in die politische Debatte ein. Er holt einen Umweltexperten herbei, der die Gefahren des Vorhabens für Mensch und Umwelt drastisch vor Augen führt, kämpft selbst an vorderster Front, um die Halde wieder verschwinden zu lassen.

Doch dieser Mann namens Lemuel Sears wird nicht nur in seiner Rolle als Umweltaktivist, wie man ihn heute wohl nennen würde, beschrieben, Cheever breitet auch das durchaus verstörende Liebesleben vor dem Leser aus. Dabei überrascht weniger, dass sich der Witwer zu einer jüngeren Frau hingezogen fühlt, die auch gut ohne ihn leben könnte, wie sie offenherzig zu verstehen gibt. Vielmehr ist es die Episode mit einem Fahrstuhlführer, mit dem sich der Naturfreund mir nichts, dir nichts auf ein homosexuelles Abenteuer einlässt.

Sein eigenes Handeln verwirrt Sears derart, dass er einen Psychiater aufsucht, der ihm auf der Suche nach den Beweggründen aber nur wenig weiterhelfen kann. Sears bleibt mit mehr Fragen als Antworten zurück, was sich zunächst auch auf sein Engagement gegen die Deponie übertragen lässt. Das Vorgehen der Behörden findet er befremdlich und unverständlich. Je mehr er sich jedoch in die Entscheidungsprozesse vertieft, umso deutlicher treten die Machenschaften und Intrigen zu Tage, die den Umweltfrevel überhaupt erst entstehen ließen.

Die ohnehin schon komplexe Erzählung erfährt aber noch mehr überraschende Wendungen: ein Barbier, der aus vermeintlicher Geldnot seinen Hund erschießt, die Ehefrau , die mit der Drohung, Lebensmittel zu vergiften, gegen die zu befürchtende Verseuchung des Teiches zu Feld zieht und schließlich das Baby, das auf einem Parkplatz zurückgelassen wird…

Was mag den Schriftsteller wohl motiviert haben, solche vollkommen unterschiedlichen Erzählstränge miteinander zu verknüpfen? Der Titel des Buches bietet dazu durchaus eine Spur an: Das Paradies, das Sears beispielsweise gefunden zu haben glaubt, ist durch die Müllhalde ebenso verschwunden wie die glückliche Zeit, die der Barbier in wirtschaftlich besseren Phasen genießen konnte.

John Cheever: „Ach, dieses Paradies“. Roman. DuMont Verlag. Aus dem amerikanischen Englisch von Thomas Gunkel. Mit einem Nachwort von Peter Handke. 128 Seiten, 17,99 Euro.




Exzentrisches Leben eines Pianisten: Steven Soderberghs Kinofilm über „Liberace“

Der Inhalt – gebündelt.

„Liberace – Behind the Candelabra“, so heißt dieses Bio-Pic im Original, das in Deutschland unter dem Namen „Liberace – Zuviel des Guten ist wundervoll“ angelaufen ist. Ein umständlicher Titel, aber nicht abwegig.

Der Film behandelt im Wesentlichen die fünf Jahre seiner Beziehung mit dem jungen Tierpfleger Scott Thorson (Matt Damon) und basiert auf dem Buch „My life with Liberace“, das Thorson über diese Zeit geschrieben hat.

Plakat zum Film „Liberace – Zu viel des Guten ist wundervoll“ – mit Michael Douglas (li.) und Matt Damon. (© dcm 2013)

Als Liberace, genannt Lee, zufällig den 17jährigen Scott kennenlernt, verliebt sich der 30 Jahre ältere sofort in das schüchterne, hübsche Kerlchen. Scott bekommt eine volle Breitseite des überaus extravaganten Lebensstils des Pianisten. Scott ist glücklich, Lee ist glücklich. Lee kann dem Jungen alles und mehr bieten, wovon der je geträumt haben mag. Genau, zuviel des Guten ist eben wundervoll. Scott wird mitgerissen in den Strudel von Prunk, Pomp, Protz und Bombast. Er erlebt den liebevollen, fürsorglichen und den zickigen Lee. Sie leben zwischen überbordendem Privatleben und grandiosen Auftritten, zwischen Champangner und Drogen. Alles geht. Und wenn man grad mal denkt, mehr geht nicht, dann geht doch noch was, und mehr, und mehr.

Irgendwann ist aber auch Scott, der sein Gesicht auf Lees Wunsch liberacesk herrichten ließ, bedient. Sie zoffen sich wie die Kesselflicker, und der mit dem Geld hat das Sagen. Und das letzte Wort. Es kommt zur Trennung. Es folgt eine Klage, in der es um eine Abfindung für Scott (palimony bei unverheirateten Lebenspartnern) in Millionenhöhe geht, die der Stärkere, der Reichere, der Mächtigere gewinnt. Wie auch sonst?

Unter diesen Umständen kann der Film auch nur ein trauriges Ende haben. Allerdings gibt es auch eine nicht zu unterschätzende, versöhnliche Note.

Schöner Film.
Spannender Film.
Wundervoll bunt, exzentrisch und manchmal auch ein bisschen hysterisch.
Hingehen.

Steven Soderbergh ging betteln

Es grenzt an ein Wunder, dass es diesen Film überhaupt gibt. Hollywood zögert nach wie vor, das „heiße Eisen“ Homosexualität anzupacken, und so fand sich auch lange kein Studio, das dieses Risiko eingehen wollte. Es ging nur um fünf Millionen Dollar, vergleichsweise low budget.

„Zu gay“, sagten die Studiofürsten: „Wir wissen nicht, wie wir den vermarkten sollen.“ Eigentlich unverständlich, nachdem doch „Brokeback Mountain“ ein Riesenerfolg war. Und der war nicht mal witzig. Vielleicht passt es nicht in die gegenwärtig so kontrovers geführte Diskussion über same-sex-marriages, die erst in 13 von 50 Staaten legal sind.

Wir haben es Herrn Soderberghs Anstrengungen und dem Pay-TV Sender HBO (der uns auch „Boardwalk Empire“, „The Newsroom“ und „Six Feet Under“ bescherte) zu verdanken, dass dieser Film doch noch gedreht wurde.

Wer war Liberace?

Der Mann, der Valentino Liberace hieß und unter dem Namen „Liberace“ bekannt wurde, war Sohn eines italienischen Einwanderers. Er war ein musikalisches Wunderkind, das schon im Alter von sechs Jahren klassische Werke auswendig spielte. Mit 12 war er Solist beim Chicago Symphony Orchestra, später studierte er Musik. Er trat hin und wieder öffentlich auf. Das Fernsehen wurde auf ihn aufmerksam und er bekam seine eigene Fernsehshow.

Nach etwas zähem Beginn bekam er ein Engagement in Las Vegas. Damals fing er damit an, seine Auftritte flashy, prunkig und bombastisch zu zelebrieren. Seine reich verzierten Konzertflügel schmückte er seitdem immer mit protzigen Kandelabern.
Liberace war vermutlich Vorbild für einige Künstler des showbiz, aber selbst Prince, Jackson, Moshammer oder Glööckler scheinen Waisenkinder im Vergleich.

Liberace war eher der König Ludwig des Entertainment.

Kennt man hierzulande diesen Liberace eigentlich noch, oder hat ihn je gekannt?

Vielleicht die über 40jährigen. Und auch die nur vom Hörensagen. Aber wahrscheinlich eher nicht. In Kommentaren der US-Medien wurde er meistens lächerlich gemacht („Aber er hat seine Mami sehr lieb“) und seine Beteuerungen, nicht schwul zu sein, wurden mit vielsagendem Lächeln bedacht.

Oscarwürdige Darsteller – Maske und Ausstattung.

Die Maske hat Wunder vollbracht, als sie den 42jährigen Matt Damon (der mir gut gefiel in seiner Rolle) auf den 17jährigen Hänfling Scott zurechtmachte. Michael Douglas gibt einen außerordentlich glaubhaften Lee. Sehr dezent schwul in Gestik und Mimik, denn es galt ja damals, den prüden amerikanischen Fans seine wahre sexuelle Orientierung zu verheimlichen. Liberace hatte seinerzeit jeden, der öffentlich über seine Homosexualität spekulierte, sofort verklagt und immer gewonnen.

Generell gibt es viel schöne Musik, teilweise original Playbacks. Die Ausstattung ist an Glamour kaum zu überbieten.

Übrigens hat Douglas einige der Musiknummern selbst gespielt (und sehr viel dafür geübt, wie er gestand).

Außer Douglas und Damon spielen auch Dan Aykroyd, Debbie Reynolds, Rob Lowe und Scott Bakula mit.

Ich mochte den Film und empfehle ihn als sehr gute Unterhaltung. Amüsant und ohne Slapstick, lustig und heiter, ohne platt zu sein.

Von mir 5 von 5 Punkten.

Ach ja – und Oscars für alle!




Das Begehren in den Zeiten der Krise – Uwe Timms Roman „Vogelweide“

Auf der deutschen Nordsee-Insel Scharhörn lebt nur ein einziger Mensch, nämlich ein Vogelwart. Genau auf diesen Außenposten hat sich Eschenbach zurückgezogen, die männliche Hauptfigur in Uwe Timms neuem Roman „Vogelweide“. Von hier aus wird weitschweifig rückblickend erzählt.

Durch wirtschaftliche Wechselfälle hat der Mittfünfziger Eschenbach ein paar Jahre zuvor seine einst gut gehende Berliner Softwarefirma verloren, in der man alle denkbaren Abläufe hat beschleunigen und optimieren wollen. Das Ende einer solchen Unternehmung ist schon per se vielsagend. Da platzt sozusagen eine neoliberale Blase, wenn nicht gleich eine ganze Weltanschauung.

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Die Krise vertieft sich ins Existenzielle, als Eschenbach (von Haus aus eigentlich Theologe!) seine große Leidenschaft verliert. Jene Kunstlehrerin Anna war zuvor mit dem Architekten Ewald liiert, Eschenbach selbst mit der Silberschmiedin Selma. Man traf sich zu viert. Beide Paare lebten in gutsituierter Zufriedenheit, ja Sättigung. Als erst einmal das maßlose, unabweisbare Begehren entfacht war, konnten Eschenbach und Anna für eine Zeit nicht mehr voneinander lassen – bis Annas Schuldgefühle als Ehefrau und Mutter überwogen. Schnitt.

Wenn man diese Vorgaben hintereinander liest, so hört sich das ebenso altbekannt wie angestrengt ausgedacht an, wie aus dem Baukasten gefügt. Gar zu umständlich, durchreflektiert und druckreif gezurrt klingen denn auch manche Dialogpassagen in diesem Buch, dessen Autor sich immer wieder kleine Abschweifungen gestattet, als sei er zwischendurch das lineare Erzählen leid. Insgesamt ist dies aber ein konventionell konstruierter Roman.

Geld weg, Job weg, Frau weg. Der alte Blues. Sodann die Flucht von Berlin auf die einsamste deutsche Insel: der alte Mann und das Meer. Auch sinnreiche Lebensentwürfe für ein würdiges Alter (Eschenbachs linksgerichtete Eltern sind in einen Alten-WG gezogen) bilden einen Themenstrang des Romans. Man muss ja nicht gerade als Hippie-Veteran enden.

Im Kern geht es darum, das schiere Begehren gegen alle Berechnungen zu bewahren. So will eine Meinungsforscherin (seltsam herbeigezerrte Persiflage auf die Altvordere Elisabeth Noelle-Neumann) den Software-Fachmann Eschenbach gewinnen, um im Sinne von Internet-Partnerbörsen die Glückschancen algorithmisch auszuloten. Alsbald steigt er aus dem Projekt aus. Überhaupt hat er begonnen, zielgerichtete Planungen zu verabscheuen, die nach seinem Empfinden doch eines Tages im Chaos enden werden. Und also ist vieles im Schwinden begriffen. Von Sprachverlusten ist vielfach die Rede, von bedrohten Völkern und Idiomen. Und überhaupt. Was hat Bestand?

Nun also das karge Eremitendasein auf Scharhörn. Ringsum die rauhe Meeresnatur. Abstand von allem. Inventur. Die Menschen seines Lebens spuken manchmal nachts durchs Eschenbachs Kopf und Kammer. Am Schluss des Romans darf ihn ausnahmsweise Anna noch einmal über Nacht besuchen, die ansonsten längst als Galeristin in Kalifornien lebt. Es wird ein betrüblicher Abschied, für immer.

Wir haben es hier übrigens mit anspielungsreichen Namen zu tun. Eschenbach erinnert – besonders im Hinblick auf dem Titel des Romans – an den mittelhochdeutschen „Parzival“-Dichter Wolfram von Eschenbach. Und der Name „Vogelweide“ führt uns vollends in die Zeiten der Minne. Weit weg jedenfalls aus unserer formlos rasenden, leerlaufenden Zeit.

Uwe Timm: „Vogelweide“. Roman. Kiepenheuer & Witsch. 336 Seiten. 19,99 €.




Der Avatar und die Toilette – Volker Königs Erzählung „Varn“

Was für eine Welt schaffen sich Menschen, denen die Möglichkeit gegeben ist, ein Leben nach ihren Wünschen und Vorstellungen einzurichten? Das Ergebnis – wie wir aus Volker Königs Erzählung „Varn“ erfahren – ähnelt nur allzu sehr unserer vertrauten Alltagswelt, es sieht nur ein bisschen perfekter aus. „Hatte ich nicht gehofft, eine Welt vorzufinden, die sich von der vor meinem Fenster in allem unterschied?“, fragt sich der Erzähler, der mit Hilfe seines Avatars namens Varn die Welt des „Second Life“ erkundet.

Bei seinen Gängen und Flügen durch die virtuelle Welt verfolgt Varn eine profane, zugleich verständliche Absicht: Er möchte die gut besuchte Internet-Plattform nutzen, um möglichst viele Bücher zu verkaufen, die sein Schöpfer in der ersten, nicht-virtuellen Welt geschrieben hat. Ob das funktioniert?

Cover. Volker König: VARNFoto: Latos-Verlag

Cover. Volker König: VARN
Foto: Latos-Verlag

Die Second-Life-Bewohner kann man sich größtenteils als Variationen der Barbiepuppe und ihres Freundes Ken vorstellen. Varn dagegen wurde vom Erzähler mit „Metzgerarmen und monströs fettem Bauch“ ausgestattet, „dazu einem fransig herabhängenden grau-weißen Haarkranz, einer dicken schwarzen Hornbrille vor einem einfältigen Gesicht mit großen Augen und Unterbiss“. Als Ausnahme unter den Avataren läuft, schwebt, fliegt, teleportiert er durch die Kunstwelt, soweit ihm die Mitspielenden Zutritt zu ihren aus Katalog-Versatzstücken zusammengesetzten Ressorts gewähren. Er beobachtet Avatare, wie sie Tütenmilch, Brot und Produkte aus der Kühltheke kaufen. Ihre Villen sind mit Betten, Stühlen, Küchen, ja Toiletten ausgestattet, was den Erzähler schmunzeln lässt.

In den humorvoll wiedergegebenen Details offenbart sich unaufdringlich der philosophische Tiefgang von Volker Königs Erzählung. Der alte Dualismus von Körper und Geist – was fängt ein Wesen, das aller körperlichen Bedürfnisse enthoben ist, mit dem langen Tag an? Jemand, der nicht einkaufen, kochen, essen, verdauen muss. Der weder Schlaf noch das schöne Auto benötigt, weil das Teleportieren schneller ist. Die Sinnfrage berührt den Kern des Spielens überhaupt. Manche der gelangweilten Second-Life-Bewohner sind Varn geradezu dankbar, dass er ein definiertes Ziel verfolgt – das Buch seines Schöpfers zu verkaufen.

Es bleibt nicht beim Anpreisen von Büchern. Varn findet mehr und mehr Geschmack an der Kunstwelt, als er mit der verführerischen Alida zu flirten beginnt. Alles Mögliche mag im Second Life schöner sein, das Wetter, das Eigenheim, die Fortbewegung… Aber der Sex? Der wird in seinem Suchtpotenzial nicht ganz nachvollziehbar beschrieben, als merkwürdige Bewegungen auf der Grundlage von Bällen.

Zur Anbahnung des erotischen Abenteuers ist Varn jedenfalls erleichtert, dass die Avatare dieser Parallelwelt in schriftlicher Form miteinander kommunizieren. Durch die Entschleunigung des Schreibens, meint er, ließen sich Fehler und Missverständnisse vermeiden. Bevor es allerdings zum Pixelsex kommen kann, muss der als voll bekleidetes Wesen erschaffene Varn beim Entkleiden mit Schrecken und Scham feststellen, dass er nicht mit dem zur Kopulation nützlichen Accessoire ausgestattet wurde (hatte Ken einen Penis?). Doch Alida kann ihm mit einem prächtigen Teil aushelfen.

Scheinbar spielerisch wirft Volker König die großen Fragen der Identität auf. Wie sich Menschen definieren, wenn sie die freie Wahl haben. Was die Persönlichkeit ihrer Ansicht nach ausmacht. Welche nicht nur kriminellen Möglichkeiten sich jemandem eröffnen, der sich anonym, hinter der Maske eines Avatars, durch die Welt bewegt. Welche Instanzen ein Interesse daran haben, dass jeder von uns sein Leben lang mit eindeutigen Identifikationsmerkmalen ausgestattet bleibt, mit einem Namen, den wir uns nicht aussuchen konnten, einem invariablen Geburtsdatum und einer Ausweisnummer. Und woran es liegen könnte, dass wir uns nicht auch im First Life öfter mal neu erfinden.

Mit der Frage der charakterlichen Konstituierung eng verbunden erscheint das Fragwürdige der sogenannten Realität; die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen der immer wieder auftauchenden „Welt vor meinem Fenster“ und der virtuellen Welt. Mit der Entwicklung der Handlung werden die Beziehungen zwischen Varn und Alida, Varns Schöpfer und dem Menschen, der sich Alida ausgedacht hat, zunehmend verwickelter. In der Vermischung beider Sphären könnte man sich an das Liebesgeständnis erinnert fühlen, das 2011 Barbies Toy-Boy Ken seiner Idealfrau in New York von Plakatwänden aus zugerufen hat: „Barbie, we may be plastic but our love is real.“

Volker König, der in Essen lebende gebürtige Dortmunder, legt mit „Varn“ seine vierte Buchveröffentlichung vor – bei der bereits aus früheren Werken gewohnten Vergnüglichkeit seine bislang ernsthafteste. Wir freuen uns auf „In Zukunft Chillingham“, das nächste Buch, das der Latos-Verlag noch für dieses Jahr ankündigt, und wünschen beiden im ersten wie im zweiten Leben hohe Verkaufszahlen.

Volker König: „Varn“. Latos-Verlag, Calbe/Saale, 2012 (ISBN 978-3-943308-10-5). 8,50 Euro




Das pralle Leben der Pröllmanns: Ein Sozialarbeiter gibt hintersinnige Einblicke

Nabelschau (und das durchaus im eigentlichen Sinn des Wortes) können Leser betreiben, die sich an der Seite eines Sozialarbeiters aus dem Ruhrgebiet Zugang zu einer speziellen gesellschaftlichen Spezies verschaffen. Die Wege werden ihnen in dem Buch „Schantall, tu ma die Oma winken“ geebnet.

Der Titel lässt erahnen, welche Zeitgenossen hier observiert werden. Der Band hätte auch genauso gut die Überschrift „Mach dem Mä mal Ei“ vertragen. Schantall Pröllmann, die vor allem in knalligen Farben auftritt, würde an solch einem Satz nichts Falsches oder Verstörendes finden, ihr kleiner Schastin, also Justin, wüsste auf Anhieb, was gemeint ist.

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Willkommen also in einer Familie, die zu betreuen dem Jochen wohl nie in den Sinn gekommen wäre, hätte es da nicht im Rathaus des Städtchens Bochtrop-Rauxel diesen Frauentausch, pardon Rollentausch gegeben. Jochen ist eigentlich für die Kulturbehörde tätig, soll aber – wie übrigens auch andere aus der Verwaltung – mal Tapetenwechsel betreiben und andere Ämter kennenlernen. So kommt er schnurstracks in den Bereich Soziales und von dort – ohne über Los zu gehen – als Betreuer zu den Pröllmanns samt Anhang.

Jochen findet sich wieder in einem Land, das die Kevinisten regieren, das seinen Bewohnern unendlich viele Freiheiten gewährt, beispielsweise sprachlich schon längst alle grammatikalischen Einfriedungen beseitigt hat, Jobsuche und finanzielle Grenzen als unerbetene Einmischung in innere Angelegenheiten betrachtet. Da werden dann halt an der Kirmesbude 197 Euro gelassen, Hauptsache man kann eine Grünpflanze sein Eigen nennen. Wenn’s Geld nicht reicht, zeigt Vater Pröllmann eben, was seine Fäuste noch können. Dumm nur, dass die 200 Euro Gewinn ausbleiben, weil der Gegner ein routinierter Kirmesboxer ist und der „Vadder“ der Familie sich eine blutige Nase holt. Mit seinem Gewinn, einer Küchenrolle, zum Abtupfen gedacht, lässt sich das Grünzeug vielleicht noch nett einwickeln.

Apropos einwickeln: Männer umgarnen ist wohl so etwas wie der Breitensport der Weibchen in diesen Kreisen. Ob im Fitness-Studio, zu Karneval oder in Lloret de Mar, Austragungsort der Urlaubssommerspiele mit Sohn und Freundin Cheyenne, wie auch immer dieser Name ausgesprochen werden will: Der Jagdtrieb bestimmt Sein und Bewusstsein. Natürlich funktioniert das Prinzip auch in gegensätzlicher Richtung. Die Männer sind auf der Suche nach paarungswilligen Geschöpfen für den Augenblick. So ist auch Schastin das Ergebnis einer Liaison, deren andere Hälfte längst wieder in Ostdeutschland untergetaucht ist.

Aber das ist nun mal das Schöne an dieser Klientel. Es gibt ja noch Familie, die gefallene Engel auffängt, und angesichts des Verhältnisses von „Quotientenkurve des Intellekts“ und „Anzahl der in die Welt gesetzten Kinder“ nimmt sich die Keimzelle der Gesellschaft nicht gerade klein aus. Entsprechend sind auch die Wohnungen gestaltet, den Begriff Dekoration würde hier – nach Jochens Erfahrungen – wohl niemand verstehen. Gelsenkirchener Barock hat dagegen glatt noch Stil, wobei die Verantwortung für wahllos vollgepfropfte Wohnzimmer eindeutig bei der Industrie liegt, wie der Sozialarbeiter erkennen muss. Ihren Verheißungen, sei es in Prospekten oder Werbespots, kann sich kaum einer und schon keiner vom Schlage Pröllmann entziehen.

Kaufen gehört ohnehin zu den Lieblingsbeschäftigungen von Schantall und ihrer Cheyenne, bei der die Bezeichnung Busenfreundin eine gesonderte Berechtigung hat. Shoppen, wie man auch sagen könnte, rangiert mit wenig Abstand hinter dem Begehren, einen Mann zu kaschen. Die Freude an den Konsumtempeln wird auch durch Anglizismen wie Sale nicht getrübt, sondern eher noch angeheizt, selbst schrille Musik wirkt antörnend. Wenn es mal zu geschmälertem Amüsement kommt, dann schon eher aufgrund der Komplexität von Sonderangeboten wie „Drei für zwei“. Wie soll man sich nur entscheiden, wenn es nicht drei, sondern vier T-Shirts sein sollen?

Bei den Kerlen wiederum belässt es Schantall (vorübergehend) bei einem Exemplar, Cedrik sein Name. Wie man es aus Film und Fernsehen kennt, darf ein Happyend nicht fehlen. Da das Traumpaar schon drei Monate zusammen ist, wird es höchste Zeit, den Bund fürs Leben zu schließen. Getreu dem Motto, „Wenn man schon kein Geld hat, lässt sich doch das am besten ausgeben“, ehelichen die beiden in einem Etablissement, in dem an diesem Tag mal der übliche Betrieb ruht, das Personal aber fröhlich mitfeiert.

Mögen manche Szenen am Ende auch ein wenig überzeichnet wirken, der Autor, der sich in die Rolle des Sozialarbeiters versetzt, beschreibt gesellschaftliche Wirklichkeiten, mal bissig, mal ironisch, oftmals aber auch mit ganz ernsthaftem Ton. Ihm ergeht es so wie vielen Lesern: Erstaunen und Sprachlosigkeit machen sich breit. Letzteres würde man sich auch bei den beschriebenen Kreisen vorstellen können. Hat da jemand von wünschen gesprochen?

Kai Twilfer: „Schantall, tu ma die Oma winken“. Schwarzkopf & Schwarzkopf, 219 Seiten, 9,95 Euro




„Wie fühl‘ ich mich, wie fühlst du dich…?“ – Gerhard Henschels „Abenteuerroman“

Wenn ein Autor sein Buch Abenteuerroman nennt, startet das Kopfkino des Lesers. Geschichten von Tom Sawyer und Huckleberry Finn, Jules Vernes „In 80 Tagen um die Welt“ oder vielleicht auch Stevensons Schatzinsel dürften ihm in den Sinn kommen. Der Schriftsteller Gerhard Henschel, der sich hier zu Wort meldet, wählt indes vermeintlich banalere Motive, lässt er doch einen jungen Mann namens Martin Schlosser über sein Leben Anfang der 1980er Jahre erzählen.

Die Fans von Henschel kennen die Hauptfigur aus den Vorgängerbüchern („Kindheitsroman“, Jugendroman“, „Liebesroman“). Schlosser lebt jetzt in der tiefen Provinz, dem niedersächsischen Meppen. Die Handlung beginnt, als er kurz vor dem Abitur steht. Flockig-locker ergreift der Romanheld das Wort, der eigentlich so recht kein Wässerchen trüben kann. So hält er sich gern ein Hintertürchen offen. Beispiel Bundeswehr. Von der Wehrpflicht, so etwas hat es ja mal in der praktischen Ausführung in Deutschland gegeben, ist er ebenso wenig überzeugt wie vom Pazifismus. Also lässt sich Schlosser erst einmal auf die Bundeswehr ein. Spätestens hier bekommt der Buchtitel dann doch seine Berechtigung, sind doch die Erlebnisse abenteuerlich genug. Einer Mutprobe kommt dann schon der Antrag von Schlosser auf Kriegsdienstverweigerung gleich. Dass er so glimpflich aus der Nummer rauskommt und die Tage bis zur Entlassung ohne große Schikanen übersteht, ist für die damaligen Verhältnisse als andere als selbstverständlich.

Henschel

Frank und frei breitet Schlosser sein Liebesleben aus, wobei sich das anfangs eher bescheiden ausnimmt. Das Bild, das Autor Henschel von dem Pärchen Martin und Freundin Heike zeichnet, bleibt allerdings bis zum Schluss recht schablonenhaft. Beide sind wohl eher der friedensbewegten Anti-Atomkraft-Bewegung zuzuordnen, Heike studiert zudem Pädagogik. Martin hat es in der Zweierbeziehung stark auf das Körperliche abgesehen, wobei Heike zwar keine Kostverächterin ist, aber ihr Gegenüber gern in Gespräche mit der Überschrift „Wie fühl‘ ich mich, wie fühlst du dich und was sagt uns das?“ verwickelt.

Wann die zarten Bande wohl reißen werden, drängt sich förmlich als Frage auf, zumal beide auch abseits ihres gemeinsamen Weges eines nicht verabscheuen: Abenteuer. Womit wir wieder beim Titel wären.
Von Beginn an ist Henschels Buch wie ein Kaleidoskop angelegt. Kleine Erzählstücke fügen sich zum großen Ganzen. Martin Schlosser wechselt häufig Thema und Perspektive. Gerade noch berichtet er vom Besuch bei einem Freund, dann ist er schon wieder auf der Suche nach einer Zivildienststelle. Zwischendrin greift auch das politische Geschehen Raum (Kriegsrecht in Polen, Verhältnis BRD-DDR, Falklandkrieg, Kanzlerdämmerung) – und all das versieht der junge Mann gern mit seinen persönlichen Notizen. Nach dem Sturz von Helmut Schmidt merkt er an, dass neben Innenminister Zimmermann jetzt wohl auch die anderen Finsterlinge emporkommen würden und meint Barzel, Dregger, Wörner und vor allem Strauß, den Strippenzieher. Zu einem politischen Engagement mag sich Martin aber doch nie durchringen, er tritt vielmehr aus der SPD aus und ärgert sich, dass man ihm die Parteizeitung auch danach noch zuschickt.

Henschel formt eine Figur, die gern auch über den Dingen zu stehen scheint und die vor allem aus der Literatur Honig saugt. Gern liest Martin Schlosser Zeilen des Lyrikers Rolf-Dieter Brinkmann, der zeit seines Lebens auf der Suche nach seinem wahren Ich war. Schlosser schafft es aber augenscheinlich, innere Distanz zu wahren. Das soll ihm während der Zivi-Zeit, als er einen schwerstbehinderten Jugendlichen betreuen muss, zum Vorteil gereichen. Welchen Nutzen ihm sein Studium der Fächer Germanistik, Philosophie und Soziologie bringt, wird sich erst in einem Folgeband herausstellen. Das wäre durchaus wünschenswert.

Gerhard Henschel: „Abenteuerroman“. Hoffmann und Campe, 576 S. 24,99 Euro




Für kurze Zeit im Leben mitspielen – Franz Hessels „Pariser Romanze“ neu veröffentlicht

Über das Verlorene lässt sich bekanntlich am besten schreiben – wenn auch nicht jeder die deutsche Sprache so einzigartig meistert wie Franz Hessel. Mit seiner „Pariser Romanze“, die der Lilienfeld Verlag in der schönen Buchausstattung seiner Lilienfeldiana-Reihe neu herausbringt, formuliert Hessel eine doppelte Liebeserklärung.

Das eine Geständnis richtet sich an eine junge Berlinerin, die zum Malen und Französischlernen für begrenzte Zeit nach Paris gekommen ist. In seiner Prosaarbeit nennt der Autor sie Lotte; aus Hessels Biographie ist leicht zu ersehen, dass seine spätere Ehefrau, Helen Grund, für die Figur Modell gestanden hat.

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Die zweite Liebeserklärung gilt Paris, und zwar dem unwiederbringlich verlorenen Paris, das der Erste Weltkrieg zerstörte. Über seinen Freund Henri-Pierre Roché hatte der junge und damals noch vermögende Franz Hessel, der 1906 in die französische Metropole kam, Zugang zu einer internationalen Bohème gefunden; er mischte sich unter Künstler und Bonvivants, die „von dem neuen Abendlande redeten, dem Zukunftslande der besten Europäer, an dem wir bauen wollten, um den ewig unverzeihlichen Fehler der Erben Karls des Großen wiedergutzumachen, wir seligen Toren.“

Es kam leider zunächst anders. Der Ausbruch des Weltkriegs treibt die bunte Clique jäh auseinander. Als Soldat auf deutscher Seite, erst im Elsaß, dann an der Ostfront, schreibt Arnold Wächter, wie Hessel sein Alter Ego in der Erzählung nennt, in mehrere Schulhefte einen einzigen langen Brief in vier Teilen an seinen Freund Claude (alias Henri-Pierre Roché). Die Fortsetzung der Freundschaft ist ungewiss; Wächter lässt die Briefe über einen gemeinsamen Schweizer Bekannten zustellen.

Die Kriegsgegenwart ist in den Briefen kurz, aber eindringlich, meist zum jeweiligen Briefbeginn, dargestellt, bevor das Erinnerungswerk seinen Lauf nimmt. Wächter klagt über den „verzweifelten Stumpfsinn des Garnisonslebens; das gräßliche System machte mich subaltern. Es war, als dürfte ich nicht mehr denken.“ Mit dem Krieg geht der Verfasser der Briefe hart ins Gericht: „Dies Sterben ist Sünde, dies Blut schreit zum Himmel. […] Mut ist ein Zwitter aus Wahnsinn und Genauigkeit geworden.“

Zwar folgte Hessel, wie so viele junge Deutsche, zum Kriegsbeginn dem Gestellungsbefehl schneller, als es für ihn als Familienvater nötig gewesen wäre, doch zeigt er sich durch den Krieg geläutert und veröffentlicht – ein Verlagswechsel ist dazu nötig – den liebevollen Rückblick auf seine Jahre in Paris bereits 1920, als Frankreich den meisten Deutschen weiterhin als der Erzfeind galt.

„Papiere eines Verschollenen“, wie der Untertitel des Buchs lautet, das ist zum Glück eine von zwei großen Fiktionen des weitgehend autobiographisch verstehbaren Buchs.

Aus anderen Romanen des Autors wissen wir, wie sehr sich Hessel in der Rolle des unbeteiligten Zuschauers gefiel, ein Flaneur eben. „Ich war so glücklich, aus der Welt des Erfolgs und der Beziehungen fort zu sein“, heißt es auch in der „Pariser Romanze“. Dann aber erzählt er Claude, wie eine junge Frau ihn „eine kurze Zeit verführt hatte, das Leben der Lebendigen mitzuspielen.“ Er begegnet Lotte auf einem der Maskenbälle zuerst in einer „Hosenrolle“; sie ist als Opernpage kostümiert. Wächters mütterlich wirkende Ex-Geliebte Hertha macht ihn mit der Tochter ihrer Schulfreundin bekannt, die sich dem Paris-Erfahrenen gern anschließt, um mehr von der Stadt kennenzulernen.

Indem er Lotte durch die ihm bereits vertraute Stadt führt, erlebt er die Schauplätze wie in einem „Traumgleiten“ – St. Séverin, St. Julien le Pauvre und natürlich die Cafés des Montparnasse, in denen Hessel verkehrte. Auch heutige Paris-Liebhaber dürften bei der Lektüre auf ihre Kosten kommen, verkehrte Lotte doch zum Beispiel gern in der noch immer recht lebendigen Rue de la Gaîté, „jener erstaunlichen Straße, in der für den Bewohner des Montparnasse im kleinen alle Reize von Paris, ins Volkstümlich-Vorstädtische verwandelt, billig angeboten werden“ – und wo sich das Bobino befindet, in dem von Josephine Baker über Juliette Gréco und Édith Piaf bis Amy Winehouse alle möglichen Größen des Chansons und Entertainments aufgetreten sind.

Beginnt nun, wie der Titel verspricht, eine Romanze? Ja. Jedoch in dem speziellen Hesselschen Sinn. Wächter erweist sich als väterlicher Freund. Ein Ratgeber, den die gefühlsverwirrte junge Frau fragen kann: „Welches Leben ist denn nun das richtige, Pamelas oder Lilys oder Frau Herthas oder das meiner Mutter?“ Wächter streichelt daraufhin ihr Haar: „Mein armes Kind, nun erlebst auch du das Schreckliche, daß die Welt ohne Gesetz ist und jeder in seiner Art recht hat in der leeren Welt.“ Und über sich selbst: Er habe keine Welt, „ich hause in Ruinen vergangener Welten.“

Sie hat das nötige Vertrauen, neben ihm einzuschlafen, und er betrachtet die Schlafende, ohne sie zu berühren.

Die Gefahr solcher Männer liegt woanders. Lottes englische Freundin Pamela warnt: „Das sind Leute von der Wissenschaft, sie merken sich alles, was man sagt, und jede Gebärde. Und nachher muß man sich lebenslänglich so benehmen, wie es in ihren ersten Notizen steht.“

Den, der sich nicht ans Leben verlieren möchte, quält schließlich doch Eifersucht, wenn Lotte ohne ihn an einem Maskenball teilnimmt. „Wenn nun irgendein Wissender, Nüchterner nach ihr griff, so ein Maler oder Mediziner? Und ich fühlte bei dem Gedanken einen körperlichen Schmerz.“

Der Zuschauer hat sich in die Liebe hineinziehen lassen. Als er Lotte vor ihrer Rückfahrt nach Deutschland zur Metro begleitet, fürchtet er sich „wie ein Kind vor dem Alleinbleiben.“ Hastig macht Arnold Wächter ihr einen Heiratsantrag. Lotte ist entsetzt. Helen war es nicht. Und das ist die zweite große Fiktion im Buch. Denn bereits anderthalb Jahre bevor der Erste Weltkrieg ausbrach, waren Franz Hessel und Helen Grund verheiratet. Verloren hat er Helen erst später – an seinen Freund Henri-Pierre Roché. Aber das ist die Geschichte von „Jules und Jim“, das Buch von Roché und der Film von Truffaut.

Die biographischen Fakten zur „Pariser Romanze“ und mehr Wissenswertes ergänzt das Nachwort des ausgewiesenen Franz-(und-Stéphane-)Hessel-Experten Manfred Flügge.

Franz Hessel: „Pariser Romanze. Papiere eines Verschollenen. Mit einem Nachwort von Manfred Flügge. Einbandgestaltung unter Verwendung eines Gemäldes von Simone Lucas. Lilienfeldiana Band 15. 144 Seiten. ISBN 978-3-940357-28-1. € 18,90