Der laute und der leise Witz (zum Tod von Wilhelm Genazino – Erinnerung an ein kurzes Interview)

Als gestern die betrübliche Nachricht vom Tod des Büchnerpreisträgers Wilhelm Genazino (75) sich verbreitete, ist mir auch eine Begegnung aus dem Jahr 2004 wieder eingefallen. Es war eine sehr angenehme Begegnung mit einem hellsichtigen, empfindsamen und bemerkenswert bescheidenen Menschen. Er war ein Autor, auf dessen Bücher man immer und immer wieder zurückkommen konnte, ja: musste.

Das folgende kurze Interview, geführt am Stand des Carl Hanser Verlages auf der Frankfurter Buchmesse, ist damals in der Westfälischen Rundschau (WR) erschienen. Hier der Archivtext:

Wilhelm Genazino 2016 auf der Frankfurter Buchmesse (Foto: Heike Huslage-Koch / Wikimedia Commons:) Link zur Lizenz:https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/

Wilhelm Genazino 2016 auf der Frankfurter Buchmesse (Foto: Heike Huslage-Koch / Wikimedia Commons). Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/

Sie erhalten in Kürze den wichtigsten deutschen Literaturpreis, den Büchnerpreis. Wie haben Sie die Nachricht aufgenommen?

Wilhelm Genazino: Ungläubig. Aber ich freue mich natürlich, klar. Bis vor wenigen Jahren stand ich eher am Rande. Ich hab’ mich da gar nicht unwohl gefühlt.

Geduldige Beobachtungen von Randfiguren ziehen sich auch durch Ihr Werk.

Stimmt. Ich passe zu meinen Figuren. Deswegen mag ich auch die Vorstädte. Da geht es weniger künstlich zu, glaubwürdiger, nicht so aufgedonnert wie in der Fassadenwelt der Innenstädte.

In Ihrem Essay-Band entwickeln Sie auch eine Humor-Theorie. Sie unterscheiden zwischen innen- und außengeleitetem Humor. Was verstehen Sie darunter?

Es gibt sehr verschiedene Arten des Vergnügens. Diese furchtbare Fernsehreihe „Pleiten, Pech und Pannen“, das ist sozusagen der Massenhumor. Da passiert immer wieder dasselbe: Ein Mann fliegt vom Fahrrad, eine Torte fällt einer Frau auf die Bluse, ein Kind rutscht im Gummiboot aus… Es ist dieser öffentliche Schadenfreude-Humor mit ganz groben Effekten. Die komische Empfindung hingegen braucht gar keine Witze als Anlass. Hier geht es um stille Wahrnehmungen, darum, dass man etwas für sich als komisch entdeckt. Eben war ich in einem Messe-Bistro, da stehen drei Tische – und auf jedem ein handgeschriebenes Schildchen: „Die Tische gehen nur über die Bedienung!“ Man weiß ja, was gemeint ist. Aber das so auszudrücken, das ist einfach großartig. Damit könnte man im Fernsehen nicht landen. Der Witz ist viel zu leise, so etwas kommt eher in der Literatur zum Vorschein – bei Lawrence Sterne, bei Italo Svevo oder bei Jean Paul.

Ihr Buch enthält auch eine Betrachtung über gescheiterte Autoren.

Es gibt viele großartige gescheiterte Bücher. Es ist oft ein Kennzeichen großer Romane, dass die Autoren zwischendurch ihr Thema verlieren. Auf einmal weiß man nicht mehr: Wovon ist hier eigentlich die Rede, was ist hier los? Das gibt es selbst bei Thomas Mann. Häufig sind es die besten Stellen, an denen ein Autor deliriert; diese Latenz-Phasen, bevor er wieder in seinen Roman zurückfindet.

Was hat es mit dem „gedehnten Blick“ auf sich, den Sie auf ein altes Kinderfoto anwenden, in dem sie nach und nach immer wieder andere Dinge entdecken?

Wenn man etwas sehr lange anschaut, dann merkt man, dass das Auge das verwandelt, was es sieht. Es bleibt nicht bei dem, was es einmal erkannt hat. Solches Hinschauen haben wir verlernt. Das Fernsehen ist ja sozusagen eine Sehens-Abgewöhnungs-Maschine, allein durch die Häufigkeit der schnellen Schnitte. Man wird gezwungen, ein Geschehen zu verfolgen. Aber das hat mit Sehen nichts mehr zu tun. Eine fatale Entwicklung.

Ihr neuer Roman „Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman“ spielt zu Beginn der 60er Jahre. Was war das für eine Zeit?

Die Zeit, in der ich jung war. Eine bescheidene Zeit, eine armselige und verschämte Zeit. Das Entsetzen der Nachkriegsjahre stand noch den Menschen ins Gesicht geschrieben. Damals gab’s noch nicht diese künstliche Entsetzens-Kultur. Allerdings ist damals in Deutschland gnadenloser Kitsch produziert worden, der im Grunde dem NS-Kitsch geähnelt hat. Und das hört bis heute nicht auf: Auch diese unselige Volksmusik ist ein Spätling der NS-Zeit…

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Ausgewählte Besprechungen von Genazino-Werken bei den Revierpassagen:

„Außer uns spricht niemand über uns“ (Besprechung erschienen am 3.9.2016)

„Bei Regen im Saal“ (Besprechung vom 23.10.2014)

„Leise singende Frauen“ (Besprechung vom 30.7.2014)

„Courasche oder Gott lass nach“ (Theaterstück) (Besprechung vom 3.10.2007)




Im Wortlaut: „Eine beharrlich widerständige Autorin“ – Laudatio auf Elke Heinemann, Trägerin des Literaturpreises Ruhr

Trägerin des Literaturpreises Ruhr 2018: Elke Heinemann. (Foto: © Narciss Fekete)

Trägerin des Literaturpreises Ruhr 2018: Elke Heinemann. (Foto: © Narciss Fekete)

Vor Wochenfrist wurde im Dampfgebläsehaus der Bochumer Jahrhunderthalle zum 33. Male der mit 10.000 Euro dotierte Hauptpreis des Literaturpreises Ruhr vergeben. Diesmal erhielt ihn die in Essen geborene, heute in Berlin und auf Naxos lebende Schriftstellerin Elke Heinemann. Mehr über sie auf Ihrer Autorinnenhomepage: www.elke-heinemann.de.

Die Laudatio auf Elke Heinemann hielt Jurymitglied Ulli Langenbrinck. Sie ist Autorin und Lektorin, war zuletzt u.a. Programmleiterin des Asso-Verlags in Oberhausen und lebt in Mülheim an der Ruhr. Die Revierpassagen veröffentlichen ihren Text mit freundlicher Genehmigung der Verfasserin. Hier nun ihre Laudatio im schriftlichen Wortlaut:

Elke Heinemann ist eine sehr vielseitige Autorin, die in den verschiedensten Genres zuhause ist. In ihren bisher vier veröffentlichten Romanen sowie in zahlreichen Kolumnen, Essays, Hörspielen und Radio-Features erweist sie sich als hochkarätige literarische Stimme abseits des Mainstreams. Aber auch Künstler-Portraits in Form von Monografien oder als Hör-Stücke spielen in Elke Heinemanns Werk eine wichtige Rolle, so etwa von Meret Oppenheim, William Beckford, Ezra Pound, Helmut Heißenbüttel, Ernst Ludwig Kirchner und Nicolas Born, dem 2007 zusammen mit seiner Tochter Katharina Born posthum der Literaturpreis Ruhr verliehen wurde. Hinzu kommen zahlreiche Beiträge in Anthologien, Zeitschriften und Zeitungen, darunter die Kolumne „E-Lektüren“ im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, die – logischerweise – auch als E-Book erschienen sind.

Für uns als Jury ist Elke Heinemann sozusagen der Idealfall einer Preisträgerin, hat sie doch einerseits eine umfangreiche und formal wie thematisch weit gefasste Veröffentlichungsliste von hoher Qualität, und andererseits liegt ein aktueller, 2018 veröffentlichter Roman vor, der allein schon unbedingt preiswürdig ist: „Fehlversuche“ ist ausdrücklich „Kein Kinderbuch“ – so der Untertitel –, obwohl er von einer Kindheit erzählt. Denn es geht darin um die anfangs sechsjährige Elisa, die in den 1960er Jahren im Ruhrgebiet in der Hölle einer „Kleinstfamilie“ aufwächst, in einem „Haus des Höheren Beamtentums“, in einem „unheimeligen Heim“.

Der Vater, auch „Vaterdarsteller“ genannt, ist als höherer Beamter meistens unterwegs und abwesend, das Kind bleibt mit der Mutter allein. Die Mutter, ein „wütendes Gespenst“, „Mutterdarstellerin und Maria-Callas-Darstellerin in einer Person“, ist alkoholabhängig, sie hat ein Dauer-Rendezvous mit dem Herrn Jägermeister, der ist ihr liebster Saufkumpan, er ist ihr treu ergeben und kichert so nett, „er ist sehr betrunken, nur gut, dass er keinen Führerschein hat, den müsste man ihm abnehmen, den Jagdschein hingegen darf er behalten.“ Aber die beiden anderen, die Herren Marillenlikör und Eierlikör, kann die Mutter auch gut leiden. Wenn der Vater mal heimkommt, ist die Mutter „schon mit dem Jägermeister auf und davon. Wohlsein!“

Den Soundtrack zum allabendlichen Drama liefert der bis zum Sendeschluss heiß laufende Fernseher. Mal kommen Rudi Carrell und Ilja Richter mit lustigen Gags zu Besuch, dann wieder schunkelt die Mutter mit dem Jägermeister zum Kölner Saalkarneval, oder sie lallt im Duett mit Maria Callas die Carmen-Arie von der Liebe, die ein wilder Vogel ist, zwar auf Französisch, aber das stört die Mutter nicht weiter.

„Lallen kann die Mutter noch in dieser Nacht, sprechen kann sie kaum mehr, selbst in der eigenen Muttersprache trägt sie nur noch grammatikalisch Unvollständiges vor, Sprachfragmente, monologisch geäußert, exklamatorisch zum Teil, auch imperativ gerichtet an eine Person, die Elisa hier & jetzt nicht sehen kann wie den Vati beispielsweise, die Mutter spricht von einem Schein, einem Wein oder einem Schwein, man kann sie nicht genau verstehen, zumal sie nun mit einem Schmerzensruf zu Boden geht, Glas zersplittert, Elisa tanzt stumm mit dem Jägermeister zur Habanera auf den Scherben, eine kleine Seejungfrau, die ihre Stimme eingetauscht hat gegen eine Seele, die geliebt werden möchte, aber leider nicht geliebt wird.“

Elisas Wirklichkeiten sind ein böses Märchen aus der Gegenwart, in der die Rollen, die Glaubenssätze, die Gewissheiten und die Glücksversprechen ebenso festzementiert sind wie in den echten alten Märchen, deren Figuren ebenfalls durch Elisas Abgrund und den ihrer Mutter mäandern. Elke Heinemann setzt Märchenmotive (inklusive der darin überlieferten diversen Todesarten), Fragmente von Weihnachtsliedern, Poesiealbumsprüche, Opernarien (Liebeswunsch!) und Kinderlieder wie Schlaf, Kindlein, schlaf als treibende Motive in den Text, eine beklemmende, verzweifelte oder bitterböse Ironie. Das „Kinderganovenduo“ Max und Moritz wird bei einer Weihnachtsfeier vor den Augen des kindlichen Publikums in der Mühle zu Futter für echte Bio-Gänse zerschreddert, das ist nun mal das Schicksal der bösen Kinder, wie „Bestsellerautor Wilhelm Busch“ es diversen Generationen eingebläut hat. Und die „Zehn kleinen Negerlein“ mutieren zu zehn kleinen Jägermeistern, die ihrer Jägermeister trinkenden Anhängerschaft auf verschiedenste Weise den Garaus machen, bis wie im Kinderlied keiner mehr übrigbleibt.

Ein Grundmotiv dieses Romans ist Identität. Elisa muss ein Wunderkind sein, sie darf nicht sein, wie sie ist, „die Eltern treiben dem Kind das wahre Kind aus, sobald es sich zu erkennen gibt, die Eltern sind selten einer Meinung, aber eine gemeine Meinungsgemeinschaft, wenn es darum geht, dem Kind die eigene Art auszutreiben.“ Das oberste Gebot der Eltern lautet: Sei nicht, wie du bist, sei anders, sei besser. (Kommt Ihnen das eventuell bekannt vor? Stichwort Selbstoptimierung?) In dieser Kindheit ist es dem Kind unmöglich, ja verboten, „ich“ zu sagen und geschweige denn zu denken, die vermeintlich natürliche 1. Person Singular wird zu einer verzweifelten Lügen-Chiffre, geschrieben „I.C.H.“.

Das Kind versucht, zu überleben, indem es sich einen Zwilling namens Alise erfindet, und die Eltern zu befriedigen, indem es sich als Kind präsentiert, das so ist, wie sie es haben wollen, doch alle seine Versuche sind und bleiben „Fehlversuche“, da haben wir den Titel. Eine nahezu unüberschaubare Folge von Fehlversuchen unternimmt dieses Kind, „bis es ein Ich hat, das Ich sagen und schreiben kann.“

Dann ist Elisa erwachsen und sitzt am Sterbebett der Mutter, „alles ist ruhig, alles ist gut, nach einer Weile steht es auf, öffnet die Tür, tritt hinaus ins Licht, verwandelt sich, sagt dann leise: Ich.“

Das Buch ist zu Ende, es gibt eine Brücke, die über den Abgrund führt, die Hölle ist vielleicht – bestimmt! gerade im Nachbarhaus anzutreffen. Will man die Leitmotive dieses schmalen großen Romans knapp zusammenfassen, genügt ein Blick auf die Umschlagrückseite, wo sie in Form von Hashtags aufgelistet sind: fantasie, ich-erzählung, identität (motiv), kind (motiv), märchen (motiv), resilienz (motiv).

Resilienz, laut Lexikon die „psychische Widerstandskraft und die Fähigkeit, schwierige Lebenssituationen ohne anhaltende Beeinträchtigung zu überstehen“, kommt nicht ohne Hilfsmittel aus. Das wichtigste aller Hilfsmittel ist die Sprache: man muss Dinge aussprechen/schreiben, die nicht gesagt/geschrieben werden können oder dürfen. So formuliert es Elke Heinemann in ihrer literarischen „Selbstauskunft“, die morgen auf fixpoetry.com erscheint (mittlerweile hier abrufbar, Anm. der Redaktion), und das gilt für alle ihre Romane, in denen sie auf verschiedene Weisen die Wirklichkeit kritisch-ironisch analysiert. Die Wirklichkeit – oder das, was Menschen sich als ihre eigene Wirklichkeit, als eigene Identität konstruieren. So erforscht sie auch das Verhältnis von Wirklichkeit und Fiktion. Keiner ihrer Romane folgt den Regeln der linearen Erzählweise, in allen werden Rollenklischees, Trivialmythen und populärkulturelle Phänomene Stück für Stück auseinandergeschraubt. Elke Heinemann tut dies auf formal innovative Weise, inspiriert von dadaistischen Montagetechniken, mit denen sie lustvoll-spielerisch und bitterböse entlarvt, was einem so Tag für Tag aus den Illusionsmaschinerien alter und neuer Medien entgegenmüllt.

So auch in ihrem 2006 erschienenen Debut „Der Spielplan“. Ein Liebesroman, eine gnadenlos komische Geschlechter- und Gesellschaftssatire, in der sich vier nach Frauenzeitschriften benannte Frauen – Brigitte, Petra, Emma und Marie-Claire – auf die Suche nach dem ultimativen Glücksbringer und Kindeserzeuger machen. Das gemeinsame Objekt der Begierde ist Bert, ein supererfolgreicher Medienmann und Frauenhasser, der sich auch noch als Klon verdoppelt. Und wie im wirklichen Leben dürfen Leser und Fernsehshowzuschauer am Ende abstimmen. Als Roman wurde „Der Spielplan“ mit dem 1. Preis des österreichischen Floriana-Literaturwettbewerbs ausgezeichnet, Elke Heinemann montierte daraus aber auch ein grandioses Hörspiel für den WDR.

Das Verhältnis von Wirklichkeit und Fiktion zu erforschen ist eine weitere Konstante in Elke Heinemanns Werk, etwa wenn sie in ihrem „Kriminalrondo“ „Nichts ist, wie es ist“ (2015) in sechs Antikriminalgeschichten das Genre Krimi zerpflückt und es in ein poetisches Spiel verwandelt. In ihrem Web-Blog schreibt sie dazu:

„Gertrude Steins einziger Kriminalroman, Blood on the Dining-Room-Floor, hat mich zu meinen Texten inspiriert: Es gibt keine nacherzählbare Handlung, es gibt keine beschreibbaren Charaktere, es gibt keine Leiche, und alle Ermittlungen, die dem einzigen Todesfall im Roman gelten, sind sehr oberflächlich, sodass es auch keinen befriedigenden Schluss geben kann. Gertrude Stein schreibt, dass aufgeklärte Fälle über kurz oder lang vergessen werden. Daher hat sie das zentrale Element des Kriminalromans aufgewertet – das Geheimnis.“

Was geschehen ist, ist geschehen, aber alle geben vor, es wäre nichts passiert. Nichts ist, wie es ist. Jeder ist ein potenzieller Täter. Jeder ist ein Hauptverdächtiger. Den Roman kann man in konventioneller Buchform lesen, doch der Kriminal-Stoff wurde in einer Fixed-Layout-EPUB-Version auch experimentell in ein Digitales Gesamtkunstwerk umgesetzt – preisgekrönt mit dem Deutschen eBook Award 2015.

Einen Bestseller hat Elke Heinemann auch geschrieben. „KISS OFF“ ist ein Bestseller in Echtzeit, damit hat sie 2008 ein neues Literaturgenre erfunden. Die Romanheldin Elisabeth Herzig ist Journalistin, Single und um die vierzig, sie hat zu viel Fantasie und zu viel Fett. Wild entschlossen, einen Beststeller zu schreiben, führt sie über ihre Suche nach Mr. Right (der in diesem Fall Hugh Grant heißt) ein Tagebuch in Echtzeit, gespickt mit Werbeflächen für die im Roman erwähnten Artikel, einer Anleitung zum Schreiben erotischer Literatur, einem Literaturquiz und Echt-Zitaten aus der Pornowerbung.

Es gibt wohl kein Klischee durchkonfektionierter so genannter „Frauenliteratur“, das Elke Heinemann in diesem irrwitzigen Roman nicht auseinandernimmt. „KISS OFF“ ist eine selbstironische Slapstick-Komödie, ein tragisch-komischer schriller Zerrspiegel nicht nur des Weibchenbilds à la Sex and the City oder den Desperate Housewives, sondern auch der Bestseller-Manie des Literaturbetriebs und seiner Kommerzialisierung, sowie der Kommerzialisierung aller Lebensbereiche.

Wenn man jetzt vermutet, bei Elke Heinemanns Texten handele es sich um schwer verdaubare Literatur, die nur von einem elitären Publikum goutiert werden kann, ist das glücklicherweise ein Irrtum. Elke Heinemann gelingt es nämlich, mit ihren Texten Genuss herzustellen, Vergnügen zu erzeugen, ein Lachen oder Kichern über den alltäglichen Wahnsinn im Neoliberalismus. Das ist ein subversives Lachen, das sind Erkenntnisse, die sich festsetzen und die so genannten Fundamente unserer Gegenwart unterminieren und als das erkennbar machen, was sie sind: ein absurdes Theater im Dienst der stereotypisierten Gesellschaft.

Die Jury würdigt mit Elke Heinemann eine beharrlich widerständige Autorin, die ebenso virtuos wie ironisch gesellschaftliche Klischees, die Kommerzialisierung aller Lebensbereiche und menschlicher Bedürfnisse und die Glaubenssätze und vermeintlichen Gewissheiten unserer Gegenwart seziert. Gerade eine solche literarische Stimme gilt es, zu unterstützen. Elke Heinemann schreibt erklärtermaßen Literatur, die sich der Massentauglichkeit verweigert, aber ich wünschte mir, die Massen wären tauglich für eine solche Literatur.

Herzlichen Glückwunsch zum Literaturpreis Ruhr 2018, Elke Heinemann.




Große Ernüchterung, doch Freude am Chaos: Enzensberger erzählt „Anekdoten“ aus seiner Kindheit und Jugend

Ja, so glaubt man Hans Magnus Enzensberger zu kennen – nicht gerade als Mann des ehernen Wortes, sondern als allzeit wendigen Geist des Flüchtigen und Flüssigen, wenn nicht des quasi Gasförmigen. Und so leitet er auch sein neues Buch „Eine Handvoll Anekdoten“ mit zwei recht vagen Erklärungen ein, als wolle er sich lieber nicht festlegen oder gar festlegen lassen.

Bei Anekdoten, so teilt er vorab mit, handele es sich um „eigentlich etwas aus Gründen der Diskretion noch nicht schriftlich Veröffentlichtes, bisher nur mündlich Überliefertes.“ Den Untertitel „Auch opus incertum“ erläutert er so: „… lateinisch = unregelmäßiges Werk, römischer Mauerbau aus Fundsteinen.“ Ja, woran soll man sich da halten, auf was kann und soll man sich verlassen?

Im Familienalbum blättern

Auf dem hinteren Einbanddeckel liest man zudem Enzensbergers Sätze: „Ich behalte mir vor, durch Verschweigen zu lügen. Es sei denn, dass ich mir’s anders überlege.“ Da fallen einem vielleicht Bert Brechts Worte aus dem Jahrhundert-Gedicht „An die Nachgeborenen“ ein: „In mir habt ihr einen, auf den könnt ihr nicht bauen.“

Nun endlich zum Inhalt. Enzensberger nennt sich selbst abgekürzt „M.“ und erzählt (in der dritten Person, von sich selbst distanziert) zumeist knappe Episoden aus seiner Kindheit und Jugend, beginnend mit der Geburt, die sich zu Zeiten der Weltwirtschaftskrise 1929 begab. Es ist, als blättere der Autor ein Familienalbum auf. Tatsächlich stehen bei jedem Kurzkapitel markante, oft aussagekräftige Fotografien. Das Buch gibt sich ausgesprochen zugänglich und lesefreundlich.

Der Fünfjährige klaut ein Wörterbuch

Wir erfahren nach und nach etwas über Enzensbergers Großeltern und Eltern; über seinen Vater (Oberpostdirektor für Fernmeldetechnik in Nürnberg), seine drei jüngeren Brüder, eine Tante namens Theres, einen epilepsiekranken Onkel. Und so fort. Anfangs möchte man meinen, hier werde nur harmlos familiär geplaudert. Doch da kommt ein Mosaiksteinchen (oder halt ein Bruchstein) zum anderen, bis sich allmählich denn doch ein vielschichtiges Bild oder Bauwerk ergibt – wie wacklig auch immer.

Zusehends weitet sich der Blick über den Kreis der Familie hinaus, die Dinge gewinnen Kontur und Tiefenschärfe. Ein gar nicht so nebensächlicher Grundzug scheint darin zu bestehen, bestimmten Menschen im Laufe des Lebens nicht gerecht geworden zu sein und nun späte Abbitte leisten zu sollen. Wer von uns allen müsste in solcher Hinsicht nicht bußfertig sein?

Weil es längst verjährt ist, können wir ein Bubenstück-Geständnis weitergeben: Im zarten Alter von 5 Jahren hat Hans Magnus Enzensberger ein Lilliput-Wörterbuch geklaut. Schon damals Lektüre! Also kein unnützes Zeug. Eher anekdotisch heiter auch die später aufgegriffene, vom Großvater geführte Familienchronik, die zu jedem erdenklichen Fest denselben lakonisch bilanzierenden Schlusssatz enthält: „Die Kinder freuen sich.“ Hauptsache.

Suff und Kotze beim Reichsparteitag

Zunächst kaum merklich, sickert in die Schilderungen nicht nur Zeitkolorit ein, sondern es fallen grelle Schlaglichter auf zeitgeschichtliche Verhältnisse – aus der Perspektive des Kindes. Der Hausmeister trägt SA-Uniform und an „besonderen Tagen“ auch die der SS. Die in der unmittelbaren Nachbarschaft residierende Nazi-Größe Julius Streicher soll es häufig mit Huren treiben, munkelt man. Später materialisiert sich der Nürnberger Reichsparteitag aus der Nahansicht zuvörderst in den ekligen Spuren, die er auf den Straßen hinterlässt. Als Stichworte mögen Suff und Kotze genügen.

Und weiter: Im Luftschutzkeller erweist sich just so mancher vormals martialische NS-Mann als bloßer Popanz und Jammerlappen. Im weitläufigen Haus, zugleich Dienstsitz des Vaters, dessen Behörde für reibungslose Telefonverbindungen zuständig ist, macht sich auch eine NS-Abhörzentrale breit. Als ein Luftangriff Güterwaggons trifft, wird die Fracht geplündert: „Alte Frauen mit Schürzen und Kopftüchern schabten Butterreste von den Schienen.“ Ein Bild der Not, das man schwerlich wieder los wird.

Dieser grundsätzliche Widerwille

Der Junge zerbricht sich jedoch über solche Vorgänge nicht übermäßig den Kopf, er ist aber schlichtweg „enttäuscht“, auch von einer vielfach umjubelten Vorbeifahrt Adolf Hitlers im Auto. War da was? Von Widerstand kann im Kindesalter selbstverständlich keine Rede sein, wohl aber von einem grundsätzlichen Widerwillen, einer Abneigung, die ihn gegen Versuchungen etwa der Hitlerjugend immunisiert, die den desinteressierten, renitenten Jungen denn auch ‚rausgeworfen hat. Das gab es also.

Rivalisierende Kinderbanden in der Gegend erweisen sich derweil – im Nachhinein betrachtet – als Einübung in Grundformen politischen Handelns, ebenso wie die Schule nicht so sehr als Lernort fürs Lesen, Rechnen und Schreiben erscheint, sondern eher als permanentes Verhaltenstraining in diesem Sinne: „…Erproben von Machtverhältnissen, Intrigen, wechselnden Bündnissen, Kriegslisten und Kompromissen.“ Wie die alsbald reichlich verwahrloste Kriegs- und Flakhelfer-Generation mit ratlosen Lehrern umsprang, ist einige weitere Absätze wert.

Nachmittage mit Sprengstoff

Gegen das zunehmende Chaos in der Stadt hat der Jugendliche im Grunde nichts einzuwenden, nachmittags experimentiert man mit gefundenem Sprengstoff, in der Clique trägt der tollkühne Kerl den Spitznamen „Tito Spreng“. Früh war er freilich das Geballer leid und glaubt heute, dass ihm dadurch eine „Terroristenkarriere“ erspart geblieben sei.

Das Buch berichtet nicht nur von fortwährender Ernüchterung in finsteren Zeiten, es ist dementsprechend in einem (angenehm) nüchternen, unprätentiösen Tonfall geschrieben. Manche Ungeheuerlichkeit wird gleichsam nebenbei erwähnt, eben nicht großartig reflektiert, sondern einfach so hingestellt, zuweilen nahezu flapsig. Das wirkt umso stärker. Enzensberger hat es gar nicht nötig, weitschweifig zu werden. Seine im besten Sinne schlanken Texte enthalten auch und gerade auf diese Weise etwas von der Essenz jener Jahre.

Dolmetscher und Schwarzhändler

Enzensberger erinnert sich, dass die Tage nach der deutschen Kriegsniederlage eine der schönsten Zeiten seines Lebens gewesen seien. Viele hätten sie als Katastrophe empfunden. Zitat: „M. dagegen ließ die Auflösung der gewohnten Ordnung nicht nur kalt, sie begeisterte ihn. (…) Es war niemand da, der einen überwachte.“ Fürwahr eine spezielle Variante jugendlichen Freiheitsgefühls, wahrscheinlich von vielen geteilt.

In der unmittelbaren Nachkriegszeit, sozusagen in den Kaugummi- und Comic-Jahren, hat sich Enzensberger als Dolmetscher für US-Soldaten, zeitweise auch als Barmann und Schwarzhändler verdingt und beispielsweise einen schwunghaften Handel mit Kuckucksuhren aufgezogen. Nur für den Fall, dass das mal bei Trivial Pursuit oder bei Günther Jauchs Millionenquiz vorkommt…

Studentenzeit, wie sie sein soll

Spätestens mit der Währungsreform von 1948 sind allerdings die (schon ehedem dienstbaren) Bürokraten wieder da – und es wabert wieder das beinahe schon vergessene „Aroma der Alltäglichkeit“, wie Enzensberger schreibt. Es ist abermals eine Ernüchterung.

Doch welch eine Befreiung muss dann in frühen Nachkriegs-Begegnungen mit gleichaltrigen Franzosen oder Engländern gelegen haben! Eine Fotografie von damals zeigt einen sichtlich inspirierten Enzensberger in heimischer, nunmehr internationaler Tischrunde. Daran schließt sich eine Studienzeit an, wie sie sein soll und wie es sie leider gar nicht mehr gibt – mit schier grenzenlosem Trampen, Sorbonne, Bohème und allem sonstigen Zubehör. Wohl dem, der so etwas erleben durfte.

Keine Lust auf einen Bildungsroman

Das Ganze mündet schließlich in eine mutwillige Verbrennung: Schon nach zwei, drei Semestern zündet Enzensberger „peinliche“ Belegstücke aus seiner Jugend an, weil er schon damals keine Lust hat, „an der deutschen Tradition des Bildungsromans mitzuwirken.“ Ganz nüchtern heißt es am Schluss des Buches: „Sonst ist in seinen jungen Jahren nicht viel passiert.“

Nein, ein Bildungsroman ist dies wahrlich nicht, aber ein kaum weniger gehaltvolles Unterfangen, das übers rein Anekdotische weit hinaus gelangt.

Hans Magnus Enzensberger: „Eine Handvoll Anekdoten – auch Opus incertum“. Suhrkamp Verlag. 239 Seiten, 25 €.




Millionenfach geliebte Fantasiewelten: Vor 50 Jahren starb die erfolgreiche Kinderbuchautorin Enid Blyton

Ganze Generationen von Kindern wuchsen mit Enid Blytons Büchern auf. Die Cover wecken nostalgische Gefühle. Abbildung: Random House

Ganze Generationen von Kindern wuchsen mit Enid Blytons Büchern auf. Solche Cover wecken nostalgische Gefühle. (Abbildung: Ausgabe im Verlag cbj / Random House)

Eine idyllische Bucht mit Sandstrand und Klippen, ein heimeliges altes Haus, draußen im Meer eine geheimnisvolle Insel mit einer Ruine, im Land ein mysteriöses Moor: Das ist die Landschaft, in der Enid Blyton ihre „Famous Five“ Ferien-Abenteuer in England erleben lässt. Julius, Richard, Anne, Georg und der Hund Tim – so heißen die „Fünf Freunde“ in der deutschen Version – haben Generationen von Kindern beim Aufwachsen begleitet und für endlose Stunden spannender Leseerlebnisse gesorgt.

Vor gut 75 Jahren, mitten im Zweiten Weltkrieg, machten die „Famous Five“ in England erstmals Furore: „Fünf Freunde erforschen die Schatzinsel“ kam 1942 heraus. Als Enid Blyton vor 50 Jahren starb, hatte sie 21 Bände geschrieben, die zwischen 1953 und 1966 auch auf Deutsch erschienen. Bis heute ist sie nicht die beste, aber die vielleicht am innigsten geliebte Kinderbuch-Schriftstellerin weltweit. Zwischen 750 und 800 Bücher hat sie in ihrer vierzigjährigen Karriere geschrieben, dazu über 10.000 Kurzgeschichten, Gedichte und Erzählungen, aber nur ein einziges missglücktes Buch für Erwachsene.

Blyton war ungeheuer produktiv: 1951 etwa erschienen 37 Bücher; zeitweise brachte sie pro Tag rund 10.000 Wörter zu Papier. In ihrer Autobiografie begründete sie diese Massenproduktion: „Mein Wunsch, große und kleine Kinder anzusprechen zwingt mich dazu, so viele Bücher zu schreiben.“ Das sei ihr leichtgefallen, bekundete sie: Die Bilder entstanden in ihrem Kopf, dann begannen ihre Hände „über die Schreibmaschine zu fliegen“. Ihre Bücher wurden angeblich in 84 Sprachen übersetzt – mehr als die Werke Shakespeares – und begeistern Kinder von Russland bis Australien. Mit einer Gesamtauflage von mittlerweile über 500 Millionen ist sie neben Astrid Lindgren die am meisten verbreitete Kinderbuchautorin der Welt.

Kindliche Helden im verklärten alten England

Enid Blyton beschreibt ein verklärtes altes England, das sie mit den Augen ihrer kindlichen Helden sieht. Die „Fünf Freunde“ etwa sind zwischen zehn und dreizehn Jahre alt und leben in einer Ferienwelt, in der es vor allem um ihre kleine verschworene Gruppe geht. Haus, Strand, Insel, Moor, Höhlen, Wiesen und Klippen sind ihre Orte aus Kinderträumen. Die treusorgende Tante Fanny, der versponnene Onkel Quentin sind Randfiguren – so wie der eine oder andere gutmütige Fischer oder Polizist. Die Erwachsenen stören nur in dieser Welt, in der sich die Kinder frei und ungezwungen bewegen. Wenn sie als üble Gestalten einbrechen, sorgen sie als Schmuggler, Betrüger, Kidnapper oder böse Haushälterinnen für die Abenteuer, die Nacht für Nacht unter der Bettdecke gelesen werden und bei den Acht- bis Elfjährigen atemlose Spannung erzeugen.

Nebel, Meer, Insel: Enid Blyton beschrieb ein England, das als Klischee in den Köpfen lesender Kinder hängenbleibt. Foto: Werner Häußner

Nebel, Meer, Insel: Enid Blyton beschrieb ein England, das als Klischee in den Köpfen lesender Kinder hängenbleibt. (Foto: Werner Häußner)

Ob diese längst vergangene Welt, in der Telefon, Auto und Eisenbahn den Gipfel der Technik bilden, Handys, Computer und flotte Games aber unbekannt sind, heute noch Kinder anspricht, mag dahingestellt sein. Schon in den Fünfzigern wurde die Realitätsferne der Geschichten kritisiert – aber ihr bis heute anhaltender Erfolg legt nahe, dass Enid Blyton die inneren Fantasiewelten ihrer jungen Leserinnen und Leser einfühlsam getroffen hat. Auch die nostalgische Erinnerung an eigene Leseabenteuer mit Enid Blyton spricht dafür.

Coole Jungs, brave Mädchen, No Sex

Mit dem wachsenden Erfolg der Autorin formierte sich auch die Kritik: Zunächst nahm sie die einfache Sprache in den Blick, dann das starre Gut-Böse-Schema der Geschichten und die stereotype Charakterisierung der Personen. Später wurden die klischeehaften Geschlechterrollen ein Thema: ängstliche Mädchen, die Puppen und Haushalt bevorzugen, schauen zu coolen Jungs auf, die mutig Abenteuer bestehen und in der Gruppe der Gleichaltrigen „natürlich“ die Chefs sind. Auf der anderen Seite gibt es immer wieder starke, unabhängige, „männliche“ Mädchenfiguren. In der neuesten Phase der Kritik spiegelt sich die Gender-Diskussion wieder – und die Bücher werden auf ihr konservatives Gesellschaftsbild, ihren Patriotismus, Rassismus und Sexismus hin untersucht.

Modernisiertes Cover einer neueren Ausgabe der "Fünf Freunde"-Serie beim Verlag cbj. Abbildung: cbj/Random House

Modernisiertes Cover einer neueren Ausgabe der „Fünf Freunde“-Serie beim Verlag cbj. (Abbildung: cbj/Random House)

Dass den Heranwachsenden jede Spur von Sexualität fehlt, stößt heute ebenfalls sauer auf: „Keine der gefühlt permanent Dreizehnjährigen bei Enid Blyton unterhielt sich jemals mit ihren Freundinnen über ihre Tage“, beklagt sich eine Autorin, die Blytons Bücher dennoch liebt: „Sexy Experimente im Achtbett-Schlafsaal sucht man da ganz sicher vergebens.“ Aber ein Zug zum Transgender etwa an der Figur der Georgina – die viel lieber ein Junge wäre und nur auf das männliche „Georg“ hört – ist nicht in Abrede zu stellen.

Tatsächlich soll Enid Blyton selbst eine lesbische Affäre gehabt haben. In der burschikosen „Georg“ in den „Fünf Freunden“ soll sich die Schriftstellerin selbst porträtiert haben. Die Autorin muss überhaupt eine widersprüchliche Person gewesen sein: Ihre jüngere Tochter Imogen berichtete, dass die mütterlich-liebevollen Autorin im Privatleben kaltherzig und herrschsüchtig gewesen sei – was die ältere Tochter Gillian vehement abgestritten hat.

Erfolg nach 500 abgelehnten Manuskripten

Die 1897 in East Dulwich/South London geborene und in Beckenham/Kent (heute an der Grenze zu Greater London) aufgewachsene Schriftstellerin verarbeitet zahlreiche Details aus ihrem eigenen Leben in ihren Geschichten – von der vom Vater vermittelten Faszination für die Natur über das Internatsleben („St. Clair“ in den sechs Bänden der Serie „Hanni und Nanni“) und ihre Haustiere bis hin zu ihren Häusern „Old Thatch“ und „Green Hedges“. Selbst Personen wie eine Lehrerin oder eine zufällige Reisebekanntschaft tauchen in den Romanen wieder auf.

Blytons eigene Kindheit verlief alles andere als unbeschwert: Die Mutter betrachtete die frühe Schreiblust ihrer Tochter, die schon mit zehn Jahren erste Geschichten verfasste, als Zeitverschwendung. Der Verlust des verständnisvollen Vaters war für die 13-jährige Enid ein Trauma: Thomas Carey Blyton verließ die Familie wegen einer anderen Frau – und über diese „Schande“ durfte nicht gesprochen werden. Ihren von den Eltern gewünschten Weg zur Pianistin brach sie 1916 ebenso wie den Kontakt zur Mutter ab. Selbstbewusst wählte die junge Frau eine Ausbildung als Kindergärtnerin und Vorschullehrerin und unterrichtete bis zur ihrer Heirat 1924 in einer kleinen Schule und als Privatlehrerin.

Ab 1922 publizierte Blyton in der Lehrerzeitschrift „Teacher’s World“. Die Zeitschrift räumte ihr ab 1929 die wöchentliche Seite „Enid Blyton’s Children’s Corner“ ein, die sie bis in den Sommer 1945 gestaltete. Nach über 500 abgelehnten Manuskripten erzielte sie im Sommer 1922 mit der Gedichtsammlung „Child Whispers“ einen ersten Bucherfolg, der ihr ein Jahr später die Veröffentlichung von „Real Fairies“ ermöglichte. Ab 1926 brachte sie im Zwei-Wochen-Rhythmus mit „Sunny Stories for Little Folks“ eine eigene Kinderzeitschrift heraus.

1963 kam ihr letztes Buch heraus

Ab 1942 erschienen die Buchserien, die sie weltweit – und ab 1950 auch in Deutschland – bekannt gemacht haben: Neben den „Fünf Freunden“ („Famous Five“) entwickelte sie die Serie der „Geheimnis“-Bücher mit dem verschrobenen Wachtmeister Grimm und die „Rätsel“-Reihe („Mystery of …“), die „Schwarze Sieben“ („The secret Seven“) und „Hanni und Nanni“ („The Twins …“). In England sind die Titel um den kleinen Holzjungen „Noddy“ überaus beliebt, seit 1949 „Noddy goes to Toyland“ erschien; „Noddy and the Aeroplane“ war 1963 das letzte Buch Enid Blytons, bevor sie einen beginnende Alzheimer-Erkrankung zwang, ihre geliebte Tätigkeit aufzugeben.

Ein Schock war der Tod ihres zweiten Mannes, des Chirurgen Kenneth Darell Waters, der in den letzten Jahren ihre Geschäfte geführt hatte. Am 28. November 1968 starb Enid Blyton an den Folgen eines Herzinfarkts in einem Pflegeheim in Hampstead.




Beklemmendes Nachdenken: Concerto Köln und Joachim Król zum Ende des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren

Flotte Märsche klingen durch das Foyer der Philharmonie Essen. Das Concerto Köln intoniert Joseph Haydns „March for the Prince of Wales“, danach zwei Märsche für das Derbyshire Cavalry Regiment und einen „Ungarischen Nationalmarsch“. Fröhliches Dur, die Zuhörer wippen im Takt mit. Man hat viel getan, um den Menschen im 18. Jahrhundert den Krieg schmackhaft zu machen, damals, als in manchen deutschen Territorien junge Männer verkauft wurden, um für andere Potentaten ins Scharmützel zu ziehen.

Joachim Król las in der Philharmonie Essen. Foto: Emanuela Danielewicz

Joachim Król las in der Philharmonie Essen. Foto: Emanuela Danielewicz

Übermütig ging’s auch anno 1914 zu, als die Männer Europas in den Krieg zogen. Sie hielten den Krieg für ein Abenteuer. Den Gesichtern auf den über das Podium projizierten seltenen Farbfotos aus der Sammlung Reinhard Schultz ist es abzulesen. Die schneidigen Burschen in buntem, blinkendem Waffenrock lockten die jungen Frauen. Jaja, der „Zauber der Montur“.

Nichts von all der Kriegsfolklore war wahr. Schon vor 500 Jahren nicht. Auf der Bühne des Großen Saales las Joachim Król, was Erasmus von Rotterdam zum Krieg geschrieben hatte. „Wer ihn erfahren hat, schaudert allein bei der Vorstellung über die Maßen“. Dazu wird das Luftbild Essens in herbstlicher Sonne überblendet vom Blick auf die Ruinenlandschaft 1945. „Über Wunden“ hieß dieses Gedenkkonzert zum Ende des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren. Hier waren zunächst nur die Wunden im Stadbild zu erkennen. Dachlose Häuser, hohl wie verfaulte Zähne, klaffende Löcher in Straßenzügen.

Die 90 Minuten Programm – eine Mischung aus Lesung und Konzert – hatten Ilka Seifert und Folkert Uhde zusammengestellt. Die Betroffenheit sollte ein Gesicht bekommen: Verarbeitet wurden nicht nur literarische Texte wie aus dem bekannten Anti-Kriegs-Roman „Im Westen nichts Neues“ von Erich Maria Remarque, sondern vor allem Erinnerungen, die in den Familien der Musikerinnen und Musiker des Concerto Köln weitergegeben wurden. Aus aller Herren Ländern kommen sie, und kaum jemand war nicht vom Schlachten und Morden der beiden Weltkriege betroffen. Manches haben wir Europäer gar nicht im Blick: Etwa die Gräuel im japanisch-chinesischen Krieg, die Vorfahren einer japanischen Musikerin erlitten.

Bombenwetter, Schusslinie und Marschrichtung

Dass es den lustigen Operettenkrieg der Propaganda nie gegeben hat, brachte Król seinen betroffen stillen Zuhörern mit diesen Texten aus Familien-Erinnerungen nahe. Es schnürt die Kehle zu, wenn die Großmutter einer Geigerin einen Brief mit wundervoll liebenden Worten an ihren Mann im Felde richtet. Er hat ihn nie gelesen, denn er war zu diesem Zeitpunkt bereits tot. Das Schreiben kam zurück – ohne Vorwarnung. Mit dem zynisch beschönigenden Vermerk „gefallen für Großdeutschland“.

Bis heute sind die Spuren des „Jahrhunderts der Grausamkeiten“ präsent, zum Beispiel in der Sprache: Wer weiß schon, was er sagt, wenn er von einem „Bombenwetter“ spricht? Nehmen wir einen Politiker „aus der Schusslinie“ oder geben wir die „Marschrichtung“ vor? Wir sind groß geworden mit solchen Begriffen, deren wahre Bedeutung nicht mehr bewusst ist.

Der Abend am Volkstrauertag war eher eine Zeit beklemmenden Nachdenkens als ein Konzert. Die Musik mit dem wie stets untadelig aufspielenden Concerto Köln war ernst und gesammelt: Eine Fantasie Henry Purcells über John Taverners damals beliebtes „In nomine“-Thema, ein kaum bekannter düsterer Triumphmarsch Beethovens zum noch unbekannteren Schauspiel „Tarpeja“, dazu die Stimme Kaiser Wilhelms II. mit der verlogenen Ankündigung des Waffengangs 1914.

Ein tragischer Zug klingt in der Ouvertüre zu Mozarts „La Clemenza di Tito“, und die wundervolle Perfektion der „Jupiter“-Sinfonie KV 551 klingt zu einem solchen Anlass geradezu schmerzend schön. Ob das alles reicht, immer wieder vor dem Verderben des Krieges zu warnen? Man muss es hoffen, auch wenn die lebenden Generationen das Inferno nur aus Games, Hollywood-Filmen und Schwarzweiß-Dokus kennen. Ob wir kapieren, welch unverschämtes Glück wir mit 73 Jahren Frieden haben?




Erich Fried: Schriftsteller, Philanthrop, Vor-Denker und Zu-Viel-Schreiber – ein Versuch, Widersprüche zu verstehen

Lachte gerne: Erich Fried. Foto-Copyright: Jörg Briese

Lachte gerne: Erich Fried.
(Foto: © Jörg Briese)

Vor dreißig Jahren, am 22. November 1988, starb der große Schriftsteller Erich Fried in Baden-Baden. Im Sommer zuvor war er auch Gast einer Lesereise quer durchs Ruhrgebiet und schlug privat sein Quartier bei Gerd Herholz auf, dem Autor dieses Beitrags:

Kult und Legendenbildung um Erich Fried dauern ebenso an wie die rigorose Abwertung seines Werks. Höchste Zeit, sich Texte und Leben Frieds wieder einmal genauer anzuschauen.

Wer war Erich Fried?

1921 wird Fried in Wien als einziges Kind der Graphikerin Nellie Fried und des Spediteurs Hugo Fried geboren. Als kleiner Junge spielt er als Mitglied einer Kinderschauspielgruppe auf Bühnen Wiens und der Umgebung. Fried besucht ein Gymnasium im neunten Bezirk, bis dieses im Mai 1938 aufgelöst wird und man die jüdischen Schüler separiert. Im selben Monat stirbt Hugo Fried nach der Haftentlassung an den Folgen eines Gestapo-Verhörs.

Drei Monate später flieht Erich Fried nach London. Seiner Mutter Nellie gelingt es 1939, nach London zu kommen. Am 26. März 1943 stirbt die Großmutter Malvine Stein im Konzentrationslager Auschwitz.

Erich Fried arbeitet in London als Hilfsarbeiter, Bibliothekar, Redakteur. Ab 1950 ist er freier Mitarbeiter/Rundfunk-Kommentator des „German Service“ des BBC World Service. In den letzten Kriegsjahren erschienen seine ersten Gedichtbände unter den Titeln „Deutschland“ und „Österreich“. Seit 1958 publizierte er zahlreiche Bände mit Gedichten und Erzählungen, einen Roman, ein Opernlibretto, Hörspiele und Übersetzungen, vor allem von Shakespeare, Dylan Thomas und T.S. Eliot.

Sein politisches Engagement (u.a. gegen den Vietnam-Krieg, gegen Aspekte der Politik Israels und die Formen der Terrorismus-Bekämpfung in der Bundesrepublik) hat viele politische Kontroversen ausgelöst.

Erich Fried war Mitglied des PEN-Zentrums der Bundesrepublik Deutschland. Nach langem Krebsleiden starb er während einer Lesereise am 22. November 1988 in einem Baden-Badener Krankenhaus.

So. Das also war Erich Fried?

Seine 2015 verstorbene Frau Catherine Boswell Fried nannte ihn zärtlich einen „Weisen und Narren in einem“ und schrieb weiter, er sei „unterhaltsam, erhellend oder peinlich“ gewesen „und häufig auch alles zugleich oder in rascher Folge.“
(Catherine Fried: „Über kurz oder lang. Erinnerungen an Erich Fried“, Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2008)

Lebenshunger – Erich Fried an Herholz‘ Küchentisch.
(Foto: © Jörg Briese)

Aber hören wir doch auch einmal in ein Stimmengewirr, eine Pro-und-Contra-Montage von Äußerungen einiger Kritiker und Kollegen Frieds, hören wir, was Walter Hinck, Helmut Heißenbüttel, Matthias Schreiber oder Henryk M. Broder und viele andere über ihn gesagt haben, hören wir Fried-Hasser und seine Bewunderer.

Erich Fried war …
– … ein Stören-Fried!
– … nein, ein wirklicher Dichter. Und das wollte er auch werden. Mit 17 Jahren erklärte er 1938 in London vor dem Jüdischen Flüchtlingskomitee: „Meine Absicht ist, ein deutscher Dichter zu werden.“
– Dieser Emigrant? Ein deutscher Dichter? Dieser Österreicher mit britischem Pass?
– Dieser Sinn-Stifter!
– Dieser Unruhe-Stifter!
– Nein, ein großer alter Mann der Lyrik, ein Mahner…
– … ein „dichtender Verschwörungsneurotiker“.
– Nein, nein. Ein Tabubrecher, ein „Genie im Auffinden öffentlicher Fettnäpfchen“.
– Ach was, ein Nestbeschmutzer, „immer dieselbe Mischung aus ergreifender Naivität, entwaffnender Weltfremdheit und pueriler Selbstgefälligkeit“.
– Als Jude, mit dieser Biographie?
– … als Heimatloser, als Antizionist, als jüdischer Selbsthasser zwischen allen Stühlen eben.
– Hasser? Dieser Menschenfreund? Ein Moralist im besten Sinne!
– Ein Querulant! Ein Demagoge!
– Ein „genialer Lyrikerneuerer“, ein „Sprachakrobat“ …
– … ein Vielschreiber, ein „flotter Platitüdensammler“, Erich Fried, der „rasende Verworter“!
– Ein couragierter Menschenrechtler, der …
– … vor allem eins lieferte: „Trauerarbeit vom lyrischen Fließband“, eben nur ein „Schreihals vom Dienst“.
– … Quatsch, ein „ironischer Dialektiker“, „ein virtuoses Schreibtalent, ein sprachbesessener Wortspieler“ ….
– O Gott. Dieser lyrische Weichzeichner, dieser zum Kitsch, zum Pathos neigende, immer sturzbetroffene „Wanderrabbi“?

Reich-Ranicki und der „revolutionäre Überwachungsdienst“

Jaja. Und in Israel ist Fried nach dem Erscheinen seines Romans „Ein Soldat und ein Mädchen“ für einen der Rezensenten gar ein „schlecht getarnter Nazi“. Die FAZ bezeichnet Fried im Oktober 1977 nach der Veröffentlichung des Gedichtes „Auf den Tod des Generalbundesanwalts Siegfried Buback“ als einen Verfasser von „Mörderpoesie“. Und in seinem Nachruf auf Fried, den er mit „Mein Freund Erich Fried“ begann, erklärte Marcel Reich-Ranicki, Erich Fried „verkörperte den permanenten Protest“, er sei so etwas gewesen wie ein „revolutionärer Überwachungsdienst“.

„Revolutionärer Überwachungsdienst“? Das hieße doch, zu Ende gedacht, Fried wäre eine Art Ein-Mann-Über-Ich der Linken mit umfassenden Stasi-Kompetenzen gewesen? Da soll ausgerechnet dem Dichter, der nie eine andere Macht als die des Wortes zur Verfügung hatte, genau der Machtmissbrauch unterstellt werden, den M.R.-R. aus der FAZ heraus gelegentlich selbst betrieb?

Am deutlichsten wurde am 3. November 1977 die CDU in der Bremer Bürgerschaft. Sie stellte einen Missbilligungsantrag gegen Fried-Gedichte im Schulunterricht. Anlass war in erster Linie das Gedicht „Die Anfrage“. Der Vorsitzende der CDU-Fraktion Bernd Neumann erklärte „(…) so etwas würde ich lieber verbrannt sehen (…)“.

Und wissen Sie noch, welches Amt Bernd Neumann später bekleidete? Genau. Er war Staatsminister bei der Bundeskanzlerin und Beauftragter der Bundesregierung für Kultur und Medien.

Immer lesend, immer schreibend: Erich Fried.
(Foto: © Jörg Briese)

Schreibzwang und Dialektik

Anders als solche Schmähungen ist aber weder Legende noch übler Nachruf: Erich Fried hat in der Tat Abertausende von Gedichten geschrieben. Darunter viele schlechte. Zu viele davon hat er leider auch veröffentlicht.

Erich Frieds dritte Frau, Catherine Boswell Fried, schreibt in ihren „Erinnerungen“ (a.a.O., S. 75):
„Erich war ungeheuer produktiv; er schrieb Gedichte in hohem Tempo. Aber wer weiß, wahrscheinlich war er mit vielen schon ein halbes Leben unterwegs gewesen. Ich kam morgens nach unten und fragte mich, wo er wohl war, weil er mir gewöhnlich gern eine Tasse Tee heraufbrachte, und dann saß er am Tisch, grinste fröhlich und erzählte mir von sechzehn Gedichten, die er schon geschrieben habe, auch wenn er später vielleicht einräumte, dass nicht alle besonders gut seien.“

Fried bewertete die Texte aus den Bänden „Deutschland“ und „Österreich“ später selbstironisch mit den Worten: „… im Grunde Jugendgedichte von recht konventioneller Form, wenn auch inhaltlich für mich noch heute nicht ganz veraltet. (…) einige bedienen sich auch noch des Volksliedtones – oder fallen ihm zum Opfer.“

Sicher, oft gelang es Fried nicht, bei seiner enorm hohen Produktivität, die souveräne Haltung des aufgeklärten Aufklärers in seinen Texten glaubhaft durchzuhalten und ihr sprachlich Ausdruck zu verleihen. Selbstverständlich geriet er in seinem missionarischen Eifer oft in die Gefahr, pathetisch zu werden, besserwisserisch zu belehren, platte Appelle statt Gedichte zu produzieren, Leitartikel nur pseudo-literarisch zu illustrieren. Sein „Ausdruckszwang“ (wie Hans Mayer das nannte) führte eben immer auch zu Gedichten zweiter und dritter Wahl, viel zu oft schlichtweg zu Poesie-Placebos und Laber-Lyrik.

Vielleicht ein Versteckenspielen vor den eigenen traumatischen Kindheits- und Jugenderfahrungen, ein Versteckenspielen vor den Möglichkeiten und Abgründen der Sprache, Versteckenspielen vor der Komplexität der Wirklichkeit. Und nicht nur der junge Fried schrieb Unfertiges, Epigonales, Plattes. Immer wieder führten Frieds Schreibwut und sein Mitteilungsdrang tatsächlich nur in die belanglose Spielerei, ins Politgeplapper, in die Langeweile.

Andererseits:
Franz Fühmann schrieb einmal den Satz: „Das fast völlige Verschwinden der politischen Lyrik ist ein Phänomen, das beunruhigen sollte.“ Angesichts des Kasinokapitalismus, des Syrienkrieges, angesichts des alltäglich gewordenen Nationalismus und Rassismus fehlt heute eine komplexe politische Lyrik, wie sie die besten Gedichte Frieds lieferten. Die nämlich erhellten verdeckte Zusammenhänge, entlarvten mit Hilfe der Montage von Medienmeldungen deren Desinfomationsstrategien und Lügengebäude. Nie gab sich der Dichter Erich Fried zufrieden mit der Rolle des pseudo-neutralen Chronisten, schon gar nicht mit der des bloß betroffen zeilenschindenden Dichter-Darstellers.

Die grundsätzlicheren und von Erich Fried immer wieder selbst reflektierten Fragen sein Schreiben betreffend müssten also eher so lauten: Wie radikal verhält sich der Autor zu seiner eigenen Moral, seiner Betroffenheit? Inwieweit gelingt es Fried, Betroffenheit sprachlich so zu übersetzen, dass er Larmoyanz und öffentliche Heuchelei vermeiden kann?

Erich Fried 1988 als Gast des Literaturbüros Ruhr im Mülheimer Theater an der Ruhr. (Foto: © Jörg Briese)

Stilmittel gegen Stillstand

Die Gegner des Dichters Erich Fried kleideten ihre politischen Angriffe oft in fadenscheinige literaturkritische Gewänder und hätten gerne erreicht, dass man Frieds Werk mit seinen schlechtesten Texten verwechseln und also besser nicht zur Kenntnis nehmen sollte. Der Dichter Erich Fried hat Abertausende von Gedichten geschrieben, darunter auch viele sehr gute, jedenfalls mehr als die von Gottfried Benn bei jedem Dichter allein für möglich gehaltenen fünf oder sechs.

Indem man Erich Fried als Dichter zu demontieren versuchte, wollte man auch seine politischen Einmischungen als Torheiten enttarnen. Angriffe auf Frieds ästhetisches Programm oder gar die Unterstellung, Fried sei zu wahrhaft ästhetischer Gestaltung gar nicht in der Lage, zielten oft nur auf die von ihm vorgetragenen Inhalte.

Entgegen solcher Diffamierung aber war es so – und man kann dies an Frieds Texten auch jederzeit nachvollziehen –, dass er ein großes Repertoire an Kunstmitteln entwickelte. Zudem erweiterten Frieds Lektüre- und Übersetzer-Erfahrungen schon in jungen Jahren seine Palette literarischer Gestaltungsmittel.

Das ernsthafte Wortspiel

In Interviews, Briefen, Vor- und Nachworten ging Fried immer wieder auf das Stilmittel des ernsthaften Wortspiels ein, verteidigte es gegen seine Kritiker und erklärte seine Möglichkeiten. Das ernsthafte Wortspiel, so Fried, sei ein „Kunstmittel der Aussage durch Montage von Wortklangassoziationen“, es sei ein Stück „Spracherotik“ und stoße deshalb – wie alle wirkliche Erotik – auf einiges Unverständnis in Deutschland.

Man könnte über Fried hinaus auch argumentieren, dass das ernsthafte Wortspiel vor allem alle Möglichkeiten der „écriture automatique“ eröffnete, des automatischen Schreibens also, des zunächst unzensierten sprachlichen Assoziierens, des Springens zu ähnlichen Wortklängen und ihren unterschiedlichen Bedeutungen, des Beim-Wort-Nehmens und des In-die-Sprache-Fallens. Nicht nur, aber auch durch das ernsthafte Wortspielen gelang es Fried in seinen Texten immer wieder, das Politische mit dem Unbewussten, das Private mit dem Öffentlichen, die Sprache mit der Geschichte zu verschränken.

Mit dem ernsthaften Wortspiel tritt am deutlichsten der „Fried-Gestus“ (Alexander Bormann) hervor: „Frieds Sprachspiele lösen alte Zuschreibungen auf, erproben neue Lesarten, zeigen, wie die Alltagssprache Wirklichkeit feststellen möchte.“

Erich Frieds Gedichte setzten zudem immer genaue Lektüre, seine Recherchen, sein Informiertsein en détail voraus, bevor sie Zusammenhänge erhellen konnten und zum Mitdenken gegen die „Verschwörung des Ver-/Schweigens“ einluden. Alexander von Bormann schrieb: „Was in Kritiken immer wieder auffällt: dass Erich Frieds poetische Leistung (…) gar nicht wahrgenommen wird. Sie besteht in einer Brecht weiterführenden Wiederversöhnung von Poesie und Rhetorik, die in der deutschen Poetik seit der Klassik als unvereinbar galten.“

Und in der Tat, neben dem „ernsthaften Wortspiel“ arbeitete Fried mit allen möglichen rhetorischen Figuren (behauptete aber oft, dass er dies nie bewusst getan habe). Etwa mit der Frage als vorherrschender Redefigur, mit Figuren der Wiederholung, der Häufung, der Überkreuzstellung, der Paradoxie usw. Mit Hilfe dieser rhetorischen Figuren entwickelt Fried seine Aphorismen, Sentenzen und Sprüche, seine Grotesken, seine Warn- und Gegengedichte, aber manchmal eben auch seinen hohen oder hohlen Ton, sein Pathos.

(Foto: © Jörg Briese)

Politik und Gedicht

Wer Fried liest, das haben Sie zu Anfang dieses Beitrags zu lesen bekommen, befindet sich – ob er will oder nicht – im Schilderwald der deutschen Literaturkritik, und das ist immer auch der Wald von Schilda. Auf den Schildern in diesem Schilda-Wald stehen unzählige Ge- und Verbote, die das Schreiben und Lesen verregeln, also verriegeln sollen:

Du sollst nicht komisch sein. Komik und Literatur vertragen sich nicht./ Du sollst nicht realistisch schreiben. Realismus ist überholt. In einer korrumpierten Sprache lässt sich Wirklichkeit nicht mehr erfassen./ Du sollst nicht formalistisch sein./ Du sollst nicht experimentell sein./ Du sollst nicht moralisch sein./ Du sollst nicht politisch sein. Wer in der Literatur politisch wird, bringt sich um seine ästhetischen Möglichkeiten./ Du sollst mit Literatur nicht eingreifen wollen./ Du sollst nicht obszön werden. Du sollst, du sollst, du sollst …

Dazu einige Passagen aus einem Interview, das ich im Juni 1988 mit Erich Fried führte:

Du unterscheidest bei deinen politischen Gedichten zwischen Agitationstexten für den Tag, Gedichten als Informationsträgern und solchen, in denen es um Haltungen geht.

Fried: Das erste sind Kampftexte, die haben eigentlich nur Sinn, wo es Situationen gibt, in denen diese Texte auch wirklich von bewegten Massen aufgenommen werden können. (…) Informationsträger sind Gedichte oft dann, wenn sie statt Agitation, die immer auch Forderungen stellt, mehr aufklären, Informationen geben möchte, die sonst nicht zu haben sind.

Ein Beispiel?

Fried: In einem meiner Gedichte sage ich etwas über die israelische Einheit 101. Das sind Leute, die über die Grenze nach Jordanien gefahren sind und einfache Menschen erschossen haben, die ihnen vor das Auto kamen. Auch Frauen und Kinder. Das muss die Öffentlichkeit erfahren. Ich kann diese Aussagen natürlich belegen.
Bei der letzten Art von politischen Gedichten geht es oft um Haltungen, Verhaltensmuster, die ich kritisiere oder solche, die ich mir wünsche. In den Liebesgedichten, z. B. in dem „Dich dich sein lassen“, versuche ich, überholten Haltungen wie dem Besitzdenken im Hinblick auf die Partnerin zu begegnen. Von da aus sind die Übergänge fließend zu den nichtpolitischen Gedichten. Jedes Gedicht ein politisches Gedicht zu nennen, das sprengt den Begriff des Politischen Gedichts.“

Peter Rühmkorf meinte vor allem Frieds Gedichte aus „und vietnam und“, als er von ihnen als „Dechiffriergeräte(n)“ sprach und bewunderte an ihnen „die schritt- und zeilenweise vorangetriebene Aufklärung bis hin zum erlösenden Aha-Erlebnis“. „Der vom Gedicht beabsichtigte Aufklärungsvorgang“, so Rühmkorf, lasse „wohltuend entqualmte Köpfe zurück“.

Frieds Verse ermöglichen nicht nur „das plötzliche Erfassen der Zusammenhänge“, wenn man ihnen folgt, nein, indem sie Denken vormachen, ermöglichen sie es auch dem Leser. In vielen seiner Gedichte ist Fried eben nicht der Besserwisser, Prediger oder belehrende Mahner, sondern ein verletzlicher Vor-Denker, der sein Denken, aber auch seine Gefühle so weit offenlegt, dass man sich als Leser selbst öffnet, dass man der Einladung folgt, dem Vor-Denker nach zu denken, im Nachdenken auch dem Vorgedachten zu widersprechen.

Und, indem sich Fried auch selbst in Frage stellt, stellt er zugleich uns Fragen.

In seinem Gedicht „Realistischer Realismus“ schreibt er ironisch: „Die ewigen/ Wahrheiten/ meiner Gedichte/ langweilen mich// Wann/ kommen endlich/ ihre Irrtümer/Träume/ und Lügen//“

Salman Rushdie hat einmal gesagt, dass für ihn der Zweifel die Grundhaltung der Moderne sei. Insofern war Fried ein sehr moderner Autor. Für Fried schloss der Zweifel immer auch den Selbstzweifel mit ein. Am deutlichsten wird dies in Erich Frieds Gegengedichten. Im Vorwort zu „Befreiung von der Flucht. Gedichte und Gegengedichte“ schreibt Fried: „Der Gedanke, Gegengedichte zu meinen eigenen Versen zu schreiben, kam mir, als mein vergriffener (…) Band Gedichte neu aufgelegt werden sollte. Beim Wiederlesen wurde mir klar, wie sehr ich mich seither geändert habe, aber auch, dass ich nicht nur deshalb und nicht nur aus ästhetischen Gründen anders schreibe, sondern mehr noch weil die Zeit, die sich auch in den Gedichten spiegelt, nicht mehr dieselbe ist.“
(Erich Fried: Gesammelte Werke, Band 1, S. 521)

Erich Fried 1988 – wenige Monate vor seinem Tod.
(Foto: © Jörg Briese)

„Ein Dichter muss lernen, seine Einfälle jederzeit zu respektieren.“

Vor allem Frieds politische Gedichte wurden oft als verkopfter Agitprop abgewertet, einmal sogar als „Gedachte“ statt als Gedichte bezeichnet. An der offensichtlichen Tatsache, dass er kein Dichter der heftigen Bilder war, litt auch Fried selbst ein wenig.

Dazu noch einmal ein kleiner Auszug aus meinem Interview mit Erich Fried (Interview-Auszug DVZ/die tat, Nr. 48, 2. Dez. 1988):

Möchtest du noch auf andere Weise schreiben können?

Fried: Nein. Das, was mir in den Kopf kommt und was mir am Herzen liegt, will ich ordentlich formulieren können. Dafür mach’ ich mir nicht zu viele Regeln. Wenn ich jetzt hergehen würde und darüber nachdächte: Wie will ich jetzt schreiben und nach welchen Regeln?, das wäre das Ende. Es ist wichtig, dass man sich nicht verbaut. Es ist auch wichtig, dass man seine Einfälle respektiert. Wenn man zu Einfällen ein ausbeuterisches oder gleichgültiges Verhältnis hat, dann trocknet die Phantasie mit der Zeit aus. Ein Dichter muss lernen, seine Einfälle jederzeit zu respektieren.

Du bist kein Dichter der heftigen Bilder.

Fried: Bilder habe ich überhaupt nicht viele. Wenn ich Liebeslyrik schreibe, gelingen mir Bilder noch am leichtesten. Im Allgemeinen: viel Gedankenlyrik im Verhältnis zur Bilderlyrik. Bei mir ist es so, dass der Bilderreichtum abnahm, je genauer ich formulieren lernte. Und das scheint mir keine rein erfreuliche Sache. Ich hab deshalb immer Anlässe gesucht, bilderreich zu sein. (…) Ich – als Erich Fried – wenn ich nicht Celan oder Hölderlin nachempfinde, dann fällt es mir schwer bilderreich zu sein. Weil ich doch versuche – letzten Endes – die Welt mit Hilfe der Ratio – trotz meiner Sinnlichkeit – zu bewältigen, mich der Welt zu erwehren, überhaupt leben zu bleiben. ‚Bewältigen‘: Darin liegt schon eine ungeheure Hybris.“

Liebes- und Leibesgedichte

Sich lebend zu spüren, hieß für Fried auch, sich liebend zu spüren. In den Liebesgedichten aber artikulierte sich nicht etwa ein ganz anderer Erich Fried. Obwohl er in den Liebesgedichten seiner Wort-Lust und Sinnenfreude freien Lauf lassen konnte, sind auch sie von der gleichen Haltung durchdrungen wie die politischen Gedichte: von der Skepsis gegenüber allen Illusionen und Fremdbestimmungsversuchen, und von der Hoffnung auf Menschlichkeit.

Und auch zu seinen Liebesgedichten behielt Fried ironische Distanz. Ich zitiere noch einmal aus Catherine Frieds Erinnerungen an Erich Fried (a.a.O., S. 56):
„Seine Gedichte standen auf Transparenten, auf Plakaten, an Brücken. Einmal sahen wir sein ungeheuer populäres Gedicht ‚Es ist was es ist‘, Vers um Vers sorgfältig abgeschrieben, auf der Mauer einer Unterführung. ‚Manchmal wünschte ich, ich hätte das Ding nie geschrieben‘, seufzte Erich.“

Sie aber seufzen bitte nicht, sondern lesen sie wieder, die Gedichte Erich Frieds, dieses Autors zwischen Dilettantismus und Dichterhimmel, zwischen argumentativer Schärfe und Geschwätz, zwischen Pathos und Poesie, Bild und Begriff, zwischen Dialog und Dialektik, Moral und Moralin, Mut und Melancholie.

In Blochs „Tübinger Einleitung in die Philosophie“ fand ich die Worte, von denen ich finde, dass sich mit ihnen Leben und Werk Erich Frieds am treffendsten charakterisieren lassen: „Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst. (…) der Mensch ist immer ein Lernender, die Welt ist ein Versuch.“

– Erich Fried: Gesammelte Werke. Band 1-4. Verlag Klaus Wagenbach. Berlin 1993
– Erich Fried: Ein Leben in Bildern und Geschichten. Herausgegeben von Catherine Fried-Boswell und Volker Kaukoreit. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 1996
– Catherine Fried: Über kurz oder lang. Erinnerungen an Erich Fried. Verlag Klaus Wagenbach. Berlin 2008




Literatur als Instanz ausgleichender Gerechtigkeit – Ulrike Anna Bleiers Roman „Bushaltestelle“

„Bushaltestelle“ – der schlichte Titel entspricht dem schicksalergebenen Wesen der Hauptpersonen dieses Romans. Doch darf von der Beiläufigkeit, mit der die Ereignisse daherkommen, keineswegs auf seichte Unterhaltung geschlossen werden. Ulrike Anna Bleier unterschätzt ihre Leserinnen und Leser nicht.

Das aufregende Leseerlebnis verdanken wir weitgehend der Kunst der Autorin, die notwendigen Informationen geschickt zu dosieren. Es ist bei aller Unaufdringlichkeit im Erzählton eine Menge Ungeheuerliches, was den Romanfiguren widerfährt.

Geografisch springt die Handlung zwischen einer kleinen Stadt in Bayern, unweit der tschechischen Grenze, und dem lange Zeit hinterm „Eisernen Vorhang“ verborgenen Nachbarland, das in seiner Geschichte einmal Tschechoslowakei hieß und leider auch einmal von deutscher Seite Protektorat Böhmen und Mähren genannt wurde.

Komplexes Beziehungsgeflecht

In kurzen Kapiteln mit jeweils eigenen Überschriften wird ein zeitlicher Bogen über vier Generationen gespannt; Tochter, Mutter, der Bruder der Tochter mit Frau und Kindern, die Geschwister der Mutter, zusätzlich eine Adoptivtochter der Großeltern, die Partner und Partnerinnen der Hauptpersonen sowie einige Nachbarn bilden ein komplexes Beziehungsgeflecht.

Im Mittelpunkt steht Elke, die eigentlich – in ihrer Familie und was ihre gesellschaftliche Stellung betrifft – so überhaupt nie im Mittelpunkt gestanden hat. Grammatisch in der 2. Person, der Du-Form, erzählt sie die Geschichte von Theresa, der abwesenden Mutter. Geht es jedoch um Elkes eigene Geschichte, wechselt die Erzählperspektive in die 3. Person. Womöglich ist Elkes Selbstbewusstsein zu wenig ausgeprägt, um aus einer Ich-Perspektive von sich erzählen zu können. Da ist kein starkes Ich vorhanden. Wie sollte es sich auch entwickelt haben bei ihr, die seit ihrer Geburt von der Mutter abgelehnt wurde.

Traumatische Geburt

Es war eine traumatische Geburt; Theresa hat viel Blut verloren und wurde ohne Narkose mit zwanzig Stichen „zugenäht“. „Die Jahre danach waren die schlimmsten, kaum konntest du die Geräusche des Kindes ertragen, sein Schmatzen nicht, sein Brabbeln nicht, sein Gurgeln nicht, selbst sein Atmen nicht, geschweige denn das Weinen und Schreien. Du hast dem Kind deshalb schnell abgewöhnt, Geräusche zu machen, Töne von sich zu geben (…).“

Ungeliebter Ehemann

Zu Theresas Entsetzen hat Elke die roten Haare ihres Vaters, Sepp. Ihn hat Theresa nur geheiratet, weil die sich anbietenden Alternativen noch schlimmer gewesen wären; es war eine Dann-schon-lieber-den-Sepp-Heirat. Bevor Theresa ihrer Mutter das Kind zeigt, setzt sie ihm eine Mütze auf.

Im Grunde hat Theresa immer ihren Bruder Martin geliebt. Theresas Schulabschluss wollen Martin und sein Freund Sepp mit einem Ausflug in ihrem Hanomag feiern. Theresa willigt ein, wegen ihres Bruders Martin, nicht wegen Sepp. Der (…) „ist neben dir gesessen, rechts von dir, Bein an Bein, und hat den Arm auf deine Rückenlehne gelegt, sodass er mit seiner Hand so nah an deinem Haar war, dass du sie zu spüren geglaubt hast, und du hast Angst bekommen, dass sich deine Haare bewegen und zum Feind überlaufen könnten.“

Bußgebete nach Gutdünken

Es kommt während des Ausflugs zu einem Unfall, für den wahrscheinlich Sepp weniger als Martin verantwortlich ist, aber Sepp begreift seine Schuldgefühle auch als Chance, sich Theresa zu nähern, die sich im Krankenhaus seiner Fürsorge nicht erwehren kann.

Der Pfarrer, der Theresa die Beichte abnimmt, scheint die Anzahl der zur Buße auferlegten Vaterunser und Ave Maria nach Gutdünken zu bemessen; „(…) du warst dir nicht einmal sicher, ob er wirklich mit dir sprach oder mit einer anderen Person, einen Moment lang hattest du das Gefühl, dass der Pfarrer noch einen weiteren Büßer bediente, vielleicht auf der anderen Seite des Beichtstuhls (…).“

Für die Verweigerung der ehelichen Pflicht sind mehr Vaterunser und Ave Maria zu beten als für die Missachtung des Vaters oder für den Verrat am Bruder und an der Schwester Marlene, die, nachdem Theresa die über eine unschuldige Geschwisterliebe hinausgehende Beziehung Theresas mit dem gemeinsamen Bruder Martin aufgedeckt hat, nur noch im Kloster leben kann.

Der kleine Bruder

Trotz der Zurückweisung des Ehemanns und trotz der Überempfindlichkeit nach Elkes Geburt bringt Theresa ein zweites Kind zur Welt, dieses Mal mit einem Schnitt, den sie unter Narkose nicht mitbekommt. Den Jungen, den sie leider nicht nach ihrem Bruder Martin nennen darf, dafür aber den ähnlich klingenden Namen Markus wählt, wird sie abgöttisch lieben.

Das Mädchen wird im mehrfachen Sinne zu einer Außenstehenden. Bereits als Kind lernt Elke, aus ihrem Körper herauszutreten. Zum ersten Mal wird ihr diese Fähigkeit während einer Busfahrt, zu der eine Nachbarin sie eingeladen hat, bewusst. „Und plötzlich fand sie sich da wieder, wo sie hinstarrte, und das war die andere Seite der Busfensterscheibe, erst noch in der Luft und dann an einer Ecke, wo sie sich umsah und dann winkte, dorthin winkte, wo sie stehengeblieben war, und dem Bus, in dem ihr eigener Körper saß, hinterherblickte.“

Blicke durch Fenster

Die andere Seite, die Sicht von außen, Blicke durch Fenster, der Doppelgänger oder Wiedergänger durchziehen leitmotivisch den Roman. Wenn Elke später von Markus, seiner Frau Helen und den Kindern Luisa und Pierre in Tschechien besucht wird, mieten sich alle in einer Pension ein:

„Ein paar Meter weiter befindet sich ein Fenster zum Gastraum des Restaurants. Elke schaut durch dieses Fenster wie von einer Welt zur anderen.

Auf einer langen Bank sitzen Helen, Markus und die Kinder. Die Kinder essen Pommes und trinken Saft. Helen trinkt Wasser, Markus ein Bier. Sie sind vertieft in etwas, das auf dem Tisch liegt, vielleicht ein Prospekt. Eine Landkarte. Ein Brief, den sie schon ein paar Mal studiert haben, ihn aber nicht verstehen. Sie sehen so ernst aus.“

Beobachtende Präsenz

Es ist das Außerhalb-Stehen, das die innere Distanz ermöglicht. Elke wurde als Kind stets übersehen, und spätestens im Erwachsenenalter bekommt ihre beobachtende Präsenz etwas Unheimliches. „Markus blickt plötzlich in Richtung Fenster, aber er kann niemanden sehen, weil Elke kein Licht in der Diele gemacht hat.“

Bevor die Kinder da waren, hatten Markus und Helen die Mutter einmal auf einen touristischen Ausflug nach Prag mitgenommen. Elke sieht die drei, aber es kommt zu keiner Begegnung. Über Theresa weiß sie: „(…) du hast sogar das Café auf der gegenüberliegenden Straßenseite gesehen, hast gesehen, wie Gäste hinein- und Gäste herausgingen, aber du hast nicht gesehen, dass es der Ort war, an dem Elke darauf wartete, dass du das Hotel verlassen würdest.“

Ein anderer solcher gespenstischen Momente begegnet uns an der Endstation eines Zuges, aus dem sie vergessen hat auszusteigen: Der Bahnsteig ist ansonsten leer. Eine Geisterstadt. Elke sieht sich selbst am Fenster stehen und hinausschauen und etwas steht auf der anderen Seite und sieht hinein.

Ein Klassenfoto

Von den Klassenfotos ihrer Tochter hat Theresa nur ein einziges ausgewählt, eines, auf dem die Lehrerin nett lächelt; sie hatte offenbar nicht bemerkt, dass gerade auf diesem Foto Elkes Gesicht von einem Mitschüler verdeckt ist – als kündigte dieses frühe Unkenntlichkeit bereits ihr späteres Verschwinden an.

Elke verlässt als Jugendliche das Elternhaus ohne jede Ankündigung. Was die Familie lange Zeit nicht erfahren sollte: Sie nimmt die Spur von Magdalena auf, der Frau, die von ihrer Großmutter adoptiert worden war und die neben Theresa wie eine Schwester aufwuchs. Während des Krieges war Magdalena als Funkerin ins Protektorat Mähren, nach Brünn, gegangen und wurde dort die Geliebte von Hans, einem Nazi. Als Partisanen die Burg besetzten und die Nazis hinrichteten, wurde Magdalena, von einem Exekutionskommando in die zweite Reihe gestellt, im letzten Moment aber von einem der Partisanen gerettet. Elke findet die Frau, die sich nun Madla nennt, und lebt einige Zeit mit ihr auf der Burg. Mit einer Anita aus Jena, die in den Westen möchte, tauscht Elke den Pass, da beider Fotos sich – bis auf die Haarfarbe – zum Verwechseln ähnlich sehen.

Mit Anitas Identität beginnt Elke ein Studium und lernt Boris kennen. Aber eine dauerhafte Beziehung wird daraus nicht. Elke kann auch ihm ihre Geschichte nicht erzählen. Bei einer Wiederbegegnung mit ihm, Jahre später, „fällt Elke zum Glück wieder ein, dass Boris auch sie nicht fragen wird, nicht nach dem Was und dem Warum und dem Wohin und dem Wo und dem Woher, und sie entspannt sich und hört ihm zu und vergisst alles, was er sagt, noch während er es sagt.“

Pointierte Prosa

Das alles wird uns nicht in der zeitlichen Reihenfolge erzählt; die Lektüre wird zum Puzzle und bleibt trotz der düsteren Geschehnisse ein reizvolles Abenteuer. Es ist Ulrike Anna Bleiers pointierte Prosa, die ihre Figuren so gut vorstellbar werden lässt. Die Autorin versteht es, die Eigenheit von Charakteren mit wenigen Strichen zu skizzieren; zum Beispiel als Elke auf die Familie ihres Bruders Markus zugeht: Der zweijährige Pierre „zeigt mit dem ausgestreckten Finger auf Elke, die vom Marktplatz her kommt, als wolle er auf sie zielen, dann winkt er aufgeregt. Dann winken Luisa und Helen und am Schluss winkt auch Markus, er winkt mit großer Geste, als habe er das Winken persönlich erfunden.“

Von Generation zu Generation

Muster wiederholen sich, werden von Generation zu Generation weitergegeben. Nicht nur die roten Haare, die auch bei Elkes Nichte Luisa wieder auftauchen, vererben sich. Auch das Motiv der juckenden Wunde – bei Theresa seit dem Unfall besonders ausgeprägt – wird auf mysteriöse Weise tradiert. Und nicht zuletzt das Thema des Verschwindens, das sich durch den Roman zieht. Bereits in Ulrike Anna Bleiers erstem Roman, Schwimmerbecken, der es 2017 als eines der zehn besten Bücher aus der Produktion unabhängiger Verlage auf die Hotlist schaffte, ging es um das Verschwinden – und das Wiederauftauchen – eines der Protagonisten. In Bushaltestelle verschwinden außer Elke gleich mehrere Personen, manche im Krieg, andere, um dem Elternhaus zu entkommen, und bei dem Jüngsten, Pierre, wohl eher aus Versehen.

Lakonische Erzählstimme

Ohne das treffsichere Sprachgefühl der Autorin, das sich oft in einer lakonischen Erzählstimme äußert, wäre die Lektüre der traurigen Geschichten wohl kein Vergnügen. Das folgende Beispiel soll den Aufbau eines Satzes, das Fortschreiten eines Gedankengangs, verdeutlichen – Martin, Elkes Onkel, hat bereits während des Kriegs mit einer Sondergenehmigung Magdalena und Hans auf der Burg in Mähren besucht:

„Dein Bruder gefällt mir, hatte der Hans gesagt, er ist eine ehrliche deutsche Haut, und Tante Madla dachte in ihrer Küche über den Ausdruck nach, ehrliche Haut, denn bei Haut dachte sie an Abziehen bei lebendigem Leib, ob ehrlich oder nicht, doch nirgendwo zog man Martin die ehrliche Haut ab, er erhängte sich ganz einfach, zuhause in der Wehrgasse, mit einem Kleiderbügel im Kleiderschrank.“

Das kurze Kapitel, in dem wir auf diese Weise von Martins Suizid erfahren, ist „Kleiderbügel“ überschrieben. Theodor W. Adorno hat in seinem Nachwort zu Walter Benjamins Briefsammlung Deutsche Menschen (1936) den Lakonismus die „sprachliche Form der bedeutenden Nüchternheit“ genannt. Alles an dieser Kennzeichnung trifft auch auf Bushaltestelle zu – der ausgeprägte Formwille, die Bedeutsamkeit des Erzählten und die Nüchternheit, mit der vom Unfassbaren gesprochen wird.

Bedeutende Nüchternheit

Scheinbar banale Tätigkeiten wie Theresas ewiges Putzen des Hauses werden zu einer vielschichtigen Metapher. Obwohl du die Wohnung zweimal die Woche geputzt hast, war das Wasser immer schwarz vor Schmutz. Doch haben an die Mutter gerichtete Sätze wie Nur beim Putzen warst du du selbst nichts Denunzierendes. Die Autorin will ihre Romanfiguren nicht anschwärzen, sie zeigt vielmehr die Bedeutung des Unscheinbaren auf. Und auch Elke in ihrem Gedankenmonolog will ihre Mutter verstehen, nicht brandmarken: „Es sind die kleinen alltäglichen Herausforderungen, die dich am Leben halten, Wäsche waschen, Vorhänge ab- und aufhängen, einkaufen, Müll wegbringen.“

Ein gut geputztes Haus und saubere Wäsche hat sie kennengelernt – eine Familie jedoch, in der sich eine(r) an den/die andere(n) anlehnen kann, wie Elke das bei Helen, Markus und ihren Kinder beobachtet, eine solche Familie hat Elke nie kennengelernt. Sie bleibt zeitlebens das Kind, das der Mutter zu viel war.

Seilbahnfahrt als Familienaufstellung

Bei einem der seltenen Familienausflüge in die Berge verhindert die Mutter geradezu gewaltsam, dass ihr Lieblingskind Markus mit dem ungeliebten Ehemann in einer Seilbahngondel zu sitzen kommt und zieht den Jungen zu sich in die nächste Gondel. Und Elke? Der Mitarbeiter an der Talstation „wusste nicht, wohin mit dem übriggebliebenen Kind, dem die Haare rötlich und wirr ins blasse Gesicht fielen; in jeder Gondel war nur Platz für zwei Personen, und so schubste der Mann das Kind in die nächste freie Kabine und sagte: Brauchst keine Angst haben, ist bisher noch jeder wieder runtergekommen.

Die Tür schloss sich mit einem Knall.“

Dieser Bergausflug liest sich wie eine aussagekräftige Familienaufstellung. Einsam in einer Seilbahngondel, starrt Elke auf Verbotsschilder, auf denen Personen, die sich aus dem Fenster lehnen und herausfallen, durchgestrichen sind. Auf keinen Fall wollte Elke zu diesen durchgestrichenen Menschen gehören.

Der Autorin gelingt es mit ihrem empathischen Blick, solche Durchstreichungen von Menschen zurückzunehmen und den im Leben Benachteiligten eine ausgleichende Gerechtigkeit als Romanfiguren zuteilwerden zu lassen. Liebe, Anerkennung, ein erfülltes Leben oder die volle Ausbildung der geistigen Kapazitäten, Notwendigkeiten, die das gute Recht eines jeden Menschen, die jedoch bei keinem Gericht der Welt einklagbar sind – es bedarf solcher Autorinnen wie Ulrike Anna Bleier, um die Ungesehenen aus ihrem Schattendasein ins Licht zu rücken. Literatur, Kunst überhaupt, ist eben doch die letzte Instanz.

Ulrike Anna Bleier: „Bushaltestelle“. Roman. lichtung verlag, Broschur, 224 Seiten, 17,90 Euro.




Aufbruch zu einer Landpartie führt in die Schrecken des Ersten Weltkrieges – Jean Cocteaus Roman „Thomas der Schwindler“

Wenn eine Reisegruppe Kekse, Orangen und Likör einpackt, dann wird es sich wohl um Proviant für eine Landpartie handeln, möchte man meinen. Doch die edel gekleideten Frauen und Männer, die da im Paris des Jahres 1914 die Kisten entsprechend gefüllt haben und sich auf den Weg machen, verfolgen ganz andere Absichten.

Ihr Ziel ist die Stadt Reims oder anders gesagt: die französische Front. Sie wollen den verwundeten Soldaten helfen und (wenn möglich) die Kämpfe aus nächster Nähe verfolgen. In den Lazaretten angekommen, treffen sie aber auf eine Welt, mit der sie nun überhaupt nicht gerechnet haben und die ihr Vorstellungsvermögen übersteigt. Verstörende Szenen wie diese prägen den Roman „Thomas der Schwindler“, den der Regisseur, Maler und Schriftsteller Jean Cocteau (1889-1963) im Jahr 1923 verfasst hat.

Der Manesse-Verlag hat das Werk in einer ansprechenden Edition als Neuübersetzung herausgegeben und bietet mit einem Nachwort von Iris Radisch, einem Anmerkungsapparat und einer editorischen Notiz einige Verständnishilfen. Das Buch weist eine ganze Reihe biographischer Züge des Autors auf. Für Iris Radisch war Cocteau ein Dichter, der in der Zeit des noch jungen 20. Jahrhunderts dem „Typ des Künstler-Dandy zu neuem Glanz“ verholfen habe.

Cocteaus Roman beruht auf realen Begebenheiten. Historisch belegt sind seine Besuche zusammen mit weiteren Mitgliedern der feinen Gesellschaft an der Front. Er verarbeitet seine eigenen Erlebnisse mit dem Krieg, wobei er selbst überhaupt kein Soldat war, sondern für untauglich befunden wurde. Er hatte sich freiwillig zum Dienst gemeldet.

Und so erzählt Cocteau von einem jungen Mann, der schon bei der Angabe seines Alters und seiner Herkunft schwindelt, um besser dazustehen. Als Neffe eines bekannten Generals gibt er sich aus. Denn nur so, davon ist er überzeugt, wird es ihm gelingen, zur Front und zu den Verletzten durchzukommen.

Aber spätestens, als der junge Thomas die Schützengräben besuchen darf, werden ihm die Schrecken des Krieges überdeutlich vor Augen geführt. Dem jungen Mann erscheint es ähnlich zu ergehen wie seinem literarischen Vater, der zu Beginn des Krieges zunächst einen Waffengang ungleich spannender fand als Langeweile und Tristesse des Alltags. Daran konnten auch die Aussichten auf amouröse Abenteuer und Liebeleien, die der Kontakt zu adeligen Frauen versprach, nicht wirklich etwas ändern.

Jean Cocteau, der unter anderem mit Pablo Picasso, Charlie Chaplin, Edith Piaf und Marcel Proust befreundet war, führt mit dem Buch keine laute Klage gegen den Krieg, allein die Beschreibungen der Realität reichen aus, um die Unmenschlichkeit und die Brutalität zum Ausdruck zu bringen. Denn was Krieg eigentlich bedeutet, das wusste die kleine Reisegruppe wahrlich nicht, als sie meinte, mit einigen Lebensmitteln die Not lindern zu können.

Jean Cocteau: „Thomas der Schwindler“. Roman. Aus dem Französischen neu übersetzt von Claudia Kalscheuer. Manesse Verlag, 192 Seiten, 20 Euro.




Stilles Heldentum in finsteren Zeiten – Erich Hackls bewegender Recherche-Bericht „Am Seil“

Seit der ehemalige Lehrer und Lektor Erich Hackl 1987 mit der Erzählung „Auroras Anlass“ als Schriftsteller debütierte, wächst das literarische Werk des Autors langsam aber stetig an. Seine in über 25 Sprachen übersetzten Romane und Erzählungen werden von der Kritik regelmäßig gelobt und mit Preisen bedacht. Trotzdem ist dem in Wien und Madrid lebenden Schriftsteller der ganz große Durchbruch in die Liga der Bestseller-Autoren – leider – nie so recht gelungen.

Sein neues Buch trägt den Titel „Am Seil. Eine Heldengeschichte“. Es geht um den authentischen Fall einer gefährlichen Lebensrettung, über der viele Jahre der Mantel des Schweigens lag: Denn der Retter – der Handwerker Reinhold Duschka – war bis zu seinem Tode 1993 der Meinung, er habe nur seine menschliche Pflicht getan; und die Geretteten (die Jüdin Regina Steinig und ihre Tochter Lucia) wollten nach dem Krieg lieber verdrängen als sich erinnern.

Vor dem Vernichtungslager bewahrt

Doch irgendwann war der Wunsch von Lucia einfach zu groß, den passionierten Bergsteiger und wortkargen Handwerker zu würdigen und dem Autor Erich Hackl in allen Einzelheiten zu berichten: wie Duschka es schaffte, sie und ihre Mutter von 1941 bis 1945 vor der Deportation ins Vernichtungslager zu bewahren; wie sie zu dritt an ein unsichtbares Seil gebunden waren und dann mit Glück und Vertrauen überlebten.

Hackl berichtet, was Lucia ihm über die Lebensrettung erzählt hat, er befragt Bekannte, Verwandte, Freunde, macht die Widersprüche in den Erinnerungen deutlich und füllt die Leerstellen der Geschichte mit eigenen Vermutungen: so entsteht ein literarisches Puzzle über stilles Heldentum, Moral und Menschlichkeit.

Vier Jahre lang im gefährlichen Versteck

Als der Abtransport in die Vernichtungslager bevorsteht, tauchen Regina und Lucia in die Illegalität ab und finden bei Reinhold Unterschlupf: in seiner Werkstatt hausen sie vier Jahre lang, immer in der Gefahr, von Kunden, die bei ihm aus Kupfer, Messing und Zink gefertigte Gegenstände kaufen wollen, als Juden erkannt und denunziert zu werden. Nur selten trauen sie sich zu einem kleinen Spaziergang ins Freie. Als die Werkstatt kurz vor Kriegsende ausgebombt wird, besorgt Reinhold einen neuen Unterschlupf und versorgt die beiden mit Nahrung, Kleidung und Büchern.

Nach dem Krieg: Traum vom „normalen Leben“

Als der Krieg vorbei ist, versucht jeder, in ein normales Leben zurück zu finden: Reinhold heiratet eine Musikerin und wird kaum je ein Wort über die Ereignisse verlieren, schon weil er fürchtet, dass im notorisch antisemitischen Österreich Bergkameraden und Kunden sich von ihm abwenden könnten. Regina wird jahrelang darum kämpfen müssen, ihre Arbeitsstelle als Chemikerin in einer Klinik wieder zu bekommen. Erst mit 91 lässt sich Reinhold überreden, seine Heldentat öffentlich zu machen und erklärt sich bereit, von der Gedenkstätte Yad Vashem als „Gerechter unter den Völkern“ ausgezeichnet zu werden.

Es ist ein Glücksfall akribischer Recherche und literarischer Fantasie, wie Erich Hackl diese fast vergessene Heldengeschichte rekonstruiert und uns davon erzählt: ohne jeden moralischen oder politischen Zeigefinger; ganz so, als wäre Zivilcourage das Normalste von der Welt.

Erich Hackl: „Am Seil. Eine Heldengeschichte.“ Diogenes, Zürich. 118 Seiten, 20 Euro.




Es bleiben lauter ungelöste Rätsel: Michael Ondaatjes ziellos mäandernder Roman „Kriegslicht“

Plötzlich sind das blutige Schlachten, der Bombenhagel und das allgegenwärtige Sterben vorbei. Keine Nächte mehr im Schutzbunker. Kein Umherirren mehr im schummrigen Dämmerlicht des Krieges. Jetzt könnte es beginnen, das richtige Leben.

Jetzt könnten der 14jährige Nathaniel und seine 16jährige Schwester Rachel ihre Freiheit genießen, Freundschaften schließen, die Liebe kennenlernen. Doch daraus wird nichts werden. Das weiß der Leser schon mit dem ersten Satz, mit dem Michael Ondaatje seinen neuen Roman „Kriegslicht“ eröffnet. Ein Satz wie ein dunkles Geheimnis, ein grausames Menetekel, ein unabwendbarer Schicksalsschlag, der alles ändern und das Leben der beiden Jugendlichen fortan bestimmen wird: „Im Jahr 1945 gingen unsere Eltern fort und ließen uns in der Obhut zweier Männer zurück, die möglicherweise Kriminelle waren.“

Ich-Erzähler Nathaniel wird später versuchen, sich in diese seltsame Zeit der Ungewissheiten hineinzuversetzen, in der die Eltern plötzlich verschwunden waren und das Vertrauen in die Welt der Erwachsenen erschüttert wurde. Immer wieder wird er sich fragen, wohin seine Eltern gegangen sind, warum sie ihre Fürsorgepflicht aufgaben und ihre Kinder mysteriösen Figuren überließen, die geheimnisvolle Existenzen führten, Rennhunde vom Kontinent nach England schmuggelten, wilde Partys feierten und kuriose Tarnnamen führten.

Sind die Eltern skrupellose Spione gewesen?

Irgendwann wird Nathaniel Geheimdienstunterlagen entdecken, aus denen hervorgeht, dass seine Eltern wahrscheinlich Agenten und Spione waren und vor Mord und Verrat nicht zurückschreckten: „Meine Sünden sind vielfältig“, wird Rose, die Mutter Nathaniels, die wie aus dem Nichts wieder auftaucht, sich aufs Land zurückzieht und dort auf ihren Mörder wartet, später einmal auf die insistierenden Fragen ihres Sohnes antworten.

Nichts genaues weiß man nicht, der Krieg ist längst vorbei, doch alle Geschehnisse und alle Einbildungen, alle Rätsel und alle Realien bleiben im Verborgenen, werden umkreist und mit immer wieder neuen Erinnerungen und Erfindungen zu einem unlösbaren Puzzle aus Fragmenten und Fakten.

Warum turnen lebensmüde Studenten nachts über die Dächer Londons? Wer sind, woher kommen und wohin gehen jene dubiosen Gestalten, der „Falter“ und der „Boxer“, die sich um die beiden verwaisten Kinder kümmern und dann plötzlich ins Vergessen abtauchen? Was hat Rose als Agentin in Italien erlebt und warum wurde sie fast zu Tode gefoltert? Wieso erinnert Nathaniel die Jugend als großes Abenteuer, während seine Schwester Rachel am Verlassensein zerbricht und sich von der Familie löst? Und was ist aus Nathaniels Vater geworden, der nie wieder aus dem Schatten der Vergangenheit ins Licht der Gegenwart tritt?

Nie wieder das Niveau von „Der englische Patient“ erreicht

Gerade eben hat Michael Ondaatje für seinen 1992 veröffentlichten und genial verfilmten „Der englische Patient“ den „Golden Booker“ bekommen, nach Meinung der Briten ist das der beste Roman, der jemals den „Booker-Preis“ bekommen hat. Zu Recht. Denn „Der englische Patient“ handelt, von einem furios mit unzähligen Handlungsfäden und verknäuelten Figurenkonstellationen traumwandlerisch jonglierenden Autor verfasst, von den ganz großen Fragen, Liebe und Tod, Verrat und Krieg, Schuld und Sühne. Ein Roman, der wie ein genialer Fels aus der Brandung der ihn umgegebenen literarischen Mittelmäßigkeit herausragt.

Doch seien wir ehrlich: Weder mit „Anils Geist“ (2000), „Divisadero“ (2007) oder „Katzentisch“ (2012) hat Ondaatje jemals wieder das literarische Niveau des „englischen Patienten“ erreicht. Die Erwartungen an das „Kriegslicht“ waren dennoch hoch. Und die Enttäuschung ist nun umso größer. Denn es ist, man mag es kaum laut sagen, ein misslungener Roman. Ondaatje hangelt sich von einem Einfall zum nächsten, lässt Ideen und Personen kurz aufscheinen und wieder verschwinden, mäandert durch seine Geschichten und Geheimnisse wie Nathaniel auf nächtlichen Bootstouren über die dunklen Kanäle Londons.

Eine Erzählkunst, die sich selbst genügt

Ondaatje kann sich nicht entscheiden, was er uns erzählen und wohin er uns führen will. Kein einziges der vielen Rätsel wird gelöst, alles verschwimmt im Nebel einer Erzählkunst, die sich selbst genügt und keine Lust hat, sich dem Leser mitzuteilen. Ondaatje stellt seinem Roman ein geheimnisvoll-rätselhaftes Zitat voraus: „Die meisten großen Schlachten werden in den Falten von Landkarten ausgetragen.“ Wer das gesagt hat und was es bedeuten könnte, das verrät uns der Schriftsteller leider nicht.

Michael Ondaatje: „Kriegslicht“. Roman. Aus dem Englischen von Anna Leube. Carl Hanser Verlag, München. 320 Seiten, 24 Euro.




Wenig mehr als „Copy and paste“: lit.COLOGNE, lit.COLOGNE SPEZIAL und lit.RUHR

Tiger oder Turtle: lit.RUHR auf dem richtigen Irrweg. Foto: Herholz

Selbstlob stinkt, heißt es, und zudem erweckt es den Verdacht, als wäre solches Eigenlob nicht ganz berechtigt und wollte etwas schöner reden, als es tatsächlich ist.
Ob Thomas Kufen, Essens Oberbürgermeister, genau das vergaß, als er kürzlich bei der Programmvorstellung der lit.RUHR eben diese vollmundig so anpries: „‚Wir sind nicht die kleine Schwester der Lit.COLOGNE, sondern eine eigenständige Persönlichkeit.‘ Zu verdanken sei dies ‚den Machern der Lit.Ruhr‘.“

Aber so etwas Artiges muss man vor den Medien wohl deklamieren, vor allem im Beisein der Vertreter jener fünf Ruhrgebietsstiftungen, die die lit.RUHR der Macher aus Köln jedes Jahr mit 500.000 € sponsern.

Ist der Ruf erst propagiert, lebt sich’s gänzlich ungeniert?

Wahr aber dürfte vielmehr sein, dass auf der lit.COLOGNE (März), lit.COLOGNE SPEZIAL und der lit.RUHR (beide im Oktober) allerlei Schauspielprominenz und einige Literatur-‚Stars‘ zeitversetzt oder parallel gern mehrfach – darf man das sagen? – verwurstet werden. Nur überlebensgroße Literaten und Medienstars wie Rushdie oder Ondaatje kommen allein nach Köln und nicht auch ins Ruhrgebiet. Man muss Prioritäten setzen: Köln hat sie eben, jene Sender, Kritiker und Verlage, die im Ruhrgebiet fehlen – darunter einen WDR, der für die lit.COLOGNE per Radio und TV das Dauer-Schaufenster ins Bundesweite ausstaffiert.

Vorhölle des Eventrecyclings

Wer aktuell die beiden Programme der lit.COLOGNE SPEZIAL und der lit.RUHR vergleicht, beginnt sich schnell zu langweilen. Da findet man am 11.10. auf Zeche Zollverein und am 12.10.18 in Köln die „Laugh-Letters – die lustigsten Briefe der Weltliteratur“– jeweils mit Anna Thalbach, Bela B. und Micky Beisenherz. Martin Walser ist am 10.10. im WDR-Funkhaus Köln zu Gast, der WDR schneidet‘s sicher mit; Walser kommt aber auch am 11.10. nach Essen. Mit „Der Hundertjährige kehrt zurück“ sind Jonas Jonasson und Jan-Gregor Kremp am 12.10. in Essen und am 13.10. in der Stadthalle Köln-Mülheim. Auch Robert Seethaler, Timur Vermes oder Christian Berkel kann man an aufeinanderfolgenden Tagen sowohl in Köln als auch im Ruhrgebiet sehen und hören. Frank Schätzing, sowieso Dauergast der frühjährlichen lit.COLOGNE, kommt nun am 14. Oktober auch in die Essener Lichtburg. Iris Berben, letztes Jahr schon Stargast bei der Eröffnungsgala der lit.RUHR, trifft diesmal am 14. Oktober Anke Engelke auf Zollverein.

A.L. Kennedy & Gabriele von Arnim mit Spaß, Dortmund, November 2017
Foto: Jörg Briese

A.L. Kennedy liest am 11.10. abends in Stratmanns Theater, zuvor morgens bei der lit.kid.RUHR, auch die ein Ableger und in vielerlei Hinsicht austauschbar mit der lit.kid der lit.COLOGNE. Kennedy war zudem – wie sehr viele andere – bereits einmal (oder mehrfach) im Revier zu Gast; Kennedy zuletzt im November 2017 als Gast des Literaturbüros Ruhr im Literaturhaus Dortmund.

Ruhris Resterampe?

Programmabende aber zeitversetzt dreist von der lit.COLOGNE  aus dem März 2018 ins Programm der lit.RUHR des Oktobers 2018 abgekupfert zu sehen, das tut doch ein bisschen sehr weh. Hannelore Hoger und Mechthild Großmann z. B. gaben in Köln am 14.3.18 zum Parkettpreis von 34,50 € das Programm „Die Hölle auf Erden. Zum Brüllen komisch“ (Konzept: Julian Pörksen). Nun gastieren sie am 11.10. unter dem Titel „Mechthild Großmann und Hannelore Hoger nehmen uns mit in den achten Höllenkreis des Humors“ (Konzept: Julian Pörksen) im Ringlokschuppen Ruhr.
Immerhin, da kommt man an der Abendkasse schon für 27 € rein und darf teuflisch gespannt sein.




Von der „Spieluhr“ bis zum „Ohrenbär“: Die Entwicklung des Kinderrundfunks mit Dortmunder Impulsen

Gastautor Heinrich Peuckmann über die Entwicklung des Kinderrundfunks, zu der auch einige Ideen und Konzepte aus Dortmund beigetragen haben:

Als Mitte der achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts der WDR-Lokalsender Radio Dortmund an der Lindemannstraße eingerichtet wurde, gab es unter Kulturschaffenden große Vorbehalte. Das wäre ein trojanisches Pferd, wurde geurteilt, denn erst käme der harmlose öffentliche Rundfunk und in seiner Nachfolge der Privatsender mit seinen oberflächlichen und verdummenden Programmen.

Screenshot der „Ohrenbär"-Homepage www.ohrenbaer.de

Screenshot der „Ohrenbär“-Internetseite www.ohrenbaer.de

Ich war damals Sprecher des Schriftstellerverbandes und die Autoren beschlossen, nachzuhaken, was denn der Dortmunder WDR-Sender für uns zu bieten hätte. Hintergrund vor allem meines Optimismus war die Information, dass Erdmann Linde Sendeleiter des Lokalfunks werden würde, und den kannte ich schon lange als großen Freund der Literatur.

Hoffnungsträger Erdmann Linde

Im Sender haben wir uns dann getroffen, im Kellerraum, der später für die Journalisten zur Mensa werden sollte und das, was Linde und sein Team den Autoren damals anboten, war mehr als beachtlich.  Eine große Kultursendung („Schöner Sonntag“) sollte es geben, vor allem aber eine Kinderhörfunkreihe, die dann „Die Spieluhr“ heißen sollte. Jeden Abend sollte im Lokalsender eine kleine Kindererzählung von etwa 10 Minuten Länge laufen, eine Einschlafgeschichte für die Kleinen.

Dieses Angebot war insofern etwas Besonderes, als die öffentlichen Sender damals gerade dabei waren, ihre Kindersendungen entweder heftig zu beschneiden oder ganz einzustellen. Das Dortmunder Angebot lief dem damaligen Trend also komplett entgegen.

Jürgen Hoppe plante, redigierte und las auch noch selbst vor

Erdmann Linde und sein Team haben in der Folge wirklich Wort gehalten, vor allem Jürgen Hoppe, der mit großem Engagement „Die Spieluhr“ allein bestritt. Er prüfte die eingesandten Texte, redigierte, wo es nötig war und las die Geschichten selber vor. Jahrelang hat er das getan, Tag für Tag, eine unglaubliche Leistung.

„Die Spieluhr“ fiel auf, auch weit über den Dortmunder Sendebereich hinaus. Als der Sender Freies Berlin (SFB) später eine eigene Kinderreihe etablierte, griff er deutlich auf das Dortmunder Konzept zurück. „Ohrenbär“ wurde diese Reihe genannt, die es nun schon seit dreißig Jahren gibt, heute vom RBB produziert. Die tägliche Sendung wird mit Musik aus „Peter und der Wolf“ eingeleitet, in der Regel sind es siebenteilige Kindergeschichten, die von bekannten Schauspielern vorgelesen werden.

Jedes Tageskapitel ist in sich abgeschlossen und von Kapitel zu Kapitel entwickeln sich die Charaktere bis zur Konfliktlösung. Für uns Dortmunder Autoren war der Umstieg von der „Spieluhr“, die bald mit dem gesamten Lokalsender verschwand, auf den „Ohrenbär“ kein Problem, die Texte mussten nur unwesentlich länger werden und sie sollten keine Ortsangaben enthalten.

Neue Reihe „In der Kirche ist viel los“

Es war also eine erstaunliche Entwicklung, die sich damals vollzogen hat. Mit großer Skepsis der Autoren hat sie begonnen, wurde dann zu einem regionalen Erfolgsprogramm und wandelte sich im nächsten Schritt zu einer großen Kindersendung, die nun in der halben Republik gehört wird. Denn der „Ohrenbär“ wird zwar vom RBB produziert, wird aber vom NDR und vom WDR-Kinderradiokanal („KiRaKa“) im Internet übernommen. Beim WDR läuft die Sendung jeden Abend in der Zeit von 18.45 – 18.55 Uhr.

Ich bin seit langer Zeit und immer noch als Autor dabei. Von mir wird vom 24. September an eine Woche lang eine weitere Reihe gesendet werden. „In der Kirche ist viel los“ lautet der Titel meiner insgesamt 23. Ohrenbärgeschichte, die von der Schauspielerin Leslie Malton gelesen wird. Sie ist eine wirklich gute Schauspielerin. Es sind lustige, traurige oder spannende Episoden, die im Umfeld einer Kirche spielen und die ganz nebenbei ein bisschen über das Christentum aussagen. Kinder wissen immer weniger über den Mythos, sie sind deshalb auch immer weniger in der Lage, historische, philosophische oder künstlerische Hintergründe zu begreifen, bei denen man eben doch religiöse Bezüge erkennen muss.

Bloß keine Pädagogik mit dem Zeigefinger

„Ohrenbär“ liefert keine aufgesetzte Pädagogik, das wäre ja auch tödlich für diese Sendereihe, aber im Hintergrund wird, quasi nebenbei, doch ein bisschen an Infos mitgeliefert, allerdings komplett umgesetzt in Handlung und nicht irgendwie belehrend erklärt. Eine schöne Konzeption. Und weil  das so ist, literarisch anschaulich und doch angereichert mit Informationen, ist „Ohrenbär“ nicht allein eine Sendung für Kinder geblieben.

In der Ohrenbärredaktion, von Sonja Kessen sehr umsichtig und liebevoll bis ins kleinste Detail betreut, war man am Anfang überrascht von der beachtlichen Anzahl auch erwachsener Zuhörer, hat es aber schnell als Bestätigung der Arbeit verstanden. Am besten ist es sowieso, wenn die Kinder die Sendung zusammen mit ihren Eltern hören. Die Eltern sind dann ihren Kindern nahe, sie teilen mit ihnen die Emotionen, entwickeln gemeinsam Empathie und haben ein schönes Gesprächsthema.




Traumatische Familiengeschichte: Maxim Billers Roman „Sechs Koffer“ als Geflecht aus Fakten und Fiktionen

Wir müssen uns Maxim Biller als ebenso verletzenden wie verletzlichen Menschen vorstellen: Zwei Seelen wohnen, ach, in seiner Brust.

Als Kolumnist und Kritiker gibt der 1960 in Prag geborene Autor gern den ungehobelten Rüpel und geht lustvoll an die Schmerzgrenze fieser Beleidigungen und übler Nachrede. Als Erzähler dagegen schafft er es immer wieder, uns mit nachdenklichen Skizzen, zärtlichen Tönen und poetischen Porträts zu überraschen. Vor allem dann, wenn er sich dem unverarbeiteten Trauma seiner eigenen Familiengeschichte widmet und in einem Geflecht aus Fakten und Fiktionen in die dunklen Geheimnisse seiner weit verzweigten jüdischen Herkunft vorwagt.

Das Schweigen durchbrechen

Sein neuer Roman, „Sechs Koffer“, ist ein geglückter Fall verzweifelter literarischer Erinnerungsarbeit und humorvoller Rekonstruktion dessen, worüber man in der Familie Biller lieber schweigt: Denn bis heute ist ungeklärt, wer 1960 den Großvater in der Sowjetunion als Devisenschmuggler denunziert hat und dafür verantwortlich ist, dass der „Tate“ hingerichtet wurde.

Lange Zeit war Onkel Dima als Verräter ausgemacht, hatte er doch fünf Jahre in der damaligen Tschechoslowakei im Knast gesessen und, um seine eigene Haut zu retten, bestimmt einige (kleinkriminelle) Familiengeheimnisse preisgegeben. Doch seit der Autor als Fünfzehnjähriger den nach Zürich geflohenen Onkel besucht und bei ihm einige Geheimdienstunterlagen gefunden hat, weiß er, dass Dima als Verräter nicht taugt.

Politische Abgründe des 20. Jahrhunderts

Mit feinem Gespür für hinterhältige Pointen und überraschende Wendungen erzählt Biller aus verschiedenen Perspektiven, wie sich die politischen Abgründe des 20. Jahrhunderts auf die jüdische Familie auswirken. Wie die Billers von Moskau nach Prag und von dort aus nach Hamburg fliehen. Wir lernen Billers Vater kennen, der aus dem Russischen übersetzt und nicht mehr mit seinen Brüdern sprechen mag. Und wir begegnen Tante Natalia Gelernter, die einst als Regisseurin eine große Hoffnung des tschechischen Kinos war und dann am Antisemitismus der Kulturbonzen scheiterte: Ihr Film „Hanka Zweigová“ über eine Jüdin, die den Holocaust überlebt und danach nur noch Spaß haben und mit Männern schlafen will, die an Krieg und Katastrophe keinen Gedanken verschwenden, gilt als eine ebenso gelungene wie gewagte künstlerische und politische Provokation.

Zum Finale der literarischen Öffnung von sechs mit Geschichten vollgestopften Koffern erzählt Biller von seiner Schwester Jelena. Auch sie hat gerade einen autobiografisch grundierten Roman über die Familien-Geheimnisse geschrieben. Sie lebt jetzt in London und kommt auf Einladung des NDR nach Hamburg, um über ihr Buch zu sprechen. Während sie mit dem Taxi vom Flughafen zum Sender fährt, erinnert sie sich an all die verschwiegenen familiären Abgründe, die ihr Leben belasten, sie überlegt, ob sie die Tür zur dunklen Kammer aus Verdrängung und Verrat vor dem Mikrofon wirklich öffnen soll. Hatte ihr Bruder nicht einmal in einer Talk-Show auf die Frage, warum er so viel und so unnachgiebig über seine Familie schreibt, gesagt: „Weil ich keine Geheimnisse mag“?

Maxim Biller: „Sechs Koffer“. Roman. Kiepenheuer & Witsch, Köln. 200 Seiten, 19 Euro.




Ein kurzer Brief an die lit.RUHR 2018 oder: „Über die allmähliche Abfertigung der Gedanken bei Grußworten“

Aus der beliebten Reihe „Visualisierung comme il faut": Es ist schon ein Kreuz mit der Sprache... (Foto: Bernd Berke)

Aus der beliebten Reihe „Visualisierung comme il faut“: Es ist manchmal schon ein KREUZ mit der Sprache… (Foto: Bernd Berke)

Liebe lit.RUHR,

ich lese gerade Dein brandneues Programmheft – und staune zunächst einmal, was alles für eine halbe Million Euro Sponsorenzuspruch plus Eintrittsgelder inhaltlich n-i-c-h-t geht.

Dabei, liebes „Team der lit.RUHR“, fiel es mir bereits bei Deinem Grußwort schwer, überhaupt weiterzulesen. Nicht allein das übliche Marketinggesums, all die Klischees, die Ranschmeiße ans Publikum und der schleimige Dank an die Sponsoren missfallen. Leider scheint im Umfeld Eures Literaturfestivals auch allerhand Sprachvermögen abhandengekommen zu sein.

Ihr schreibt da z.B.: „… eine Ära geht zu Ende, der Pulsschlag einer Region verstummt“. Bleischwerer und letaler geht’s nicht? „Puls“ kommt aus dem Lateinischen („pulsus“) und heißt eigentlich schon „Stoß“ oder „Schlag“, deshalb reichte es völlig aus zu sagen, dass der Puls einer Region ruhiger wird. Im Revier pulsiert’s ja weiter oder willst Du, liebes Team der lit.RUHR, uns alle hier nach dem Ende des Bergbaus für tot erklären? Nekropole Ruhr? Ja, dahin können Phrasen führen.

Vielen Dank also, dass Ihr Kölner Festivalmacher auch „Abende mit Platz für Tränen, winkende Taschentücher“ versprecht. Aber wie winken Taschentücher – und mit wem? Eher wird doch wohl mit Taschentüchern selbst gewinkt, oder?

Und der letzte Absatz, au Backe! Mit der dreimaligen Wiederholung von „wollen“ bringt der Bandwurm-Satz nun wirklich Grollen ins Gedärm. Außerdem muss es selbstverständlich „des Räubers Hotzenplotz“ heißen und nicht „des Räuber Hotzenplotz“.

Ist denn in der halben Mio. Förderasche kein Sümmchen für Sprachberatung drin? Ne? Echt? Okay, ich leg´ `nen Zehner drauf.




Der schnelle Übergang vom Guten zum Bösen: Emmanuel Boves Kurzroman „Schuld“ und neun Erzählungen

Als der kurze Roman Schuld von Emmanuel Bove 2010 erstmals auf Deutsch erschien, war das Buch schnell vergriffen. Nun, acht Jahre später, veröffentlicht der Lilienfeld Verlag unter dem Titel Schuld und Gewissensbiss eine um neun Erzählungen erweiterte Ausgabe. Etwa die Hälfte des schönen Bands aus der Reihe der Lilienfeldiana nimmt der Roman Schuld ein.

Der Originaltitel Un Raskolnikoff, unter dem das Werk zuerst im Dezember 1931 in Frankreich erschienen ist, zeigt noch deutlicher als der deutsche Titel die Verbindung zum großen russischen Roman Schuld und Sühne.

Im Unterschied zu Dostojewskis Romanfigur Raskolnikow, der sich zum Mord berechtigt glaubt, geht es jedoch in Emmanuel Boves kürzerer Replik um eine allein vom Protagonisten Changarnier gefühlte, wenn nicht gar herbeigesehnte Schuld, für die der Lesende keinen Anlass erkennt. Er hat niemanden ermordet, auch nicht den etwa fünfzigjährigen kleinen Mann, der ihm und seiner Freundin bei ihrem Streunen durch die winterliche Stadt nicht von der Seite weicht.

Gleichwohl wird der verhaltensauffällige Changarnier von der Polizei festgenommen und auf der Wache verhört. Der – wie mehrere Antihelden bei Bove – gedanklich stets angespannte Selbstquäler ruft während der Vernehmung in einer grotesk theatralischen Geste den Allmächtigen als Zeugen herbei und hört, gleichsam als ein ihn enttäuschender Deus ex Machina, eine Stimme, die ihn auf die erste Lossagung des Menschen von Gott, den Sündenfall, verweist: Indem der Mensch alles wissen wollte, habe er sich von Gott getrennt und werde bis zu seinem letzten Tage allein bleiben. Der nach einer Gegenüberstellung mit einer Zeugin wieder auf freien Fuß gesetzte Changarnier dürfte auch in der Fortsetzung seines Weges nicht von Grübeleien erlöst sein.

Unvermuteter Grund für den Gewissensbiss

Haben wir es in Schuld mit einem grundlos erscheinenden schlechten Gewissen zu tun, gäbe es in der kurzen Erzählung Der Gewissensbiss mehr als nur einen Grund. Nach einem beachtlichen sozialen Aufstieg neigt Doktor Jacques Figue dazu, gegenüber der angeheirateten Familie sein Elternhaus zu verleugnen. Lediglich die monatliche Geldüberweisung dient dazu, sein Gewissen zu besänftigen. Während eines Urlaubs in Südfrankreich bittet er seine Frau um Verständnis, dass er nach sieben Jahren völliger Kontaktlosigkeit seine in der Nähe auf dem Land lebenden Eltern kurz besuchen möchte.

Die Ehefrau aus gutsituiertem Hause aber denkt nur daran, dass sie ungern zwei Stunden an einem kleinen Provinzbahnhof auf ihn warten möchte. Mit dem Versprechen, nicht lange fortzubleiben, läuft Doktor Figue in sein Heimatdorf. Die alte Mutter ist überglücklich, den Sohn noch einmal zu sehen. Der Vater jedoch sei an dem Tag nach Marseille gefahren. Doktor Jacques Figue will die Rückkehr des Vaters nicht abwarten. Um seine Frau nicht zu lang alleinzulassen, verabschiedet er sich bereits nach einer Stunde von der weinenden Mutter. Als er mit seiner Frau im Bahnhofscafé auf den Zug nach Marseille wartet, sieht er plötzlich, wie sich die gebeugte Mutter dem Bahnhofsvorplatz nähert. Um seiner Frau die Begegnung zu ersparen, entscheidet er kurz entschlossen, mit ihr im Taxi zurück nach Marseille zu fahren. Im letzten Absatz wechselt die Perspektive, und der titelgebende Gewissensbiss stellt sich als ein völlig anderer heraus, als die vorangegangen sechs Seiten vermuten ließen.

Ereignisse und Charaktere immer wieder neu bewerten

In Gotthold Ephraim Lessings Faust-Fragment dienen sich dem Geisterbeschwörer verschiedene Teufel an, die sich allesamt in behaupteter Schnelligkeit zu übertrumpfen versuchen. Faust entscheidet sich für den, der für sich beansprucht, so schnell „als der Übergang vom Guten zum Bösen“ zu sein. Etwas von jenem Teufel muss wohl auch in den kurzen Erzählungen Emmanuel Boves stecken.

Der Lesende ist manchmal gefordert, die Ereignisse und Charaktere auf fast jeder Seite neu zu bewerten. Die Protagonisten geraten immer wieder in moralische Zwickmühlen. Wie bei dem Mann, der nach dem Tod eines nahen Freundes bei der Witwe dessen Schulden eintreibt – was zu weiteren Verwicklungen führt („Die dreitausend Francs“). Man könnte sagen, die Sympathiesteuerung des Autors hinsichtlich seiner Figuren vollführe scharfe Wenden, gelänge es ihm nicht, auch für diejenigen, die in ihrem kleinbürgerlichen Ordnungssinn gefangen und zur Rechthaberei verdammt erscheinen, Verständnis zu wecken.

Großzügiger Förderer gerät ins soziale Abseits

Ein weiteres gutes Beispiel ist die acht Seiten umfassende Erzählung Das Testament. Ein angesehener Geschäftsmann aus Cherbourg fördert einen jüngeren, an seinen Wohnort Zugezogenen, mit allen Mitteln, gliedert ihn fast schon in seine Familie ein und verschafft ihm die für ein erfolgreiches Geschäftsleben nötigen Kontakte. Aufgrund einer bald nicht mehr nachvollziehbaren Kleinigkeit geraten beide in einen sich eskalierenden Streit. Da aber hat sich der Jüngere innerhalb der städtischen Gesellschaft bereits so viel Sympathie erworben, dass nun der einstige Förderer durch seinen sich steigernden Hass ins soziale Abseits gerät. Er vereinsamt, erkrankt und stirbt. Die Gerüchte über den Inhalt seines Testaments und die Reaktionen der Stadtgesellschaft beleuchten das Geschehen von einer anderen – von einer patriotischen – Seite, ohne den Eindruck des Zwielichtigen auszuräumen.

Die letzten Lebensjahre des Schriftstellers

„Er wünschte, auf dem Friedhof Montparnasse beerdigt zu werden, und hatte schon im Voraus ein dreißigjähriges Nutzungsrecht an einer einfachen Grabstätte erworben, die zufällig ein paar Meter von Emmanuel Boves Grab entfernt lag.“ – Michel Houellebecq über seinen gleichnamigen Protagonisten im Roman Karte und Gebiet (La carte et le territoire). Foto: Wolfgang Cziesla

„Er wünschte, auf dem Friedhof Montparnasse beerdigt zu werden, und hatte schon im Voraus ein dreißigjähriges Nutzungsrecht an einer einfachen Grabstätte erworben, die zufällig ein paar Meter von Emmanuel Boves Grab entfernt lag.“ – Michel Houellebecq über seinen gleichnamigen Protagonisten im Roman Karte und Gebiet (La carte et le territoire).
Foto: Wolfgang Cziesla

Das Testament ist eine von vier Erzählungen, die Bove im Spätsommer 1944 unter einem Pseudonym in der algerischen Wochenzeitung La Marseillaise veröffentlichte. Bove, der es ablehnte, im von deutschen Truppen besetzten Frankreich zu publizieren, lebte von November 1942 bis Oktober 1944 in einer Vorstadt von Algier. Seine politischen Hoffnungen setzte er auf General de Gaulle; das voraussehbare Kriegsende klingt in den Erzählungen an.

Welche Rolle Bove sich selbst im Nachkriegsfrankreich zudachte, kann nur vermutet werden. Er starb im Alter von nur 47 Jahren zwei Monate nach der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht. Sein Grab befindet sich in der Familiengruft seiner zweiten Ehefrau, Louise Ottensooser, auf dem Friedhof Montparnasse, in der Nähe der Cafés von Saint-Germain-des-Prés, in denen er mehrere seiner einzigartigen Romane schrieb.

Emmanuel Bove: Schuld und Gewissensbiss. Ein Roman und neun Erzählungen. Aus dem Französischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Thomas Laux. Lilienfeld Verlag, Düsseldorf, Reihe Lilienfeldiana, Band 24. 176 Seiten, Halbleinen, Fadenheftung, Leseband, € 20




Ärgerlich: Der Wettbewerb um die „Vestische Literatur-Eule 2018“ als Symptom verfehlter Literaturförderung

„Nimm meinen brüderlichen Rat und gib ja den Vorsatz auf, vom Schreiben zu leben.“ Diesen Satz schrieb Gotthold Ephraim Lessing vor 250 Jahren am 26. April 1768 seinem Bruder Karl. Und ganz so viel hat sich über die Jahrhunderte nicht geändert. Laut Künstlersozialkasse liegt das durchschnittliche Jahreseinkommen von Künstlern um die 16.000 Euro, junge Autorinnen und Autoren liegen weit darunter.

Literatur verträgt keinen unnötigen Lärm. (Foto: © Jörg Briese)

Darüber könnte man jammern, letztlich aber bleibt die Entscheidung, eine selbständige künstlerische Existenz zu führen, mit viel Risiko behaftet und kein Künstler darf damit rechnen, dauerhaft staatlich alimentiert zu werden.

Wer es aber schafft, die Anerkennung der Kritiker, gar der „Influencer“ literarischer Blogs zu gewinnen oder aber den Markt zu bedienen, kann heutzutage immerhin ganz gut oder bestens vom Schreiben, von Preisen, Stipendien, Lesungen, Schreibkursen und Auftragsarbeiten leben. Nur schaffen dies nicht eben viele – und die ungezählten Anderen leben von Zweit- und Drittjobs, Ehepartnern oder vagabundieren als schlecht bezahlte Projektleiter kultureller Jugendbildung durch heruntergekommene Schulen.

„Spaß am Schreiben“ vorausgesetzt

Geradezu obszön wirken in diesem Zusammenhang vor allem aber sogenannte Literaturwettbewerbe, die sich großspurig an „Autorinnen und Autoren“ wenden, diesen aber rein gar nichts anzubieten haben. So zum Beispiel der zurzeit von der Neuen Literarischen Gesellschaft Recklinghausen (NLGR) ausgeschriebene Wettbewerb um die Vestische Literatur-Eule 2018.

Vier bis fünf Seiten „fehlerfreien Text“ sollen Autoren „aus dem gesamten Ruhrgebiet“ zum Thema „Grenzen“ bis zum 14. Oktober 2018 einsenden, wird da oberlehrerhaft gefordert. Im Gegenzug winken „ein künstlerisches Eulen-Unikat“ als Jurypreis sowie ein „Sachpreis als Publikumspreis“.

Sollte man es in die Endrunde schaffen, muss man bereit sein, seinen Text während einer „feierlichen Autorennacht“ am 10. November 2018 im Wettstreit mit anderen Autoren vorzutragen. Darüber hinaus billigt man die Veröffentlichung in einer Anthologie zum Wettbewerb und sollte „im nächsten Jahr in der Autorennacht als Jury-Mitglied (…) fungieren, falls Sie den Jurypreis gewinnen.“

Dass nicht nur das Konzept des Preises selbst wenig fehlerfrei ist, sondern auch der Ausschreibungstext, verrät sich in Passagen wie z. B. „Wir freuen uns auf Texte jeglicher Gattung und jedweden Genres (in deutscher Sprache) zu einem Thema Ihrer Wahl.“ Hatte es in der Ausschreibung zuvor nicht deutlich geheißen: „Die Themenvorgabe in diesem Jahr lautet ‚Grenzen‘“? Gemeint war also oben eher, dass das vorgegebene Thema „Grenzen“ literarisch/inhaltlich/formal al gusto bearbeitet werden dürfe?

Recklinghausen: Kunst ohne Kohle

Und die Gegenleistung der NLGR? Unterm Strich: Fehlanzeige. Wie wäre es zumindest fürs nächste Jahr mit beharrlichem Fundraising für einen angemessenen Geldpreis? Wie wäre es, die Ausschreibung sprachlich angemessener zu formulieren, eine unabhängige Jury auszuwählen und diese zumindest über Fahrgeld und ein kleines Honorar zu entlohnen. Und wie wäre es nicht zuletzt damit, den Beiträgern der geplanten Anthologie kleine Honorare zahlen?

Oder gilt die Ausschreibung zur Vestischen Literatur-Eule gar nicht den Hobbyschreibern, dem literarischen Nachwuchs und einigen Autoren, sondern allein dem Renommee einer Neuen Literarischen Gesellschaft, die mit geringstem finanziellen Aufwand relativ großes regionales Presseecho erzeugen möchte?

Das wäre dann doch auf provinziellem Niveau noch ärger als die grassierend-großkopferte Almosen-Heuchelei, die schon Thomas Bernhard anlässlich des 1967er-Anton-Wildgans-Preises in seiner wunderbaren Sammlung „Meine Preise“ abkanzelte:

„Tatsächlich hebt sich die millionen-, ja milliardenschwere Industriellenvereinigung mit der Vergabe eines schäbigen Geldpreises von fünfundzwanzigtausend Schilling in die Höhe eines ganz und gar außerordentlichen Kunst- und Kulturmäzens und wird dafür auch noch in allen Zeitungen gelobt, anstatt daß sie auf das rücksichtsloseste für ihre Gemeinheit angeprangert wird.“

Aber dies alles zu schreiben, heißt wohl, Eulen nach Recklinghausen zu tragen?




Feines Gespür für das Lebensgefühl der Zeit: Vor 125 Jahren wurde der Schriftsteller Hans Fallada geboren

Er hieß eigentlich Rudolf Friedrich Wilhelm Ditzen, nannte sich aber nach zwei Märchenfiguren der Brüder Grimm: nach „Hans im Glück“ und nach dem Falada aus „Die Gänsemagd“. Das sprechende Pferd sagt die Wahrheit, selbst als sein Kopf abgeschlagen wird. Vor 125 Jahren, am 21. Juli 1893, wurde Hans Fallada in Greifswald geboren.

Hans Fallada, Porträt um 1930. Copyright Hans Fallada Archiv

Hans Fallada, Porträt um 1930. © Hans Fallada Archiv

Hans Fallada gilt als einer der wichtigsten Schriftsteller der Weimarer Republik, der mit realistischen Milieustudien und wachem Blick für die Menschen auf der Verliererseite die Lebensumstände der dreißiger Jahre beschrieb.

Mit dem sozialkritischen Roman „Bauern, Bonzen und Bomben“ begann 1931 sein schriftstellerischer Erfolg; „Kleiner Mann – was nun?“ wurde 1932 zum Bestseller und ist bis heute eines seiner bekanntesten Werke geblieben. Auch Bücher wie „Jeder stirbt für sich allein“ oder der posthum erschienene Roman „Der Trinker“ sind Welterfolge geworden. „Wer einmal aus dem Blechnapf frißt“ spiegelt seine Erfahrungen im Gefängnis wieder.

Persönlich hatte er stets mit sich selbst zu kämpfen: Als Schüler schon ein Außenseiter, litt er später unter Alkohol- und Morphiumsucht. Aufgrund eines inszenierten Duells, das als Doppelsuizid gedacht war und bei dem er seinen Freund erschoss, wurde er erstmals in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. In der Zeit des Dritten Reiches zog er sich in sein Haus nach Carwitz in Mecklenburg zurück, verhielt sich den Machthabern gegenüber ambivalent. 1947 starb er an den Folgen der Morphinsucht.

Die Revierpassagen sprachen mit der Vorsitzenden der Hans-Fallada-Gesellschaft, Patricia Fritsch-Lange, über den weltberühmten Schriftsteller.

Gibt es eigentlich eine Erklärung für das schwierige Leben und die Sucht von Hans Fallada?

Die Erkrankungen von Hans Fallada sind gut erforscht und dokumentiert. Es gibt medizinische Unterlagen, Briefwechsel und Aufzeichnungen aus der Familie. Fallada stammt aus einer Familie mit einer langen Tradition des schriftlichen Erinnerns, die sich auf hohem Niveau ausdrücken konnte. Die Wurzeln seiner psychischen Instabilität dagegen sind schwer greifbar. Ein paar unglückliche Zufälle, eine gewisse Veranlagung – dann passiert so etwas. Die Eltern waren für die damalige Zeit erstaunlich liberal. Der Vater bot ihm zum Beispiel an, ihn ein Jahr voll zu finanzieren, damit er ausprobieren könne, ob er wirklich Schriftsteller werden wolle. Da war Hans Fallada schon weit über 20 Jahre alt.

Fallada ist einer der wichtigsten Schriftsteller der Weimarer Republik. Den Nazis gegenüber verhielt er sich unterschiedlich: auf der einen Seite reserviert bis ablehnend, auf der anderen Seite kooperativ.

Malerisch gelegen ist das Anwesen Hans Falladas in Carwitz, heute ein Museum. Foto: Hans-Fallada-Gesellschaft e.V.

Malerisch gelegen ist das Anwesen Hans Falladas in Carwitz, heute ein Museum. Foto: Hans-Fallada-Gesellschaft e.V.

Fallada hat die Freiheit ausgekostet, die ihm die Weimarer Republik bot. Er hat in der Künstler-Bohème in Berlin gelebt und versucht, dort seinen Platz zu finden. Als die Nazis an die Macht kamen, verhielt er sich wie die meisten Deutschen. Er beobachtete, versuchte, mit der Situation zurechtzukommen, sich zu etablieren als Schriftsteller und als „ordentlicher“ Bürger. Ein politisch denkender, vorausblickender Mensch war er nicht. Ihm fehlte die Distanz. Aber der Rückzug nach Carwitz aufs Land hatte sicher das Ziel, aus all den Bedrängungen herauszukommen. Damit war er jedoch nicht aus der Literatur-Szene verschwunden. Die Nazis behandelten ihn mit Zuckerbrot und Peitsche. Zeitweise war er unerwünschter Autor, dann wurde er wieder gelobt und erhielt Aufträge, sogar für Filmdrehbücher.

Wie kaum ein anderer hat er die Zeit tiefgründig beschrieben.

Das Arbeitszimmer des Schriftstellers in Carwitz. Foto: Hans-Fallada-Gesellschaft e.V.

Das Arbeitszimmer des Schriftstellers in Carwitz. Foto: Hans-Fallada-Gesellschaft e.V.

Er hat als Teilnehmer an den Zeitläuften geschrieben. Das hat die Leser offenbar damals wie heute angesprochen. Wer etwas wissen will über das Leben in Deutschland in den dreißiger Jahren, erfährt aus seinen Büchern authentisch und unmittelbar, wie der Alltag damals gewesen ist. Fallada beschreibt nicht aus intellektueller Distanz. Man bekommt aus seinen Werken ein Gespür für die Atmosphäre und das Lebensgefühl der Zeit. Der Leser erfährt, was die Menschen im Inneren bewegte, welche Werte und welche Moral ihr Leben bestimmt, wie sie ihren Alltag tatsächlich bewältigen. Nach meinem Gefühl ist das der Grund, warum Fallada auch heute noch gelesen wird.

Das Interesse scheint ungebrochen. „Kleiner Mann – was nun?“ wurde 1972 von Peter Zadek am Bochumer Schauspielhaus als eine Art Revue auf die Bühne gebracht und außerdem – wie mehrfach vorher – verfilmt.

Die Bühnenbearbeitung des Romans „Kleiner Mann – was nun?“ von Tankred Dorst ist seither häufig an verschiedenen Theatern zu sehen gewesen. Es gibt auch Bühnenfassungen von „Jeder stirbt für sich allein“.

Welche Titel würden Sie jemandem empfehlen, der Hans Falladas Werk kennenlernen möchte?

Als Einstieg „Kleiner Mann – was nun?“ und „Ein Mann will nach oben“, ein vielschichtiger Roman aus dem Berlin der Zwanziger Jahre.

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Die Hans-Fallada-Gesellschaft unterhält das Hans-Fallada-Museum in Carwitz, richtet jährlich Hans-Fallada-Tage aus und fördert die Forschung. Am 20. Juli wurde dort die Ausstellung „ ‚Sonst nichts Neues‘. Die Feldpostbriefe des Ulrich Ditzen (1896-1918)“ eröffnet. Ulrich Ditzen war der jüngere Bruder Hans Falladas. Info: www.fallada.de

Lesehinweise:

Peter Walther: Hans Fallada. Die Biografie. Aufbau-Verlag 2018, 25 Euro.

Jenny Williams: Mehr Leben als eins. Hans Fallada. Aufbau Verlag Taschenbuch 2011, 12,99 Euro.




Zeit des Stillstands: Andreas Maiers Roman „Die Universität“

Der Ich-Erzähler, knapp über 20 Jahre alt, berichtet von seinen allerersten Semesterferien anno 1988. Er will nach Südtirol verreisen, doch er landet nur in der nächsten Umgebung: im hessischen Butzbach. Ein bisschen grotesk ist das schon.

Wenn auch äußerlich nicht viel geschieht, so kommentiert doch seine innere Stimme („mein innerer Meta-Ebenen-Kuckuck“) unablässig und zwanghaft jeden kleinen Vorgang. Der junge Mann beginnt nun im Butzbacher Park – bereits zum dritten Male – Thomas Manns „Doktor Faustus“ zu lesen. Alle Achtung. Jedenfalls scheint Butzbach mit einem Male eine Erfüllung zu sein. Und doch auch wieder nicht.

Da ist der unbestimmte Drang, ein neues Leben zu beginnen und zugleich die Unfähigkeit, auch nur davon zu erzählen. Denn dieses unbestimmte Ich ist längst noch nicht jener Andreas Maier, der in seinem neuen Roman „Die Universität“ vornehmlich vom Stillstand berichtet, ganz überdeutlich mit einem späteren Kapitel über einen permanenten, geradezu allumfassenden Autostau.

Was bisher geschah: Maier hat mit den Kurzromanen „Das Zimmer“, „Das Haus“, „Die Straße“, „Der Ort“ und „Der Kreis“ das erzählerische Gesichtsfeld stetig und hartnäckig erweitert. Wer weiß, wohin das noch führt.

Maier war bisher immer gut für Inbilder einer recht ereignisarmen, somit auch „normalen“ Kindheit und Jugend, auch entwarf er unscheinbare, doch prägnante Tableaus just aus der hessischen Provinz rund um Friedberg/Wetterau. Heimatdichtung? Nein, so kann man das eigentlich nicht nennen. Aber die Gegend hat schon wahrhaft große Literatur hervorgebracht. Ich sage nur: Peter Kurzeck. Während Kurzeck schier alles festhalten wollte und gar vieles zum verhaltenen, dauerhaften Leuchten gebracht hat, geht Maier lässiger (aber nicht nachlässig) zu Werke. Auch das hat seinen Reiz und allemal seine Berechtigung.

In Butzbach wandelt der Erzähler recht träge auf den Spuren der Buchhändlerstochter, die ihm und uns schon in den Roman-Vorläufern begegnet ist – es war dies eine ans Absurde grenzende, stockende Beziehung; ganz so, wie denn auch die hessischen Käffer zugleich aufgesucht und gemieden werden. Dem entspricht ein richtungsloses, noch durchaus unentschiedenes Dasein. Kann in dem Alter schon mal vorkommen. Kommt sogar sehr häufig vor. Wie aber lässt sich von der inneren Leere und Antriebsarmut erzählen? Solche Fragen stellt sich der junge Mann, wenn er nicht gerade alten Träumen nachhängt oder sich als großer Schweigender geriert.

Die titelgebende Uni (Frankfurt/Main) spielt bei all dem gar nicht mal die zentrale Rolle, sie läuft streckenweise eher nebenher mit. Obwohl: Die Seminare (vor allem Philosophie mit schwerwiegenden Fragen nach Subjekt, Objekt und Identität) bilden denn doch so etwas wie eine Folie. Im Vorübergehen werden Frankfurter Professoren-Koryphäen wie Jürgen Habermas oder Karl-Otto Apel skizzenhaft charakterisiert, auch kommen reichlich bizarre Studenten (z. B. „der Hegel-Japaner“) vor, die den Profs bis in Gestik und Mimik hinein nacheifern, so dass man die in sich gekehrten Habermas-Adepten gleichsam schon am Gang und an der Dialog-Abstinenz erkennt.

Der Band enthält zwei veritable Kabinettstücke von einiger Komik. Zum einen geht es um ein (relativ harmloses) Erotikmagazin, das beim Sohn eines Studentenbuden-Vermieters herumliegt und irrwitzige Erwägungen auslöst. Zum anderen findet der Erzählende einen Job als Altenpfleger – und betreut in dieser Eigenschaft justament die greise Gretel Adorno, die offenbar äußerst biestig gewordene Witwe des berühmten Mitbegründers der „Frankfurter Schule“, Theodor W. Adorno. Und siehe da: Die Begegnung mit der knurrigen alten Frau erweist sich als eine Art Reifeprüfung für den weiteren Lebensweg.

Andreas Maier: „Die Universität“. Roman. Suhrkamp Verlag. 147 Seiten. 20 Euro.




Zwischen Schöpfung, Erschöpfung und Schöpflöffel: Botho Strauß als „Fortführer“ der Überlieferung

Eigentlich nichts Ungewöhnliches: Ein Mann wird älter und denkt vermehrt ans Vergangene. Früher war nicht alles besser, es kam einem aber vertrauter und vielleicht weniger verfälscht vor. Botho Strauß (erscheint jetzt bei Rowohlt und nicht mehr bei Hanser) empfindet sich wohl seit jeher als ein „Fortführer“, dem Althergebrachten verpflichtet, daran anknüpfend. Und als jemand, der sich und womöglich auch uns fort, also hinweg führt von arg begrenzter Tagvernunft.

In seinem Buch „Der Fortführer“ ist derlei Überlieferungs-Bewusstsein die treibende, besser: die entschieden beharrende Kraft. In vierzehn schmucklos durchnummerierten Kapiteln („Eins“, „Zwei“…) dieses nahezu nachkriegshaft karg gestalteten – man muss es wohl so nennen – Alterswerks gibt sich Botho Strauß abermals vielfach als Künder und Seher, jedoch nicht als Allwissender, sondern als Suchender und Empfangender. Immer wieder hebt er kostbare alte Worte und Wendungen ans Licht; ganz so, als wolle er nur ungern „verstanden“ werden. Es entstehen dabei zahllose sperrige Sätze: „Abgrund, Numen und Werg, das in Gestalt eines Wühlers durch unsere Sprache buckelt und findet den Ausgang nicht mehr?“

Gegen die „blöde Gescheitheit“

Zuwider wie nur eh und je sind Strauß das haltlose Geschwätz des Tages, die allfällige „Kommunikation“ (bei ihm geradezu ein Schimpfwort), die Zumutungen der „blöden Gescheitheit“ und der oberfächlichen Verständigung. Wie zur Abschottung von der hohlen Gegenwart sucht er – in ausgefeiltester Sprache – vorsprachliche Gefilde auf, so etwa die Traumwelt, wie schon so viele Künstler vor ihm. Er preist „Das nicht mehr vorsagende, den Klippschüler der Tagvernunft nicht spicken lassende Träumen.“ Ein Bild, das sich aus frühen Schülertagen speist.

Alles Gewesene hinterlässt einen unstillbaren Schmerz, so dass nach Strauß‘ Ansicht niemand ganz und gar im Jetzt lebt, selbst all die vielen „Gegenwartsnarren“ nicht. Doch dieser Autor richtet seinen Sinn nicht allein aufs Unvordenkliche, er begibt sich wieder und wieder auch auf Fährtensuche im Neuesten und Gängigen, in den digitalen Netzen, in den Clouds und im allfälligen, blicklosen Starren auf Smartphones, das so gar kein Schauen mehr ist.

Das Mädchen mit dem iPhone als Bellini-Madonna

An einer Stelle gemahnt jedoch ein Mädchen, „das mit gesenktem Kopf auf sein iPhone sieht“ an ein „Antlitz, das so edel und leer ist wie das gewisser Bellini-Madonnen“. Tut sich hinter all dem digitalen Wirrwarr womöglich ein neuer Mythenquell auf – oder rauscht die ganze Chose nur dem Nichts entgegen? Herrscht lediglich Schwund? Sollen wir denn vollends kapitulieren und, wie Strauß es formuliert, „Mit den Händen eine Kelle formen, unseren Hirnglibber ausheben und in die digitale Schale betten“?

Es dürfte schwerfallen, einen rundum passenden Gattungsbegriff für dieses Buch zu finden. Man mag von Notaten, Aphorismen, Maximen und Reflexionen sprechen. In anderen Passagen wird die Grenze zur lyrischen Ausdrucksform gestreift. Skizzenhaft werden auch Szenarien für imaginäre Bühnen entworfen. Durchweg gilt: Die kurzen, eigentlich recht lesefreundlich gesetzten Abschnitte täuschen Bekömmlichkeit nur vor. Hieran muss man sich abarbeiten und hoffen, dass sich die eine oder andere Ratlosigkeit als produktiv erweisen möge. Wohlfeile Verständigungsliteratur führt einen ja auch wirklich nicht weiter und führt einen nicht fort.

Bekenntnis zum elitären Dasein

An ein solches Buch sollte man auch nicht platterdings die Frage richten, ob es reaktionär und „rechtslastig“ sei. Man könnte Strauß aus bestimmten Perspektiven als erzkonservativ schelten, doch weiter reichende Zuschreibungen gehen gründlich fehl. Hier geht es denn doch um weitaus mehr, wenn nicht ums Ganze. Etwa um die Conditio humana jedes Kindes, das zürnt: „Die Welt ist fertig, der Menschen Zeug ist komplett, und nur ich rackere mich ab mit dem elenden Werden!“ Und was ist mit den Älteren? „Zeitlebens welch Mangel an Existenz! Viel herumgestanden, mehr erwartet.“ Wie überaus klar Botho Strauß schreiben kann. Leuchtend klar. Erschütternd klar.

Deutlich bekennt er sich freilich zum herausgehobenen, elitären Dasein. Übers Werk eines ernsthaft Denkenden und Schreibenden: „Er leistet bestimmt mehr Verwertungsarbeit als jeder Werktätige an der Fertigungsstraße. Passivität ist dafür unabdingbar, ist Voraussetzung für die Höchstleistung eines Ichs, das sich seiner Sonderstellung (…) versichern muss.“ Nur so könne der „Erdkrüppel Mensch“ Signale „aus der Senkrechten“ empfangen. Selbst bloße Passivität ist letztlich nicht genug: „Man muß auf das Wunder der Erschöpfung vertrauen.“

Wenn die Welt zur Ruhe kommt

Die erdrückende Mehrheit der Alltagsmenschen sei hingegen hiermit befasst: „…nur hamstern, sparen, raffen, heimsen, zählen“. Wer wollte da grundsätzlich widersprechen?Doch wie verwundert ist der Berichtende, wenn er einmal „Unter Menschen!“ geht und beim Schulfest seines Patenkinds mit dem Schöpflöffel Erbsensuppe ausschenkt. Gewiss, es ging heiter zu. Und er ist mit vielen ins Gespräch gekommen. Doch, ach, „die Redewendungen des Austauschs wiederholten sich viel zu oft.“ Gar viel verlangt. Wäre denn eine Welt möglich und wünschenswert, in der alle Geschöpfe immer Ungeahntes und Wesentliches von sich geben? Stets nur Schöpfung statt Schöpflöffel?

Das letzte, längere Kapitel ist nicht mehr nummeriert, es heißt wie das ganze Buch: „Der Fortführer“. Hier nun scheint sich manches zu lichten, was vordem kryptisch geklungen hat. Hier nun werden unzeitgemäße Künstler wie beispielsweise Keyserling, Elgar, Pfitzner und Sibelius gepriesen. Im Musikalischen, so scheint es, kündigen sich die Chiffren des Eigentlichen besonders nachdrücklich an.

Und was steht am Ende, worauf läuft es hinaus? Auf den endlich angehaltenen Fortschritt, auf die „glücklichste Vision“ einer „zur Ruhe gekommenen Welt“, allen Aufregungen enthoben. Eine Anschauung, die weit über modische „Entschleunigungs“-Sehnsüchte hinaus reicht!

Botho Strauß: „Der Fortführer“. Rowohlt Verlag, 203 Seiten. 20 Euro.

 

 

 

 




„Das Gesetz verurteilt, die Liebe verschont“: Donna Leons 27. Brunetti-Krimi „Heimliche Versuchung“

Immer mehr Einheimische nehmen Reißaus, halten die tagtäglich durch Venedig strömenden Touristen-Fluten, die billigen Ramschläden und riesigen Kreuzfahrtschiffe nicht mehr aus oder können sich die steigenden Mieten nicht mehr leisten. Und die Wenigen, die geblieben sind, verheddern sich in einem Knäuel offenbar unlösbarer Probleme.

Ein begabter Schüler nimmt Drogen, ein gesetzestreuer Mann wird eines Nachts schwer verletzt am Fuße einer Brücke gefunden. Eine alte Dame hortet wertlose Coupons. Ein vermeintlich gewissenloser Dealer erweist sich als ein von Krebs zermürbtes menschliches Wrack. Eine von Schuld und Geldsorgen zermarterte Ärztin unterstützt einen gierigen Apotheker, um die Schlupflöcher des Gesundheitssystems besser auszunutzen zu können.

Zwischen „Antigone“ und Händels „Esther“

Und Commissario Brunetti? Der streift melancholisch durch seine hassgeliebte Lagunenstadt und neigt neuerdings, von feucht-ungemütlichen November-Nebeln umwölkt, zu voreiligen Schlüssen und liest das antike Drama über die von Macht und Moral heillos zermürbte Antigone, um die Nöte seiner Mitmenschen im Hier und Heute besser zu verstehen. Und was hat das Ganze ausweglose Verwirrspiel mit Georg Friedrich Händel zu tun, bei dem es in seinem „Esther“-Oratorium heißt: „Das Gesetz verurteilt, / die Liebe verschont“?

Eigentlich ist alles wie immer bei Donna Leon, und doch ist in „Heimliche Versuchng“, dem siebenundzwanzigsten Fall von Commissario Brunetti, alles ein bisschen anders. Natürlich sind sie alle wieder dabei: Paola, die kluge Gattin, die Brunetti bei einem guten Essen die Flausen austreibt; Chiara und Raffi, die aufgeweckten Kinder, die Brunetti das Herz erwärmen; Patta, der arrogante Vorgesetzte, und Scarpa, der fiese, intrigante Polizist, die Brunetti zur Verzweiflung treiben; Vianello, der aufopferungsvolle nette Kollege; Elettra, die schöngeistige Computer-Spezialistin, die noch jede brauchbare Information aus dem Internet herausfischt hat.

Flucht vor dem Touristen-Mob in Venedig

Außerdem Brunettis Liebe zu den griechischen Klassikern, die Einbettung der vorgeblich kriminalistischen, in Wirklichkeit aber moral-philosophischen Handlung in ein wohl überlegtes Händel-Zitat: Wir kennen (erwarten und lieben) das alles von einer Autorin, die eigentlich nur schreibt, um ihre Passion für Barock-Musik auszuleben, mehrere Orchester finanziell zu alimentieren und sich vor dem Touristen-Mob in Venedig immer häufiger auf ihren abgelegenen Bauernhof in die Schweizer Berge zu retten.

Die Weltsicht von Brunetti, das kann man nicht mehr überlesen, wird immer trüber, seine Lust, sich durch den Schlamm der kriminellen Machenschaften zu wühlen und die Wahrheit über die sündhaften Verbrechen ans Tageslicht zu fördern, lässt spürbar nach. Eigentlich möchte er nur noch in Ruhe lesen, in der Bar einen heißen Café trinken und sich die komplexe Lage mit einfachen Erklärungen zurechtbiegen. Ihm geht es wie allen Personen in diesem Roman, der betont langsam, ja fast langweilig daher kommt und doch einen seltsamen Sog entwickelt.

Wie wollen wir eigentlich miteinander leben?

Alle sind von „heimlichen Versuchungen“ befallen. Einer peilt den leicht und schnell verdienten Profit an, der andere will sich als Besserwisser und Rechthaber erweisen und sich selbst erhöhen. Auch die Versuchung, tiefgründige Recherche durch kurzschlüssige (Vor)Urteile zu ersetzen, ist groß. Statt miteinander zu reden und den Dingen auf den Grund zu gehen, bestimmen irrationale Gefühle und Ängste das Handeln. Auch ist es wenig befriedigend, das Gesetz wie eine Monstranz vor sich her zu tragen und die Schuldigen dingfest zu machen, wenn man nicht lieben und verzeihen kann.

Ja, es geht auch um Drogen, und ja, es geht auch um kriminelle Abzockerei im Gesundheitswesen. Aber eigentlich geht es darum, wie wir miteinander leben und ob wir weiter unsere Umwelt verschandeln und unsere Beziehungen vergiften wollen, warum wir so gern Gerüchten aufsitzen und alternativen Fakten trauen, wieso wir glauben, es reiche, der komplizierter werdenden Welt mit schnellen Antworten und kernigen Vorurteilen zu begegnen.

Nein, es macht wirklich keinen Spaß, den neuen Roman von Donna Leon zu lesen. Einfühlsam und eindringlich geschrieben und von einer unerschütterlichen humanen Hoffnung auf ein besseres anderes Leben getrieben ist er trotzdem allemal.

Donna Leon: „Heimliche Versuchung“. Commissario Brunettis siebenundzwanzigster Fall. Roman. Aus dem Amerikanischen von Werner Schmitz. Diogenes, Zürich, 328 Seiten, 24 Euro.




Eine Welt ohne Internet als skurrile Zukunftsvision – Josefine Rieks‘ Roman „Serverland“

Es ist schon eine kuriose Szenerie, die Josefine Rieks in ihrem Roman „Serverland“ entwirft. Die Autorin nimmt den Leser mit in eine Zukunft ohne Internet, denn das weltweite Netz hat man abgeschaltet.

In einer solchen Zeit besinnt sich der Mensch auf Bewährtes, wie zum Beispiel das gute, alte Telefonbuch, wenn er Kontakt zu seinen Artgenossen sucht. Dieselautos sind wieder unterwegs, der ganze Schnickschnack um selbst fahrende Wagen hat ganz offensichtlich ein Ende gefunden. Dienstpläne und Arbeitsaufträge lädt sich der Beschäftigte auch nicht aus irgendwelchen Apps herunter, sondern schreibt sie mit Hilfe eines Stifts auf ein Blatt Papier.

Genauso handhabt Reiner seinen Berufsalltag. Er ist bei der Deutschen Post beschäftigt und hat ein für diese Welt ganz ungewöhnliches Hobby. Der Mittzwanziger sammelt alte Laptops und ist die Hauptfigur der Geschichte. Als Tüftler gelingt ihm dann das, was er wohl selbst kaum noch für möglich gehalten hätte, nämlich eine Verbindung zu alten Servern und riesigen Datenspeichern herzustellen. Eine Autobatterie (!) macht’s möglich.

Wenn niemand mehr Facebook und YouTube kennt

An seinem Wohnort in Berlin hat er schon Hallen mit reichlich technischem Equipment entdeckt, doch noch viel mehr bietet eine Industriebrache irgendwo an der holländischen Küste. Ein Kollege macht ihn auf das Gelände aufmerksam und der Computer-Freak trifft dort auf eine Gruppe von Jugendlichen, die sich hier ihr Leben eingerichtet haben. Vielleicht liegt es daran, dass gerade „68“ einen Lauf hat, weil die Ereignisse 50 Jahre zurückliegen, aber die Mädchen und Jungen ähneln ein wenig den alternativ Gesonnenen von damals. Für sie tut sich nun eine ganz andere Welt auf. Sie lernen dank Reiner Facebook, YouTube oder all die anderen Kanäle kennen. Kommt die Rede auf Steve Jobs und Bill Gates, dann haben die Jugendlichen die Namen schon irgendwann mal gehört, aber so recht einordnen können sie die Personen kaum.

Fasziniert von verstörenden Videos

Schaut sich die Gruppe alte Videos an, erlebt der Leser manche verstörende Reaktion. Denn Reiner zeigt neben bunten Unterhaltungsstreifen, auf die er bei seiner Internetrecherche stößt, auch Filme aus Konzentrationslagern und findet Aufnahmen von 11. September. Von Empörung oder Entsetzen unter den Zuschauern, die diese Bilder zu Gesicht bekommen, kann aber keine Rede sein. Eine eigenartige Faszination geht indes von einem Strip aus, bei dem sich der Mann schließlich sogar die Haut über den Kopf zieht. Das Video sei ein Beleg, wie stark der Feminismus das Internet geprägt habe, erhalten die Jugendlichen als Erläuterung.

Unterwegs zu einer neuen Vernetzung

Die Autorin belässt es in ihrer Fiktion aber nicht dabei, die Akteure ein paar YouTube-Filmchen betrachten zu lassen. Die Neu-Entdeckung des Internets bringt die jungen Leute nämlich auf den Gedanken, ob man nicht einen neuen oder ähnlichen Versuch von Vernetzung starten könnte. Reiner selbst steht dabei an der Spitze der Bewegung, verschickt Videos an irgendwelche Leute, um sie damit gleichzeitig zu einem Besuch der Serverhallen einzuladen. Eine interessante, analoge Version von YouTube. Mit dem Ausgang dieses Unterfangens scheint Josefine Rieks der virtuellen Welt von heute und vor allem auch ihren Protagonisten den Spiegel vorhalten zu wollen, wirft sie doch die Frage auf, ob man sich bei den Treffen in den Serverhallen eigentlich auch an vereinbarte Regeln hält.

Der gesamte Roman ist locker und an vielen Stellen ganz süffisant geschrieben. Die Vorstellung, dass man bei einem Trödelsammler für kleines Geld Notebooks von heute führenden Herstellern kaufen kann, ist schon aberwitzig. Trotzdem hat das Buch ein paar Schwachstellen. Manche Charaktere bleiben recht unkonkret, und man fragt sich zudem, weshalb es eigentlich kein Internet mehr gibt. Vielleicht bietet die Frage Stoff für einen weiteren Roman.

Josefine Rieks: „Serverland“. Roman. Hanser Verlag. 176 Seiten, 18 Euro.




Die wundersame Macht des Zufalls: „Das rote Notizbuch“ von Paul Auster liegt endlich vollständig auf Deutsch vor

Das Leben hängt am seidenen Faden, der Zufall regiert die Welt, und wer du bist und was du wirst, hängt oft allein davon ab, welche Entscheidung du an einer unscheinbaren Wegmarke triffst oder ob du die Telefonnummer wählst, die auf einem Zettel notiert ist, den du im Hotel unter einem Stuhl findest.

Es gibt wohl kaum ein Buch des jüdisch-amerikanischen Autors Paul Auster, in dem der Zufall nicht eine entscheidende Rolle spielt und darüber wacht, ob die Protagonisten weiter in einer Welt leben dürfen, die ohnehin nicht aus Wirklichkeit, sondern aus Sprache gebaut ist.

Zuletzt hatte Auster in seinem 1200-seitigen Opus Magnum „4, 3, 2, 1“ sein Lebensmotto und den Schreibimpuls („Was wäre geschehen, wenn…“) am Beispiel von Archibald Ferguson gleich viermal durchgespielt und furios vorgeführt, welche Variationen möglicher Identitäten eine Lebensgeschichte haben kann, wenn man an einer bestimmten Stelle aus dem Tritt gerät, dem Schicksal in die Quere kommt oder dem Tod noch einmal von der Schippe springt.

Als der Jugendfreund vom Blitz erschlagen wurde

Paul Auster war 14, als ihm schmerzlich bewusst wurde, wie wenig ein Leben wiegt und wie schnell es vorbei ist: Bei einer Jugendfreizeit geraten er und ein Freund in ein heftiges Gewitter. Während sein direkt neben ihm stehender Freund vom Blitz erschlagen wird, kommt Paul mit dem Schrecken davon. Auster hat dieses traumatische Erlebnis oft erzählt und vielfach literarisch variiert. Natürlich findet sich diese Geschichte auch in der Sammlung seltsamer Wechselfälle des Lebens, die er schon vor Jahren unter dem Titel „Das rote Notizbuch“ veröffentlichte und die jetzt erstmals vollständig auf Deutsch erscheint: Auster berichtet von kuriosen Begegnungen und oft bizarren Zufällen, vollkommen verrückt erscheinenden Ereignissen, die jeder Logik spotten und doch, darauf besteht er mehrfach, nicht erfunden, sondern wahr sind.

Das unverhoffte Erscheinen eines Retters

Als es ihm in jungen Jahren einmal besonders dreckig geht und er als unbekannter Autor fast verhungert, taucht im letzten Moment eine Retter am Horizont auf und will ihn unbedingt – warum eigentlich? – zum Essen einladen. Als er sich einmal abends im Stadion bei einem Baseballspiel bückt, um eine am Boden liegende Münze aufzuheben, ist es – das kann doch nicht sein! – dieselbe Münze, die er morgens vor seinem Haus in Brooklyn verloren hat. Das vergriffene Buch, nach dem sein Freund seit langem vergeblich sucht, taucht plötzlich in den Händen einer fremden Frau auf, die es gerade auf der Straße, lässig an ein Marmorgeländer gelehnt, liest. Als der Freund die Frau ansprichst, und ihr erzählt, wie sehr ihm an diesem Buch liegt, antworte sie: „Nehmen Sie meins.“ Und als der überraschte Mann zur Frau sagt: “Aber das gehört doch Ihnen“, meint die Frau nur lächelnd: „Es hat mir gehört, aber jetzt bin ich damit fertig. Ich bin heute hierher gekommen, um es Ihnen zu schenken.“

Die Welt ist klein, die Literatur ist groß

Es sind nicht nur unglaubliche, sondern auch unglaublich schöne und verwirrende Geschichten, die Auster aus seinen Erinnerungen ans Tageslicht zieht und die von Menschen erzählen, die auf wundersame Weise mit seinem Leben verbunden sind. Eine handelt von zwei jungen amerikanischen Frauen, die in Taiwan Chinesisch studieren und feststellen, dass ihre in New York lebenden Schwestern sich zwar (noch) nicht kennen, aber im gleichen Haus wohnen. Eine heißt Siri Hustvedt. Auster wird sie kennen lernen und heiraten. Beide werden viele Jahre später von einer fremden Frau in einer Buchhandlung angesprochen, die ihnen erklärt, dass ihre Schwester und Siris Schwester zusammen in Taipeh studiert haben.

Die Welt ist ein Dorf. Der Mensch ist klein. Aber die Literatur ist groß. Und Paul Auster ist einer der ganz großen Autoren, einer, der in den Falten der Zeit das Verdrängte und in den Schwarzen Löchern der Fantasie das Vergessene sucht und uns davon erzählt, warum das Schicksal ungewiss ist, aber doch einen Namen hat: Zufall.

Paul Auster: „Das rote Notizbuch. Wahre Geschichten“. Aus dem amerikanischen Englisch von Werner Schmitz. Rowohlt Verlag, Reinbek. 112 Seiten, 15 Euro.




„Es kommen härtere Tage“ – Hans Magnus Enzensberger hat 99 literarische Überlebenskünstler porträtiert

Zum Berufsbild von Dichtern und Denkern (jedenfalls von denen, die etwas auf sich und ihr Werk halten) gehört es, den Macken und Marotten des Zeitgeistes zu widerstehen, den Aufregungen der politischen Zeitläufte zu widersprechen, vermeintliche Gewissheiten anzuzweifeln und nicht Öl ins Getriebe der Welt zu gießen, sondern Sand Sand dorthin zu streuen.

Dass sie den Mächtigen stets schwer auf die Nerven gingen, die Geheimdienste schon immer ein Auge auf sie hatten und manche für immer in den Kerkern der Polizei und den Arbeitslagern der Parteidiktaturen verschwanden, liegt auf der Hand. Doch erstaunlich viele dieser Querdenker und literarischen Quälgeister haben die Krisen und Katastrophen des 20. Jahrhunderts überlebt, sind ins Exil geflohen oder in die innere Emigration gegangen, haben sich zum Schein angepasst, um im Stillen einfach weiter zu schreiben an ihrem intellektuellen Aufklärungs- und literarischen Zerstörungs-Werk.

Strategien gegen Verführung und Vermarktung

Wie man zwischen Widerstand und Anpassung jongliert und den Kompromiss zum Lebens-Elixier macht, haben so manche Schriftsteller vorgeführt. „Es kommen härtere Tage“, schreibt Ingeborg Bachmann 1958 in ihrem Gedicht „Die gestundete Zeit“ den Kollegen ins Stammbuch: „Für den Fall, dass sie recht hat, könnte ein Training in der Kunst des Überlebens von Nutzen sein.“ Das jedenfalls meint Hans Magnus Enzensberger (Jahrgang 1929), dieser literarische Tausendsassa und intellektuelle Luftikus, der in seinem langen Leben schon manchen politischen Drahtseilakt und einige rhetorische Wendemanöver vollführt und es geschafft hat, sich dem Zugriff seiner Feinde und den Umarmungen seiner Freunde zu entziehen. Weil Enzensberger wissen will, welche Strategien Schriftsteller haben, um Verführung und Vermarktung zu widerstehen und Terror und Säuberungen zu überleben, porträtiert er „Überlebenskünstler“ und skizziert „99 literarische Vignetten aus dem 20. Jahrhundert.“

Von Hamsun über Feuchtwanger bis zu Irmgard Keun und Peter Weiss

Seine Auswahl und Herangehensweise ist radikal subjektiv. Er beschreibt nur, was ihn interessiert und seine Fantasie anregt. Knut Hamsun, der mit den Faschisten flirtete, ist genauso dabei wie Maxim Gorki, der sich bei Stalin anbiederte. Lion Feuchtwarmer, der vor Hitler über Frankreich nach Amerika floh und es im Exil schaffte, seinen aufwendigen Lebensstil fortzusetzen. Jaroslav Hasek, der mit seinem braven Soldaten Schwejk listig lächelnd alle Weltbeglücker und Staatenlenker verlachte. Anna Achmatowa und Nelly Sachs, Boris Pasternak und Johannes R. Becher, Irmgard Keun und Peter Weiss – die Liste der Autoren, deren Überlebenskünste Enzensberger mit wenigen Worten umreißt, ist lang.

Das alles ist, weil Enzensberger ein ironischer Flaneur ist, meistens nicht nur ziemlich lehrreich, sondern und oft auch reichlich komisch. Am schönsten aber sind seine „Vignetten“ bei den Autoren, die er persönlich kannte, mit denen er befreundet war oder intellektuelle Scharmützel ausgefochten hat. Mit Heiner Müller hat er sich gern gestritten und ihn, als er bei einer Veranstaltung einen Toast auf ihn ausbrachte, seinen Bewunderern als den „führenden Sado-Marxisten“ ans Herz gelegt.

Die unbegreifliche Tragik des Imre Kertész

Warmherzig denkt Enzensberger an Imre Kertész, der Auschwitz überlebte, sich im stalinistischen Ungarn der Nachkriegszeit mit Gelegenheitsjobs über Wasser hielt, bevor er mit dem „Roman eines Schicksallosen“ zu Weltruhm gelangte und den Literaturnobelpreis bekam. Doch auch das schützte den todkranken jüdischen Autor, der 2001 ins Berliner Exil ging, in seiner Heimat nicht vor antisemitischen Anfeindungen. Mit Rührung und Verehrung notiert Enzensberger: „Imre konnte, als ich ihn zum letzten Mal sah, nicht mehr schreiben, er stotterte, zitterte und war hinfällig. Ich wundere mich darüber, dass er es so lange unter uns ausgehalten und dass er es fertigbrachte, auch dieses Wunder noch zu überleben.“

Hans Magnus Enzensberger: „Überlebenskünstler. 99 literarische Vignetten aus dem 20. Jahrhundert“. Suhrkamp Verlag, Berlin, 377 S., 24 Euro.




Auseinandersetzung mit der „Neuen Rechten“ als Hauptthema – eine Nachlese zur PEN-Jahrestagung

Gastautor Heinrich Peuckmann über das Jahrestreffen der Schriftstellervereinigung PEN in Göttingen:

2017 hatte die Jahrestagung des PEN in Dortmund stattgefunden und die knapp 150 Schriftsteller waren beeindruckt gewesen von dem Erscheinungsbild der Stadt und ihrem weit vorangeschrittenen Strukturwandel. Die diesjährige Tagung fand nun Ende April in Göttingen statt, ein Tagungsort mit großer Symbolkraft für den PEN, denn dort wurde nach der Nazidiktatur vor 70 Jahren der deutsche PEN wiedergegründet.

Das Präsidium des deutschen PEN-Zentrums bei der Jahrestagung in Göttingen (von links): Franziska Sperr, Tanja Kinkel, Ralf Nestmeier, Nora Bossong, Ilja Trojanow, Jutta Sauer, Regula Venske (Präsidentin), Jürgen Jankofsky, Heinrich Peuckmann und Carlos Colido Seidel. (Foto: PEN)

Das Präsidium des deutschen PEN-Zentrums bei der Jahrestagung in Göttingen (von links): Franziska Sperr, Tanja Kinkel, Ralf Nestmeier, Nora Bossong, Ilija Trojanow, Jutta Sauer, Regula Venske (Präsidentin), Jürgen Jankofsky (halb verdeckt), Heinrich Peuckmann und Carlos Colido Seidel. (Foto: Felix Hille/PEN)

Damals waren noch Autoren aus Ost und West dabei, bevor es 1951 zur Spaltung kam. Hans Henny Jahnn war dabei, Erich Kästner, Kasimir Edschmid, Johannes R. Becher und andere. Die heutigen PEN-Mitglieder nutzten die Gelegenheit, den Gründungsraum im alten Göttinger Rathaus zu besichtigen. Mittendrin steht dort ein großer Tisch, an dem die damalige Sitzung stattfand.

Gut 120 Schriftsteller waren diesmal gekommen und folgten dem Motto von Günter Weisenborn „Denken Sie ihre Gedanken zu Ende“, ein Zitat aus seiner Göttinger Kantate, die die Warnung von 18 Wissenschaftlern vor den großen Gefahren des Jahrhunderts, vor allem vor einem Atomkrieg, szenisch darstellt.

Die Grenzen der freien Meinungsäußerung

Die Gedanken, die die Schriftsteller diesmal bewegten und die unbedingt, auch über die Tagung hinaus nicht nur zu Ende, sondern immer weitergedacht werden müssen, betrafen die „Neue Rechte“. „Das Recht auf freie Meinungsäußerung und die Neue Rechte“, war Thema einer großen Podiumsdiskussion, an der u.a. Ulrich Greiner und Zoe Beck teilnahmen. Zoe Beck vor allem nahm scharf Stellung gegen das Denken der Neuen Rechten, die sich gerne als Opfer darstellen, weil man ihnen angeblich das Recht auf freie Meinungsäußerung nehme, ein Recht, für das der PEN ja gerade steht. Deshalb wurden auch keine Rufe nach Verboten laut, sondern es wurde festgestellt, dass das Strafgesetzbuch die Grenzen der Meinungsäußerung festlege.

Im Übrigen will sich der PEN auf eine engagierte und in der Sache scharfe Auseinandersetzung mit den Rechten, ihren Ideologen und Verlagen einstellen. Beim „Kampf um die Köpfe“ (Gramsci) gelte, die Meinungshoheit für ein humanes, friedfertiges Denken und Handeln zu bewahren und vor allem Rassismus keine Chance zu lassen. Ulrich Greiner betonte dagegen die Berechtigung konservativen Denkens, verwahrte sich gegen eine unterstellte Nähe zur AfD, blieb aber trotzdem eine klare Antwort zum Thema schuldig.

In der Nachfolge von Oswald Spengler, Carl Schmitt und Ernst Jünger

In einem Eingangsreferat hatte der Historiker Ulrich Sieg das rechte Denken in der Weimarer Republik dargestellt, dabei aber Parallelen zu heutigem Denken weitgehend vermieden. Die wurden allerdings von den PEN-Autoren im Publikum gezogen, indem aufgezeigt wurde, wie weit die Wortführer der heuten Rechten, etwa Götz Kubischek, das Denken von Oswald Spengler, Carl Schmitt oder auch Ernst Jünger aufgreifen. Parallelen, das wurde weitgehend festgestellt, sind sehr wohl möglich.

Die Neue Rechte war außerdem in einer internen Arbeitsgruppe Thema. Es wurde beschlossen, dies immer neu zu diskutieren, um immer neu auf Strategien und Inhalte der Rechten zu reagieren. Eine einmal gefundene Strategie gebe es nicht, man müsse sich immer neu auf Taktik und Argumentation der Neuen Rechten einstellen.

„Auf der Flucht vor der Machete“ in Bangladesch

In einer anderen großen Podiumsdiskussion ging es im engeren Sinne um die Situation der Blogger in Bangladesch. „Auf der Flucht vor der Machete“ war der Titel dieser Diskussion und er griff das brutale Handeln von radikalen Islamisten in Bangladesch auf, die jene Blogger, die einen liberalen Islam vertreten oder die Atheisten sind, nicht einfach nur töten, sondern mit der Machete brutal zerhacken. Zwei Blogger, die im Writers-in-Exile-Programm des deutschen PEN sind, die eine Wohnung und ein Stipendium gestellt bekommen, waren an der Diskussion beteiligt, u.a. Zobaen Sondhi, der sehr bekannt in Bangladesch war.

Im weiteren Sinne wurde Bangladesch als Beispiel genommen für die weltweite Verfolgung unbequemer Schriftsteller, Journalisten und Blogger, die mit Folter, Gefängnis oder sogar Tod bedroht sind und dies nicht nur in fernen Ländern, sondern auch ganz in unserer Nähe, in der Slowakei etwa oder auf Malta, wo gerade erst investigative Journalisten brutal ermordet wurden. Selbst Deutschland ist betroffen. Can Dündar wird gegenwärtig von fünf Personenschützern rund um die Uhr bewacht. Etwa 900 Autorennamen stehen gegenwärtig auf der Caselist.

Resolutionen gegen Wettrüsten und Waffenexporte

Resolutionen wurden auch verabschiedet, dazu gehörte die Aufforderung an die Bundesregierung, sich entschieden von dem durch die USA, Russland, China und NATO angeheizten Wettrüsten zu distanzieren. Anstatt die Verteidigungsausgaben auf zwei Prozent des BIP zu erhöhen, sollte in Konfliktvermeidung, Beseitigung von Kriegsfolgen und Entwicklungshilfe investiert werden.

Ebenfalls rief der deutsche PEN die Bundesregierung dazu auf, in der anstehenden juristischen Aufarbeitung illegaler deutscher Waffenexporte absolut transparent vorzugehen und in vollem Umfang mit der Justiz zusammenzuarbeiten.

Auch die Möglichkeit, dass die AfD den Vorsitz im Unterausschuss für auswärtige Kultur- und Bildungspolitik übernehmen könnte, war dem PEN ein Dorn im Auge. Er forderte die übrigen Parteien auf, von ihrem Zugriffsrecht Gebrauch zu machen und einen AfD-Abgeordneten als Vertreter deutscher Kultur und Bildung im Ausland unbedingt zu verhindern.

Neben all den Inhalten nutzten die Autoren auch dieses Treffen wieder zu Gesprächen untereinander. Freundschaften wurden gepflegt, man lernte neue Kolleginnen und Kollegen kennen, Kontakte wurden vertieft und Projekte untereinander verabredet. Autoren sind Einzelgänger. Ihre Arbeit findet einsam an ihrem Schreitisch statt. Umso schöner, wenn man sich dann für ein paar Tage trifft und ausgiebig miteinander reden kann. Göttingen, wurde damit festgestellt, hat ebenso schöne und gemütliche Orte wie Dortmund, an denen man sich treffen und nach Herzenslust miteinander reden kann.

Das nächste PEN-Jahrestreffen findet 2019 in Chemnitz statt.

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Revierpassagen-Gastautor Heinrich Peuckmann ist Mitglied des deutschen PEN-Zentrums und Beisitzer des Präsidiums.

 

 




„Freundin der Kinder“ – die Hammer Autorin Ilse Bintig

Gastautor Heinrich Peuckmann erinnert an die Kinder- und Jugendbuchautorin Ilse Bintig aus Hamm:

„Wenn ich erst mal pensioniert bin, schreibe ich ein Buch.“ Das ist ein Satz, den man als Autor gelegentlich von ambitionierten Menschen hören kann, und es ist besser, nicht darauf zu antworten. Warum sollte man jemandem seine Hoffnungen nehmen? Denn nach allen Erfahrungen gilt, dass man im Alter nicht etwas neu beginnen kann, was man vorher nicht geübt hat.

Und doch gibt es Ausnahmen. Die Hammer Kinder- und Jugendbuchautorin Ilse Bintig ist wohl die erfolgreichste, die dem Erfahrungssatz widerspricht. Ilse Bintig hat im Grunde zwei Leben gelebt. Zuerst das Leben als Ehefrau, Mutter und Lehrerin. Erst spät hat sie ihren Sohn Holger bekommen und ihre ganze Aufmerksamkeit galt fortan dem Wunschkind. Daneben war sie an einer Grund- und später einer Hauptschule eine engagierte Lehrerin, die ihre Arbeit mit großem Ernst und großer Freude erledigte, so dass für eine Nebentätigkeit keine Zeit blieb.

Den heimlichen Wunsch zu schreiben, hat sie in dieser Zeit nicht ausgelebt, aber er war da, schon seit Jugendzeit. Ilse Bintig wollte nämlich eigentlich gar nicht Lehrerin werden, Journalismus, das war ihr Traumberuf. Aber nach dem Abitur 1943 gab es keine Möglichkeit, dies zu studieren. Erst zwei Jahre nach Kriegsende bekam sie einen Studienplatz für Pädagogik. Und wenn es auch nicht ihr Traumberuf war, Lehrerin zu werden, Ilse Bintig ist es trotzdem gerne gewesen. Ihre Schüler, die sich bis zu ihrem Tod bei ihr meldeten, haben es ihr gedankt.

Zweites Leben nach der Pensionierung

Aber Ilse Bintig war zäh. Zäh im Verfolgen ihrer Ziele, gerade auch des heimlichen Ziels. In der Schule übernahm sie die Bücherei, und sie hat nicht einfach nur Bücher bestellt, von denen sie hörte, dass sie gut seien. Ilse Bintig hat sie fast alle gelesen. Sie wusste also, als sie 1984, mit sechzig Jahren, pensioniert wurde, welche Themen Kinder und Jugendliche interessieren, wie man eine Geschichte spannend aufbaut und vor allem wie man sie so erzählt, dass sich junge Menschen angesprochen fühlen.

Frei gelassen von den Pflichten ihres ersten Lebens, legte Ilse Bintig dann in einem Schreibtempo los, das lange seinesgleichen sucht. Kinderbuch auf Kinderbuch erschien. Und gleichzeitig brachte sie sich in die Literaturszene ein, wurde Mitglied im Schriftstellerverband, unterstützte Initiativen zur Literaturförderung und war maßgeblich an der Gründung des Westfälischen Literaturbüros in Unna beteiligt.

Beste Zeit beim Bitter-Verlag in Recklinghausen

Zuerst veröffentlichte sie im Kölner Pick-Verlag, dann wechselte sie zum damals sehr erfolgreichen Bitter-Verlag nach Recklinghausen und ihre beste Zeit begann. Man tut wohl niemandem Unrecht, wenn man sagt, dass Ilse Bintig neben Josef Reding viele Jahre lang erfolgreichste Autorin des Bitter-Verlags gewesen ist. Bücher wie „Paß bloß auf, du … Geschichten vom Zanken, Streiten und Vertragen“ sowie „Dominik und Löwenmähne. Geschichten von Liebe, Wut und anderen Gefühlen“ entstanden. Aber sie griff auch in ihre eigene Kindheit zurück und schrieb „Die Leierkastenfrau. Uroma erzählt von früher.“

Ilse Bintig folgte in ihrer Konzeption nicht der modischen Meinung mancher Kinderbuchautoren, dass Kinderliteratur völlig frei sei, dass sie keinem Auftrag folge und damit letztlich anzusehen sei wie all die übrige Literatur. Als Lehrerin, die sie über 30 Jahre lang gewesen ist, wusste sie es besser. Kinder brauchen liebevolle Zuwendung, sie brauchen Hilfestellung, um ihren Weg ins Leben zu finden und manchmal brauchen sie einfach nur einen guten Anlass, um laut loslachen zu können. Deshalb hatte sie nichts dagegen, dass eines ihrer Bücher den Untertitel „Mutmachgeschichten“ erhielt, der die Absicht verriet, die mit dem Buch verfolgt wurde.

Bloß keine Zeit mit Zank verschwenden

Ilse Bintig wusste, dass nicht der Untertitel wichtig war, sondern dass es auf etwas ganz anderes ankam. Pralle Charaktere mussten ihre Geschichten enthalten, spannende und lustige Abenteuer mussten ihre kleinen Helden erleben und dabei – ohne pädagogisch zu werden – etwas über das Leben erfahren, über seine düsteren, vor allem aber über seine angenehmen Seiten. Das Leben ist schön, das ist es, was ihre Geschichten verraten. Weshalb sollten die Kinder sich deshalb die Zeit mit Zanken vergällen, sie machten sich das Leben nur unnötig schwer. Besser sollten sie ihren Gefühlen freien Lauf lassen und vor allem sollten sie optimistisch in die Welt der Erwachsenen eintreten.

Ab 1984 erschien von Ilse Bintig mindestens ein Buch pro Jahr, oft waren es zwei oder sogar drei. Es war so, als hätte sie ihr Leben lang Ideen gesammelt und nur auf die Zeit gewartet, in der sie alle niederschreiben konnte. In dieser Zeit hat Ilse Bintig viele Lesungen gehalten, war unter Grundschullehrern eine Autorengröße, die man gerne einlud. Ilse Bintig hat diese Lesungen, die sie trotz ihres doch schon hohen Alters mit Bravour meisterte, dazu benutzt, um die Stimmung der Kinder aufzunehmen. Um dabei zu lernen, was die Kinder interessierte und was sie folglich in ihrem nächsten Kinderbuch thematisieren sollte.

Der Flieger Hanno war ihre Jugendliebe

Aber es waren nicht nur Kinderbücher, die sie schrieb. Zwei Jugendbücher, die auch Erwachsene gut lesen können, ragen unter ihren gut 40 eigenständigen Werken heraus. In „Lieber Hanno“, einem Briefroman, thematisiert Ilse Bintig ihre eigene, erste große Liebe. Im Grunde besteht der Roman aus den Briefen, die sie bis Juli 1944 an ihre Jugendliebe schrieb, an Hanno, den Flieger, der  abgeschossen wurde und  nie zu ihr zurückkam.

Ein Freund von Hanno hat ihr die eigenen Briefe nach dem Tod des Fliegers zurück geschickt, als Autorin hat Ilse Bintig sie in die richtige Reihenfolge gebracht und mit den Briefen ihres Freundes kombiniert. Ein tief beeindruckendes Buch ist auf diese Weise entstanden, das von den Hoffnungen erzählt, die zwei junge Menschen an das Leben hatten und die brutal zerstört wurden. Es ist ein Buch, das zum Frieden mahnt, indem es die schreckliche Seite des Krieges unverblümt darstellt. Da wurden Hoffnungen zerstört, wurde ein Leben abgebrochen und mit ihm eine Liebe. Was hätte werden können, was alles wäre möglich gewesen? In der Folge dieses Buches hat Ilse Bintig sich mehrfach mit Antoine de Saint-Exupery beschäftigt, der ja auch ein begeisterter Flieger war und der ebenfalls im Krieg sein Leben lassen musste. Zum „Kleinen Prinzen“ hat sie eine Ergänzungsgeschichte geschrieben.

„Trümmer und Träume“: Frage nach Mitschuld der Mutter

Ihr zweites wichtiges Jugendbuch „Trümmer und Träume“ ist ebenfalls stark autobiographisch geprägt. Ilse Bintigs Mutter war im Krieg bei der NS-Frauenschaft tätig. Eher unbedacht und aus Pflichtgefühl ist sie da hineingeraten, wurde nach dem Krieg als „Mittäterin“ eingestuft und inhaftiert. Aus der Sicht der Tochter, also aus Ilse Bintigs eigener Sicht, wird nun der Verlust der Mutter und der Versuch, sie aus dem Lager frei zu bekommen, dargestellt. Die Sicht der Tochter auf die Mutter ist natürlich die des liebenden Kindes, das unter dem Verlust leidet. Sie umkreist die Frage nach der Schuld. Wie viel ist der Mutter anzulasten, wie ist sie da hineingeraten? Die Geschichte ist authentisch, sie ist spannend und sie zeigt, wie die Kleinen die Suppe auszulöffeln hatten, während die Großen, die sie eingebrockt hatten, oft genug ungeschoren davon kamen.

Gelegentlich wurde Ilse Bintig bei Lesungen der Vorwurf gemacht, den Faschismus zu verharmlosen, aber das war ein ganz und gar unberechtigter Vorwurf. Es ging ihr schon um die Rehabilitierung ihrer Mutter, das merkt man beim Lesen des Buches, aber eine Verharmlosung, gar Verklärung des Faschismus, ist das Buch auf keinen Fall. Im Gegenteil, es zeigt, wie die Tochter all die falschen Vorstellungen, die ihr im Umfeld, in der Schule eingehämmert wurden, nach und nach mit Einrücken der Alliierten und dem Ende des Krieges verliert und wie sie Klarheit gewinnt für eine Zukunft in Demokratie.

Ein Stück Sozialgeschichte des Ruhrgebiets

Völlig zurecht wurde „Trümmer und Träume“ Buch des Monats bei der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur. Eine Auszeichnung, über die Ilse Bintig sich sehr gefreut hat. Auszeichnungen bekam sie noch 1989 bei einem Schreibwettbewerb des WDR, bei dem sie den ersten Preis belegte, dazu erhielt sie 1990 den „Alfred-Müller-Felsenburg-Preis“.

Etwas unbeachtet blieb ihr Buch für Erwachsene. „Zwischen Fördertürmen und Fabrikschornsteinen“ heißt es und schildert ihre Jugend in Hamm. In sehr lebendig erzählten Erinnerungen wird hier ein Stück Sozialgeschichte des Ruhrgebiets sichtbar. Vielleicht war es die Begrenzung auf Hamm, die ein größeres Interesse ausbleiben ließ, was aber, wenn es so wäre, falsch ist. Gerade am Konkreten, am Lokalen, schimmert viel Allgemeingültiges durch.

Viele Kinderklassiker nacherzählt

In ihren letzten Jahren erzählte Ilse Bintig für den Arena-Verlag Kinderklassiker nach. „Nussknacker und Mausekönig“ von E.T.A. Hoffmann, „Peter Pan“, „Nils Holgerson“, „Die Schatzinsel“, „Till Eulenspiegel“ und viele andere Klassiker hat sie nacherzählt. Der Verlag wusste, warum er sie, inzwischen schon weit über achtzig Jahre alt, immer wieder ansprach, wenn ein weiterer Klassiker  neu erzählt werden sollte. Ilse Bintig fiel es leicht, sich in Themen und Schreibweisen einzufühlen. Die von ihr erzählten Klassiker erreichten hohe Auflagen und wurden in viele Sprachen übersetzt.

Meine „Büchskes“ nannte Ilse Bintig diese schön aufgemachten Bücher. Wenn ihr nach und nach die Kraft für eigene Bücher verloren ging, so hat das Nacherzählen der Klassiker sie jung gehalten und nach Krankheiten, die sich häuften, immer wieder neue Kraft fürs Leben gegeben. Diese Kraft gaben ihr auch ihr beiden Enkel, Anna und Hauke, die sie spät zur Oma werden ließen. Zu einer Oma, die diese Aufgabe wieder mit der ihr eigenen großen Freude und Liebe anging.

90 Jahre alt ist Ilse Bintig geworden. Ihren 90. Geburtstag, von der Stadt Hamm stark beachtet, hat sie noch begehen können. Nur 5 Tage später, am 12. April 2014, ist sie friedlich eingeschlafen. „Als Mutter, Großmutter, Lehrerin und Autorin war sie eine Freundin der Kinder“ stand in der Todesanzeige. Besser konnte man es nicht ausdrücken.

 

 

 




Zwölfstündiger Theatermarathon: Deutschlandpremiere nach Roberto Bolaños „2666“ am Schauspiel Köln

12 Stunden Theater: Das ist selbst für Begeisterte, Süchtige oder Menschen mit ganz viel Zeit eine Herausforderung. Das Schauspiel Köln hat es gewagt und mit „2666“ von Roberto Bolaño Ostern eine Produktion zur Deutschlandpremiere eingeladen, die bereits auf dem Theaterfestival von Avignon für Furore sorgte.

Szenenbild aus dem Oster-Event in Köln, basierend auf dem Roman „2666“ von Roberto Bolaño
(Foto: Simon Gosselin)

Um 11 Uhr am Ostersamstag ging es los, um 23 Uhr kamen wir etwas erschöpft, aber glücklich und an allen Sinnen geschärft aus diesem „Wahnsinnswerk“ wieder heraus. Zudem versunken in die unvergleichliche französische Sprache, deren Sätze noch tagelang in meinem Kopf nachhallten. Durch Übertitel konnte man aber der Handlung, teilweise auch auf Spanisch, Englisch und ein wenig auf Deutsch, gut folgen.

Vier Pausen mit Eintopf und Osterbraten

Außerdem hatte sich das Schauspiel Köln mit dem begleitenden Menü, das in vier Pausen serviert wurde, viel Mühe gegeben: An langen österlich dekorierten Tischen im Foyer des Depots gab es Eintopf, Kuchen, Sandwiches und Osterbraten sowie gute Gespräche mit anderen Zuschauern über das soeben im Theatersaal Erlebte. Doch was geschah eigentlich dort?

Basierend auf dem Kultroman 2666 des chilenischen Autors Roberto Bolaño, entfaltet der französische Regisseur Julien Gosselin mit seiner Kompanie „Si vous ne pouviez lécher mon coeur“ eine ganze Welt, in der es um europäische und südamerikanische Literatur und Literaturforschung, um Verbrechen, Korruption und Gewalt in der mexikanischen Stadt Santa Teresa und um die deutsche Vergangenheit geht.

Auf den Spuren eines deutschen Schriftstellers

Konkret erzählt Bolanos Jahrhundertroman, der 2004 ein Jahr nach seinem Tod erschien, die Geschichte des (fiktiven) deutschen Schriftstellers Benno von Archimboldi, 1920 geboren, dem vier Literaturwissenschaftler auf der Spur sind – denn niemand kennt ihn persönlich. Die Engländerin, ein Franzose, ein Spanier und ein Italiener treffen sich auf Konferenzen in ganz Europa, um das Geheimnis von Archimboldis Identität zu lüften und für eine literarische Sensation zu sorgen. Schließlich führt sie ihre Spur in die von Korruption und Gewalt gegen Frauen geschüttelte Stadt Santa Teresa im Norden Mexikos. Hier treffen sie auf den spanischen Gelehrten Amalfitano und dessen Tochter Rosa, die wiederum Bekanntschaft mit dem amerikanischen Journalisten Fate macht, der über 200 grausame Frauenmorde in Santa Teresa recherchiert.

Szene aus dem letzten Teil von 2666
(Foto: Simon Gosselin)

Die Inszenierung folgt einem schnellen Rhythmus und erzählt die komplizierte Geschichte erstaunlich stringent und anschaulich. Die Live-Kamera wird nahezu kongenial eingesetzt und verbindet die Handlungsebenen und Räume. Besonders beeindruckend gerät der dritte Teil, der hauptsächlich in einer mexikanischen Disko angesiedelt ist: Die Bässe brummen derart, dass man es körperlich spürt und das Gefühl hat, im Hexenkessel mit dabei zu sein.

In der Fremdheit so nah

Die Figuren kommen einem in ihrer Fremdheit erstaunlich nah – wie im Reality TV. Zugleich fesselt einen die unglaubliche intellektuelle Aura und manchmal fast ausschweifende Sprachgewalt dieses außergewöhnlichen Romans. Die großartigen Schauspieler schaffen es, dass die Kopfgeburten zum Leben erweckt werden und sich auf der Bühne sozusagen manifestieren.

An die Nieren geht der vierte, „Der Teil von den Verbrechen“, in dessen Zentrum die Frauenmorde stehen. Gosselin verzichtet zwar weitestgehend darauf, gewalttätige Bilder zu zeigen, aber blendet alle Fälle im Polizeiberichtstil nacheinander auf einer Leinwand ein, so dass die schier endlose Folge von schrecklichen Details des Tathergangs über zwei Stunden nahezu unerträglich wird – entsprechend der Monstrosität der Verbrechen selbst.

Im letzten Teil schließlich wird das Leben Hans Reiters erzählt, der sich später Archimboldi nannte: Beginnend mit seiner Jugend, über seine Erfahrungen und (Un)Taten als Soldat im Zweiten Weltkrieg bis hin zu seiner Entwicklung zum Autor in der Nachkriegszeit.

Zweifacher Blick auf Naziverbrechen

Interessant ist der zweifache Blick des südamerikanischen Schriftstellers und des französischen Regisseurs auf die Naziverbrechen im Dritten Reich, der sich schon im Bühnenbild (Hubert Colas) ausdrückt: Die Handlung spielt meist in einem mit Rauch bzw. Gas gefüllten Plastikkasten. Zum Ende hin laufen die Handlungsstränge wieder im mexikanischen Santa Teresa zusammen, denn der Neffe Archimboldis sitzt wegen der Frauenmorde im Gefängnis ein – wirklich begangen hat er sie nicht, zumindest nicht alleine. Verantwortlich dafür ist eine korrupte mexikanisch-amerikanische Clique aus Verbrecher-Clans, Politikern und Geschäftsleuten, die die Frauen in sadistischen Orgien tötete und die Polizei zum Vertuschen zwang.

So ist die Geschichte des Romans leider auch eine der Gewalt in der Geschichte, die je nach System immer neue grausame Formen findet und finden wird – interpretiert man den Titel 2666 als zukünftige Jahreszahl, wie es wohl im Sinne Bolaños lag.

Wahrlich kein leichter Stoff, aber ein großes Kunstwerk.

Weitere Informationen:
www.2666.koeln und www.schauspiel.koeln




Verwirrspiel zwischen Phantasie und Wirklichkeit: Peter Stamms Roman „Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt“

In einem Roman hat Christoph vom Scheitern seiner großen Liebe zur Schauspielerin Magdalena erzählt. Das ist viele Jahre her. Seitdem ist er literarisch verstummt. Als er die junge Schauspielerin Lena trifft, erzählt er ihr seine Geschichte, die auch ihre Geschichte ist. Denn alles, was Lena gerade erlebt, hat auch Christoph bereits erlebt.

Er weiß auch, was ihr Freund Chris, der an einem Roman über seine Beziehung zu Lena arbeitet, schreiben wird, denn er hat das Buch ja längst vor Jahren selbst verfasst. Wie kann es sein, dass Christoph meint, Lenas Leben zu kennen und zu wissen, was ihr noch widerfahren wird? Spioniert Christoph ihr nach oder vermischen sich auf magische Weise Literatur und Wirklichkeit?

Bevor der 1963 in der Schweiz geborene Peter Stamm Schriftsteller wurde, hat er sich mit Psychologie und Psychopathologie beschäftigt und in Paris und New York gelebt. Doch dann ist er zurück in seine Heimat gegangen. Seit er 1998 mit „Agnes“ als Erzähler debütierte, gehört er zu den wichtigsten Autoren der deutschsprachigen Literatur.

Zuletzt hatte Stamm („Weit über das Land“) von einem Mann erzählt, der eines Abends plötzlich ohne ein Wort der Erklärung aufsteht, Frau und Kinder verlässt und zu einer jahrelangen Wanderung aufbricht, von der er vielleicht nie wieder heimkehren wird. In seinem neuen Roman erzählt er von einem Schriftsteller, der sich nicht mit der „Gleichgültigkeit der Welt“ gegenüber dem Einzelschicksal abfinden mag und alles daran setzt, die Trennung von Literatur und Leben aufzuheben.

Varianten des Lebens erproben

Es ist ein vorsichtiges Tasten und Abwägen, ein Ausprobieren von nur leicht variierten Lebenswegen, die sich sanft berühren und dann doch unterscheiden. Der Leser wird tief hineingezogen in eine seltsame Spirale aus Erinnerungen und Erfindungen, er weiß nie: Was ist Wahrheit, was Lüge? Ist vielleicht alles, was Christoph über seine Vergangenheit, seine Liebe zu Magdalena und seinen (längst vergessenen und vergriffenen) Roman erzählt, nur Wunschdenken und Phantasie? Findet seine Begegnung mit Lena und Chris wirklich statt? Oder sind die Doppelgänger nur die andere Seite seiner schizophrenen Persönlichkeit?

Um sich von seinen Doppelgänger-Visionen zu befreien, flieht Christoph erst für ein paar Jahre nach Barcelona, später verkriecht er sich als Internatslehrer ins Engadin und versucht, den alten Roman noch einmal neu zu schreiben, um sich seiner Erinnerungen zu vergewissern und herauszufinden, ob er damals sein reales oder sein eingebildetes Leben aufgeschrieben hat.

Bei seinen – eingebildeten oder wirklichen? – Recherchen und Gesprächen erfährt Christoph, dass es Abweichungen gibt: Während Christoph und Magdalena sich einst im Streit für immer trennten, haben Chris und Lena aus einer Laune heraus geheiratet.

Ein ziemlich vertracktes literarisches Spiel. Dass es nicht wirklich gut enden kann, liegt auf der Hand. Vor allem bei einem Autor, der von sich sagt, er habe schon immer davon geträumt, „von allem befreit dem Leben zu entkommen, ohne eine Spur zu hinterlassen.“

Peter Stamm: „Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt“. Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main. 156 Seiten, 20 Euro.




Entzifferung einer fremden Welt: Georg Kleins Roman „Miakro“

Miakro – der Romantitel lässt vermuten, dass es um eine Verschmelzung von Mikro und Makro gehen könnte, doch beim Lesen lassen die bestätigenden Indizien auf sich warten. Wie überhaupt die Ungewissheit, das Mutmaßen und Mitdenken zu den beglückenden Wesenheiten dieser Lektüre gehören.

Den Anfang bildet ein Tableau einer Arbeitswelt, das zugleich mehr zu sein verspricht. Im „Mittleren Büro“ stehen Männer wie die Musiker der Gruppe Kraftwerk an ihren Pulten, allerdings in hellblauen Overalls, die Hände in die obersten der fünf Schichten ihres Bildschirms eingetaucht, und interpretieren die von rechts nach links vorüberfließenden Bilder und Zeichen. Ihr gesamtes Weltwissen beziehen sie aus dem „weichen Glas“.

Büroarbeit als Höhlengleichnis

Es sind unscharfe, schemenhafte Bilder; und ähnlich wie die Gefangenen in Platons Höhlengleichnis die auf der Wand vorüberziehenden Schatten zu deuten versuchen, wollen auch die „höchstnützlichen Idioten“, wie sie genannt werden, sich einen Reim darauf machen, was die Welt ist. Worin ihre Nützlichkeit besteht, ob Karl Marx ihr Tun als Arbeit in einem produktiven Sinne definiert hätte, bleibt fraglich. Vermutlich würde eine Consulting-Firma ihre Arbeitsplätze wegrationalisieren. Aber sie deuten, die „Büroler“. Sie versuchen die Welt – die Außenwelt ebenso wie die eigene Binnenwelt – zu verstehen. Nicht zuletzt, weil ihr Überleben davon abhängt, wo das Glas ihnen den nächsten Nährflur aufzeigt.

Nährflure und Materialschächte

Gab es im Ritterroman Witiko von Adalbert Stifter die nahrungtragende Flur, ist es im Roman von Georg Klein der Nährflur. Gewöhnlich sondert die bleiche Wand „Dicksprossen“ ab, seltener Süßkartoffeln in unterschiedlichen Graden der Genießbarkeit. Aber auch nicht-essbare Dinge werden in ständig neuen sich öffnenden und schließenden Materialschächten „ausgewandet“, sozusagen von der organischen Wand geboren, seien es hellblaue Overalls oder die begehrten Sandalen, sei es eine Gabel, die später ein Eigenleben führen wird, oder ein Schockstock als Waffe, der im weiteren Verlauf der Handlung gegen eine Maus eingesetzt wird, mit möglicherweise fatalen Folgen, nicht nur für die Maus.

Die von silbernem Haardraht durchwucherte weiche Wand versorgt die sich in ihren Kojen erholenden Arbeiter über „Zapfstummel“, an denen sie jederzeit saugen können, mit Trinkwasser. Auch ihre Arbeitstische sind Organismen – zehn Tage benötigt solch ein Pult mit weichem Glas, bis die schrumpeligen Knospen auf Hüfthöhe herangewachsen sind, und je nach dem Bauchumfang ihrer Bediener, der aber nur bei einem von ihnen ausgeprägt ist, bildet sich eine Mulde im Display. Als ein totgeglaubter, auf einem früheren Streifzug zur Materialbeschaffung wie in einer Art rückgängiger Geburt von der Wand eingesogener Kollege über das „weiche Glas“ Lebenszeichen sendet, bricht aus dem Büro eine Vierergruppe zu einer Expedition an den Rand der „wilden Welt“ auf, um den Verschollenen zu suchen.

Aufbruch zur Heldenreise

Für den ehemaligen Büroleiter Nettler, den erfahrenen Guler, den kräftigen Axler und den schönen Schiller beginnt, sobald sie die Schleuse mit den blauen Blitzen hinter sich gelassen haben, eine ritterliche Quest, eine Âventiure oder Heldenreise, wobei sie sich mit schlafwandlerischer Sicherheit durch die fremde Welt bewegen, als müssten sie sich nur rückbesinnen. In jeder Situation wissen sie, was zu tun ist, ohne zu wissen, woher sie ihr Wissen beziehen. Allen voran ist es Guler, der sich an ein früheres Stadium, ein vorausgegangenes Leben vor dem Eintritt ins Mittlere Büro erinnert; konkret ist es das Schulungsjahr im „Hohen Büro“. Er, der versierte Materialkundler, ein guter Diagnostiker der Zustände, muss immerzu achtgeben, sich nicht durch vorlautes Bescheidwissen zu verraten.

Die „wilde Welt“ ist die Domäne der Beute jagenden „Volksfrauen“, aber auch der in langen Kutten gekleideten „Wandler“, eine Art Kaste von Heilern, hochspezialisierten Technikern oder Schamanen, die jedoch unfähig sind, das Mienenspiel ihres Gegenübers intuitiv zu erfassen. Einmal bringen sich die vier Ausreißer in den Genuss einer Flasche aus dunkelgrünem Glas, die sie einem schlafenden Wandler entwenden. Das Trinken des Inhalts ruft bei ihnen die verschiedensten Reaktionen hervor: Heiterkeitsausbrüche durch wortloses Verstehen, das Bedürfnis nachzudenken, Regression ins Krabbelalter, eine besondere Aufmerksamkeit für das blaue Licht und überhaupt veränderte Sinneswahrnehmungen, oder auch wie bei Guler Schwatzlust oder Neugier, „die das Maß des bürolich gewohnten Wissenwollens“ unangenehm überschreitet.

Über einen Aufzug gelangen sie in das dritte Stockwerk – wie leicht lässt sich im stumpfen Spiegel des Aufzugs das „E“ für Erdgeschoss, wohin sie eigentlich wollten, mit einer Drei verwechseln. Sie fahren jedenfalls nach oben, in eine Welt, wo ihnen die wirklichen Dinge begegnen, die sie bislang nur als unzureichende Abbilder von ihren Bildschirmen kannten. „Breitbeinig stehen sie da, genießen unübersehbar, dass alles, restlos alles um sie herum verheißt, auf eine andere Art präsent zu sein.“

Papiertaschentuch in der Ur-Jeans

Zunächst begegnet ihnen ein Stück Laminat, in der Außenwelt als Pseudoholz oder Falschholz bezeichnet. Von Nettler aber wird der ihm zuvor nur als unvollkommenes Abbild begegnete Gegenstand weihevoll wie ein Kultobjekt angesprochen. In einem Umkleideraum öffnen sie einen Spind, finden einen Pullover. „Dann greifen Nettlers Finger nach der Hose, die, ebenso ordentlich gefaltet wie dieser, unter dem Wollpullover gelegen hat. Ihr Stoff ähnelt dem ihrer Overalls, ist aber nicht ganz so glatt, ihr Blau ist ungleichmäßig dunkel, man könnte glauben, die Zeit, in der sie sich um die Hüften und Schenkel ihres Trägers spannte, hätte mit einem ihr eigenen Durst an gewissen Stellen einen Teil der Farbe wie eine Flüssigkeit herausgesogen.

Findet er dann in einer Tasche des bestaunenswerten Urbilds einer Blue Jeans – sozusagen der Jeans an sich – ein Papiertaschentuch, wird ihm wie durch platonische Anamnesis sogleich der Verwendungszweck klar, und er, der ebenso wenig wie seine Kollegen in der hermetischen Bürowelt auch nur den Anflug einer Krankheit kennengelernt hat, schnäuzt sich vor den Augen der ihn entgeistert angaffenden Kameraden. Manchmal verdankt es sich aber auch einem Unfall, wenn einem von ihnen „eine Rückschau in ihr Herkommen glückt“.

Ein eher unverbindliches Sterben

Im oberen Stockwerk stößt die Gruppe an die Grenze zur Außenwelt. Nun wechselt die Perspektive; eine mit militärischem Gerät ausgestattete Truppe observiert ein Objekt, ein quaderförmiges Industriegebäude, das von Riesenpilzen mit bläulichen Kappen durchwirkt ist – ein beängstigendes Wuchern, das mit einer ganzen Hundertschaft bekämpft werden muss. Frau Fachleutnant Xazy, die zugleich Naturkontrollagentin ist, erweist sich als eine toughe und kompetente Vorgesetzte, die vor dem Alleingang in das sich bedrohlich ausformende Objekt, das „Unding“, nicht zurückschreckt.

Zuvor hatte sich ein kleiner Stoßtrupp vorgewagt, der, auch was die Namen der Beteiligten betrifft, in einer verzerrten Spiegelung der anderen Gruppe ähnelt, die ihnen aus dem Inneren des organischen Baus entgegenkommt. Obwohl zahlreiche Todesopfer zu beklagen sind, kann nicht behauptet werden, hier würde ein Krieg mit allen seinen Gräueln geschildert. Gestorben, wenn überhaupt, wird eher unverbindlich wie in Computerspielen.

Der Roman ist jedoch keine rein gedankliche Versuchsanordnung. Neben allem erlösenden Lachen, das die abstruse Handlung, aber auch die vielen geglückten Formulierungen bei einer Vielzahl der Leserinnen und Lesern auslösen dürften, wird auch gefühlvoll eine subtile Erotik angedeutet – zwischen einigen der Männer, zwischen dem Bürovorsteher und einer der „Volksfrauen“; in der Region der äußeren Welt auch zwischen Frau Fachleutnant Xazy und dem ihr untergebenen Hauptmann Blank. Aber: „Das Geschlecht hat sich im Griff“ – wie sich Guler, alias Guhl, an einen der während seiner Schulung im Chor gebrüllten Merksätze erinnert. Vielleicht ließe sich auch die Liebe in Miakro als platonisch bezeichnen.

Langsames Lesen lohnt sich

Miakro lädt ein, ein fremdes System, das dem unseren womöglich nicht so unähnlich ist, schrittweise zu verstehen. Tauchen, verbunden mit einer „Flussverlangsamung“, einzelne Buchstaben im Bilderstrom des „weichen Glases“ auf, ist bei den Bürolern hohe Konzentration gefordert. Parallel dazu sind in der etwa ab der Mitte des Romans beschriebenen Außenwelt die Bibliotheken zwar mit einigen Büchern ausgestattet, aber das systematisch gepflegte Vorlesen der mit wenigen Wörtern und hilfreichen Bildern bedruckten Buchseiten geht nur mit Improvisationskunst vonstatten. Die fünfblättrige Kladde mit einem Einband aus dünnem Holz gilt bereits als Herausforderung.

Möglicherweise steht die Entzifferung der Welt, Wort für Wort – mühsames Buchstabieren ist kein neues Motiv in Georg Kleins Romanen; man denke an Die Sonne scheint uns – als Metapher einer Leseempfehlung auch für Miakro. Langsames Lesen lohnt sich, Zurückblättern fördert Erkenntnisse, die im schnellen Lesefluss unterzugehen drohen.

Dem reduzierten Wortschatz der „Büroler“ (bei Tieren etwa kennen sie allenfalls die Gruppen wie Vögel oder Fische, nicht aber Gattungen oder Arten) setzt der Autor einen immensen sprachlichen Erfindungsreichtum entgegen. Hinreißende Formulierungen laden ein, sie sich auf der Zunge zergehen zu lassen, wäre da nicht zugleich der starke Sog der Erzählung, der uns in die Handlung hineinzieht, tiefer in die Dekodierung des rhizomartigen Baus, des wuchernden Pilzes oder der Innenansicht eines Gehirns.

Avancierte Technik geht in dieser Welt mit Archaismen einher, beispielsweise bei den Längenmaßen, die sich am ungefähren Vergleich mit Körperteilen orientieren. Befehle spielen eine große Rolle, sowohl im Sinne von Programmierung als auch im Militärischen. Dabei herrscht eine Art höherer Gerechtigkeit.

Das Staunen über die ersten Dinge

Als Dystopie gelesen, würde der Roman wenig Schrecken bereithalten. Eher entsteht der Eindruck, es folgten alle Wesen und Dinge ihrem eigenen Programm, im Sinne – um einmal von Platon zu Aristoteles zu springen – einer Vorstellung von Entelechie, also der Eigenschaft von Individuen, ihr Ziel (Telos) in sich selbst zu tragen. Es ist das Staunen über die ersten Dinge, die Georg Klein die Leserinnen und Leser miterleben lässt. Wie es an einer Stelle, aus der Perspektive eines „Wandlers“ gesprochen heißt: „Vor allem ihrem Adjutanten, der so eindrucksvoll staunen konnte, hätten Xazy und wir, die das Selber-Staunen noch Schritt für Schritt erwerben müssen, ein Hiersein und damit eine weitere Innigkeit gegönnt.

Der Autor verschafft uns viele solcher Innigkeiten. Denn was dem Suchtrupp aus dem Mittleren Büro bei der Konfrontation mit der Außenwelt widerfährt, und umgekehrt der Außenwelt mit dem unheimlichen Wesen, dürften wir mehr oder weniger alle irgendwann zum ersten Mal erlebt haben oder noch erleben. Wie eine erkenntnisbegünstigende Substanz hilft Georg Kleins Roman der Wiedererinnerung auf die Sprünge. Wir, die wir verstehen wollen, deuten im besten Sinne verwundert, was der sanfte Meister uns zu sagen hat.

Georg Klein: „Miakro. Roman. Rowohlt Verlag, Reinbek. 336 S., 24 Euro.




Heinz Mack und Goethe: Auf den Spuren des Lichts

„Mehr Licht!“ Diese letzten Worte auf dem Sterbebett wurden dem großen Johann Wolfgang von Goethe vermutlich nur angedichtet. Aber zweifellos war das Wirken gegen die Finsternis ein Leben lang eins der großen Themen des allseits verehrten Schriftstellers und Universalgelehrten, der zweimal, 1774 und 1792, das Städtchen Düsseldorf und den Freund Jacobi mit seiner Anwesenheit beehrte.

"Taten des Lichts": Ausstellungsansicht mit Arbeiten von Heinz Mack in Düsseldorf. (© Archiv Mack / VG Bild-Kunst, Bonn 2018)

„Taten des Lichts“: Ausstellungsansicht mit Arbeiten von Heinz Mack in Düsseldorf. (© Archiv Mack / VG Bild-Kunst, Bonn 2018)

Mehr Licht gibt es nun endlich im zuvor stark eingestaubten Düsseldorfer Goethe-Museum: frische weiße Farbe, neue Lampen, helle Vorhänge – und ein neues Konzept. Was uns Goethe heute noch zu sagen hat, wie modern er ist, will Direktor Christof Wingertszahn im Schloss Jägerhof der Welt zeigen. Eine weithin leuchtende Kunstausstellung von Heinz Mack wird das Publikum locken – mit „Taten des Lichts“.

Dem Freigeist stets verbunden

Lichtkünstler Mack, der in diesen Tagen 87 Jahre alt wird, hat als reifer Mann, ganz wie einst der nimmermüde Goethe, nichts von seiner Leidenschaft eingebüßt. Es macht ihn wütend, dass die herrschenden westlichen Kuratorencliquen ihn und sein Werk so oft ignorieren. „Die gegenwärtige Kunst geht über ihn hinweg“, sagt er und spricht von sich in der in der dritten Person.

In der Tat würdigt man Mack zwar als Mitbegründer der legendären Gruppe Zero, die 1957 eine neue Klarheit in die wirre Nachkriegskunst brachte. Doch aktuell bevorzugt man Konzept, Installation und Video, befasst sich exzessiv mit Banalitäten und den Neurosen der Gesellschaft. Mack hingegen konzentriert sich ganz auf das, was er die „interstellaren Verhältnisse“ nennt. Man kann auch sagen, er feiert ganz zeitlos die Schönheit des Universums.

Dem alten Freigeist Goethe, der nebenbei auch ein begabter Zeichner war, fühlte sich der 1931 in Hessen geborene Mack schon als Unterprimaner verbunden. Neben Kunst an der Düsseldorfer Akademie studierte er Philosophie in Köln und gab seinen sicheren Job als Lehrer auf, um den Gedanken und dem Schaffen ungehinderten Lauf zu lassen.

Weiterer Blick in die Mack-Ausstellung des Düsseldorfer Goethe-Museums. (© Archiv Mack / VG Bild-Kunst, Bonn 2018)

Weiterer Blick in die Mack-Ausstellung des Düsseldorfer Goethe-Museums. (© Archiv Mack / VG Bild-Kunst, Bonn 2018)

Seine Inspiration fand Mack am Himmel über der Wüste, in der Arktis, auf Ibiza – und zu Hause in Mönchengladbach. Und während die Kollegen den Orient weitgehend vergaßen, beachtete er auch die Farben und Muster in der islamischen Kunst, die schon viel früher als der Westen die Abstraktion gefeiert hatte. „For an oriental mirror“, einen orientalischen Spiegel, malte er 2008 flirrende Ornamente. Auch Goethe wusste die morgenländische Kultur zu schätzen und widmete ihr die Gedichtsammlung „West-östlicher Divan“.

Die Freiheit denkt abstrakt

Und siehe da: Obgleich Jahrhunderte zwischen den beiden Künstlern liegen, passen sie doch auf wundersame Weise zusammen. Denn Goethe hatte nicht nur als Jüngling so zum Spaß das „Bild eines Mädchens in umgekehrten Farben“ gemalt als sei’s eine Idee von Picasso, er arbeitete auch in der Abstraktion. Wie Mack setzte der Dichter und Denker eine Kugel auf einen Würfel und betrachtete das, unerhört für seine Zeit, als sinnhafte Skulptur. Jenseits alles Gegenständlichen erforschte er das Spektrum des Lichtes, entwarf geometrische Skizzen und ließ eine Reihe von konstruktiv anmutenden Karten drucken, deren nüchterne Schwarz-Weiß-Formen, durch ein Prisma betrachtet, an den Rändern farbig erscheinen.

Mack malte 1991 nach dem Vorbild der Goetheschen Experimentalkarten große Pastelle auf Bütten. Schon viel früher hatte er sich stolz auf das inspirierende Vorbild bezogen und 1964 die Farben des Regenbogens in einem großen Pastell „for Mr. Wolfgang von Goethe“ strahlen lassen. Ordnung und Freiheit, sieht man hier, können einander vortrefflich ergänzen. Das zeigen Raster, zwischen denen es golden schimmert, Fächer überlappender Farbquadrate, ein Keil in Ultramarin, der dreidimensional aus der Fläche hervortritt, oder ein schillerndes Gitter vor den Tönen eines Sonnenuntergangs. Der Maler ist ja auch ein Bildhauer, der in viele Städte seine Himmelszeichen gesetzt hat.

Wo das Blau ewig fließt

Es ist eine Lust, in Goethes Museum den Leuchtspuren des Meisters Mack zu folgen oder auch, wie er es oft ganz sachlich nennt, seinen „Chromatischen Konstellationen“. Im ersten Stock, der von den alten Vitrinen befreit wurde, sind die Farben in Bewegung geraten – mit Hilfe einer Technik, von der Goethe nur träumen konnte. Kinetische Lichtkunst, zum Teil in früheren Jahren entworfen, erzeugt hypnotische Effekte. Da fließt ein ewiges Blau, da schwirren bunte Kreise, da pulsiert ein Sonnengelb. Ganz sicher wäre Goethe begeistert gewesen, seine Theorie so herrlich bestätigt zu sehen: „Jede Farbe also, um gesehen zu werden, muss ein Licht im Hinterhalte haben“, notierte er.

Das gilt auch für Schwarz und Weiß, zeigt Heinz Mack mit einer Serie von monumentalen Bildern, die von Licht und Dunkelheit handeln. Ein schwarzer Planet schwebt da auf einem weißen Nebel, eine Raute steht deutlich im hellen Schein, und die kreisrunde „Black Rotation“ beweist, dass Schwarz keineswegs eintönig ist, sondern in vielen Nuancen schimmern kann, ganz nahe am tiefen Blau, aus dem auf wunderbare Weise die anderen Farben der Schöpfung entstehen.

Wir spüren es, ehe wir es sehen. Und wir empfinden vor Macks Bildern mehr, als wir beschreiben können oder sollen. Bei Goethe gibt es das passende Zitat: „Des echten Künstlers Lehre schließt den Sinn auf; denn wo die Worte fehlen, spricht die Tat.“ Hingehen und ansehen!

„Taten des Lichts – Mack & Goethe“: 4. März bis 27. Mai im Goethe-Museum Düsseldorf, Schloss Jägerhof, Jacobistr. 2. Eintritt: 8 Euro. Di.-Fr. und So. 11 bis 17 Uhr, Sa. 13 bis 17 Uhr. Ein Buch zur Ausstellung erscheint demnächst im Verlag Hatje Cantz Verlag. 480 Seiten, ca. 50 Euro. Vortrags- und Begleitprogramm unter www.goethe-museum.de




Fakir Baykurt – sozialkritischer Poet des türkischen Dorflebens und langjähriger Revier-Bürger

Gastautor Heinrich Peuckmann erinnert an den türkisch-deutschen Autor Fakir Baykurt, der auch viele Jahre im Ruhrgebiet gelebt hat:

In Deutschland einem Schriftsteller zu unterstellen, dass er ein sozialkritischer Dorfautor wäre, käme einer literarischen Vernichtung gleich. Als provinziell, gar hinterwäldlerisch würde man ihn einordnen und die Unterstellung, dass er einem rührseligen Heimatbegriff folgt, läge nicht fern.

Fakir Baykurts Roman "Die Rache der Schlangen in einer Ausgabe des Verlags Horst Erdmann (Herrenalb), erschienen 1964.

Fakir Baykurts Roman „Die Rache der Schlangen“ in einer Ausgabe des Verlags Horst Erdmann (Herrenalb), erschienen 1964.

In der überwiegend ländlich strukturierten Türkei war und ist das anders. Fakir Baykurt, 1929 in einem Dorf namens Akcaköy geboren und 1999, vor fast 20 Jahren, in Essen gestorben, gilt neben dem inzwischen ebenfalls verstorbenen Nobelpreiskandidaten Yasar Kemal („Mehmet, mein Falke“) als der große sozialkritische Dorfautor der türkischen Gegenwartsliteratur.

Bergkamen, Duisburg und Essen

1979, als schon bekannter Autor mit gut zwanzig veröffentlichten Romanen, siedelte er nach Deutschland über und wohnte eine Zeitlang auch in Bergkamen, ganz in meiner Nähe. Zur Bergkamener Kulturverwaltung fand er schnell Kontakt und auf diesem Wege lernte auch ich Fakir Baykurt kennen. Während der achtziger Jahre habe ich oft mit ihm zusammengearbeitet, auch noch, als er längst in Duisburg wohnte.

Baykurt stammte aus einer armen Bauernfamilie. Sein Vater starb früh, seine Mutter brachte mit erzieherischer Strenge, aber mit noch mehr Herzlichkeit ihre sechs kleinen Kinder (zwei weitere starben früh) durch.

Nach dem Militärputsch von 1971 verhaftet

So arm die Familie auch war, seine Mutter schaffte es trotzdem, ihren wissbegierigen Sohn Fakir studieren zu lassen. An einem Lehrerinstitut machte er seine Ausbildung und lernte reformpädagogische Ansätze kennen, die er ab 1949 in dörflichen Schulen umsetzte. Natürlich gab es angesichts der traditionell denkenden Bauern die zu erwartenden Probleme. Später schloss er ein weitergehendes Studium an, das ihn sogar an die amerikanische Universität in Bloomington führte.

Gymnasiallehrer ist er geworden, schnell auch Vorsitzender der türkischen Lehrergewerkschaft. Nach dem Militärputsch 1971 wurde auch Baykurt wie viele Künstler, Intellektuelle und vor allem Gewerkschafter verhaftet und eingesperrt. Baykurt berichtet darüber in seiner Erzählung „Die Jahre mit meiner Mutter“ und  schildert darin den Besuch seiner Mutter im Gefangenenlager. Vor allem entwickelt er geradezu genüsslich, wie sie sich durch entschiedenes Auftreten bei den Wachen Respekt verschaffte, um ihren Sohn zu sehen und unbelauscht mit ihm sprechen zu können.

Inzwischen hat die gegenwärtige Türkei bei der Verfolgung von Schriftstellern und Journalisten wieder einen unrühmlichen Spitzenplatz erlangt.

Die Mutter lies sich seine Texte vorlesen – und war voll des Lobes

Baykurt war zur Zeit seiner Verfolgung bereits ein bekannter Autor. Regelmäßig veröffentlichte er Romane, die das Landleben in der Türkei darstellen, das er durch seine Herkunft so gut kannte. Seine kritischen Texte brachten ihm den Ruf ein, Kommunist zu sein, was wiederum seine Mutter erschreckte. Sie selbst konnte nicht lesen, deshalb ließ sie sich den Roman „Die Rache der Schlangen“ von Fakir bei einem seiner Besuche zu Hause vorlesen. Noch während Fakir las, unterbrach sie ihn wütend. „Was soll daran kommunistisch sein? So ist es doch in unseren Dörfern, genauso! Du hast nur geschrieben, was hier passiert.“ Ihrem Sohn Fakir hat dieses Lob besonders gut getan.

Von nun an verteidigte die Mutter ihn, wenn Nachbarn oder Verwandte meckerten: „Dein Sohn konnte wieder nicht den Mund halten.“ Im Gegenteil, danach gewann sie, die einfache Frau vom Lande, erst recht Interesse an Fakirs Romanen. Im Dorfladen, in dem sie immer einkaufte, wurde sie von jungen Mädchen, die zur Mittelschule gingen, bedient. Von denen ließ sie sich den Roman „Die Sense“ vorlesen, stolz darauf, was ihr kleiner Fakir erreicht hatte. Mit der Zeit wuchs dessen Ansehen auch unter den anderen Dorfbewohnern, bis er schließlich zu den bekanntesten türkischen Autoren gehörte und die Kritik an ihm verstummte.

Das Problem mit den schlechten Übersetzungen

Warum er nach Deutschland auswanderte, weiß ich nicht mehr. Ich glaube, er folgte einem seiner Kinder. Baykurt war ein kommunikativer Mann, der schnell Anschluss gewann. Das war schon in Bergkamen so, das war in Duisburg, wo er ebenfalls als Lehrer arbeitete, sich aber vor allem mit den Problemen türkischer Migranten beschäftigte, nicht anders. Auch eine deutsch-türkische Autorengruppe gründete er in Duisburg, um den türkischen Kollegen Hilfe auf dem deutschen Literaturmarkt zu geben. Nach seinem Tod 1999 bekam diese Autorengruppe seinen Namen. Baykurt selbst hatte nicht unbedingt Hilfe nötig, dazu war er viel zu bekannt, aber den einen oder anderen Hinweis konnte er doch gut gebrauchen.

In dieser Zeit habe ich, wenn ich eine Anthologie mit Erzählungen herausgab, immer dafür gesorgt, dass Fakir Baykurt, wenn es nur eben thematisch passte, darin vertreten war. Seine Erzählungen waren ein schönes Zeichn für eine fruchtbare Zusammenarbeit zwischen deutschen und türkischen Autoren und darüber hinaus für gelingendes Zusammenleben überhaupt.

Es gab nur jedes Mal ein großes Problem, denn Fakir hatte für seine neuen Erzählungen Übersetzer, die selbst der deutschen Sprache nur bedingt mächtig waren. So bekam ich von ihm Texte zugeschickt, bei denen ich mir beim ersten Lesen stets die Haare raufte. Es waren thematisch immer gute, spannende, auch humorvolle Geschichten, so viel sah ich sofort, aber was die einzelnen Sätze bedeuten sollten, erschloss sich mir bestenfalls nach mehrfachem Lesen. Und auch dann nicht immer.

Von der Frau, die unbedingt einen Garten haben wollte

Also setzte ich mich hin und übertrug seine Sätze so, wie ich glaubte, dass sie gemeint waren. Dann schickte ich die korrigierte Geschichte an Fakir zurück und bat ihn zu prüfen, ob ich alles richtig verstanden hätte. Von Fakir kam dann stets ein Dankschreiben zurück mit der Frage, ob ich nicht sein Übersetzer werden wollte. Ja, unsere Zusammenarbeit in jener Zeit hatte auch ihre komischen Seiten.

Die gemeinsame Arbeit war aber auch anregend, denn sie half mir, die türkische Mentalität der Migranten in meinem Umfeld besser zu verstehen. In einer Geschichte zum Beispiel erzählt Fakir von einer türkischen Frau in Oberhausen, die so gerne einen Garten gehabt hätte, weil sie sich ein Leben ohne das Wühlen in der Erde nicht vorstellen konnte. Aber ihr wenig durchsetzungsfähiger Mann schaffte es nicht, ihr einen Garten im Kleingärtnerverein zu besorgen.

Also griff die Frau zur Selbsthilfe, räumte ein Zimmer ihrer Wohnung leer (das Sonnenzimmer), füllte Kisten mit Erde und begann, dort Gemüse zu ziehen: Steckrüben, Gurken, Knoblauch. Sie war in ihrem Zimmer erfolgreicher als andere türkische Frauen in ihren Gärten…

Bis eines Tages die Polizei vor der Tür stand. Der Mieter in der Wohnung darunter hatte sich darüber beschwert, dass seiner Familie laufend Wasser auf den Kopf tropfte. Das Gemüse musste ja regelmäßig gegossen werden, die Kisten weichten durch oder es lief etwas daneben. Sie mussten also verschwinden. Aber jetzt wurde die Leidenschaft der armen Frau auch im Umfeld bekannt. Viele, auch ein Pfarrer, mischten sich ein, bis die begnadete Gärtnerin endlich ihren Garten in der Brache an der Autobahn erhielt. Eine humorvolle Geschichte, prall gefüllt mit Leben – wie alle Texte von Fakir Baykurt. Er ist ein Autor, der bei uns unbedingt wiederentdeckt werden müsste.




Hat Literaturförderung eine Zukunft? Oder: Ein Interview als Selbstversuch

Zum 1. April 2018 habe ich im Literaturbüro Ruhr e.V. als wissenschaftlicher Leiter gekündigt. Kein Wunder, dass ich des Öfteren gefragt werde, ob ich zum vorzeitigen Abgang ein Interview gäbe. Angeregt durch die Sammlung „Unmögliche Interviews“ des Wagenbach Verlags und David Foster Wallaces „Kurze Interviews mit fiesen Männern“ habe ich mich heute endlich dazu entschlossen, mich – mir nichts, dir nichts – selbst zu interviewen. Denn, so sagt Novalis, „Jeder Mensch ist eine kleine Gesellschaft.“

Beim „Kaputten Abend 1“ im Maschinenhaus der Zeche Carl – Maria Neumann (Theater an der Ruhr), geschultert von Gerd Herholz; Foto: Jörg Briese

Drei Jahrzehnte Literaturbüro Ruhr? Wie hält man das aus?
Sie hatten doch intelligente Fragen versprochen. Naja …
Heute scheint tatsächlich jeder verdächtig, der sich über längere Zeit einer Sache widmet. Die Beschäftigung mit Literatur in all ihren Facetten aber bleibt ein Leben lang  inspirierend und bereichernd. Man kann übrigens hier- und dennoch nicht zurückbleiben.

Empfinden Sie Wehmut zum Abschied?
Mut und Weh zugleich. Von Meister Eckhart stammt der Satz: „Wer werden will, was er sein sollte, der muss lassen, was er jetzt ist.“ Da stimme ich gottloser Humanist dem begnadeten Mystiker zu, spät und wahrscheinlich auch zu spät.

Wahrlich mystisch! Das heißt konkret?
Innehalten. Es braucht Muße, um wieder zu sich zu kommen. Als Rollenspieler im Hamsterrad der Literaturförderung war ich zu oft außer mir, eingespannt bei der Suche nach Fördermitteln, medialer Aufmerksamkeit, Publikum, aber auch in die bitter notwendige Kritik öffentlicher Kulturpolitik, war also Teil eines zwar noch nicht rasenden, aber rasanten Stillstands. Die Literatur, das Lesen, das Dem-Gelesenen-Nachsinnen, all das kommt eindeutig zu kurz. Ein Literaturbüro ist zwar immer auch ein Biotop für Literaturbekloppte, aber eben viel zu selten.

Hate Poetry-Abend des Literaturbüros im Essener Katakombentheater – u.a. mit Hasnain Kazim & Doris Akrap; Foto: Jörg Briese

Das war’s jetzt mit dem Weh?
Nein. Weh tut im Moment des Abschieds, dass es so scheint, als ob die Zukunft des Literaturbüros als Komplize literarischen Eigensinns verramscht würde. Da machen gedankenlose Vordenker  wohl schon länger obskure Planspiele zum Um- oder Abbau des Trägervereins, ohne dessen Vorstand und Mitglieder oder mich als Leiter des Büros überhaupt zu informieren. Insbesondere aus dem Umfeld des Regionalverbands Ruhr hört man, dass sich das Literaturbüro Ruhr mehr zu vernetzen habe, umzustrukturieren, vielleicht seine Landeszuschüsse in ein neues „Literaturzentrum“ überführen, sich gar einen neuen Standort außerhalb Gladbecks suchen solle.

Wäre denn Veränderung so schlecht?
Die behutsame Entwicklung des Literaturbüros, sein Ausbau wären mir lieber. Die Selbstständigkeit des Vereins, seine Souveränität müssen geachtet werden. Ich lege seit vielen Jahren beharrlich, aber vergeblich auch dem RVR Konzepte dazu vor, wie ein Literaturhaus, ein Literaturnetz Ruhr, Residenzen/Stadtschreiberstellen und der Literaturpreis Ruhr zukünftig aussehen könnten.

Programmveröffentlichung bei der lit.RUHR.
(von rechts nach links): Rainer Osnowski (Festivalleiter lit.RUHR), Jolanta Nölle (Mitglied des Vorstandes Stiftung Zollverein), Dr. Traudl Bünger (Künstlerische Leiterin lit.RUHR), Daniela Berglehn (Pressesprecherin der innogy Stiftung),Eva Schuderer (Programm lit.RUHR),Bettina Böttinger (Moderatorin), Dr. Thomas Kempf (Mitglied des Vorstandes der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung), Tobias Bock (Programm lit.RUHR)
Foto: © Heike Kandalowski, lit.RUHR

Der RVR allerdings zeichnete sich bisher nicht durch eine ideenreiche und die Region vehement unterstützende Literaturförderung aus, im Gegenteil: Er hat sie eher verschleppt. Noch planloser sind nur die großen Stiftungen des Ruhrgebiets. Sie geben ab 2017 jährlich eine halbe Million Euro an Kölner Veranstalter, um von dort aus jeweils im Herbst die lit.RUHR organisieren zu lassen. Diese ‚lit.KOLONE‘ ist aber nichts weiter ist als eine schlichte Kopie der lit.COLOGNE: Das Ruhrgebiet – ein starkes Stück Köln! Am grünen Planertisch der hiesigen Eliten-Darsteller denkt man leider nur noch in Kategorien wie Kulturtourismus, Veranstaltungstaumel oder „Dachmarkenmarketing“ – und landet eher bei einem Dachschaden-Marketing.

Das klingt ziemlich aggressiv und verbittert.
Aggression, das heißt auch: sich auf etwas zubewegen. Meinen kleinen Zorn möchte ich mir bewahren. Den Anschein von Einstimmigkeit zu durchbrechen, das macht auch Spaß.
Verbittert? Nein. Aber enttäuscht, vor allem extrem gelangweilt von der immer gleichen größenwahnsinnigen Kulturkampagnenpolitik im Ruhrgebiet, die nicht einmal nach der Loveparade-Katastrophe gründlich infrage gestellt wird. Ich muss mir aber auch selbst vorwerfen, dass ich mich angesichts der kargen Mittel des Literaturbüros Ruhr und der fehlenden kulturpolitischen Unterstützung verschlissen habe bei dem Versuch, Literatur- und Leseförderung auf möglichst hohem Niveau zu gestalten. Man kommt sich vor wie ein Bastard aus Sisyphos, Don Quichotte und Freigänger.

Textrevolte – eine Reihe des Literaturbüros Ruhr

Wie sieht die Zukunft der Literaturförderung im Ruhrgebiet aus? Hat sie überhaupt eine?
Ein Großteil des geistigen Lebens im Alltag der Region wird auf der Strecke bleiben, wenn die Sparpolitik bei der kulturellen Infrastruktur – etwa bei den öffentlichen Büchereien – so fortgesetzt wird. Das dürfte hier aber kaum jemandem auffallen.
Die vielen selten subventionierten Enthusiasten und kleinen Initiativen wird es weiter geben. Solides ehrenamtliches Engagement gegen anämische Festivalitis und Eventitis. Ansonsten: Die hoch bezuschusste lit.RUHR als Festivalzirkus der Beliebigkeit wird das große Geld und vieles an Energie binden. Also immer öfter: Promis als Programm, Kunstsimulation als Konzept. So etwas kann man aber auch von den Ruhrfestspielen sagen: ein Kessel Buntes, Culture-to-go.

Dem Publikum scheint’s zu gefallen.
Man kann dennoch versuchen, nicht populistisch zu werden, wenn man Populäres macht. Und es gibt ein Publikum, das wünscht sich auch im kleineren Rahmen des Alltags das gekonnte Gespräch, den Vortrag guter Literatur auf der Bühne, neue Formate und vor allem politisch-kulturelle Intervention – abseits allen Talkshow- und Marketing-Gesumses. Stattdessen wird es seit Jahren vor allem von der Krimi-Flut überrollt. Ein Wellenreiter wie Sebastian Fitzek wird dabei tatsächlich als Schriftsteller gehandelt und ist doch bloß einer, der in Serie Sprache killt. Allerdings sieht man auf dem Jahrmarkt der Eitelkeiten auch viele Kulturpolitiker und –‚manager‘, sogenannte Intendanten, Experten, Hobby-Moderatoren, Dichterdarsteller, die sich so vor die gekonnte Literatur, die Literaten schieben, dass man diese gar nicht mehr sieht.

Wieso setzt sich die Festival-Blase überall durch, wenn sie doch nur einfallslose Mono-Kultur bietet?
Es gibt – wie gesagt – die Begierden der Festivalmacher, immerhin agieren sie in sehr gut bezahlten Jobs. Dazu jede Menge offene und verdeckte Politik-, Verwaltungs- und Sponsorinteressen. Alle wünschen sich den Abglanz glitzernder Kunst-Fassaden, den Imagetransfer. ‚Social washing‘: Da lässt sich halt ein Kulturfestival von ‚Gönnern‘  wie VW oder Mercedes sponsern und die Auto-Patriarchen sind erfreut, sich für ein paar Peanuts abseits aller Abgas- und Affenversuchsskandale in veritable ‚Kultur‘ einzukaufen – eine Kultur, die sie selbst nicht besitzen. Und während des Festivals wird dann dreist von Literatur als Widerstand gesprochen, ein Widerstand, der längst verraten und verkauft wurde. Das Großformat erstickt per se aufrechte Haltung und Integrität.

Und wenn man von der öffentlichen Hand gefördert wird, dann bleibt man sauber?
Mitnichten. Öffentlich geförderte Einrichtungen werden nicht nur ins Abseits gespart, sondern zunehmend mit Zielvereinbarungen, Evaluationen usw. gegängelt. Die Landesrechnungshöfe würden im Gegenzug für öffentliche Förderung gern Mindestzahlen beim Publikumsbesuch fixieren. Quotenwahn statt künstlerischer Freiraum. Um so Quote zu machen, werden Kulturförderer sich schlechtem Massengeschmack weiter anpassen müssen und ihn damit selbst immer neu erzeugen. Das wäre die Selbstaufgabe kritischer Literatur- und Leseförderung. So hechelt sie dem Markt nur noch hinterher, statt dessen Korrektiv zu sein und Freiheitsübungen zu ermöglichen.

Harald Welzer plädiert für eine offene Gesellschaft; Foto: Jörg Briese

Denken ist ein großes Vergnügen, meinte Brecht, aber eben auch anarchisch und gefährlich. Dieser ganze sinnentleerte Kulturtrubel, der nur noch dem Profit, den Zuschauerzahlen und der Standortkonkurrenz verpflichtet ist, das ganze sich totlaufende Eventkarussell als austauschbare Fun-Fassade scheinen mir gewollt. Da sollen sich die Leute zu Tode amüsieren, statt über die Zukunft des Gemeinwesens zu diskutieren.

Wüssten Sie ein Gegengift?
Manchmal wünsche ich mir, ein zweijähriges Moratorium, wie es Hans Magnus Enzensberger 1993 in der FAZ gefordert hat, würde endlich umgesetzt und wir lassen den ganzen hypernervösen, von Sponsoren und öffentlichen Förderern abgerichteten Literaturbetrieb zwei Jahre ruhen, um Literaturförderung neu auszurichten. Das Geld sollte stattdessen dem Erhalt und Ausbau der Bibliotheken zugutekommen. Wer dennoch Literatur auf die Bühne bringen will: okay! Aber das soll man bitte aus der eigenen Tasche oder der der Zuhörer zahlen. Wie viel Zeit wir gewinnen würden fürs Lesen, Nachdenken und für Gespräche!




Wie wilde Klänge den Kopf befreien können – F. C. Delius‘ Erzählung „Die Zukunft der Schönheit“

New York, 1966. Am Rande einer Tagung der „Gruppe 47″ besucht der Autor abends mit Freunden ein Free-Jazz-Konzert: in „Slug´s Saloon“ tritt der Saxophonist Albert Ayler mit seinem Quintett auf. Es ist laut und wild, der Autor kann die improvisierten Klänge und das musikalische Chaos kaum aushalten. Doch dann entstehen plötzlich Bilder in seinem Kopf: In dem schmerzliche Getöse meint er die tödlichen Schüsse auf US-Präsident Kennedy zu hören und den Bombenhagel in Vietnam.

Die Musik erscheint ihm als politischer Aufschrei, als Marsch der Wahrheit und als Aufruf zur Rebellion. Er beginnt zu begreifen, dass ohne Zerstörung des Alten das Neue nicht entstehen kann und sich die Gesellschaft, die Kunst und auch er selbst und sein eigenes Schreiben sich nur verändern können, wenn man bereit ist, gewohnte Pfade zu verlassen.

In seiner neuen, autobiographisch grundierten Erzählung „Die Zukunft der Schönheit“ umkreist F.C. Delius ein kurzes Erlebnis, eine existenzielle Erfahrung, die dem damals 23jährigen Autor schlagartig den Kopf frei gepustet und ihm seinen Weg zum politisch engagierten Schriftsteller möglich gemacht hat.

Während Albert Ayler sein Saxophon traktiert, zerfällt die selbstzufriedene literarische Fassade des Autors, der damals gerade mit seinem ersten Gedichtband für Aufmerksamkeit gesorgt hat, in tausend Scherben. Ihm wird klar, dass seine Gedichte nicht viel mehr als kunstgewerbliche Reflexionen sind und ihnen etwas Entscheidendes fehlt: das Schräge, Wilde und Freche, das tiefe, verzweifelte Empfinden, das sich an den Widersprüchen der Welt reibt.

Ayler schreddert wie eine Furie des Verschwindens Klänge und Rhythmen, und der gepeinigte Autor erinnert sich, wie er als Jugendlicher mit dem Schreiben nicht nur sich selbst neu erfand, sondern auch gegen seinen konservativen Vater rebellierte, der – sterbenskrank und vom Leben zermürbt – bei einem Streit hilflos mit einem Kissen nach seinem Sohn geworfen hatte. Und als das Saxophon Aylers die Luft gleichsam zum Brennen bringt, weiß der Autor, dass er das, was er jetzt gerade in diesem völlig verrückten Free-Jazz-Konzert erlebt, schon kürzlich geahnt hat: Da hat er im Kachelofen seiner kalten Berliner Wohnung all die frühen poetischen Peinlichkeiten den Flammen übergeben und die Poesie-Verbrennung als Akt der Reinigung empfunden.

Umheimlich ist dem Autor, wie Aylers entgrenzte „Ghost“-Improvisationen bei ihm die Geister der Vergangenheit heraufbeschwören, all die willigen Helfer des Nazi-Regimes, die nach dem Krieg unbehelligt blieben und die Jugend des Autors in der nordhessischen Provinz vergifteten. Unheimlich ist dem Autor auch, dass ihm eine von den Nazis ins amerikanische Exil getriebene Frau gerade eben in New York ein Horoskop gestellt und ihm kommendes Glück und literarischen Erfolg prophezeit hat. Der Autor weiß gar nicht, womit er das verdient haben könnte. Der Leser aber weiß es: Denn wer im Chaos der Gegenwart schon die Zukunft der Schönheit sehen und sein schmerzliches Erwachen so brillant beschreiben kann, muss wohl ein glücklicher Mensch und genialer Autor sein.

F.C. Delius: „Die Zukunft der Schönheit“. Erzählung. Rowohlt Berlin, 96 Seiten, 16 Euro.




„Unterwerfung“ – Gert Becker setzt Houellebecqs Roman am Westfälischen Landestheater in Szene

Unterwerfung unter die Religion verheißt vollkommenes Glück; Szene aus dem Stück. (Foto: Volker Beushausen/WLT)

Wahlen im Frankreich des Jahres 2022. Der rechtsextreme Front National ist wieder die mit Abstand stärkste politische Kraft geworden, die Machtübernahme droht. Um sie zu verhindern, schließen sich Sozialisten und Muslim-Bruderschaft unter Führung des charismatischen Mohammed Ben Abbes zusammen und bilden eine Regierung. Frankreich wird islamische Republik. Und dann? In seinem Roman „Unterwerfung“ spinnt Michel Houellebecq, einer der bekanntesten und, wie man vielleicht sagen könnte, eigenwilligsten zeitgenössischen Schriftsteller Frankreichs, den Handlungsstrang weiter.

Buch erschien am Tag des Terrors

„Unterwerfung“ wurde schnell als skandalös gebrandmarkt, hat sich irrsinnig gut verkauft und diente mehrfach schon als Vorlage für Theaterstücke. Schlagartige Bekanntheit erlangte das Buch „Unterwerfung“ im Jahr 2015 allerdings auch dadurch, dass es zufällig am selben Tag auf den Markt kam, an dem die Redaktion der Satirezeitschrift Charlie Hebdo in Paris von Islamisten überfallen und 12 Menschen, fast die ganze Redaktion, ermordet wurden. Jetzt gibt es auch eine Bühnenfassung im Westfälischen Landestheaters in Castrop-Rauxel zu sehen.

Den Titelhelden und Ich-Erzähler François gibt es vierfach (von links): Franziska Ferrari, Burghard Braun, Maximilian von Ulardt und Mario Thomanek (Foto: Volker Beushausen/WLT)

François ist nicht glücklich

Literaturwissenschaftler François ist Hauptperson und Ich-Erzähler in „Unterwerfung“. Nach bürgerlichen Maßstäben ist er erfolgreich, hat es zum Professor einer Elite-Universität gebracht und es überdies geschafft, alle seine Lehrveranstaltungen auf einen einzigen Tag in der Woche zu legen. Jedes Jahr beginnt er ein neues Verhältnis mit einer Studentin, das jedes Mal zuverlässig mit den Sommerferien endet. Zufrieden stimmt ihn dies alles nicht, Überdruss und Einsamkeit bedrücken ihn. Und sicherlich liegt man nicht falsch, wenn man in diesem François nicht nur die wirklichkeitsnahe Karikatur eines französischen Intellektuellen, sondern auch ein Alter Ego des Autors Houellebecq zu erkennen glaubt, der mit vorgeblicher Unlust an den politischen Verhältnissen beobachtende Distanz wahrt.

Gar nicht so abwegig

Es ist unerhört! In einem „Gottesstaat“ Frankreich, mit Scharia und Polygamie, fühlt François sich deutlich wohler, zumal seine Bezüge gesichert sind und er als Wissenschaftler unerwartete Anerkennung erfährt. Und wer bei dieser Geschichte, deren Gang hier ja nur angedeutet werden kann, „Skandal“ schreit, ist unterschwellig vielleicht auch alarmiert von der Vorstellung, dass all diese klugen, kühlen Houellebecq-Gedanken so abwegig gar nicht sind.

François leidet auf dem Sofa vierfach unter  Fußproblemen (Foto: Volker Beushausen/WLT)

Im Westfälischen Landestheater, in der Inszenierung von Gert Becker, gibt es François gleich vierfach, gespielt von Maximilian von Ulardt, Mario Thomanek, Burghard Braun und Franziska Ferrari. Alle sind sie Ich-Erzähler, und Becker hat den Monolog sinnhaft so unter ihnen verteilt, dass häufig der Eindruck von Dialogen entsteht. Wenn es um das Thema Frauen geht, um die Geringschätzung, die François ihnen entgegenbringt, kommt naheliegenderweise oft die Schauspielerin zum Zuge; die Männer indes verkörpern nicht unterschiedliche Persönlichkeitsmerkmale. Jeder ist François, wenn er einen Schlips trägt.

Verführbare Eliten

Um den Islam, das wird schnell deutlich, geht es in diesem Stück erst in zweiter Linie. Schon deshalb ist der Vorwurf der Islamophobie, gegen Houellebecq hier und da erhoben, nicht sehr sinnvoll. Die Geschichte zielt eher auf Eliten, die allzu schnell bereit sind, westliche Werte, Aufklärung, Liberalität, Freiheit, was auch immer, für persönliche Vorteile zu opfern. Und möglicherweise empfinden auch Intellektuelle Glücksgefühle bei der völligen Unterwerfung unter die Religion, zumal dann, wenn sie mit erheblichen Wohltaten verbunden ist. Der Titel legt den Schluss nahe. Das Stück ist verstörend, zurückhaltend ausgedrückt.

Verstörend und unterhaltsam

Mario Thomanek ist immer François, die anderen drei Darsteller schlüpfen hin und wieder auch in andere Rollen. So ist Burghard Braun auch mal ein launiger Geheimdienstler, und als ebenso klarsichtiger wie zynischer Verführer Rediger zeigt er fast schon diabolische Intensität. Maximilian von Ulardts Figuren wiederum – er spielt den stets bestens informierten Kollegen Lempereur und die Universitätspräsidentin Marie-Françoise – geraten in ihren pantomimischen Passagen etwas zu klamaukig und passen eher ins Kindertheater als zu diesem nicht ganz jugendfreien Abend. Franziska Ferrari schließlich gefällt insbesondere als Aurélie, als (noch nicht so ganz) abgelegte Einjahresfreundin, deren abendlicher Besuch das sexuelle Elend des Protagoisten einmal mehr offenbart.

Einzige Kulisse ist bei alledem ein überdimensionales Sofa, auf dem alle vier Akteure Platz finden. Hier spielt man sitzend, liegend, stehend, auch davor einige Male, mit großem körperlichen Einsatz über die fast zwei Stunden Spielzeit hinweg. Die karge Bühne bietet dem Auge naturgemäß nicht viel, aber der Konzentration auf Houellebecqs unerhörtes Phantasiegebäude tut sie gut. Und sie hat ihren nicht kleinen Anteil daran, dass Gert Becker mit seiner „Unterwerfung“ ein überzeugendes, verstörendes, durchaus aber auch unterhaltsames Stück Theater gelungen ist. Herzlicher, anhaltender Applaus.

  • Weitere Termine:
  • 23.2. Castrop-Rauxel, Stadthalle
  • 2.3. Bocholt, Städtisches Bühnenhaus
  • 10.3. Sulingen, Stadttheater im Gymnasium
  • 19.3. Minden, Stadttheater
  • 20.3. Warendorf, Theater
  • 15.4. Brilon, Kolpinghaus
  • 23.5. Wolfenbüttel, Lessingtheater

Infos:
http://westfaelisches-landestheater.de/repertoire/++/produktion_id/1494/




Rausch und Ruhm eines Selbstzerstörers: „Panikherz“ nach Stuckrad-Barres Roman am Berliner Ensemble

Alkohol und Ecstasy, Kokain und Heroin: Er lässt nichts aus. Keine Droge ist ihm genug. Immer lebt er auf der Überholspur, hat unstillbare Sehnsucht nach dem großen Kick, dem Außergewöhnlichen, der Entgrenzung, dem totalen Erlebnis. Doch immer wieder findet er nur Absturz und Enttäuschung.

"Panikherz"-Szene mit Carina Zichner (li.), Nico Holonics (vorn) und Laurence Rupp (hinten). (Foto: © Julian Röder)

„Panikherz“-Szene mit Carina Zichner (li.), Nico Holonics (vorn) und Laurence Rupp (hinten). (Foto: © Julian Röder)

Irgendwann ist der Schriftsteller und Szene-Reporter, Gag-Schreiber und Selbstdarsteller vollkommen am Ende. Er kann die Hotelrechnung nicht mehr bezahlen und ist ein hoffnungsloser Fall für die Psychiatrie. Da taucht aus dem Nebel der Fantasie Udo Lindenberg auf: „Keine Panik auf der Titanic“, raunt Udo ihm ins Ohr, hinter dem Horizont geht´s weiter, ein neuer Tag“!

„Panikherz“ heißt der autobiographische Roman von Benjamin von Stuckrad-Barre, in dem er Rausch und Ruhm eines notorischen Selbstzerstörers ebenso dringlich wie selbstironisch beschreibt. Oliver Reese hat die von Narzissmus, Drogenexzess und Sinn-Suche handelnde Pop-Literatur für die Bühne bearbeitet und aus dem 500-seitigen Roman-Ungetüm eine Theater-Collage von gerade einmal 40 Seiten herausdestilliert.

Neuer Intendant wagt sich aus der Deckung

Bisher hatte der neue Intendant am Berliner Ensemble Gast-Regisseuren wie Frank Castorf und Michael Thalheimer den Vortritt gelassen und einige ältere Inszenierungen vom Schauspiel Frankfurt (Main) nach Berlin umgetopft. Mit „Panikherz“ wagt sich Oliver Reese jetzt erstmals selbst aus der Deckung: Es ist ein Triumph. Das liegt weniger an Stuckrad-Barres oft witzigen, aber auch mindestens genauso oft nervigen und überdies obsessiv-egozentrischen Text-Bausteinen, als vielmehr an der grandiosen Schauspiel- und hinreißenden Gesangs-Kunst seiner Darsteller.

Weil Stuckrad-Barre viele sich widersprechende Facetten in sich vereint, steht er gleich viermal auf der Bühne: Nico Holonics, Bettina Hoppe, Laurence Rupp und Carina Zichner, sie wuseln sich durch ein wild-verrücktes Leben, liefern sich rhetorische Scharmützel, spielen sich die biografischen Bälle zu, fallen sich ins Wort, zerstören genüßlich das Selbstbild des kleinen Jungen aus der niedersächsischen Provinz, der sich als Musik-Kritiker erste Meriten verdient, irgendwann das ganz große Rad dreht und zum It-Boy der Kultur-Schickeria wird.

Nico Holonics und Bettina Hoppe. (Foto: © Julian Röder)

Nico Holonics und Bettina Hoppe. (Foto: © Julian Röder)

Songs von Nirvana, Oasis, Rammstein und Udo L.

Zum Soundtrack über Aufstieg und Fall eines selbsternannten Superstars spielt eine fünfköpfige Live-Band den passenden, fetzigen Rock´n´Roll. Songs von Nirvana, Oasis und Rammstein wummern aus den Lautsprechern. Und, natürlich, immer wieder Lieder von Udo Lindenberg. Der Mann mit der Sonnenbrille und dem schnoddrigen Genöle ist Ratgeber und Rettungsanker. Ohne Udos Lebenshilfe würde der kaputte Benjamin wohl längst in irgendeinem Grab vermodern.

Die Band zersplittert die alten Songs und setzt sie wieder ganz neu zusammen. Die vier wunderbar wandelbaren Mimen singen sich dazu die Kehle wund und turnen durch Zeiten und Räume. Literatur und Leben, Wunsch und Wirklichkeit vermischen sich. Das Theater wird, ganz klassisch, zum Ort der (Selbst)Erkenntnis, Reinigung und Erlösung. Keine Panik: die Kunst heilt jede Wunde und kann jede zerfaserte Biografie wieder richtig zusammensetzen.

„Panikherz“. Berliner Ensemble, nächste Aufführungen am 20. und 28. Febr., 9. und 16. März, Karten unter 030/28408155.




Französische Literatur aus Sicht eines ihrer besten Kenner – Hanns Grössels Essays und Kritiken

Wer sich für Literatur aus Frankreich interessiert und nicht mehr ganz jung ist, wird in den Feuilletons der überregionalen Zeitungen, aber auch in verschiedenen Büchern dem Namen Hanns Grössel begegnet sein; als Übersetzerangabe oder als Verfasser von Vor- oder Nachworten.

In den 1970er-Jahren beispielsweise trug Grössel wesentlich zur Wahrnehmung des Surrealismus in Deutschland bei. Und er machte das Lesepublikum auf Raymond Roussel aufmerksam, von dem er zwei Werke übersetzte und über den er eine Monographie in der Edition text+kritik herausgegeben hat.

Eine repräsentative Auswahl der Essays und Kritiken des im Sommer 2012 im Alter von 80 Jahren verstorbenen Literaturkritikers und Übersetzers, der 30 Jahre als Rundfunkredakteur beim WDR tätig war, konnte zur Buchmesse im vorigen Herbst dank der Initiative der Kunststiftung NRW in einem sorgfältig edierten Band im Lilienfeld Verlag erscheinen.

Spektrum von Stendhal bis Modiano

Zeitlich reicht das Spektrum der versammelten Texte von Stendhal bis Patrick Modiano. Neben den kanonisierten großen Namen der Moderne wie Victor Hugo, Gustave Flaubert, Guy de Maupassant, Charles Baudelaire, Emile Zola, Marcel Proust gibt es dabei auch weniger Bekannte wie José-Maria de Heredia oder Charles-Louis Philippe zu entdecken.

Sodann sind natürlich Geheimtipps vertreten, Autoren, die selten eine große Leserschaft erreichten, deren Werke aber immer wieder, oftmals von kleineren, engagierten Verlagen neu aufgelegt werden. Als Beispiele könnte Marcel Schwob genannt werden, dessen Reisebriefe aus der Südsee im vorigen Herbst im Elfenbein Verlag erstmals in deutscher Übersetzung erschienen sind.

Zu nennen wären auch Joris-Karl Huysmans und Emmanuel Bove, von denen jeweils ein schöner Band für dieses Jahr im Lilienfeld Verlag angekündigt ist. Oder Saint-Pol-Roux, von dem nach längerer Pause 2013 ein kleineres, aber wichtiges Werk bei Matthes & Seitz erscheinen konnte, Paul Valérys „Cahiers“, oder gar die von Gerd Haffmans herausgegebene 11-bändige Ausgabe der Tagebücher der Brüder Edmond und Jules de Goncourt im Verlag Zweitausendeins.

Diese wenige Beispiele zeigen, dass die Entdeckungen und Wiederbegegnungen keineswegs auf die Jahre zwischen 1966 und 2002 beschränkt bleiben, in denen Grössel die in diesem Band versammelten Essays und Kritiken schrieb.

Kein Sammelsurium, sondern Komposition

Dass bei der Vielzahl der besprochenen Autoren aus diesem Band kein Sammelsurium unterschiedlichster Texte wurde, verdanken wir der sorgfältigen Auswahl und Zusammenstellung durch Norbert Wehr, der Grössels Nachlass verwaltet und der den Band ebenso umsichtig und mit Liebe zur Literatur komponiert hat wie jedes Dossier der von ihm seit 40 Jahren herausgegebenen Literaturzeitschrift „Schreibheft“.

Hanns Grössel bietet die besten Voraussetzungen für eine abgerundete Werkschau, er, der ausgezeichnete Kenner, der die von ihm besprochenen Bücher in ihrem literaturgeschichtlichen Zusammenhang berücksichtigt, mit vielfältigen Querverbindungen und Leitmotiven.

So stellt sich beim Lesen des Buchs der Eindruck ein, die ursprünglich an verstreuten Orten erschienenen Beiträge folgten insgeheim dem Prinzip der kommunizierenden Röhren, wovon ein Artikel zu André Breton aus der Süddeutschen Zeitung vom August 1973 handelt, und fügten sich zu einem sprechenden, einem erzählenden Hanns-Grössel-Kosmos zusammen.

Das Nachwort von Norbert Wehr mit persönlichen Erinnerungen an den großen Literatur-Entdecker und Übersetzer verdeutlicht dessen Verdienste, seine gewissenhafte Haltung gegenüber der Literatur und Grössels respektvollen Umgang mit Büchern und Autoren, auch mit denen, die seinem kritischen Blick nicht standhielten.

Schwerpunkte und Vorlieben

Bei aller Vielfalt und Weite seines immensen Schaffens lassen sich gut die Schwerpunkte und Vorlieben des Literaturmenschen Grössel erkennen. Der streitbare Georges Bataille gehört dazu, mit dem sich die Auseinandersetzung nach wie vor lohnt – sei es mit seinem ökonomischen Konzept der Verausgabung, sei es mit seiner Perspektive auf die wilde Kindheit, sei es mit den Provokationen in seinem „obszönen Werk“ (unter diesem Etikett sind 1972 im Rowohlt Verlag fünf seiner wesentlichen Texte erschienen).

Ähnlich bekannt für Grenzüberschreitungen und Tabubrüche dürfte Henri Michaux sein, der sich früh „großen Zerreißproben“ unter dem Einfluss von Meskalin und LSD ausgesetzt hatte – nebenbei bemerkt: ein faszinierender Zeichner. Von ihm ist in dem Band das Werk Eckpfosten besprochen.

Innenansichten einiger Außenseiter

Unter den Schriftstellerinnen des 20. Jahrhunderts sind es besonders Nathalie Sarraute und Marguerite Yourcenar, denen sich Grössels besondere Aufmerksamkeit zuwendet. An den von Yourcenar gewählten Sammeltitel zu ihrer dreibändigen autobiographischen Familiengeschichte, Das Labyrinth der Welt, lehnt sich der Titel des vorliegenden Bands an.

Zu Victor Segalen hat der Auswahlband glücklicherweise einen Text erstmals nach dem ungekürzten Manuskript veröffentlichen können, während in der Wochenzeitung Die Zeit im August 1983 eine gekürzte Fassung erschienen war. Dieser außergewöhnliche Schriftsteller, Arzt, Ethnologe ist plausibel in einem Kapitel vertreten, das „Außenseiter. Fünf Innenansichten“ benannt ist und außer ihm Raymond Roussel, Michel Leiris, Max Jacob und Paul Léautaud umfasst. Letzterer wird unter zwei verschiedenen Rubriken besprochen; seine Kriegstagebücher in dem Kapitel „Paris unter Besatzung“.

Keine Narrenfreiheit für Kollaborateure und Antisemiten

Die deutsche Besatzung, die Vichy-Regierung, französische Kollaborateure und auch die Résistance bilden für Grössel einen besonderen Forschungsgegenstand. Mit nur spärlichen Informationen über die Tätigkeit seines Vaters im besetzten Paris bemühte sich Grössel, wie das Nachwort deutlich macht, durch die Werke von Louis-Ferdinand Céline, Pierre Drieu la Rochelle, Paul Léautaud, Paul Nizan, Jean-Paul Sartre und Léon Werth dem Leben im Paris der Kriegsjahre näher zu kommen.

Grössel bleibt als Kritiker unabhängig und lässt sich durch stilistische Qualität nicht bestechen, wenn es sich um Kollaborateure und erklärte Antisemiten wie Céline oder Drieu la Rochelle handelt. Er möchte das Politische nicht vom Literarischen trennen, davon ausgehend, „dass alle Schriften eines Autors aus demselben Kopf stammen“. Er fährt fort: „Sollte diese Überzeugung dann in den Ruch eines moralischen Rigorismus geraten: besser, wir nehmen das hin, als dass wir unsere Glaubwürdigkeit verlieren, wir, die wir über Literatur schreiben, sie analysieren und werten.“

In die Diskussion um Pierre Drieu la Rochelle, der in seinen 52 Lebensjahren zwischen den politischen Extremen pendelte, der 1931 den später von Louis Malle verfilmten Roman Le feu follet (Das Irrlicht) vorlegte und im März 1945 seiner Verurteilung als Kollaborateur der Nazis durch Selbstmord zuvorkam, schaltet sich Grössel ein und wehrt sich dagegen, „dem Künstler, weil er Künstler ist, ein erhebliches Maß an politischer Narrenfreiheit zu gewähren.“ Er verteidigt sein Berufsethos: „Wenn wir nicht selber Schaden nehmen wollen, müssen wir mit dem Verhätscheln aufhören.“

Was fehlt und was noch kommt

Freilich muss ein auf 540 Seiten begrenzter Band eine Auswahl treffen. Man mag bedauern, dass beispielsweise Grössels Nachwort zu Jules Renards Tagebuchauszügen aus dem Band Ideen, in Tinte getaucht (München 1986) nicht einbezogen wurde. Doch Renard und viele, denen kein eigener Beitrag gewidmet ist, kommen in den Essays zu anderen Autoren durchaus zur Geltung, wie etwa Jean Genet in der Besprechung zu Sartres Buch Saint Genet, Komödiant und Märtyrer (Reinbek 1982). Dankenswerterweise hat die Kunststiftung NRW keine Kosten und Mühen gescheut, dem Band ein umfassendes Personenregister beizufügen.

Leserinnen und Lesern, denen Hanns Grössel mehr als Experte für dänische und schwedische Literatur, vor allem als Übersetzer der Lyrik von Inger Christensen und des Literatur-Nobelpreisträgers Tomas Tranströmer, bekannt ist, können sich auf den zweiten, von Peter Urban-Halle herausgegebenen Band freuen, den der Lilienfeld Verlag für dieses Jahr angekündigt hat. Mit der Zusammenstellung seiner Essays und Kritiken in zwei Bänden wird dem Homme de lettres Hanns Grössel eine verdiente Würdigung zuteil.

Hanns Grössel: Im Labyrinth der Welt. Essays und Kritiken zur französischen Literatur. Ausgewählt und mit einem Nachwort von Norbert Wehr. Schriftenreihe der Kunststiftung NRW, Literatur, Band 9. Lilienfeld Verlag, Düsseldorf. 544 Seiten, 30 €.

Außerdem vom Verlag angekündigt:

Hanns Grössel: Umwege zur Wirklichkeit. Essays und Kritiken zur skandinavischen Literatur. Ausgewählt und mit einem Nachwort von Peter Urban-Halle. Schriftenreihe der Kunststiftung NRW, Literatur, Band 10. Lilienfeld Verlag, Düsseldorf 2018, ca. 450 Seiten, 30 €.




Natur und Kunst, Schönheit und Grauen: Vor 150 Jahren starb der Biedermeier-Schriftsteller Adalbert Stifter

Kann man ihn überhaupt noch lesen, diesen Biedermeier-Schriftsteller? Ist seine Sittlichkeit nicht längst altmodisch? Sind diese langatmigen Schilderungen von Landschaften und Naturidyllen nicht jedem modernen Gefühl zuwider? Fehlt ihm nicht, was schon Joseph von Eichendorff vermisste, der über ihn sagte, er habe „nicht eine Spur von moderner Zerrissenheit“?

Adalbert Stifter, vor 150 Jahren (am 28. Januar 1868) gestorben, galt einst als der bedeutendste Autor des Biedermeier. Man schätzte seine Naturdarstellungen. Bis in die 1960er Jahre hinein war seine Prosa Stoff für die Schule, seine Texte fanden sich in Lesebüchern. Werke wie „Die Mappe meines Urgrossvaters“, seine Erzählungs-Sammlung „Bunte Steine“ oder sein wohl berühmtester Roman „Der Nachsommer“ gehörten zum literarischen Bildungsgut.

Sogar Karl Kraus hat ihn gepriesen

Der Philosoph Friedrich Nietzsche etwa bewunderte diesen groß angelegten Bildungsroman und zählte ihn – neben Goethe – zum „Schatz der deutschen Prosa“. Der scharfzüngige Karl Kraus ließ allein Stifter unter allen Schriftstellern dieser Epoche gelten, die anderen „sollten diesen Heiligen für ihr lautes Dasein um Verzeihung bitten …“. Und kein Geringerer als Thomas Mann preist ihn in höchsten Tönen: „Stifter ist einer der merkwürdigsten, hintergründigsten, heimlich kühnsten und wunderlich packendsten Erzähler der Weltliteratur.“

Die Sprache bleibt für die Gegenwart

Kritiker dagegen bemängeln, dass die Figuren seiner Werke als Menschen blass bleiben und hinter den allzu ausgiebigen Natur- und Landschaftsschilderungen zurücktreten. Sein Stil wird als weitschweifig getadelt. „Die Ergebenheit in alles von der Natur Vorgegebene beginnt selbst den geneigten Leser zu martern“, schreibt Ilse Aichinger über seine Erzählung „Bergkristall“. Was für heute bleibt, glaubt man der österreichischen Schriftstellerin, ist die Sprache: Sie „entdeckte in der Schilderung die Definition der Räume und Landschaften, in der Gelassenheit und Ergebenheit den reißenden, fast verzweifelten Strom der Sprache, ihre Hochkarätigkeit, den Tod zu ihren Seiten.“

Das Abgründige in Stifters Werk, das wohl auch Franz Kafka erspürt hatte, die Natur als Raum und Spiegel der Seele – das braucht offenbar Zeit und Einfühlung, um entdeckt zu werden. Das Grauenvolle, Unergründliche, zutiefst Erschreckende, dessen Walten in der Natur Stifter eben auch entdeckt, hat man gern und geflissentlich übersehen.

Solche Bilder leisteten der Idyllisierung Vorschub: Adalbert Stifter, Im Gosautal, ein Gemälde aus dem Jahr 1834. Bild: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Adalbert_Stifter_-_Im_Gosautal.jpg

Solche Bilder leisteten der Idyllisierung Vorschub: Adalbert Stifter, „Im Gosautal“, ein Gemälde aus dem Jahr 1834. Bild: https://commons.wikimedia.org/wiki/File: Adalbert_Stifter_-_Im_Gosautal.jpg

Sehnsucht nach Harmonie

Adalbert Stifter, 1805 in Oberplan an der Moldau in Böhmen (heute Horni Planá in Tschechien) geboren, stammt aus den armen Verhältnissen einer Leinweberfamilie. Der Großvater brachte ihn auf die Lateinschule und ab 1818 in das Stiftsgymnasium der Benediktiner von Kremsmünster. Eine Zeit, die er später als die schönste seines Lebens beschrieb. Er lernte Zeichnen und wollte Landschaftsmaler werden – einige Bilder zeugen von seinem Talent.

Die Schule vermittelte ihm Religion, Philosophie, Kunst und Naturwissenschaft gleichermaßen, führte ihn in den Kosmos der christlichen Weltanschauung ein, unterwies ihn aber auch in der Philosophie der Aufklärung. Im Schönen entdeckte er das Göttliche. Das Göttliche aber strebe, so schrieb er selbst, überall nach beglückender Entfaltung, als Gutes, Wahres, Schönes. Die Sehnsucht nach dieser harmonischen Weltschau sollte sein späteres Denken und Schreiben prägen.

Unglückliche Liebe und materielle Not

Als Student der Rechte in Wien begann er auch zu dichten. In Wien verliebte er sich heftig und unglücklich in Fanny, die Tochter eines wohlhabenden Kaufmanns. Sie erwiderte seine Leidenschaft nicht. Stifter verfiel dem Alkohol und musste das Studium ohne Abschluss abbrechen. In dieser Zeit entstanden erste Erzählungen, die aber nicht oder erst später veröffentlicht wurden. Um die Ordnung in seinem Leben wieder herzustellen, vermählte sich Stifter mit der Putzmacherin Amalia Mohaupt, die ihn über 30 Jahre lang liebevoll umsorgte.

In den ersten Jahren plagten das Paar erhebliche materielle Sorgen. Die Lage wandelte sich allmählich, als 1840/41 die Erzählungen „Der Condor“ und „Feldblumen“ veröffentlicht wurden und auf positives Echo stießen. Stifter unterrichtete als Hauslehrer den Sohn des österreichischen Staatskanzlers Metternich und fand einen Verleger, der ihn förderte. Die Schicksalserzählung „Abdias“ brachte ihm 1842 den literarischen Durchbruch. Zwei Jahre später erschienen erste Bände seiner gesammelten Erzählungen.

Keine Gegenliebe für pädagogische Reformideen

Im Revolutionsjahr 1848 zog Stifter, der auf der Seite der Erneuerung stand, von Wien nach Linz. Die Erzählung „Die Landschule“ spiegelt sein lebenslanges pädagogisches Interesse wieder. Nach einigen vergeblichen Versuchen gelang es ihm, 1850 einen Posten als Schulrat zu erreichen.

Gut zwei Jahre später wurde er auch zum Landeskonservator für Oberösterreich der k.k. Central-Commission zur Erforschung und Erhaltung der Baudenkmale ernannt. Sehr engagiert widmete er sich dem Denkmalschutz und der Förderung der bildenden Kunst, in der er die „irdische Schwester der Religion“ erkannte. Seine pädagogischen Reformideen jedoch stießen bei Kirche und Behörden nicht auf Gegenliebe.

Neu bei dtv: Wolfgang Matz hat Stifters Erzählungen nach den Erstdrucken herausgegeben - rechtzeitig zum 150. Todestag des Autors. Cover: dtv

Neu bei dtv: Wolfgang Matz hat Stifters Erzählungen nach den Erstdrucken herausgegeben – rechtzeitig zum 150. Todestag des Autors.

Gesundheitliche Gründe und ein Schicksalsschlag – der Tod seines Adoptivkindes Juliane, wohl ein Suizid – führten dazu, dass Stifter seinen Tätigkeiten nicht mehr nachgehen konnte. Seinen historischen Roman „Witiko“ vollendete er nach jahrelanger Arbeit.

Stifter war ein übermäßiger Esser und Trinker, der sechs Mahlzeiten am Tag verschlang. Als sein Tod infolge einer Leberzirrhose absehbar war, öffnete er sich auf dem Krankenbett mit einem Rasiermesser die Halsschlagader und starb zwei Tage nach diesem Suizidversuch am 28. Januar 1868.

Neue Bücher:

Der Münchner Literaturwissenschaftler, Lektor und Träger des Paul-Celan-Preises Wolfgang Matz hat 2016 mit „Adalbert Stifter oder Diese fürchterliche Wendung der Dinge“ eine Biografie auf aktuellem wissenschaftlichen Stand vorgelegt.

Stifters großer Roman „Der Nachsommer“ ist in einer neuen Ausgabe beim Deutschen Taschenbuch-Verlag (dtv) erhältlich, der auch „Bergkristall“ und „Witiko“ im aktuellen Programm führt. Wichtige Werke von „Abdias“ bis „Bunte Steine“ sind als gelbe Reclam-Ausgaben erhältlich.

Hier noch ein Gedicht von Adalbert Stifter:

Abschied

Nun sind sie vorüber, jene Stunden,
Die der Himmel unsrer Liebe gab,
Schöne Kränze haben sie gebunden,
Manche Wonne floß mit ihnen ab.

Was der Augenblick geboren,
Schlang der Augenblick hinab,
Aber ewig bleibt es unverloren,
Was das Herz dem Herzen gab.

 




Mit Nacktbildern auf dem Handy beginnt eine tödliche Geschichte – Jan Mehlums Krimi „Kalte Wahrheit“

Es ist ein sehr aufgewecktes Mädchen, das da eines Tages in der Kanzlei von Rechtsanwalt Svend Foyn steht und eine recht ungewöhnliche Bitte an ihn heranträgt: Er solle doch herausfinden, wer denn eigentlich ihrer Schwester Elvira regelmäßig Nacktbilder auf deren Handy sendet.

Die junge Besucherin hat auch gleich einen Beweis mitgebracht und zeigt dem Juristen auf dem eigenen Smartphone eines dieser Fotos, die die Schwester weitergeleitet hat. Dem Wunsch des Mädchens nachkommen kann der Anwalt aber nicht, sie ist minderjährig und in dem Alter darf sie ihm keinen offiziellen Auftrag erteilen.

War es wirklich Selbstmord?

Als die Familie kurz danach Elvira tot in der Badewanne findet, ist Foyn erschüttert. Alles deutet darauf hin, dass sie sich selbst das Leben genommen hat. Doch an einen Freitod mag der Anwalt Jan Mehlums norwegischem Krimi „Kalte Wahrheit“ nicht glauben.

Der Jurist hegt den Verdacht, dass das Mädchen umgebracht wurde. Während er mit eigenen Erkundungen beginnt, gerät er selbst ins Visier der Kriminalpolizei. Elvira hat ein Tagebuch geführt und ihren Besuch in der Kanzlei erwähnt. Nun hat Svend Foyn zwar schon oft mit der Kripo zusammengearbeitet (der Roman ist der 15. mit ihm in der Hauptrolle), aber natürlich stellen sich die Ermittler die Frage, ob der Anwalt wirklich eine reine Weste hat.

Verdächtiger Freund der Familie

Dessen Interesse richtet sich auf Elviras Familie und die engsten Freunde. Da er gut vernetzt ist, gelingt es ihm sehr schnell, mehr über die Vergangenheit der Angehörigen und deren Bekannten herauszufinden. Vor allem wendet er seine Aufmerksamkeit einem Mann zu, der von Berufs wegen eigentlich über alle Zweifel erhaben sein sollte, arbeitet er doch als Katechet. Doch die dunklen Seiten dieses Freundes der Familie könnten eine Spur ergeben, hat er doch eine Vorliebe für sehr junge Mädchen.

Während Foyn auf eigene Faust seine Nachforschungen weitertreibt und dazu auch gern mal Recht und Gesetz für sich selbst außer Kraft setzt, um in fremde Häuser einzudringen, gewinnt die weitere Entwicklung an Dramatik. Denn plötzlich ist die Schwester des toten Mädchens verschwunden und lediglich eine Karte, die sie aus Dänemark schickt, ist noch ein Lebenszeichen – vorausgesetzt, sie hat die Karte auch selbst geschrieben und verschickt.

Der mehrfach preisgekrönte norwegische Autor knüpft immer wieder neue Handlungsstränge. Den Überblick kann man trotz verwobener Erzähllinien durchaus bewahren. Im Mittelteil weist der Krimi hier und da ein paar Längen auf. Doch die ungeahnten Wendungen gegen Ende sind wieder spannender Lesestoff.

Jan Mehlum: „Kalte Wahrheit“. Kriminalroman. Grafit-Verlag, Dortmund. 382 Seiten, 12 Euro.




Hochstapler und ehrbarer Kaufmann – spannungsreiche Gegenüberstellung im Verlag „Das kulturelle Gedächtnis“

Es sind die Porträts zweier gegensätzlicher Charaktere, die hier zwischen denselben zwei Buchdeckeln zusammengebracht werden: Erich Wulffens Psychologie des Hochstaplers von 1923 und Oswald Bauers klassisches Handbuch Der ehrbare Kaufmann und sein Ansehen, das zuerst 1906 erschienen ist.

Um diese beiden Wiederentdeckungen in dem Rahmen zu würdigen, in dem sie jetzt neu erscheinen, sei kurz auf den Verlag hingewiesen. Er heißt Das kulturelle Gedächtnis, und der Name ist Programm. Das Ziel der Kuratoren ist, wie es im ersten Verlagsprogramm heißt, „notwendige Bücher der Literatur- und Kulturgeschichte neu zu verlegen – um so schon gemachte Erfahrungen einzubringen, erreichte Standards des Denkens und Schreibens hochzuhalten.“

Dieses anspruchsvolle Programm verantworten vier Kenner, die im Literaturbetrieb langjährige Erfahrungen gesammelt haben: Thomas Böhm, Peter Graf, Carsten Pfeiffer und Tobias Roth. Im Frühjahr 2017 ist diese schöne Buchreihe zum ersten Mal in Erscheinung getreten, mit einer Neuveröffentlichung von Voltaires Tragödie Le Fanatisme ou Mahomet le prophète, die 1741 uraufgeführt wurde und 2017 in einer neuen Übersetzung von Tobias Roth unter dem Titel Der Fanatismus oder Mohammed erschienen ist.

Fake News von 1835, Flüchtlingsschicksal von 1754

Eine weitere historische Veröffentlichung im selben Verlagsprogramm, die an Aktualität nichts zu wünschen übrig lässt, liefert ein frühes Beispiel für Fake News: Die astronomische Entdeckung von Bewohnern des Mondes, heute eine allzu leicht zu durchschauende Lügengeschichte, die aber 1835 mit einem vorgeblich wissenschaftlichen Garanten die Auflage der New York Sun in die Höhe schnellen ließ.

Ein Flüchtlingsschicksal beschreibt ein drittes Buch aus dem Verlagsprogramm: Bereits der lange Weg zur Küste hat das aufgesparte Geld verzehrt; Gebühren, Bestechungsgelder für Schlepper, überteuerte Camps mit Massen an Ausreisewilligen. Einige ertrinken oder werden auf der Überfahrt verhungern, an Krankheiten und Auszehrung sterben – das Buch heißt Reise in ein neues Leben und handelt von dem Schwaben Gottlieb Mittelberger, der sich 1754 auf den Weg nach Amerika aufmachte.

Als Walt Whitman den Schmelztiegel New York pries

Mit dem zweiten Verlagsprogramm im Herbst 2017 folgte die deutsche Erstveröffentlichung eines Romans von Walt Whitman. Der Autor ist vor allem durch sein Hauptwerk Leaves of Grass (dt.: Grasblätter) bekannt. Sein 1852 anonym erschienener Roman Life and Adventures of Jack Engle jedoch konnte erst 165 Jahre nach seiner Veröffentlichung dem richtigen Autor zugeordnet werden und erschien 2017 unter Whitmans Namen erstmals auf Englisch und in deutscher Übersetzung durch Stefan Schöberlein unter dem Titel Das abenteuerliche Leben des Jack Engle. Walt Whitman lobpreist in der Romanhandlung die multikulturelle Metropole New York als einen Schmelztiegel, in dem Menschen aus allen Nationen zusammenhalten, um einen Schwachen gegen die Übermacht der Herrschenden zu verteidigen.

Ebenfalls im Herbst erschien neu Ernst Ottwalts Justizroman Denn sie wissen was sie tun, über dessen Protagonisten Kurt Tucholsky 1932 schrieb: Er „ist das Produkt von Erziehung, Kaste und System. Es ist gut gesehen, wie die Rädchen des großen Unrechtgetriebes ineinander greifen, Akte auf Akte, Paragraph auf Paragraph, (…) und zum Schluss ist es keiner gewesen.“ Ein Schelm, wer dabei an aktuelle Gerichtsverfahren denkt.

Gelassenheit, Widerborstigkeit, Liebe zur Buchkunst

Aber die Gruppe der vier Kuratoren belässt es in ihrem Verständnis vom kulturellen Gedächtnis nicht bei einem bequemen Alles-schon-mal-Dagewesen. Sie wollen die Erfahrungen der Vergangenheit für die Gegenwart nutzbar machen, und neben den sich aufdrängenden Parallelen zur Jetztzeit werden auch die historischen Unterschiede und Entwicklungen deutlich. „Dieses Ziel verfolgen wir mit heiterer Gelassenheit, Widerborstigkeit und mit Liebe zur Buchkunst.“

Gegensatz zwischen Diplomatie und Duell

Innerhalb der ohnehin nicht hoch genug zu lobenden Initiative dieser Verlagsgründung soll an dieser Stelle ein Buchformat besonders in den Fokus gerückt werden: die von Thomas Böhm konzipierte und kuratierte Reihe GEGENSCHUSS. Es geht darum, größte denkbare Gegensätze in einen Band zusammenzubringen, der sich von zwei Richtungen aus lesen lässt. Im Programm aus dem Frühjahr 2017 waren das ein Standardwerk der internationalen Diplomatie und eine Schrift über die Regeln des Duells.

Diplomatie oder Duell – gibt es in der Weltpolitik ebenso wie in jedermanns Alltag wichtigere Entscheidungsfragen? Jules Cambons Buch Der Diplomat, erstmals auf Deutsch 1925 erschienen, möchte man manchem Grobian und jedem Autokraten auf den Nachttisch legen. Und wo der Kampf unausweichlich erscheint, lädt Franz von Bolgárs Schrift von 1880 auf konzentrierten 60 Seiten immerhin dazu ein, Die Regeln des Duells – so der Buchtitel – zu beachten.

Was war nach den Diplomaten und Duellanten als nächstes brisantes Gegensatzpaar vorstellbar? Der Kurator hat sich für den Hochstapler und den ehrbaren Kaufmann entschieden.

Betrug mit theatralischen Qualitäten

Erich Wulffen, ein Kriminologe und Staatsanwalt, der schon früh seine Liebe zum Theater entdeckte und seinen Wunschberuf des Schriftstellers neben der vom Vater empfohlenen Juristenkarriere verwirklichen konnte, legte 1923 mit Psychologie des Hochstaplers eine erfahrungsgesättigte Charakterstudie jenes oftmals renommiersüchtigen, dabei jedoch andere Menschen für sich einnehmenden und sehr oft mit schauspielerischem Talent ausgestatteten Ganoventyps vor. Als Theaterliebhaber wusste Wulffen den dramaturgischen Aspekten der von ihm geführten Prozesse viel abzugewinnen. Vergleiche mit der Bühnenwelt durchziehen sein Hochstapler-Buch, in dem der „Hochstapelei und Literatur“ ein eigenes Kapitel gewidmet ist.

Die Elite der Gaunerwelt – wie ein anderes Buch mit Hochstapler-Geschichten heißt – verfügte immer schon über einen hohen Unterhaltungsfaktor. Felix Krulls Erben genießen weitgehende Sympathie, sind doch ihre Opfer ihnen oft gar nicht so unähnlich – Menschen mit Imponiergehabe oder solche, die sich von geringem Einsatz große Gewinne versprechen.

Hochstapelei basiert oft auf Hochbegabung

Es sind oftmals Hochbegabte, denen eine entsprechende Ausbildung verwehrt blieb, um in den Berufen arbeiten zu können, die auszuüben sie als Hochstapler vorgeben. Als ein aktuelleres Beispiel, das Wulffen in sein kriminologisches Pionierwerk freilich nicht einbeziehen konnte, erinnern wir uns an Gert Postel, einen ehemaligen Briefträger, dem es mit gefälschten Diplomen gelang, Oberarzt in einem Psychiatrischen Krankenhaus zu werden, in diesem Beruf hohes Ansehen bei den Kollegen – den Ärzten, nicht den Hochstaplern – genoss und der nach abgebüßter Haftstrafe als Bestsellerautor und als (nicht von allen) gern gesehener Gast in Talkshows reüssierte.

Zu Wulffens Zeitgenossen dagegen gehören unter anderem Ignatz Strassnoff, der 1926 seine auch später noch mehrfach aufgelegten Memoiren veröffentlichte, und Georges Manolescu, den – wie Stephan Porombka ihn nennt – „erste(n) Star der Branche“, mit dem Erich Wulffen lange Zeit eine briefliche Korrespondenz führte. Wulffen porträtiert die Personen, über die er als Staatsanwalt zu richten hatte, mit der Sympathie, die Roman- oder Theaterautoren für die von ihnen entwickelten Charaktere aufbringen, und geht bei der Hochstapelei von einem in allen Menschen angelegten Talent aus. Längere Abschnitte seiner Studie beschäftigen sich mit dem Hochstapler im Kind.

Warnung vor den Tücken der Handelswelt

Nach den abenteuerlichen Geschichten, die sich um die Psychologie des Hochstaplers gruppieren, könnte man vom ehrbaren Kaufmann ein weniger spannendes Leseerlebnis erwarten. Dem ist nicht so. Die Lektüre Oswald Bauers kann besonders dann aufregend werden, wenn sich beim Lesen des kaufmännischen Ehrenkodex‘ zahlreiche Negativbeispiele heutiger Marketing-Praktiken aufdrängen. Dass diese aber keine Erfindungen unserer Zeit sind, macht der historische Text von 1906 ebenso deutlich.

Bauer benennt die „Chikanen“, die von einzelnen Handelspartnern ausgehen können, und muss neben seinen Ausführungen zum guten Stil der kaufmännischen Korrespondenz mit Bedauern auch auf Beispiele eines impertinenten, auf Preisdrückerei angelegten Geschäftsgebarens zu sprechen kommen. Die Übergänge vom aggressiven Wettbewerb zum Betrug am Kunden sind fließend. Wem würden zu dem Thema keine Schlagzeilen aus den letzten Wochen und Monaten einfallen?

Nervöse Zeiten durch „das Telephon“

Es geht Oswald Bauer um das Ansehen des Kaufmannsstands, die Diskrepanz zwischen der äußeren Wahrnehmung und dem inneren Ehrbegriff, um Anstand, Redlichkeit, kurz, was man den Charakter nennen könnte. Kulanz ist ein Schlüsselbegriff, wenn die Überzeugung, im Recht zu sein, mit den als ungerechtfertigt empfundenen Forderungen des Vertragspartners kollidiert. Kulanz, um die Selbstachtung zu wahren, Stärke des Gewährens statt der Schwäche des Verlierens.

Für einen Kaufmann erstaunlich genug, warnt Bauer vor einer „Überschätzung materieller Glücksgüter sowohl, wie von Ehren, Rang und Würden.“ In der Geschäftigkeit sieht er Gefahren wie die allgemein zunehmende Nervosität, die er als die Krankheit der Gegenwart und als Krankheit der Zukunft erkennt. Leichte Erregbarkeit, Jähzorn, Müdigkeit und ein chronischer Mangel an Zeit, dem das letzte Kapitel gewidmet ist.

Über die Nervösen, Ausgebrannten, Depressiven schreibt Bauer: „Sie erfüllen die Anforderungen des Lebens, aber unter Kämpfen; ihre Intelligenz befähigt sie vielleicht zu großen Leistungen, aber ihre Organisation versagt ihnen Kraft und Zähigkeit; sie sehen, was andere sehen, aber wie durch ein gefärbtes Glas; sie gleichen ihrer Umgebung und sind doch fremd in ihr.“

Und er fügt eine ebenso zeitgenössische wie zeitgemäße Beobachtung hinzu: „En passant wollen wir eine nervös machende Errungenschaft der Neuzeit, das Telephon, nicht vergessen.“

Nachworte stehen in der Mitte

In einem „Zwischenspiel“ genannten Nachwort spannt Thomas Böhm einen zeitlich weiten, jedoch auf 7 Seiten komprimierten, Bogen von Plutarch über Beispiele aus dem Mittelalter, dem Humanismus bis zu modernen Standardwerken zur Volks- und Betriebswirtschaft, und hebt besonders ein Postulat aus Bauers Schrift hervor: „daß wir im weiteren Sinne zuerst Mensch und dann erst Mann des Geschäftes sein sollen.“

Die Nachworte zu beiden Büchern treffen sich in der Mitte des Bands, wo Thomas Böhm ihre Verbindung herstellt – nicht zuletzt durch einen Hinweis auf die Finanzmärkte, die sich von dem Kaufmannsideal, wie Oswald Bauer es beschreibt, komplett abgekoppelt haben und damit der Fiktion, der Hochstapelei, die Schleusentore öffnen.

Oswald Bauers Regelwerk des ehrbaren Kaufmanns von 1906 gehört ebenso zu den notwendigen Büchern wie Wulffens Charakterzeichnung des Hochstaplers. Beide behandeln auf unterschiedliche Weise entscheidende Fragen unserer Gegenwart. Wir dürfen gespannt sein auf das Programm des Frühjahrs 2018.

Erich Wulffen: „Der Hochstapler“ vs Oswald Bauer „Der ehrbare Kaufmann“ (Reihe: Gegenschuss, Band 2). Verlag Das Kulturelle Gedächtnis, Berlin. 256 Seiten, 22 Euro.

Mehr Informationen zu den anderen genannten Büchern aus dem Verlag über: www.daskulturellegedaechtnis.de
Alle Abbildungen in diesem Beitrag: © Verlag „Das kulturelle Gedächtnis“

Zwei andere kursiv gesetzte Buchtitel beziehen sich auf:

Egon Larsen: Hochstapler. Die Elite der Gaunerwelt. Hamburg, 1984
Stephan Porombka: Felix Krulls Erben. Die Geschichte der Hochstapelei im 20. Jahrhundert. Berlin, 2001

In der Rezension erwähnt, aus Gründen der besseren Lesbarkeit jedoch nicht mit bibliographischen Daten im Text angegeben:

Gert Postel, Reiner Pfeiffer: Die Abenteuer des Dr. Dr. Bartholdy – Ein falscher Amtsarzt packt aus. Bremen, 1985
Gert Postel: Doktorspiele – Geständnisse eines Hochstaplers. Frankfurt am Main, 2001
Ignatz Strassnoff: Ich, der Hochstapler Ignatz Strassnoff. Berlin 1926




Vom fernen Freigeist fasziniert – Werner Streletz‘ Versuch über den französischen Dichter Robert Desnos

Man tritt dem Bochumer Autor Werner Streletz wohl nicht zu nahe, wenn man ihn einen fleißigen, produktiven Schreiber nennt.

2011 erschien „Volkers Lied der Nibelungen. Eine Annäherung“, 2013 der Roman „Rohbau“, 2014 „Gewaltig endet so das Jahr. Meine Tage mit Georg Trakl“. 2016 folgte wiederum ein autobiographisch getönter Roman: „Rückkehr eines Lokalreporters“.

Im Umkreis des Surrealismus

Und nun liegt, noch 2017 erschienen, ein freilich nur 66 Seiten schmaler Band mit dem Titel „Der freieste aller Dichter vor“, der als Novelle firmiert und in dem Streletz Annäherungsversuche an den französischen Dichter Robert Desnos (1900-1945) unternimmt.

Streletz ist geradezu getrieben vom Impuls, zumal in der Literatur-, Theater-, Film- und Rockmusik-Geschichte Geistesverwandtschaften aufzuspüren oder – wer weiß – vielleicht auch erst zu kreieren. Nun also Robert Desnos, der vor allem als sprühend inspirierter Lyriker im Umkreis der Pariser Surrealisten auftrat, sich aber von deren selbsternanntem „Papst“ André Breton keineswegs vereinnahmen ließ und auch dessen kommunistische Orientierung nicht teilte.

„Der freieste aller Dichter“

Unterdessen verdingte sich Desnos als durchaus fähiger Journalist und „Werbefuzzi“, um mit Streletz zu reden. Das Ehrenzeichen, „der freieste aller Dichter“ zu sein, bekam Desnos vom Schriftstellerkollegen Paul Eluard angeheftet.

Werner Streletz zeigt sich durchweg angetan, ja fasziniert vom französischen Freigeist und imaginiert die eine oder andere Begegnung mit diesem „Sekretär des Unbewussten“ – nach dem Leitmotto „Wenn ich ihn gekannt hätte…“ Es ist, als wolle sich der Bochumer partout eines weiteren Vorläufers oder zumindest Anregers versichern.

Einmal verfassen die beiden sogar quasi ein Gedicht miteinander, genauer: Der Bochumer ermuntert Desnos, in einer schwachen Stunde wieder in seine literarische Spur zu finden. Zuweilen fallen Streletz zu Begebenheiten aus Desnos‘ Biographie eigene Erinnerungen aus der Ruhrgebiets-Kindheit ein. So beispielsweise, wenn es um die Angst vor dem eigenen Vater geht.

Nicht alles will sich zueinander fügen

Doch nicht immer will sich das wirklich zueinander fügen. Manches wirkt eher wie zwanghaft herbeigeschrieben. Die Lebensläufe lassen sich natürlich nicht ohne weiteres miteinander kurzschließen. Und man fragt sich im Lauf der Lektüre, ob Werner Streletz vielleicht gerade auch die Schwierigkeit herausstellen wollte, sich solch einer literarischen Gestalt tatsächlich zu nähern. Der unentwegt betonte Modus des „Es wäre möglich, dass…“ würde sich somit teilweise als illusorisch erweisen.

Robert Desnos mit seiner Gefährtin Youki Foujita im Jahr 1933. (Foto: Archives Desnos / Menerbes - public domain / gemeinfrei bei Wikimedia Commons)

Robert Desnos mit seiner Gefährtin Youki Foujita im Jahr 1933. (Foto: Archives Desnos / Menerbes – public domain / gemeinfrei bei Wikimedia Commons)

Es ist eine manchmal geradezu leichtfertige, dann aber auch wieder recht mühselige Annäherung, in deren Verlauf Streletz zuweilen auch sprachlich sehr vorsichtig tastend und manchmal geradezu umständlich zu Werke geht. Hie und da droht er sich in Zeitebenen und konjunktivischen Formen geradewegs zu verheddern. Ein literarischer Draufgänger ist er nicht; eher schon einer, der sich immerzu in Frage stellt.

Tod im KZ Theresienstadt

Etwa in der Mitte des Textes ist es aufs Schrecklichste vorbei mit der einst herrlich behaupteten Freiheit der Kunst und des Künstlers. Die Nazi-Truppen sind in Frankreich einmarschiert und können sich auch auf Denunzianten und Kollaborateure stützen. So kommt es, dass auch Robert Desnos, der für die Résistance im Untergrund gearbeitet und zuvor mit der Japanerin Youki Foujita ein privates, jedoch auch öffentlich zelebriertes Glück gefunden hat, verhaftet und nacheinander in verschiedene Konzentrationslager deportiert wird. Kurz nach der Befreiung des Konzentrationslagers Theresienstadt stirbt Desnos dort unter absurd tragischen Umständen am 8. Juni 1945.

Überflüssig zu sagen, dass eine „Annäherung“ an den französischen Dichter mit dieser Zeit in der Hölle noch unendlich problematischer, wenn nicht vollends unmöglich wird. Was zuvor streckenweise mühselig erschien, wird nun in jeder Hinsicht quälend.

Im letzten Satz der Novelle (wir wollen hier nicht über Gattungs-Definitionen streiten) schwingt denn auch leise Resignation mit: „Seltsam eigentlich, dachte ich: Vielleicht ist das alles doch schon zu lange her.“

Werner Streletz: „Der freieste aller Dichter. Unterwegs mit Robert Desnos“. projekt verlag, Bochum/Freiburg. 66 Seiten. 12,80 Euro.

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Nachspann

P.S.:

Eine heitere Gedichtprobe von Desnos, die in Streletz‘ Buch zitiert wird und von Morgenstern oder Ringelnatz stammen könnte – oder auch von Villon:

Der Pelikan

Der Kapitän Jonathan
Fing schon mit 18 Jahr’n
Eines Tages einen Pelikan
Auf einer Insel im Ozean.

Der Pelikan von Jonathan
Legt morgens ein schneeweißes Ei,
Und daraus schlüpft ein Pelikan
Der ihm erstaunlich gleicht.

Und dieser zweite Pelikan
Legt auch ein schneeweißes Ei,
Aus dem schlüpft unvermeidlich dann
Ein neuer und tut es ihm gleich.

Ich glaub, dass dies so ewig währte,
wenn man sie nicht vorher als Omelett verzehrte.

P.P.S.:

Zufallsfund während der Streletz-Lektüre: „Der freieste Schriftsteller aller Zeiten“ war – nach dem Urteil von Friedrich Nietzsche – übrigens (auch) Laurence Sterne („Tristram Shandy“), ein unübertroffener Großmeister der Abschweifungen.

P.P.P.S.:

Und noch ein Fund, verzeichnet im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek; eine ausgesprochene Rarität, sogar mit Ruhrgebiets-Bezug: Anno 2008 ist in der von Louis Flamel betriebenen Dortmunder edition alicorn ein druckgraphisches Mappen-Buch über Robert Desnos erschienen: „L’étoile de mer oder die Sirene des Schlafs. Robert Desnos & Louis Flamel“. edition alicorn. Trémoigne (= Dortmund) 2008.

 




„Manapouri“ – Marcel Schwobs Briefe von einer Reise nach Samoa am Beginn des 20. Jahrhunderts

In den Jahren 1901/1902 unternahm der französische Schriftsteller Marcel Schwob (1867–1905) auf den Spuren des von ihm verehrten Robert Louis Stevenson eine Reise in die Südsee. Die Briefe, die er von dieser Seereise an seine geliebte Frau, die erfolgreiche Schauspielerin Marguerite Moreno, schrieb, wurden nun erstmals in deutscher Übersetzung im Elfenbein Verlag veröffentlicht.

In den Pariser Schriftstellerzirkeln der 1890er-Jahre um Stéphane Mallarmé, André Gide, Paul Valéry, Alfred Jarry, Paul Claudel, Colette und Jules Renard galt Marcel Schwob wegen seiner außergewöhnlichen Sprachbegabung, stilistischen Brillanz und enormen Belesenheit als eine große Hoffnung der französischen Literatur.

In der kurzen Zeit zwischen 1891 und 1896 veröffentlichte Schwob jährlich mindestens einen Band mit Erzählungen, die meisten im Verlag Mercure de France; er übersetzte Shakespeare, Defoe, De Quincey und auch die Erzählung „Will o‘ the Mill“ von Robert Louis Stevenson. Seine Entdeckerfreude erstreckte sich ebenso auf englischsprachige Literatur wie auf ältere französische Dichtung. Mit seinem Korrespondenzpartner Robert Louis Stevenson verband ihn unter anderem ein starkes biographisches Interesse an François Villon. Ab 1896 aber wurde Schwob zunehmend zum Opfer einer nicht eindeutig diagnostizierten Krankheit, die ihn in die Abhängigkeit von Morphium brachte. Viele, vor allem wissenschaftliche, Arbeiten blieben Fragmente.

Auf den Spuren von Robert Louis Stevenson

Einer seiner Ärzte riet ihm zu einer längeren Seereise. Wie Stevenson, der eingangs seines 1896 posthum veröffentlichten Werks In der Südsee große Erwartungen an das der Gesundheit zuträgliche Klima der pazifischen Inselwelt formulierte, setzte auch Schwob alle Hoffnung in die Heilkraft einer längeren Südseereise.

Im Oktober 1901 schiffte er sich in Marseille ein; die Reise führte über Port Said durch den Sueskanal nach Dschibuti und weiter über Ceylon, wo Schwob bei einem vierzehntägigen Aufenthalt Gelegenheit hatte, die von Henry Cave beschriebenen Ruinenstädte zu besichtigen, nach Australien. Sein chinesischer Begleiter Ting durfte den Kontinent erst nach Zahlung einer sehr hohen Kaution betreten, die Schwob nur mit Mühe auftreiben konnte, wodurch die Weiterreise hier bereits zu scheitern drohte. Die Begegnung mit dem eigenwilligen Kapitän Crawshaw ermöglicht schließlich, dass er mit dessen Schiff „Manapouri“ die Insel Upolu erreicht, den letzten Wohnsitz des bereits 1894 gestorbenen Robert Louis Stevenson in Samoa.

Mit Worten malen

Schwobs Briefe legen Zeugnis ab, welch einen elaborierten Stil er auch in der privaten Form pflegte. Sie waren nicht zur Veröffentlichung vorgesehen, eventuell aber vom Autor als Vorarbeiten zu einem noch zu schreibenden Werk gedacht, das dann jedoch nicht mehr zustande kam.

Die sich bei einer langen Seefahrt wiederholenden Motive – Meer, Horizont, Wolken, gelegentlich die Silhouette eines entfernt gelegenen Landes oder einer Insel – beschreibt Schwob nuanciert und ohne sich zu wiederholen. Seine Sprachmalereien dürften auch beim Übersetzen ins Deutsche eine Herausforderung dargestellt, dem guten Ergebnis nach zu urteilen aber auch den besonderen Reiz einer solchen Aufgabe ausgemacht haben.

„Die fliegenden Fische um uns herum“

Ein Beispiel: „Das flüssige Himmelsufer aus düsterem Blau wird da und dort von Grisailleflächen unterbrochen, finsteren Dunstklippen, bei denen es sich um äquatorialen Regen handelt. Wo kein Wind weht, weint der Himmel lautlos auf die Erde. Die nördliche und die südliche Welt vermischen sich in der Trauer ihrer Sterne. Am Äquator ist das Meer auf ewig traurig und von Regen zerfurcht.“

Das Wenige, was abgesehen vom gesellschaftlichen Leben an Bord passiert, wird zum Ereignis: „Und dabei schwirren die fliegenden Fische um uns herum wie Schmetterlinge. Ein feuchter und silbriger Strich schnellt hoch, gleitet in einem langen Kuss knapp übers Wasser. Zehn, zwanzig, dreißig springen auf, stechen winzige Strudel ins glatte Meer. Arme kleine Fische mit so schweren Flügeln, die einem freudlosen Himmel entgegenstreben. Und der Regen prasselt; und das Meer erschauert von seinem unzählbaren Lachen hinter schweren Tränen.“

Verehrung und Krankheit

In Apia, der Hauptstadt Samoas, wird Schwob freundlich aufgenommen. Er beginnt, Samoanisch zu lernen, erhält eine Einladung des alten Königs Mataafa, der von Robert Louis Stevenson in Eine Fußnote zur Geschichte. Acht Jahre Unruhen aus Samoa (1892; deutsch: Achilla Presse, Hamburg, 2001) unter Samoas zerstrittenen Herrscherfamilien mit besonderer Sympathie bedacht worden war; eine Kava-Zeremonie wird ausführlich beschrieben.

Wie Stevenson erhielt auch Schwob von den Einheimischen den Namen Tusitala – der Geschichtenerzähler. Doch statt der erwarteten Genesung von seiner Krankheit verschlimmert sich sein Zustand. Eine Lungenentzündung überlebt er, in einer Hütte der hingebungsvollen Pflege durch einen jungen Einheimischen überlassen, nur knapp.

Sorgfältige Edition

Stevensons letztes Wohnhaus und sein Grab auf dem nahe der Hauptstadt Apia gelegenen Mont Veae konnte Marcel Schwob wohl nicht mehr besuchen. Erneut ist es Kapitän Crawshaw mit seiner „Manapouri“, der ihm weiterhilft und seine Rückreise ermöglicht. Im März 1902 erreicht Marcel Schwob Marseille, knapp drei Jahre später starb er im Alter von 37 Jahren.

Die eindrucksvolle Reisebeschreibung wird in der deutschen Ausgabe durch Schwobs 1894 erstmals erschienenen Essay zu Robert Louis Stevenson und durch vier Briefe Stevensons an Schwob aus den Jahren 1889–1894 bereichert. Der Übersetzer und profunde Schwob-Kenner Gernot Krämer, der zuvor im selben Verlag zwei andere Werke des Autors veröffentlicht hat (Das gespaltene Herz, 2005, und Der Kinderkreuzzug, 2012) steuerte wertvolle Anmerkungen und ein informatives Nachwort bei. Zahlreiche zeitgenössische Foto-Dokumente der beschriebenen Schauplätze illustrieren die Briefe anschaulich. Das sorgfältig gestaltete Buch ist ein wertvolles Dokument über die Brieffreundschaft und Geistesverwandtschaft zweier besonderer Schriftsteller und ein weiteres Zeugnis über die literarische Meisterschaft Marcel Schwobs.

Marcel Schwob: „Manapouri“. Reise nach Samoa 1901/1902. Herausgegeben, übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Gernot Krämer. Elfenbein Verlag, Berlin. Gebunden, 216 Seiten, 22 €.