Erzählstoff überall – Judith Kuckarts „Die Welt zwischen den Nachrichten“

Jede(r) möge es für sich bedenken: Welche – mehr oder weniger vagen – Berührungspunkte hatte mein Leben mit der Sphäre der Nachrichten? Und was folgt womöglich daraus? Judith Kuckart schneidet derlei Fragen in ihrem neuen, autobiographisch grundierten Roman „Die Welt zwischen den Nachrichten“ keineswegs umweglos an, sondern vielschichtig, hintergründig, zuweilen auch irrlichternd.

Staunenswert, welche Zeitlinien bis in die westfälische Provinzstadt Schwelm reichten, in der Judith Kuckart am (west)deutschen Einheits-Feiertag (17. Juni 1959) geboren wurde. Da war etwa die Schwelmer Apothekertochter Ina, die öfter auf die kleine Judith aufgepasst hat und sich Jahre später in Berlin (im Gefolge des Attentats auf den Studentenführer Rudi Dutschke) links radikalisiert hat. Noch etwas später war sie auf Plakaten der RAF-Terrorfahndung zu sehen und dürfte sich danach in der noch real existierenden DDR versteckt haben. Womit ihre Geschichte noch nicht zu Ende war. Der „Deutsche Herbst“ ist überhaupt prägend gewesen: Als Judith Kuckart in Köln studiert, wird ganz in der Nähe der Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer von der RAF entführt und bald darauf ermordet. Aber was ändern solche Koinzidenzen am täglichen Sein?

„Alle Geschichten gehören irgendwie zusammen“

Etliche Befunde und Annahmen über die Lebenswelt „zwischen den Nachrichten“ müssen in einem Roman erzählend überprüft und geformt werden. „Schreibe ich“, so lautet mehrfach das lakonisch innehaltende Zwischenfazit nach gewissen Erzählpassagen. Also kein blankes „So (und nicht anders) war es“, sondern „So ist es aus meiner Sicht gewesen“ oder noch skeptischer: „So könnte es gewesen sein“. Eigentlich, darauf läuft ein Hauptstrang des Buches hinaus, sind sowohl öffentliche als auch vermeintlich private Geschehnisse just Erzählstoff, der aus Buchstaben, Worten, Sätzen usw. besteht und sich hier wieder einmal zum Roman weitet. „Alle Geschichten gehören irgendwie zusammen“, heißt es schon auf Seite 57. Und kurz vor Schluss, auf Seite 186: „Am Ende gilt doch nur das Erzählen. Wer erzählt, kann Engel über Toronto fliegen lassen oder Möwen über den Bahnhof Zoo.“

Jegliches Menschenleben enthält exemplarische, aber auch scheinbedeutsame Vorfälle in Hülle und Fülle. Bei Lebensneugierigen wie Judith Kuckart steigern und verdichten sich die Kreuz- und Querbezüge wahrscheinlich. Jedenfalls werden sie ungleich schlüssiger erzählend verknüpft. Allerdings gilt erzählerische Distanz, denn: „(…) man weiß immer erst im Nachhinein, dass das, was man gerade erlebt, ein Stoff zum Erzählen ist. Denn wer sagt schon, Achtung, jetzt erlebe ich gerade eine Geschichte…“ Außerdem heißt es auf Seite 161, wie in Gedichtzeilen gesetzt:

„Das Seltsame an der Wirklichkeit ist
sage ich wieder und wieder –
dass jedes Ereignis auch ganz anders hätte stattfinden können.“

Eindrücke von Pina Bausch bis Pierre Brice

Nur mal ganz kursorisch aufgegriffen: Mit 15 Jahren taucht die tanzbegeisterte und dito begabte Judith ein einziges Mal inkognito beim nahe Schwelm gelegenen Wuppertaler Tanztheater der legendären Pina Bausch auf. Als Regisseurin und Tänzerin frönt die Schwelmerin später weiterhin der Tanzleidenschaft. Ihr Roman gliedert sich denn auch in eine Reihe von Theater-Kantinengesprächen. Nach dem Abi arbeitet sie vorübergehend in einer Lokalredaktion der Schwelmer Nachbarschaft und interviewt sogleich den Kino-Winnetou Pierre Brice. (Das erinnert mich, mit Verlaub, an meine Volontärzeit, die ein paar Jahre früher zeitweise in dieselbe Gegend – nach Gevelsberg – führte).

Die Eltern und sonstigen Vorfahren der Autorin kommen im Verlauf des Romans ebenso in Betracht wie eine Cousine, die mit zehn Jahren stirbt, die besonderen Frauen Ellen R. und Eva K., die Freundin „Bee“, die spiegelbildlich von ihren Vätern so benannten Judith Martina (also die Erzählerin) und Martina Judith, wodurch weitere biographische Vexierbilder entstehen. Liebhaber scheinen hingegen eher Randerscheinungen zu bleiben, zumindest treten sie nicht ins literarische Rampenlicht. Hier geht es vor allem ums Frauenleben – bis hinab zu den schauderhaften Abgründen einer erlittenen Vergewaltigung.

Heidegger und Genazino, nahezu geisterhaft

Judiths Vater Leo brachte es realiter vom Waschmaschinen-Vertreter bis zum CDU-Landtagsabgeordneten. In diesem Zusammenhang ist die kleine Judith einmal mit Franz Josef Strauß fotografiert worden. Als Kind mit ihren Eltern im Schwarzwald-Urlaub, sieht sie aus der Ferne schemen- und geisterhaft den steinalten Martin Heidegger, natürlich ohne Näheres über ihn zu wissen. Später haben u. a. der Schriftsteller Wilhelm Genazino und der Polyhistor Alexander Kluge ihre kurzen Auftritte, wobei Genazinos Part seltsam gespenstisch anmutet.

Und die große Historie, die Welt der Nachrichten? Seitdem die Autorin in Berlin lebt (wo sie anfangs Filmkritikerin beim „Tagesspiegel“ war), ergeben sich Geschichts-Ablagerungen wie von selbst, nicht zuletzt durch Erlebnisse des Zeitenwandels beim Transit in die DDR anno 1976, 1983, 1986 und dann nach der „Wende“. Damit können Schwelm oder Dortmund (wo die Autorin so manchen Kindheitssommer verbracht hat) denn doch nicht mithalten.

Schließlich finden sich solche Zitate, die man sich einfach zum Nachsinnen notieren sollte, um bald einmal darauf zurückzukommen: „Sie ist darauf gefasst, dass das Unglück so selbstverständlich ist wie der Tod und keine Sprache hat.“ – „Wir sitzen zu dritt in unserer Kindheit herum…“ – Oder jene (wiederum im lyrischen Zeilenfall aufscheinenden) aphoristischen Schlussworte:

Nicht wichtig
ist
was man aus uns gemacht hat
wichtig ist
was wir aus dem machen
was man
aus uns gemacht hat.

Judith Kuckart: „Die Welt zwischen den Nachrichten“. Roman. DuMont- Verlag, Köln. 190 Seiten, mit ca. 25 Schwarzweiß-Fotos. 24 Euro. 

 




Schluss- und Ausverkauf: Literarische Verlage an der Ruhr – verzweifelt gesucht!

Nicht, dass vom Buchhandel und Verlagswesen künftig nur noch solche Wandbilder übrig bleiben… (Entdeckt nicht im Revier, sondern am 15. Juli 2020 in Waren an der Müritz, Mecklenburg-Vorpommern). (Foto: Bernd Berke)

Erstaunlich lapidar klingt, was die Verleger Ingrid und Ernst Gerlach da so ganz am Rand auf der Homepage ihres Oberhausener assoverlages verlauten lassen:

„Liebe Leserinnen und Leser,
wir möchten Ihnen heute mitteilen, dass wir unseren Verlag zum 31.12.2024 auflösen werden. Diese Entscheidung ist uns nicht leichtgefallen, aber aus Altersgründen und ohne Nachfolger haben wir uns dazu entschlossen. (…) Der Schlussverkauf läuft bis zum 31.12.2024. Besuchen Sie unseren Webshop oder schicken Sie uns eine E-Mail an info@assoverlag.de, um von den Angeboten zu profitieren.“

Revolutionäre Vorläufer

Seit 1970 hatte der assoverlag soziale Bewegungen begleitet, sein Verlagsname leitet sich ab von der Assoziation revolutionärer bildender Künstler, einem 1928 gegründeten Zusammenschluss kommunistischer Künstler. 35 Jahre lang konzentrierten sich die Verlagsgründerinnen Anneliese Althoff und Annemarie Stern beharrlich auf littérature engagée aus dem Ruhrgebiet, auf Regionalgeschichte, auf das politische Lied und die Bergarbeiterdichtung.

In den besseren Zeiten beim Oberhausener assoverlag: Verlagsgründerinnen Annemarie Stern (am Telefon) und Anneliese Althoff (an der Schreibmaschine).

Es war 2005, als der ehemalige Vorstandsvorsitzende der NRW.Bank, Ernst Gerlach, mit gut 60 Jahren den Verlag kaufte; seine Frau Ingrid Gerlach übernahm die Leitung. Literatur abseits der Klischees und mehr Sachbücher sollten verlegt werden, wie etwa David L. R. Litchfields Die Thyssen-Dynastie – Die Wahrheit hinter dem Mythos (2008). Zudem gehörten und gehören zum Autorenbestand des assoverlages so wichtige Schriftsteller wie Michael Klaus, Jürgen Link, Anja Liedtke, Hans Dieter Baroth, Bille Haag, Jürgen Lodemann oder Michael Zeller.

Neustart mit einem bestens vernetzten Mäzen

Mit den Gerlachs sollte der Wind auffrischen, die Segel sollten neu gesetzt werden. Der Verlag gönnte sich Lektorat, Vertrieb, Grafiker und einen Beirat, dem auch Gabriele Behler (Ex-NRW-Kulturministerin) angehörte, wozu auch immer. Der überaus gut vernetzte Ernst Gerlach sah sich als Verlags-Mäzen, ihm fehlte allerdings die Buchmarkt-Expertise, um wirklich Mäzen „zu können“.

Nach einer ambitionierten Startphase wurde bald an Personal und Programm gespart. Der Verlag mutierte Jahr für Jahr zu einer Verlagshülle, Anspruch und Wirklichkeit klafften sichtbar auseinander. Das Programm, mit dem der Verlag einst eine Nische besetzt hatte, wurde konzeptionell kaum weiterentwickelt, stattdessen erschienen über Jahre zahlreiche „Blagen“-Kalender. In Zusammenarbeit mit der Stiftung Ruhr Museum waren da historische Archivfotos zu Kindern aus dem Ruhrgebiet zu sehen, Milieus und Zeitgeist gut eingefangen. Ruhrgebietsfolklore von der besseren Sorte und keine schlechte Geschäftsidee, zumal mit den Erlösen das literarische Programm querfinanziert werden sollte, was aber ökonomisch schlicht nicht gelang.

Texte des großen Satirikers bald ohne Heimat

Man müsste also nicht besonders traurig sein darüber, dass der Verlag jetzt seine überfällige Auflösung bekanntgibt. Wenn es denn andere Verlage an der Ruhr gäbe, die in die Bresche sprängen, die Literatinnen, Literaten förderten und endlich ein überregional bedeutsames Programm dauerhaft aufbauten.

Keine blühende Landschaft

Siebzehn Kleinst- und Kleinverlage findet man auf der Homepage literaturgebiet.ruhr, wo munter behauptet wird: „Es herrscht eine fröhliche Aufbruchstimmung in der Szene. Wir sind literaturgebiet.ruhr – seien Sie auch dabei …“
Eine blühende Verlags-Landschaft aber gab und gibt es im Ruhrgebiet nicht; immer ,nur‘ engagierte Enthusiasten, Literaturliebhaber und (Klein-)Verleger wie z. B. Werner Boschmann in Bottrop, Norbert Wehr in Essen/Köln, Jürgen Brôcan in Dortmund, den Trikont Verlag in Duisburg. Der Krimispezialist Grafit-Verlag ist längst beim Kölner Emons Verlag untergetaucht und der Klartext Verlag (in der Funke Mediengruppe) übt sich lieber in Zweitverwertung, als ein eigenständiges literarisches Programm auf die Beine zu stellen. In der Herbstvorschau 2024 annonciert er nicht einen einzigen genuin literarischen Titel.

Ob der CORRECTIV-Verlag in Essen neben dem Sachbuch- sein Literatursegment ausbauen könnte? Es wäre ein kleiner Hoffnungsschimmer, immerhin.




„Nachspielzeit“ des Lebens – Späte Lyrik von Jürgen Becker

Mit den vielen Lebensjahren wird der menschliche Handlungsradius spürbar kleiner und enger, es zählen nun zusehends Dinge und Zustände im Nahbereich. Was man sich darunter vorstellen kann, beschreibt der 1932 in Köln geborene Büchnerpreisträger Jürgen Becker in seinem Lyrik-Band „Nachspielzeit“, der – dem Untertitel zufolge – „Sätze und Gedichte“ enthält.

Eine „Nachspielzeit“ gibt es nicht nur in diversen Sportarten, sondern auch im Leben. Es ist jene Zeit, in der nach und nach die meisten Freunde und Weggefährten sterben und das Gefühl sich einstellt, man sei aus seiner Kohorte nahezu allein übrig geblieben. Es ist das Dasein im Wartestand, in „zugezählten Stunden“, wie es einmal bei Lessing hieß. Die Tage bestehen größtenteils aus Wiederholungen und Gewohnheiten. Keine Zeit für hochfliegende Hoffnungen oder große Entwürfe, sondern für leise, sanft verhallende Töne. Gleichwohl gibt es noch immer ein „Netz der Zusammenhänge“, in dem man sich auch verheddern kann.

Beckers Gedichte kreisen vor allem um Schwund und Verschwinden, vielfach auch um Leere und Alleinsein, wenn nicht Einsamkeit. Sehr innig und still verweilen Gedanken und Empfindungen bei Jürgen Beckers verstorbener Frau Rango Bohne. Wie ließe sich eine solch umfassende Abwesenheit auch verwinden?

In den Blickpunkt rückt nunmehr der kleinteilige Alltag, rücken die Gegenstände im Haus – buchstäblich von der Waschmaschine bis zur Eieruhr. Politische Ereignisse dringen, wenn überhaupt, eher als restliche Sinnfetzen, als allzu bekannte Partikel in diese eng gewordene Welt; ein Zustand, der vom lyrischen Ich offenbar gelegentlich als befreiend empfunden wird. Es gibt eben auch wohltuende Leere, sofern man die Medien beiseite lässt. Allerdings:

„Ich kann nur sagen, daß ich versuche,
mit der Leere zurande zu kommen, die jeden Morgen
aufs neue beginnt.“

Einmal zitiert Becker wörtlich das (zuweilen besonders ergiebige) Naherlebnis aus Gottfried Benns Gedicht „Was ist der Mensch“ herbei:

„Du mußt aus deiner Gegend alles holen,
Denn auch von Reisen kommst du leer zurück.“

Immer wieder geraten jedoch, zumal in den Träumen, Phänomene aus früheren Lebensphasen an die Tages-Oberfläche – besonders die als Kind in Thüringen durchlittenen Bombennächte des Zweiten Weltkriegs. Mehrfach werden Bezeichnungen von „damals“ aufgerufen, die bei jüngeren Menschen überwiegend in Vergessenheit geraten sind; Schockmomente auch hier inbegriffen. Beispiel:

„Das Fräulein vom Amt. Die Küchenmamsell.
Die Zugehfrau. Das Kinderfräulein. Die Handarbeitslehrerin.
Die Gouvernante. Die KZ-Aufseherin. Das Milchmädchen…“

Vergessen wäre vielleicht heilsam, doch es wird auf Erden nicht gewährt. Zitat:

„– glaub ja nicht, es sei vergessen,
was du einmal gesagt hast,
es kommt alles wieder (…)
irgendwo glimmt alles weiter
und das Gedächtnis kennt keine Gnade.“

Das höhere Alter bringt bekanntlich auch den Unwillen mit sich, ständig auf Veränderung zu sinnen. Hier gerinnt diese Haltung zur Absage an Rilkes berühmte Zeile „Du mußt dein Leben ändern“. Becker hingegen postuliert:

Du mußt dein Leben nicht ändern. Geändert hat sich schon alles allein.“

Jürgen Becker hat im Lauf der Jahrzehnte einen ganz eigenen Kosmos aus Lyrik und Journalen erschaffen. Seinem künstlerischen Können darf man sich lesend getrost anvertrauen. Diese späten Gedichte sind assoziativ, flüchtig, sie versammeln Momente und Fragmente, alles gerundet Ganze stünde wohl unter Lügenverdacht. Und doch spürt man in all diesen Zeilen mehr oder weniger deutlich, was – aus höchst subjektiver Sicht – eigentlich vorgeht.

Einzelne Worte wie „Gehöft“ oder „Häher“ scheinen überdies feinsinnig hinzudeuten auf die karge Nachkriegslyrik von Günter Eich, mithin auf eine Inventur von Restbeständen. Auch auf solch unscheinbare Weise können sich Traditionsstränge bilden.

Jürgen Becker: „Nachspielzeit“. Sätze und Gedichte. Suhrkamp. 106 Seiten. 24 Euro.




Nüchterne Inventur: Ulrich Peltzers „Der Ernst des Lebens“

Nur selten liest man Bücher, die so unaufgeregt und nüchtern daherkommen wie Ulrich Peltzers Roman „Der Ernst des Lebens“. Dabei geht es doch ums Ganze.

Der Autor ist offenbar jedem Getue abhold – ebenso wie sein Antiheld Bruno van Gelderen. Der zieht Zwischenbilanz, hält Inventur. Was ist der Treib-, Schmier- und Klebstoff (s)eines Lebens? Immer wieder das Geld, das halt komfortabel ausreichen sollte, aber wohl doch nicht überbewertet werden darf. Auch andere große Beweger wie Heimat, Sucht und Tod kommen in Betracht. Liebe auch, aber fast schon nebenher. Und die Sinnfrage „Wozu das alles?“ lauert stets am Wegesrand. Na, wenn schon.

Entscheidungen treffen

Was fehlt, was bleibt? Was wäre noch möglich und denkbar (gewesen)? Was ist versäumt worden? Regiert nicht eigentlich der Zufall? Oder sind eben zum richtigen Zeitpunkt Entscheidungen zu treffen und dann die Konsequenzen zu tragen? Tatsächlich bleiben auch am Ende viele offene Fragen. Doch unfehlbar wird man beim Lesen das eigene Dasein überdenken. Wie verhält es sich denn nun mit dem oft beschworenen „Ernst des Lebens“, den man uns schon in Kindertagen eintrichtern wollte?

Der von einem Hof aus der flachen Niederrhein-Landschaft stammende und letztlich auch geprägte Bruno van Gelderen ist, vor allem in Berlin, in einige grundverschiedene Verhältnisse geraten und hat sich halbwegs hindurch laviert. Zwar ist er nach eigenem Bekunden kein Abenteurer und scheut größeren Reiseaufwand, doch hat er etlichen Lebensstoff eingesammelt. Eine Zeitlang hat er sogar auf der Straße gelebt. Freilich macht er kein Aufhebens davon.

Folgen der Spielsucht

Er war schwerstens spielsüchtig und hat Automaten in Kneipen gefüttert, bis er völlig überschuldet war. Eine missliche Folge waren seine dilettantischen Überfälle auf einen Berliner „Späti“ und eine Kinokasse. Das wiederum beschert ihm eine Zeit im Knast, wo er die Gefangenen-Bibliothek stark frequentiert und gar ambitionierte Lyrik liest. Ingeborg Bachmann und so.

Nach der Freilassung findet er Unterschlupf als karg bezahlter Lohnschreiber im Berliner Lokalsport. Noch so ein Perspektivwechsel. Noch so eine (wenig glanzvolle) Lebensmöglichkeit. „Überleben im Kapitalismus“ könnte eine Kapitel-Überschrift lauten. Betrifft uns ja irgendwie alle. Auch Brunos zwischenzeitlicher Knochenjob als Roadie, Backstage im Rock-Business, fällt in diese Kategorie.

Bei den Unternehmern

Sodann abermals ein völlig anderes Milieu: Im Schlepptau des schillernden Georgiers „Koba“ (Kobiashvili) verdingt sich Bruno als Vermögensberater. Um Kundschaft für „Merkur Invest“ zu ködern, heuern sie den abgehalfterten, aber noch nicht vollends vergessenen TV-Promi Sabert-Kress an. Hierdurch lernt Bruno auch gediegene Unternehmer im deutschen Südwesten kennen. Zwischendurch sieht es so aus, als solle er mit der Tochter einer steinreichen Familie verkuppelt werden. Wird nix draus. Macht aber nix.

Auch diese Episode geht vorüber, wie denn überhaupt diese oder jene Frau vorkommt, woraus freilich weder sonderliche Dramen noch übermäßige Gefühlswallungen entstehen. Die Schlussfolgerungen sind denn auch nicht allzu aufregend. Einmal heißt es „Weder verzweifeln noch sich in die Tasche lügen.“ Ein andermal lesen wir, dass es nutzlos sei, in der Vergangenheit von Leuten herumzustochern. Statt dessen zähle das Hier und Jetzt: „Nimm die Leute, wie sie dir begegnen, eine Vergangenheit hat jeder.“

Nichts Glamouröses

Schließlich beginnt Bruno, sich auch noch in die Kunstszene einzufuchsen. Er plant, eine Galerie in Köln zu eröffnen. Nichts Glamouröses, sondern in einem eher verrufenen Viertel, was ja in manchen Kreisen besonders gut ankommt. Keine hochfliegenden Pläne. Und dennoch interessiert es einen als Leser, wie es mit diesem Projekt wohl weitergehen mag. Seltsam, oder? Sieht so aus, als hätte uns der Autor längst beim Wickel.

Ulrich Peltzer erzählt in einem alltäglich anmutenden, schmucklosen Stil, dem er wohl bewusst keinen eleganten Schliff gibt. Das wäre womöglich verlogen und also unpassend. Alles bleibt nah an der mündlichen Rede, woraus sich keineswegs Geschwätzigkeit, sondern ein angenehmes Fließen und Gleiten ergibt. Es klingt manchmal so, als würde einer bei ein paar Bier sein wechselhaftes Leben erzählen; angenehm unprätentiös, doch durchaus hintergründig.

Ulrich Peltzer: „Der Ernst des Lebens“. Roman. S. Fischer. 301 Seiten. 24 Euro.




Bücher, kurz vorgestellt: Hotel, Proletariat, Apokalypse

Ich leiste Abbitte. Hier sind noch drei Bücher, die wohl eine ausführlichere Besprechung verdient hätten. Doch fehlte mir wegen besonders misslicher Umstände schlicht und einfach die Zeit, die jetzt schon wieder in Richtung Herbst galoppiert. Drum seien die Bände hier immerhin kurz vorgestellt:

Eine veritable Wiederentdeckung ist der Roman von Maria Leitner: „Hotel Amerika“ (Reclam, 256 Seiten, 25 Euro). Das erstmals 1930 erschienene Buch zählt zur Spezies der urbanen Hotelromane, die in den bewegten 1920er Jahren aufblühte. Kein Geringerer als Siegfried Kracauer rezensierte das Buch damals für die legendäre Frankfurter Zeitung und arbeitete die Unterschiede zu thematisch ähnlich gelagerten Schöpfungen von Vicki Baum und Joseph Roth heraus.

Maria Leitner, die selbst in prekärer Stellung in einem New Yorker Hotel gearbeitet hatte, schildert die Verhältnisse von „ganz unten“, aus Sicht des irischen Wäschemädchens Shirley, konzentriert auf Ereignisse eines einzigen Tages. Machart und Stil muten noch heute prickelnd modern an.

Man staunt immer wieder, welche Schätze literarische Scouts aus fast vergessener Vergangenheit heben. In diesem Falle war es die Chemnitzerin Helga W. Schwarz, die sich beharrlich für eine Neuentdeckung eingesetzt hat, nachdem sie in der DDR wiederaufgelegte Bücher gelesen hatte. Eigentlich fast überflüssig zu sagen, dass die NS-Machthaber Maria Leitner ins Exil getrieben haben. Was hätte sie in einer besseren Welt noch bewirken können!

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Seitdem das proletarische Milieu weitgehend geschwunden ist, erscheinen – im Zeichen der biographischen Selbstvergewisserung – umso mehr Erzähltexte, die Bruchstücke jener Vergangenheit bewahren wollen. Hierher gehört, mit eigenen Akzenten, letztlich auch der von Martin Becker verfasste Roman mit dem schlichten Titel „Die Arbeiter“ (Luchterhand, 302 Seiten 22,70 Euro).

Der 1982 geborene, im sauerländischen Plettenberg aufgewachsene Autor erzählt die Geschichte einer Arbeiterfamilie aus dem Ruhrgebiet. Auch er weiß genau, wovon er schreibt: Sein Vater war Bergmann, seine Mutter Schneiderin. Er kennt also die einfachen Verhältnisse, in denen man sich für ein kleines bisschen Wohlstand abrackert. Die Rückschau hat denn auch so gar nichts von nostalgischem Beigeschmack.

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T. C. Boyle muss wirklich nicht mehr großartig gewürdigt werden, er zählt zu den Weltbestsellern von gehöriger Substanz. Mit seinen Short Stories in „I Walk Between the Raindrops“ (Hanser Verlag, 272 Seiten, 25 Euro – Übrigens eine seltsame Marotte im Verlagswesen: englische Titel für ins Deutsche übersetzte Bücher) entwirft er wieder einmal Szenarien des allmählichen, jedoch zunehmend rasanten, offenbar unaufhaltsamen Weltuntergangs. Wie er das fertigbringt, macht ihm das so leicht niemand nach. Wenn ein Schriftsteller auch technisch auf Höhe dieser Zeit ist, dann sicherlich er (na, gut: und ein paar wenige andere). Fragt sich nur, wie man nach solchen Büchern guten Gewissens und frohen Herzens weiterleben soll. Und doch: es geht. Höchstwahrscheinlich.

Ganz nebenbei: Auf dem Cover stört eigentlich nur der obligatorische Spruch des nahezu unvermeidlichen Denis Scheck: „Starke Geschichten für heftige Zeiten.“ Aha. Muss man solche Testimonials wirklich unbedingt auf die Titelseite heben?

 




Vom Blog zum Buch: Gerd Herholz und seine „Interventionen aus dem Ruhrgebiet“

Dies ist eigentlich keine Rezension. Es wäre ja auch ziemlich unredlich, hier eine Kritik zu Gerd Herholz‘ Buch „Gespenster GmbH“ zu veröffentlichen, hat doch die Erstfassung vieler der darin versammelten Blog-Beiträge just in den Revierpassagen gestanden.

Ergo habe ich sie seinerzeit selbst gegengelesen und punktuell redigiert, was freilich bei einem so versierten Autor wie Herholz kaum nötig ist. Er ist einer, der überaus sorgfältig mit seinen (und anderen) Texten umgeht und wohl dennoch nie hundertprozentig zufrieden mit den Resultaten des eigenen Tuns ist. Ein Perfektionist eben. Aber beileibe kein unnachgiebiger Rechthaber.

„Interventionen aus dem Ruhrgebiet“ heißt sein Band im Untertitel, auf dem Cover prangt ein nicht gar so glanzvolles „Dortmunder U“. Für die Buchfassung hat Herholz die Beiträge noch einmal sorgsam überarbeitet. Tatsächlich erhebt sich hier eine gewichtige Stimme aus der Region, die kulturelle Tendenzen ebenso einzuordnen weiß wie politische Zeitläufte und gesellschaftliche Vorgänge; eine Stimme, deren Einsprüche auch in anderen Breiten gehört werden sollten.

Ruhrbarone und Revierpassagen

Nochmals rekapituliert: Die Erstveröffentlichungen standen zwischen 2011 und 2023 in zwei Ruhrgebiets-Blogs: „Ruhrbarone“ (18 Beiträge) und „Revierpassagen“ (25 Beiträge). Hinzu kommt der „Humanistische Pressedienst“ (1 Beitrag). Keine bloße Erbsenzählerei, sondern eine ungefähre Vermessung.

Herholz wagt sich an schwierige, umfassende Themen, freilich pirscht er sich  vorzugsweise von den Rändern her an sie heran – und wird dann doch sehr bald wesentlich. In diversen Beiträgen befasst er sich mit Kultur und vor allem Kulturschwund im Kapitalismus oder beleuchtet flackernd die partielle Finsternis der „Nekropole Ruhr“, mithin einer in mancher Hinsicht sterbenskranken Gegend. Gerade der tastende Gestus des „Versuchs“ bewahrt ihn vor allzu schnellen und harschen Urteilen, doch vertritt er durchaus seine klaren, bestens begründeten Meinungen.

Beklagenswerter Zustand der Kultur

Lesenswert sodann auch die literarischen Erkundungen (oftmals mit Ruhrgebiets-Bezug), beispielsweise zu Nicolas Born, Feridun Zaimoglu, Hilmar Klute, Wilhelm Genazino – und zu Revierbezügen bei Günter Grass. Behutsam und wunderbar differenziert schließlich die Würdigung des Dichters Erich Fried und seiner Widersprüche. Herholz zeigt sich in seiner ureigenen Domäne längst nicht nur als studierter Germanist, sondern eben auch als höchst belesener Mensch, der etliche Protagonisten der Literatur persönlich kennt oder gekannt hat.

Besonders am Herzen liegen dem langjährigen Leiter des Literaturbüros Ruhr (Gladbeck) die – gar seltenen, arg vermissten oder stets bedrohten – Literaturhäuser der Region. Beklagenswert, nicht nur aus Sicht dieses Kenners des Literaturbetriebs, ist überdies der Zustand hiesiger Literaturfestivals und dito Preisvergaben.

Nicht selten schleicht sich Resignation mitsamt einem gewissen Galgenhumor in seine Texte. Es lässt sich allemal nachvollziehen. Zumal seit den Corona-Zeiten klingt ein vordem ungeahnter Ton mit hinein – mit Blicken aufs Leben nach der Lohnarbeit und zu einem Ende hin, das doch bitte noch in weiterer Ferne liegen möge.

Wie eingangs gesagt: Dies ist keine Rezension. Aber eine nachdrückliche Empfehlung.

Gerd Herholz: „Gespenster GmbH. Interventionen aus dem Ruhrgebiet“. Herausgegeben von Arnold Maxwill. Aisthesis Verlag, Bielefeld (Reihe Nyland Dokumente, 27). 240 Seiten, 25 Euro.




Zwischen Brontë und O’Neill – Schauspielhaus Bochum kündigt Programm für 2024/2025 an

Der Intendant des Bochumer Schauspielhauses Johan Simons und Chefdramaturgin Angela Obst präsentierten das Programm der kommenden Spielzeit (Foto: Daniel Sandrowski/Schauspielhaus Bochum)

„Ausgewogen“ – hartnäckig setzt sich das Wort fest und lauert auf Wiederaufruf, wenn man sich das Programm des Schauspielhauses Bochum für die kommende Spielzeit durchliest. Dreimal werden Stücke inszeniert, viermal ist Literatur die Vorlage; viermal richtet sich das Angebot an Kinder und Jugendliche, vier projektartige Produktionen schließlich kreisen um die Themenfelder Ökologie, Frieden, KI. Der Rest ist unterschiedlich zuzuordnen.

Abhängig von den Zuordnungen kann man auch zu anderen Zahlen kommen, jedenfalls ist für jeden (und jede!) etwas dabei. Und einmal mehr ist man dem Hausherrn Johan Simons dankbar dafür, daß er in Zeiten, in denen „Rechtspopulist*innen immer mehr Zuspruch“ erhalten, sein Theater nicht zur dumpfen Trutzburg gegen nämliche macht. Politisch ist sein Theater gleichwohl, weil es immer politisch ist, wenn es seriös gemacht wird.

Zwei Regiearbeiten für den Chef

Die beiden Regiearbeiten jedenfalls, die der 78-jährige Chef sich selbst vorgenommen hat, zeigen wohltuende Distanz zur Tagesaktualität. Zum einen will er Eugen O’Neills „Eines langen Tages Reise in die Nacht“ herausbringen (27. September), laut Programmbuch „eine Familientragödie, in Whiskey getränkt“; zum anderen hat er die Erfolgsautorin Elena Ferrante für sein Theater entdeckt und wird die Bände 1 bis 5 ihrer „neapolitanischen Saga“ zum Stück „Meine geniale Freundin“ verarbeiten (24. Januar 2025).

Wir warten auf Godot

Alles Weitere sollen die Kollegen richten. Becketts „Warten auf Godot“ war eigentlich schon für die jetzige Spielzeit vorgesehen, mußte aber verschoben werden. Nun ist die Premiere dieser Regiearbeit von Ulrich Rasche für den 6. September vorgesehen. Drittes „richtiges“ Schauspiel auf der Agenda schließlich ist Brechts „Trommeln in der Nacht“, Regie Felicitas Brucker (11. April 2025).

Romane auf der Bühne

Weiter geht es mit den – man will immer Literaturverfilmungen sagen, aber was wäre richtig? Inszenierungen vielleicht? Also Literaturinszenierungen. Lies Pauwels wird sich recht freihändig dem Werther widmen (Untertitel, wie passend: „Love and Death“, Premiere 1. November 2024). „Sturmhöhe“ heißt die Produktion nach dem gleichnamigen Roman Emily Brontës, die Claudia Bossard realisieren wird. Es ist ihre erste Regiearbeit am Schauspielhaus Bochum, sie gilt als Expertin für komplexe literarische Texte, verwandelt sie in eindrucksvolle Bilder und atmosphärische Szenen. Da muß man gespannt sein. Schließlich steht in der Literaturabteilung noch Kästners „Fabian oder Der Gang vor die Hunde“ auf dem Zettel, eine Koproduktion mit der Folkwang Universität der Künste in der Regie von Thomas Dannemann (31. Januar 2025).

Stücke für Kinder und Jugendliche

Bei den Arbeiten für ein junges Publikum wirken schon die Titel selbsterklärend, „Vier Piloten“, „S.U.P.E.R. Superheld*innen in eurem Klassenzimmer“, „Das NEINhorn“… Schließlich die Befassung mit aktuellen Themen. Wenn es um „Künstliche Intelligenz – KI“ geht, heißt die Veranstaltung, köstlicher Scherz, „Frankenstein“, (18. Oktober), „Exit Hambi – Ein Escape Room zur Rettung der Welt“ nimmt – richtig! – Bezug auf den Hambacher Forst und wird, eigentlich etwas befremdlich, vom Bund gefördert (3. Mai 2025). „Gundhi“ schließlich – die Schreibweise ist gewollt, im Namen ist eine Schußwaffe (engl. gun) versteckt – ist eine Produktion von De Warme Winkel aus Holland, die kritisch fragt, was uns der Frieden wert ist.

Illustre Gäste

So viel zum Bochumer Programm in Kürze, ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Außerdem kommen einige sehr attraktive Gäste: Max Goldt, Frank Goosen, Lars Eidinger u.a. Und Norbert Lammert, ehemals Bundestagspräsident und bekennender Bochumer, wird im Format „Ein Gast. Eine Stunde“ wieder sehr persönliche, spannende Vieraugengespräche führen.




Freiheit, Albtraum und Erschöpfung – Theresia Enzensbergers Gedanken übers Schlafen

Hanser Berlin bringt derzeit und bis zum Frühjahr 2026 sukzessive 10 Bände über die wichtigsten Dinge des menschlichen Daseins heraus (Liste am Schluss dieses Beitrags). Theresia Enzensberger, 1986 geborene Tochter von Hans Magnus Enzensberger, Romanautorin („Blaupause“, 2017 – „Auf See“, 2022), außerdem Mitarbeiterin etlicher Premium-Medien, ist dabei schreibend fürs Schlafen zuständig.

Ein Hauptstrang ihres Essays handelt vom Schlaf unter kapitalistischen Bedingungen. In dieser Hinsicht diene er lediglich dazu, die Arbeitskraft wiederherzustellen. Dabei könnte er doch – mitsamt den Träumen – ein unkontrollierbares, unverfügbares Reich der Freiheit sein. Prinzipiell stehe der Schlaf außerhalb der sonst so universellen kapitalistischen Verwertbarkeit. Theresia Enzensberger ergreift die Gelegenheit, in solchen Zusammenhängen wieder einmal Karl Marx zu zitieren – ehedem flächendeckend üblich, heute eher selten.

Die Autorin geht nicht strikt systematisch vor, sondern zuweilen eher kursorisch und assoziativ, wobei sie auch die eigene Schlafbiographie einbezieht, die phasenweise von anhaltenden Schlafstörungen gekennzeichnet war; ein offenbar immer weiter verbreitetes Leiden, das besonders Frauen, Ältere und Arme plagt. Alltäglich und millionenfach. Am anderen Ende des Spektrums gibt es eine extreme Schlaflosigkeits-Krankheit, die zu 100 Prozent tödlich verläuft: die „Fatal Familial Insomnia“. Wie man annimmt, sind sind davon gottlob weltweit nur 40 Familien betroffen.

Als Kronzeugin der Insomnie fungiert auch Marie Darrieussecq mit ihrem Buch „Sleepless“. Im weiteren Kontext ist die zürnende Rede vom neoliberalen Sozialdarwinismus, der mitleidlos mit den Schwachen und Kranken umgehe – auch und gerade nach der Corona-Krise. Kleine Nebenbemerkung: Hat nicht jüngst ein „liberaler“ Politiker „Lust auf Überstunden“ eingefordert – ohne Rücksicht auf mancherlei Erschöpfungs-Zustände?

Zurück zum Buch: Ein Exkurs erkundet das zugehörige, auch politisch und religiös konnotierte Wortfeld des Aufwachens und der Wachheit zwischen „woke“ und „Schlafschaf“, „Erweckung“ und „Auferstehung“. Ferner geht es um die düsteren Seiten der Schlafwelt mit schauderhaften Nachtmahren, die das albtraumhafte Genre der Gothic Novel geprägt haben. Teilweise erschreckend weite innere Landschaften tun sich da auf, die auf 112 Seiten freilich nur gestreift werden können.

Der schmale Band enthält gleichwohl einige spannende Mitteilungen, denen man gern weiter nachgehen möchte. So stellt Enzensberger fest, dass es in der Literatur viele „Meister der Erschöpfung“ gegeben habe, die unter erheblichem Schlafmangel gelitten hätten. Womöglich befördert ja das Wachbleiben ungeahnte Phantasien. Im Gedächtnis bleiben auch Mitteilungen über die hohe Todesrate beim Erwachen aus dem tierischen Winterschlaf, den man sich keinesfalls als gemütliche Auszeit vorstellen darf. Im Gegenteil: Danach fehle vielen Wesen schlichtweg die Energie, weiterzumachen wie zuvor.

Theresia Enzensberger: „Schlafen“. Hanser Berlin, 112 Seiten. 20 Euro.

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Weitere vorliegende und geplante Bände der zehnteiligen Reihe „Das Leben lesen“, die fast ausschließlich von Frauen verfasst wird:

Elke Heidenreich „Altern“ (bereits erschienen)
Svenja Flasspöhler „Streiten“ (23.9.2024)
Emilia Rosig „Lieben“ (23.9.2024)
Doris Dörrie „Wohnen“ (Frühjahr 2025)
Heike Geißler „Arbeiten“ (Frühjahr 2025)
Daniel Schreiber „Essen“ (Herbst 2025)
Karen Köhler „Spielen“ (Herbst 2025)
Felicitas Hoppe „Reisen“ (Frühjahr 2026)
Daniela Dröscher „Sprechen“ (Frühjahr 2026)

 

 




Gegen Diktatur half keine Kunst – Durs Grünbeins Kriegsbuch „Der Komet“

Mit 16 hat Dora bäuerliche Armut und dumpfe Enge ihrer schlesischen Heimat verlassen und ist mit ihrem Freund, dem Metzger Oskar, nach Dresden gezogen. Sie leben bescheiden und erschaffen ihren beiden Töchtern ein kleinbürgerliches Paradies.

Das Geld reicht aus, um in den Tierpark zu gehen und die Kunstschätze der Kulturmetropole zu bewundern. Von Politik halten sie sich fern. Das Gebrüll Hitlers ist ihnen suspekt. Vor dem Schicksal der mitleidlos vertriebenen Juden schließen sie aber die Augen. Und die mit dem Krieg am Horizont aufziehende Katastrophe wollen sie nicht wahrhaben. Obwohl die Front näher rückt und viele deutsche Städte bereits in Schutt und Asche liegen, glauben sie an die Unantastbarkeit und Unverletzlichkeit ihrer glorreichen Stadt.

Dann, in der Nacht auf den 13. Februar 1945, geschieht das Unfassbare: „Mit einem tiefen, gleichmäßigen Brummen kündigte sich das Unheil an, ein gigantischer Schatten senkte sich über die Stadt, der Flügel einer großen Umnachtung.“ Während die Sirenen Alarm schlagen, schweben Fliegende Festungen der Alliierten Richtung Elbtal, öffnen Klappen und Schächte und klinken aus, was sie mitgeführt haben und abliefern sollen: „das ganze perfekt aufeinander abgestimmte Arsenal für ein konzertierten Flächenbombardement, darauf berechnet, den finalen Feuersturm zu entfachen.“

Durch die Ruinen der Stadt irren

Die mit Scharlach auf der Quarantänestation des Dresdner Krankenhauses untergebrachte Dora wird diesen „Weltuntergang“ überleben. Während die Erde bebt, die Häuser zu Staub zerfallen und zehntausende Tote am Wegesrand liegen, wird Dora durch die Ruinen der Stadt irren und sich zu ihren von einer Freundin ins nahe gelegene Pirna gebrachten Kinder durchschlagen. Auch Oskar, der als Koch seinen Dienst an der Ostfront leistet und Zeuge vielfacher Morde ist, entkommt der Apokalypse.

Von seinem Großvater und von seiner Mutter, die als kleines Mädchen beinahe von Sowjet-Soldaten nach Russland verschleppt wurde, hat der in Dresden geborene und sein langem in Berlin und Rom lebende Durs Grünbein in seinem Erinnerungsbuch „Die Jahre im Zoo“ berichtet. Jetzt, in seinem Roman „Der Komet“, steht die Überlebens-Geschichte der Großmutter im Mittelpunkt seines Interesses.

Geblendet vom früheren Ruhm

Der Büchner-Preisträger webt einen literarischen Teppich aus den Erinnerungen und Erlebnissen der Großmutter und seinen eigenen politischen und historischen Recherchen. Grünbein entwirft das Bild einer ebenso starken wie naiven Frau, das Porträt einer Stadt, die sich vom Ruhm der Vergangenheit blenden ließ, und das Sittenbild eines Volkes, das durch Willkür und Gewalt gleichgeschaltet wurde und den nationalsozialistischen Terror geduldet und mitgetragen hat.

Weder märchenhafte Mythen, noch die Schönheit der Kunst oder die „formvollendeten, endgültig ausgereiften Verse“ haben geholfen, das Unfassbare zu verhindern. Gegen Diktatur und Barbarei helfen weder die Kunstschätze im Grünen Gewölbe noch die im Villenviertel „Weißer Hirsch“ geschmiedete Poesie. Seit 1910 am Himmel der Komet Halley erschien und nur knapp an der Erde vorbei schrammte, hat sich die Angst vorm Weltuntergang tief ins Gedächtnis gegraben. „Jetzt kommt er, der Komet, das alles verheeren wird“, denkt Dora, als der Feuersturm losbricht. Und Grünbein ergänzt trocken: Nun ist „der Spaß zu Ende“, erfährt man, was das heißt: „der totale Krieg.“

Durs Grünbein: „Der Komet“. Suhrkamp-Verlag, 286 S., 25 Euro.




Erlittenes Leben, betrübliches Altern – Didier Eribons Buch „Eine Arbeiterin“

Vor allem mit seinem Buch „Rückkehr nach Reims“ war Didier Eribon – u. a. nach und neben Nobelpreisträgerin Annie Ernaux – einer derjenigen, die das autobiographische („autofiktionale“) Erzählen neuerer Prägung enorm beeinflusst haben. Selberlebensbeschreibungen, zumal von hernach mühsamst aufgestiegenen Kindern aus dem Arbeitermilieu, hatten jüngst geradezu Konjunktur. Auch jetzt wendet sich Eribon nicht von diesem Themenkreis ab, er fokussiert seinen Blick aber anders, und zwar aufs Leiden am Altern.

Sein neues Buch „Eine Arbeiterin. Leben, Alter und Sterben“ setzt ein, als der Ich-Berichterstatter (unverhüllt Eribon selbst) in der nordfranzösischen Provinz ein passendes Altenheim für seine hinfällige Mutter sucht. Dies erweist sich als außerordentlich schwieriges Unterfangen.

Was als Schilderung aus dem misslichen Alltag beginnt, verzweigt sich in Reflexionen zu gesellschaftlichen Zuständen und allerlei theoretischen Exkursen, die ums Altern kreisen. Besonders kommen dabei Bücher von Simone de Beauvoir (ihr im Vergleich zu „Das andere Geschlecht“ weniger bekanntes Spätwerk „Das Alter“ von 1970) und Norbert Elias („Über die Einsamkeit der Sterbenden“) in Betracht. Außerdem zitiert: Theodor W. Adorno, Bert Brecht („Die unwürdige Greisin“), Danilo Kiš („Die Enzyklopädie der Toten“), Michel Foucault und etliche andere.

Das Private bleibt nicht privat

Eribon bringt es zuwege, dass im Privaten das größere Ganze, das Gesellschaftliche erhellend aufscheint. Das Private bleibt nicht privat, sondern gehört ersichtlich in weitere Zusammenhänge. Erfahrung und Nachdenken steigern sich gleichsam aneinander. Eribon will buchstäblich alles ausleuchten, er will nicht weniger als die erreichbare Wahrheit.

Die Erzählung erschöpft sich also nicht in theoretischen Erwägungen, sondern umschreibt eben auch gelebtes, erlittenes Leben, zumal die Erfahrungen einer gealterten Frau, die in der Unterschicht ums bloße Überleben kämpfen musste. Diese Einzelkämpferin bekommt, anders als oft bürgerliche Frauen mit ihren gewachsenen Freundinnenkreisen, auch im Altenheim kaum Besuch – außer von ihrem Sohn Didier, dessen Brüder sich so auf Berufe und eigene Familien konzentrieren, dass sie sich von der alten Frau fernhalten oder wenigstens alles schnellstens „geregelt“ wissen wollen. Die Mutter wiederum, ehedem aus gutem Grund gewerkschaftlich orientiert, hat mit der Zeit rechtslastige und fremdenfeindliche Regungen entwickelt; ein Umstand, der Eribon spürbar zu schaffen macht, den er aber nicht verschweigt. Alles muss auf den Tisch.

Keine Erinnerung an glückliche Tage

Rückblickend kann sich die Mutter generell nicht an glückliche Tage erinnern, auch ihre Ehe war quälend, der Mann ein tyrannischer Ausbund an Eifer- und Tobsucht. Eribon registriert gar einen allgemein grassierenden Witwenhass auf verstorbene Ehemänner. Auch so ein gesellschaftlicher Befund aus einer Zeit, als die Frauen noch nicht wagten, sich scheiden zu lassen.

Im hohen Alter kommt hinzu, dass eine eklatante Unterversorgung mit passablen Pflegeplätzen herrscht. Die Zustände in den Heimen sind betrüblich bis skandalös, öffentliche Einrichtungen sind unterfinanziert, private in erster Linie auf Gelderwerb ausgerichtet – gewiss nicht nur in Frankreich.

Das Buch mündet in eine Klage und Anklage: Das höhere Alter bedeute den rasant zunehmenden Verlust von Räumlichkeit und Zeitlichkeit. Vom Leben bleiben nur noch kümmerliche Reste. Die Hochbetagten selbst sind zu schwach, um ihre Stimme zu erheben, ja überhaupt „wir“ zu sagen, sie müssten Fürsprecher haben und haben sie kaum. Appellierender Schlusssatz: „(…) sind dann nicht andere aufgerufen, ihnen eine Stimme zu geben?“

Didier Eribon: „Eine Arbeiterin. Leben, Alter und Sterben“. Suhrkamp Verlag, 272 Seiten, 25 Euro.




Entdeckung der Gelassenheit – „Das kleine Haus am Sonnenhang“ von Alex Capus

„Als ich noch ein ziemlich junger Mann war, nicht mehr Student und noch nicht Schriftsteller, habe ich für fast kein Geld im Piemont ein kleines Haus gekauft.“ Das marode Gemäuer, versteckt in einem Seitental an einem Sonnenhang gelegen, ist schwer und bei schlechtem Wetter nur zu Fuß zu erreichen. Es zieht durch alle Fugen und Ritzen, aber in den Augen des neuen Besitzers ist es genau das Richtige, um auszusteigen und sich neu zu erfinden.

Denn der junge Mann, der bisher ziellos durchs Leben geisterte und sich mit journalistischen Arbeiten über Wasser hielt, will seinen ersten Roman schreiben und Schriftsteller werden. Zwei, drei Jahre lang wird er sich in die Einsamkeit zurückziehen, die Ruhe genießen und die Gelassenheit entdecken, die er braucht, um aus seiner überbordenden Fantasie ein Buch zu formen. Irgendwann wird es fertig sein, dann wird er über verschneite Wiesen ins Tal hinabsteigen und ein neues Leben beginnen.

Schönheit der kleinen Dinge

Mit „Das kleine Haus am Sonnenhang“ entwirft Alex Capus nicht nur eine Philosophie der Langsamkeit und besingt die Schönheit der kleinen Dinge, er führt uns auch durch die schlingernden Pfade seines Daseins und öffnet die Tür in seine literarische Werkstatt. Capus, inzwischen längst ein Autor mit Bestseller-Garantie, beschreibt mit sanfter Ironie, wie er sich das schriftstellerische Handwerk selbst beibrachte und langsam begriff, dass Schreiben und Leben zwar zusammengehören, aber nie dasselbe sind.

Während er an seinem ersten Roman bosselt, in den Schreibpausen Reparaturen an seinem Haus vornimmt und manchmal ins nächste Städtchen wandert, in einer mit flackernden Neonröhren notdürftig beleuchteten Bar ein Glas Wein trinkt und mit den immergleichen Besuchern die immergleichen Gespräche führt, denkt er darüber nach, ob und wie ein Autor seine Biografie verwenden, verfremden und in Literatur verwandeln kann. Oder wie er das Chaos und den Zufall, der sein Leben beherrscht, in eine logische Kette von Wahrscheinlichkeiten verbiegen kann, die dem Leser glaubwürdig erscheint.

Als die Welt sich langsamer zu drehen schien

Reflektierend reist er durch die Weltliteratur und macht gelegentlich Station bei seinen eigenen, späteren Romanen. Wer würde ihm schon abnehmen, dass er – was der Wirklichkeit entspricht – fünf Söhne hat? Also belässt er es in einem autobiografisch grundierten Romane lieber bei drei. Wovon das Buch handelt, an dem Capus in seinem „kleinen Haus am Sonnenhang“ schreibt, bleibt im Ungefähren. Wichtiger ist, welche Gedanken ihm beim Schreiben durch den Kopf gehen oder wie er Macken und Marotten der kleinen Leute in dieser weltabgewandten Gegend (nicht ohne nostalgische Reminiszenzen) einfängt; damals, Mitte der 1990er Jahre, als mobile Telefone noch die Ausnahme waren, als man noch überall und immer rauchen durfte, an den Tankstellen noch persönlich bedient wurde und die Welt sich nur sehr langsam zu drehen schien.

Capus hat damals begriffen, was Zufriedenheit bedeutet, wie man Glück findet und ein gelassener Mensch wird: Warum sollte er ständig eine neue Pizza ausprobieren, wenn doch seine geliebte Pizza Fiorentina völlig in Ordnung ist? Und was bringt es, auf einer Urlaubsinsel täglich nach anderen Stränden zu suchen, wenn der eine – meistens gleich der erste – bereits gut genug ist und völlig ausreicht?

Alex Capus: „Das kleine Haus am Sonnenhang“. Hanser, München 2024, 160 Seiten, 22 Euro.




Loslassen lernen – Bernhard Schlinks Roman „Das späte Leben“

Martin ist sechsundsiebzig und blickt auf eine erfolgreiche Karriere als Jurist und Uni-Professor zurück. Spät hat der notorische Junggesellen noch das kleine private Glück gefunden.

Warum sich die viel jüngere Ulla, eine lebenslustige Frau und Malerin abstrakter Bilder, mit denen Martin nichts anzufangen kann, sich für den verschlossenen Juristen entschieden hat, ist ihm ein Rätsel. Doch er genießt ihre Liebe und freut sich jeden Tag darauf, Sohn David in den Kindergarten zu bringen und nebenbei noch als Autor von juristischen Aufsätzen gefragt zu sein.

Es bleiben nur wenige Wochen

Doch von einer Sekunde auf die andere zerbricht die Idylle, sind alle Träume von einem geruhsamen Alter dahin. Die Diagnose seines Arztes lautet: Bauchspeicheldrüsen-Krebs im Endstadium. Was fängt er an mit den wenigen Wochen, die ihm bleiben? Wie verabschiedet er sich und was kann er hinterlassen? Wie wäre es, wenn er seinem Sohn zeigt, wie man nachhaltig kompostiert? Soll er beim Buchhändler eine größere Geldsumme hinterlegen, damit David sich jederzeit mit neuem Lesestoff versorgen kann? Und ist es nicht eine schöne Idee, einen langen Brief zum kurzen Abschied zu schreiben, in dem er seinem Sohn die Welt erklärt, über Gott und Gerechtigkeit, Frieden und Freiheit, Leben und Tod philosophiert?

Unaufgeregtes Erzählen, nah am Klischee

Wie sein literarischer Wahlverwandter, so hat auch Bernhard Schlink eine juristische Karriere hinter sich: Uni-Professor, Richter am Verfassungsgericht in Nordrhein-Westfalen, Gutachter am Bundesverfassungsgericht. Irgendwann fing er an, Krimis zu schreiben und startete dann mit dem (auch erfolgreich verfilmten) Roman „Der Vorleser“ (1995) international durch. Seine Bücher haben eine Bestseller-Garantie, das dürfte auch für seinen neuen Roman „Das späte Leben“ gelten. Bei Schlink weiß jeder, was er bekommt: unaufgeregtes, klassisches Erzählen, sympathische Figuren mit kleinen Macken und Marotten, eine Handlung, die ganz leicht am Klischee vorbei schrammt, mit Pathos ins Menschlich-Allzumenschliche driftet, nach einigen Wendungen zu einem harmonischen Ende findet.

Martin muss noch viel lernen, bevor er mit sich im Reinen ist und sich aufs Sterbebett legen darf. Dass er glaubt, noch als Toter die Zukunft seines Sohnes mitbestimmen zu können, indem er ihm Aufgaben und Briefe hinterlässt, geht seiner Frau gehörig auf die Nerven: „Deine Hand, deine Gedanken, dein Brief, deine Bücher, dein Kompost – alles dein. So kann es nicht bleiben. David muss dich loslassen, er muss sich finden – und mich. Warum machst du es mir so schwer? Es macht mir Angst.“

Auf sanfte Weise übergriffig

Klar, dass Martin Läuterung verspricht und Ulla schließlich besänftigen kann. Nett, dass er seiner Gattin einen Seitensprung verzeiht, den Liebhaber aufsucht und ihn bittet, sich nach seinem Tod um Ulla und David zu kümmern und gut zu ihnen zu sein. Aber ist das nicht auch schon wieder etwas übergriffig? Auch dass er, ohne seine Frau einzuweihen, eine Detektei beauftragt, nach ihrem verschollenen Vater zu suchen, hätte er wohl besser mit ihr absprechen müssen. Aber alles nicht so schlimm. Die Liebe heilt alle Wunden. Sterben heißt: Frieden schließen. Das ist zwar ziemlich kitschig, aber auch irgendwie tröstlich.

Bernhard Schlink: „Das späte Leben“. Roman. Diogenes. Zürich 2023, 240 Seiten, 26 Euro.




Auf den Spuren des Unnahbaren – Karl Ove Knausgard über Anselm Kiefer

Mit seinem sechsbändigen autobiografischen Roman-Projekt „Mein Kampf“ wurde Karl Ove Knausgard zu einem der wichtigsten Schriftsteller der Gegenwart. Der norwegische Autor hat wohl kaum je eine Zeile geschrieben, die nicht auf seinen eigenen Erlebnissen und Erfahrungen beruht und ein Spiegel seiner Gedanken und Wünsche ist.

Als er in London eine Retrospektive mit Werken von Anselm Kiefer besucht, ist er erschüttert und zugleich fasziniert. Wie kann es sein, fragt sich Knausgard, dass Bilder von blutbefleckten Schneelandschaften, dunklen Wäldern und leeren Äckern, bedeckt mit Stroh und Asche, von Blei übergossen, mit krakeligen Schriftzeichen versehen, Bilder, in denen keine Menschen vorkommen, „trotzdem randvoll mit dem Menschlichem aufgeladen“ sind? Wo kommen all die verstörenden Werke her, die einem das Gefühl geben, „die Existenz an sich zu sehen“? Was treibt den Künstler an, wo ist „Kiefer in seiner Kunst?“

Fünf Jahre lang auf der Suche

Fünf Jahre wird Knausgard versuchen, dem Rätsel auf die Spur zu kommen, sich dem Unnahbaren zu nähern und einen Zusammenhang zwischen Leben und Werk zu suchen. Von 2015 bis 2020 wird Knausgard den Künstler immer wieder interviewen, mit ihm durch seine gigantischen Ateliers in Paris und Barjac schlendern, ihm beim Erschaffen seiner Werke beobachten, ihn bei Vernissagen treffen, bei seinen Vorträgen im Saal sitzen, er wird seine früheren akademischen Lehrer befragen und mit Kiefer die Orte der Kindheit aufsuchen. Fünf Jahre wird Knausgard brauchen, bis er endlich eine Form findet für seinen Artikel, der im „New York Times Magazine“ erscheinen und Grundlage des Buches wird, das Titel „Der Fluss und der Wald“ trägt.

Kiefer ist nicht nur in einer von Wäldern und Flüssen geprägten Landschaft rund um Donaueschingen aufgewachsen, in einem Land, das alles daran setzte, die verbrecherische Vergangenheit in Schweigen zu hüllen. Dass Kiefer mit einer Kunst-Provokation bekannt wurde, als er in den einst von Nazi-Truppen besetzten Gebieten den Hitler-Gruß zeigte und die verdrängte Vergangenheit in einer umstrittenen Performance heraufbeschwor, war vielen unbequem. Dass in seinen Werken der Wald für das Unbewegliche und Geheimnisvolle, der Fluss für das Veränderliche und Grenzenlose steht, könnte, muss aber nicht sein.

Mit dem Fahrrad durch Kunst-Lagerhallen

Was legt der Künstler, der mit dem Rad durch seine Kunst-Lagerhallen von einem angefangenen Bild zum anderen radelt, der in seinen mit Fundstücken vollgestopften Ateliers wohnt und die Orte seiner Kunst selbst zu Kunstwerken macht, von sich und seinem Leben in die Kunst hinein? Was verraten die Wälder und Wiesen seiner Kindheit oder die Tatsache, dass der kleine Anselm jahrelang bei seiner Großmutter und nicht bei seinen Eltern wohnte, über sein Werk, in dem die Grenze zwischen Kunst und Wirklichkeit aufgehoben ist?

Nach vielen Begegnungen und Gesprächen meint Knausgard, dass Kiefers Kunst außerhalb dessen ist, was er sagt und denkt: Sie ist „der Ort, in den er hineingeht, wenn er Schicht auf Schicht aus Farbe, Blei, Stroh, Asche auf die Leinwand aufträgt. Ein Ort, der in ihm und außerhalb von ihm ist. Ein Ort, an dem Mythologie, Geschichte, Religion, Literatur, Dinge und Landschaften zusammengeführt werden, und der Sinn, der dabei entsteht, ist unendlich, denn er wird von jedem Einzelnen und jeder Einzelnen aktiviert, der und die ihn sieht.“

Karl Ove Knausgard: „Der Wald und der Fluss. Über Anselm Kiefer und seine Kunst.“ Aus dem Norwegischen von Paul Berf. Luchterhand, München 2023, 186 S., 25 Euro.




„Vergnügen und Verlust“ – Ruhrfestspiele präsentieren Programm 2024

Stefanie Reinsperger in der Titelrolle von Thomas Bernhards „Der Theatermacher“ (Foto: Matthias Horn/Ruhrfestspiele Recklinghausen)

Nun ist es da, das Programm der diesjährigen Ruhrfestspiele. „Vergnügen und Verlust“ ist es überschrieben, und in diesem Titel, so Intendant Olaf Kröck, spiegele sich das weltpolitische Übel unserer Zeit ebenso wie die Notwendigkeit, es mit den Mitteln des Spiels, des Schauspiels, des Theaters samt all seinen Facetten mithin anzugehen.

Die Autorin und Übersetzerin Esther Kinsky wird die Eröffnungsrede halten, „in ihren Texten“, wir zitieren den Pressetext, „hat sie sich der Erkundung und Überwindung der Fremde als existentielle, menschliche Erfahrung verschrieben.“

Akrobatisch, atemberaubend

Vielfalt der Menschen und Ethnien, der Stilmittel und des künstlerischen Ausdrucks prägen das Programm vor allem in den Bereichen, die mit wenig oder ganz ohne Sprache auskommen – Tanz, Musik, Zirkus. Vor allem Zirkus ist im diesjährigen Programm prominent positioniert. Mit Zirkus, im Booklet als „Neuer Zirkus“ tituliert, wird das Festival am 3. Mai, einem Freitag, starten. „The Pulse“ heißt das akrobatische, äußerst personalintensive Stück von „Gravity & Other Myths“, in dem 24 sportliche Menschenleiber nach dem Prinzip der Pyramide gleichsam lebendige Bühnengebilde formen, die, kaum daß sie entstanden sind, sich schon wieder auflösen und zu Neuem sich vereinen. Für den Soundtrack sorgt bei diesen artistischen Darbietungen der (langer Titel!) „Frauenkonzertchor der Chorakademie am Konzerthaus Dortmund e.V.“. Sprachkenntnisse sind für das Verständnis des Ganzen, wie das Programmheft ausdrücklich vermerkt, nicht erforderlich.

Wolfram Koch als König Lear (Foto: Armin Smailovic/Ruhrfestspiele Recklinghausen)

Pommestüte

Wenn es sich nicht um eine Ausstellung in der Kunsthalle Recklinghausen handelte, hätte man gewiß Probleme, den Dänen Sören Aagaard kategorisch zu verorten, der auch schon mal als überdimensionierte Pommestüte durch Berliner Freibäder tobte. „Performance“, „Aktion“ usw. würde ebenso passen wie „Kunst“. Essen und Kunst sind sein Thema. Jedenfalls verfestigt sich bei der Lektüre des Programms der Eindruck, daß hier, bei den überwiegend kleinen, eher spracharmen und meistens auch lustigen Produktionen ein Maß an Originalität zu finden ist, das anderen Programmelementen eher abgeht. So weit man das vergleichen kann.

Bewährte Produktionen

Beim Schauspiel gibt es fraglos noch Luft nach oben. Die prominentesten Produktionen in der Abteilung Schauspiel laufen bereits seit längerer Zeit an anderen Häusern – „Der Theatermacher“ von Thomas Bernhard mit der Dortmunder „Tatort“-Kommissarin Stefanie Reinsperger in der Titelrolle beim Berliner Ensemble, „König Lear“ mit Wolfram Koch im Hamburger Thalia-Theater, nicht ganz wahllos herausgepickt. Recklinghäuser Premieren wären besser; aber natürlich ist es von Vorteil, hoch gelobte Produktionen wie diese nun zu Hause sehen zu können – falls man Karten kriegt.

Late Night Hamlet: Ein Solo für Charly Hübner. (Foto: Peter Hartwig/Ruhrfestspiele Recklinghausen)

Eine Uraufführung, immerhin

Immerhin ist nicht alles nur eingekaufte Spielplanware. Zusammen mit dem Deutschen Schauspielhaus Hamburg haben die Ruhrfestspiele in diesem Jahr eine Eigenproduktion auf die Schiene gestellt, die am 24. Mai in Recklinghausen ihre Uraufführung erleben wird: „Late Night Hamlet“, ein Solo mit Charly Hübner in der Regie von Kieran Joel. Wir erleben Hamlet als einen Geworfenen in der Jetztzeit, gefordert, überfordert, wie es sich für tragische Figuren gehört. Doch wird auch ein „kurzweiliges Vergnügen“ versprochen, gerade so, wie es das diesjährige Festivalmotto postuliert. Na, schau’n mer mal. Mit Charly Hübner in der Titelrolle müßte es eigentlich klappen.

Gesellschaftskritisch

Der Theaterarbeit von Kollektiven sind in etwa wohl Stücke wie „Hier spricht die Polizei“ („werkgruppe 2“ und Schauspiel Hannover) oder „DIBBUK – zwischen (zwei) Welten“ („KULA Compagnie in Kooperation mit den Ruhrfestspielen und „dasvinzenz“ München) zuzuordnen, Arbeiten mit dezidiert gesellschaftskritischem Bezug. Bei KULA arbeiten Künstler aus Israel, Afghanistan, Iran, Rußland, Deutschland, Frankreich und Italien zusammen, was eigentlich nichts Besonderes sein sollte und heutzutage leider schon ein brisantes Politikum ist.

Viele alte Bekannte

Bekannte Namen gibt es wie immer bei den Lesungen: Corinna Harfouch, Devid Striesow, Katharina Thalbach, Lars Eidinger, Peter Lohmeyer und viele mehr. Literaturkritiker Denis Scheck wird mit der Autorin Terézia Mora und dem Literaturnobelpreisträger Abdulrazak Gurnah plaudern, Angela Winkler wird in der Musikabteilung zusammen mit dem „delian:quartett“ Shakespeare musikalisch-literarisch begegnen. Vier Tage lang gibt es zudem ein „Festival im Festival“: „Resonanzen – Schwarzes Interntionales Literaturfestival“. Die Eröffnungsrede hält Booker-Preisträgerin Bernardine Evaristo.

Der DGB will diskutieren

Die Neue Phlharmonie Westfalen bringt Mahlers Siebte zu Gehör, Konzerte, unter anderem von „SLIXS“ und „Flautando Köln“, gibt es auch in der Christuskiche, im Festspielzelt und in der Sparkasse Vest. Last but not least macht der DGB Programm. „Europa mit uns – Partei ergreifen!“ und „Reden mit…“ heißen die Veranstaltungen in der Abteilung Dialog, die noch einmal deutlich machen, daß die Ruhrfestspiele sich eben durchaus als politisches Festival begreifen. Zum Publikums-Talk haben sich unter anderem Charly Hübner, „werkgruppe 2“ und das künstlerische Team von „DIBBUK“ angemeldet.

Die Spielzeitübersicht im Programmbuch fehlt

Wer mehr wissen will, muß das Programmheft lesen oder sich im Netz schlaumachen. A propos Programm: Da hat es Olaf Kröck und seinem Team, wohl auch aus Kostengründen, wie leise angedeutet wurde, gefallen, die traditionsreiche Spielzeitübersicht von den hinteren Seiten des Programmheftes zu verbannen. Nun finden sich die Termine in tabellarischer Form auf einem separaten Leporello, „Der Festspielkalender 2024“ geheißen, den man zwar nicht mißlungen nennen kann, dem aber die Übersichtlichkeit des guten alten Überblicks gänzlich abgeht.

Gut, es gibt Schlimmeres. Freuen wir uns auf die Ruhrfestspiele 2024, im Festspielhaus und andernorts und glücklicherweise ohne Maske.




„Ich will leer sein, einfach leer“ – Jon Fosses Literatur als Gottesdienst

Gott benötigte sieben Tage, um Licht in die Dunkelheit zu bringen und die Welt zu erschaffen. Der norwegische Autor Jon Fosse braucht 1200 Buchseiten, um die Gnade Gottes zu erlangen, die düstere Welt eines von Schmerz und Leid gepeinigten Künstlers zu erhellen und ihm Erlösung zu schenken.

In Fosses „Heptalogie“, einem auf drei Bücher  angelegten Roman-Zyklus, dreht sich alles um Werden und Vergehen, Leben und Tod des Malers Asle. Er ist Anfang sechzig, trägt, wie der Literaturnobelpreisträger, einen grauen Pferdeschwanz, und ist, wie Jon Fosse, zum Katholizismus konvertiert. Asle ist nicht nur das verfremdete Alter Ego des Autos, er hat auch selbst noch einen Doppelgänger gleichen Namens, der die dunkle Seite künstlerischer Kreativität und Selbstzerstörung verkörpert, dem Suff verfallen ist und in der Gosse landet. Der von Gott beseelte Asle findet den verwahrlosten Kollegen leblos in der Kälte.

Die „glücklichsten Stunden als Schriftsteller“, sagte Fosse in seiner Nobelpreis-Rede, habe er erlebt, „als der eine Asle den anderen Asle im Schnee findet und ihm so das Leben rettet.“ Überhaupt „habe ich schon immer gewusst, dass Dichtung Leben retten kann, vielleicht hat sie auch mir das Leben gerettet“, meinte Fosse und beendete seine Rede mit dem Bekenntnis: „Ich danke Gott.“

Die „Heptalogie“ ist der Versuch, „das Unsagbare herbeizuschreiben“, die „Stille“ zu beschwören, in der man „Gottes Stimme hören“ kann. Nach „Der andere Name“ und „Ich ist ein anderer“ nun also das Finale: „Ein neuer Name“. Doch es geschieht nichts Neues. Immer wieder sitzt Asle im Lieblingsstuhl seiner verstorbenen Ehefrau Alse, blickt über den Fjord, erinnert sich an wichtige Wegmarken und prägende Begegnungen in seinem Leben. Immer wieder fährt er über vereiste Straßen zu seinem Galeristen in die Stadt. Er  bringt ihm seine letzten Bilder. Denn Asle ist leer gemalt und wartet auf Erlösung.

Jedes Kapitel der „Heptalogie“ beginnt mit fast den gleichen Sätzen: „Und ich sehe mich dastehen und das Bild mit den Strichen anschauen, einer ist lila, einer braun, sie kreuzen sich in der Mitte.“ Sie bilden das Andreaskreuz, weisen auf Gott, wie alles im Denken und Handeln des Malers Asle und seines Erfinders Fosse: „Ich sehne mich nur noch nach Stille, alle meine Gedanken sollen weg sein, und alle in meinen Erinnerungen angehäuften Bilder, die mich so plagen, sollen weg sein und ich will leer sein, einfach leer, ich will zu einem stillen Nichts werden, zu einem stillen Dunkel und vielleicht denke ich dabei ja an Gottes Frieden“, denkt Asle und betet den Rosenkranz, während seine Gedanken sich in einem endlosen Strom auflösen, sich überlagern und jedes Zeitgefühl verschwinden lassen.

Wie die Vorgänger, so ist auch „Ein neuer Name“ ein Rebellion gegen die Hektik der Moderne, eine Meditation über den Glauben und die Kunst als Gottes Gnadengeschenk. Jedes Kapitel der mit vielen Kommas, aber ohne jeden Punkt dahingleitenden Roman-Folge endet mit einem „Vaterunser“: „…dann sage ich immer und immer wieder, während ich tief einatme Herr und während ich langsam ausatme Jesus und während ich tief einatme Christus und während ich langsam ausatme Erbarme dich und während ich tief einatme Meiner“.

Alles wiederholt sich endlos in dieser vom mittelalterlichen Meister Eckhart inspirierten Reflexion über Glaube, Liebe, Hoffnung und die Allgegenwart Gottes. Nachdem er mit einem alten Fischerboot über den Fjord zu einer Insel übergesetzt hat, darf Asle endlich ein Leuchten in der Dunkelheit erblicken und dem Tod begegnen: „…und ich denke, ich, das, was in mir ich ist, kann niemals sterben, denn es ist nie geboren“.

Da geht es Asle wie dem namenlosen alten Mann, der – ohne zu wissen, warum – in sein Auto steigt, losfährt, irgendwann in einen tiefen dunklen Wald einbiegt und sich festfährt, dort stundenlang im Schneetreiben umherirrt und schließlich „Ein Leuchten“ findet: Gemeinsam mit den halluzinierten Visionen seiner toten Eltern geht er „barfuß hinaus ins Nichts, Atemzug um Atemzug, und plötzlich gibt es keinen einzigen Atemzug mehr, nur noch die glänzende, schimmernde Gestalt, die in einem atmenden Nichts leuchtet, das jetzt wir atmen, von ihrem Leuchten.“ Die kurze Erzählung bringt die in der „Heptalogie“ vielfach variierte Suche nach Erkenntnis und Erlösung noch einmal auf den konzentrierten Punkt. Literatur als Gottesdienst, eine irritierende Herausforderung.

Jon Fosse: „Ein neuer Name“. Heptalogie VI-VII. Roman. Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Rowohlt, Hamburg 2024, 304 Seiten, 30 Euro.

Jon Fosse: „Ein Leuchten“. Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Rowohlt, Hamburg 2024, 78 Seiten, 22 Euro.

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Zum Katholizismus konvertiert

Jon Fosse, geboren 1959 in Haugesund/Norwegen, wuchs auf einem Bauernhof auf. Seine Eltern waren Quäker. Ein Nahtod-Erlebnis in früher Kindheit prägt sein Leben und Schreiben bis heute. Der vom Glauben des mittelalterlichen Dominikaners Meister Eckhart genauso wie von den Seins-Philosophen Martin Heidegger und Ludwig Wittgenstein beeinflusste Autor konvertierte 2013 zum Katholizismus und betet jeden Tag, wie die Hauptfigur in seiner „Heptalogie“, den Rosenkranz. International bekannt wurde Fosse durch seine mehr als 30 Theaterstücke, die weltweit aufgeführt werden. Für seine Roman-Zyklen „Trilogie“ und „Heptalogie“ bekam der Autor viele Auszeichnungen, 2023 den Literaturnobelpreis. Fosse lebt heute in der Künstlerresidenz Grotten bei Oslo, in Frekhaug bei Bergen und im österreichischen Hainburg an der Donau.

 

 

 




Schnoddrig unterwegs – Stefanie Sargnagels Reisebuch „Iowa“

Im US-Bundesstaat Iowa (kürzlich wegen einer betrüblichen US-Vorwahl in den Zeitungsspalten) spielen nicht allzu viele deutschsprachige Bücher. Sei’s Lockung oder Warnung: Die nicht nur im Fankreis vielgepriesene Stefanie Sargnagel stellt die geographische Bezeichnung gleich in den Titel: Schlichtweg „Iowa“ heißt ihr… ja, was eigentlich? Ein Roman ist es nicht. Vielleicht ein sehr subjektiver Reise- und Erlebnisbericht.

Jedenfalls liest sich das Ganze mal wieder weg wie geschmiert. Es bleibt nicht verborgen, dass die Autorin viele Jahre in sozialen Netzwerken erprobt hat, wie sich Leserinnen und Leser fix einfangen lassen. Nach der Lektüre sonnt man sich überdies in dem Glauben, nun tatsächlich einiges über Iowa zu wissen – im Grunde viel mehr, als ein noch so ambitionierter Reiseführer mit „Geheimtipps“ es vermitteln könnte.

Schwerlich mit Thomas Bernhard vergleichbar

Dennoch habe ich mich (auch angesichts einzelner, mitunter etwas geschwätzig wirkender Strecken) gefragt, ob es sich hier um Literatur im eigentlichen Sinne handelt. Findet Stefanie Sargnagel wirklich zu einer ureigenen Sprache und Form? Wenn ich lese, sie werde (von wem? warum? einfach wegen Österreich?) mit Thomas Bernhard verglichen, sträube ich mich unwillkürlich dagegen. Aber süffig und plastisch beschreiben kann sie wahrlich. Langeweile hat keine Chance. Und die unsinnigen Vergleiche stammen schließlich nicht von ihr.

Die Enddreißigerin Sargnagel ist in einem Alter, in dem sie sich noch einigermaßen auf Höhe des Zeitgeistes wähnen darf. Freilich wendet sie sich auch schon von etlichen Erscheinungen der Gegenwart überdrüssig und geradezu unwirsch ab. Genau das richtige Biotop für schnoddrige Betrachtungsweisen mit feministischer Grundierung. „Clean“ und nüchtern geht es nicht zu. Es wird viel geraucht und gesoffen in diesem von Weltschmerz und allerlei Ängsten durchzogenen Buch.

Grässliches Essen, bizarre Kneipen

Stefanie Sargnagel (Künstlername, gebürtige Wienerin vom Jahrgang 1986) hat sich mit ihrer deutlich älteren Freundin aus Berlin, der gleichfalls real existierenden Christiane Rösinger – bekannt durch ihre beachtlichen Bands „Lassie Singers“ und „Britta“ – auf den eher seltenen US-Trip in den abgelegenen Mais- und Rinderzucht-Staat Iowa begeben. In Grinnell, quasi im Niemandsland abseits der regionalen Hauptstadt Des Moines, soll sie an einem College auf Deutsch Creative Writing unterrichten, während Rösinger einen Konzertauftritt hat. Die Erledigung dieser Aufgaben bleibt hübsche, eher widerstrebend absolvierte Nebensache.

Schon das Bild auf dem Cover lässt es ahnen: Vertrödelte Tage gehören dazu. Doch zwischendurch erkunden die beiden ungleichen, aber einander hart-herzlich zugetanen Frauen kursorisch dieses „Outback“ der USA. Es kommen zur Sprache: das weit überwiegend grässliche Essen; die seltsamen Kneipen und Bars mit ihrem vielfach bizarren menschlichen Inventar; die zumindest im College-Dunstkreis bis in die Provinz wabernde Wokeness, allem Beharrungsvermögen der meisten Durchschnittsbewohner zum Trotz. Ferner die irrwitzigen Einkaufszentren und Ladendörfer, deren Angebote Sargnagel sehr detailfreudig schildert. Sodann der unverwüstliche Autokult. Die religiösen Gruppen, Grüppchen und Sekten, teils auch im Nachklang uralter deutscher oder niederländischer Einwanderungs-Traditionen. Aber auch schwerer greifbare Phänomene wie die eigentümlich ausgebleichte Farbpalette der Landschaft.

Freundliche Leute, aber bewaffnet

Ein Exkurs führt nach Fairfield/Iowa, wo das weltgrößte Meditations-Zentrum des berühmten Beatles-Gurus Maharishi Mahesh Yogi sich befand und wo noch zahlreiche Adepten leben. Schließlich der grassierende Waffenwahn, aber auch die staunenswert gelassene Freundlichkeit der allermeisten Einheimischen. Sie wollen einfach eine gute Zeit haben und gönnen auch Fremden alles Gute. Sargnagel fällt dies besonders auf, weil es sich so sehr von ihrem heimischen Wien mit seinen missgünstigen Grantlern abhebt. Auch Rösingers Berlin gilt ja nicht gerade als lieblich. Dennoch gibt es Passagen, in denen man sich mit den beiden Protagonistinnen nach Europa zurücksehnt. Daran ändern auch Abstecher nach Chicago und Kalifornien nichts.

Das alles und einiges mehr fügt sich zu einem vielfältigen und vielschichtigen Bild dieser gar nicht unbedingt erzkonservativen Gegend. Iowa gilt (Trump zum Trotz) als „swing state“, in dem mal die Republikaner, mal die Demokraten die Oberhand haben. Dieser Bundesstaat bescherte seinerzeit Obama die ersten Erfolge auf dem Weg ins Weiße Haus.

Die surreale Sache mit dem Pelikan

Ein nicht nur unterschwelliges Grundthema ist die liebevolle, ironisch unterfütterte Beziehung zwischen den beiden reisenden Frauen, mitsamt den Untiefen weiblicher Selbst- und Fremdwahrnehmung. Christiane Rösinger kommt zu Wort, indem ihr gelegentlich korrigierende oder ergänzende Fußnoten zu Sargnagels Haupttext eingeräumt werden, womit etwas schelmisch Dialogisches in das Buch Einzug hält. Beide Frauen schätzen den trockenen, ja zuweilen ruppigen Humor und geben sich keinen haltlosen Träumereien hin, doch eine Szene fällt aus dem Rahmen: Christiane, so scheint es, fliegt einmal unversehens auf dem Rücken eines Pelikans dahin. Oder war’s nur schöne Einbildung, ein wundersamer Flug der Phantasie, weg von aller Erdenschwere?

Stefanie Sargnagel: „Iowa“. Ein Ausflug nach Amerika. Rowohlt, Reihe „Hundert Augen“. 304 Seiten, 22 Euro.




Wie sich die Arbeitswelten wandeln (und was darüber geschrieben wird) – 50 Jahre Fritz-Hüser-Institut in Dortmund

Es waren andere Zeiten: Fritz Hüsers Büro in der Hauptverwaltung der Stadtbücherei Dortmund (damals Hohe Straße 100), sozusagen eine Keimzelle des Hüser-Instituts. (© Fritz-Hüser-Institut)

Wo soll man anfangen und wo aufhören? Wo beginnt die „Arbeitswelt“, wo endet sie? Solche Fragen drängen sich auf, wenn es um die Entwicklung des „Fritz-Hüser-Instituts für Literatur und Kultur der Arbeitswelt“ in den letzten 50 Jahren geht.

50 Jahre – das ist die Zeitspanne seit Gründung der in Dortmund ansässigen Einrichtung, die aus der Büchersammlung des Bibliothekars und vormaligen Werkzeugmachers Fritz Hüser (1908-1979) hervorgegangen ist und kürzlich Jubiläum feiern konnte. 1973 übergab Hüser seine seit den 1920er Jahren entstandene Sammlung, die bis heute auf rund 50.000 Bände sowie etliche literarisch Vor- und Nachlässe angewachsen ist, offiziell der Stadt Dortmund. Die Bestände sind im deutschsprachigen Raum, aber auch international ohne Beispiel. Doch sie sammeln in Dortmund nicht nur, sie forschen auch, veranstalten Fachtagungen, vergeben Stipendien – und so weiter.

Längst nicht nur industrielle Maloche

Freilich hat es zunächst gedankliche Begrenzungen gegeben: Unter „Arbeitswelt“ verstand man in den Anfangszeiten fast nur die knochenharte industrielle Maloche in Zechen und Stahlwerken. Wesentlich geprägt wurden solche Vorstellungen von der damaligen Realität des Ruhrgebiets, wie sie sich zumal in der Dortmunder „Gruppe 61“ und im 1970 gegründeten Werkkreis Literatur der Arbeitswelt abzeichnete. Doch unter sukzessiver Leitung von Fritz Hüser, Rainer Noltenius (ab 1979), Hanneliese Palm (ab 2005) und jetzt Iuditha Balint (seit 2018) wurde das Betätigungsfeld zusehends ausgedehnt.

Die jetzige Instituts-Leiterin Iuditha Balint. (© Roland Gorecki / Stadt Dortmund)

In all den Jahren hat der Begriff der Arbeitswelt einige Weiterungen erfahren. Iuditha Balint und ihr Team entdecken in der Literaturgeschichte und in Neuerscheinungen zahllose Werke, die den Themenkreis auf vordem ungeahnte Weise vergrößern. So haben z. B. auch Goethe („Wilhelm Meister“) oder Thomas Mann („Buddenbrooks“) recht eigentlich Arbeitswelten geschildert. Und wenn es um Bergbau geht, so war nicht erst Max von der Grün, sondern beispielsweise auch schon der Romantiker Novalis ein lebensweltlicher und literarischer Fachmann.

Prekäre Verhältnisse inbegriffen

Bereits in den 1920er Jahren fand – neben den „klassischen“ Arbeitern – das Leben der Angestellten Eingang in die Literatur. In den späten 70ern führte etwa Wilhelm Genazinos „Abschaffel“-Trilogie solche Ansätze beispielhaft fort. Ganzheitlich verstanden, definiert sich Arbeitswelt längst auch durch gegenläufige Biographien und Beschreibungen. Arbeitslosigkeit und prekäre Verhältnisse spielen denn auch in (auto)fiktionalen Texten eine wesentliche Rolle. Ferner wäre da die traditionsreiche Literatur über Vagabunden und Vaganten, wie denn überhaupt auch die Ablehnung von Arbeit innig mit der Arbeitswelt zu schaffen hat, gleichsam wie ein Negativ-Abdruck. Nebenbei bemerkt: Sprachgeschichtlich war Arbeit lange mit Mühsal und Qual verknüpft, verheißungsvolle Merkmale wie Sinnstiftung und Wohlstand wurden erst relativ spät damit verbunden.

Bis hin zum Workout und zur „Beziehungsarbeit“

Dass sich zuletzt viele Romane, Erzählungen, Stücke oder Gedichte um digitale Jobs (bis hin zu erbärmlich bezahlten „Clickworkerinnen“) drehten, versteht sich von selbst. Auch Selbstoptimierung im Fitness-Bereich („Workout“) darf bei weitherziger Auslegung als spezielle Form von Arbeit gelten, exemplarisch in John von Düffels Buch „Ego“. Spannend überdies, was sich derzeit in der Literatur begibt. Durch Beobachtung des Buchmarkts, Gespräche mit Autorinnen und Autoren sowie Jury-Arbeit bemerken sie beim Hüser-Institut aktuelle Tendenzen recht früh. Instituts-Chefin Iuditha Balint: „Wir bekommen ziemlich genau mit, was gerade entsteht.“ Nämlich?

Nun, es treten lange ignorierte oder zumindest unterschätzte Phänomene wie Hausarbeit, elterliche Arbeit und Pflege (so genannte „Care-Arbeit“) oder auch „Beziehungsarbeit“ in den Vordergrund – und damit zunehmend Frauen als Protagonistinnen. Und außerdem? Balint: „Es wird gerade erstaunlich viel über Solidarität geschrieben, über Widerstand, Streiks und Demonstrationen.“ Sollte sich die Literatur hier abermals als Seismograph erweisen? Sollte etwa eine neue Bewegung entstehen, so etwas wie eine außerparlamentarische Opposition neueren Zuschnitts? Wir werden sehen.

Staunenswerter Lebenslauf 

Staunenswert übrigens auch der Lebenslauf von Iuditha Balint. In Rumänien als Angehörige der ungarischen Minderheit zweisprachig aufgewachsen, kam sie erst ums Jahr 2000 nach Deutschland. Wie sich die einstige Kindergärtnerin seitdem die deutsche Sprache angeeignet, studiert, promoviert und wissenschaftliche Karriere gemacht hat, das macht ihr so schnell niemand nach.

Dortmund mit seiner vielfältigen freien Kulturszene dürfte unterdessen der ideale Standort eines solchen Instituts sein; erst recht in unmittelbarer Nachbarschaft der kathedralenhaften Zeche Zollern, der Zentrale des LWL-Industriemuseums. Hier und im ganzen Revier hat man sich stets als Arbeiter-Gegend verstanden. Wohl kein Zufall, dass ganz in der Nähe auch die an eine Bundesanstalt angegliederte DASA (vielbesuchte Arbeitswelt-Ausstellung) residiert. Ja, selbst im hiesigen, stets ungemein wichtig genommenen Fußball geht die Rede, dass selbiger vor allem „gearbeitet“ und nicht so sehr leichtfüßig gespielt werden solle.

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Fritz-Hüser-Institut für Literatur und Kultur der Arbeitswelt. Grubenweg 5, 44388 Dortmund. Öffnungszeiten Mo-Do 10-16 Uhr, Terminvereinbarung erforderlich. Tel.: 0231 / 50-23135. Mail: fhi@stadtdo.de

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Der Beitrag ist in ähnlicher Form zuerst im Kulturmagazin „Westfalenspiegel“ erschienen.




„Der doppelte Erich“ – wie Kästner sich durch die NS-Zeit lavierte

Erich Kästner scheint, von heute aus betrachtet, zu den Unbezweifelbaren zu gehören. War er nicht eindeutig „links“ und somit unverdächtig, es auch nur ansatzweise mit dem NS-Regime gehalten zu haben? Wenigstens bis in die späten 1960er Jahre galt er quasi als geheiligt, und bis heute scheint sein Andenken gegen Attacken gefeit. Sind seine Bücher nicht schon 1933 auf den schändlichen Scheiterhaufen der Nazis verbrannt worden? Ja, gewiss, so war es. Und doch…

…und doch gibt es jetzt ein bedenkenswertes Buch, in dem etliche Zweifel an seiner Redlichkeit laut werden. Diese Einwände lassen sich wohl nicht so einfach beiseite wischen. Kästner, schon am Vorabend des „Dritten Reiches“ mit Büchern wie „Emil und die Detektive“ (1931) weithin berühmt, ist alle die finsteren Jahre über – bis zum „bitteren Ende“ – in Deutschland geblieben, ja, er hat in dieser Zeit (wenn auch meist unter Pseudonymen schreibend) zuweilen gar nicht schlecht verdient. Propagandaminister Joseph Goebbels ließ Kästner gewähren, als der das Drehbuch des groß angelegten Films „Münchhausen“ (Kinostart März 1943, Hauptrolle Hans Alberts) zum Ufa-Jubiläum schrieb. Mit dieser Produktion wollten die NS-Machthaber zeigen, dass der längst „abgehängte“ deutsche Film Hollywood mindestens ebenbürtig war – natürlich ein lachhafter Trugschluss. Übrigens: Erst Hitler selbst setzte der stillschweigenden Schreiberlaubnis für Kästner ein abruptes Ende.

Nach 1933 nur Harmloses geschrieben

Buchautor Tobias Lehmkuhl, Journalist u. a. für „Zeit“, „FAZ“ und Deutschlandfunk, hat erwartungsgemäß gründlich recherchiert, um Kästner auf die teilweise verdächtigen Spuren zu kommen. Zwar trägt er viele, viele Fakten zusammen, doch muss er auch immer mal wieder spekulieren. Demnach ist es dann nicht unwahrscheinlich oder einigermaßen wahrscheinlich, dass Kästner zu dem oder jenem Zeitpunkt diesen oder jenen Menschen getroffen und dieses oder jenes Thema mit ihm besprochen hat. Na, wenn das so sein soll… Da steht spürbar so manches auf tönernen Füßen.

Der Buchtitel „Der doppelte Erich“ ist eine etwas wohlfeile, aber griffige Anspielung auf Kästners Erfolg „Das doppelte Lottchen“ (erst 1949 erschienen) und überdies ein Hinweis darauf, dass dieser Autor fast durchweg Maskierungs- und Doppelgänger-Geschichten ersonnen und erzählt habe. Daraus wiederum leitet sich die hartnäckig verfolgte Annahme her, dass er selbst ein Meister im Verschleiern und im geschickten Rollenspiel war. Während des „Dritten Reiches“ hat Kästner, der zuvor den beachtlichen „Fabian“ geschrieben hatte, nur noch Harmlosigkeiten wie „Drei Männer im Schnee“ oder „Die verschwundene Miniatur“ hervorgebracht. Er war, wie es hier heißt, sozusagen ein amputierter Autor, der sich hin und wieder sogar von der unmenschlichen Sprache der Faschisten (von Victor Klemperer LTI = „Lingua Tertii Imperii“ genannt) infiziert zeigte.

Kompromisse fürs (finanzielle) Überleben

Tatsächlich muss einem längst nicht alles sympathisch oder auch nur geheuer sein, was Kästner damals unternommen und unterlassen hat. Zwar hat ihm der von den Besatzern als deutscher Kronzeuge eingesetzte Carl Zuckmayer schon 1943 eine Art Unbedenklichkeits-Bescheinigung („Persilschein“) ausgestellt, doch hatte Kästner zuvor mehrfach nachdrückliche Versuche unternommen, in die NS-geführte Reichsschrifttumskammer aufgenommen zu werden. Fürs finanzielle Überleben scheint er zu einigen (faulen) Kompromissen bereit gewesen zu sein. Er selbst stand übrigens unerkannt in hinterer Reihe dabei, als (auch) seine Bücher verbrannt wurden – und hat keinesfalls dagegen die Stimme erhoben, weil ihm sein Leben lieb war.

Nach dem Krieg hat Kästner Legenden verbreitet wie jene, dass er als einziger unter Tausenden bei einer Propaganda-Veranstaltung im Berliner Sportpalast nicht mitgesungen habe und nicht aufgestanden sei, was Tobias Lehmkuhl füglich in Zweifel zieht. Man darf wohl schließen: Ein Kurt Tucholsky, mit dem Kästner in den 20ern zusammengearbeitet hatte, war und ist sicherlich eine verlässlichere moralische Instanz als der zur Nonchalance neigende Kästner.

Schattierungen des unfreiwilligen Mittuns

Der in Zeitungs-, Literatur- und Filmszene bestens vernetzte Caféhausliterat (eine Feststellung, keine Abwertung!) Kästner hat sich den Zumutungen der Zeit oft durch seinen Charme und durch Verhandlungsgeschick zu entziehen vermocht. Weiterhin pflegte er laut Lehmkuhl seinen verfeinerten Lebensstil zwischen Tennissport und Teintpflege. So detailfreudig wird sein Verhalten und werden seine beruflichen Freundschaften seit den „Goldenen“ Zwanzigern durchgespielt, dass mancherlei Schattierungen des unfreiwilligen Mittuns sich offenbaren. Auch scheint Kästner hin und wieder Gesinnungs-Verrat an einstigen Mitstreitern verübt zu haben, womit er heftige Kritik z. B. von Walter Benjamin oder Klaus Mann (Wie sich das angepasst hat (…) bis zum morastischen Schlammgrund der Ufa-Presse“) auf sich zog. Gegen solche harschen Anwürfe nimmt auch Lehmkuhl seinen Protagonisten in Schutz. Überhaupt ist er bemüht, möglichst Mittelwege einzuhalten. Auch damit entspricht er seinem Thema, das man wahrscheinlich nicht anders als schwankend schildern kann.

Fragen zur „Inneren Emigration“

Ein eigenes Kapitel ist Kästners ebenfalls zwiespältigem Verhältnis zu Frauen gewidmet. Der Mann, der allzeit sein Dresdner „Muttchen“ (freilich arg geschönt und verharmlost) brieflich auf dem Laufenden hielt, gestand – damals keine Selbstverständlichkeit – seinen zahlreichen Liebschaften zwar einen eigenen Kopf und eigene Freiheiten zu, ließ aber gelegentlich Frauenverachtung durchblicken. Auch dafür bringt Lehmkuhl passende Belegstellen bei. Mit Treue hatte Kästner es eh nicht. Beispiel: Just als eine Gefährtin beim Autounfall verstarb, lag er mit einer anderen zu Bette. Etwas küchenpsychologisch werden folglich Vermutungen über seine Beziehungsunfähigkeit angestellt.

Noch einmal wirft dieses Buch häufig gestellte Fragen zur „Inneren Emigration“ auf, die auch anhand anderer Zeitgenossen (Gottfried Benn, Axel Eggebrecht etc.) aufgeworfen werden, wobei u. a. die wirklichen Emigranten Thomas Mann und Theodor W. Adorno als moralische Maßstäbe angelegt werden. Auch dabei gibt es kein reines Schwarz oder Weiß, es geht um vielerlei Grautöne. Hatte Kästner anfangs vielleicht wirklich noch angestrebt, einen größeren Roman übers „Dritte Reich“ zu verfassen und eben deshalb im Lande zu bleiben, so sind kaum Notizen für ein solches Projekt erhalten – geschweige denn, dass ein veritables Werk dieser Art entstanden wäre. Nur: Konnte jemand unter vergleichbaren Bedingungen wesentlich anders handeln als Kästner?

Gar lange lässt eine Schilderung von Kästners Nachkriegs-Existenz auf sich warten, die dann leider auch etwas knapp ausfällt. Speziell hätte mich zum Beispiel Kästners patenschaftliche Rolle bei Gründung des legendären Satiremagazins „Pardon“ (1962) interessiert. Aber das ist vielleicht noch mal ein anderes Kapitel.

Tobias Lehmkuhl: „Der doppelte Erich. Kästner im Dritten Reich“. Rowohlt Berlin. 305 Seiten, 24 Euro.




Namen über Namen: Michael Krügers „Verabredung mit Dichtern“

Eines gleich vorweg: Der Lebensleistung von Michael Krüger, dem langjährigen Leiter des Münchner Hanser-Verlags und – keinesfalls nur nebenbei – Schriftsteller, gebührt unbedingt großer Respekt, ja Bewunderung. Kaum einer neben und nach dem Suhrkamp-Doyen Siegfried Ungeld hat dermaßen viel für die Literatur seit den mittleren 1960er Jahren bewirkt. Umso mehr Aufschlüsse erwartet man von Krügers Buch „Verabredung mit Dichtern“, das im Untertitel „Erinnerungen und Begegnungen“ verheißt.

Der Band umfasst immerhin 447 Seiten, lässt also eigentlich Raum für Gründlichkeit. Doch, ach! Satt dessen wird man geradezu erdrückt von lauter Namedropping. Wenn Krüger erst einmal in Fahrt geraten ist, vergisst er (obwohl er mehrmals auf sein schwaches Gedächtnis verweist) offenbar gar keine Begegnung mit höchstkarätigen Literaten und sonstigen Künstlern aus Musik, Bildnerei, Film und Theater zu erwähnen. Nur leider erschöpfen sich seine Aufzählungen eben oftmals darin. Häufig driften sie ins bloß Anekdotische oder schlimmstenfalls ins Prätentiöse ab.

Worüber hat er mit Susan Sontag gesprochen?

Nur ein Beispiel von Hunderten: Da lässt uns Krüger wissen, er habe mit der legendären Susan Sonntag (eine von relativ wenigen Frauen als Protagonistinnen im Buch, viele andere haben lediglich Kurzauftritte als kluge Partnerinnen berühmter Schriftsteller) in der ebenso legendären Berliner „Paris Bar“ gesessen. Was sie dort geredet haben, bleibt freilich im Verborgenen. Es hätte sehr interessant sein können – wie so vieles andere. Ist es Diskretion, Notizen-Chaos, Erinnerungsverlust oder Unlust, die uns so manches vorenthält?

Offenbar hat niemand bei Suhrkamp einem wie Michael Krüger dreinzureden gewagt. Seine Einleitung folgt etwa dem Motto „Kinder, wenn ich wollte, könnte ich ungeheuer viel erzählen.“ Doch dafür, so Krüger in majestätischer Bescheidenheit, sei er gar nicht so recht begabt. Dann legt er allerdings los…

Bloß niemanden verprellen!

Nach einem längeren Exkurs zu seiner Berliner Nachkriegsjugend wendet sich der 1943 geborene, schwer an Leukämie erkrankte Krüger (der am 9. Dezember 80 Jahre alt geworden ist) seinen verlegerischen Anfängen zu. Zunächst absolvierte er eine Art Praktikum in London, dann ging’s alsbald zu Hanser in München – in einer enorm spannenden Zeit des politischen und literarischen Aufbruchs, in der freilich die Literatur zu Krügers Leidwesen von vielen Leuten totgesagt und der Politik untergeordnet wurde.

Bis hierhin wird das Geschehen noch ziemlich plastisch wiedergegeben, Krügers Stil wirkt zunächst angenehm entschlackt. Doch dann hat er immer mehr, wenn nicht nahezu alle damaligen und späteren Berühmtheiten des Literaturbetriebs kennen gelernt. Deshalb gerät er nun immer öfter in Versuchung, Namenslisten aufzustellen und abzuarbeiten, ja durchzuhecheln. Bloß niemanden durch Nichtnennung verprellen!

Einer, der zu rühmen weiß

Da könnte man wirklich neidisch werden: Wen er gekannt hat! Bei wem er eingeladen war oder ein und aus ging. Mit wem er nach eigenem Bekunden befreundet war. Wo und bei wem er genächtigt hat und an traumschönen Orten dieser Welt Wochen oder Monate verbringen durfte! Stets in ungemein anregendem, hochgeistigem Ambiente, versteht sich. Überdies in einer Ära, in der das Verlagswesen noch nicht so durchkommerzialisiert war…

Michael Krüger ist einer, der vor allem zu rühmen weiß. Auch scheut er das zwischenzeitlich in der Literaturwissenschaft verpönte, recht weihevolle Wort „Dichter“ nicht. Die allermeisten, die er erwähnt, waren oder sind demnach ungemein polyglott und haben die Inhalte abertausender Bücher in ihren Köpfen. Nie versäumt es Krüger, geradezu unfassbare geistige Kräfte seiner Freunde zu schildern. Wie Koketterie mutet es an, wenn er immer mal wieder betont, wie wenig fähig und berühmt er selbst im Vergleich sei (Zitat, anlässlich einer Tagung: „…außer mir alles berühmte Namen, die zu dem Thema wichtige Gedanken liefern konnten“). Sollte das etwa Fishing for compliments sein?

Warum denn kein Personenregister?

Die lange Liste der Namen füllt sich zunächst mit einem Aufenthalt in der römischen Villa Massimo, der sich als ausschweifender persönlicher Streifzug durch die italienische Gegenwartsliteratur und darüber hinaus erweist. Weitere Kapitel heißen z. B. „Meine schwedischen Freunde“, „Meine israelischen Dichter“, „The Boys und einige andere“ (USA), „Meine holländischen Dichter“ und „Meine polnischen Freunde“. Wohlgemerkt: Meine…

Da gibt es Abschnitte, in denen sich weltweit geschätzte Autoren wie Derek Walcott,  Joseph Brodsky, Seamus Heaney und Philip Roth gleichsam die Klinke in die Hand geben oder gleich mit Krüger beieinander sitzen. Da wohnt er in London beim ruhmreichen Pianisten Alfred Brendel, um Julian Barnes zu treffen, wobei auch… Halt! Wir wollen hier nicht die schier endlosen Namenslisten der Kulturgrößen nachbeten. Es fragt sich jedoch, warum gerade ein solcher Band völlig ohne Personenregister auskommt. Die ganze Herangehensweise ruft doch nach abschließender alphabetischer Sortierung und Überblick. Auch hätte man sich ein paar prägnante Abbildungen mehr gewünscht.

Manches bleibt noch zu tun

Dass Krüger ein Verleger war, der sich für „seine“ Autorinnen und Autoren eingesetzt und sie – bei fachlicher Kritik im Detail – grundsätzlich „beschützt“ hat, ahnt man gleichwohl in vielen Passagen dieses Buches. Dass er außerdem über weitaus subtilere Ausdrucksmöglichkeiten verfügt, als er sie hier über weite Strecken erkennen lässt, zeigen eingestreute Auszüge aus seinen Gedichten und etliche Zitate aus Nachrufen und Preisreden, die er auf Schriftsteller gehalten hat. Apropos: Im obligatorischen Frack hat er die eine oder andere Nobelpreisverleihung erlebt. Hingegen schreibt er mit einer Regung zwischen Scham und Stolz, über Jahrzehnte keinen kompletten Anzug getragen zu haben.

In einer knappen Nachbemerkung entschuldigt sich Michael Krüger, einige Literatur-Nationalitäten diesmal noch nicht berücksichtigt zu haben. Er nennt mal eben pauschal: Frankreich, Spanien, Portugal, das Baltikum, Russland, die Ukraine, Ungarn, Bulgarien, Rumänien, Griechenland, die Türkei, Japan, China – und last, but not least: all die „deutschen Dichter, mit denen ich mein Leben verbracht habe (…) Es bleibt also noch etwas zu tun.“

Michael Krüger: „Verabredung mit Dichtern. Erinnerungen und Begegnungen“. Suhrkamp, 447 Seiten, 30 Euro.

 

 




Dem Tod gefasst entgegensehen – Paul Austers Roman „Baumgartner“

Ein doppeltes Missgeschick wirft das Gedanken-Karussell des Erzählens an: Zuerst hantiert Professor Seymour T. Baumgartner (genannt „Sy“), emeritierter Phänomenologe und Schriftsteller aus Princeton (USA), höchst ungeschickt mit einem glühend überhitzten Topf. Kurz darauf stürzt er eine Treppe hinunter. Slapstick mit schmerzlichen Folgen.

Doch da ist ein bleibender, ungleich tieferer Schmerz, der phantomhaft fortwirkt: Vor einigen Jahren ist Anna, die Frau seines Lebens, wider seinen Rat abends noch einmal zum Schwimmen ins Meer gegangen und von einer tödlichen Monsterwelle erfasst worden. Wie kann der Hinterbliebene das aushalten? Zitat: „Leben heißt Schmerz empfinden, sagte er sich, und in Angst vor Schmerz zu leben, heißt das Leben verweigern.“ Für eine solche Einsicht muss das Ereignis wohl schon eine Weile zurückliegen.

Seit Annas Tod schwindet jenes Gefühl nicht mehr, dass einem immer und überall etwas zustoßen kann. Aus dem andauernden Bewusstsein von Endlichkeit und Vergänglichkeit erwächst hier mit der Zeit Gefasstheit, während die Panik sich nach und nach vermindert.

Auf schwankendem Boden

Gleichwohl: Auf unsicherem, schwankendem Boden bewegt sich Paul Austers Roman „Baumgartner“, der aus Reflexionen und Erinnerungen des nunmehr 71 Jahre alten Witwers besteht; freilich nicht in der Ich-Form, sondern distanziert in der dritten Person wiedergegeben, doch kaum minder eindringlich. Es stehen nun solche Fragen an:  Wie viel Zeit bleibt noch auf Erden? Was geschieht nach dem Tod? Besteht dann noch eine geheime Verbindung mit einst geliebten Lebenden?

„Er ist jetzt einundsiebzig, in sechs Wochen steht der nächste Geburtstag an, und ist man erst einmal in dieser Zone schrumpfender Perspektiven angelangt, muss man mit allem rechnen.“ Gekommen sind demnach die Zeiten, in denen nicht nur generell das Gedächtnis nachlässt, sondern man auch öfter vergisst, den Hosenstall zuzumachen. Das Altern als lachhaft traurige Groteske… Aber wäre es denn besser, so früh, selbstgewiss, kühn und aufrecht in den Tod zu gehen wie seinerzeit Anna?

Lektüre unter anderen Vorzeichen

Unterdessen schweifen Baumgartners Gedanken in die Vergangenheit. Es ziehen so manche Szenen aus seinem Leben noch einmal vorüber; besonders aus der Frühzeit, als er Anna kennenlernte, die damals zunächst den Ehrgeiz hatte, Baseball-Spielerin zu werden, um es den Jungs zu zeigen. Ein Paar wurden sie erst nach etlichen Jahren, vor dem Zeithorizont des Vietnamkriegs und der heftigen Proteste dagegen. Durch Zufall sind sie einander wieder begegnet, doch auch wie vorherbestimmt. Es wurde eine anfangs wild erotische, sodann zunehmend intellektuell bereichernde Partnerschaft.

Austers treue Leserinnen und Leser mögen hierbei an sein reales Leben mit der ebenfalls ruhmreichen Schriftstellerin Siri Hustvedt denken. Es bleibt ihnen unbenommen. Aber in derlei Analogien geht dieses Buch natürlich längst nicht auf. Seit Siri Hustvedt die (literarische) Welt hat wissen lassen, dass Paul Auster an einer schweren Krebserkrankung leidet, liest man einen solchen Roman allerdings unter anderen Vorzeichen und mit anderen Regungen. Je nach Lebensalter dürften sich zudem verschiedene Lektüren ergeben. Doch darunter sollte keinerlei fruchtlose Lektüre sein.

Ukraine als Zone des Schreckens

Die Rückblicke führen jedenfalls über die wechselhafte Lebensgeschichte der Eltern (welche Optionen hatten sie, welche haben sie genutzt?) bis in die Kindheit und weiter hinab zum Gedenken an den jüdischen Großvater in der Ukraine, wo Baumgartner sich viele Jahrzehnte später – am Rande einer PEN-Autorentagung – in der entsprechenden Region um Lwiw umsehen konnte. In der Gegend sind viele Gräuel des 20. Jahrhunderts kulminiert, sie war wiederholt eine Zone schrecklichen Massensterbens. Dieser Roman schildert eben keine rein persönliche Geschichte, er umgreift auch das Weltgeschehen. Übrigens erinnert sich Auster und mit ihm Baumgartner in diesem Zusammenhang an ein deutsches Gedicht, das Georg Trakl in jenen Breiten über den Ersten Weltkrieg geschrieben hat. Es heißt „Im Osten“ und endet mit der Strophe:

Dornige Wildnis umgürtet die Stadt.
Von blutenden Stufen jagt der Mond
Die erschrockenen Frauen.
Wilde Wölfe brachen durchs Tor.

Gegen Ende hin scheint die Handlung gleichsam ein wenig ins Schlingern zu geraten, als würde es Auster aus der Kurve tragen. Auch Baumgartner hat ein Buch mit dem Titel „Rätsel des Steuers“ vollendet, das sich zwischen Aristoteles und allerlei Erwägungen zum „autonomen Fahren“ ergeht. Er fragt sich selbst, ob etwa seine Kraft zum Schreiben nachgelassen habe. Auch hier also das Menetekel des Alterns. Doch noch einmal, ein letztes Mal, so scheint es, hat er einen Text auf eigener Höhe verfasst.

An wessen Türe klopft er schließlich an?

Es geht derweil nicht nur um Todesnähe und Zeitvergang, sondern zuinnerst auch um die Liebe. Nach Jahren der flehentlichen Trauer hatte Baumgartner jüngst eine Affäre, aus der mehr zu werden schien und aus der dann doch nichts geworden ist. Und nun? Hat sich eine junge, offenbar ausgesprochen kluge und vitale Wissenschaftlerin gemeldet, die sehr eingehend über Annas vorliegendes und verborgenes Werk forschen möchte, wobei ihr Baumgartner sicherlich am besten helfen kann. Er lädt sie auf unbestimmte Dauer ein, lässt eigens ein Einlieger-Apartment für sie herrichten, blüht auf vor lauter Vorfreude, ja Vor-Verliebtheit. Ist sie nicht gar so etwas wie eine wiedergeborene Anna? Als sie im fernen Bundesstaat losfährt, macht er sich ungeheure Sorgen wegen der Wetterverhältnisse. Ob und wann diese Beatrix („Bebe“) Coen bei ihm eintrifft, erfahren wir jedoch nicht mehr. Der Roman nimmt ein jähes Ende, das ins Leere zu laufen scheint. Ob es auch im Nichts endet, steht dahin.

An diesem Ende geschieht abermals ein Unfall, diesmal mit dem Auto, in das sich Baumgartner gegen alle Vernunft beim widrigem Winterwetter gesetzt hat. Er scheint nur leicht verletzt zu sein und selbst Hilfe in einem nahegelegenen Haus aufsuchen zu können. Doch dann klingt es in den vieldeutigen Schlusssätzen so, als habe er vielleicht nicht bei gewöhnlichen „Leuten“, sondern an die Tür des Todes geklopft. Welch ein rätselvoller Aus- und Übergang. Niemand weiß mehr.

Paul Auster: „Baumgartner“. Roman. Aus dem Englischen von Werner Schmitz. Rowohlt, 204 Seiten, 22 Euro.




„Nie in Mode gewesen“ – Julien Gracq und seine „Lebensknoten“

In der Handschriftenabteilung der „Bibliothèque Nationale de France“ befinden sich neunundzwanzig mit „Notules“ (Randnotizen) betitelte Hefte des Schriftstellers und Dichters Julien Gracq. Ihre Veröffentlichung hat der Autor bis 2027, zwanzig Jahre nach seinem Tod, untersagt. Jedoch hatte Gracq einige Prosastücke ins Reine geschrieben und zum Abtippen gegeben, die 2021 in Frankreich unter dem Titel „Noeuds de vie“ („Lebensknoten“) und jetzt in der Friedenauer Presse auf Deutsch erschienen sind.

Abseits des Literaturbetriebs

Nachdem Julien Gracq mit seinem ersten Roman „Auf Schloss Argon“ (1938) und seinem einzigen Theaterstück „Le Roi pêcheur“ (UA 1949) bei Verlagen und Kritikern nicht die erhoffte Anerkennung fand, wandte er sich enttäuscht vom französischen Literaturbetrieb ab, unterrichtete unter seinem bürgerlichem Namen Louis Poirier bis zu seiner Pensionierung im Alter von sechzig Jahren als Gymnasiallehrer Geografie und Geschichte, schrieb in dieser langen Zeit ununterbrochen weiter, hielt sich aber von der Öffentlichkeit fern. Das änderte sich auch nicht, als ihm 1951 für seinen Roman „Das Ufer der Syrten“ der Prix Goncourt zuerkannt wurde. Die bedeutende Auszeichnung nahm er nicht an – eine solche Ablehnung war beispiellos in der Geschichte des renommierten Preises, was umso mehr für Furore sorgte. „Es ist für einen Schriftsteller heute ein Glücksfall, nie in Mode gewesen zu sein, sondern in einer Zone des Rückzugs und Halbschattens verweilt zu haben“, wird er später in einem seiner Notizbücher festhalten.

In den letzten Lebensjahren zog er sich in seinen Geburtstort Saint-Florent-le-Vieil an der Loire zurück, wo er 2007 im Alter von 97 Jahren starb. „Nie in Mode gewesen“ – das schließt einige bedeutsame Ehrungen und eine große Zahl literaturwissenschaftlicher Studien über den Autor und sein Werk nicht aus. Julien Gracq gehört zu den wenigen Literaten, deren Gesamtwerk bereits zu seinen Lebzeiten in die „Bibliothèque de la Pléiade“ aufgenommen wurde, die in Frankreich gleichsam den Kanon der Literatur bestimmt.

Nähe zum Surrealismus

Anfang der 1930er Jahre entdeckte der Zwanzigjährige das „Manifest des Surrealismus“ und André Bretons 1928 erschienenen Roman „Nadja“, der ihn tief beeindruckte. Umgekehrt schuf er durch die Zusendung seines ersten Romans an André Breton auch die Voraussetzung, um von den Surrealisten entdeckt und als einer der Ihren wahrgenommen zu werden. Seine Nähe zum Surrealismus wird beispielsweise in den frühen Prosagedichten des Bandes „Liberté Grande“ (1946) deutlich, aus dem die Literaturzeitschrift „Sinn und Form“ (Heft 1, 2019) eine Auswahl veröffentlichte, die ebenso wie der vorliegende Band „Lebensknoten“ von Gernot Krämer ins Deutsche übersetzt wurde.

Julien Gracq wird mit Breton bis zu dessen Tod 1966 eine lebenslange Freundschaft verbinden. Gleichwohl blieb er skeptisch gegenüber so manchem, wodurch sich der Surrealismus auszeichnet. Mit dessen Ursprüngen aus der Dada-Bewegung konnte Gracq wenig anfangen. Ebenso wenig sah er in der „Écriture automatique“, dem Schreiben unter Ausschaltung aller inneren Kontrollinstanzen, einen Ansatz, den zu verfolgen sich für ihn gelohnt hätte. Er trat auch nie, wie ein Großteil der Surrealisten, in die Kommunistische Partei ein, und es lag ihm fern, sein Schreiben in den Dienst der Revolution zu stellen.

Gracq betont jedoch wie die Surrealisten die Kraft von Träumen. Bei seinem bevorzugten kleinen Schreibtisch, von dem ein Foto in den Band aufgenommen wurde, ist ihm die Nähe zum Bett wichtig, als „Symbol für Rückzug und nächtlichen Rat“. Wie aus einer anderen Notiz hervorgeht, teilt er jedoch keineswegs die Begeisterung vieler Surrealisten für Traumdeutung und die psychoanalytischen Theorien Sigmund Freuds. „Wie sollte man nicht argwöhnisch sein gegen einen Magier, dessen Zaubertricks die Rätsel weitgehend erst schaffen, die er lösen will?“

Verlockende Fahrten

Für den Band „Lebensknoten“ hat die Herausgeberin Bernhild Boie die literarischen Miniaturen in vier Themenbereiche untergliedert. Im ersten Teil führen uns Notizen unter der Überschrift „Wege und Straßen“ durch verschiedene Landschaften Frankreichs und der Schweiz, etwa von Sancerre aus nordwestlich durch die als finster beschriebene Sologne – „Frankreichs Kuhle, (…), ein stehender, eingekellerter Nabel, den nur selten der Wind besucht und der wie ein Tümpel unter grünem Schaum schläft“; in das winterliche Loire-Tal und durch die rechts und links des Flusses gelegenen Orte.

Die Landschaften der Vendée und der Bretagne stellt Gracq vergleichend gegenüber – in detailreichen sprachlichen Momentaufnahmen, mit denen der Autor Stimmungen evoziert. Vom Boot aus betrachtet er das französische und das Schweizer Ufer des Genfer Sees, das sich mit den Jahren nicht zu seinem Vorteil verändert hat. So beginnt der Band mit mehreren Fahrten, die trotz ihrer stillen Melancholie zum Nachreisen verlocken. Auf seinen Spaziergängen rund um seinen Geburts- und letzten Rückzugsort Saint-Florent-le-Vieil empfindet Gracq auch in der vertrauten Umgebung „keine Ruhe, kein ermutigendes Gefühl der Beständigkeit, sondern eher das sorgenvolle Unbehagen, das uns vor einer zur Fällung markierten Baumgruppe beschleicht, vor einem vertrauten Bauwerk, das abgerissen werden soll (…)“. Im Garten seines Großvaters erinnert er sich an „einen auf Spalier gezogenen Apfelbaum und einen Streifen Wermutsetzlinge“.

Kristallisationspunkte

Während sich der erste Teil den räumlichen Bewegungen widmet, versammelt der zweite Teil, „Augenblicke“, verschiedene Kristallisationspunkte im Längsschnitt der Zeit, historische Momentaufnahmen oder Erlebnisse von subjektiver Wichtigkeit. Für das Jahr 1945 stellt er in Frankreich „in jeder Hinsicht eine Krise des Ausdrucks“ fest; die Zeit schreie „verzweifelt nach einer Form“ – „Ein Verlangen nach Dichtern vielleicht, auf jeder Ebene.“ Eine Ausstellung im Invalidendom zum sogenannten „Sitzkrieg“ (im Französischen bekannt als „Drôle de guerre“), der von September 1939 bis Mai 1940 andauerte und den Gracq als Soldat erlebte, enttäuscht ihn durch ihre, wie er findet, dürftigen, belanglosen Exponate. „Nichts verbindet diese mittelmäßigen Beweisstücke mit dem taghellen Somnambulismus, der sich acht Monate lang einer ganzen Nation bemächtigt hatte.“

Kriegsschilderungen

Gracq weiß, wovon er spricht, hat er doch  in zahlreichen Prosaskizzen den Zweiten Weltkrieg in unideologischer, poetischer Sprache eindringlich festgehalten – die Absurdität eines gewaltigen, desorganisierten Militärapparats, surreal und als komische Farce. Julien Gracqs „Manuscrits de guerre“ wurden 2011 posthum aus seinem Nachlass veröffentlicht und sind als „Aufzeichnungen aus dem Krieg“ (2013) im Literaturverlag Droschl erschienen. Aber auch in seinen Romanen wie „Das Ufer der Syrten“ (1951) und „Der Balkon im Wald“ (1958) ist der Krieg präsent. In Besprechungen und literaturgeschichtlichen Arbeiten zu Gracq wurde auf die frühe, ihn prägende Lektüre von Ernst Jüngers „Auf den Marmorklippen“ hingewiesen, einem Autor, mit dem er sich später anfreunden sollte; zwei Schriftsteller der „alten Schule“. Aus manchen seiner Texte spricht eine Haltung, ähnlich wie Gracq sie 1986 im Gespräch mit Jean Carrière geäußert hat (von Bernhild Boie in ihrem Vorwort zitiert): „(…) man kann die Welt sehr wohl als unersetzliches Wunder für den Menschen betrachten und in aller Gelassenheit bar jeder Hoffnung sein.“

Der Autor als Leser

Gracqs frühe Lektüren zeugen von einer Vorliebe für Abenteuer und Phantastik: James Fenimore Cooper, Jules Verne, Robert Louis Stevenson, E. A. Poe, „Die Gesänge des Maldoror“ von Lautréamont. Gracq benennt die Imagination als „eine Vitalfunktion genau wie die Atmung“, ja mehr noch: „sie ist es, die die Luft atembar macht.“ Als handele es sich dabei um eine Selbstverständlichkeit, setzt er solche literarischen Preziosen in die Klammern eines Satzes, der auf Pierre Reverdy und nebenbei auch auf Hegel antwortet. Im dritten Teil der „Lebensknoten“ können wir einige der klugen Beobachtungen des lesenden Autors Julien Gracq goutieren. Etliche Schriftsteller des 19. und 20. Jahrhunderts geraten unter sein Seziermesser und werden entweder für ihre Verdienste gewürdigt, oder aber es werden, oft mit einem von Ironie gewürzten Urteilsvermögen, ihre Schwächen aufgezeigt.

Da ist Stendhal, den er früh schon bewunderte, Arthur Rimbaud, mit dem er sich sehr gut auskennt, Henry de Montherlant, dessen „herrliche Sprache“ darüber hinwegtäuschen könnte, „dass er doch nur das tägliche Brot austeilt.“ Zwei Buchseiten über J. R. R. Tolkien – und damit eine der längsten Notizen dieses Bandes – mögen überraschen. Die Lektüre von „Der Herr der Ringe“ erlebt er als befreiend, nicht zuletzt, weil nach seiner Lesart das dort beschriebene Geschehen unter kompletter Auslassung „geltender und praktizierter Religionen entstanden“ sei. „Hier treffen Mächte aufeinander und nicht Werte; nicht Gut und Böse, sondern weiße Mächte und schwarze Mächte.“ Gracqs Anfang der fünfziger Jahre begonnenes, aber erst posthum veröffentlichtes Romanfragment „Das Abendreich“ wurde von einigen Kritikern mit Tolkiens Großepos verglichen.

Dichterisches Selbstverständnis

Aus seinen scharfsinnigen Analysen und pointierten Kommentaren zu Zeitgenossen und älteren Autoren spricht ein dichterisches Selbstverständnis, das sich, wie selbst die relativ wenigen in „Lebensknoten“ versammelten Notizen erkennen lassen, zu einer eigenen Poetologie erweitert. „Niemand ist wirklich in Kommunion mit der Literatur, der nicht das Gefühl für das Ganze hat, das noch im kleinsten ihrer Teile vorhanden ist.“ Bei einem Roman sei die „Navigation“ entscheidender als „die Häfen und Landstriche, die unterwegs besucht werden.“ Es gelte zunächst, eine „bestimmte Anfangsgeschwindigkeit zu erreichen“, danach dürften Kräfte auf den „vorwärts getriebenen Körper einwirken, die seine Richtung verändern, ihn bremsen, wieder beschleunigen.“ Die Macht der Bewegung müsse stark genug sein, um jeden Gedanken an ein Ziel auszulöschen. Darüber werde das Sujet beinah nebensächlich.

Worauf es beim Romanschreiben ankommt

Einige solcher Statements, die er in der Auseinandersetzung mit schreibenden Zeitgenossen entwickelt, werden im vierten Teil der Textsammlung aufgegriffen, wenn es um Gracqs eigenes Schreiben geht. Eine Formulierung Paul Valérys zum Vorausdenken beim Schach und die Übertragbarkeit dieser Fähigkeit auf das Schreiben von Romanen nimmt er zum Anlass, darzulegen, worauf es ihm beim Schreiben mehr noch ankommt als auf das Durchspielen vieler möglicher Varianten: Auf die „Fähigkeit, blitzschnell, instinktiv zwischen aufscheinenden Kombinationen zu wählen, automatisch, ohne auch nur zehn Sekunden zu verschwenden, acht von zehn Möglichkeiten auszuschließen.“ Ein „Tastsinn für Positionen“, die „Fähigkeit umfassender Ortung“ – „Am Anfang eines Romans steht keineswegs die tatsächliche Richtung des künftigen Werks, sondern das Vorgefühl seiner Autonomie.“ In einer anderen Notiz hält er folgerichtig fest: „Seinen Zauber und seine Würze erhält ein Roman allein durch das Schwänzen der Schreibschule und nicht durch den unfehlbaren Konstruktionsplan.“

Solche Sätze machen neugierig auf Julien Gracqs Romane, die in insgesamt 26 Sprachen und von denen mehrere auch auf Deutsch erschienen sind. Hoffentlich gelingt es dem schönen und handlichen Band aus der Friedenauer Presse, den Autor Julien Gracq auch Leserinnen und Lesern zugänglich zu machen, die bislang noch nicht zu seinen Verehrern zählten. Die Voraussetzungen dafür dürften durch die gelungene Übersetzung geschaffen und der Zeitpunkt für eine (Wieder-)Entdeckung des Autors dürfte mehr als reif sein.

Julien Gracq: „Lebensknoten“. Aus dem Französischen von Gernot Krämer. Friedenauer Presse, 174 Seiten, 20 Euro.




Gehen und Innehalten – Peter Handkes „Ballade des letzten Gastes“

Aus gänzlicher Fremde, wieder aus einem anderen Erdteil kommend, kehrt ein Mann namens Gregor – wie alljährlich zuvor – für eine Woche heim. Taufpate des Sohnes seiner Schwester soll er diesmal werden.

Was gibt es noch am einst heimischen Ort, was und wen kennt er noch? Nur noch Bruchstücke. Die frühere Dorflandschaft ist längst Teil einer gestaltlos ausufernden städtischen Agglomeration.

Unterwegs erhält Gregor die Nachricht, dass sein jüngerer Bruder, ein Söldner, gestorben sei. Er verschweigt es seiner Familie, erst kurz vor Gregors Abreise erfährt es wenigstens die Schwester.

Überaus sorgsam und skrupulös registriert der Heimkehrende jede Kleinigkeit, jeden Vorgang am Wegesrand. Mit Ungeduld darf das jedenfalls nicht gelesen werden. Sonst müsste man das Buch alsbald beiseite legen. Passender wär’s, man läse es – verwegene Idee? – wie ein lernendes Kind, gleichsam mit dem Zeigefinger die Zeilen nachfahrend.

Keine „fertige“ Erzählung

„Die Ballade des letzten Gastes“ von Peter Handke kommt nicht als „fertige“ Erzählung daher, sondern ergeht sich in mühsamen Wortfindungen voller Sprachzweifel. Kein Satz geht einfach so dahin. Beispielzitat für viele: „In der Krone des einen (…) Baums jetzt ein Knacken, nein, ein Knistern, nein, ein Rascheln, nein, ein Rumoren, nein, ein Klopfen – Unsinn, ein Geräusch, für das es kein Wort gab, oder mehrere, viele, unendlich viele…“ Selbstkorrekturen ohne Unterlass. Nichts steht fest, nichts ist gewiss. Gar vieles steht nur in Anführungszeichen.

Allerdings verwendet Handke – wie zum Trotz – erneut seine bekräftigenden Lieblings-Fügungen wie „jetzt und jetzt“, „jetzt, und jetzt, und abermals jetzt“, „nicht und nicht“, „nichts und wieder nichts“. Es klingt in der Häufung nach Manier und Marotte, mag aber auch auf Dringlichkeit hindeuten. Denn immerzu droht die allgemeine Katastrophe. Zitat: „Wir Kippfiguren! Wir auf des Messers Schneide!“

„Her mit einer Diktatur…“

Zwischendurch dann jene, für Handke gleichfalls nicht untypischen Ausbrüche solchen Zuschnitts, die einen ratlos lassen, Rollenprosa hin oder her: „Nie wieder Kino. Schluß mit den Filmen als Zuschauerrechtsverletzungen. Teil der Demokratie das Zeug? Nieder mit der Demokratie,  weg mit all den Alles-geht-Demokratien (…) Her mit einer Diktatur, einer neuen, die verbietet, was verboten gehört. Vita nuova!“ Inwieweit wäre dies wörtlich zu nehmen? Von Peter Handke, dem erklärten Feind jeglicher Meinungen? Doch der Autor der legendären „Publikumsbeschimpfung“ lässt Gregor im Laufe der Erzählung beispielsweise auch noch den kleinen Täufling und die Natur verfluchen.

Vor allem aber zelebriert Handke das Nichtgeschehen. Er beschwört Vorstellungen wie jene von der Einäugigkeit, noch gesteigert mit dunkelster Brille – oder jene von ziellosen Fahrten in nahezu leeren Straßenbahnen. Am Rande des Nicht-Sehens, des Nicht-Begegnens. Abkehr von Zumutungen der Mitwelt. Sodann aber der nächtliche Kauf unscheinbarer, ja nichtiger Dinge, durch den Gregor sich unversehens geerdet und zugehörig fühlt. Übliche Sinnstiftung im Kapitalismus? Nein, nicht so profan. Zugleich wird ja der gewichtige Mythos vom heimkehrenden Odysseus aufgerufen. Doch auch Zeilen aus einem unbedarften Popsong („Sheila“ von Tommy Roe) oder Western-Zitate fließen mit ein. Solche Jukebox-Anklänge kennt man von Handke gleichfalls.

Erst im Wald, dann in den Gaststätten

Der mitunter umständliche, bisweilen seherische und weihevolle Erzählduktus – oder: Fortgang – ist ein beständiger Wechsel zwischen „gehen, gehen, gehen“ (Zitat, Seite 102) und Innehalten. Daraus ergibt sich eine Chronik des Verirrens (Odyssee) und einer schweifenden Sehnsucht, die insbesondere in einem rätselhaft widersprüchlichen Wald-Erlebnis gipfelt. Schließlich, gegen Ende der Heimkehr-Woche, sucht Gregor allabendlich irgendwelche Gaststätten auf, in denen er unbedingt stets der „letzte Gast“ sein will. Dort findet er so etwas wie gutwillige Gemeinschaft vor, die ihn aber nicht behelligt.

Das zweite von drei Kapiteln heißt denn auch „Die Ballade vom letzten Gast“, das dritte (eine Art Essenz des Vorherigen) „Die Ballade des letzten Gastes“. Nanu! Erst gegen Schluss erfahren wir den Nachnamen der Hauptfigur: Gregor Werfer wird er genannt. Nochmals nanu! Über derlei Feinheiten mag man sich das Hirn zermartern – oder lieber die wohl wundersamste Episode des Buches inhalieren, wie sie so vielleicht nur Peter Handke beschreiben kann. Auf einem seiner einsamen Gänge in einem leeren Stadion pausierend, sieht Gregor einem selbstvergessen Fußball spielenden Mädchen zu – ein Inbild der stillen Zuversicht; nicht flüchtig, sondern auf Dauer und Tragweite angelegt.

Peter Handke: „Die Ballade des letzten Gastes“. Suhrkamp, 185 Seiten, 24 Euro.




Entwaffnend: Platons „Apologie des Sokrates“, neu übersetzt

Sonderlich geschickt war es eigentlich nicht, was Sokrates da angerichtet hat. Er hat allerlei Fachleuten in Athen, die sich für ungemein wissend hielten, glasklar vorgeführt, dass sie im Grunde nichts wussten – und damit natürlich mancherlei Eitelkeiten verletzt.

Eigentlich kein Wunder, dass sich viele dieser Kleingeister gegen den umtriebig umher ziehenden und disputierenden Philosophen verbündet haben, Anklage gegen den angeblichen Verderber der Jugend erhoben und schließlich gegen ihn die Todesstrafe durch den berühmt-berüchtigten Schierlingsbecher erwirkten. Dabei war es keine hochfahrende Arroganz, die Sokrates antrieb; auch er selbst wusste von sich, dass er (nahezu) nichts wusste. Nur vielleicht ein klein wenig mehr als seine Gegner.

Vor dem erwähnten Todesurteil durfte Sokrates eine öffentliche Verteidigungsrede halten, seine Apologie. Platon hat sie bekanntlich aufgezeichnet und für alle kommenden Zeiten festgehalten. Und Kurt Steinmann hat sie für die vorliegende Ausgabe neu übersetzt. Flüssig, aber doch nicht gar zu eingängig. Da sagt schon mal jemand schlichtweg „Ja, klar.“ Warum auch nicht? Es mag salopp klingen, ist aber passend, bezeichnen die zwei Wörtchen doch den hilflosen Duktus des größten Sokrates-Feindes, der halt nicht wortmächtig, sondern einfältig und beschränkt ist. Überdies dürften auch die schlaueren alten Griechen nicht ständig auf sprachlich hohem Kothurn einher gestakst sein.

Gar manches andere kommt entwaffnend einfach daher. So entwaffnend wie Sokrates‘ Logik, mit der er in der Apologie den Unsinn seiner Widersacher vorführt. Doch so klug und fintenreich er auch argumentiert, die Mehrheit der 500 ausgelosten Laienrichter ist nun einmal gegen ihn und lässt sich nicht umstimmen. Immerhin konnte er einige auf seine Seite ziehen: 280 „Männer Athens“ (wie Sokrates sie anspricht) plädierten für schuldig, 220 dagegen.

Es ist sonderbar bewegend, durch einen (letztlich auch subjektiv zugerichteten) Text Kunde zu erhalten von einem Prozess, der vor rund 2400 Jahren stattgefunden hat. Da fühlen wir uns dem Geschehen ganz nah, ja, wir sehen es womöglich geradezu filmisch vor uns ablaufen wie eines der großen Gerichtsdramen des Kinos.

Übrigens sind es – genau genommen – drei Reden, die Sokrates gehalten hat; eine Hauptansprache vor dem Urteil, eine nach dem Schuldspruch und schließlich letzte Worte nach Bestimmung des maximalen Strafmaßes. Sokrates ist, Platon zufolge, wahrhaft aufrecht in den Tod gegangen. Das Sterben erschien ihm nicht als finales Übel, sondern als Sphäre des Durchgangs. Und das unbeirrte Einstehen für die Wahrheit war ihm wichtiger als das bloße Überleben.

Dass und wie sehr Platons „Apologie des Sokrates“ zu den ewigen Klassikern und sozusagen zu den Gründungstexten Europas gehört, wird spätestens durch den Anhang des Bandes deutlich. Hier werden erlauchte Geister der letzten Jahrhunderte zitiert, die sich auf die sokratische Denk- und Redeweise bezogen haben – von Cicero bis Dante, von Montaigne bis Lessing und Goethe, von Hegel, Schopenhauer und Nietzsche bis Walter Benjamin und Elias Canetti. Lauter Denkanstöße und Lese-Anregungen erster Güte.

Platon: „Apologie des Sokrates“. Manesse. 192 Seiten, 24 Euro (Aus dem Griechischen übersetzt und kommentiert von Kurt Steinmann. Anhang mit zahlreichen Zitaten aus der Geistesgeschichte. Nachwort von Otto Schily).




Männliche Familienbande – Johan Simons inszeniert Dostojewskijs „Brüder Karamasow“ mit viel Gelassenheit

Elsie de Brauw als Stariza Sossima in ihrer Klause. Der brave Hund taucht in der Besetzungsliste namentlich leider nicht auf. (Foto: Armin Smailovic/Schauspielhaus Bochum)

Dies könnte eine Kirche sein, ein lichter Raum mit hohen Fenstern und vielen Kerzen, sparsam möbliert; es könnte aber auch ein Labor sein, steriler Ort für emotionslose Untersuchungen und Experimente. Beide Deutungen haben etwas für sich. Auf der Bühne des Großen Hauses inszeniert Bochums Schauspielchef Johan Simons den ersten Teil seiner „Brüder Karamasow“-Produktion.

Später wird das Publikum ins Kleine Haus umziehen, noch später im Foyer des Großen Hauses ein „Gemeinsames Dinner“ zu sich nehmen. Dies ist nicht eben ein unaufwendiges Projekt, schon das erste überaus beeindruckende Bühnenbild (Wolfgang Menardi) läßt daran keinen Zweifel.

Dostojewskijs Qualen

Tief tauchen wir ein in den Kosmos der Dostojewskijschen Qualen, in dem Himmel und Hölle, Wiederauferstehung, ewiges Leben, Schuld, Strafe, Vergebung, Lebensüberdruß zentrale Begriffe sind. Klug sind sie auch in diesem Spätwerk in Kontrast zu den quasi niederen Motiven der Menschen montiert, der Gier, dem skrupellosen sexuellen Verlangen, dem Schuldenmachen. Die Figuren des Romans finden in jenen auf der Bühne kongeniale Entsprechungen, allen voran im alten Pierre Bokma als Fjodor Pawlowitsch Karamasow, Vater, Lebemann und Dummschwätzer, dem seine Söhne in ehrlicher Abneigung zugetan sind. Voneinander lassen kann man nicht, auch deshalb nicht, weil eine üppige Erbschaft lockt. Und irgendwann, sehr viel später an diesem Abend, ist der Alte tot.

Karamasows in Teilansicht: Bruder Iwan (Steven Scharf, links), Vater Fjodor Pawlowitsch (Pierre Bokma, Mitte) und Halbbruder Smerdjakow (Oliver Möller, rechts). (Foto: Armin Smailovic/Schauspielhaus Bochum)

Vorkenntnisse

Manches erklärt die Inszenierung dem Publikum, vieles aber auch nicht. Ohne recht genaue Kenntnis des Stoffs, der Charaktere und ihrer philosophisch-religiösen Verortungen ist es nicht leicht zu folgen. Johan Simons’ Inszenierung zeigt wenig Interesse daran, die dem Drama innewohnende Mechanik offenzulegen, sondern verströmt sich in der oft detailverliebten Illustration des als bekannt Vorausgesetzten. So stehen hier hübsche Spielszenen großer Intensität neben schwergewichtigen Sätzen, die, einmal in den großen Bühnenraum hineindeklamiert, beziehungslos hängenbleiben und dann langsam verblassen. Entschleunigung ist die Devise, doch führt sie nicht zwingend zu Erkenntnisgewinnen.

Gute Leute

Gleichwohl ist das Schauspielhaus Bochum in der Intendanz von Johan Simons nach wie vor und mehr als viele andere Häuser immer noch ein Theater der Schauspielkunst. Und deshalb muß man jetzt noch einige Namen nennen: Steven Scharf bringt es als Iwan zu beachtlicher Intensität, Jele Brückner zeigt als desillusionierte Katerina Ossipowna Chochlakowa im Gespräch mit dem Schuldner Smerdjakow (Oliver Möller) unerwartete Abgründigkeit; die Rolle des weisen Starec Zosima wurde zur Stariza Sossima und wird nun in Bochum von Elsie de Brauw verkörpert, die sie souverän füllt und der man höchstens vorwerfen könnte, daß sie für eine Sterbenskranke etwas zu kraftvoll agiert. Als Hexe – später – ist sie noch besser. Die Frauenriege wird vervollständigt durch Anne Rietmeijer als von Vater und Sohn Dimitrij (Victor Ijdens) begehrte Schönheit Gruschenka. Danai Chatzipetrou schließlich ist Katerinas behinderte Tochter Lise im elektrischen Rollstuhl. Konstantin Bühler als zottelbärtiger Nachbar Nikolaj Iljitsch Snegirjow sowie die Kinder Davin Cakmak und Mina Skrövset vervollständigen die Riege.

Abgeranzte Küche

Erste Pause um Viertel vor fünf, Wanderung durch die Kulissen zum Kleinen Haus, Zwischenstop im Foyer. Weitergeht es um halb sechs, mit einem völlig anderen Bühnenbild. Im Kleinen Haus wird deutlich, warum im Großen Haus so viele Sitze frei bleiben mußten. Hier ist nun alles besetzt. Auf der Bühne steht als raumgreifende, naturalistisch durchgestaltete Kulisse eine recht professionelle, aber auch reichlich abgeranzte Küche, Lüftungsrohre unter der Decke, Kellerlage mit Treppenaufgang. Ein sinnfälliger Ort natürlich, hier unten werden Sachen angerichtet, der Kohl (für den Borschtsch) ebenso wie die eine oder andere Mordidee. Hier fliegt das Gemüse, hier fliegen die Töpfe; Konflikte werden zelebriert und auch gelöst mit den Methoden des Tür-auf-Tür-zu-Theaters, wenngleich es nur eine einzige Tür links im Bild – und eben die Treppe – gibt. Fast hatte man es bei der ganzen Statuarik im ersten Teil schon vergessen: Johan Simons ist ja auch ein ganz vorzüglicher Possenreißer mit Wurzeln im Straßentheater, der mit burlesken Späßen souverän dramatische Fallhöhe zu erzeugen weiß. Das wissen wir in Deutschland spätestens seit „Sentimenti“.

Die Küche ist das Bühnenbild des zweiten Teils. Im Vordergrund liegt Smerdjakow (Oliver Möller). (Foto: Armin Smailovic/Schauspielhaus Bochum)

Fallhöhe

Dramatische Fallhöhe – das Drama strebt dem Höhepunkt zu – gibt es in Teil 3, nach dem Gemeinsamen Essen, nun wieder im Großen Haus. Der Alte ist mittlerweile tot, liegt in der Ecke. Wie kein anderer Dostojewskij-Stoff gelten „Die Brüder Karamasow“ ja auch als „Kriminalstory“, doch explizite Elemente einer solchen fehlen in dieser Inszenierung. Spannung oder ein bißchen „Whodunnit“ ebenso.

Fast kommt die nun geradezu unerträglich entschleunigte Inszenierung zum Stillstand, doch dann wird die Verlangsamung dankenswerterweise gebrochen durch den wunderbaren Dialog, in dem Iwan (Steven Scharf) Smerdjakow (Oliver Möller) gleichsam zu der Einsicht verführt, den Mord begangen zu haben. Mit einem frommen Epilog des jüngsten Bruders Aljoscha (Dominik Dos-Reis) geht die Inszenierung sieben Stunden nach dem Start dann endlich zu Ende. Diese Zeit abzusitzen war schon ein Angang; um so größer allerdings Respekt und Anerkennung für die nicht eben große Schauspielerriege, die in dieser Zeit eine unglaubliche Textmenge zu bewältigen hatte und dies mit Bravour meisterte.

Borschtsch und Gemüsequiche

Zu essen gab es übrigens den nämlichen Borschtsch (vegetarisch), ein Stück Gemüsequiche und ein Pöttchen Panna Cotta, alles qualitativ nicht zu beanstanden, von einem Catering schnell und freundlich auf die Tische gebracht. Zu essen soll es auch an den weiteren Terminen geben; bei sieben Stunden, sollte es denn dabei bleiben, braucht man schon was Kleines zwischendurch.

Materieller Aufwand

Und nun sitzt man zu Hause, massiert sich die immer noch schmerzenden Knie (vom langen Sitzen), wühlt sich durch die Unterlagen und fragt sich, was man eigentlich erlebt hat, im Kern, in der Essenz. Großes Theater war es sicherlich, schon hinsichtlich des materiellen Aufwandes (beide Häuser, Publikumswanderung durch Kulissen und Garderoben, Heerscharen von Mitarbeitern, die den Weg weisen mußten, usw.). Das Ensemble gut bis großartig, eine doch sehr homogene Truppe, deren holländische Mitglieder mittlerweile ein untadeliges Deutsch sprechen. Und schließlich: Eine gelassene Sicht auf Stück und Autor, die sich nur ein Regisseur mit uneingeschränkter Souveränität leisten kann, einer wie eben Johan Simons mit seinen 77 Jahren.

Nicht alles geht in 90 Minuten

Bochum bietet großes, anspruchsvolles Theater, wie es nicht (mehr) oft zu sehen ist im Ruhrgebiet. Es läßt sich nicht alles in „90 Minuten, keine Pause“ (heutzutage ein beliebtes Inszenierungsformat) erzählen, und das muß man auch nicht, und das tut man hier eben auch nicht, jedenfalls nicht immer. Das Publikum, wie könnte es auch anders sein, zeigte begeistertes Verständnis für das anspruchsvolle theatralische Großformat und spendete reichen, anhaltenden Beifall.




„Schönes“ vor 20 Jahren – Erinnerung an eine Bochumer Erstaufführung des jetzigen Nobelpreisträgers Jon Fosse

Der Norweger Jon Fosse erhält den Literaturnobelpreis 2023. Wenn man schon ein paar Jährchen schreibt, findet sich irgend etwas Einschlägiges im Archiv, so z. B. diese – nun nahezu 20 Jahre alte – Bochumer Theaterbesprechung vom 3. Dezember 2003:

Bochum. Verglichen mit den Bühnen-Gestalten des Norwegers Jon Fosse, wirken selbst die gelangweilten Figuren eines Anton Tschechow wie Action-Helden. Hier geschieht nahezu nichts, die Dialoge sind extrem karg. So auch in Fosses neuem Stück „Schönes“. Abermals klingt jede Zwiesprache derart lakonisch, als sei’s bereits eingeübte Tiefsinns-„Masche“.

Doch es ist eine geradezu schwatzsüchtige Lakonie, die redundant in sich kreist und unversehens schräge Komik (irgendwo zwischen Loriot und Kaurismäki) freisetzt. Die Figuren haben Angst vor dem Verstummen, vor der großen Leere.

Fosse (Jahrgang 1959), in den letzten Jahren wohl meistgespielter Dramatiker des Kontinents, lässt weite Deutungs-Spielräume klaffen. Bei der deutschen Erstaufführung in Bochum nutzt Regisseur Dieter Giesing diese schmerzliche Freiheit beharrlich und behutsam.

Das Bühnenbild (Karl-Ernst Herrmann) atmet raumgreifend Ewigkeit: Einander kreuzende (Boots)-Stege verlieren sich nach hinten in die melancholische Unendlichkeit eines einsamen Fjords, vorn ragt eine Planke bis zum Publikum. Die schwarze Silhouette eines Bootshauses wandert geisterhaft langsam über die schimmernde Szenerie. Die Zeit schleicht dahin und verrinnt. Worte kommen aus dem Nichts und versickern im Nichts.

Vor dem Horizont des Stillstands

Vor diesem Horizont des Stillstands verbringt ein Ehepaar mit fast erwachsener Tochter die Sommerferien. Die Frau (Catrin Striebeck) fühlt sich angeödet. Mal geht sie links den Strand entlang, mal rechts. Ein Buch lesen? Ach was! Antriebe und Interessen sind erloschen. Es schwillt in ihr lediglich eine zickige, ziellose Gier an, die sich eher zufällig auf Leif (Ernst Stötzner) richtet, den grandios maulfaulen Freund ihres Mannes aus Kindertagen. Dieser allzeit im Dorf gebliebene Sonderling („Hat sich so ergeben“) lässt sich wohl nur aus höflichem Mitleid auf eine Begegnung im alten Bootshaus ein.

Was dort wirklich geschieht, bleibt freilich ebenso ungewiss wie alles andere: Ahnt der Ehetrottel Geir (Burghart Klaußner) etwas? Warum erschöpft sich dann sein Aufbegehren darin, dass er seine Gitarre immerzu mit hackenden Griffen (verdruckster Frust-Gipfel: „Bang, Bang – I’ll shoot you down“) traktiert?

Anders als bei Ibsen wird hier nichts enthüllt

Warum hat Leif in der Pubertät alle Neugier auf die Welt verloren, warum haben er und Geir damals ihre Rockband aufgelöst? Wird die einstweilen halbwegs vitale, mitunter patzige Tochter (Julie Bräuning), die im Dorf einen farblos strotzenden jungen Mann (Manuel Bürgin) kennen gelernt hat, so heil- und haltlos enden wie ihre Mutter? Und warum preisen sie alle so kleinlaut die Natur? Ist sie ein unnennbar „Schönes“, vor dem der Mensch nur versagen kann? Ganz anders als bei Ibsen, mit dem man Fosse häufig vergleicht, wird hier nichts enthüllt. Die Eltern reisen vorzeitig ab – zurück von der ländlichen in die städtische Seelen-Ödnis. Das ist alles.

Das wattierte Unglück in Hier und Jetzt

Irgend etwas ist vorgefallen und schief gelaufen, doch nun ist es, wie es ist. Existenziell und gnadenlos scharf umrissen stehen die Gestalten in reinster Gegenwart da, im allerdings gedämpften, wattierten Unglück des Hier und Jetzt. Und nun? Was soll noch werden? Dieses folgenlose Weh ergreift einen mehr, als wenn (wie in Gegenwartsdramen oft üblich) aller Schmutz und Ekel im Blut- und Spermastrom verrührt wird.

Dieter Giesings Inszenierung lässt beklemmende Atmosphäre ganz unaufdringlich quellen. Die Darsteller gewinnen diesem stockenden Text staunenswert viele Akzente, Rhythmen und Nuancen ab. Äußerst gespannt folgt man ihrer Expedition in die Leere.




Nachbarschaftliches Tauwetter – Elke Heidenreichs Buch „Frau Dr. Moormann & ich“

Beginnen wir mit Binsen: Im Hanser Verlag dürfen beileibe nicht Hinz und Kunz veröffentlichen. Und ein Michael Sowa wird auch nicht die Texte aller möglichen Leute illustrieren. Wenn aber die Bestseller-Autorin Elke Heidenreich mit einer Kleinigkeit käme? Ja, dann… Dann fügt es sich natürlich.

Ihr neues Buch heißt „Frau Dr. Moormann & ich“. Es handelt vom Ärger mit einer ziemlich bärbeißigen Hausnachbarin, die immer etwas zu beanstanden hat. Die Geschichte ist recht einfach gestrickt. Schon bald ist absehbar, dass es zwischen den beiden Frauen ganz allmählich ein nachbarschaftliches Tauwetter geben wird. Daran nicht ganz unbeteiligt ist der Mops der Ich-Erzählerin, der den Namen Gustav trägt. Friede den Menschen und den Nachbarinnen ein Wohlgefallen.

Zwischendurch tröpfeln etwas Botanik (Frau Dr. Moormann als Pflanzen-Expertin) und klassische Hochkultur (renommierter Dirigent als Gefährte der Erzählerin) hinein. Womit auch dem Bildungsauftrag Genüge getan wäre. So bereichert die Mitteilung, dass es karierte Pflanzen gibt, unsere bisweilen schüttere Allgemeinbildung.

Elke Heidenreich erzählt die Petitesse routiniert, unangestrengt, sozusagen mit spätsommerlicher Leichtigkeit, ohne sonderliche Ambition. Hie und da hat ihr Buch einen ganz leisen pädagogischen, jedoch stets freundlichen Unterton, so etwa nach dem wohlmeinenden Motto: Kinder, merkt euch das doch bitte. Beispielsweise, dass Ex-Bundespräsident Gustav (!) Heinemann einst gesagt hat, er liebe nicht Deutschland, sondern seine Frau. Zwischendurch gibt’s immer mal wieder schnellfertig hingeworfene, selbst gebastelte Sprichwörter und Merksätze von solcher Art:

„Der Mops ist prächtig, schau nur hin!
Ein Mops gibt deinem Leben Sinn.“

Kommt einem das nicht irgendwie bekannt vor? Aber gewiss doch! Schon Loriot wusste ja: „Ein Leben ohne Mops ist möglich, aber sinnlos.“

Bliebe noch die Frage, ob dies vorwiegend ein Buch für Kinder sei. Darauf könnte etwa ein liebevoll ausgiebiger Exkurs über einige Teddybären hindeuten.  Doch auch ältere Leute erinnern sich gern an diese Genossen ihrer Frühzeit. Jedenfalls dürfte das schmale Bändchen weihnachtstauglich sein, auch als nettes kleines Mitbringsel. Wem ihr es schenken könntet? Doch nicht etwa der Nachbarin?

Elke Heidenreich: „Frau Dr. Moormann & ich“. Mit Bildern von Michael Sowa. Hanser Verlag, 88 Seiten, 20 Euro.




„Sprache lässt sich nicht mit Normen lenken“ – Zum Tod von Martin Walser: Erinnerung an zwei Gespräche mit dem Schriftsteller

Martin Walser am 10. Oktober 2013, Frankfurter Buchmesse. (Foto: Wikimedia Commons / Lesekreis, Heike Huslage-Koch). Lizenz: https://creativecommons.org/publicdomain/zero/1.0/deed.en

Schon seit seinem Roman „Ehen in Philippsburg“ (1957), der die gesellschaftlichen Verhältnisse der 1950er Jahre auf den Begriff brachte wie kein anderer, war der Schriftsteller Martin Walser einer der wichtigsten Protagonisten der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur. Jetzt ist er ist mit 96 Jahren in seinem Haus am Bodensee gestorben. Aus diesem traurigen Anlass hier noch einmal der Wortlaut zweier Gespräche, die ich 1996 und 1998 mit ihm führen durfte. Zunächst der Text von 1996:

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Dortmund. Mit seinem Roman „Finks Krieg“ hat Martin Walser (69) tiefen Einblick ins Innenleben eines Ministerialbeamten gegeben, der im Zuge eines Regierungswechsels auf einen minderen Posten abgeschoben wird. Dieser Fink, einer wirklichen Person nachgebildet, aber literarisch zur Kenntlichkeit gebracht, wird zum angstgepeinigten Kämpfer für sein Recht. Walser stellte das bei Suhrkamp erschienene Buch jetzt mit einer Lesung im Dortmunder Harenberg City-Center vor. Dort traf ihn die Westfälische Rundschau zum Gespräch.

Sie haben die vor wenigen Tagen publizierte „Frankfurter Erklärung“ mitunterzeichnet, einen entschiedenen Protest vieler Autoren gegen die Rechtschreibreform. Kommt das nicht zu spät?

Martin Walser: Ich hatte immer mein Leid mit dem Duden und mußte mich immer gegen Lektoren durchsetzen, die unter Duden-Diktat meine Manuskripte korrigiert haben. Mit nachlassender Energie habe ich immer auf meinen Schreibungen beharrt.

Nennen Sie uns ein Beispiel?

Walser: Mein Paradebeispiel ist „eine Zeitlang“. Ich hab‘ stets „eine Zeit lang“ in zwei Wörtern geschrieben. Der Duden verlangt es in einem Wort, was ja völlig unsinnig ist. Es stimmt weder historisch noch rational. Nach der neuen Rechtschreibung dürfte ich’s auseinander schreiben. Das ist für mich ein Fortschritt. Nur: Es ist eine autoritär ausgestattete Reform. Sie behebt einige Idiotien und installiert dafür andere. „Rau“ ohne „h“, da möcht‘ ich mal wissen, wer sich das ausgedacht hat…

Und wieso erheben Sie erst jetzt Einspruch?

Walser: Nun, weil Friedrich Denk (Deutschlehrer und Literatur-Veranstalter in Weilheim, d. Red.), der die Sache angeregt hat, mich jetzt befragt hat. Ich selbst hätte gedacht: Na, schön. Das ist gut, das ist blödsinnig – und hätte es dabei belassen. Weil ich sowieso nicht praktiziere, was im Duden steht. Schauen Sie: In meinem Roman „Brandung“ steht die Wortfolge „zusammenstürzender Kristallpalast“. Das müßte ich in Zukunft auseinander schreiben: „zusammen stürzender“.

Eine Sinnverfälschung?

Walser: So ist es. Hoffentlich sehen die Leute nun, daß solche Sprachnormen relativ sind. Vielleicht bildet sich gerade dann ein bißchen mehr Freiheit gegenüber den Regeln. Denn Sprache ist doch Natur – und sie ist Geschichte. Beides läßt sich nicht mit Normen lenken. Ich schreibe ja mit der Hand, folge einem rein akustischen Diktat in meinem Kopf. Wenn ich das nachher lese: Das ist so unorthographisch, so grotesk. Wenn ich Ihnen das zeigen würde, würden Sie sagen: „Das ist ein Analphabet.“ V und F geht da durcheinander wie „Fogel und Visch“. Schreibend ist man eben nicht auf Duden-Niveau.

Mal abgesehen von der Rechtschreib-Debatte: Ansonsten hat sich – Stichwort: Deutsche Einheit, die Sie früh und vehement befürwortet haben – die Aufregung um Sie ein wenig gelegt.

Walser: Zum Glück. Aber ich krieg‘ immer noch genug ab. Ein Rezensent hat geschrieben, er höre in „Finks Krieg“, in der politischen Tendenz „Marschmusik“. Seit der Diskussion um die Einheit haben die mich in diese Richtung geschickt, diese Arschlöcher! Der Peter Glotz empfindet in meinem Roman „dumpf-deutsche Fieberphantasien“. Ein anderer hat sinngemäß geschrieben: „Der Walser hat sich vom linken Kämpfer zum CSU-Festredner der deutschen Einheit entwickelt.“ Und das in einer Buchbesprechung.

Worte, die sich in Sie hineinfressen?

Walser: Ja, ja, ja. Ich wandere geistig aus d i e s e r Art von Gesellschaft aus. Ich will damit nichts zu tun haben, mit diesen Einteilungen – links, rechts. Mein Hausspruch lautet: „Nichts ist ohne sein Gegenteil wahr.“ In mir hat mehr als eine Meinung Platz. Ich hab‘ in den 70er Jahren erfahren, wie die Konservativen mit mir umgegangen sind. Damals hieß es: „Du bist ein Kommunist.“ Jetzt weiß ich, wie die Linken mit Andersdenkenden umgehen. Es ist noch verletzender. Und ich meine nach wie vor: Das größte politische Glück, das die Deutschen in diesem Jahrhundert hatten, ist diese Einheit. Die Misere steht auf einem anderen Blatt, aber sie hat Aussicht auf Behebung. Die Misere vorher war aussichtslos.

Und „Finks Krieg“, ist das der Roman über unsere politische Klasse?

Walser: Für mich ist es der Roman über einen leidenden Menschen. Übrigens war die Vorarbeit sehr quälend. Ich habe zwei volle Jahre Material studiert. Furchtbar. Immer nur notieren ist entsetzlich. Ein unguter Zwang. Ich bin auch nicht ganz gesund geblieben dabei. Ich habe manchmal gedacht: Vielleicht hört es überhaupt nicht mehr auf, vielleicht wirst du nie Herr des Verfahrens, vielleicht bist du nie imstande, frei zu schreiben. Mein neues Projekt hat deswegen gar nichts mehr mit Quellen und Recherchen zu tun. Es wird ein Buch über meine Kindheit – so, wie sie mir heute vorkommen möchte.

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…und hier der Text vom Oktober 1998:

Dortmund. Mit seinem Roman „Ein springender Brunnen“ hat Martin Walser (71) einen grandiosen Erfolg erzielt. Lesepublikum und Presse waren beeindruckt von dieser stark autobiographisch geprägten Geschichte einer Dorf-Kindheit in der NS-Zeit.

In die politische Diskussion geriet Walser durch seine am 11. Oktober gehaltene Frankfurter Rede zur Friedenspreisverleihung des Deutschen Buchhandels, in der er sich gegen allzu eingefahrene Wege der „Vergangenheitsbewältigung“ und gegen die „Instrumentalisierung von Auschwitz für gegenwärtige Zwecke“ wandte. Daraufhin warf ihm Ignatz Bubis (Zentralrat der Juden in Deutschland) „geistige Brandstiftung“ vor. Jetzt las Walser im Dortmunder Harenberg City-Center (Mitveranstalter: Westfälische Rundschau und Buchhandlung Krüger) aus seinem Roman. Bei dieser Gelegenheit sprach die WR mit ihm.

Haben Sie mit derart barschen Reaktionen auf Ihre Frankfurter Friedenspreis-Rede gerechnet?

Martin Walser: Natürlich nicht. Mit so etwas kann man nicht rechnen. Solche Wörter können einem ja vorher nicht einfallen, mit denen man da beworfen wird. Wenn mich jemand als „geistiger Brandstifter“ bezeichnet, dann ist das seine Sache. Ich kann das gar nicht kommentieren, weil ich es auch nicht verstehen kann. Und mich mit Rechtsradikalen wie Frey und Schönhuber zu vergleichen, weil die angeblich „auch nichts anderes sagen“… Da habe ich ein anderes Sprachverständnis.

Sind Sie verbittert?

Walser: Verbittert nicht, aber entsetzt. Ich bin doch kein Dauerobjekt für Beleidigungen! Zum Glück gab es ja auch unendlich viele andere Reaktionen, so wie noch nie. Das Thema hat sich noch lange nicht erledigt. Die Affäre wird in der Entwicklung dieses Themas in diesem Land eine Wirkung haben – welche, das bleibt abzuwarten.

Ihr Roman ist fast durchweg begeistert aufgenommen worden. Waren Sie erstaunt?

Walser: Mh. Das darf mich nicht erstaunen. Es hat mich unheimlich gefreut. Ich habe noch nie so rasch so viele briefliche Leser-Reaktionen bekommen. Ich war mir ja beim Schreiben des Romans eines gewissen Risikos bewußt. Es hat mich gerührt, daß die meisten meine Auffassung teilen, daß man auf diese Art über „damals“ schreiben kann.

Ein paar wenige Rezensenten haben moniert, Sie hätten die Schrecken des NS-Regimes nicht erwähnt.

Walser: Ja. Das ist absurd. Dieses NS-Regime kann auch auf andere Weise vorkommen, ohne daß das Stichwort „Auschwitz“ fallen muß. Wer das zu einem Pensum macht, zu einer Pflichtaufgabe, der muß damit rechnen, daß er nur Lippenbekenntnisse bekommt. Die meisten haben aber begriffen, daß in meinem Text die NS-Zeit präsent ist, so wie sie aus der Perspektive des Kindes Johann präsent sein konnte.

Was bedeuten Lesereisen für Sie? Eher eine Last oder eine Chance, vom Publikum etwas zu bekommen?

Walser: Ich mache solche Reisen vielleicht zu oft. Ich werd s sicher nicht mehr sehr lange machen, aber diesmal schon noch. Ich probiere den Text eben gerne in Sälen. Man weiß ja nie so genau, wie die Leute reagieren. Ich hatte es mir diesmal sehr schwer vorgestellt. Meine bisherigen, oft neurotischen Romanhelden habe ich pointiert dargeboten. Das hat den Leuten eingeleuchtet, da haben sie sich wiedererkannt. Jetzt hab ich diesen fünfjährigen Johann im Jahr 1932. Da war ich nicht so sicher, ob das überhaupt vorzulesen ist. Doch es geht, sehr gut sogar. Ich muß sagen: Die Leute in diesem Land sind einfach fabelhaft. Da redet man immer vom Fernsehen – und dann kommen Abend für Abend viele hundert Menschen zu den Lesungen und hören zu und reagieren unheimlich lebendig. Toll! Es gibt noch eine literarische Gesellschaft. Das hat kein bißchen abgenommen. Wer das Gegenteil behauptet, hat keinen Kontakt mit der Wirklichkeit.

Vielleicht sind Sie eine rühmliche Ausnahme?

Walser: Nein, nein. Drei meiner vier Töchter schreiben ja auch. Sehr verschieden voneinander – und keine wie ich. Eine von ihnen schreibt sogar viel schöner, poetischer und schwieriger als ich. Und doch macht sie bei Lesungen ähnlich gute Erfahrungen.

Eine erstaunliche Familie. Haben Sie Ihre Töchter Johanna, Alissa und Theresia als Kinder zum Schreiben angehalten?

Walser: Um Gottes Willen, nein. Nicht einmal zum Lesen. Es ist halt so gekommen. Außerdem ist die Sache nicht so heiter, wie sie klingt: Ich kenne den Preis des Schreibens. Man schreibt nicht, weil es einem gut geht. Im Gegenteil.

Eigentlich wollten Sie ja keine Interviews mehr geben.

Walser: Nun ja, diese Kommentierungs-Funktion wird einem „über“ – daß man immer seine eigenen Sachen auslegen soll. Im Gegensatz zum Interview kommt beim Roman keine bestimmte Meinung heraus. Ein Roman bewegt sich schwebend und landungsscheu…




„Lyriksalven pflügen sich kometenhaft ins Gedächtnis“ oder: Höhenflüge beim Poetry Slam

Nur mal so als Beispiel fürs Genre: Sebastian Rabsahl, deutschsprachiger Meister im Poetry Slam 2008, bei einem Slam-Auftritt in Kiel, 2016. (Foto: Wikimedia Commons, © Ichwarsnur / Marvin Radke) – Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.en

Es ist schon sehr lange her, doch erinnere ich mich gut, wie uns schon in den Einführungs-Veranstaltungen des Germanistikstudiums eingeschärft wurde, doch bitte Worte wie „Dichtung“ und „Dichter“ (vom Gendern war noch keine Rede) nicht weiter zu verwenden. So erhaben und feierlich sollte es nicht mehr zugehen, denn derlei Tremolo-Stimmung war oft genug missbräuchlich verwendet worden.

Daher die im Grunde nachvollziehbare Kehrtwende. Schlicht und einfach „Texte“ sollte es fortan heißen; ganz gleich, ob es nun um Lyrik von Hölderlin und Rilke oder einen Artikel der „Bild“ ging. Mit solch nüchterner Nivellierung ging vielleicht auch eine – einstweilen noch unbeabsichtigte – unterschwellige Einebnung, wenn nicht gar Wertminderung schriftstellerischer Schöpfungen einher. Wenn eh alles eins ist, kann ja auch alles Literatur sein. Und überhaupt: „Jeder Mensch ist ein Künstler“, so lautete ja jene oftmals falsch verstandene Beuys-Parole, die seither im Schwange war.

Es war wohl e i n e der Voraussetzungen für den Aufstieg dessen, was wir seit einiger Zeit als popkulturelle Haupt-Erscheinungsform von Literatur kennen: Poetry Slam. Wörtlich könnte man’s ungefähr mit „Dichtungs-Kracher“ übersetzen. Aber das scheint in Zeiten, in denen sich nahezu alle als perfekt Englisch-Sprechende gerieren (haha!), wohl herzlich überflüssig zu sein.

Poetry Slam also. Gern in Form einer Stand-Up-Comedy-Darbietung (ähnlich wie beim Impro-Theater), in jedem Falle bühnentauglich. Das Publikum muss trampeln und johlen, sonst war es eigentlich nix. Na gut, manchmal darf es auch ein wenig ergriffen sein. Selbst Bewerbungen um Stadtschreib-Posten sollten tunlichst Hinweise auf „Skills“ in Poetry Slam und allfällige Diversität enthalten, sonst sinken die Chancen erheblich.

Die Urheberinnen und Urheber sitzen nicht mehr (oder allenfalls nebenbei) im stillen Poesie- oder Prosa-Kämmerlein und schreiben empfindsam vor sich hin, sondern betreten am liebsten gleich die Bretter und hauen ihre Zeilen beherzt ‚raus. Keine Frage, dass es dabei auch etliche Könnerschaft zu bewundern gilt. Doch es sind inzwischen dermaßen viele Slammer(innen) unterwegs, dass auch viele Dilettierende unter ihnen sind, ja sein müssen. Wie auf jedem anderen Gebiet menschlichen Schaffens auch. Was willst du denn mal werden: Influencender oder Slammerin?

Hehre Kunst der Überleitung: Just heute erreicht uns eine über die Maßen wortmächtige Pressemitteilung aus der Ruhrgebiets-Gemeinde Herne, Absender ist die Organisation WortLautRuhr. Sozusagen mit Pauken und Trompeten wird die Tatsache verkündet, dass mit 16 Veranstaltungen auf acht Bühnen vom 27. bis 30. Oktober 2023 in Bochum die „deutschsprachigen Meisterschaften im Poetry Slam“ stattfinden, und zwar mit dem Einzelfinale in der „prestigereichsten Location des Ruhrgebiets“. Nun ratet! Welche Location könnte das denn sein? Die Weltkulturerbe-Zeche Zollverein in Essen? Das Dortmunder Westfalenstadion? Das Schauspielhaus Bochum?

Weit gefehlt. Nach dieser Lesart ist es das Bochumer Starlight Express-Theater. Das Kriterium muss also viel mit Show und manches mit Remmidemmi zu tun haben. Egal. Die Leute, die bei der Meisterschaft antreten, kämen jedenfalls „aus allen 7 deutschsprachigen Ländern“ – wobei schon zu fragen wäre, ob etwa Bayern, Sachsen und Thüringen jeweils einzeln mitgezählt werden. Nun ja, ebenfalls egal.

Bei der Beschreibung dessen, was Poetry Slam sei, greifen die Macherinnen und Macher des gastgebenden WortLautRuhr jedenfalls mächtig in die Harfe. Drum wollen wir es abschließend in Form lyrischer Hervorbringungen hierher setzen. Poetry Slam erzeuge immer wieder „Internet-Hypes“ (gähn!), es dränge jede Menge „hungriger Nachwuchs“ (puh!) auf die Bühnen. Und dann, alles wörtlich zitiert:

Poetry Slam ist Party,
Poetry Slam ist Emotion.
Hier haut einen die geballte Wortgewalt
und Performance-Ekstase von den Sitzen,
Lyriksalven pflügen sich
kometenhaft ins Gedächtnis,
Lachmuskelkater garantiert.

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Infos:

www.wortlautruhr.de
www.slam23.de

 




Mit „Normalos“ durch die Hölle – Heinz Strunks Geschichtenband „Der gelbe Elefant“

Claudia und Andi treffen Olli und Melli „beim Griechen“. Ach, wie putzig das schon klingt. Es geht in dieser Auftaktgeschichte um zwei „Pärchen“ in Lübeck. Bekanntschaft aus dem Korfu-Urlaub. Nun sondern sie beim arg misslingenden Wiedersehen dermaßen belangloses Zeug ab („super“ und „toll“ sind fast noch die klügsten Einlassungen), dass es einen beim Lesen recht ordentlich quält.

„Bitte! Jetzt nicht auch noch das!“ So möchte man den Autor anflehen. Doch ein Heinz Strunk gibt kein Pardon. Er zieht die Sache mal wieder gnadenlos durch und beleuchtet seelische Trümmerhaufen gerne grell. Schmerzlich nahe kommt er dabei einem landläufigen „Normalo“-Sound.

Auch im weiteren Verlauf seines Erzählbandes „Der gelbe Elefant“ spürt er mit Vorliebe das Normale im Bizarren und das Bizarre im Normalen auf. Da ist zum Exempel der total gefühllose Typ in Bitterfeld mit seinem Kampfhund namens „Tyson“, der einen Kevin zu Tode beißt. Alles, was dem Hundebesitzer dazu einfällt, ist ein genervtes „Och nö“.

Familiäre Zusammenkünfte sind unterdessen fürchterlich leblos, mit zunehmendem Alter werden die Menschen unerträglich ranzig. Ihre Gesprächsversuche bröckeln und bröseln nur noch dahin. Einsam sind sie sowieso; auch dann, wenn sie zusammenhocken.

Zwischendurch ereilen uns die bodenlos dämlichen Mail-Texte des aufgekratzten Schriftsteller-Groupies Carola, die den Autor (Heinz heißt er!) zu gesellschaftlichen Aktivitäten in ihrem Schlepptau anstacheln will. Und ja, sie fasst ihre Vorstellung vom gelingenden Leben tatsächlich in grenzdebile Wendungen wie „lachi lachi spaßi spaßi saufi, saufi“. Auch da winken Lesende wohl ermattet ab. Gnade! Aufhören! Genug!

Dabei müsste man Heinz Strunk eigentlich danken, dass er sich solcher Themen annimmt, die die meisten anderen scheuen. Aber erhebt er sich etwa manchmal auch über die leider nicht „schweigende Mehrheit“? Ja, soll er sich denn empathisch mit allen gemein machen? Auch mit jenen mehrfach auftretenden, hoffnungslosen Nerds oder Schlaffis, die schon in ihren jungen Jahren am Ende sind?

Strunk, ein Erzähl-Berserker vor dem Herrn, scheint beim Schreiben ein gehöriges Maß an Aggression zu mobilisieren. Er schickt seine Figuren durch die Hölle, zuweilen auch mitten hinein. Beispielsweise den vermeintlich kerngesunden Fitness-Freak und Selbst-Optimierer Werner (75), der eine Osteoporose-Diagnose ignoriert, sich folglich beim Workout die Gräten bricht und nicht mehr hochkommt. Nun eine abermals quälende Schilderung: 23 Tage harrt dieser total vereinsamte Mensch vor Schmerzen wimmernd und ohne Nahrung aus. Dann sollen endlich die Leute kommen, die seine Wohnung termingerecht übernehmen wollen…

Grässlich spannend auch die Story über jenen Motivationstrainer und „Keynote-Speaker“ mit „Arschloch-BMW“, der sich vor einem lukrativen Vortragstermin mal eben das Neandertal bei Düsseldorf anschauen will. Er verirrt sich, gerät in ein fast undurchdringliches Gestrüpp, schlägt sich wütend hindurch – und begegnet auf der anderen Seite veritablen Vorzeitmenschen, die ihn fesseln und offenbar fressen wollen… Kann er sie mit seiner geschulten Überredungs-Stimme zur Umkehr bewegen?

Mehr wird hier nicht verraten – auch nicht, was es mit dem gelben Elefanten auf sich hat. Die Grundrichtung des (dennoch abwechslungsreichen) Bandes dürfte klar sein. Es wäre zu empfehlen, dieses Buch in gefestigter seelischer Stimmung zu lesen. Nanu! Habe ich jetzt womöglich eine dieser blöden „Trigger-Warnungen“ ausgesprochen? Sorry, soll so bald nicht wieder vorkommen.

Heinz Strunk: „Der gelbe Elefant“. Rowohlt. 208 Seiten, 22 Euro.

 

 




„Rheinaufwärts“: Franz Hohlers Wanderungen ins Unscheinbare

Der Titel führt ein wenig in die Irre. Wenn ein Buch „Rheinaufwärts“ heißt, erwartet man wohl eine Tour von der Quelle bis zur Mündung – oder wenigstens auf wesentlichen Teilen dieser Strecke. Doch der Schweizer Schriftsteller Franz Hohler (Jahrgang 1943) vollführt seine Wanderungen praktisch nur in eidgenössischen oder unmittelbar benachbarten Gefilden. In seinem Buch geht es überhaupt ausgesprochen gemächlich und betulich zu.

Begonnen hat Hohler seine Wege bei Schaffhausen und Stein am Rhein im Mai 2020, zur Frühzeit der Corona-Pandemie. Es geschieht gar wenig Aufregendes. Praktisch jede Einkehr zum Kaffeetrinken wird anfangs erwähnt. Bald wissen wir auch, dass Hohler gern Apfelschorle trinkt. Dass er zwischendurch die eine oder andere Lesung absolviert. Und dass er verheiratet ist. Seine Frau wird gelegentlich als solche genannt, allerdings stets ohne Vornamen. Immer und immer wieder erwähnt Hohler die Autobahnen, die das Rhein-Erlebnis stören, wenn sich der Fluss in seinem Vorfeld nicht ohnehin den Blicken entzieht. All das mag man wohlwollend „unprätentiös“ nennen, aber ist es nicht auch langatmig?

Im Grenzgelände zwischen Schweiz, Österreich und Liechtenstein hat sich der Autor Ortschaften erwandert, von denen Deutsche, zumal nördlicherer Herkunft, schwerlich gehört haben werden. Auch in diesem Sinne wäre es hilfreich gewesen, dem Band eine Übersichtskarte beizugeben. Sie hätte recht klein ausfallen können, denn der in Zürich lebende Hohler tritt immer wieder aufs Neue Bahnfahrten zu den Wegmarken an, ohne sich deutlich nordwärts zu bewegen. Düsseldorf wird nur einmal erwähnt. Bonn kommt nur im fünfzeiligen Epilog vor wie ein Gerücht, Köln überhaupt nicht. Dass der Rhein zum Meer strebt, sagt sich auch nur so dahin.

Hie und da spürest du kaum einen Hauch von Ironie am Wegesrand. Ansonsten ist dies ein kreuzbiederer Text der unscheinbar kleinen Dinge und Vorfälle. Spürbar wird eine sanftmütige Sehnsucht nach angehaltener oder wenigstens verlangsamter Zeit; womöglich, um Gedanken ans Alter zu entrinnen. Freilich machen sich unterwegs kleine Wehwehchen und lästige Hindernisse bemerkbar, einmal ist dann auch eine Rücken-Operation erforderlich und die Wanderungen müssen vorerst abgebrochen werden. Im seltsamen Kontrast zur begrenzten Fortbewegung stehen punktuelle, eigentlich nur assoziative Vergleiche mit Regionen, die Hohler in der weiten Welt gesehen hat. Sonderlich ergiebig sind auch sie nicht.

Und der Rhein, so weit er sich denn offenbaren mag? Mal fließt er einfach „ungerührt“ weiter, mal wird er dem Schriftsteller zum Freund, auch stellen sich bei seinem Anblick andächtige Gefühle ein, schließlich ist Hohler geradezu „stolz“ auf den Fluss. Mal ist – gleichsam nur nachrichtlich – von Überschwemmungen, dann wieder von Austrocknung droben in Deutschland die Rede. Nichts, was man nicht auch den Medien entnehmen könnte. Keine tiefer gehende Reflexion, wie es scheint.

Auf Seite 117 stehen zusammengefasst ein paar Zumutungen, die dem Rhein zuteil werden. Zitat übers Quellgebiet: „Der Rhein?… Ein Kind, das noch nicht weiß, was von ihm verlangt wird. Energie soll es hergeben, schiffbar soll es werden, schwimmbar soll es sein, und tief genug für Selbstmörder.“ Eine für Hohler vergleichsweise direkte, ja krasse Aussage, bei der man endlich einmal aufhorcht.

Die Strömung des Flusses, so ist zu ahnen, hat eine Menge mit der Strömung von Zeit zu tun. Gegen Schluss verdunkeln sich die Gedanken, als der russische Überfall auf die Ukraine begonnen hat. Umso befremdlicher, wenn Hohler direkt danach formuliert: „Es ist fast sommerlich heiß geworden, als ich in Disentis einmarschiere…“ Eine Gedankenlosigkeit, die das Lektorat hätte mildern sollen.

Franz Hohler: „Rheinaufwärts“. Luchterhand. 128 Seiten, 22 Euro.

 




Schauspielkunst ausgebremst: „Miranda Julys Der erste fiese Typ“ mit Maja Beckmann in Bochum

Maja Beckmann (Foto: Jörg Brüggemann / Ostkreuz / Schauspielhaus Bochum)

Zugegeben: Wenn Maja Beckmann nicht auf dem Besetzungszettel gestanden hätte, wäre ich wohl nicht hingegangen. Maja Beckmann – für den, der es nicht weiß – ist die etwas ältere Schwester der noch etwas bekannteren Lina Beckmann. Beide Schauspielerinnen stammen aus Herne, beiden ist, in unterschiedlichen Ausprägungen, ein Theaterspiel eigen, das, unter Frauen zumal, seinesgleichen auf deutschen Bühnen nicht leicht findet.

Zwei Schwestern

Wenn Lina der etwas zupackendere, offensivere Charakter ist, dann treffen auf Maja eher Attribute wie zurückhaltend, zögernd, schüchtern, unsicher, aber in diesen Valeurs wiederum auch zupackend und mutig zu. Mit dem vermeintlich falschen Ton am richtigen Platz wildgrubern sie beide ein bißchen, und ein bißchen auch ist gerade Maja die Gabe eigen, auf ganz entzückende Art mitunter in ihrer Rolle etwas neben sich zu stehen – wie es weiland Andrea Breths Liebling Wolfgang Michael zustande brachte oder durchaus auch, heutzutage, Bochums gefeierter Macbeth Jens Harzer. Dies nur in aller Kürze zur Attraktion des Abends.

Clee (Anna Drexler, links) und Cheryl Glickman (Maja Beckmann) (Foto: Jörg Brüggemann / Ostkreuz / Schauspielhaus Bochum)

Jetzt Zürich

Maja Beckmann spielte etliche Jahre in Bochum Theater und hat es mittlerweile bis nach Zürich gebracht. Das Stück, das an diesem Abend im großen Bochumer Haus zur Aufführung gelangt, heißt „Miranda Julys Der erste fiese Typ“ und entstand, köstlicher Scherz, nach Miranda Julys Debutroman „Der erste fiese Typ“. Da haben die Schlauberger vom Schauspielhaus Zürich – von dort nämlich wurde das Stück übernommen – gleich zwei Sprachsignale im Titel untergebracht, Respekt. Und damit das ganze nicht so plump wirkt, wie es eigentlich ist, beginnt der Abend denn auch damit, daß die beiden Frauen auf der Bühne in einem kindlich schüchternen Dialog dem Publikum diese Titelwerdung erklären.

Clee (Anna Drexler, links) und Cheryl Glickman (Maja Beckmann) (Foto: Jörg Brüggemann / Ostkreuz / Schauspielhaus Bochum)

Großartige Anna Drexler

An diesem Punkt gilt es, das weitere Personal vorzustellen. „Miranda…“ ist im Kern ein Zweipersonenstück, auch wenn sich zu Spitzenzeiten fünf Leute auf der Bühne aufhalten. Maja Beckmann gibt die ältere Frau Cheryl Glickman (jenseits der 40), Anna Drexler Clee (um die 20), und auch sie beeindruckte nachhaltig. Nach einem Anlauf von wenigen Minuten ist sie eins mit ihrer Rolle, eine wilde, junge Frau, etwas verhuscht, etwas verschroben, etwas arrogant, manchmal fast noch ein Kind. Und dann plötzlich auch eine leidenschaftliche Liebhaberin. Anna Drexler spielt all das mit einer kraftvollen, offensiven Selbstverständlichkeit, die einem Respekt abnötigt. Sie und die Beckmann, ein Traumpaar. Jedenfalls auf der Bühne.

Feine Musik

Weiterhin wirken mit: Die Musikerin Brandy Butler, adipös und dunkelhäutig, und gerne geißelten wir an dieser Stelle Wokeness und Quotenunfug in den Theatern. Aber das wäre grob unfair. Butler macht sehr schöne, feine, sparsame Untermalungsmusik, ist in einigen Spielszenen ein zurückhaltender, dritter Pol (wenn man einmal so sagen darf), marschiert aber auch ganz vorne mit, wenn die beiden Hauptdarstellerinnen es so richtig krachen lassen. Vierte ist die Kamerafrau Anna Marienfeld, die nach Kräften videographiert und auch ein bißchen mitspielen muß, fünfter schließlich der Astronaut, dessen Gesicht wir nicht zu sehen kriegen und für dessen sprachlose Rolle gleich drei Besetzungen erscheinen (Anton Engelmann, Mia Kaufhold, Henri Mertens). So weit, so gut.

Raumgreifende Lebensbeschreibungen

Auch der Plot schien nicht ohne Reiz zu sein, ein (wie man hoffen konnte) angelsächsischer, nüchterner Erzählweise verpflichteter biographischer Stoff aus dem Alltag, der sich einreiht bei den derweil häufig anzutreffenden Lebensbeschreibungen scheinbar gänzlich unscheinbarer Menschen im raumgreifenden Stil (wenn man es Stil nennen möchte), beispielsweise einer Annie Ernaux. Bei Miranda July geht es sogar vergleichsweise dramatisch zu, Stichworte mögen eine heftige lesbische Liebesbeziehung und eine Schwangerschaft „aus heiterem Himmel“ sein. Maja Beckmann und Anna Drexler hätten das fraglos auch wunderbar herausgespielt. Wenn man sie denn gelassen hätte.

Es spritzt. Clee (Anna Drexler, links) und Musikerin Brandy Butler (Foto: Jörg Brüggemann / Ostkreuz / Schauspielhaus Bochum)

Zu viel Video

Doch Christopher Rüping läßt sie nicht. Dem Regisseur hat es gefallen, die dramatischen Veränderungen im Leben der beiden Frauen, ihren Liebestaumel, ihre obsessive Sexualität, ihre bedrohliche, herrliche Nähe und was der starken Momente mehr sind in die Form einer heftigen Video-Performance zu packen, in der viel gelaufen und gerauft wird und die durch große, naturgemäß dramatische (Portrait-)Aufnahmen der Heldinnen geprägt ist.

Man sucht nach dem tieferen Sinn für den massiven Maschineneinsatz, der sich jedoch nicht erschließen will. Wenn dann (es läuft bruchlos darauf zu) die Geburt ansteht, gibt es viel Geschrei, spritzt viel Wasser und Bühnenblut. Und all das ist von der Art, die Theater (häufig jedenfalls) so unattraktiv macht, weil bei großem Geräusch- und Bewegungsaufwand eigentlich nichts Handlungsrelevantes geschieht. Statt die mehrfachen heftigen Veränderungen in ihrer Beziehung mit den Möglichkeiten der Schauspielkunst nachvollziehbar zu machen, müssen Maja Beckmann und Anna Drexler sportlichen Einsatz zeigen. Ihrer beider Leistungsfähigkeit ist imposant, das immerhin.

Na gut. Einen Tag später hat sich die Erinnerung an zwei wunderbare Schauspielerinnen noch nicht verflüchtigt. Eher hat sich leichter Groll angesammelt auf eine Inszenierung, die ihnen zu wenig Möglichkeiten bot, ihre Kunst zu zeigen. Vielleicht zieht es Maja Beckmann demnächst ja noch einmal in ihre alte künstlerische Heimat, nach Bochum. Dann würde mal wohl wieder hingehen.

  • Termine:
  • Sa.03.06., 19:30 — 21:45
  • So.04.06., 17:00 — 19:15
  • Do.15.06., 19:30 — 21:45
  • Fr.16.06., 19:30 — 21:45

www.schauspielhausbochum.de




Buch der Enttäuschungen – Arnold Stadlers Roman „Irgendwo. Aber am Meer“

Ein Schriftsteller erzählt von seiner edel gerahmten Diskussions-Teilnahme auf Schloss Sayn im Westerwald. Dort hat doch tatsächlich jemand aus dem Publikum gerufen, er sei ein „Alter weißer Mann“ und sondere gestriges Geschwätz ab. Das muss man sich mal vorstellen.

Im Ernst: Der Zwischenruf löst beim Autor schier endlose Reflexionen voller Selbstzweifel aus. Wer will ihn überhaupt noch lesen und hören? Hätte das Publikum lieber Greta Thunberg als ihn erlebt? Ist er denn aus der Zeit gefallen? Tja, das sind Fragen. Und die Leserschaft darf mal wieder an den speziellen Problemen eines beruflich Schreibenden teilnehmen. Da möchte man gern auf Max Goldt zurückkommen, der den herrlichen Vergleich von allzeit gängigen „Künstlerfreundschaften“ mit bislang niemals gewürdigten „Elektriker-Freundschaften“ ersonnen hat.

Arnold Stadler (Jahrgang 1954) legt mit „Irgendwo. Aber am Meer“ ein Buch der Enttäuschungen vor, eine Ich-Beschau des Autors als alternder Mann. Der im Spätherbst des Lebens angelangte Schriftsteller fährt, wie er einige Male betont, einen Dacia Diesel und darf damit wohl (im Urteil der geistlosen Mitwelt, aber auch nach seiner eigenen Befürchtung) als „Loser“ gelten, der nicht allzu „finanzfrisch“ ist, sprich: eher Schulden als Rücklagen angehäuft hat.

Auf seiner Bahn-Heimfahrt von Sayn nach Tuttlingen (immerzu vielsagend kurzgeschlossen mit der dort angesiedelten Erzählung „Kannitverstan“ von Johann Peter Hebel) geht einiges schief. Das platte Land ist halt verkehrstechnisch „abgehängt“. Zu allem Überfluss ist der Handy-Akku leer, desgleichen die Autobatterie, als der Autor am Zielbahnhof einsteigen und losfahren will. Bei derlei Unbill kommen hier ziemlich schnell Todesgedanken auf. Wenn es erst einmal abwärts zu gehen scheint…

Kurz darauf (mit besagtem Dacia) der Aufbruch gen Ithaka – ein Ziel, das der Erzähler noch nie erreicht hat und auch diesmal nicht erreichen wird, eventuell auch gar nicht erreichen will. Man denkt dabei vielleicht an die immer neuen, vergeblichen Anläufe des Sisyphos. Der in Latein und Altgriechisch bewanderte Stadler aber denkt an die Irrfahrten des Odysseus und an die ebenso sprichwörtlichen Pyrrhos-Siege, die sich als verkappte Niederlagen erweisen. Wie denn überhaupt antikes Bildungsgut die Wege säumt.

Freilich wird das Lamento bei der Suche nach einem Ort in der Welt auch mit Selbstironie gewürzt. Das erzählende Ich berichtet, es sei schon öfter „Hallodri“ oder auch „Schwadroneur“ genannt worden, macht sich aber nicht allzu viel daraus. Dieses Ich hat sich in einer doch recht komfortablen Außenseiterrolle jenseits des Tagesgeschreis eingerichtet und sagt sich, dass so viele nicht ihr eigenes Leben führen, sondern eines, wie es erwartet wird. Das schmeckt nach Wahrheit.

Aber nicht nur das Ich ergießt sich in mäandernder Suada, auch missliche Weltzustände kommen hervor, die einen durchaus resignieren lassen können. Auf der Textstrecke flottieren die Assoziationen frank und frei – von tagespolitischen Blitzlichtern und Melina Mercouris nostalgischem Schlager „Ein Schiff wird kommen“ (auch von vielen anderen gesungen, darunter Caterina Valente und Lale Andersen) über den legendären griechischen Milliardär Aristoteles Onassis (nebst Jackie Kennedy und Maria Callas) bis hin zu Sartre und Heidegger, Rudolph Moshammer und John Lennon. Um nur einige Beispiele zu nennen. Eine bunte Mixtur, fürwahr. Trotz solcher Wechselspiele wirkt der Duktus des Romans hin und wieder redundant und zuweilen etwas in sich selbst versponnen. Schon der Titel scheint ja zwischen Unschlüssigkeit und Entschiedenheit zu oszillieren.

Sodann die finale Schiffsfahrt über die Adria nach Triest. Schon zu Beginn war die Rede von einer Reise zum Kilimandscharo. Dieser Roman handelt jedoch ebenso sehr vom Bleiben und Beharren wie vom Unterwegssein und von Veränderung. Und immer wieder vom Allbezwinger Tod. Bereits 1996 war Arnold Stadlers auch hier wieder erwähntes Buch mit dem unvergesslichen Titel erschienen: „Der Tod und ich, wir zwei“.

Nun dieses bilanzierende Zitat gegen Schluss: „Ach! All meine Straßen und Wege und Holzwege. Doch war mein Leben nicht auch so etwas Schönes? Schön, weil es wahr war? Und wahr, weil es schön war trotz allem?“ So werden Resignation und Melancholie von der Abendsonne vergoldet. Irgendwie. Aber am Meer.

Arnold Stadler: „Irgendwo. Aber am Meer“. Roman. S. Fischer Verlag. 224 Seiten, 24 Euro.

 




Ruhrfestspiele starten mit wütenden Tieren und einer wütenden Eröffnungsrede

Im Wald unter Tieren: Kathryn Hunter als Janina Duszejko (Foto: Marc Brenner/Ruhrfestspiele)

Und dann steht sie da im Scheinwerferlicht, eine zierliche ältere Frau, Holzfällerhemd, Mikrophon in der Hand, und erzählt. Um sie herum herrscht Dunkelheit, in der aber immer wieder auch geheimnisvolle Bewegung, Unheimliches, Schemenhaftes, Geahntes stattfindet. Nur manchmal wird in den folgenden zweieinhalb Stunden Bühnenlicht für kürzere Zeit auch auf Ereignisse fallen, die in Janinas Erzählung – so heißt die ältere Dame – eine Rolle spielen.

Beeindruckende Schauspielerin

Janina Duszejko ist die Hauptfigur im Stück „Drive Your Plow Over the Bones of the Dead“ (wörtlich übersetzt: „Zieh deinen Pflug über die Gebeine der Toten“), das die Londoner Theatertruppe Complicité (Regie: Simon McBurney) nach der Romanvorlage von Olga Tokarczuk einrichtete und das, entstanden in einer Koproduktion, die Ruhrfestspiele dieses Jahres eröffnete – in englischer Sprache übrigens.

Obwohl Würdigungen der Mitwirkenden üblicherweise erst am Ende einer Theaterbesprechung auftauchen, soll doch an dieser Stelle schon die Schauspielerin Kathryn Hunter gewürdigt werden, die die Janina in fast pausenloser Bühnenpräsenz gibt und einen unglaublichen Textberg abzuarbeiten hat. Sie tut dies in einem fein angemessenen Erzählton, engagiert, doch nicht zu laut, freundlich zurückhaltend, erklärend, nicht belehrend. In Spielszenen, etwa jener auf einer Polizeiwache, zeigt sie, daß sie auch aufdrehen kann, wenn es die Rolle erfordert. Eine angenehme Darstellerin, eine angenehme Darstellung.

Sterbende Tierverächter

Worum geht es? In dem winterlichen polnischen Dorf nahe der tschechischen Grenze, in dem Janina lebt, kommen Männer qualvoll ums Leben, denen eigen war, daß Tiere für sie nur tot einen Wert hatten. Sie jagten sie mit Gewehren, stellten brutale Fallen auf – und früh schon greift die unheimliche Ahnung, daß immer Tiere beteiligt waren, wenn einer dieser Tierverächter starb. Katze, Kalb und Fuchs und Hase auf dem Rachefeldzug? Am Ende ist es dann doch anders, als lange Zeit vermutet, aber die Geschichte, die Janina und das Buch erzählen, ist mit ihren zahlreichen Verästelungen durchaus (auch) ein würdiger Vertreter jener Literatur, die sich mit Serienmorden befaßt – hier eben mal aus etwas veränderter Perspektive.

Eher Hörspiel als Theatersück

Ein Theaterstück ist aus der Buchvorlage allerdings nicht geworden, bestenfalls ein Hörspiel mit einigen szenischen Einschüben und zugegebenermaßen stimmiger Bühnenausstattung. Kürzer, prägnanter, theatralischer hätte man sich das ganze gewünscht; wenn deutschen Literaturadaptionen im Theater häufig und zu Recht der Vorwurf gemacht wird, sie bedienten sich allzu beliebig aus der Vorlage („Steinbruch“), so ist es hier gerade umgekehrt, klebt die Inszenierung (so man überhaupt von einer durchgängigen Inszenierung reden mag) geradezu an der Literatur, ist sie eher Hörbuch als Theater. Gleichwohl: der Ansatz ist interessant, Kathryn Hunter eine sehr bemerkenswerte Künstlerin und Complicité eine spannende Truppe, von der man zukünftig hoffentlich noch hören wird.

Zum Eröffnungsritual der Ruhrfestspiele gehört neben den zahlreichen Begrüßungen, Glückwünschen und Lobhudeleien von Politik, Gewerkschaften und sponsernder Industrie bekanntlich auch, daß man sich eine Rede halten läßt. In diesem Jahr hielt sie die Autorin Anne Weber, deren aufsehenerregende Biographie der Antifaschistin und Befreiungskämpferin Annette Beaumanoir vor zwei Jahren mit dem deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde. Da konnte man sich was erwarten.

Anne Weber (Foto: Thorsten Greve/Ruhrfestspiele)

Wo ist der Kern der Rede?

Doch ach. Im Rückblick fällt es schwer, einen Kern der Rede auszumachen. Man erlebte einen wütend sich gebenden Vortrag mit viel genderndem Definitionsgehabe zunächst, mit geballter Umweltkatastrophenrhetorik sodann, schließlich mit zahlreichen diesbezüglichen Selbst- und Fremdbezichtigungen.

Da kriegten „reiche Gangster“, die den Planeten ausplünderten, um sodann mit privat finanzierten Raketen auf einen anderen Stern überzusiedeln, ebenso ihr Fett ab wie diejenigen (also wir), die in törichter Leugnung des Apokalyptischen zielstrebig dem Untergang der Menschheit entgegenstrebten. „Erderwärmung und Kapitalismuskälte“ war dabei ein besonders schönes quasi-antagonistisches Sprachbild, unfreiwillig (?) komisch gerieten andere wie jenes von uns selbst, die wir uns „auf fremden Rücken die Taschen füllen“. Diese oft ein wenig hysterioforme Predigt im Zustand der „Dauerwut“ – „Ich brenne aus Wut über mich selbst“ – bot der drastischen Formulierungen etliche mehr, aber genug davon. Freundlichen Beifall gab es reichlich. Doch manch einer im Publikum hatte sich von der Beaumanoir-Biographin mehr erwartet.

 




„Unser Geschäft ist die Fantasie“ – John Irvings Roman „Der letzte Sessellift“

Ob „Garp und wie er die Welt sah“, „Lasst die Bären los!“, „Bis ich dich finde“, „Letzte Nacht in Twisted River“: Alle Romane von John Irving wurden internationale Bestseller, manche auch erfolgreich verfilmt. Für das Drehbuch von „Gottes Werk und Teufels Beitrag“ bekam Irving sogar einen Oscar. Seine Bücher sind oft viele hundert Seiten stark, auch der neue Roman, „Der letzte Sessellift“, ist mit 1079 Seiten gewichtig.

Irving greift noch einmal in die Trickkiste, entwirft ein üppiges Gesellschaftspanorama der USA, thematisiert die eigene Familiengeschichte und die politischen Abgründe Amerikas, beklagt die Bigotterie eines Landes, das Homosexuelle verfolgt, aber den von kirchlichen Würdenträgern begangenen Kindesmissbrauch vertuscht. Es gibt deftige Erotik, herbe politische Anklagen, bizarre Handlungsfäden, mit denen Irving meisterlich jongliert.

Wieder gibt es klein gewachsene Menschen und lange Passagen über das Ringen, jede Menge Sex, der zu unliebsamen Verletzungen führt, rätselhafte Familien-Verhältnisse und ungeklärte Vaterschaften, starke Frauen und schwache Männer, einen Erzähler, der in New Hampshire aufwächst und viele Jahre nach seinem Erzeuger sucht, also John Irving recht ähnlich ist: auch er ein passionierter Ringer, der mit einer starken, allein erziehenden Mutter aufwuchs und fast fünfzig werden musste, bis er die Identität seines Vaters herausbekam. Doch es gibt diesmal keine Bären, die einem die Hand abbeißen oder die man mit der Bratpfanne in die Flucht schlagen muss: dafür aber ein literarisches Alter Ego, das die USA nicht mehr ertragen kann, die kanadische Staatsbürgerschaft annimmt und – wie Irving – nach Toronto zieht.

Adam Brewster führt uns von seiner Geburt im Jahre 1941 bis in die direkte Gegenwart. Er hat eine kleinwüchsige Mutter, Rachel, genannt Little Ray, die eine erfolgreiche Ski-Läuferin war und bis ins hohe Alter als Ski-Lehrerin arbeitet. Bei einem Ski-Rennen in Aspen, da ist sie gerade einmal 18, lässt sie sich von einem Vierzehnjährigen schwängern. Sie benutzt den Jungen als Samenspender, denn sie ist lesbisch und lebt mit Molly zusammen, einer Pisten-Pflegerin und Ski-Retterin. Um die gesellschaftlich geächtete Beziehung zu kaschieren, heiratet sie pro forma einen Mann, der zu ihr passt: Auch er ist klein und schlüpft gern in Frauenkleider. Adam liebt dieses sensible Wesen abgöttisch. Er liebt auch die Großmutter, die ihm Melvilles „Moby-Dick“ vorliest und in die Geheimnisse der Literatur einweist, den dementen Großvater, der zum Kleinkind mutiert und in Windeln herumläuft. Er liebt Nora, seine lesbische Cousine: zusammen mit „Em“, die sich nur pantomimisch ausdrückt, tritt sie in einem New Yorker Comedy-Club auf, nimmt in ihrem Programm „Zwei Lesben, eine spricht“ die politischen und sexuellen Verirrungen in den Vereinigten Staaten aufs Korn und wird von einem homophoben Zuschauer während der Vorstellung erschossen.

Besonders absurd sind die Reisen, die Adam unternimmt, um seinen Vater kennenzulernen, einen kleinwüchsigen Schauspieler und Drehbuchautor, der in Aspen aufgewachsen ist und immer wieder an den Ort seiner Kindheit und ins Hotel „Jerome“ zurückkehrt. Als Adam im „Jerome“ absteigt, trifft er die Gespenster von Toten wieder, die er als Kind in seinen Alpträumen gesehen hat und die jetzt in der Bar abhängen und Country-Musik hören. Adam hat die Filme seines Vaters studiert, jetzt beschreibt er die Begegnung mit ihm als Drehbuch, mit Regie-Anweisungen, Dialogen, Voice-Over, Musik-Einspielungen: Ganz großes Kino, total abgedreht, allein diese Sequenzen lohnen die Lektüre des Romans, in dem Protagonisten aus dem Sessellift fallen und sich zu Tode stürzen, oder krank, alt und des Lebens überdrüssig nachts in eisiger Kälte auf dem Berg bleiben, sich mit Alkohol betäuben und den Freitod wählen, dann steif gefroren morgens mit dem Sessellift nach unten gebracht werden.

Das alles ist fürchterlich traurig, aber auch ungeheuer komisch. Zur großen Liebe seines Lebens sagt Adam einmal: „Es gibt einen Grund, warum wir Romane schreiben. Das wahre Leben ist zum Kotzen. Unser Geschäft ist die Fantasie.“ Damit ist der Roman so prall gefüllt, dass er fast überläuft.

John Irving: „Der letzte Sessellift“. Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Anna-Nina Kroll und Peter Torberg. Diogenes, Zürich 2023, 1079 Seiten, 36 Euro.

 




Die Natur des Menschen erkunden – Programm der Ruhrtriennale

Auch diesmal eine zentrale Spielstätte der Ruhrtriennale: die Bochumer Jahrhunderthalle. (Foto: © Jörg Brüggemann)

Rühmen ist eine Kunst, auf die sich nicht alle verstehen. Ganz anders heute bei der Programm-Pressekonferenz zur Ruhrtriennale, die streckenweise geradezu schwärmerisch verlief. Das überwiegend weibliche Leitungsteam um die Intendantin Barbara Frey ließ nach und nach sämtliche am Festival beteiligten Künstlerinnen und Künstler hochleben. Darüber wurden die geplanten 90 Minuten arg knapp.

Intendantin und Sparten-Leiterinnen gingen überdies einfach mal davon aus, dass die Kreativen doch sicherlich samt und sonders allseits bekannt seien. Nun, für ausgesprochene Triennale-Afficionados und dito Habitués mag das wohl zutreffen. Oder eben für die Macherinnen selbst. Ich möchte hingegen wetten, dass nicht ausnahmslos alle Medienschaffenden sofort bei allen Namensnennungen gänzlich im Bilde waren. Aber was soll’s. Manche Vorhaben klingen wirklich vielversprechend, andere beim ersten Hinhören etwas gewöhnungsbedürftig. Oder halt „interessant“; ganz nach dem offenherzigen Motto: „Dann lasst doch mal sehen!“

Vom 10. August bis zum 23. September werden an 12 Orten in den Städten Bochum, Duisburg, Essen und Dortmund (Rachmaninow-Projekt „Abendlob und Morgenglanz“, ab 16. Augustin in der Zeche Zollern) insgesamt 34 Produktionen und Projekte gezeigt, darunter fünf Uraufführungen. Vielfach handelt es sich – wie bei der Ruhrtriennale üblich – um Mischformen („Kreationen“) zwischen Schauspiel, Musiktheater, Tanz, Performance und sonstigen Künsten. Auch der Film kommt diesmal (im Bochumer „Metropolis-Kino“) deutlicher zu seinem Recht als sonst. Noch mehr Zahlen? Bitte sehr: Alles in allem wird es 113 Veranstaltungen geben, der recht ordentliche Jahresetat beträgt rund 16 Millionen Euro.

Nun aber gilt’s der Kunst, notgedrungen anhand von wenigen Beispielen:

Die Eröffnungspremiere (10. August, Kraftzentrale im Landschaftspark Duisburg-Nord) inszeniert Barbara Frey selbst. Als Koproduktion mit dem Wiener Burgtheater, aber zuerst im Revier zu sehen, steht William Shakespeares immer noch und immer wieder wunderbar rätselvoller „Sommernachtstraum“ auf dem Spielplan. Barbara Frey sieht das im zauberischen Wald angesiedelte Stück in inniger Verknüpfung mit dem zentralen Festival-Themenkreis: Was ist die Natur des Menschen und wie behandelt dieses seltsame Wesen die Natur um sich herum? Es gehe bei Shakespeare um alles: Kunst, Natur, Macht, Eros und Traum. Kein leichtes Unterfangen also, aber wohl ein reichlich lohnendes. Übrigens habe der weltberühmte Dramendichter auch schon Angst um die Natur gekannt. Schon zu seiner Zeit seien großflächig Wälder abgeholzt worden.

Inszeniert den „Sommernachtstraum“ als Eröffnungs-Premiere: Ruhrtriennale-Intendantin Barbara Frey. (Foto: © Daniel Sadrowski)

Die größte Musiktheater-Poduktion heißt „Aus einem Totenhaus“ (Premiere am 31. August, Jahrhunderthalle Bochum) und stammt vom Komponisten Leoš Janáček. Seine Vorlage waren Fjodor Dostojewskis „Aufzeichnungen aus einem Totenhaus“, in denen der Schriftsteller seine Leiden im sibirischen Arbeitslager geschildert hat. Die mit rund eineinhalb Stunden Spielzeit ziemlich kurze Oper wird von Dmitri Tcherniakow in Szene gesetzt. Das Publikum soll sich dabei durch eine finstere Gefängniswelt bewegen, die Trennung zwischen Bühne und Parkett werde aufgehoben. Zuschauer würden den Mitgliedern des Ensembles beispiellos nah kommen, heißt es. Zuschauerinnen natürlich auch. Durchgängiges „Gendern“ ist im Triennale-Team versiert ausgeübte Pflicht.

Zumindest indirekte Bezüge zur industriellen Ruhrgebiets-Vergangenheit hat das Musiktheater-Vorhaben mit dem Titel „Die Erdfabrik“ (ab 11. August, Gebläsehalle, Duisburger Landschaftspark). In der Auftragsproduktion, realisiert von dem Komponisten Georges Aperghis und dem Schriftsteller Jean-Christophe Bailly, sollen sich Bergbau-Minen als metaphorische Orte erweisen. Drunten, im tiefsten Dunkel, verwirre sich die gewöhnliche Ordnung der Welt, hier müssten Ur-Ängste überwunden werden, wie Barbara Eckle ausführt, die Leitende Dramaturgin fürs Musiktheater der Triennale. Zugleich habe der Gang in die Tiefe mit unvordenklichen Zeitschichten zu tun, die Kohle lagere dort seit vielen Millionen Jahren.

Eine besondere Tanzproduktion verspricht „Skatepark“ der Dänin Mette Ingvargtsen zu werden, die sich von sozialen „Choreographien“ der Skateboard-Community herleitet und selbige künstlerisch aufbereitet (ab 12. August, Jahrhunderthalle Bochum). Bei den Konzerten ragt u. a. ein „Schlagzeug-Marathon“ (26. August, PACT Zollverein in Essen) heraus, beispielsweise mit Billy Cobham und Mohammed Reza Mortazavi. „Play Big“ (ab 21. September, Jahrhunderthalle Bochum) heißt ein groß gedachtes und in jeder Hinsicht raumgreifendes Zusammentreffen von Sinfonieorchester, Chor und Bigband, bei dem es zu gleitenden oder auch kontrastreichen Übergängen zwischen E-Musik und U-Musik kommen dürfte.

Mit dem dritten Teil dieser Ruhrtriennale endet vertragsgemäß die Intendanz der Schweizerin Barbara Frey, die vordem u. a. das Schauspielhaus in Zürich geleitet hat. Die Journalistenfrage, womit sie wohl in hiesigen Breiten in Erinnerung bleiben werde, mochte sie aus nachvollziehbaren Gründen nicht beantworten. „Lassen wir es offen.“

Durchzählen unnötig: Wir haben hier selbstverständlich nur einen Bruchteil der Produktionen nennen können. Der ganze große „Rest“ steht im gedruckten Programmheft und auf der Homepage des Festivals. Der Vorverkauf hat bereits begonnen, er läuft seit heute (27. April). 34.000 Tickets sind im Angebot, bis zum 4. Juni gibt es einen „Frühbuchungs-Rabatt“ von 15 Prozent. Und nun bitte hier entlang:

www.ruhrtriennale.de

 




Nähe, Alltag und Wirrnis – Andreas Maiers Roman „Die Heimat“

1970er Jahre in der hessischen Provinz (und eigentlich nicht nur dort): In der Grundschulklasse sitzen gerade mal zwei „Ausländer“-Kinder, ein Italiener und ein Mädchen aus Bulgarien, das im gnadenlosen Urteil der Mitwelt als „wilde Zigeunerin“ gilt. Wie lange scheint das her zu sein und wie unbegreiflich fern scheint es zu liegen! Andreas Maier muss es in seinem neuen Roman „Die Heimat“ geradezu archäologisch hervorholen. Dann aber kommt es uns doch verdammt bekannt vor.

Es folgen weitere zeittypische Szenarien: bezeichnende Vorkommnisse auf dem Schulhof; eine Schwester Adelheid, die nahezu obszön in die Kreuzigung Jesu vernarrt ist und auf entsprechend drastische Weise katholischen Religionsunterricht erteilt. Das erste italienische Restaurant im Städtchen, die Fernsehserie „Holocaust“ und der bleierne Herbst des RAF-Terrorismus sind andere Wegmarken der 70er, wie sie sich fernab der Metropolen abgezeichnet haben.

Das Puzzle ergibt ein brüchiges Bild

Tatsächlich ergibt sich aus all dem, so diffus es erscheinen mag, ein Umriss dessen, was damals als „Heimat“ nicht wirklich wahrgenommen, sondern schlicht für selbstverständlich gehalten und in seiner Vielschichtigkeit kaum begriffen wurde. Obwohl es doch bereits Irritationen und Erschütterungen gegeben hat. Die Mehrheit wollte sich eben nicht beirren lassen und sich lieber behaglich einrichten im Vorhandenen. Jaja, die Normalität.

Ein kleines Kabinettstück ist Maiers Erinnerung an die Anfänge des Fremdsprachenunterrichts in Englisch und Französisch: In der Tat grotesk, welche Weltausschnitte einem da präsentiert wurden. Wie seinerzeit die Partikel des Daseins im Englischen, so setzt sich auch das brüchige Bild der eigenen Heimat zusammen wie ein immer umfassenderes, aber nicht unbedingt deutlicheres Puzzle (worauf auch das Titelbild des Bandes abhebt, das Elvis Presley als US-Soldaten anno 1959 in Bad Nauheim zeigt), angereichert mit immer anderen Aspekten, so in Zeiten linker Bewusstwerdung eine harsche Ablehnung dessen, was dem herkömmlichen Heimatbegiff entsprach. Aber auch das war nur eine Teilansicht. Heimat sieht oft übersichtlich klein und gemütlich aus, ist aber eine große Verwirrung.

Fortschreibung des Langzeitprojekts

Maier arbeitet sich durch die 80er und 90er Jahre bis in die „Nuller Jahre“ vor. Die deutsch-deutsche Optik kommt hinzu und stellt die eigene Heimat nochmals in einen anderen Kontext, konfrontiert sie mit anderen Fragen. Irgendwann wird das Haus der Oma bezogen, wobei sich eine Art musealer, doch auch alltäglich-lebensnaher Aspekt von Heimat zeigt. Und natürlich drängt sich mit unheimlicher Macht die furchtbare deutsche Vergangenheit, medial zugerichtet, an vielen Stellen hinein, gleichsam in jede Ritze: Hitler, Hitler-Vergleiche, Hitler-Parodien. Das ganze Programm. Hingegen findet sich zu Maiers Verwunderung keine tiefer gehende Erzählung, die von den Opfern handelt, als seien die Juden damals einfach so „verschwunden“. Heimat als pechschwarzes, kaum je „aufgearbeitetes“ Phänomen.

„Die Heimat“ – übrigens dem mittlerweile 90jährigen Filmregisseur Edgar Reitz (famose Serie „Heimat“) gewidmet – ist eine erneute Fortschreibung von Andreas Maiers Langzeitprojekt, mit dem er die Gegend um Bad Nauheim, Friedberg und die Wetterau bis hin nach Frankfurt/Main von vielen Seiten her einkreist und bis ins Einzelne familiärer sowie sonstiger Verzweigungen erkundet. Damit beschert er der Region (und indirekt vielen Regionen) eine stetig anwachsende Chronik aus persönlicher, aber auch gesellschaftlich geweiteter Perspektive; ein Unterfangen, dem man mit nicht nachlassendem Interesse folgen kann.

Universelle Befunde aus der Region

Es ist ein beneidenswert detaillierter Erinnerungs-Fundus, den Maier nach und nach vor uns ausbreitet. Fast möchte es scheinen, als könnte man just in solchen Büchern „heimisch“ werden. Freilich geht Maier mit derlei Anwandlungen durchaus sanft ironisch um, konstruiert er doch als Rahmenhandlung den Bau einer Ortsumgehung, die an Friedberg vorbei führen soll. Auch so eine unscheinbare Pointe.

Hätte es nicht den wunderbaren und leider zu früh verstorbenen Peter Kurzeck gegeben, der sich in benachbarten Bezirken Hessens umgetan und höchst intensiv davon Zeugnis abgelegt hat, so würde man Maiers Projekt vielleicht als beispiellos bezeichnen. So aber gehört es wohl in Zusammenhänge, die letztlich auch den gleichfalls bewunderswerten und ebenfalls zu früh verstorbenen Wilhelm Genazino mit seinen Streifzügen durch Frankfurt geprägt haben. Zusammenhänge, die künstlerischen Eigensinn keineswegs ausschließen. Im Gegenteil. Je genauer sie ihre „Heimat“ auf je besondere Weise angeschaut haben, umso universeller und existenzieller erscheinen ihre Befunde. Ob das auch zum Tragen kommt, wenn es in andere Sprachen übersetzt wird?

Andreas Maier: „Die Heimat“. Roman. Suhrkamp. 245 Seiten, 22 Euro.

Vorherige Romane aus dem Zyklus waren u. a.: „Das Zimmer“ (2010), „Das Haus“ (2011), „Die Straße“ (2013), „Der Ort“ (2015), „Der Kreis“ (2016), „Die Universität“ (2018) und „Die Familie“ (2019).

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P. S.: Da gegen Schluss des Beitrags Wilhelm Genazino erwähnt wird, hier noch ein Hinweis auf eine sehr empfehlenswerte Neuerscheinung aus seinem Nachlass (übrigens kein Rezensionsexemplar, sondern im Buchhandel käuflich erworben):

Wilhelm Genazino: „Der Traum des Beobachters“. Aufzeichnungen 1972-2018. Hanser, 464 Seiten, 34 Euro.

 




Furchtlosigkeit, Demut und Liebe – Helga Schubert über den Alltag mit ihrem demenzkranken Mann

„Darum sorgt nicht für den andern Morgen“, heißt es bei Matthäus (Kapitel 6, Vers 34), „denn der morgende Tag wird für das Seine sorgen. Es ist genug, dass ein jeglicher Tag seine eigene Plage habe.“

Diese Bibel-Zeilen stellt Helga Schuber ihrem neuen Buch voran: „Der heutige Tag. Ein Stundenbuch der Liebe“ konzentriert sich ganz auf das Hier und Jetzt, das Schöne und das Schreckliche des Moments. Es ist ein Buch, das furchtlos und bewegend beschreibt, wie Liebe und Leid Hand in Hand gehen, wie qualvoll es ist, seinen schwer an Demenz erkrankten Ehemann zu pflegen, einen ehemals starken Kerl und klugen Kopf, der jetzt ans Bett gefesselt ist und sich einnässt, der seine Frau oft nicht wieder erkennt und seltsame Dinge vor sich hin brabbelt.

Helga Schubert ringt ihre Notizen dem Alltag ab und kann sie nur nachts in den Laptop eingeben, wenn ihr Mann ein paar Stunden schläft und das an seinem Krankenbett platzierte Babyphone, mit dem sie jeden seiner Atemzüge überwacht, einmal Ruhe gibt.

Jahrzehntelang wurde das Werk von Helga Schubert kaum wahrgenommen. In der DDR war die Psychotherapeutin und Schriftstellerin wegen ihrer kritischen Haltung zum „realen Sozialismus“ und ihrer religiösen Bekenntnisse eine Außenseiterin. Im wieder vereinigten neuen Deutschland hatte man kein Ohr für die leise und nachdenkliche Stimme einer Autorin, die nur noch selten in ihrer Wohnung im hyperventilierenden Berlin war, sich lieber in ihr altes Haus mit dem verwunschenen Garten in einem Dorf in Mecklenburg-Vorpommern verkroch, der Natur Respekt zollte und dem Leben Demut zeigte.

Als sie 2020 für ihren Geschichten-Band „Vom Aufstehen“ den Ingeborg-Bachmann-Preis erhielt, war sie bereits 80. Aber noch 13 Jahre jünger als ihr Mann, der Psychologe, Maler und Schriftsteller Johannes Helm, der inzwischen schwer erkrankt ist und dem sie nun ihr neues Buch widmet. Denn die Liebe, die sie dem Mann, den sie im Buch nur „Derden“ nennt, nach unzähligen gemeinsamen Jahren immer noch entgegenbringt, ist durch nichts zu erschüttern. Nicht durch Katheter und Windeln, die ständig gewechselt werden müssen, und auch nicht dadurch, dass Helga Schubert kaum noch aus dem Haus kommt und fast jede Einladung zu Lesungen ausschlagen muss, weil sie niemanden findet, der sich ein paar Stunden oder gar für einen Tag um ihren Mann kümmern möchte. „Jede Sekunde mit dir ist ein Diamant, sagt Derden zu mir und umarmt mich, als ich morgens in sein Zimmer und an sein Pflegebett komme. Wir sind seit 58 Jahren zusammen. Zwei alte Liebesleute. Ist es morgens oder abends, fragt er mich dann.“

Manchmal ist Helga Schubert zornig und traurig. Dass die Politik die immer drängender werdenden Probleme von Alter, Krankheit und Pflege verdrängt, macht sie fassungslos. Meistens aber ist sie erstaunlich gelassen, erträgt ihr Schicksal, als sei es ihr von Gott aufgegeben. Als eine Ärztin zu ihr sagt: „Hören Sie auf, ihm so hohe Dosen Kalium zu geben. Damit verlängern sie doch sein Leben!“, denkt sie: „Was für eine Anmaßung gegenüber der Schöpfung. Als ob ich Herrin darüber sein dürfte. Ein bisschen Sahnejoghurt im Schatten, eine Amsel singt, Stille. So darf ein Leben doch ausatmen.“

Helga Schubert: „Der heutige Tag. Ein Stundenbuch der Liebe“, dtv, München 2023, 268 Seiten, 24 Euro.




Raus aus dem ärmlichen Dortmunder Dreck: Jörg Thadeusz‘ Nachkriegs-Roman „Steinhammer“

Vorab eine persönliche Anmerkung, die mit dem vorliegenden Buch zu tun hat: Vor allem die erste Hälfte dieses Romans habe ich mit fliegendem oder angehaltenem Atem gelesen, weil – ich den anfänglichen Haupt-Schauplatz aus frühester Kindheit „kenne“ oder wenigstens genau dort gelebt habe, bis ich sechs Jahre alt war. An den durchgehenden Lärm der Bahnstrecke und an den Güterbahnhof kann ich mich jedenfalls noch erinnern. Da haben wir Kinder einmal Rüben aus Waggons geklaut und es gab „eine Tracht Prügel“. Ein ähnlicher Vorfall aus demselben Jahrzehnt kommt auch im Roman vor…

Gemeint ist die Dortmunder Steinhammerstraße im Schatten der damals noch mächtig aktiven Zeche Germania. Just dort hat der Roman „Steinhammer“ sein Gravitations-Zentrum. Verfasst hat ihn der TV-bekannte, 1968 in Dortmund geborene Moderator und Journalist Jörg Thadeusz. Die Handlung kreist um den nachmals ruhmreichen Künstler Norbert Tadeusz. (Ja, Freunde, T(h)adeusz einmal mit und einmal ohne „h“ ist korrekt). Jörg Thadeusz‘ Vater war ein Cousin des Malers. Ein eher schwach anmutender Anstoß. Doch Jörg T. scheint zum Schreiben außerordentlich motiviert gewesen zu sein, so sehr hat er sich in sein familiäres Thema vertieft.

Kaum Hoffnung auf ein besseres Dasein

„Steinhammer“. Schon das klingt, als ob das Schicksal hier unentwegt mit harten Schlägen niedersause. Und so war es ja auch. Die Gegend ist – wir sind (nach einem Prolog von 1942) zunächst im Jahr 1957 – ungemein dreckig, verrußt, kreischend laut, erbärmlich und ärmlich. Folglich sind die Menschen vielfach verzweifelt und versoffen; halt so, wie sich manche Unberatene in „feineren“ Gegenden noch heute das ganze Revier vorstellen. Wer damals hier lebte, hatte so gut wie keine Chance auf ein besseres Dasein. Allenfalls die Maloche im „Pütt“, im „Loch“, konnte passable Einkünfte bringen – aber um welchen Preis der gesundheitlichen Ruinierung! Ansonsten blieben, wie man hier ausgiebig erfährt, allenfalls viertklassige Arbeitsorte wie eine heimische Nähstube, ein baufälliger Kiosk oder ein dito Spielzeug- und Schreibwarenladen.

Panoptikum der Ruhrgebiets-Typen vom alten Schlage

Dieses desolate Milieu schildert Jörg Thadeusz mit ordentlich aufgetragenem Kolorit, wobei er sich hütet, die (sub)lokale Mundart mit ihren derben Redensarten zu sehr zu strapazieren. Gleichwohl lässt er ein wahres Panoptikum von Ruhrgebiets-Typen der 1950er Jahre auftreten: Jupp, den Onkel und Stiefvater der Hauptperson Edgar (mehr zu ihm folgt gleich), der einen Friseursalon betreibt und meistens sehr übel gelaunt ist, der allzeit säuft und flucht. Ringsum vegetieren Leute wie „Ötte“, wie „der Schäbbige“ oder der „Aschentonnen-Tiger“. Schon jetzt möchte man wetten, dass dieser streckenweise saftige und süffige Roman irgendwann verfilmt werden wird. Ein paar geeignete Darstellerinnen und Darsteller würden einem schon dazu einfallen. Und ein Musikstück wäre geradezu Pflicht: der so herrlich leicht-sinnige, zuversichtliche Schlager „Es liegt was in der Luft“ (1954) mit Mona Baptiste und Bully Buhlan, der in diesem Roman einige Momente der vagen Hoffnung markiert.

Apropos Musik: Es gibt einen grandiosen Song, der mir bei der Lektüre immer wieder eingefallen ist und der ziemlich genau zur smogdichten Atmosphäre der Steinhammer-Kapitel passt, obwohl er aus dem proletarischen England kommt: der alte Animals-Hit „We Gotta Get Out Of This Place“, gesungen von Eric Burdon. Wir müssen hier weg. Egal, was es kostet. Und wenn es das Letzte ist, was wir tun.

Diese notorischen Wutanfälle

Zurück zum Roman und hin zu den jungen Leuten, die in der Steinhammerstraße aufwachsen müssen. Sie wollen sich nicht einfach abfinden, sie wollen wirklich weg: der erwähnte Edgar, damals noch nicht einmal 17, eine kaum fassbare Naturbegabung im Zeichnen und Malen. Aber wie soll die Welt davon erfahren? Sein bester Freund Jürgen, gleichaltrig, Sohn eines ertaubten ehemaligen Deutschlehrers, daher mit Buchwissen und höheren Zielen. Er träumt von einem komfortablen Leben in Amerika, wo angeblich alle Leute über alle Annehmlichkeiten verfügen. Und schließlich Nelly, mit der Edgar eine scheue und doch innige Beziehung hat, immer mal wieder von seinen notorischen Wutanfällen durchkreuzt.

Schicksalsschlag auch hier: Nellys Mutter fällt der geistigen „Umnachtung“ anheim, die damit quasi elternlose Nelly selbst kommt durch autoritäre Fürsprache einer reichen (wegen ihrer Nazi-Anwandlungen verhassten) Oma aus Mülheim/Ruhr nach Hamburg, wo sie für die Edelfirma Montblanc arbeiten darf. Damit ist sie schon mal raus aus dem Ruhrgebiets-Elend. Ihr gut gepolstertes Leben wird wenigstens äußerlich zur Erfolgsgeschichte. Und auch Jürgen wandert mit Freundin tatsächlich in die USA aus, sozusagen stilecht mit Riesendampfer ab Bremerhaven. Aber mit Flüchtlingskoffer.

Vom Kaufhaus bis zur Kunstakademie

Zwischendurch haben Edgar und Jürgen im Kaufhaus Horten gearbeitet, was schon ein erheblicher Aufstieg war. Jürgen verkaufte Kleidung, Edgar lernte Schaufenster dekorieren, durfte aber bald auch größere Kreativ-Projekte anfassen. Ein Abteilungsleiter erkannte seine großen Talente und sorgte dafür, dass er (alias Norbert Tadeusz) zum real existierenden Gustav Deppe an die Dortmunder Werkkunstschule kam – ein weiterer Schritt zu künstlerischen „Weihen“, die er nie und nimmer so genannt hätte.

Hin und wieder ist man versucht, chronologische Details zu bezweifeln. Gewiss: Jörg Thadeusz hat spürbar sorgfältig und in die Tiefe reichend recherchiert, doch gab es 1957 wirklich schon ein Horten-Kaufhaus in Dortmund oder nur einen Vorläufer? Hat man seinerzeit schon „Geh sterben!“ gesagt oder kam der derbe Spruch nicht viel später in Gebrauch? Eigentlich Nebensache, oder? Wir lassen’s mal als offene Fragen stehen und erwähnen keine weiteren dieser Sorte.

Die zweite Hälfte des Romans schildert überwiegend Edgars Zeit an der Düsseldorfer Kunstakademie. Die war auch schon Anfang der 60er Jahre eine Elite-Schmiede, in der sich Edgar abseits der Malerei oft unwohl fühlt – neben manchen Schnöseln aus reichen Elternhäusern. Steinreich statt Steinhammer… Haben wir hier einen Schlüsselroman mit Kurzauftritten von lauter Künstlerpersönlichkeiten der nachfolgenden Jahrzehnte? Nur sehr bedingt. Jörg Thadeusz hat Personal und Gegebenheiten teilweise stark verfremdet und kräftig hinzu erfunden. So kommt Norbert Tadeusz‘ Akademie-Lehrer Joseph Beuys höchstpersönlich nicht vor, jedoch…

Zwiespältige Lebensbilanz

Schließlich ergibt sich noch eine zwiespältige Lebensbilanz im Vorfeld von Edgars 70. Geburtstag, den er in Spanien begeht – übrigens viele Jahre nach einem bitter nötigen Alkoholentzug. Abermals kommt es jetzt zu diesen herzbewegenden Begegnungen zwischen Ankunft, Abschied und Bleiben, die diesen Roman überhaupt auszeichnen und die ahnen lassen, dass im Bann von „Steinhammer“ fast nichts von wohltuend unbezweifelbarer Dauer ist. Fast.

Der Wahrheit die Ehre: Thadeusz ist keiner von den ganz großen deutschsprachigen Schriftstellern, er hat aber ein durchaus achtbares bis beachtliches und lohnendes Buch geschrieben – „well made“, wie man andernorts anerkennend sagt. Ich hab’s „verschlungen“, nicht nur wegen der örtlichen Bezüge.

Jörg Thadeusz: „Steinhammer“. Roman. Kiepenheuer & Witsch. 344 Seiten, 23 Euro.

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Lesungen (Auswahl)

Dienstag, 11. April, 20 Uhr: Pfefferberg Theater, Berlin
Mittwoch, 12. April, 19 Uhr: Keuning-Haus, Dortmund
Donnerstag, 13. April, 18 Uhr: Lehmbruck Museum, Duisburg
Samstag, 6. Mai, 20 Uhr: Centralkomitee, Hamburg

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Nachbemerkung: Bildband zur Steinhammerstraße

Allmählich will es mir scheinen, als habe sich pfeilgrad in der Dortmunder Steinhammerstraße das eine oder andere exemplarische Stück westdeutscher Nachkriegsgeschichte abgespielt. Vor rund elf Jahren konnte ich an dieser Stelle einen ebenfalls sehr empfehlenswerten Foto-Bildband besprechen, der auch in jener Straße angesiedelt ist. Hier ein Link zur damaligen Rezension:

https://www.revierpassagen.de/10682/vergehende-zeit-hier-im-revier-zum-beispiel-die-dortmunder-steinhammerstrase/20120727_1521

P. S.: Ich schätze mich glücklich, Norbert Tadeusz wenigstens einmal persönlich erlebt zu haben – bei einem Ausstellungstermin in Bochum. Sogleich ist er mir als ausgesprochen sympathischer und bodenständiger Mensch erschienen. Auch hierzu ein Link:

https://www.revierpassagen.de/1771/norbert-tadeusz-und-der-collagierende-blick/20090827_2231




Unterwegs ins Unerklärliche: Georg Kleins Erzählungsband „Im Bienenlicht“

Zum seinem 70. Geburtstag (29. März) legt uns Georg Klein einen neuen Band mit Erzählungen vor. Im Bienenlicht heißt die Zusammenstellung von achtzehn Texten, gegliedert in zwei Teile, die mit „Wachs“ und „Honig“ überschrieben sind.

In bester Tradition des phantastischen Erzählens lotet Georg Klein die Grenzen dessen aus, was mit Literatur möglich ist, und scheint sich in manchen der Texte noch einige verwegene Schritte tiefer ins Neuland vorzuwagen als in seinen bisherigen Romanen und Erzählungen.

Sich treu geblieben ist der Autor in seiner Vorliebe für das Skurrile, für das Traumhafte und Phantastische, in seinem Hang zu kunstvollen Verrätselungen, im Schaffen dichter, oft unheimlicher Atmosphären. Aus früheren Romanen und Erzählungen bekannte Themen und Motive tauchen auch in dieser Sammlung auf, zum Beispiel das Technische, die Apparate und die Symbiosen, die der Mensch mit ihnen eingeht. Technische Geräte werden gepflegt, liebevoll gewartet wie Wesen mit einer Seele. „In der Werkstatt hievten wir den gründlich geputzten Blasator vom Tisch. ‚Jetzt mach du. Dich ist er gewohnt.‘“

Vom Vertrauten ins Unerklärliche

Doch auch im Text Arbeit am Blasator darf man sich die Welt der Objekte nicht zu idyllisch vorstellen; die Atmosphäre kippt um ins Gruselige. Auf dem Kopfkissen der verstorbenen Ehefrau des leidenschaftlichen Bastlers befindet sich ein Fleck. Nicht, wie man es angesichts der zuvor eindringlich beschriebenen eisigen Temperaturen im Raum hätte erwarten können, „kaltfeucht, sondern eher lau, fast warm-feucht“ ist die Stelle auf dem Kopfkissen der schon vor Tagen Verstorbenen. Der Gast hatte sich zuvor vergewissert, dass nichts von der Zimmerdecke tropft.

Durch die nicht zusammenpassenden Temperaturen – der Kälte im Schlafzimmer des Witwers und der Wärme des Kopfkissens der Verstorbenen – führt uns der Autor aus dem Behaglichen ins Unerklärliche. Außer dem Wärme-Kälte-Empfinden sind es oft auch Gerüche, Aromen einer gruseligen Welt, die uns innehalten lassen. Die Verstorbene hat oft vor dem Einschlafen gelesen; sechzig Watt hatte die Glühbirne in der Nachttischlampe. „Am Lampenschirm kannst du den braunen Fleck sehen.“ Nach dem Zuklappen des Buchs, „meistens erst gegen Mitternacht, hat es immer schon angekokelt gerochen.“ Solche konkreten Beobachtungen machen der Reiz vieler der Texte aus, ohne dass die Geschichten realistisch daherkämen, eher mit der Eindringlichkeit eines nachlebenden Traumes.

Feindliche Dingwelt

Dinge können uns auch feindlich gegenübertreten. Das erlebt in der Titelgeschichte Im Bienenlicht der Mitarbeiter eines Sicherheitsdienstes an der Empfangstheke des Kanzlerinnenamtes. Kleine durchschlagstarke Kampfdrohnen, bei denen man an Ernst Jüngers Zukunftsroman „Gläserne Bienen“ aus dem Jahr 1957 denken könnte, sollen die menschlichen Personenschützer ersetzen. An seinem letzten Arbeitstag im Kanzlerinnenamt rebelliert der sich fast schon im Ruhestand befindende Mitarbeiter gegen diese Entwicklung mit Hilfe einer daheim im 3-D-Drucker erzeugten Kopie seiner Dienstpistole.

Symbiosen mit Maschinen und natürlichen Organismen

Wenn Mensch und Maschine nicht gerade aufeinander schießen, kommt es zumindest zu Missverständnissen mit unseren elektrischen Freunden, wie uns am Beispiel der eingeschränkten Kommunikation mit dem Pflegeroboter Roy in der Erzählung Das Kissen vorgeführt wird. Doch nicht nur mit der Technik geht der Mensch fragwürdige Symbiosen ein, auch mit Teilen der Natur. Die Allwurzler in der gleichnamigen Erzählung sind verdienstvolle Organismen, die sich vom Plastikmüll in den Meeren ernähren. Ihre Einsatzmöglichkeiten aber sind weitaus vielfältiger, wie der Erzähler in einer kalifornischen Spät-Hippie-Kommune feststellt. Zum Einsparen des kostbaren Wassers auf den Toiletten werden solche „Allwurzler“ auch an menschlichen Körperteilen gezüchtet. Bevorzugt dort, wo Ausscheidung zu Tage tritt, kommt es zu einer befremdlichen Intimität beider Lebensformen, und die Mitglieder der Gruppe tragen aus gutem Grund weite Kleidung.

Gründliche Überarbeitung für den Wiederabdruck

Allwurzler ist eine von vier Erzählungen, die bereits in der Literaturzeitschrift Sinn und Form veröffentlicht wurden. Doch alle Texte, die zuvor an anderer Stelle erschienen sind, wurden für den Band Im Bienenlicht erneut durchgesehen und teilweise umgeschrieben. Am deutlichsten lassen sich solche nachträglichen Eingriffe vielleicht in der Erzählung David zu Ehren feststellen, die als Edition 10 der Berliner Festspiele 2014 unter dem Titel „Der Wanderer“ erschienen war, damals zusammen mit Fotos des Filmemachers David Lynch. Die eindrucksvollen Schwarz-Weiß-Fotos mit Details aus Fabriken in Berlin, Lodz und Orten in den USA verbinden sich symbiotisch mit Georg Kleins düsterer Erzählung über zwei Männer, die man sich als eine ernstere Version der Ghostbusters vorstellen kann und die in ähnlichen wie in den von Lynch fotografierten Fabriken ihr riskantes Handwerk ausüben. Gelernt haben sie ihren Kampf gegen die zerstörerischen Spukerscheinungen, „Wanderer“ genannt, von einem Lehrmeister namens David, der nun nicht mehr bei ihnen ist. Für die Aufnahme des Textes in die Erzählungssammlung hat der Autor noch einmal gründlich Hand angelegt; die Hinweise auf David Lynch, die in der Broschüre von 2014 schon durch die Fotos gegeben waren, treten dabei zurück, zugunsten anderer konkreter Benennungen, zum Beispiel des Zugangscodes zur Werkstatt der beiden Männer, der in der Erstfassung nicht aufgelöst wurde.

Es wird viel gearbeitet

Vergleiche zwischen den Erstveröffentlichungen und dem jetzt erschienenen Buch vorzunehmen, wäre eine lohnenswerte Aufgabe für die Herausgeber einer historisch-kritischen Ausgabe des Georg Kleinschen Werkes; für das Lesevergnügen von Im Bienenlicht darf die Mühe der Überarbeitung unsichtbar bleiben. David zu Ehren ist nicht die einzige Erzählung, die uns in die Welt hochspezialisierter Arbeit führt. Kunstfertig und bienenfleißig sind die Menschen in Im Bienenlicht. Oft geht es um Kunst in ihren verschiedenen Spielarten, und manche der Erzählungen weisen in die Gattung der Künstlernovelle. Handwerkliches Können wird zum Thema in Wie es gemacht wird oder in Junger Pfau in Aspik, in Die Kunst des Bauchmanns oder in Der ganze Roman.

„Hochkultur“ und Kunsthandwerk

Auf einen Ausflug in die Welt der Musik nimmt uns der Erzähler in Die Melodika mit. Ein Komponist Neuer Musik, auf dessen Opus magnum die Musikwelt gespannt wartet, mag einige Ähnlichkeiten mit Hans Werner Henze aufweisen, wenngleich die vom Autor gelegten Fährten schnell wieder vom Verdächtigten wegführen. In der Ausgabe von Sinn und Form aus dem Jahr 2013 (Fünftes Heft), in der Die Melodika erstveröffentlicht wurde, bezeichnet Ina Hartwig in einem längeren Aufsatz Georg Klein als einen „Vermeidungsartisten“. Doch nicht nur, was gesellschaftlich weithin als hohe Kunst angesehen wird, steht im Zentrum der Erzählungen. In Die lustige Witwe geht es beispielsweise um einen Heimatabend mit deutschem Liedgut in einem Gasthof, und besonders eindrucksvoll werden meisterliche Architektur und Holzschnitzerei in der Erzählung Lindenried einander gegenübergestellt.

Die erste Autobahnkirche in Deutschland

Der verstorbene Onkel des Erzählers hatte als junger Architekt den Auftrag zum Bau der ersten Autobahnkirche in Deutschland erhalten; es blieb der einzige Sakralbau des großen Baumeisters, der „zeitlebens an nichts“ glaubte. Hinweise auf die historisch erste Autobahnkirche – ihre Nähe zur Stadt „A.“ (Georg Klein wurde 1953 in Augsburg geboren), die teilweise parallel zur Autobahn verlaufende Bundesstraße und auch die gemeinsame Endung „-ried“ im Ortsnamen lassen auf die Autobahnkirche „Maria, Schutz der Reisenden“ an der A 8 München–Stuttgart bei der Anschlussstelle Adelsried schließen. Dann aber enden schon die Gemeinsamkeiten zwischen möglichen Kindheitserinnerungen des Autors und der Fiktion.

Architektonisch hat die von Georg Klein ausgedachte Kirche in Lindenried mit der von Raimund von Doblhoff ab 1956 gebauten und im Oktober 1958 geweihten ersten Autobahnkirche nichts gemein. Vom Umbau einer ehemaligen Tankstelle mit denkmalgeschütztem geschwungenem Dach kann bei der tatsächlichen Kirche ebenso wenig die Rede sein wie von den Robinienstämmen, die den Innenraum der fiktiven Kirche gleich Säulen gliedern. Keine Autofiktion lesen wir, sondern eine gelungene Künstlernovelle, bei der es um die Anerkennung des jungen Holzschnitzers durch den erfahrenen Architekten geht.

Ideales Lebensende?

Die Methode, eine konkrete biografische Situation aufzugreifen und sie sehr schnell in pure Phantasie zu verwandeln, wendet Georg Klein auch bei seinem Text Herzsturzbesinnung an. Tatsächlich saß Georg Klein im Januar 2019 in der Akademie der Künste auf dem Podium – anlässlich einer Veranstaltung zum 70-jährigen Jubiläum der Literaturzeitschrift Sinn und Form. Ähnlichkeiten mit den anderen am Podiumsgespräch Teilnehmenden gibt es hingegen nicht, vor allem erlitt niemand auf dem Podium einen „Herzsturz“, wie Georg Klein dieses Phänomen als eine pandemisch sich ausbreitende, unvermittelt auftretende Todesart beschreibt, bei der sich das Herz unblutig und für den Betroffenen schmerzfrei durch die Haut nach außen stülpt und die Wahrnehmung dieses Vorgangs „kaum von einem Magendrücken nach einer überreichlichen Mahlzeit“ zu unterscheiden ist – „ganz zuletzt ein helles Brennen, mittig hinter dem Brustbein.“ Ein aus der Sicht des Erzählenden möglicherweise ideales Lebensende.

Nietzsches „Zeitreisen“

Ein biografischer Ausgangspunkt ist in Georg Kleins Erzählungen nie mehr als ein Ideengeber zu einer sich bald ins Phantastische ausweitenden Geschichte. Die Erzählung A. Zett beginnt mit einem 16-jährigen Gymnasiasten, der 1969 auf einem Friedhof einen älteren Drogenfreak kennenlernt, der lange Passagen aus dem Werk Friedrich Nietzsches aufzusagen weiß, jedoch behauptet, Nietzsche, der die Kunst des Zeitreisens beherrsche, habe sie von ihm übernommen, nicht umgekehrt. Im weiteren Verlauf beweist dieser A. Zett ein erstaunliches Geheimwissen, mit dem er dem Erzähler – nun nicht mehr ganz so jung – immer weitere Zugeständnisse abnötigt. Auf drogenähnliche Erfahrungen spielt auch Die Früchte des zweiten Baumes an. Für eine Halluzination könnte man die bewegte Figur in einer Walnusshälfte halten, Frucht eines Baumes im Garten des Cousins Gunnar. Freilich bietet Georg Klein für solche ins Unwahrscheinliche, ja ins Unmögliche, greifenden Phänomene niemals realistische Erklärungen an. Im Gegenteil, einer seiner Protagonisten wird geradezu wütend, wenn jemand ihm seine Träume „vernünftig“ erklären will – so in Wein und Brot.

Gegen Traumdeutung und Interpretation

In der bereits 2005 in [SIC] – Zeitschrift für Literatur Nr. 1 (Aachen, Berlin) erschienenen Erzählung Wein und Brot besucht ein jüngerer, nicht erfolgreicher Schriftsteller den von ihm verehrten älteren, von seinem Ruhm zehrenden, Kollegen. Der große Literat vertraut ihm einen Traum an, den der übereifrige Verehrer ihm sofort erklären möchte, womit er dem Traum jeden Zauber rauben würde. „‘Unerhört!‘, brüllt ihn der Alte da an und fegt, damit der Gast ja kein weiteres Wort wage, Wein und Gläser vom brotlosen Tisch. Mit einem Schreiberling, der so erbärmlich, der so armselig wenig vom Träumen verstehe, wolle er nichts weiter zu schaffen haben, und er verweist den Adepten für immer des Hauses.“

Georg Klein gehört einer Generation an, in deren Jugend Susan Sontags wirkungsmächtiger Essay Against Interpretation (1964) die Welt der Kunst und die Kunstkritik erschütterte. Susan Sontags Appell, ein Kunstwerk sinnlich zu erfahren und nicht mit den (damals gängigen) Methoden der Kritik und Wissenschaft zu traktieren, und die heftige Reaktion des älteren Schriftstellers in Georg Kleins Wein und Brot auf den allzu sehr Bescheid wissenden jüngeren Adepten könnten gleichermaßen eine Warnung sein, in der Literatur alles erklären zu wollen.

Der Mensch ist genial, wenn er träumt, und Georg Klein hat immer schon eine Liebe zum Surrealen und eine hohe Affinität zum Reich der Träume bewiesen. Wie in allen seinen Büchern kann auch in Im Bienenlicht die Distanz schaffende, nicht alltägliche Sprache, mit der Georg Klein seine Welten baut, genossen werden. Seine Kunst, sich in sicheren Schritten über unsicheres Terrain zu bewegen, ist zu bewundern. Auch aus seinem neuesten Erzählungsband dürften manche Bilder und Stimmungen lange nachwirken.

Georg Klein: „Im Bienenlicht“. Erzählungen. Rowohlt, Hardcover, 240 Seiten, 24 Euro.




„Fang einfach von vorne an“ – Enzensbergers „Leichte Gedichte“

Er war einer der bedeutendsten Dichter und Denker der Gegenwart. Im politisch und kulturell brachliegen Nachkriegsdeutschland erneuerte er die Lyrik und wurde zum Stichwortgeber unzähliger Debatten.

Oft war er Kandidat für den Literaturnobelpreis. Bekommen hat er ihn aber nie. Als er im vergangenen November im Alter 93 Jahren verstarb, hinterließ Hans Magnus Enzensberger ein gigantisches Werk. „Leichte Gedichte“ heißt sein neuer Band: Es ist ein lyrisches Vermächtnis.

Sich selbst verblüffen

Sich auf eine literarische Spielart festlegen, einer politischen Position treu bleiben: uninteressant. Eine Versammlung von „Best-Of“-Gedichten? Langweilig. Lieber etwas Neues, Unerwartetes, sich selbst verblüffen, das Publikum verzaubern mit „Leichten Gedichten“ in einer Zeit schwerer globaler Krisen. Das Kurzweilige und Lehrreiche, Unterhaltsame und Tiefgründige spielerisch verschmelzen, das war sein Ding.

„Lies keine Oden mein Sohn, lies die Fahrpläne: sie sind genauer“, hat er der rebellischen Jugend zugerufen. Aber dazugehören zum Protest: Nein, danke! „Ich bin keiner von uns.“ Schon war er, wie seine Lieblingsfigur, der „Fliegende Robert“, wieder unterwegs in die Freiheit, fabulierte über „Die Geschichte der Wolken“, fühlte sich „Leichter als Luft“.

Grübeln hilft nicht

Auch jetzt, den Tod vor Augen, spannt der Formulierungstänzer noch einmal den literarischen Schirm auf, fliegt los und schreibt ein Gedicht mit dem Titel: „Warum Gedichte leicht sind“: „Kümmere dich nicht / um die allererste und letzte Zeile! / Fang einfach von vorne an, / obwohl zigtausend Verse / dir im Kopf herumspuken. / Es hilft nichts, zu grübeln. / Du mußt keine Epen schreiben, / keinen Roman, keine Manifeste. / Du hast nichts zu erzählen. / Nur die Geschichte redet dir ein, / auf den letzten Satz komme es an, / bloß, weil er der letzte ist.“

Über elitäre Ambitionen kann Enzensberger nur lachen, der Furor der literarischen Weltverbesserer ist ihm zuwider: Schreiben als Therapie oder Anleitung zum Aufstand? „Lieber nicht!“ spottet er mit den Worten des Verweigerungs-Helden „Bartleby“ und meint: „Künstler bilden sich ein, / daß sie etwas Besonderes sind. / Es gibt immer mehr Künstler. / Künstler wollen berühmt sein / und Geld haben, Preise und Orden. / Soviel Andrang ist unangenehm. / Dann doch lieber die Schlange vor der Bäckerei / in einer Hungersnot.“

„Wir sind alle Epigonen“

„Die Tricks der Dichter“, schreibt er in einer Nachbemerkung, „sind so alt und zahlreich, daß ihren heutigen Nachfolgern kaum etwas Neues einfällt. Wir sind alle Epigonen.“ Man sollte „den Nummern der Poeten nicht über den Weg trauen. Wie im Zirkus sind ihre haarsträubenden Attraktionen oft nur ein Blendwerk, mit dem sie dem Publikum imponieren wollen.“

Jan Tripp hat das herrlich schillernde Blendwerk mit kurios-surrealen Bildern versehen: Wir sehen zerrissene Fotos von klassischen Ölbildern, Naturstudien, Porträts, mythologische Fantasien, seltsame Fundstücke. Auch das Bild einer alten Schiefertafel ist dabei, das Gedicht, das dazu passen könnte, folgt viele Seiten später: „Wenn das alles ist, / was du auf dem Herzen hast – / na, wenn schon! / Im Bad findest du einen Schwamm. / Sogar die Mathematiker / greifen zu ihm und zur Kreide / vor der Tafel mit ihren Gleichungen / und löschen alles, / was sie stört, weil es voller Fehler ist.“ Das Leben kostet Nerven und kann schnell vorbei sein, also: „Schwamm drüber“.

Hans Magnus Enzensberger: „Leichte Gedichte“. In Bilder gesetzt von Jan Tripp. Insel Verlag, 88 Seiten, 14 Euro.