Tiefe Gefühle, brisante Konflikte: Puccinis „La Fanciulla del West“ an der Oper Frankfurt

Christof Loy bezieht mit seiner Inszenierung von Giacomo Puccinis „La Fanciulla del West“ an der Oper Frankfurt klar Position: „Ich finde es … falsch, das Stück zu aktualisieren“, zitiert ihn das Programmheft. Falsch, weil die Naivität der Menschen auf der Bühne verloren gehen würde. Verzicht auf Aktualisierung freilich heißt für ihn nicht Verzicht auf Stilisierung: Herbert Murauer baut keine Hollywood-Wildwest-Kulisse. Sein Raum ist der von Loy so geliebten Kasten, diesmal eng, niedrig, flach wie ein Bretterverschlag.

Eva-Maria Westbroek ist die Minnie in der Frankfurter Inszenierung von Puccinis "La Fanciulla del West". Foto: Monika Rittershaus

Eva-Maria Westbroek ist die Minnie in der Frankfurter Inszenierung von Puccinis „La Fanciulla del West“. Foto: Monika Rittershaus

Nach draußen führt immer nur ein kleines, bedeutungsvolles Fenster. Es lässt einen blendend hellen Schein in den Raum – und in diesem Licht träumt Minnie, die Protagonistin: Von einem Aufbruch ins Irgendwo? Vom Glanz einer wahren Liebe? Vom inneren Licht der schmerzlich vermissten Bildung? Den Aufbruch wird sie am Ende wagen – hinein in ein goldenes Leuchten (Licht: Bernd Purkrabek), das sich auf den Gesichtern der Goldgräber im Frankfurter Opern-Kalifornien widerspiegelt.

Loy erzählt in dieser Übernahme von der Königlichen Oper Stockholm – ursprünglich sollte Richard Jones diesen Puccini inszenieren – nicht einen saftig-spannenden Western. Nur der Schwarz-Weiß-Filmvorspann spielt an auf die goldene Zeit der amerikanischen Filmindustrie, bedient den Primadonnen-Mythos, der ja auch in der Oper eine Rolle spielt, evoziert die Parallele zum Film, wenn handelnde Personen in Schwarz-Weiß auf die Bühnenwand projiziert werden.

Immer wieder überhöht Loy die vermeintlich realistischen Elemente der Erzählung und der Bühne: Nicht nur das Fenster ist mit seinem unwirklichen Lichteinfall eher eine Chiffre. Wenn Murauer zwischen Minnies Garderobe und die Bar „Polka“ eine Mauer zieht, und wenn der rasend verliebte Sheriff Jack Rance an dieser Wand steht und spürt, er werde sie nie überwinden, wächst der Raum über sich selbst hinaus, wird zum Gleichnisort tiefer Gefühle und brisanter Konflikte.

Western-Helden und Film-Primadonnen: Christof Loy zitiert die Mythen, die hinter Puccinis "Fanciulla del West" stehen. Foto: Monika Rittershaus

Western-Helden und Film-Primadonnen: Christof Loy zitiert die Mythen, die hinter Puccinis „Fanciulla del West“ stehen. Foto: Monika Rittershaus

Dennoch erzählt Loy vor allem: Er erzählt eine Geschichte von Melancholie, Heimweh, Einsamkeit; von Empathie und der Last der Herkunft, von Schicksal, Gemeinheit und Edelmut. Manchmal wirkt das etwas zu filmisch, macht es dem Zuschauer leicht, sich in der Rolle des genießenden Betrachters zurückzulehnen. Tilman Knabe hat das Konfliktpotenzial und die Tragödie in seiner Mannheimer Inszenierung radikaler zugespitzt: Knabe verlegt die Handlung in eine verlorene, heruntergekommene Militärstation an der Grenze zu Mexiko, brutalisiert die Konflikte zwischen den Goldgräbern, zeichnet Dick Johnson nicht als den edlen Tenor-Ganoven, sondern changierend zwischen Kriminellem und Widerstandskämpfer.

Scharf beleuchtet Knabe den Agenten des Konzerns Wells Fargo, Mr. Ashby, als Drahtzieher im Hintergrund, dessen Rolle die naiven Goldgräber nicht durchschauen, bis das Militär aufmarschiert – eine Lesart, die jene ausbeuterischen Zustände kritisiert, welche die historische Folie des sonst so malerisch empfundenen Western-Milieus sind. In Frankfurt ist Alfred Reiter ein geschniegelter, aber sonst eher harmloser Vertreter – was aber auch daran liegen könnte, dass die nachstudierte Übernahme aus Stockholm manches Profil nicht so scharf wie ursprünglich gedacht umrissen hat.

In seiner „Fanciulla“ – der ersten Inszenierung der Puccini-Oper in Frankfurt seit 1958 – gleicht Loy die zurückhaltende konzeptionelle Zuspitzung aus, weil er seine Protagonisten virtuos und sensibel führt. Das gilt nicht nur für die resolute, warmherzige Minnie der Eva-Maria Westbroek mit ihrer unbestimmten Lebenssehnsucht und ihrer tiefen Menschlichkeit, die man ganz altmodisch als Nächstenliebe bezeichnen möchte. Es gilt auch für den Sheriff Jack Rance, den abgebrühten Spieler, der unter seiner abgewiesenen Liebe zu Minnie wie ein Hund leidet, aber auch berechnend, zuschnappend wie ein scharfer Jäger, sein kann.

Carlo Ventre als Dick Johnson ist letztendlich doch eher Tenor als Darsteller – und nicht einmal ein besonders glanzvoller: Sein Timbre ist stets von einem heiser-verbrauchten Beiklang begleitet, seine Kraft ist eindimensional und führt nicht zu einem weit projizierten Stimmklang. Auch Ashley Hollands Bassbariton ist für den Sheriff nicht so optimal im Körper verankert, dass er seinen Ton resonanzreich gestalten könnte – so kommt sein psychologisch bewusstes, klug gestaltendes Singen leider immer wieder an physische Grenzen.

Im Licht der Sehnsucht: Eva-Maria Westbroek (Minnie) und Carlo Ventre (Dick Johnson). Foto Monika Rittershaus (3)

Im Licht der Sehnsucht: Eva-Maria Westbroek (Minnie) und Carlo Ventre (Dick Johnson). Foto Monika Rittershaus

Und Eva-Maria Westbroek, die oft gefeierte Dramatische, die Sieglinde des Frankfurter „Rings“, schafft es nicht, die Höhe in die Linie einzubinden, muss vor allem forcieren, wenn sie aus der Mittellage ins hohe Register aufsteigt. Dann wird der Ton gequält und prekär. Ihre warme, volle Mittellage dagegen überzeugt, steht ihr in allen gestalterischen Facetten zu Gebot und führt dazu, dass der zweite Akt – in dem das Keimen der Liebe zu Dick Johnson und die entsetzliche Enttäuschung fesselnd entwickelt ist – ein atemberaubender Höhepunkt der Frankfurter „Fanciulla“ wird.

Auch als Puccini-Dirigent gefeiert: Sebastian Weigle. Foto: Monika Rittershaus

Auch als Puccini-Dirigent gefeiert: Sebastian Weigle. Foto: Monika Rittershaus

Der Regisseur hat auch ein Auge auf die zahlreichen Nebenrollen und die Individuen des Chores, den Matthias Köhler musikalisch sicher präpariert hat. Dass Loy Elisabeth Hornungs Wowkle – die indianische Bedienstete Minnies – allerdings zur komischen Figur macht, will nicht mehr einleuchten, wenn man in Mannheim Tilman Knabes an dieser Figur entwickelte Studie über den Rassismus der weißen Frau gesehen hat.

Rundweg begeisternd agiert in Frankfurt wieder einmal das Orchester. Nun hat stellvertretender GMD Alois Seidlmeier in Mannheim seinen Job wirklich ausgezeichnet gemacht, aber die Vielfalt der Farben, die dynamische Finesse, den impressionistischen Klangschmelz, aber auch die Prägnanz rhythmischer und repetitiver Motive, die schon an Janáçek denken lassen, hat das Mannheimer Orchester nicht so bezwingend umgesetzt wie seine Frankfurter Kollegen unter Sebastian Weigle. Modern und klangsinnlich zugleich, emotional und strukturiert: Weigles Blick auf Puccini überwindet alle Vorurteile; lässt hören, wie der Komponist die Traditionen des Belcanto und der Spätromantik transformiert in seine unverwechselbare Klangsprache, die mehr als nur eine ferne Ahnung von den Aufbrüchen der Moderne in sich integriert. Auch deshalb darf man der Frankfurter Oper wieder einmal für einen spannenden, erfüllten Abend dankbar sein.




Festspiel-Passagen I: Heilloses Spiel um Macht und Liebe bei den Göttinger Händel-Festspielen

Gefangen: Yosemeh Adjei als Siroe. Foto: Theodoro da Silva

Gefangen: Yosemeh Adjei als Siroe. Foto: Theodoro da Silva

Irgendwann reicht es: Im dritten Akt klagt Siroe, eingekerkerter Sohn des Königs von Persien, die Götter an. Ungerecht sind sie: Der Redliche wird unterdrückt, der Verräter erhöht. Und Siroe schließt sein verzweifeltes Arioso mit der niederschmetternden Bilanz: Wenn Astraia – die Göttin der Gerechtigkeit – die menschlichen Verdienste auf diese Weise abwägt, dann regiert der Zufall, und Unschuld ist schlecht.

In Georg Friedrich Händels Oper „Siroe, Re di Persia“, bringt der Librettist Metastasio die Titelfigur in eine Lage, die dem Dulder Hiob oder dem Gerechten biblischer Klagelieder entspricht. Alles ist schief gegangen: Sein Vater Cosroe hat den intriganten und speichelleckenden zweiten Sohn Medarse seinem Erstgeborenen vorgezogen. Eine Kette unglücklicher Zufälle hat Siroe ins Licht eines Verräters und Attentäters gerückt. Er wird verfolgt von der heftigen Liebe einer Frau, die ihm gleichgültig ist. Und seine wirkliche Geliebte Emira trachtet seinem Vater nach dem Leben – aus Rache. Denn Cosroe hat einst Emiras Vater nach einem Feldzug grausam abgeschlachtet. Heillose Zustände.

Dass am Ende alles gut ausgeht, ist der Opernkonvention geschuldet, und der Botschaft, die dem Publikum vermittelt werden soll: Die Herrscher werden gewarnt, sich in ihrer machtumflorten Einsamkeit vor Intrigen zu hüten, die Stimme der Natur zu missachten. Die Standhaften und Tugendhaften tragen am Ende den Sieg davon. Mit Beständigkeit erringe man die Liebe, singt Emira am Ende, nachdem das Beispiel des großmütigen Siroe sie bewegt hat, ihren Hass zu begraben.

Doch derlei heroische Worte bemänteln nur, dass es in dieser Welt nur darum geht, die eigenen Interessen um jeden Preis durchzusetzen, sei es aus Verblendung (Cosroe), aus unlöschbarer Leidenschaft (Laodice), aus Machtgier (Medarse), Auch die „positiven“ Figuren haben ihre dunklen Flecken: Emira etwa, die sich als Mann tarnt, bei Hof einschleicht, heuchlerisch das Vertrauen des alten Königs gewinnt, um ihn im richtigen Moment zu ermorden. Und selbst Siroe ist keine Lichtgestalt: Auch er benutzt die Frauen im Schachspiel der Macht.

Göttingen atmet Festspiel-Atmosphäre. Foto: Werner Häußner

Göttingen atmet Festspiel-Atmosphäre. Foto: Werner Häußner

Bei den Händel-Festspielen in Göttingen hat Immo Karaman die heillosen Konstellationen in ein grandios durchleuchtetes Kammerspiel gefasst. Der Regisseur lässt über dreieinhalb Stunden lang kein Loch in der Spannung entstehen. Er hat weder zu den Mätzchen des Regietheaters gegriffen noch sich auf ein dekoratives Morgenland eingelassen, wie die Geschichte aus der persischen Frühzeit und der „Orient“ als diesjähriges Thema der Festspiele nahelegen könnten.

Bei ihm spielt das Drama in einer ungefähren Jetztzeit, wie die Kostüme von Okarina Peter signalisieren. Timo Dentlers aufgerissene Villa auf der Bühne ist eine Chiffre für den ruinösen und verkommenen Rahmen der Gesellschaft: Die einst noblen Räume, die sich um ein englisch anmutendes Treppenhaus gruppieren, sind alle offen, doch der Bau auf einem drehbaren Podest ist eine geschlossene Welt, aus der es kein Entkommen gibt.

Der 1972 in Gelsenkirchen geborene Karaman ist ein sensibler und aufmerksamer Menschengestalter. Das hat sich in seinen bisherigen Regiearbeiten immer wieder gezeigt: in seinen tiefschichtigen Britten-Opern an der Deutschen Oper am Rhein („Peter Grimes“, „Billy Budd“), im gespenstischen Realismus von „The Turn of the Screw“ in Leipzig und Düsseldorf, in „La Traviata“ in Dortmund, seiner Gelsenkirchener „Carmen“ oder seiner Wiesbadener „Aida“. Händels lange Oper, mit ausgedehnten Rezitativen und 25 Arien dramaturgisch belastet, lässt er nie im Leerlauf kreisen, füllt die Zeit aber auch nicht mit gezwungenem Handlungs-Beiwerk, das bei vielen Regisseuren bedeutungsschwer daherkommt, um dann doch im Dekor zu enden.

Karaman lässt seine Sänger die Räume besetzen, individuelle Bühnenpräsenz entwickeln. Er gibt ihnen Gänge und Gesten, die sparsam, aber bedeutungsvoll sind, stilisiert wie symbolische Choreografien. Und die aus den Charakteren entwickelt statt ihnen aufgesetzt sind. Die – oft allegorischen – Arien sind bei ihm Momente der zeitenthobenen Reflexion, die rasend schnell in den Köpfen der Menschen abläuft, während sich ihre Umgebung in Zeitlupe weiterbewegt. Zwischen den Gegnern und den Liebenden, den Heuchlern und den Freunden spitzt Karaman durch eine minutiöse Personenführung die Situationen so zu, dass der Zuschauer den Atem anhält. Minimal-Regie mit maximalem Ausdruck!

Die Sänger stellen sich auf dieses Konzept hochprofessionell ein, lassen ihre schauspielerischen Qualitäten herauslocken. Dass sie stimmlich ihren Partien, die für die berühmtesten italienischen Sänger der 1720er-Jahre geschrieben sind, bravourös gewachsen sind, ist ein Plus der Aufführung und hebt sie über so manche Göttinger Festspiel-Aufführung der letzten Jahre hinaus. Dabei werden weniger die virtuosen Kapazitäten der Stimmen gefragt. Nur Aleksandra Zamojska als Laodice darf die „geläufige Gurgel“ demonstrieren. Sonst kommt es eher auf emotionale Wahrheit, vielschichtige Expression, dynamische und klangliche Färbung und die vokale Darstellung des inneren Entwicklungsprozesses der Personen an: Fertigkeiten, die wohl schon im 18. Jahrhundert von einem Weltklasse-Sänger erwartet wurden – über perfekte Rouladen, Intervallsprünge und Spitzentöne hinaus.

So gestaltet Lisandro Abadie mit viel Fortune eine der ergreifenden Vätergestalten der opera seria: Sein Cosroe hat Lear’sche Dimensionen, entwickelt sich vom selbstbewusst energischen Vater-Herrscher zum gebrochen schlurfenden Greis, der nur noch mit Tabletten überleben kann. Abadie beglaubigt die Wandlung auch stimmlich mit seinem präsent geführten Bass. Auch Yosemeh Adjei muss eine Entwicklung durchlaufen, die er stimmlich überzeugend darstellt. Der athletisch gebaute Counter drückt mit seiner Körpersprache aus, wie der Titelheld Siroe abstürzt: vom trainierenden Beau am Boxsack zum geschundenen Gefangenen im Verlies unter der Treppe an einen schweren Heizkörper angekettet.

Ein Neurotiker der Macht: Antonio Giovannini als Medarse. Foto: Theodoro da Silva

Ein Neurotiker der Macht: Antonio Giovannini als Medarse. Foto: Theodoro da Silva

Sein Widerpart Medarse ist bei Antonio Giovannini ein verschlagener Neurotiker, der ewige Zweite, der seine Chance wittert. Seine schlanke, bewegliche Stimme mit einem angenehmen, zwischen Sopran und Altus schwebenden Timbre, klingt unforciert und ausgeglichen. Mit solchen Vorzügen ist auch Anna Dennis als Emira ausgezeichnet: die glänzende Artikulation und ihr locker fokussierter Sopran mit einer reichen Farbpalette machen sie zur Ersten unter Gleichen im Ensemble.

Arasse, die personifizierte Treue des Mannes in der zweiten Reihe hinter den Herrschenden, wird von Ross Ramgobin mit tragendem Bass gesungen. Dass ihm – im finalen Spiel um die Krone – noch eine andere Rolle als (lachender?) Dritter zwischen den rivalisierenden Söhnen zuwachsen könnte, deutet Karaman an. „Very British“ durchzieht der Regisseur dieses Finale mit feiner Ironie: Karaman lässt ein Hausmädchen Tee und Torte servieren. Bettina Fritsche füllt die stumme Tänzerinnen-Rolle – laut Programmheft „das Volk“ – mit unaufdringlicher Bravour, schon als sie während der Ouvertüre vor dem Spiegel ihr Aussehen prüft. Am Ende sitzt sie mit einer Tasse Tee auf der Treppe, unbeeindruckt von den Konflikten der Mächtigen, die – wie die Schatten hinter einer Glastüre andeuten – mit dem versöhnlichen Schlusschor wohl nicht abgeschlossen sind.

Die Bühne Timo Dentlers: aufgerissen und ausweglos zugleich. Foto: Theodoro da Silva

Die Bühne Timo Dentlers: aufgerissen und ausweglos zugleich. Foto: Theodoro da Silva

Dass sich der lange Abend nicht erschöpfte, war nicht zuletzt Verdienst des Festspielorchesters Göttingen. Händel hat sparsam instrumentiert, bis auf Oboen und Fagotte keine Bläser vorgesehen. Umso verdienstvoller ist, wie Laurence Cummings mit seinen sorgfältig artikulierenden und dynamisierenden Musikern die Stimmungslagen der Musik realisiert: vom Pathos zur Zärtlichkeit, von tiefster Depression bis zum hoffärtigen Höhenflug von Zorn, Wut, Triumphgefühl. Die schroffen Akzente und heftigen Pointen mit dem Bogen gelingen den Streichern meist ohne die ruppigen Unarten „historisch informierter“ Wiedergabe. Dass mancher Bogen flach gehalten wurde, Crescendi dünn blieben, gehaltene Akkorde mehr Substanz vertrügen, ist diskussionswürdig.

„Siroe“, ein selten aufgeführtes Werk Händels, hat sich musikalisch wie szenisch in Göttingen als ein packendes Stück Musiktheater erwiesen; trotz der Länge und einer für heutige Zuschauer sperrigen Dramaturgie emotional bewegend und glaubwürdig. Die Festspiele sind ihrem Sinn gerecht geworden: Sie haben uns Händel nahe gebracht.




Den Gaga-Style tanzen: Ballett-Premiere „Deca Dance“ im Aalto

Deca Dance, Aalto Ballett Theater, Foto: Bettina Stöß

Deca Dance, Aalto Ballett Theater, Foto: Bettina Stöß

Im Aalto tanzt man den „Gaga-Style“: Der von dem israelischen Choreographen Ohad Naharin entwickelte Tanzstil eröffnet den Tänzern des Aalto Balletts ganz neuartige körperliche Erfahrungswelten und kommt gleichzeitig mit einer Leichtigkeit und Energie daher, die sogar Nachahmer im Publikum findet.

Der übliche Reflex im Zuschauerraum besteht ja meist aus einem verschämten Wegducken, wenn Tänzer Zuschauer auf die Bühne bitten. Mit den Profis möchte man sich doch nicht unbedingt messen, zumal, wenn alle zusehen. Doch die überaus charmante Szene bei der Premiere von „Deca Dance“ zeigt, dass sich zwischen Tänzern und Laien Grenzen überwinden und eine ungeheure Lust an der Bewegung erwecken lassen: Gesetzte Damen, elegante Herren, Schulmädchen oder sportliche Frauen im Abendjäckchen– sie alle tanzen raumgreifend den Cha-Cha-Cha auf der großen Bühne, behutsam geführt von Tänzern im schwarzen Anzug und Hut. Unaufgeregt und lebensfroh, so dass der eine oder andere sich in die eigene Tanzstunde zurückversetzt fühlt, eine Dame gar nicht mehr aufhören mag und sich zu einem bezaubernden Pas de deux aufschwingt: Applaus für die unerschrockene Begabung. So braucht es weder Youtube noch koreanische Rapper mit „Gangnam-Style“, um Menschen zum Tanzen zu animieren. Das Aalto Ballett reicht völlig aus und adelt den Spaß gleichzeitig zur hochkarätigen Bewegungskunst.

Genau eine Stunde dauert diese Frühlingspremiere, die Ohad Naharin mit einem klaren Bild zu wuchtiger Hava Nagila-Musik beginnen lässt: Im Halbkreis sitzen die Tänzer in Anzug und Hut und hier spürt man die ästhetischen Einflüsse der Kibbuz-Bewegung. Doch schon die nächste Szene führt in eine Art Proben-Atmosphäre, die Tänzerinnen tragen bunte Gymnastikkleidung und bewegen sich ebenso frei und dynamisch wie exakt in der Gruppe.

Ein ungewöhnlicher Effekt entsteht, als die Tänzerinnen synchron mit den Zähnen klappern – ein durchaus durchdringender Sound im großen Opernhaus. Die Männergruppe dagegen zeigt Rivalen-Verhalten und misst ihre Muskeln und Kräfte. Mit von der Arbeit geschwärzten Gesichtern vergießen sie im Konkurrenzkampf Schweiß. Doch beim Liebespaar nimmt der männliche Part eher die bittende Rolle ein: Will sie ihn nicht erhören oder lässt sie den Armen nur ein wenig zappeln?

Apropos zappeln: „Sei wie eine Spaghetti-Nudel in kochendem Wasser“, lautet eine Anweisung der Bewegungssprache „Gaga“. Ohad Naharin hat sie nach einer Rückenverletzung für sich selbst entwickelt. Statt hoher Sprünge und perfekter Haltung bei den verschiedenen Positionen sollen dynamische, multidimensionale Bewegungen im Vordergrund stehen, die Spaß machen und die bewusste und unbewusste Wahrnehmung des Körpers schärfen.

Das Ziel ist es „gaga“, also frei und aufgelockert zu werden. Das hat das Aalto-Ballett geschafft, denn der Körper weiß manchmal mehr als der Verstand. „Die Illusion von Schönheit und eine dünne Linie, die Wahnsinn und Vernunft trennt, die Panik hinter dem Lachen und die Koexistenz von Müdigkeit und Eleganz.“ Der Satz wird dem Abend als Motto vorangestellt, doch am Ende klingt er noch nach – mit Leben gefüllt.

Weitere Informationen: www.aalto-ballett-theater.de




Todeskuss im Treibhaus: Richard Wagners „Tristan und Isolde“ an der Oper Bonn

Dass Vera Nemirova eine faszinierende Erzählerin ist, wissen wir spätestens, seit sie mit dem Frankfurter „Ring des Nibelungen“ einen der bedeutenden Beiträge zum Wagner-Jahr 2013 leistete.

Robert Gambill (Tristan), Dara Hobbs (Isolde). Foto: Thilo Beu

Robert Gambill (Tristan), Dara Hobbs (Isolde). Foto: Thilo Beu

Die Regisseurin braucht keinen dekonstruktiven Überbau, keine umständliche Symbolik, keine privatmythologische Verrätselung, um einem Stück Belang zu geben. Sie erzählt intensiv und klug eine Geschichte. So hat sie es auch in ihrem – 2007 sehr umstrittenen – Frankfurter „Tannhäuser“ gehalten: Das virtuos herausgearbeitete Ergebnis ihrer ersten Regiearbeit mit Wagner wird ab 19. Oktober 2013 wieder zu erleben sein.

Jetzt hat sich Vera Nemirova dem Schlüsselwerk des Wagner’schen Theaterkosmos zugewandt: Mit Spannung erwartet, ging jetzt „Tristan und Isolde“ über die Bühne der Oper Bonn. Und wieder ist ein Triumph der Erzählerin zu vermelden: Selten in den letzten Jahren wurde Wagners Bekenntnis zur transzendierenden Liebes- und Todesmystik so unverstellt und eindringlich in Bild und Aktion gebracht wie in dieser Premiere. Sicher auch ein Verdienst der Raumgestaltung von Klaus W. Noack und des Lichts von Max Karbe – aber eben auch das Ergebnis der passionierten Regiekunst der Nemirova.

Klar, auch diese Regisseurin hat ihre Stilmittel, ihre immer wiederkehrenden Codes: Das Brautkleid etwa, von dem Isolde im ersten Aufzug die aufgenähten Blüten abfetzt. Im zweiten schreiben die Protagonisten Schlüsselworte des Dramas auf die halbblinden, teils zerbrochenen Scheiben eines Glashauses: Du, Ich, Licht, Tod, Tag. Später beschriften sie gegenseitig nackte Haut. Aber solche Chiffren werden nie als billige Ersatzeffekte für fehlende Personenführung verwendet.

Nemirova inszeniert auch nicht naturalistisch: Es gibt kein Liebespaar, das aufeinander zufliegt, sich schmusend und küssend in der „Nacht der Liebe“ ergeht. Was so mancher Wagnerianer aus scheinbarer „Werktreue“ der Bayreuther Inszenierung Christoph Marthalers bitter ankreidete, zieht auch Nemirova konsequent durch. Tristan und Isolde singen zusammen für sich, sehen sich selten an. Sie bewegt sich innerhalb des gläsernen Baus, der offensichtlich auf „Im Treibhaus“ aus den Wesendonck-Liedern anspielt; er tastet sich außen an den Scheiben entlang. Erst bei „Nie-Wieder-Erwachens wahnlos hold bewusster Wunsch“ finden sich beide im Glashaus, dem Ort der jenseitigen Liebesvision.

Held aus Cornwall, Maid aus Irland

Der Kuss ereignet sich schon im ersten Aufzug: Endlos lang besiegelt er statt des äußerlichen Hilfsmittels des „Trankes“ die Wandlung. Ein mythischer Todeskuss, gegeben von einer rothaarigen Rätselfrau, die aus dem symbolistischen Bildkanon eines Dante Gabriel Rosetti oder Edward Burne-Jones stammen könnte. Wie Nemirova und ihr Bühnen- und Kostümbildner Klaus W. Noack überhaupt die angelsächsische Sphäre des Stoffes – es geht ja um einen Helden aus Cornwall, um eine Maid aus Irland – in die Bildwelt integrieren: Das Glashaus, das die Drehbühne füllt, ist den viktorianischen Gewächshäusern der Wagner-Zeit abgeschaut; der Baum, auf dessen Zweige Isolde enthusiastisch Zettel steckt, könnte ein Wünschebaum aus dem Feen-Aberglauben sein, wie man ihn heute noch auf dem irischen Lande entdecken kann.

Robert Gambill (Tristan) und Mark Morouse (Kurwenal). Foto: Thilo Beu

Robert Gambill (Tristan) und Mark Morouse (Kurwenal). Foto: Thilo Beu

Im dritten Akt steht die verfallende Glas-Villa dann voll exotischer Gewächse: ein direktes Bildzitat aus Mathilde Wesendoncks Gedicht „Im Treibhaus“, das Wagner als Vorstudie zum „Tristan“ vertont hatte. Wie die Heimat der Pflanzen, so ist auch die Heimat Tristans – der zwischen den Blättern und Stämmen im Bett liegt – „nicht hier“. Für die romantische Sehnsucht nach dem ganz Anderen sind die klagenden „Kinder aus fernen Zonen“ eine berührende Chiffre. Für den „Liebestod“ findet Nemirova ein unspektakuläres, konzentriertes Bild: Isolde steht in einem Regen von Papierblättern – Briefe, literarische Ergüsse, Tagebuchnotizen? –, bevor sie sich wendet und dem Glashaus zuschreitet: Erfüllung im „Nicht Hier“.

Mit ihren Protagonisten arbeitet Nemirova stets sehr intensiv. Umso schmerzliches muss es für die Regisseurin gewesen sein, dass ihre Isolde Dara Hobbs wegen eines Heuschnupfens nicht singen konnte und von Sabine Hogrefe am Bühnenrand eine „Leihstimme“ bekommen musste. Hobbs agiert mit intensiver Körpersprache und theatralischer Leidenschaft; man merkt der Sängerin an, wie schwer ihr der Verzicht auf die vokale Expression fällt.

Sabine Hogrefe, die 1989 am Aalto-Theater in Essen in Siegfried Matthus‘ „Graf Mirabeau“ als Zeitungsjunge debütierte, hat die Isolde bisher in Bremen, Hamburg, Nantes und Angers gesungen und 2008 bis 2012 in Bayreuth gecovert. Ab 26. Mai ist sie als Brünnhilde in der „Walküre“ in Duisburg zu hören. Ungeachtet aller Probleme aus einem kurzfristigen Einspringen hört man von ihr einen durch Erfahrung gereiften, auch des Lyrischen und der leisen Töne mächtigen, souveränen Sopran.

Neue Sicht auf König Marke

Mit der Besetzung des Tristan durch Robert Gambill stand kein ausgeprägter Tenor-Held auf der Bonner Bühne. Im zweiten Aufzug möchte man als Vorzug werten, wenn eine schlanke Artikulation auf eine tragfähige Mezzavoce trifft; im dritten allerdings fehlen Gambill dann Intensität, Schlagkraft und vokales Fieber. Auch die Brangäne Daniela Denschlags – von der Regie als besorgte ältliche Jungfer mit grauem Dutt gezeichnet – hat eine zu lyrische Stimme, überfordert im exaltierten Schrecken am Ende des ersten Aufzugs, zu sanft für die Rufe aus der Ferne im zweiten. Schade, wenn man eine solch kultivierte Stimme ins Wagner-Fach drängt – ihre Alt-Arien in einer Würzburger „Matthäus-Passion“ von 2005 blieben mit viel eindrücklicher in Erinnerung.

Trias des Leidens an der Welt: Tristan (Robert Gambill), König Marke (Martin Tzonev), Isolde (Dara Hobbs). Foto. Thilo Beu

Trias des Leidens an der Welt: Tristan (Robert Gambill), König Marke (Martin Tzonev), Isolde (Dara Hobbs). Foto. Thilo Beu

Für Martin Tzonev ist Marke eine Herausforderung, die er mit substanzvollem, aber nicht ausgeglichenem Bass bewältigt. Wieder ist es eher die szenische Umsetzung der Figur, die überzeugt. Nemirova bezieht den König ein in eine Trias des Leidens an der Welt: „Die kein Himmel erlöst, warum mir diese Hölle?“ hebt seinen Schmerz weit über eine beleidigte Beklagung seiner Situation hinaus. Für einige Augenblicke nehmen Tristan und Isolde den König in ihre Mitte, dann aber wird das Paar seinen Weg ohne ihn gehen: „Wohin nun Tristan scheidet, willst du, Isold‘, ihm folgen?“

Ansprechend besetzt sind in Bonn auch die weniger umfangreichen Rollen: Mark Morouse als prägnanter Kurwenal, Giorgos Kanaris als soldatisch korrekter Melot, Johannes Mertes als Hirt und Sven Bakin als Steuermann. Für eine musikalische Sternstunde sorgte Stefan Blunier am Pult des Beethoven Orchesters Bonn. Der Chefdirigent zerriss zwar den langsamen Beginn durch endlose Pausen, konnte dem Orchester aber den „schmachtenden“ Klang entlocken, den Wagner mit dieser Anweisung im Sinn gehabt haben mag. Allmähliches Steigern der Klangintensität, graduelle Verschiebungen in der Mischung der Klänge, flexible Artikulation: das sind die technischen Geheimnisse. Das Ergebnis ist eine für Bonner Verhältnisse außergewöhnliche Spielkultur, ein runder, warmer Gesamtklang, dem Blunier aber auch Feuer, Energie und Tempo mitgeben kann.

Intendant Klaus Weise kann aus Bonn mit einer Produktion scheiden, die der Leistungsfähigkeit des Hauses das schönste Zeugnis ausstellt. Wie sein Nachfolger Bernhard Helmich aus Chemnitz bei zurückgehenden Mitteln in der ehemaligen Bundeshauptstadt – immerhin einer Kommune mit über 325.000 Einwohnern – die Qualität des Angebots sichern will, ist noch sein Geheimnis: Der Spielplan 2013/14 wird im Mai veröffentlicht. Sicher ist schon, dass die Spielzeit mit Zeitgenössischem eröffnet wird: mit der Oper „Written On Skin“ (Auf Haut geschrieben) von George Benjamin. Erstmals in Deutschland wird sie schon am 23. Juli in der Uraufführungsinszenierung aus Aix en Provence von 2012 in der Bayerischen Staatsoper München gespielt.




In der Oper ist alles Schicksal – die neue Spielzeit am Aalto-Theater

Tomás Netopil, der neue Chefdirigent der Essener Philharmoniker. Foto: TUP

Tomás Netopil, der neue Chefdirigent der Essener Philharmoniker. Foto: TUP

Hein Mulders, der neue „Superintendant“ der Essener Philharmonie und der Aalto-Oper, ist von der Neugier des Publikums überzeugt. „Die Leute wollen mehr wissen“, betont er stets. Nun denn: Diesem als dringlich konstatiertem Streben nach Erkenntnis dürfte in der kommenden Musiktheater-Saison üppigst Rechnung getragen werden. Mit einer ganzen Veranstaltungsreihe zum „Phänomen Oper“ etwa, zudem mit Einlassungen zur „Wahrheit bei Verdi“ oder zu „Goethe als Global Player“.

Musikwissenschaft für alle: Mulders und sein eloquenter neuer Chefdramaturg, Alexander Meier-Dörzenbach, setzen auf ein Educationprogramm für Erwachsene, das es so im Aalto wohl noch nicht gegeben hat. Zum Teil ist dieser Schwerpunkt der Tatsache geschuldet, dass zum 25. Geburtstag der Bühne eben ein paar besondere Bonbons gereicht werden. Zum anderen aber gehört dieses breite Segment der Wissensvermittlung zu einer ausgeklügelten Strategie der Vernetzung.

Denn Intendant Mulders und der neue Chefdirigent des Hauses, Tomás Netopil, haben nicht lediglich Opernpremieren und Konzerte der Spielzeit 2013/14 vorgestellt, sondern Bezüge zu Schauspiel und Philharmonie geknüpft, alles unter den Leitbegriff „Schicksal“ gestellt, darüberhinaus das Folkwang-Museum und die Uni mit ins Boot geholt. In Dortmund, das sei hier angemerkt, sind solche Annäherungen kultureller Institutionen zumeist gescheitert – Essen darf es also besser machen.

Fünf Opern- und zwei Ballettpremieren wird es geben, das ist, mit Blick auf vergleichbare Häuser, nicht gerade opulent zu nennen. Am Beginn steht Verdis düsterer, dramatischer, ja schicksalsschwangerer „Macbeth“, nähert sich das Schauspiel dem gleichnamigen Werk Shakespeares. Ergänzend dazu wird in der Philharmonie des Komponisten Requiem aufgeführt.  Auch Jules Massenets „Werther“ wird von Lesungen und Vorträgen umrankt. Das Belcantofach wiederum ist vertreten mit Bellinis unbekannter „La Straniera“. Alles Stücke des 19. Jahrhunderts also, die umrahmt werden von Händels barocker „Ariodante“ und Janáceks modernem, sprachmelodiengesättigtem Kindsmorddrama „Jenufa“.  13 Wiederaufnahmen unterfüttern dieses Premierenpaket.

Programmatische Linien, hier noch wenig erkennbar, denn das Thema „Schicksal“ würde wohl mehr oder weniger auf jede Oper passen, sollen über die Jahre erkennbar sein, versichert Hein Mulders. Wie auch der neue Chefdirigent, Tomás Netopil, eine eigene Handschrift entwickeln will. Als Mozartianer und Botschafter eines böhmisch-tschechischen Klangkolorits sind seine Schwerpunkte vorgegeben. Sechs Sinfoniekonzerte wird er selbst dirigieren, ansonsten soll das Orchester durch zahlreiche Gastdirigenten neue Impulse gewinnen.

Eine Vielfalt der Farben nennt Mulders dies und beweist damit Mut und Risikobereitschaft. Denn die Qualität der Essener Philharmoniker hat viel mit einem überwiegend präsenten Chefdirigenten namens Stefan Soltesz zu tun, der das Orchester über Jahre formen konnte. Ähnliche Erfolge sind etwa in Bochum zu beobachten, unter der Ära Steven Sloane. Dass in Dortmund, wo der Chefdirigent beinahe alle fünf Jahre wechselt, manche spielerischen Defizite sich hartnäckig halten, ist andererseits kein Wunder.

Insofern hat Soltesz in Essen große Fußstapfen hinterlassen, und es dürfte nicht einfach sein, diese auszufüllen. Die neuen Gastdirigenten sollen aber, so wurde versichert, allesamt Spezialisten für die Werke sein, die sie jeweils dirigieren werden. Das wird sich zeigen.




Eine Betrachtung des Neuen: Heiner Goebbels‘ 2. Ruhrtriennale-Programm

Heiner Goebbels, Intendant der Ruhrtriennale. Foto:

Heiner Goebbels, Intendant der Ruhrtriennale, setzt erneut aufs Experiment. Foto: Wonge Bergmann

Teufel: Da hat doch die Kinderjury der Triennale im vergangenen Jahr ihren Preis „Die größte Qual für die Ohren“ ausgerechnet der Lieblingsband des Intendanten Heiner Goebbels zugedacht. Und dann musste er sich von Teilen des Publikums anhören, ein Theaterabend ohne Pause sei arg gewöhnungsbedürftig. So kann es gehen, wenn der Rezipient aus den eigenen (Hör)-Ritualen heraus einem kunstsinnigen Macher begegnet, der das Experiment liebt, das Neue, eben Unerhörte. Das Triennale-Programm dieses Jahres spricht darüber, wieder einmal, Bände.

Goebbels verfasst im Editorial ein Plädoyer für die herrliche Unbefangenheit der Kinderjury, sieht die Vorstellungspause als Störung eines komplexen Wahrnehmungsprozesses. Umgekehrt heißt dies wohl, dass sich der Intendant ein ebenso offenes, dazu höchst neugieriges, intellektuelles Publikum wünscht – für all die Produktionen, die wir hier ganz unbefangen als Theater 2.0, Antitheater oder Metatheater bezeichnen wollen.

Harry Partch: Delusion of the Fury, Probenszene - wie aus dem Futuristenlabor. Foto:

Harry Partch: Delusion of the Fury, Probenszene. Foto: Klaus Grünberg

Den Beginn markiert in dieser Saison das Musiktheater des Amerikaners Harry Partch, ein Stück zwischen Traum und Wahn namens „Delusion oft he Fury“. Mit vom Komponisten eigens gebauten Instrumenten und von ihm aufgezeichneten Tonsystemen. Das Bühnenmodell, das im Programmbuch zu sehen ist, wirkt wie aus dem Baukasten eines Futuristen. Das Original gibt’s dann in Bochums Jahrhunderthalle zu bestaunen.

Das Theater 2.0 wiederum findet sich im Tanzgeschehen der Brasilianischen „Grupo de Rua“: Wie zu lesen ist, leitet sich „CRACKz“ aus choreographischem Material ab, das im Internet zu finden ist: „download, remix, share – speichern, neu zusammenfügen, teilen“ ist das Prinzip, zu erleben auf Zollverein in Essen.

Nichts weniger als den Theaterbetrieb ad absurdum führen will „Forced Entertainment“: Altvertraute Figuren und Textfragmente stehen einem Science-Fiction-Sujet gegenüber. Eine Mixtur, „Das letzte Abenteuer“ genannt (Maschinenhalle Zweckel, Gladbeck). Ähnlich geheimnisvoll, märchenhaft und abenteuerlich geht es in Helmut Lachenmanns Oper „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“ zu. Abgesehen davon, dass der Komponist hier die annähernd völlige Dominanz des musikalischen Geräuschs zelebriert, wird Hans-Christian Andersens bekanntes Märchen durch weitere Texte verfremdet. Das Ergebnis kann, wie jüngst in Berlin gesehen, ein unglaubliches Erlebnis werden. Zur Triennale darf nun Robert Wilson seinen Zugang zum wuchtigen Stück, in der Jahrhunderthalle, offerieren.

Beinahe spukig soll es zudem ausschauen in „Stifters Dinge“, einer von Goebbels selbst verantworteten Performance im Duisburger Landschaftspark. Fünf Klaviere erklingen, ohne Hilfe eines Pianisten, es gibt keine Akteure, nur Töne und Bilder. Ein Theater über das Theater: Im Zentrum stehen Bühnenbestandteile (Vorhang), Mittel für szenische Tricks wie Eis oder Nebel.

Die einzige Konstante bei all diesem avantgardistischen Vorpreschen ist das Publikum. Es darf  rätseln, entschlüsseln, sich wundern oder ärgern, debattieren, vielleicht sogar still genießen. Es darf im übrigen auch mitmachen: In William Forsythes großflächigem Labyrinth, einem Raum mit 400 Pendeln, die sich in variablen Tempi bewegen, sollen geneigte Betrachter lustvoll umherschweifen. Oder eher schlangengleich: Denn eine Berührung des Instrumentariums im Essener Museum Folkwang sei zu vermeiden, heißt es im Programm. Ja, wo die Kunst ihre Ordnung hat, ist im Zweifel der Mensch für das Chaos verantwortlich.

„Habt Mut !“ wollen wir den Besucherscharen zurufen. Denn schon manche Theaterrevolution hat sich im Nachhinein als Spiel auf der Bühne vor Publikum entpuppt. Wie in hunderten von Jahren zuvor. Auch Heiner Goebbels und seine Mitstreiter werden das Rad nicht neu erfinden können. Vielleicht sieht’s nur ein bisschen peppiger aus.

Im Internet (www.ruhrtriennale.de) stehen alle weiteren Informationen, im übrigen auch über sämtliche Produktionen der vorherigen Festival-Jahrgänge. Der Vergleich lohnt sich.




Musikalische Welt nach Wagner: „Ritter Blaubart“ als Psycho-Stück in Augsburg

Von der musikalischen Welt nach Wagner wissen wir noch immer viel zu wenig: Wer in alten Musikgeschichten oder Opernführern liest, mag auf das eine und andere Werk stoßen, das von der zeitgenössischen Kritik als „wagnerisch“ gelobt oder gegeißelt wird. Wir kennen Strauss, wir kennen von Humperdinck eine einzige Oper, hin und wieder ein wenig Schreker oder d’Albert – das war’s. Leider bringt auch das Wagner-Jubiläumsjahr 2013 wenig Licht in die lebendige, gärende, explodierende Zeit zwischen 1880 und 1933. Aus den Opernhäusern in Nordrhein-Westfalen kommt – so weit jetzt schon bekannt – zu diesem Thema kein Ton.

So muss man reisen, will man die paar Versuche mitbekommen: Dessau befragt mit Massenets „Esclaramonde“ den romanischen „Wagnerisme“ (ab 26. Mai), Coburg inszeniert den lange beliebten, in den letzten Jahrzehnten leider vergessenen „Barbier von Bagdad“ des Wagnerianers Peter Cornelius (ab 27. April). In Annaberg-Buchholz demonstriert dagegen die komische Oper „Der Löwe von Venedig“ von Heinrich Köselitz – alias Peter Gast –,  wie sich ein Komponist unter Einfluss Friedrich Nietzsches von Wagners erdrückenden Modellen zu lösen versuchte. Und in Augsburg zeigt „Ritter Blaubart“ von Emil Nikolaus von Reznicek, wie sich die Generation der „Söhne“ des Bayreuther Über-Ichs entledigte, ohne es zu verleugnen.

Von daher passt dieser „Ritter Blaubart“ ausgezeichnet in ein Wagner-Jahr, das ansonsten in überflüssigen Zyklen und Neuinszenierungen der sowieso ständig „befragten“ Werke ertrinkt. Der in Wien geborene Reznicek (1860-1945) ist heute höchstens noch durch „Donna Diana“ bekannt, deren spritzige Ouvertüre gelegentlich in Wunschkonzert-Programmen gespielt wird – während man die kecke Oper „dahinter“ zuletzt 2003 in Kiel zu sehen bekam. Die 1920 in Darmstadt uraufgeführte und kurz darauf auch in Dortmund gespielte Blaubart-Adaption hatte vor rund zehn Jahren einigen Erfolg bei einer konzertanten Aufführung unter Michael Jurowski mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin, die beim Label cpo auf CD erhältlich ist.

Gleisnerische Entgrenzung, üppiger Klang

Nach der Augsburger Premiere 2012 und der jetzt erfolgten Wiederaufnahme möchte man Rezniceks Musik durchaus seinen Zeitgenossen wie Schreker, Korngold, d’Albert oder Siegfried Wagner an die Seite stellen. Das opulent besetzte Orchester – in Augsburg mussten die Bläser aus aufführungspraktischen Gründen um etwa die Hälfte reduziert werden – ist souverän eingesetzt. Reznicek ist ein versierter Könner; das zeigt sich im ökonomischen Satz. Die vielen lichten, kammermusikalisch geprägten Momente verweisen ein wenig auf seine Zeitoper „Benzin“, 2010 in Chemnitz uraufgeführt. Aber er kennt auch die gleisnerische harmonische Entgrenzung, die an Mahler erinnert; die üppige Klangpracht, in der wir Schreker wiederhören. Und die Arbeit mit thematischem Material, das unverkennbar ein Erbe Wagners ist – bis hinein in wörtliche Zitate von „Ring“-Motiven.

Unter Dirk Kaftan, Noch-GMD in Augsburg und künftig der Chefdirigent der Oper Graz, verliert sich das Orchester nicht im süffigen Irgendwo, sondern bleibt bei aller sinnlichen Lust am Glanz des Klangs doch scharf in der Kontur. Kaftan dirigiert, so scheint es, einen Stil, der sich mit dem Zeitgeist der Zwanziger Jahre gut verträgt: Das Technische bleibt – anders als etwa bei Korngold – erkennbar, wird nicht im Sound ertränkt. Aber Kaftan kann auch die riesenhaften Aufschwünge zelebrieren, wenn der Schaum des Fortissimos in den oberen Lagen der Instrumente versprüht, wenn sich das Blech und die tiefen Streicher aufmachen zum Parforceritt nach Wagner’s Manier, wenn grelle Klang-Spots die Grenzen der Tonalität verlachen und einen disharmonischen Lichtkegel in die Zukunft klanglicher Entwicklung werfen.

GMD-Karriere in NRW begonnen

Kaftan ist in Nordrhein-Westfalen übrigens kein Unbekannter: Zu Beginn seiner Karriere, einer klassischen Kapellmeisterlaufbahn, „umkreiste“ er das Ruhrgebiet: Korrepetitor in Bielefeld, Kapellmeister in Münster, Bielefeld und Dortmund. Als er 2006 nach Graz ging, hatte er sich durch seine dynamische Arbeit am Dortmunder Opernhaus schon einen guten Namen geschaffen.

Projektion und Verdoppelung: Sally du Randt und Stephen Owen als Judith und Blaubart in Augsburg. Video: Patrik Metzger. Foto: A. T. Schaefer

Projektion und Verdoppelung: Sally du Randt und Stephen Owen als Judith und Blaubart in Augsburg. Video: Patrik Metzger. Foto: A. T. Schaefer

Szenisch stellt das Team Timo Dentler (Bühne), Okarina Peter (Kostüme), Patrik Metzger (Videos) und Henning Streck (Licht) das absichtsvoll verrätselte Stück in die zwielichtige Atmosphäre eines Metallgerüsts, das an eine historische Filmtrommel erinnert. Mit weißen Bahnen verhängt oder von einer Leinwand halbiert, gibt dieses Rund den Schauplatz der „Blaubart“-Handlung. In ihren Grundzügen folgt sie zwar dem Mythos von dem Frauenmörder, aber die Vorlage, ein Schauspiel des vergessenen Dramatikers Herbert Eulenburg, geht andere Wege als etwa Bartoks Oper über den gleichen Stoff.

Rezniceks und Eulenburgs Oper biegt den Mythos um zu einem großbürgerlichen Psycho-Stück, spart nicht mit symbolistischen Anklängen, lässt Blaubart am Ende an der Unverfälschtheit einer Frau scheitern. Man mag sich an Wagners „Holländer“ erinnern, aber auch an Schrekers „Irrelohe“, wenn Blaubart „dieses Lebens furchtbaren Alb voll Graus und Mord“ von sich schleudert und sich vom Feuer geläutert („Vernichtung! Erlösung!“) zur Sonne emporsehnt: eine säkulare Licht-„Religion“, wie sie der avantgardistischen Kultur des beginnenden 20. Jahrhunderts nicht fremd war.

Regisseur Manfred Weiß arbeitet eine Inszenierung aus, die geschickt die Assoziationen an die Psycho-Filmthriller eines Alfred Hitchcock oder die expressionistischen Schwarz-Weiß-Filme nutzt, wie sie die Wiener Jacob und Luise Fleck („Die Schlange der Leidenschaft“, 1918), Fritz Lang oder Robert Wiene („Orlacs Hände“, 1924) gedreht haben. Das Eröffnungsbild mit dem gespiegelten Raum erinnert an „Vertigo“; als Blaubart seine Braut Judith ermordet, zitiert die Szene mit dem herabfahrenden Messer und zerschlitzten Vorhängen die legendäre Dusch-Szene aus „Psycho“.

Der Monster-Mythos wird nicht bedient

In Farbe lässt Weiß die Morde an den fünf früheren Frauen auf die Leinwand inmitten der Trommel projizieren: alptraumhafte Erinnerungen, Bildfetzen, grelle Eindrücke traumatisierender Taten. Blaubart balanciert in diesem Stück auf einer gefährlichen Linie: Er ist Täter und Getriebener, ein großbürgerlicher Ritter und ein monströser Mörder, ein Psychopath, bei dem ein Klick genügt, um die unheilvolle innere Schraube in Drehung zu versetzen, die unweigerlich zur Bluttat führt.

Stephen Owen schlüpft nicht in die Rolle des düsteren Dämons. Manchmal hätte man sich einen Doktor-Mabuse-Touch gewünscht, aber Manfred Weiß‘ Regie und Owens Darstellung meiden die Horror-Klischees: Das Abgründige kommt nicht als Monster daher, sondern als jovialer, gesellschaftlich eingebetteter Grandseigneur. Die unheilvollen Ahnungen des Grafen Nikolaus (charakteristisch, aber undifferenziert laut: Vladislav Solodyagin) zerstreut er generös. Auch Werner, der Sohn des Grafen, spürt die Ausstrahlung Blaubarts; ihn aber treibt der schillernde Charakter zu einer fast homoerotisch anmutenden Faszination. Christopher Busietta füllt die kleine Rolle psychologisch genau beobachtet aus.

Blaubart – der in Rezniceks Oper mit dem banalen Vornamen „Rainer“ aus der Mythen-Sphäre gelöst wird – hat einst seine erste Frau in flagranti mit seinem besten Freund erwischt und diesen im Affekt erschossen. Die Frau, so heißt es, starb vor Schreck. Diese Szenerie wiederholt Blaubart traumatisch-zwanghaft bei jeder seiner Frauen – auch bei Judith, die schlank und blond wie alle anderen, die Erinnerung hervorruft. Sally du Randt hat die ideale Figur, das souverän weibliche Auftreten, die blonden Haare, um die krankhaften Muster abzurufen. Manfred Weiß schildert das mit der Genauigkeit eines Filmregisseurs.

Wichtige Ausgrabung mit Blick auf Wagner

Bei der Beerdigung Judiths setzt Blaubart seine vampirische Ausstrahlung gezielt ein, um Judiths Schwester Agnes zu bezaubern. Agnes – das Unschuldslamm – bleibt sie selbst, lässt sich nicht in das kranke Rollenbild zwingen, reißt die blonde Perücke, die ihr Blaubart aufzwingen will, wieder ab. Ihre Authentizität bricht den Bann. Katharina von Bülow zeigt diesen Widerstand aus Treue zu sich selbst in einer stimmigen, genau beleuchteten Darstellung, singt die Agnes mit klarem, gerundetem Sopran.

Mark Bowman-Hester als Diener Josua (links) ist eine der rätselvollen Figuren der Oper. Rechts: Stephen Owen als Blaubart. Foto: A. T. Schaefer

Mark Bowman-Hester als Diener Josua (links) ist eine der rätselvollen Figuren der Oper. Rechts: Stephen Owen als Blaubart. Foto: A. T. Schaefer

Eine dunkle, rätselvolle Figur hat Mark Bowman-Hester mit charakteristisch grellem Tenor und ausgearbeiteter Körpersprache darzustellen: Er ist der blinde Josua, eine jener sinistren Dienerfiguren, die schon in der englischen „gothic novel“ in den Handlungen spuken. Er setzt am Ende das Schloss in Brand: Irres Austicken oder Rache für Jahrzehnte der Qual? Das Libretto hält das wahre Motiv, wie so vieles in diesem Stück, in absichtsvoller Schwebe.

Mit Rezniceks „Ritter Blaubart“ ist dem Theater Augsburg eine wichtige Ausgrabung gelungen. Die Einwände gegen die Länge der Oper – zweidreiviertel Stunden – und gegen die dramaturgisch scheinbar ungeschickt eingesetzten langen instrumentalen Einschübe verlieren an Gewicht, wenn man der psychologisch motivierten Dramen-Struktur des Stücks folgt. Weiß und sein Team haben Rezniceks sinfonische Exaltationen unter anderem mit einem japanischen Blaubart-Trickfilm sinnvoll in das Geschehen eingebunden und somit den Spannungsbogen nicht reißen lassen. Dieser Komponist verdient es, auch andernorts beachtet zu werden: „Ritter Blaubart“, aber auch seine „Donna Diana“ lohnen den Fleiß des Ausgräbers.

In Augsburg geht’s im Mai mit der Serie von Opern aus dem 20. Jahrhundert vor der Nazi-Barbarei weiter: mit Korngolds Einaktern „Violanta“ und „Der Ring des Polykrates“ von 1916 (Premiere: 31. Mai).




Hohepriesterin des Gesangs: Montserrat Caballé wird 80 Jahre alt

Auf YouTube findet sich eine Aufnahme aus dem Teatro de la Zarzuela in Madrid aus dem Jahr 1978: Montserrat Caballé singt in einer staubigen, altbackenen Inszenierung „Norma“. Schepperndes Orchester, mäßige Tonqualität, die Sängerin mit einem plumpen Mistelzweig in der Hand und übertriebenen, auf Fernwirkung ausgelegten Augenbrauen. Und doch: Dieser Ausschnitt aus der großen Szene der Norma, „Casta Diva“, zeigt Caballé auf der Höhe ihres Könnens: Ihr Blick ist unverwandt in die Ferne gerichtet, ihre balsamischen Töne erzeugen eine melancholische Aura um die Priesterin.

Herzlich und humorvoll ist die Caballé im Umgang auf und hinter der Bühne. Foto Agentur Schmerbeck

Herzlich und humorvoll ist die Caballé im Umgang auf und hinter der Bühne. Foto Agentur Schmerbeck

Vor allem aber: Ihr Gesicht, ihr Hals ist frei von jeder Anspannung. Die Lippen sind locker, öffnen sich mit natürlichem Ausdruck, formen sich wie die Schallöffnung eines Blasinstruments. Die ätherischen Melismen, die ewig anmutenden Phrasierungen fließen ohne Anstrengung. Montserrat Caballé – die Hohepriesterin des schönen Gesangs. Heute, am 12. April, wird die Sängerin 80 Jahre alt.

John Steane, einer der bedeutendsten Sänger-Kritiker überhaupt, zählte Caballé gemeinsam mit Lilli Lehmann, Rosa Ponselle und Maria Callas zu den vier besten auf Tonträger dokumentierten Sängerinnen des verzierten lyrisch-dramatischen Fachs. Der Weg dorthin war der 1933 in einfachen Verhältnissen geborenen Katalanin nicht vorgezeichnet. Nach dem Studium in Barcelona und ersten Erfahrungen mit Zarzuelas, den unterhaltenden Operetten ihrer Heimat, bekam sie 1956 ihr erstes Engagement in Basel. In Italien, wo man damals hochdramatisch dröhnende Organe bevorzugte, wollte sie niemand haben.

In der Schweiz und bei einzelnen Gastauftritten an deutschen Bühnen sang sie das Repertoire, das sie zunächst für sich bevorzugte: Mozart, Verdi, Strauss. Pamina und Donna Elvira gehörten dazu, Salome, Aida, aber auch Marta in Eugen d’Alberts „Tiefland“, Renata in Prokofjews „Der feurige Engel“ und Marie in der szenischen Uraufführung der Oper „Tilman Riemenschneider“ von Casimir von Paszthory. Zwei Mal sang sie 1959 an der Wiener Staatsoper, hinterließ aber offenbar keinen Eindruck: als Donna Elvira in Mozarts „Don Giovanni“ und in der Titelpartie von Richard Strauss „Salome“.

Ein Bild aus den Anfangstagen der Karriere: Montserrat Caballé und Matti Lehtinen in der Oper "Tilman Riemenschneider" von Casimir von Pászthory 1959 am Theater Basel. Foto Theater Basel

Ein Bild aus den Anfangstagen der Karriere: Montserrat Caballé und Matti Lehtinen in der Oper „Tilman Riemenschneider“ von Casimir von Pászthory 1959 am Theater Basel. Foto Theater Basel

Als sie 1971 nach Wien zurückkehrte, war das anders. Inzwischen hatte sie ihre „Galeerenjahre“ in Basel und Bremen hinter sich, hatte in Mexiko gastiert und war 1965 für Marilyn Horne in New York eingesprungen, in Gaetano Donizettis damals kaum gespielter Oper „Lucrezia Borgia“. Auch für die 32jährige Sängerin war das zunächst nur ein – wenn auch erfolgreicher – exotischer Ausflug neben ihrer „Figaro“-Gräfin und einer Rosenkavalier-Marschallin in Glyndebourne oder der Marguerite in Gounods „Faust“ in New York.

Triumphe – aber nicht in Deutschland

Als sie 1970 ihre erste Norma sang, hatte Caballé sich auf der Schallplatte als Bellini-, Rossini- und Donizetti-Sängerin einen Namen gemacht, also in jenem Repertoire, das außer Maria Callas in den Nachkriegsjahren nur sehr wenige Sängerinnen adäquat beherrschten. Hinfort, so beklagte Caballé einmal in einem Interview, wurde sie auf dieses Genre festgelegt.

Nach Wien kehrte sie 1971 als Leonora im „Troubadour“ und als Elisabetta in „Don Carlo“ zurück – eine ihrer besten auf Tonträger dokumentierten Rollen. Man hatte nicht das Repertoire für eine Sängerin, die sich den Belcantisten des 19. Jahrhunderts verschrieben hatte; Opern wie Donizettis „Anna Bolena“ oder gar Raritäten wie Giovanni Pacinis „Saffo“ waren damals im deutschsprachigen Raum nahezu undenkbar. In ihrer Heimatstadt Barcelona, in USA und in Mailand dagegen triumphierte sie als Maria Stuarda oder Lucrezia Borgia, als Norma oder als Lina in Verdis „Aroldo“.

So ist es nicht verwunderlich, dass Montserrat Caballé – außer zum Beispiel in Hamburg – kaum an großen deutschen Bühnen auftrat. Erst im Herbst ihrer Bühnenkarriere nahm sie das breite Publikum wahr. In Wien sang sie 1988/89 eine Serie von Vorstellungen der damals wiederentdeckten Rossini-Spezialität „Die Reise nach Reims“ und brillierte mit ihrem komischen Talent als Duchesse de Crakentorp in Donizettis „Regimentstochter“ (2007). Längst hatte sie die anspruchsvollen Belcanto-Partien aufgegeben und sich – nach Herzproblemen 1985 – auf Konzerte konzentriert. Ihre Auftritte mit Marilyn Horne waren Publikumsmagneten, aber auch stets in Gefahr, große Belcanto-Nummern als das zu verkaufen, was sie gerade nicht sein wollen: Primadonnenzirkus.

Ein Instrument von „superber Qualität“

Maria de Montserrat Caballé – der Vorname verweist auf eine berühmte schwarze Madonnenstatue in der Benediktinerabtei Santa Maria de Montserrat bei Barcelona – wollte weder eine Diva sein noch als Nachfolgerin der Callas gelten, obwohl sie ihr dankbar war, das Tor zu den vergessenen Schätzen des Belcanto aufgestoßen zu haben. Die Stimme der Caballé war prädestiniert für diese Art von Vortrag: perfekt ausbalanciert in den Registern, weich und flutend in der Tongebung, schmelzend in den leisen Tönen.

Caballés Atemtechnik ist stupend – auch das ist in der erwähnten „Norma“-Aufzeichnung zu hören. Die Töne strömen schier endlos und ihr Atemholen ist fast unmerklich, stört das Ausschwingen der Phrasen in keinem Moment. In ihren besten Jahren zwischen 1965 und 1985 verband Caballé diese vokalen Tugenden auch mit ausdrucksvoller Eloquenz, mit brillanter, aber nie übertriebener Attacke und mit einem nuancenreichen Vortrag. Ihr dunkel schimmerndes Timbre, das erst in späteren Jahren zu einzelnen Schärfen neigte, wurde gerühmt. Keine geringere als Giulietta Simionato sagte ihr „superbe Qualität“ nach.

Es gab aber auch harsche Kritik: Cathy Berberian, Gesangs-Ikone der modernen Musik, die nicht im Entfernten über die Technik der Caballé verfügte, warf ihr vor, nicht darüber nachzudenken, was sie singe und sich auf den reinen Klang zu konzentrieren. Für Berberian bedeutete eine schöne Stimme nichts – Reflex der aus dem Verismo kommenden Kritik an den Stimmen der Ära vor Caruso und dem distanzierten Stil eines Singens, das Ausdruck durch Klang statt durch Rhetorik erzielen will.

In Deutschland sprach Ulrich Schreiber von einem „fossilartigen künstlerischen Zustand“ und beschrieb damit offenbar den Geschmack, der an deutschen Opernhäusern vorherrschte und der zuließ, dass italienisches Repertoire von Sängern interpretiert wurde, die weit von den stilistischen und vokalen Anforderungen der Partien entfernt waren. Jürgen Kesting gibt sich milder, konstatiert ein Fehlen „entscheidender Momente einer kommunikativen Kraft“ in Caballés sängerischem Ausdruck. Dass die Sängerin in Deutschland so selten auf der Bühne stand, hatte also nicht nur mit dem Regietheater der achtziger Jahre zu tun.

An ihrem heutigen 80. Geburtstag ist es still um Montserrat Caballé. Jahrelang hatte sie versucht, mit den Resten ihrer Stimme, mit charmantem Humor und unglaublicher Selbstironie Konzerte zu geben; viele Menschen kamen, weil sie sich bewusst waren, die letzte Protagonistin einer vergehenden Ära zu erleben. Ihren 75. Geburtstag beging sie im April 2008 mit einem Konzert in der Philharmonie Essen.

Das neueste Caballé-Album mit fünf CD. Bild: EMI

Das neueste Caballé-Album mit fünf CD. Bild: EMI

Zu einer Abschiedstournee will die Sängerin dennoch noch einmal antreten – ungeachtet ihrer gesundheitlichen Probleme, die ihr in den letzten Jahren schwer zu schaffen machten. Abgesagt ist allerdings schon ihr geplanter Auftritte in Düsseldorf; angekündigt sind Wien am 30. April und im Herbst Halle/Saale, Luzern und Linz.

Aus Anlass ihres Geburtstags hat die Plattenfirma EMI eine fünf CDs umfassende Box aufgelegt: „The Sound of Montserrat Caballé. Her great opera roles“ (EMI 7212962). Zahlreiche ihrer Gesamtaufnahmen – darunter Raritäten von Bellini und Donizetti – sind noch auf dem Markt, unter anderem die von Jürgen Kesting hoch geschätzte „La Traviata“ mit Carlo Bergonzi unter Georges Pretre (RCA), „Don Carlo“ mit Placido Domingo unter Carlo Maria Giulini (EMI 9668502) oder ihre „Aida“ unter Riccardo Muti (EMI 6406302).




Wagner-Jahr 2013: „Rienzi“ in Krefeld oder das Scheitern eines Ideals

Ein Riss durchzieht die Bühne, mal blutrot leuchtend, mal in giftigem Pink strahlend. Oder ist es eine Fieberkurve, ein Schützengraben, eine Börsengrafik?

Thomas Gruber hat für den Regisseur Matthias Oldag in Krefeld wieder einmal (wie schon bei Poulencs „Dialogues des Carmélites“ in Gera) einen schwarzen Kasten gebaut, dessen Boden und Wände programmatische Texte zeigen: Zeitungsausschnitte über Syrien, die Ukraine – und das Rom vor 800 Jahren. Damals lebten die Päpste im Asyl in Avignon, war das antike und christliche Haupt der Welt zerrissen zwischen machtgierigen Parteien Vieh züchtenden Stadtadels, wurde in unbedeutenden Verhältnissen ein Junge namens Nicola geboren, der später als Cola di Rienzo zu einer der schillerndsten Figuren des späten Mittelalters wurde.

Ein Riss spaltet die gesellschafttlichen Gruppen in "Rienzi" in Krefeld, sinnlich erfahrbar auf Thomas Grubers Bühne. Alle Fotos: Theater Krefeld-Mönchengladbach

Ein Riss spaltet die gesellschafttlichen Gruppen in „Rienzi“ in Krefeld, sinnlich erfahrbar auf Thomas Grubers Bühne. Alle Fotos: Theater Krefeld-Mönchengladbach

Die Buchstaben auf der Bühne wollen uns sagen: Hier, in Richard Wagners „Rienzi“, wird ein Ideendrama durchgespielt, hier geht es nicht um Liebe und scheiternde Beziehungen, sondern um Aufstieg und Fall eines Menschen, der eine Idee in sich trägt, sie fanatisch verfolgt und schließlich scheitert: Die gewaltigen roten Buchstaben, die den Namen „Rienzi“ bildeten, liegen im fünften Akt von Wagners Großer Oper wie Trümmer verstreut; der Chor, der sie  beiseite räumt, bildet für einen Moment daraus scheinbar zufällig „INRI“, die Aufschrift auf Jesu Kreuz.

Jesus, Hitler und Rienzi

Rienzi als „politischer“ Christus? Ein Mensch, der sich um eines höheren Ziels, eines Ideals willen opfert? Der wie Jesus aus dem Weg geräumt wird, als er den Mächtigen im Wege steht? Ein Charismatiker, der seine Verführungs-Macht von Gott zu haben glaubt und sich einzig durch den „Himmel“ rechtfertigt? Oldags Bezüge wollen theologisch nicht korrekt sein, aber sie benennen einzelne Aspekte, die sich auch in der Passion Jesu entdecken lassen. Doch sie lassen auch an eine gespenstische Parallele denken, die in einem Text Saul Friedländers im Programmheft angesprochen wird: An die von Hitler und Rienzi, die sich beide von der „Vorsehung“ berufen fühlten und beide als von jedem Zweifel ungetrübte Fanatiker ihre Mission verfolgten.

Die Stoßrichtung von Oldags Krefelder Neuinszenierung der dritten Oper Wagners geht freilich in eine andere Richtung: Es geht um das Scheitern einer humanen Befreiungs-Idee aus äußeren politischen, aber auch inneren psychologischen Gründen. In der Gestalt des – in jedem Moment überlegt und glaubwürdig agierenden – Sing-Schauspielers Carsten Süß ist Rienzi zunächst ein vom Ideal der „hohen Roma“ beseelter Charismatiker, der das Volk befreien will aus der Umklammerung der Orsini und Colonna – düstere Geld- und Machtmenschen, an denen das einzig Edle die Marke ihrer Zocker-Anzüge ist.

Auf dem Höhepunkt der Macht: Carsten Süß als Rienzi und der Chor.

Auf dem Höhepunkt der Macht: Carsten Süß als Rienzi und der Chor.

Dass es vor allem um viel Geld geht, will der vierte Akt zeigen: Die Abwärtskurve der Kurse und die fallenden Notierungen bilden den Rahmen, in dem sich die Nobili und die vordem von Rienzi aus ihrer Umklammerung befreite Kirche in Gestalt des päpstlichen Legaten (Matthias Wippich) gegen den Tribun verschwören. Die zunehmende Fanatisierung Rienzis, die das Konzept des freien Rom zunehmend zu einer politischen Idée fixe degenerieren lässt, bleibt angesichts der massiven Kürzungen nur skizzenhaft wahrnehmbar: Jede Bühne, die das monumentale Sechseinhalb-Stunden-Stück Wagners bringen will, steht vor diesem Problem. Aber es passt auch zum Konzept: Es liegt nahe, dass Oldag in Rienzi eher die scheiternde politische Utopie Wagners im vorrevolutionären Deutschland entdecken will. Oder, grundsätzlicher genommen, die misslingende Idee einer Erlösung einer Gesellschaft vom Bösen. Das hat ja, politisch gesprochen, nicht einmal Jesus geschafft.

Aus Oldags Sicht ist es somit auch sinnvoll, die privaten Stränge der Handlung, vor allem die Liebesgeschichte zwischen Irene und dem zur Feind-Partei gehörenden Adriano Colonna, nur marginal anzudeuten. Immerhin belässt er Adriano seine wundervolle Szene im Dritten Akt, die den 29jährigen Wagner auf der Höhe psychologisch-musikalischer Charakterisierungskunst seiner Zeit zeigt – eine Fähigkeit, die freilich schon zehn Jahre zuvor in den „Feen“ weit entwickelt war. Mit Eva Maria Günschmann steht die beste Sängerin des Abends auf der Bühne: eine schlanke Gestalt, auch in der Stimme ohne pseudo-dramatische Verdickung, gesegnet mit einem adeligen Timbre und soliden technischen Grundlagen.

Das Ende eines Narrenkönigs

Rienzi endet als Narrenkönig: Die Königskrone, die er im ersten Akt zurückweist – er will lediglich „Tribun“ sein –, setzen ihm die Nobili als Parodie aus glänzender Pappe aufs Haupt. Wie der Gottesnarr in Mussorgskys „Boris Godunow“ irrt er durch den blutroten Graben, der sein Rom spaltet. Am Ende steht das Feuer: Rienzi und seine Schwester Irene werden mit Benzin übergossen; jemand gibt ihm ein Feuerzeug in die Hand, ein roter Vorhang fällt …

Untergang im Feuer - ein beziehungsreiches Bild, auch zur Rezeptionsgeschichte des Werks, das Hitlers Lieblingsoper war.

Untergang im Feuer – ein beziehungsreiches Bild, auch zur Rezeptionsgeschichte des Werks, das Hitlers Lieblingsoper war.

Ist er Zufall, der Gedanken an die Verbrennung von Hitlers Leiche im Hofe der Reichskanzlei, mitten im finalen Feuer auf Berlin? Und damit der behutsame Verweis auf die unglückliche Rezeptionsgeschichte des „Rienzi“ als Hitlers Lieblingsoper und Begleitmusik zu den Nürnberger Parteitagen? Philipp Stölzl hat in seiner Berliner Inszenierung die Parallelen zwischen Rienzi und modernen Diktatoren drastisch herausgestellt. Dass sich Oldag und seine Kostümbildnerin Heike Bromber nicht auf diesen Weg einlassen, nimmt seiner Inszenierung nichts an Brisanz. Nicht immer führt eine explizitere Bildsprache auch zu überzeugenderen Ergebnissen.

Ausschweifender Zugriff auf musikalische Mittel

Musikalisch gibt es viel Lärm zu vermelden: Das liegt an der Instrumentierung, aber auch an Mihkel Kütson, der das gut aufgelegte Orchester die hochfliegende Musik mit aller Inbrunst und ungehemmtem Willen zum Glanz spielen lässt. Es liegt auch an Wagners ausschweifendem Zugriff auf alle musikalischen Mittel seiner Zeit: Aubers Hymnen und Gebete aus „La Muette du Portici“, Halévys groß angelegte Finali in „La Juїve“, Bellinis krachende „Norma“-Chöre, Rossinis Feuer aus „Guillaume Tell“. Und dazwischen immer wieder Vorboten seiner Weiterentwicklung in Richtung der „Tannhäuser“-Romantik. Manchmal hätte Kütson den Furor des Wagner’schen Totalitarismus bremsen sollen; die anfangs erhaben-gluckisch gedehnte Ouvertüre wird zu rasch zu laut und kennt dann keine Steigerung mehr. Und Sänger wie die arg kopfig-enge Anne Preuß (Irene) haben gegen die Klangüberflutung keine Chance.

Krefeld schafft es tatsächlich, die Riesenpartien des Stücks ansprechend zu besetzen: Carsten Süß meistert sein Grundproblem mit einer wenig resonanzreichen Höhe und punktet vor allem mit psychologisch begründeten Klangschattierungen im Zentrum. Hayk Dèinyan ist als Steffano Colonna ein unheimlicher Finsterling, dessen standardisierter Geschäftsleute-Dress die häßlich enthumanisierte Gier nur mühsam verhüllt; auch sein grollend dumpfer Bass passt zu dieser Rolle. Der andere Clanchef, Paolo Orsini, wirkt bei Andrew Nolen eher wie ein abgedrehter Ex-Hippie, der seine langen Haare behalten und seine Brust mit billigen Blechorden behängt hat. Walter Planté und Thomas Peter überzeugen mit durchsetzungsfähigen Stimmen als beflissene Stützen der Macht. Maria Benyumova löst die gewaltige Aufgabe, den Chören Format zu geben, mit glücklicher Hand.

In Krefeld wird momentan unter Generalintendant Michael Grosse ehrgeiziges Musiktheater gemacht: „Rienzi“ ist die einzige Neuinszenierung des Wagner’schen Frühwerks in diesem Jubiläumsjahr im deutschsprachigen Raum; lediglich in Rom kommt im Mai dieses ur-römische Thema noch auf die Bühne. Das verdient angesichts der lahmenden Wagner-Routine an manch großem Haus Hochachtung. Aber „Rienzi“ ist – und das spricht noch mehr für Krefeld-Mönchengladbach – ein Glied in einer Kette, zu der solche Perlen wie Tschaikowskys „Mazeppa“, Nielsens „Maskarade“, Puccinis „Suor Angelica“ und „Le Villi“ und die „Lustigen Nibelungen“ von Oscar Straus gehören: Ein Spielplan, dem in seiner vielfältigen Entdeckerfreude nur wenige andere Theater an die Seite zu stellen sind.




Metapher des Zufalls: Sergej Prokofjews „Der Spieler“ in Frankfurt

Dostojewskis „Spieler“ ist eine existenzielle Figur, die ein Thema der großen russischen Literatur des 19. Jahrhunderts zusammenfasst, nämlich die Frage, wie sich der Mensch im Spannungsfeld von Mächten verhält, die er nicht beeinflussen kann. Oder die auf seine Aktionen unberechenbar reagieren. Tolstoi hat den historischen Zufall in seiner ganzen Absurdität in „Krieg und Frieden“ ausführlich thematisiert. Wie heißen die Alternativen? Gottergebenheit oder Nihilismus?

Schon die Bibel wusste, dass sich Gott nicht zu einem für den Menschen einsichtigen Sinnzusammenhang zwingen lässt: Den Guten kann es schlecht, den Schlechten gut gehen. Selbst für den gläubigen Menschen, falls er nicht vollkommen naiv ist, bleibt der dunkle, unerklärbare Rest der Geschichte, das strukturell Böse jenseits des moralischen Übels. Und Sergej Prokofjews „Der Spieler“ ist eine Oper, die das Schicksal auf den Spieltisch schleudert – selbst, wenn die Figuren in diesem Reigen vordergründig logisch triumphieren oder scheitern.

Die alte Babuschka: Anja Silja im Rollstuhl mit der Aura der großen Bühnendarstellerin. Foto: Monika Rittershaus

Die alte Babuschka: Anja Silja im Rollstuhl mit der Aura der großen Bühnendarstellerin. Foto: Monika Rittershaus

Wer triumphiert in diesem Stück, das an der Oper Frankfurt eine bezwingende Neuinszenierung erfuhr? Nicht die Liebe, nicht das Glück, nicht die Berechnung. Die Kugel auf der riesigen leuchtenden Roulette-Scheibe von Hans Schavernoch rollt gleichmütig und unberührt. Nur die alte Babuschka, eine jener grotesk-unheimlichen Frauen aus Russlands literarischem Erbe, könnte als Siegerin durchgehen, weil sie der Kugel ihren Tribut zollt: Sie befeuert den blinden Zufall, indem sie ihr ganzes Vermögen verspielt statt es zu vererben.

Ein anderer Schein-Sieger ist der Spieler selbst, Alexej, der Hauslehrer des bankrotten Generals. Seine Glückssträhne – 20 Mal Rot hintereinander – aber ist die grelle Ouvertüre zum letzten Akt seines existenziellen Unglücks: Da scheitert mehr als die Liebe zu seiner Schülerin Polina, da scheitert ein Mensch im Angesicht des Ungreifbaren: Schicksal und Liebe sind unverfügbar, Geld rettet und richtet nichts.

Das Leben - ein Roulette: "Der Spieler" in der Szene von Hans Schavernoch in Frankfurt. Foto: Monika Rittershaus

Das Leben – ein Roulette: „Der Spieler“ in der Szene von Hans Schavernoch in Frankfurt. Foto: Monika Rittershaus

Die Bühne braucht einen solchen Kenner menschlicher Tiefen wie Harry Kupfer, um aus der spröden Konversationsoper das packende Stück zu schaffen, das in Frankfurt zu sehen war. Mit seiner auf die Personen konzentrierten Regie bespielt Kupfer das illustrierend-kommentierende Bühnenbild mühelos: Hans Schavernoch erinnert an Klinikflure und geheimnisvoll gläserne Paläste, zeigt die glamourösen Sterne der Halbwelt und die lautlosen Gefahren der Außenwelt. Die Katastrophe des Spielers Alexej beschränkt sich nicht aufs Individuelle: Als er am Ende die Pistole auf seine Schläfe richtet, schlägt ein Komet auf der Erde ein – wie in Lars von Triers „Melancholia“.

Sinnloser Geldregen: Frank van Aken in Prokofjews "Der Spieler" an der Oper  Frankfurt. Foto: Monika Rittershaus

Sinnloser Geldregen: Frank van Aken in Prokofjews „Der Spieler“ an der Oper Frankfurt. Foto: Monika Rittershaus

In Frank van Aken weckt Harry Kupfer den Darsteller und führt ihn zu großer Klasse: Van Aken liefert sich an die Riesenpartie aus, singt sie psychologisch durchdringend, gestaltet sie spannungsreich in ihrer Ambivalenz, zwischen aussichtlos – und daher erst recht vorbehaltlos – Liebendem und grotesk im Spielrausch Versinkendem. An der Seite dieser grandiosen Sängerleistung kann kaum jemand bestehen, obwohl Kupfer mit den allesamt vorzüglichen Frankfurter Darstellern bewundernswert scharf beobachtete bizarre Typen formt.

Nur eine zieht gleich: Anja Silja als Babuschka, an den Rollstuhl gefesselt, kostet ihre Macht aus, auch wenn sie nur eine negative ist. Ihr Geld bekommt niemand, eher überlässt sie es dem blinden Lauf der Kugel: In dieser Szene triumphiert die absurde Sinnlosigkeit des Geldes. Siljas Auftritt ist eingehüllt von der Magie einer Bühnenlegende – und dieser auratische Glanz stimmt das Gehör für den Rest ihrer Stimme milde und aufmerksam.

Später, wenn Frank van Aken seinen Gewinn über sich abregnen lässt und in einem Haufen Papiergeld sitzt, wird dieser Gedanke szenisch noch einmal überhöht und präzisiert: Polina, das prätentiöse, undurchschaubare und in der Regie wohl bewusst uneindeutig belassene Weibchen, wirft dem hoffnungslos verliebten Alexej sein Geld an den Kopf – einer der unverwechselbaren Auftritte der wie immer in ihrer Rolle lebenden Barbara Zechmeister.

Dank Kupfers Regiekunst wirken die farcenhaft stilisierten Nebenfiguren nie übertrieben. Sie sind in ihrer Gier, ihrem Wahn, ihrer Verfallenheit grotesk komisch (die diversen Damen der Gesellschaft mit Claudia Mahnke als zynisch abgedrehter Blanche), lächerlich tragisch (der alte General Clive Bayleys) oder schmierig undurchsichtig (Martin Mitterrutzner als Marquis oder Sungkon Kim als Mr. Astley). Die Kostüme von Yan Tax, changierend zwischen historischen Anklängen und flirrender Eleganz, unterstreichen die Charaktere.

Sebastian Weigle. Foto: Wolfgang Runkel

Sebastian Weigle. Foto: Wolfgang Runkel

Mit dem Frankfurter Orchester bewegt sich Sebastian Weigle wieder einmal auf dem Niveau, das er durch seine Wagner-Interpretationen, aber auch mit Humperdincks „Königskinder“ oder Korngolds „Die tote Stadt“  markiert hat. Prokofjew schenkt den Musikern nichts: Seine Musik kann hitzig und auftrumpfend sein, bewegt sich aber oft in komplex konstruierten Klangmixturen, in denen solistische Präsenz und ein unbestechliches Gehör für die Partner-Instrumente im Orchester nötig sind. Weigle lässt diese rhythmisch verstörten Farbgemische so bunt vorüberziehen wie die Lichter in Schavernochs Bühnenprojektionen (realisiert von Thomas Reimer). Prokofjew kann sarkastisch kommentieren, aber die Musik löst sich auch vom Geschehen und hat dann einen Zug zu Hindemith’scher Autonomie.

Dass diese Oper so selten gespielt wird – in der Rhein-Ruhr-Region etwa in einer Regie Bohumil Herlischkas 1980 in Düsseldorf – ist nicht recht verständlich. Man darf auf eine Wiederaufnahme in Frankfurt hoffen, nachdem die sieben Vorstellungen ausverkauft waren. De Nederlandse Opera, die im Moment Prokofjews „Liebe zu den drei Orangen“ spielt, kündigt den „Spieler“ für die kommende Saison an: Premiere der Inszenierung von Andrea Breth ist am 7. Dezember 2013.

 




Wagner-Jahr 2013: „Die Feen“ in Leipzig, Kühnheit eines Zwanzigjährigen

Ob Wagner oder Verdi: In beider Jubilare Fall verlassen sich die Theater im Repertoire auf das Übliche. Die Opern der Anfangszeit kommen selten zum Zuge. Und leider setzt sich diese Linie auch im Jubiläumsjahr 2013 fort. Während sich selbst mittelgroße Häuser wie Cottbus, Darmstadt, Dessau oder Halle auf den „Ring“ stürzen, bleiben Wagners aus dem Bayreuth-Kanon ausgeschlossene Opern am Rand: Ein einziger neuer szenischer „Rienzi“ in Krefeld (Premiere am 9. März), das „Liebesverbot“ in Meiningen und in Radebeul – und „Die Feen“ nur in Wagners Geburtsstadt  Leipzig: Das ist die magere Bilanz des „Wagner-Jahres“ auf deutschen Bühnen.

"Die Geister schreiten hinein ins Leben...": Szene aus Richard Wagners "Die Feen" in Leipzig. Foto: Tom Schulze

„Die Geister schreiten hinein ins Leben…“: Szene aus Richard Wagners „Die Feen“ in Leipzig. Foto: Tom Schulze

Bei Verdi sieht’s noch trüber aus: Niemand bewegt sich über die bis zum Überdruss regielich gebeutelten Traviaten, Rigolettos und Troubadoure hinaus. Würde das Aalto-Theater in Essen nicht Verdis „I Masnadieri“ spielen, würden sich nicht das Theater an der Wien und die Festspiele Sankt Gallen des „Attila“ annehmen: Im deutschsprachigen Raum wäre das Verdi-Jahr ein kompletter Ausfall. Kein „Ernani“, kein Blick auf den kühn-düsteren „Corsaro“, nicht einmal ein „Stiffelio“. Für Opern wie „Jérusalem“ oder  die seit Jahrzehnten nicht mehr inszenierte „La Battaglia di Legnano“ zeigt kein Theater Interesse: Große Häuser bedienen das geschäftige Karussell der Dirigenten- und Regie-Stars und lassen die immer gleichen Stücke „neu befragen“, den kleineren scheint in Sachen Verdi die Intendanten- und Dramaturgen-Fantasie ausgegangen zu sein.

Wenigstens die Leipziger Verantwortlichen haben diese Lücke schon vor Jahren erkannt und – in Kooperation mit Bayreuth – für 2013 weltweit einzigartig die Trias der vor dem „Holländer“ entstandenen Wagner-Opern szenisch ins Programm genommen. Den „Rienzi“ hat die Leipziger Oper seit ihrer Wiedereröffnung 2007 im Repertoire, „Das Liebesverbot“ wird nach seiner Premiere in Bayreuth in der Spielzeit 2013/14 folgen – und jetzt, kurz nach Wagners Todestag, kam „Die Feen“ auf die Bühne.

Das Werk ist Wagners zweite Oper. Die erste, „Die Hochzeit“, vernichtete er nach einem ungünstigen Urteil seiner Schwester, nur eine Introduktion plus Septett blieb durch Zufall erhalten. 1833 geschrieben, wurde die „Große romantische Oper“ erst 1888 in München uraufgeführt. „Die Feen“ blieb trotz damaligen Erfolgs ein Bühnen-Exot – nicht zuletzt wegen der beharrlichen Versuche aus Bayreuth, den „Kanon“ der zehn „gültigen“ Werke zu zementieren.

Pionierarbeit für „Die Feen“ in Wuppertal

Seit Friedrich Meyer-Oertel 1981 in Wuppertal – und 1989 am Gärtnerplatztheater München – die moderne Rezeptionsgeschichte einleitete, gab es nur wenigen Inszenierungen, so 2005 in Würzburg – dem Entstehungsort der „Feen“ – und in Kaiserslautern. Diese erwiesen Wagners erhaltenen Erstling jedoch als erstaunlich lebensfähig: Kurt Josef Schildknecht entmythologisierte in Würzburg die Romantik des Dualismus von Feen- und Menschenwelt und inszenierte das Stück als einen gegen die junge Generation gerichteten Triumph beharrenden patriarchalen Strebens nach Machterhalt. Johannes Reitmeier – jetzt Intendant in Innsbruck – deutete in Kaiserslautern die Hoffmann’sche Seite der „Feen“ negativ, als Scheitern von Wagners Konzept der erlösenden Liebe und der Künstler-Utopien.

Der Bürger und die Fee: Christiane Libor und Arnold Bezuyen. Foto:Kirsten Nijhof

Der Bürger und die Fee: Christiane Libor und Arnold Bezuyen. Foto:Kirsten Nijhof

In Leipzig setzte man mit dem kanadisch-französischen Duo Renaud Doucet (Regie) und André Barbe (Bühne und Kostüme) auf eine Richtung, die weniger dem deutschen Regietheater als einer sinnenfroh dekorativen Opernwelt zuneigt. Die beiden Künstler beschreiben das Ziel ihrer Arbeit denn auch eher harmlos: Sie wollten zeigen, wie die Kraft der Musik die Fantasie anregen kann, heißt es im Programmheft. Schauplatz ist eine gutbürgerliche Altbauwohnung, vielleicht im Nachwende-Leipzig. Eine Familie sitzt beim Nachtmahle. Dann ziehen die jungen Leute los. Auch das Elternpaar trennt sich: Der Mann mit orangefarbener Weste um den Bauch schaltet seine Stereoanlage ein, die Frau packt die Tasche für Sport oder Sauna. Eine Rundfunkübertragung beginnt: Es sind „Die Feen“ aus der Oper Leipzig …

Was dann geschieht, folgt der Beschreibung E.T.A. Hoffmanns in seiner programmatischen Schrift „Der Dichter und der Komponist“  ziemlich genau: „Die Geister schreiten hinein in das Leben und verstricken die Menschen in das wunderbare, geheimnisvolle Verhängnis, das über sie waltet.“ Über der Wohnung öffnet sich das Feenreich: In einem Riesenbaum mag man Wagners Weltesche erkennen, die Kulissen atmen Natur-Idyll, die Feen selbst tragen neckisch-verspielte Biedermeier-Kostüme der Zeit Wagners. Die Welten durchdringen sich; der Bildungsbürger des 21. Jahrhunderts mutiert – die Musik mit der Hand mitdirigierend – allmählich zu Arindal, dem Helden Wagners.

Mittelalter in der Bildwelt des 19. Jahrhunderts

Das ist ein verheißungsvoll erdachter Ansatz, zumal er das „Romantische“ im ursprünglichen Sinne ernst zu nehmen versucht. Er setzt sich auch im Bühnenbild des zweiten Aktes fort, der in die kriegerische Welt eines imaginären Mittelalters führt, in der ein fremder, böser König Arindals Reich bedroht, seine Schwester Lora tapfer die Stellung als starke, sanfte Kriegerin hält (Lässt da nicht Wagners verehrte Schwester Rosalie grüßen?) und der von seiner geliebten Fee Ada getrennte Königssohn in passiver Depression zu kämpfen außerstande ist. Täuschung, Trug und Zauber spielen eine Rolle bis zur finalen Katastrophe.

Szenenbild Zweiter Akt der Leipziger "Feen". Foto: Kirsten Nijhof

Szenenbild Zweiter Akt der Leipziger „Feen“. Foto: Kirsten Nijhof

Barbes Bühne löst jetzt die Wohnung in Bruchstücke auf, die er in bewusst naiv gemalte Kulissen eines Mittelalters in der Bildwelt des 19. Jahrhunderts integriert. Moritz von Schwind lässt grüßen, der byzantinisierende Saal der Wartburg auch, und die Kostüme könnten einer Schulaufführung entstammen, die unbeholfen die Ritterzeit nachstellen will: Bewusst spielt Barbe auf das historisierende Mittelalter des Stücks an, das Wagner ja auch in „Tannhäuser“ und „Lohengrin“ auf die Bühne holt – und das, nebenbei bemerkt, auch Verdi oft als Camouflage diente.

Doch jetzt sackt die Regie ab: Doucet bewältigt mit einer konventionellen Aufstellung von Solisten und Chor die szenische Herausforderung etwa des groß angelegten Finales nicht. Weder das Wunderbare noch das Überraschende, weder die gespielte Imagination noch die innere Durchdringung der Welten vermitteln sich überzeugend. Und der „coup de théâtre“, bei dem Ada ihre und Arindals Kinder in einen „Feuerschlund“ stößt, ist einfach nur billiges Machwerk, wo er doch als perfekt inszenierte Feen-Gaukelei zwar trugvoll, aber zugleich auch überwältigend erscheinen müsste.

Wagner schwebt ein: Schlussbild der Oper "Die Feen" in Leipzig. Foto: Tom Schulze

Wagner schwebt ein: Schlussbild der Oper „Die Feen“ in Leipzig. Foto: Tom Schulze

Der dritte Akt begnügt sich mit Regie-Effekten von der Dilettanten-Bühne und überzeugt auch szenisch mit einem gemalten Fahrstuhlschacht in die Unterwelt des Feenreiches nicht mehr. Dass am Ende Wagner, von einem Schmetterling gehalten, einschwebt und die Moral der Geschicht‘ verkündet, ist ein gelungen ironisierender Moment. Das bürgerliche Ehepaar sitzt nach Operngenuss und Saunabesuch glücklich vereint auf dem Sofa. Erlösung heißt, im Wagner’schen Klavierauszuge zu blättern. Verwirklicht sich die Liebes-Utopie Wagners in der traulichen Zweisamkeit auf den Kissen? Wagners hochfliegende Ideen, mit leiser Ironie geerdet.

Musik mit Makel

Musikalisch stand es in Leipzig leider nicht zum Besten: Die Bläser verfehlen schon in der Ouvertüre ständig Einsätze, das Gewandhausorchester spannt über die mendelssohnisch lichten Feenmusik-Akkorde keinen blühenden Bogen. Wie schon in „Parsifal“ oder den „Meistersingern“ treibt Ulf Schirmer zu kompakter Lautstärke an. Das macht den Sängern das Leben schwer, verdickt den dichten Orchestersatz unnötig und trivialisiert die Pauken-Bläser-Tuttischläge, die Wagner als Zwanzigjähriger noch etwas zu ausdauernd liebte.

Ulf Schirmer, Generalmusikdirektor der Oper Leipzig seit 2009/10. Foto: Tom Schulze

Ulf Schirmer, Generalmusikdirektor der Oper Leipzig seit 2009/10. Foto: Tom Schulze

Luftiger, leichter und im Tonfall sehrender gespielt, würde die Musik ihre Qualität unbezweifelbarer offenbaren. Denn Wagner beherrscht – manchem in Kritiken vollmundig verkündetem Unfug über die „schlechteste Oper des 19. Jahrhunderts“ zum Trotz – die musikalische Sprache auf der Höhe seiner Zeit, braucht sich vor keinem Kreutzer, keinem Spohr, keinem Schumann zu verstecken, weiß auch sehr wohl, die Vorbilder von Marschners „Vampyr“ bis zu Beethovens heroischem „Fidelio“ oder der Spielopern wie Aubers „Maurer und Schlosser“ für sich zu nutzen. Und einen Zwanzigjährigen, der ein ausgreifendes Finale wie das des zweiten Akts der „Feen“ schreibt, den mag die Musikgeschichte erst einmal suchen!

Für seine Hauptpartien hatte der junge Wagner wohl konkrete Vorbilder im Kopf: Unschwer lässt sich vorstellen, wie er bei den hochgespannten Arien der Fee Ada sein Ideal Wilhelmine Schröder-Devrient vor Augen hatte, die dem Sechzehnjährigen in Leipzig im „Fidelio“ das Schlüsselerlebnis seiner Jugendjahre bescherte. Dass er bei Arindal an seinen Bruder Albert dachte, der seinerzeit in Würzburg von Rossinis Almaviva bis Webers Freischütz-Max, von Masaniello in Aubers „Die Stumme von Portici“ bis Beethovens Florestan alles sang, liegt nahe. Albert soll dem Jung-Komponisten ja prophezeit haben, dass ihn die Sänger für seine Partien verfluchen würden.

Enorme Forderungen an die Sänger

Arnold Bezuyen, dem Leipziger Arindal, mag sich ein solcher Fluch öfter auf die Lippen gedrängt haben, als er sich mit der vertrackt hohen und dramatischen Partie abmühte: beklemmt stemmt er die Töne, sucht die Höhe, verliert das Legato, quetscht die Spitzen. Christiane Libor als Ada muss zwar auch manchmal forcieren und drückt dann die Töne zu hoch, liefert aber insgesamt ein famos stimmlich abgesichertes Rollenporträt der Fee, die um ihre Sterblichkeit – und damit um ihre Menschlichkeit – kämpfen muss.

Mit Viktorija Kaminskaite und Jean Broekhuizen sind die Feen Zemina und Farzana aus dem Leipziger Ensemble ansprechend besetzt. Eun Yee You hat für die Lora eine zu undramatische, in der Konzentration des Tons oft überforderte Stimme. Jennifer Porto und Milcho Borovinov  als Drolla und Gernot liefern sich im zweiten Akt ein köstliches Rededuell, das bedauern lässt, dass Wagner geplante Ausflüge in die deutsche Spieloper nicht realisiert hat.

Detlef Roth singt sich mit gedecktem Bariton durch die Partie des getreuen Morald, Guy Mannheim zeigt, wie sich Wagner in der Rolle des Gunther an den drolligen Figuren eines Heinrich Marschner („Der Templer und die Jüdin“) orientiert hat. Roland Schubert lässt sich nicht verleiten, die kleine Rolle des Harald nicht ernst zu nehmen. Blass und fistelig in der Höhe bleibt Igor Durlovski als Zauberer Groma. Auch im Chor Alessandro Zuppardos klappert es öfter – aber bis zum (konzertanten) Gastspiel der „Feen“ in Bayreuth im Mai 2013 ist ja noch Zeit für einige ergänzende Proben.

Immerhin hat Leipzig wieder einmal gezeigt, was für eine theatralische Kraft in Wagners „Feen“ steckt, wenn sie durch eine sensible Regie geweckt wird. Das Stadttheater Regensburg hat für 2014 eine weitere Neuinszenierung angekündigt; würde das Wagner-Jahr wenigstens ein Signal für eine vertiefte Beschäftigung mit den Jugendopern geben, wäre ein wichtiges Ziel erreicht.




Beseelte Technik: Joyce DiDonato brilliert in der Essener Philharmonie

Mit zwei Vorurteilen räumt die amerikanische Sängerin Joyce DiDonato gründlich auf: Das erste ist, mit einer Stimme, die für Richard Strauss` „Ariadne auf Naxos“ oder für Massenets „Cendrillon“ geeignet sei, könne man Barockmusik nicht stilistisch adäquat singen. Auch das zweite hat keinen Bestand: Es müssen keine weißen, flachen, dünn vibrierenden Stimmchen sein, um den „informierten“ historischen Klang korrekt zu treffen.

Joyce DiDonato bringt für ihre „Drama Queens“ alles mit, was in den Schulen des Belcanto seit dem 17. Jahrhundert essentielle Kennzeichen einer guten Stimme und eines ausdrucksvollen, weil technisch richtigen Vortrags waren: ein maßvoll individuelles Timbre, ausgeglichene Tonbildung in allen Lagen, eine volle, verfärbungsfreie Emission des Tons im Piano wie im Forte, eine sichere Atemstütze, einwandfreie Artikulation, bruchloses Legato und eine bewundernswerte Messa di Voce, jenes freie Anschwellenlassen des Tones auf dem Atem, das seit jeher die Bewunderung der Gesangsenthusiasten hervorgerufen hat. Dazu tritt bei ihr eine gestische Bewältigung des Singens, die zu einem natürlich wirkenden Ausdruck führt.

Leidenschaft und Technik müssen kein Gegensatz sein: Joyce DiDonato in der Philharmonie Essen. Foto: Sven Lorenz

Leidenschaft und Technik müssen kein Gegensatz sein: Joyce DiDonato in der Philharmonie Essen. Foto: Sven Lorenz

DiDonatos Stimme ist trotz aller technischen Finesse kein kühles Instrument. Für all die gekrönten Protagonistinnen aus der barocken Oper von Antonio Cesti bis Antonio Vivaldi bringt sie zwar die Virtuosität für die Darstellung der Affekte mit. Aber sie beseelt ihren Vortrag gleichzeitig durch eine innere Glut der Emotion, die einen distanzierenden „Vortrag“ überwindet. Was sie von anderen, durchaus auch beeindruckenden modernen Diven des barocken Genres unterscheidet, ist die technisch nahezu makellose Absicherung der musikalischen Gefühlswelten.

Da gibt es keine hauchigen Seufzer, keine verdünnten Piano-Piepser, kein forciertes Auftrumpfen. Aber dafür eine faszinierende Palette aus der Stimme und ihrem Potenzial entwickelter Farben. Kein Verismo also: Der Kunstcharakter des Singens bleibt erhalten. Singen im Geist der großen Opern-Epochen vor der Romantik, nicht „expressiv“ aufgemischtes Pseudo-Barock. Was sie auch von den anämischen Versuchen mancher fiepiger Kopfsänger auf den Spuren ihrer entmannten Vorgänger angenehm unterscheidet.

In der Philharmonie Essen streifte Joyce DiDonato noch einmal durch die Welt der antiken und mythologischen Herrscherinnen: Persische und mykenische Prinzessinnen fügen sich in Tod und Wonne; gleich zwei Mal beseelen die ägyptische Königin Cleopatra  edle Resignation und gespenstische Rachelust: Johann Adolf Hasses „Morte col fiero aspetto“ spiegelt jene barocke, aus dem christlichen Glauben gespeiste Vertrautheit mit dem Tod wider, aus der Mozart die lebensbeendende Macht noch als seinen „Freund“ bezeichnen konnte: Kein grausam-schreckliches Gesicht zeigt der Tod, denn er befreit die Seele aus dem Gefängnis der menschlichen Existenz. DiDonato fängt diese edle Resignation in exquisiten Farben und dynamischen Schattierungen ein.

Die Cleopatra aus Händels „Giulio Cesare“ ist aus einem anderen Holz: Sie beklagt in „Piangerò la sorte mia“ ihr Schicksal in wehmütigem Piano, um kurz darauf in energischer Koloratur dem Tyrannen Qualen aus dem Jenseits anzudrohen. Wie Joyce DiDonato Händels Phrasierungsbögen mit Glut und Glanz erfüllt, ist hinreißend. Nach Giovanni Portas „Madre diletta, abbracciami“, ein ergreifendes Lamento aus der Oper „Ifigenia in Aulide“, wagt das Publikum kaum zu klatschen, so intensiv gestaltet die Sängerin diesen Abschied von der Mutter. Und in Händels „Brilla nell‘ alma“ aus der selten gespielten Oper „Alessandro“ glänzt DiDonato mit frei und locker gefügten Koloraturenketten und technisch perfekt gebildeten Trillern – aber eben nicht als Selbstzweck, sondern als superbe Ausformung innerer Regungen.

Auch die Robe erregte Aufsehen: Die Sängerin und ihr Begleiter, Dmity Sinkovsky. Foto: Sven Lorenz

Auch die Robe erregte Aufsehen: Die Sängerin und ihr Begleiter, Dmity Sinkovsky. Foto: Sven Lorenz

Unter den drei Zugaben entrückt Reinhard Keisers „Lascia mi piangere“ aus „Fredegonda“ das Auditorium noch einmal in die elysischen Gefilde einer lyrischen Delikatesse, die momentan in der Welt des Gesangs nur mit Mühe ihresgleichen findet. „Il Complesso Barocco“, das begleitende Ensemble mit dem wendigen Geiger Dmitry Sinkovsky an der Spitze, wurde durch die „Queen“ des Abends auf den zweiten Platz verwiesen: nicht ganz zu Recht, wie Instrumentalstücke aus Glucks „Armide“ und Händels „Radamisto“ nahelegen. Der staubtrockene „historische“ Klang der Italiener wird freilich allein durch die farbenreiche, sinnliche Stimme DiDonatos in Frage gestellt: Vielleicht darf es auch auf Darmsaiten und Holzblättchen mittlerweile wieder etwas klangfroher zugehen?




Geschundenes Teufelsweib: Schostakowitschs „Lady Macbeth“ in Gelsenkirchen

Katerina Ismailowa (Yamina Maamar) wird von ihrem tyrannischen Schwiegervater unterdrückt (Tomas Möwes, Foto: Karl Forster)

Katerina Ismailowa (Yamina Maamar) wird von ihrem tyrannischen Schwiegervater unterdrückt (Tomas Möwes, Foto: Karl Forster)

26 Jahre alt war Dmitri Schostakowitsch, als er es wagte, Stalins Sowjetunion erneut den Spiegel vorzuhalten. Mit den Mitteln der Groteske wirft seine Oper „Lady Macbeth von Mzensk“ grelle Schlaglichter auf brutale Herrschaftsstrukturen und den viehisch verrohten Menschenschlag, den sie hervor bringen. Das Gelsenkirchener Musiktheater zeigt das tollkühne Meisterwerk jetzt in der Fassung, die Hausherr Michael Schulz vor anderthalb Jahren für die Bühne des Staatstheaters Kassel erarbeitete.

Die Schwärze der menschlichen Abgründe, in die Schostakowitsch uns blicken lässt, hebt sich trefflich von Dirk Beckers weißer Bühne ab, in der ein paar junge Birken Natur andeuten. Im Schlussbild senkt sich die Decke herab: Ihre kreisrunde Öffnung zum Himmel verwandelt sich dann zur Mauer eines Konzentrationslagers. Weshalb die Titelheldin Katerina Ismailova und ihr Geliebter Sergej letztlich dort enden, erzählt Michael Schulz mit klarem Blick auf die desolaten Verhältnisse und sicherem Gespür für die Psychologie der Figuren.

Katerina, dieses lebenshungrige Teufelsweib, lauert wie ein Tier hinter dem Gazevorhang, vor dem ihr tyrannischer Schwiegervater patrouilliert wie ein drohender Schatten. Sie muss morden, wenn sie leben will, findet ihrer Verbrechen wegen aber keinen Frieden. Ihren Weg vom Opfer zur Täterin, die abermals benutzt und gebrochen wird, arbeitet Schulz mit reduzierten Mitteln gekonnt heraus. Er holt die Blechbläser auf die Bühne, auf dass ihre wüsten Fanfaren uns die ganze Geilheit und Falschheit dieser Welt in die Ohren trompeten.

Schwach wird die schlüssige Inszenierung nur dann, wenn sie der Satire zusätzliche Lustigkeit aufpfropfen will. Dann spielt eine Turnsportgruppe mit einer Stalin-Büste Fangen, und die Komsomolzen-Parade im dritten Akt schwenkt statt roter Fahnen plötzlich Luftballons. Solche Clownerien fordern ein glucksendes Lachen heraus, das angesichts der Millionen Opfer von Stalins blutigem Zirkus besser im Halse stecken bliebe.

Schier Unglaubliches klingt dafür aus dem Orchestergraben. Von dort hämmern uns orgiastische Ausbrüche und wüst rammelnde Rhythmen entgegen. Vulgarität und Rohheit spritzen aus der Partitur, verzerrte Operetten-Zitate träufeln ätzende Ironie hinein. Die Musik höhnt und stöhnt, aber die Neue Philharmonie Westfalen flankiert die erschreckenden Exzesse mit zärtlichsten Rusalka- und Tristan-Klängen, wenn Katerina ihr kurzes Liebesglück genießen darf. Der bereits viel gerühmte Aufschwung, den das Orchester unter der Leitung von Rasmus Baumann genommen hat, ist nach dieser Premiere endgültig als Sensation einzustufen.

Große Klanggewalt entfalten auch Opern- und Extrachor des Theaters. In der Titelpartie zeigt der Sopran von Yamina Maamar neben glutvollem Trotz und fordernder Leidenschaft zuweilen Schärfen, berührt aber in den leisen Momenten, in denen Katerina die Ausweglosigkeit ihrer Lage begreift. Lars-Oliver Rühl klingt als Sergej häufig statisch, gleicht Defizite aber durch schauspielerische Vehemenz aus. Als völlig verhärteter Gutsbesitzer, der gleichwohl Sorgen kennt, überzeugt Tomas Möwes mit charakterstarkem Bariton.

Wenn Katerina diesen grausamen Schwiegervater vergiftet, ahnt sie ihr eigenes Ende noch nicht. Denn so tief kann der Mensch offenbar nicht sinken, dass er keinen noch Elenderen fände, um ihn zu treten und zu schinden.

(Der Bericht ist zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen. Nähere Informationen zum Stück/Karten: www.musiktheater-im-revier.de)




Hilflos im Hahnenkampf: „Der Troubadour“ am Theater Dortmund

Das Zigeunerleben hat seine Härten: Azucena (Hermine Mey) und Manrico (Stefano La Colla) in der Dortmunder "Troubadour"-Inszenierung (Copyright: Fotografie Bjoern Hickmann)

Das Zigeunerleben hat seine Härten: Azucena (Hermine May) und Manrico (Stefano La Colla) in der Dortmunder „Troubadour“-Inszenierung (Copyright: Fotografie Bjoern Hickmann)

Das ist nun so eine richtige Männergeschichte. Nicht wissend, dass sie Brüder sind, bekämpfen sich Graf Luna und Manrico bis aufs Messer. Das Schicksal hat sie zu politischen Gegnern gemacht, und als wäre dies nicht genug, buhlen beide auch noch um die Gunst der gleichen Frau.

Auf der Opernbühne gibt dies Anlass genug für schluchzende tenorale Liebesständchen, zorndurchbebte Racheschwüre und wuchtige Ensembleszenen, wie Giuseppe Verdi sie in seinem Meisterwerk „Il Trovatore“ zu einer wahren Glanzparade von Ohrwürmern reiht. Um das Verdi-Jahr 2013 zu feiern, hat das Theater Dortmund jetzt seine Hausregisseurin Katharina Thoma mit einer Neuinszenierung der populären Oper beauftragt. Wie zuvor in ihrer Fassung von Modest Mussorgskys „Boris Godunow“, verlegt sie die Handlung auch diesmal in einen Betonbunker mit verschiebbaren Elementen: freilich mit weit geringerem Erfolg. Thoma findet keine übergreifende Idee für das blockhaft aufgeteilte Libretto, das die Story in deutlich abgesetzten Tableaus erzählt. Die Vorgeschichte von der Zigeunerin, die im Wahn ihr eigenes Kind ins Feuer warf und Manrico fortan wie ihren Sohn groß zog, versucht sie mit filmischen Einblendungen verständlich zu machen. Aber ihr Versuch, den mittelalterlichen Stellvertreterstreit um den Thron von Aragón in unsere Zeit zu übersetzen, wirkt hilflos.

Die Mannen von Graf Luna sind als nicht näher bestimmte Soldateska gezeichnet. Manrico ist ein Draufgänger in Motorrad-Kluft: Zum Glück darf er seinen lächerlichen Helm nach dem ersten Auftritt ablegen. Eine reichlich beliebige Bilderflut zitiert die Schrecken des Bürgerkriegs. Damit Sondereinsatzkommandos, Nonnen und Zigeunergruppen sich nicht restlos verheddern, wirft die Regie in den Akt-Übergängen einfach mal eine Alarmsirene an. Dazu blinkt ein gelbes Warnlicht, als befänden wir uns auf einer ungesicherten Baustelle. Ratlosigkeit macht sich breit. Immerhin kommt es kurz vor Manricos Hinrichtung zu einem innigen Bild, wenn er und Azucena in einem ehemaligen Duschraum gefangen gehalten werden. Da bilden schmutzige nackte Fliesen den Hintergrund für reine, glühende Emotion.

Das Solistenquartett ist in Dortmund mit drei Gästen und einem Ensemblemitglied ansprechend besetzt. Der Südkoreaner Sangmin Lee, seit dieser Spielzeit in Dortmund engagiert, durchmischt den mit grimmigen Machtanspruch des Grafen Luna zunehmend mit Untertönen glühender Verzweiflung, je mehr dieser im Kampf um Leonora den kürzeren zieht. Ihr Rollendebüt als Leonora gibt Susanne Braunsteffer. Ihr Sopran verbindet Durchschlagskraft und Leidenschaft mit einem Timbre, das eher zuverlässig robust klingt als elegant. Die ungeformten, ja statischen Töne, mit denen Stefano La Colla der Titelpartie zunächst Gewalt antut, weichen im zweiten Teil des Abends gottlob beseelteren Klängen. So tritt zur Kraft des hohen C zunehmend auch Gefühl. Obgleich die Mezzosopranistin Hermine May keine sehr kräftige Stimme besitzt, ist die Zigeunerin Azucena mit ihr passgenau besetzt. Sie findet dämonisch dunkle Farben, die sie in Momenten des Wahns immer wieder zu flammenden Spitzen steigert.

Die von Granville Walker vorbereiteten Chöre verwechseln Kraft nicht mit übertriebener Lautstärke, sondern bilden einen festen Rahmen für die Hahnenkämpfe der Protagonisten. Aufmerksam und subtil agieren die Dortmunder Philharmoniker: Unter der Leitung von Lancelot Fuhry spulen sie die zahlreichen Kabaletten und Kavatinen keineswegs routiniert herunter, sondern geben ihnen elastisch federnde Grund-Rhythmen. Flirrend untermalen sie Azucenas Visionen vom Scheiterhaufen, seufzend und zärtlich den Traum der Liebenden von einem letzten Frieden.

Was die Produktion musikalisch zu bieten hat, wird von der Szene letztlich verspielt. Das ist auch deshalb bedauerlich, weil die Gewohnheit, die Handlung dieser Oper zum unfreiwillig Lächerlichen hin abzuwerten, im Grunde mangelnder Kenntnis entspringt.

(Informationen zum Stück: http://www.theaterdo.de/detail/event/1969/)




25 Jahre Klavier-Festival Ruhr: „Man muss die Dinge zu Ende denken“

Alle wollen bei der Geburtstagsparty dabei sein: Das Medieninteresse war groß bei der Programmvorstellung des diesjährigen Klavier-Festivals Ruhr, das in diesem Sommer seinen 25 Geburtstag feiert. Vom 4. Mai bis 19. Juli ist die internationale Pianisten-Elite wieder im Ruhrgebiet und angrenzenden Landesteilen zu Gast.

„Let’s go to the opera“ heißt das Motto des Jubiläumsprogramms, das damit den 200. Geburtstagen von Richard Wagner und Giuseppe Verdi Reverenz erweist. So wird der Einfluss beider Opernkomponisten auf die Welt der Klaviertranskriptionen und -paraphrasen im 19. und 20. Jahrhundert spürbar. Sein Silberjubiläum feiert das Festival u.a. mit Wiedereinladungen an große Pianisten unserer Zeit, darunter Martha Argerich, Evgeny Kissin, Maria Joao Pires, Murray Perahia, Krystian Zimerman und Marc-André Hamelin, der in diesem Jahr mit dem Preis des Klavier-Festivals Ruhr geehrt wird. Auch die Geiger Gidon Kremer und Frank Peter Zimmermann kehren mit ihren Klavierpartnern zum Festival zurück.

Eröffnet wird die Jubiläumsausgabe des Festivals am 4. Mai um 20 Uhr mit Tschaikowskys 1. Klavierkonzert b-Moll in der Bochumer Jahrhunderthalle, gespielt von dem 1987 im russischen Gorki geborenen Pianisten Igor Levit. Begleitet wird Levit vom WDR Sinfonieorchester Köln unter der Leitung von Krzysztof Urbánski, das im Anschluss „Bilder einer Ausstellung“ von Mussorgsky interpretiert. Unter www.klavierfestival.de findet sich das umfangreiche Gesamtprogramm des knapp dreimonatigen Klaviersommers.

„Man muss die Dinge zu Ende denken“, zitiert Festivalleiter Franz Xaver Ohnesorg einen der damaligen Gründungsväter vom Initiativkreise Ruhrgebiet, Alfred Herrhausen. 1988 lernte der Intendant den Wirtschaftsführer auf dem Geburtstag eines gemeinsamen Freundes kennen, erzählt Ohnesorg bei der Pressekonferenz. Nun, im 25. Jahr des anfangs unter dem Titel „Bochumer Klaviersommer“ gestarteten Pianistentreffens hat Traudl Herrhausen die Schirmherrschaft übernommen. Seit zwei Jahren wird das Klavierfestival als eigene Stiftung geführt.

Das AufTakt-Projekt, Foto: Frank Mohn

Das AufTakt-Projekt, Foto: Frank Mohn

„Den Gründungsvätern aus der Wirtschaft kam es darauf an, einen kulturellen Akzent im Ruhrgebiet zu setzen“, so Traudl Herrhausen. Das hat das Festival schon lange geschafft. Inzwischen gilt es, neben dem Konzertpublikum auch den Nachwuchs nachhaltig für Musik zu begeistern. Was 2006 mit der „Little Piano School“ für 2-6jährige Kinder begonnen hat, hat sich unter dem Stichwort „Education Programme“ als fester Bestandteil auf dem Gebiet der kulturellen Bildung etabliert.

Damit Kinder unabhängig von ihrer sozialen Herkunft kreative musikalische Erfahrungen sammeln können, bringen die „Discovery Projects“ Förderschüler, Grundschüler und Gymnasiasten in Duisburg Marxloh zusammen. In diesem Jahr geht es um das Thema „Hochzeit“, passend dazu stehen „Les Noces“ von Igor Strawinsky im Mittelpunkt der Workshop-Arbeit. Mehr als 50 türkische Brautmodengeschäfte reihen sich auf der Weseler Straße in Duisburg Marxloh aneinander. „Viele Kinder sind regelmäßig zu Familienhochzeiten eingeladen“, berichtet der Leiter der Education-Programme, Tobias Bleek. „So können Hochzeitsrituale der unterschiedlichen Herkunftskulturen in die Choreographie einfließen.“

Der bildungsbiographisch entscheidende Übergang zwischen Kindergarten und Grundschule steht im Zentrum eines Pilotprojekts, das das Klavierfestival Ruhr in Zusammenarbeit mit der Stiftung Mercator entwickelt. Im „KlavierGarten“ des Klavierfestivals erleben Kindergartenkinder oft ihre erste musische Bildung. Um dieses Potential auch in der Grundschule weiter zu entwickeln, vernetzt das Projekt Kindertagesstätten und Grundschulen. Eine mit klassischer Musik illustrierte Version von „Wo die wilden Kerle wohnen“ bildet den Bezugspunkt; Profi-Musiker und Festival-Pianisten verwandeln den bekannten Stoff in klingende Geschichten. Weitere Informationen: www.klavierfestival.de/education




„Weiße Rose“ in Detmold: Musiktheater wider die Spaßgesellschaft

Fast siebzig Jahre ist es her, dass Sophie und Hans Scholl am 18. Februar 1943 in der Universität München verhaftet und wenige Tage später hingerichtet wurden. Und nach wie vor bleiben Mut, Entschlossenheit und Charaktertiefe der christlich motivierten Jugendlichen aus der „Weißen Rose“ ein Stachel im Fleisch einer saturierten Gesellschaft.

Der Film „Sophie Scholl – die letzten Tage“ von Marc Rothemund hatte 2005 diese uns so fernen Menschen wieder einmal nahe gerückt: Ihre philosophisch reflektierte, vom Glauben geprägte Lebenseinstellung, die sich in der letzten Konsequenz des Todes bewährt, steht quer zu pragmatischen und hedonistischen Lebensmodellen, stellt unserer Spaß- und Karrieregesellschaft unbequeme Fragen.

"Weiße Rose" in Detmold: die Eröffnungsszene. Foto: Landestheater/Klein

„Weiße Rose“ in Detmold: die Eröffnungsszene. Foto: Landestheater/Klein

Schon lange vor dem Film hat sich der Dresdner Komponist Udo Zimmermann mit der Widerstandsbewegung „Weißen Rose“ beschäftigt und ein dokumentarisches Stück Musiktheater geschaffen, das er 1986 für eine Hamburger Aufführung grundlegend umarbeitete. In dieser Form ist „Weiße Rose“ über viele deutsche Musiktheaterbühnen gegangen – jetzt wieder einmal in einer Premiere am Landestheater Detmold.

Zimmermanns etwa 75-minütiges Stück für zwei Sänger und fünfzehn Musiker auf ein Libretto von Wolfgang Willaschek verzichtet fast ganz auf historische Konkretion. Hans und Sophie Scholl stehen für Menschen, die ihren gewaltsamen Tod vor Augen sehen. Willaschek hat Zitate aus Briefen und Tagebüchern der Geschwister, aber auch Texte anderer Autoren wie Dietrich Bonhoeffer zu Szenen zusammengefasst, die in ihrer distanzierten Lyrik manchmal zu ästhetisch, beinahe abgehoben wirken. Es ist das Verdienst des 29-jährigen Regisseurs Sebastian Gruner, die abstrakte Konstellation an den historischen Ort rückgebunden zu haben, ohne eines der üblichen Nazi-Zeitstücke zu liefern.

Zu Beginn, als harte Akkordschläge im Orchester einen eisernen Rhythmus vorgeben, lässt Gruner auf der Bühne des Detmolder Sommertheaters zwei blutrote Hakenkreuzfahnen von oben herabrauschen. Vier Jugendliche marschieren mit an HJ- und BDM-Uniformen angelehnten Kostümen auf, heben die Hand zum Hitlergruß. Die unheimliche Zeit wird dramatisch vergegenwärtigt. Dann wankt Sophie Scholl und bricht zusammen.

Die Bühne von Hans-Günther Säbel – er ist Leiter des Malsaals am Landestheater – bildet zu der konkreten politisch-zeitgeschichtlichen Exposition einen abstrakten Rahmen, der im Lauf des Stücks bestimmend werden soll. Hans und Sophie wechseln die Kleider: Mit schlichten blaue Kombinationen hebt Tatiana Tarwitz – die Leiterin der Kostümabteilung zeichnet verantwortlich – den zeitgeschichtlichen Bezug auf, erinnert an Gefangenenkleidung, ohne sie zu aufdringlich historisch zu verorten. Das entspricht dem Stück, das ins Allgemeine ausholt und die menschliche Situation der Angst, gesteigert bis zur Panik Sophies, einholt.

Gruner arbeitet mit Mitteln der Distanzierung und Metaphorik, indem er etwa ein Karussellpferd einführt, oder einen Clown, der sich zur Todesfigur wandelt, konzentriert sich aber vornehmlich auf die Psychologie der Personen. Darin folgen ihm seine Darsteller Sarah Davidovic (Sophie) und Kai-Ingo Rudolph mit engagiertem Einsatz von Körpersprache und Mimik. An der szenischen Übersetzung der bildhaften oder kommentierenden musikalischen Chiffren Udo Zimmermanns erkennt man Gruners sichere Hand für die Erfordernisse des Musiktheaters.

Unbeschwerte Jugend als Kontrast zur Panik der Todesangst. Foto: Landestheater/Klein

Unbeschwerte Jugend als Kontrast zur Panik der Todesangst. Foto: Landestheater/Klein

Um den Kontrast zu steigern, baut er eine kurze Szene ein, in der Hans und Sophie in Abendkleidung ausgelassen zu einem Schlager der Grammophonzeit tanzen – abrupt herausgerissen von den knallenden Akkorden von Zimmermanns Musik. Eine Szene, die bestürzend verdeutlicht, wie der Stahltritt der Stiefel die unbeschwerte Jugend von Millionen Menschen zertreten hat.

Auch die Motivation der Scholls aus ihrem christlichen Glauben wird szenisch angesprochen, wenn Sophie mit der Bibel in der Hand an die Rampe tritt: „Mein Gott, ich kann nichts anderes als stammeln …“. Das Ende führt Gruner wieder in die Konkretion zurück: Die weiß bespannten Wandelemente des Bühnenbilds bilden zwei Einzelzellen, in denen die Todeskandidaten letzte Gedanken fassen, bevor sie brutal abgeführt werden. „Freiheit“ ist das letzte Wort des Abends – übertragen aus einem Lautsprecher wie ein Vermächtnis. „Es lebe die Freiheit“ war der Abschiedsruf Hans Scholls auf dem Schafott.

Musikalisch kann sich die Detmolder Premiere der „Weißen Rose“ hören lassen: Matthias Wegele leitet das Kammerorchester im Bühnenhintergrund, von der Handlungsebene durch eine Gazewand getrennt, die erst am dramatischen Wendepunkt des Stücks durchscheinend wird. Zimmermann verlangt viel Solistisches, behutsame Klangmischungen in vielfältigen Piano-Schattierungen, aber auch schneidende Staccato-Akzente. Die Detmolder Musiker sind stets auf der Höhe der Partitur.

Kai-Ingo Rudolph setzt einen passend jugendlichen, manchmal in der Stütze gefährdeten, aber stets locker gehaltenen lyrischen Tenor ein und artikuliert ausgezeichnet. Die junge Sängerin Sarah Davidovic, Mitglied des Opernstudios Detmold, passt von der Erscheinung her ideal zum Bild der historischen Sophie Scholl. Ihr Sopran ist klangvoll und kräftig, aber ihre unfreie Tonproduktion führt zwangsläufig zu erheblichen Problemen mit der Bildung der Konsonanten und der Färbung der Vokale.

Viel Beifall für eine packende Produktion, die Udo Zimmermanns „Weiße Rose“ wieder einmal als ein fast schon klassisch gewordenes Stück gegenwärtiges Musiktheater ins Bewusstsein hebt.




Nichts als Gespenster: „Out of body“ tanzt in Bochum

„Ohne Wahnsinn kein Verstand“: Die Gummizelle hat eine Panoramascheibe, durch die das Publikum die entfesselten Tänzer beobachten kann. In wildem Furor werfen sie sich gegen die Wände, übereinander, auf den Fußboden. Sie sind völlig außer sich, als versuchten sie, mit den Grenzen ihres Körpers auch die der Vernunft zu überschreiten und sich in eine neue Dimension zu katapultieren. „Out of body“ heißt der im Schauspielhaus Bochum uraufgeführte Abend der Herner Tanzgruppe Renegade, die damit ihre dritte Koproduktion mit dem Bochumer Schauspiel zeigt.

Out of Body, Renegade in Residence, Foto: Diana Küster

Out of Body, Renegade in Residence, Foto: Diana Küster

„Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer aus uns allen“ – auch das ein Satz, der während der mehrsprachigen Aufführung als Übertitel eingeblendet wird. Zugleich ein Motto, denn der blassgeschminkte Conférencier kündigt im Halbdunkel ein schauriges Zombietheater an.

Da gibt es den Wissenschaftler, der sich der „Gefühlologie“ verschrieben hat und deswegen mit einem Dutzend leerer Plastikflaschen jongliert. Diese Leere fühlt er auch in sich. Seine Tochter musste darunter leiden: Den Kopf in eine Plastiktüte gewickelt, erzählt sie kurz vor dem Ersticken über die Schrecknisse ihrer Kindheit. Wie die Schmetterlingssammlung ihres Vaters ihr Angst machte; wie die Insekten sie in ihren Bann zogen, auf ihr herumkrochen, sie schließlich angriffen.

Doch der Spuk hat Methode: Atmosphärisch lehnt sich Julio César Iglesias Ungos Choreografie an Horrorvideos an, in denen es von Zombies, Untoten oder Vampiren wimmelt. So stoßen die Tänzer in einen Bereich vor, der jenseits des Materiellen liegt. Was passiert, wenn die Seele den Körper verlässt? „Am Ende aller Straßen wartet der Tod“, lautet der beruhigende Begleittext auf dem Spruchband.

Mit den Mitteln des Tanzes die Überschreitung des Körperlichen zu erreichen und in das Reich der Gespenster vorzustoßen: Keine leichte Aufgabe, die der kubanische Choreograph, der u.a. für Wim Vandekeybus und Samir Akika getanzt hat, sich da vorgenommen hat. Die Tänzer erfüllen sie mit Humor, großer Gelenkigkeit und einem Schuss Akrobatik. Allen voran der Junge mit den Dreadlocks, der in einem unfassbaren Slapstick einen Besuch in der Spielhölle vortanzt. Dabei scheint er eher dem Comicheft als dem Ballettsaal entsprungen zu sein. So kommt dieses Tanztheater ziemlich unverbraucht und überraschend daher; es zelebriert den Geist der Subkultur und zieht daraus seine Energie. Die Kooperation mit der freien Szene funktioniert als eine Art Bluttransfusion fürs Stadttheater, mit der auch jugendliche Publikumsschichten angesprochen werden.

Nach einer Stunde und 15 Minuten ist der Spuk vorbei. Die Zombies sinken zurück in ihre Gräber. Wann sie wieder tanzen, erfahren alle Untoten und andere Nachtschattengewächse unter:

www.schauspielhausbochum.de




Wagner-Jahr 2013: „Parsifal“ im Dortmunder Konzerthaus – zurück zur Mystifizierung?

Angela Denoke und Simon O'Neill in "Parsifal" im Dortmunder Konzerthaus. Foto: Petra Coddington

Angela Denoke und Simon O’Neill in „Parsifal“ im Dortmunder Konzerthaus. Foto: Petra Coddington

Wagner und die Religion: In keinem anderen Werk kristallisiert sich dieses Verhältnis so heraus wie im „Parsifal“, der die „Weihe“ schon in seiner Bezeichnung trägt.

Spätestens seit der tempophilen Aufnahme mit Pierre Boulez gehört es zum gängigen ideologischen Repertoire moderner Deutungen, vom „Bühnenweihfestspiel“ den Weihrauch wegzublasen. Schluss mit der Mystifizierung, weg mit den erhabenen Tempi vergangener Tage – und das mit Unterstützung durch Wagner-Zitate, etwa der Klage, seine Musik werde doch stets viel zu langsam gespielt.

Nun ist die Frage nach dem Religiösen in Wagners Philosophie – die sich ja nicht auf die Musik beschränkt – ein Irrgarten mit vielen Ausgängen. Und Inszenierungen der letzten Jahre (von Schlingensief in Bayreuth bis Bieito in Stuttgart) haben sich dem Thema sehr unterschiedlich genähert. Einig waren sie nur in einem: Mit der „Kunstreligion“ alter Prägung wollten sie nichts mehr zu tun haben.

Genau jene holt nun Thomas Hengelbrock wieder in den Konzertsaal. So sehr er musikalisch für den Weg zurück zu den Klangvorstellungen der Zeit Wagners als Schritt vorwärts wirbt, so konservativ wünscht er historisch gewordenes Verhalten: Bei der Aufführung des „Parsifal“ auf Instrumenten der Wagner-Zeit im Konzerthaus in Dortmund fordert er auf, nach dem ersten Aufzug nicht zu applaudieren, bringt erste Klatscher mit einer Geste zum Schweigen. Sind wir wieder in der Kunstkirche Richards des Allergrößten? Was soll die Retro-Mystifizierung der Grals-Enthüllung zum Pseudo-Gottesdienst?

Dass Hengelbrock ansonsten musikalisch nichts „heilig“ ist, steht dazu in einem auffälligen Gegensatz: Denn der Dirigent, der seit Jahren für frischen Wind in der Szene der „historisch informierten“ Aufführungspraxis gesorgt hat, hinterfragt auch im Falle Wagners konsequent die bisherigen Gepflogenheiten. Bach, Händel, Mendelssohn auf Darmsaiten? Keine Frage! Aber Wagner auf organischem Material? Das war für viele Musiker, obwohl historisch unhinterfragbar, bisher kein Thema. Kritisch sieht Hengelbrock auch den Klang moderner Holzblasinstrumente. Flöte, Oboe, Englischhorn: In seinem Balthasar-Neumann-Ensemble, mit dem er in Dortmund – und bald in Essen und Madrid – den „Parsifal“ konzertant aufführt, spielen nicht moderne Weiterentwicklungen, sondern sorgfältig durch Quellen und Studien abgesicherte Instrumente, wie sie sich Wagner wohl gewünscht oder wie er sie gehört hat.

Das Ergebnis ist in vielerlei Hinsicht erhellend: Ein schlanker, lichter Streicherklang, der durchaus die Substanz für das überwältigende Crescendo mitbringt; flexible, farbenreiche Holzbläser, die eigenständig neben die Streicher treten, statt wie in „konventionellen“ Aufführungen oft lediglich als Farbakzent im Mischklang wahrnehmbar zu sein. Auch das markante Blech bringt ein Spiel voller Nuancen und koloristischer Finessen mit ein. Selten waren die Bläser zu Beginn des Klingsor-Aktes so rau zu hören wie in Dortmund: Das Böse grinst aus ihrem Spiel.

Kein Zweifel: Das Erlebnis des Klangs wird vielfältiger, detailreicher. Schwerer herzustellen sind freilich jene geheimnisvollen, unverortbaren, sensualistischen Mischungen, die – auch ohne Plädoyer für den Weihrauch in der Musik – die Faszination des „Parsifal“-Klangbilds ausmachen. Wagner war, glaubt man seinen eigenen Beschreibungen, von diesem mystisch angehauchten, aus weiter, weiter Ferne schwebenden Ton fasziniert und berührt. Und er steht für viele „Parsifal“-Anhänger ja auch für jene zeitlose Mystik, die dem Werk innewohnt. Um ihn zu schätzen, muss man keine mystische Vernebelung betreiben; aber vielleicht gilt es anzuerkennen, dass ein „Parsifal“ ohne Transzendenz, wie er einer materialistischen Deutung vorschwebt, dem Werk und den Intentionen seines Schöpfers nicht gerecht wird.

Die Problematik der Hengelbrock’schen Deutung sehe ich eher im Tempo und in der Phrasierung. Schon im Vorspiel lässt er keine Zeit, den Ton ausschwingen zu lassen, schneidet die Phrasen allzu korrekt zurecht. Sein Karfreitag mutet eher an wie die Prozession einer preußischen Militärmusik. Hengelbrock meidet vor allem in rein instrumentalen Teilen eine atmende, organische Phrasierung – die er den Sängern ohne weiteres zugesteht. Das macht die „Parsifal“-Musik manchmal steif und im schlimmsten Falle belanglos: ein Manko, das seinem Bayreuther „Tannhäuser“ 2011 in Teilen des Feuilletons und des Publikums zu Recht viel Kritik eintrug.

So fehlt dann auch die Zeit für den Klang, sich einzuschwingen – ein Phänomen, das durch den historisch fragwürdigen Verzicht auf jegliches durchgehendes Vibrato noch verstärkt wird. Dennoch: Hengelbrocks Experiment wirft auf den „Parsifal“ und auf das Mühen um einen historisch verantworteten und musikalisch tragfähigen Klang für Wagner ein aufschlussreiches Licht. Er hat mit seinem „Parsifal“ nicht der Weisheit letzten Schluss vorgelegt, aber einen Meilenstein gesetzt. Anderen ist es aufgegeben, diesen Weg weiterzugehen.

Frank van Hove als Gurnemanz in Dortmund. Foto: Petra Coddington

Frank van Hove als Gurnemanz in Dortmund. Foto: Petra Coddington

Unter den Sängern der Dortmunder Aufführung darf Angela Denoke an erster Stelle genannt werden: Ihre Kundry war beglückend entspannt, geistig durchreflektiert und mit stimmlichen Mitteln bewegend gestaltet. Die Sängerin hat einen langen und bisweilen dornigen Weg der stimmlichen Entwicklung hinter sich; das Ergebnis ist rundum überzeugend. Auch Johannes Martin KränzlesKlingsor erschöpft sich nicht in einer schönen, wohlgeformten Stimme, sondern bringt mit Hilfe einer reifen Technik zum Ausdruck, was in dieser komplexen Figur steckt: Die aus Verletzungen und Traumata erwachsende Bosheit hat selten ein Sänger so überzeugend in vokale Farben getaucht.

Der Gurnemanz wurde erst kurzfristig mit dem Bass Frank van Hove besetzt: eine klare, nicht sehr große, geradlinige Stimme, ausgezeichnet artikulierend und sorgfältig den Text ausdeutend, freilich auch ohne die Sonorität und Fülle einer klassischen Wagner-Stimme. Diesem Ideal kommt eher Victor von Halem als Titurel entgegen; allerdings muss man bei ihm auch die kehlige Färbung der Töne in Kauf nehmen. Simon O’Neills Parsifal war trotz seines gestalterischen Engagements keine Offenbarung: zu klein, beengt in der Emission, knödelig quäkend im Ton. Nur im zweiten Aufzug gelang es ihm, sich zu befreien, seinen Tenor hin und wieder strömen zu lassen statt ihm eine grelle Tonproduktion aufzudrängen.

Mit großen Erwartungen befrachtet, enttäuschte Matthias Goernes Auftritt als Amfortas. Es ist vor allem das gedeckte, unfreie Timbre, das den Klang eindimensional werden lässt, dazu kommen guttural klingende Vokale und begrenzte Expansionsfähigkeit. Seine Textausdeutung dagegen ist tadellos und verrät die Erfahrung des Liedsängers. Der Balthasar-Neumann-Chor und die Knaben der Chorakademie am Konzerthaus Dortmund beschworen eher Palestrina – mit dem sich Wagner eingehend befasst hatte – als den füllig-sensiblen Klang, der aus den mystischen Höhen Bayreuths herabströmt. Am 26. Januar ist der Hengelbrock’sche „Parsifal“ in der Philharmonie Essen zu erleben.




Unter dem Brennglas: „Don Carlos“ am Musiktheater Gelsenkirchen

Frankreichs weiße Lilie: Elisabeth (Petra Schmidt) wird bald nach ihrer Ankunft im Escorial in ein steifes schwarzes Kleid gezwängt (Foto: Pedro Malinowski/ MiR)

Frankreichs weiße Lilie: Elisabeth (Petra Schmidt) wird bald nach ihrer Ankunft im Escorial in ein steifes schwarzes Kleid gezwängt (Foto: Pedro Malinowski/ MiR)

Gott, welch Dunkel hier. Alle tragen schwarze Kleidung, als seien sie fortwährend in Trauer. Der Escorial, von Philipp II. als Schloss- und Klosteranlage erbaut, gleicht einer fensterlosen Gruft, einem Gefängnis mit nackten Wänden.

In dieser düsteren Szene zeigt Regisseur Stephan Märki wie unter einem Brennglas, was die Figuren in Giuseppe Verdis Oper „Don Carlos“ umtreibt. Seine Neufassung am Gelsenkirchener Musiktheater erreicht dabei schneidende Intensität.

In schlichter, aber höchst wirkungsvoller Schwarz-Weiß-Ästhetik zeigt Märki einen elementaren Kampf: Unschuld, Liebe und Hoffnung gegen Gewalt, Furcht und Depression. Die stufenweise ansteigende Spielfläche ist niederschmetternd kahl (Bühne: Sascha Gross). Hier umkreisen sich die Akteure, belauern sich misstrauisch. Schattenrisse flackern auf, Spannungen werden beinahe mit Händen greifbar. Unter dem alles erstickenden Schwarz brodeln die Emotionen. Märki kanalisiert die unterdrückte Energie, bis die Figuren förmlich zu vibrieren beginnen. Hinter den individuellen Dramen leuchten die großen Menschheitsfragen auf. Welchen Preis hat die Macht? Was kostet die Freiheit?

Abseits der spannungsvollen Personenführung findet die Regie immer wieder zu klaren, kraftvollen Bildern. Ein kleines Mädchen, das zu Beginn im weißen Kleid über die Bühne hopst, kehrt im Autodafé als „Stimme vom Himmel“ wieder. Elisabeth sinniert vor einem Altar mit Totenschädel über Wahn und Eitelkeit der Welt. Die verblühten Rosen, die sie ergreift, treiben den Stachel ihrer Wehmut noch tiefer. Unterdessen quält sich der einsame Monarch durch eine schlaflose Nacht, die durch schemenhaft erkennbare Leichen im Bühnenhintergrund vollends gespenstisch wird. Überzogen dargestellt wirkt indes der Machtanspruch des Großinquisitors, den Märki im zweiten Teil als Christusfigur samt Dornenkrone und Wundmalen auftreten lässt.

Musikalisch hebt die Produktion unter Dirigent Rasmus Baumann zu Höhenflügen ab. Die Neue Philharmonie Westphalen begeistert durch eine Motivarbeit, die in psychologische Tiefen führt. Dämonisch finsteren Ausbrüchen steht eine teils glühende, dann wieder beglückend fein gesponnene Italianità gegenüber. Präzise Blechbläser und Streicher, die eine vielschichtige Piano-Kultur entwickelt haben, lassen immer wieder aufhorchen. Dies kommt wiederum dem durchweg gut besetzten Sängerensemble entgegen. Daniel Magdal entwickelt als Don Carlos trotz einiger greller Farben und Schluchzer beachtliche Strahlkraft. Renatus Mészár gibt Philipp II. stählerne, aber auch warme Klänge, die er im depressiven Sprechgesang der Arie „Sie hat mich nie geliebt“ zu erschütterndem Melos steigert. Carola Guber trumpft als Eboli glamourös, zunächst aber etwas kalt auf, bevor sie sich der Königin in glühender Reue zu Füßen wirft. Petra Schmidt gelingt als Elisabeth die Gratwanderung zwischen Stolz, Wehmut und Verletzlichkeit. Und Michael Tews ist ein Großinquisitor, dessen Bass einen das Fürchten lehrt. Wahre Triumphe feiert der von Berlin als Gast zurück gekehrte Günter Papendell, der sein Rollendebüt als Marquis Posa mit kraftvoll und mit warm timbriertem Bariton meistert.

Zu erleben ist mithin ein Drama, das alles bis auf die Grundmauern unserer Existenz nieder brennt. Wir erfahren von zerschellten Hoffnungen, von Unterdrückung und Heldenmut, von der unstillbaren Sehnsucht nach Freiheit, ja nach einer besseren Welt. Und es ist, als lächle Verdis Genie uns mitleidsvoll zu.

(Der Text ist zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen. Termine und Informationen: www.musiktheater-im-revier.de)




Hagen: Mit immer weniger Geld doch noch Theater machen

Die Stadt Hagen geht finanziell am Stock, und entsprechend will sie ihrem Theater an den Kragen. Aber auch im neuen Jahr wird dennoch weiter Programm gemacht, wie die Vorschau auf den Januar zeigt. Natürlich beginnt alles wieder mit dem Neujahrskonzert des Philharmonischen Orchesters in der Stadthalle – unter dem Motto „Wien –Moskau“. Solistin ist Maria Klier (Sopran), zu hören sind Werle von Strauss, Tschaikowsky, Glinka und anderen.

Nussknacker_Ensemble3

Szene aus dem „Nussknacker“
(Foto: Theater Hagen)

Im Kinder- und Jugendtheater wird am 7. Januar „Superzahn und die Karieshexe“ wieder aufgenommen, und am 27. Januar folgt die Uraufführung des Stücks „Lucy und der Hungerbauch“. Am 13. Januar gibt es im Großen Haus die Operetten-Premiere von „Die Großherzogin von Gerolstein“, ein weniger oft gezeigtes Werk von Jacques Offenbach. Wer Lust hat, kann bei freiem Eintritt am 5. Januar ab 17 Uhr in der Reihe „Werkstatt“ an einem „Produktionsgespräch“ teilnehmen. Außerdem bietet das Theater dazu am 10. Januar einen „Lehrertisch“ an. Den bisher begeistert aufgenommenen Swing-Abend „Fly me to the Moon“ können Musikfreunde am 4., 16. und 20. Januar wieder erleben.

 

Am 19. Januar ist Götz Alsmann mit seinem „Paris“-Programm zu Gast, und wer den Don Giovanni noch mitbekommen möchte, der hat nur noch am 31. Januar die Chance – „zum letzten Mal“ gibt man diese Inszenierung der Mozart-Oper. Das gilt auch für die letzte Aufführung des Tschaikowsky-Balletts „Der Nussknacker“ am 17. Januar. Weiter im Programm bleiben Verdis „Don Carlo“ (23. Januar) und „Tue Rocky Horror Show“ mit Guildo Horn am 29. Januar.

 

 

 




Die Eleganz der Grande Dame: Massenets „Manon“ am Theater Dortmund

Mädchenhafter Liebreiz: Eleonore Marguerre als Massenets "Manon" (Foto: Anke Sundermeier/Stage Picture)

Mädchenhafter Liebreiz: Eleonore Marguerre als Massenets „Manon“ (Foto: Anke Sundermeier/Stage Picture)

Selten dürfte eine Opernpremiere so unter Wert verkauft worden sein. Nahezu verschämt hatte das Theater Dortmund eine konzertante Fassung der „Manon“ von Jules Massenet angekündigt, seltsamerweise mit nur einem Folgetermin. So sah im Vorfeld nach Murks aus, was mit Fug und Recht als genussreiches Extra hätte beworben werden können, als kleine, aber feine Gala der Stimmen, gekrönt von einer fabelhaft besetzten Titelpartie.

Zu berichten ist von einem Abend der glücklichen Enttäuschungen, der unerwarteten Entdeckungen und versäumten Gelegenheiten. Beginnen wir mit Kyungho Kim als Chevalier Des Grieux, der seine Leidenschaft für die bezaubernde Manon auch stimmlich zu großer Vehemenz steigert. Der Koreaner wächst dabei über sich selbst hinaus. Er beginnt mit schlankem Timbre, zeigt sich dabei der Eleganz des französischen Idioms durchaus gewachsen. Die Strahlkraft und Glut, die sein Tenor später immer stärker entwickelt, klingt dabei zunehmend gelöster. Eine bravouröse Leistung, die eine One-Woman-Show glückreich verhindert.

Das ist an diesem Abend keineswegs selbstverständlich, denn die Sopranistin Eleonore Marguerre überstrahlt in ihrer Lieblingspartie beinahe alles und jeden. Mögen die zarten Töne, die sie der jungen Manon gibt, zu Beginn zuweilen verhaucht und verschleiert klingen, so breitet sie das faszinierend vielfältige Wesen dieser Frau lustvoll vor uns aus. Sie kann kokett flirren, federleicht plappern, Spitzentönen und Trillern eine Dosis Extravaganz geben und sich hedonistisch-hemmungslos in hohe Cs werfen. Bewegend das „sotto voce“, in dem sie dem kleinen Tisch in der gemeinsamen Wohnung eine Abschiedsarie singt. Mit Manons Entwicklung vom Mädchen zur großen Dame erreicht ihr Sopran die volle Verführungskraft. Da zieht die Marguerre glutvolle Bögen, verströmt sich in einer Leidenschaft, die keine Kompromisse kennt. Für dieses intensive Rollenporträt wurde die Sängerin zu Recht gefeiert.

Das Ensemble trägt das hohe Niveau der Hauptdarsteller mit. Anke Briegel, Julia Amos und Ileana Mateescu, sind ein treffliches Damen-Trio, Morgan Moody (Brétigny) und Hannes Brock (Guillot de Morfontaine) zeichnen Manons Wegbegleiter mit Gespür für Feinheiten. Gerardo Garciacano gibt Manons Cousin lyrische Farben, Wen Wei Zhang verleiht dem Vater Des Grieux auch stimmlich Autorität und Festigkeit. Die Dortmunder Philharmoniker und der Opernchor des Theaters entwickeln unter der Leitung von Lancelot Fuhry einen kraftvoll eleganten Tutti-Klang, der durchlässig bleibt für Feinheiten. Das Orchester zu beobachten und die Partitur so neu zu entdecken, macht Vergnügen.

Ein schlimmes Versäumnis ist mit Blick auf die spärlich besetzten Zuschauerreihen zu verzeichnen: Zu viele Musikfreunde verpassten vorläufig die Chance, diese hinreißende, übrigens auch optisch ungemein elegante Manon zu erleben. Beinahe wähnte man sich ob des mageren Besuchs in einer Privat-Vorstellung. So wird ein musikalisch bereichernder Abend in Dortmund zum Verlust. Welch verkehrte Welt.

Folgetermin: 13. Januar 2013. Ticket-Hotline: 0231/ 50 27 222. www.theaterdo.de.

(Der Bericht ist zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen.)




Abschied vom Meisterwerk nach 21 Jahren: Axel Cortis „La Traviata“ letztmals in Frankfurt

Nach 21 Jahren ist Frankfurts „La Traviata“ immer noch ein Publikumsrenner, doch nun heißt es Abschied nehmen von der Inszenierung Axel Cortis: Intendant Bernd Loebe teilt mit, die Oper werde einen Schnitt machen und Cortis viel gerühmte Arbeit aus dem Repertoire nehmen. Die Begründung überzeugt nicht: Ein Haus wie Frankfurt sollte nicht nach Platzproblemen entscheiden, und dass in bestehenden Inszenierungen neue Darsteller eingesetzt werden, ist an großen Häusern gang und gäbe und muss nicht zwangsläufig zu Qualitätsabfall führen.

Im Falle der tiefsinnigen Bildwelt Bert Kistners (Bühne) und Gaby Freys (Kostüme) ist die künstlerische Halbwertszeit noch lange nicht erreicht: So mancher Zeitgeist-Schnickschnack ist nach wenigen Jahren nur noch mit Mühe zu erdulden. Axel Cortis „Traviata“ dagegen bewegt und berührt immer noch, selbst wenn ein Tenor den Alfredo gibt, der nur sein romanisches Gesten-Repertoire einzubringen hat. Die Inszenierung ist eine derjenigen, die man als „zeitlos“ bezeichnen kann – vielleicht widerstrebt aber genau das manchem Dramaturgenkopf, der glaubt, auf der Bühne sollten stets die Schlagzeilen von gestern „reflektiert“ werden. Jammerschade: Frankfurts „Traviata“ hätte das Zeug gehabt, als Klassiker zu überleben.

So füllt sich der mondäne Salon Bert Kistners mit seiner zentralen, geschwungenen Treppe zum letzten Mal mit Halbweltdamen, Kollaborateuren und Nazi-Offizieren – denn Corti, Jahrgang 1933, hatte Alexandre Dumas‘ Drama in das besetzte Paris des Zweiten Weltkriegs verlegt, eine Zeit, die er als Kind noch erlebt hatte. Noch einmal ziehen sich Violetta und Alfredo in das blaugraue Haus am Meer zurück, vor dem der Sandstrand Weite, der Horizont Unendlichkeit verheißt, aber eine rot-weiße Markierungslinie bis in den Himmel hinein eine Grenze zieht. Noch einmal tanzen unter den apokalyptischen Gespenstern eines Otto Dix unter einem Zirkuszelt französische Mariannen und preußische Pickelhauben das Spiel von Aufruhr und Freiheit (Choreografie: David Kern). Und noch einmal nimmt Violetta im Wartesaal eines Bahnhofs Abschied von der Welt, von ihrem Leben, ihren Illusionen und Hoffnungen.

Corti zeigt auf einzigartige Weise das individuelle Schicksal, die persönliche Tragödie der „Traviata“, das Scheitern zweier junger Menschen an Zwängen und Verstrickungen, verbunden mit der unheilvollen Atmosphäre einer Zeit, die uns näher liegt als die Sphäre der eleganten Kurtisanen der Epoche Verdis und Dumas‘. Immer noch schockierend, wenn vor der Chorstretta des ersten Akts die Luftschutzsirenen jaulen, Violetta die Leuchten löscht, durch die Fenster die Lichtfinger der Flak im Dunst der Nacht sichtbar werden. Sie suchen den Himmel ab, während die allein gelassene Violetta („È strano“) die Spur des Himmels in sich selbst zu erahnen beginnt. Selten wurden Bedrohung und Einsamkeit der „bevölkerten Wüste“ der Riesenstadt in so abgründige und gleichzeitig ästhetische Bilder gefasst. Wie überhaupt Kistners Bühne nicht hoch genug zu rühmen ist: Das Flair der Zeit, die Schönheit der Impression, aber auch der Ausgriff ins Symbolische und Mythische sind glücklich verbunden.

Ort des Abschieds: Violetta (Cristina-Antoaneta Pasaroiu) im letzten Akt von Verdis "La Traviata" an der Oper Frankfurt. Fotos: Wolfgang Runkel

Ort des Abschieds: Violetta (Cristina-Antoaneta Pasaroiu) im letzten Akt von Verdis „La Traviata“ an der Oper Frankfurt. Fotos: Wolfgang Runkel

Exemplarisch ist das im dritten Akt zu erleben: Der Bahnhof als mythischer Ort der Moderne, Symbol der unerbittlich verfließenden Zeit (die Bahnhofsuhr), der unsichtbaren Geister, die entscheiden, wann ein Zug ankommt, steht oder abfährt (die Rot oder Grün zeigenden Signale), säkularisierte Kathedrale der Technik und des Fortschritts (die riesigen Eisenkonstruktionen im Hintergrund) und gleichzeitig Ort des Abschieds, der Entscheidung, der Fremde und Unbehaustheit.

Corti stellt Violettas Sterben in den Kontext eines großen, unmenschlichen, entpersönlichten Sterbens: Während sich die jungen Menschen voll trügerischer Hoffnung ein letztes Mal in die Arme sinken, den Traum vom Leben anderswo („Parigi, o cara, noi lascieremo…“) besingen, kontrollieren Wehrmachtssoldaten mit Hund die Papiere der anderen Wartenden und führen zwei alte Männer ab.

Trauer, Schmerz, Ohnmacht werden individuell und politisch-gesellschaftlich konnotiert, ohne dass Corti versucht, das eine gegen das andere auszuspielen. Er stellt den Zusammenhang zwischen der Existenz des Einzelnen und dem Raum der Gesellschaft her, ohne dem Leid seine Würde, der Angst ihre Gewalt zu nehmen. Solche machtvollen Bilder wirken auch, wenn sich die Darsteller nicht vollkommen in das Regiekonzept einfinden – obwohl diese letzte Wiederaufnahme von Tobias Heyder ohne die Zusatzmätzchen manch früherer Einstudierer auskommt. Vielleicht hätte Bernd Loebe mal unter den zahlreichen Fans dieser Inszenierung fragen sollen: Einige hätten ihm nach Jahren noch aussagestarke Details aus der Inszenierung aus der Erinnerung referieren können – auch ohne Regiebuch.

Wenn allerdings ein Tenor wie Francesco Demuro auftritt, stehen die Signale für Personenregie generell auf Rot. Der „international gefeierte“ Sänger (so die Homepage der Frankfurter Oper) stellt den Alfredo aus, wie er sich von Seattle bis Santiago in jede verbrauchte „Traviata“-Routine einpassen könnte. Wenn denn nun wenigstens die Stimme etwas von der fehlenden Faszination der Bühnenerscheinung zurückbrächte! Aber Demuro wird, nach beachtlich energischem Start, im Kern immer dünner, im Schmelz immer ranziger, im Vibrato klirrender. Die Stimme löst sich von der Verankerung im Körper und hat im dritten Akt nur mehr markierte Piani und angestrengt-dünne Höhe zu bieten. Wie ein Sänger mit schönem Potenzial, aber so unausgereifter Technik „international gefeiert“ sein kann, ist eines der Rätsel der Opernwelt, dessen Erklärung man lieber nicht wissen möchte.

Trügerisches Asyl: Cristina-Antoaneta Pasaroiu (Violetta) und Jean-Francois Lapointe (Germont) im zweiten Akt der Inszenierung Axel Cortis.

Trügerisches Asyl: Cristina-Antoaneta Pasaroiu (Violetta) und Jean-Francois Lapointe (Germont) im zweiten Akt der Inszenierung Axel Cortis.

Anders entwickelt sich im Lauf des Abends der Germont von Jean-François Lapointe. Der kanadische Bariton beginnt gedeckt und mit einem knödelig-angestrengten Timbre, kann sich aber im Duett frei singen und zeigt dann eine versierte Beherrschung der Technik und des ausdrucksvollen Singens. Ein beeindruckendes Debüt eines Sängers, der am Ende viel Jubel erntet.

Für den erkrankten polnischen Sopran Aleksandra Kurzak singt Cristina-Antoaneta Pasaroiu die Violetta: Die Rolle liegt ihr im Lyrischen ausgezeichnet; vor allem im Dritten Akt lässt sie intensiv miterleben, wie mit ihrem Körper ihre Seelenkraft verfällt, wie die letzten Funken der Hoffnung das mühevolle Aufbegehren noch einmal nähren, um dann im Wissen um das unausweichliche Ende zu verlöschen. Für die differenzierten emotionalen Aspekte der Arie im ersten Akt und die weiten, dramatischen Bögen des zweiten fehlt der Sängerin das freie, weite Volumen, die Expansions- und Steigerungsfähigkeit. Vielleicht kommt die – oft unterschätzte – Rolle doch noch etwas zu früh?

Frankfurts Ensemble ist schon oft gerühmt worden; Anlass dazu gibt auch die Besetzung der Nebenrollen in dieser „Traviata“: Nina Tarandek lässt hinter der zugespitzten Eleganz ihrer Roben das warme Herz der Flora spüren; mit Elizabeth Reiter ist Annina einmal nicht mit einem Schlachtross aus dem Gnadenbrot-Stall besetzt, sondern mit einer klug gestaltenden, stimmlich niveauvollen Sängerin; Franz Mayer gibt als Douphol einen kaltherzigen Generalissimus, der die ständigen Störungen durch private Verwicklungen als lästig empfindet.

In der musikalischen Leitung der Wiederaufnahme debütiert der israelische Jungstar Omer Meir Wellber an der Frankfurter Oper; einer der zahlreichen Assistenten Daniel Barenboims, die Karriere machen. Er nähert sich Verdis empfindlicher Partitur ohne profilierten Blick. Das Orchester spielt präsent, mit weich geformten Piano-Momenten, trefflich koordiniert. Aber dort, wo die formende Hand des Dirigenten spürbar sein sollte, fehlt die Kontur: Meir Wellber atmet wenig mit den Sängern, achtet kaum auf die musikalische Rhetorik, trivialisiert manches schnelle Tempo und arbeitet dicht gesetzte Orchesterstellen und Tutti nicht ausreichend plastisch aus. – Die Vorstellungsserie ist so gut wie ausverkauft, lediglich am 1. Januar gibt es noch ausreichend freie Plätze, um eine Inszenierung zu erleben, die ähnlich wie der Frankfurter Berghaus-Ring zur Legende werden dürfte.




Zwittergestalt: „Ariadne auf Naxos“ im Aalto-Theater

"Musik ist eine heilige Kunst": Michaela Selinger als Komponist in der Essener Neuinszenierung der "Ariadne auf Naxos" (Foto: Matthias Jung)

Glühend bekundet der Regisseur Michael Sturminger im Programmheft seine Liebe zur Oper „Ariadne auf Naxos“ von Richard Strauss. Viel von dieser Zuneigung ist im Essener Aalto-Theater zu spüren. Dort nahm sich Sturminger nach einer Produktion für das Petersburger Mariinski-Theater erneut des Zwitter-Werks an, das zwischen Tragödie und Harlekinade irrlichtert und mit ironischem Biss von seiner eigenen Entstehungsgeschichte erzählt.

Mit Hilfe der Drehbühne lässt Sturminger uns die Perspektive wechseln: Der Zuschauerraum des Aalto-Theaters leuchtet als Filmprojektion im Bühnen-Hintergrund auf, während wir Zeugen der komisch-dramatischen Ereignisse bei den Proben werden. Das mythologische Personal der „Ariadne“ trifft dabei auf Vertreter einer sehr gegenwärtigen Event-Kultur, die keinen gesteigerten Wert auf Geistreiches legt. Wie mit einem Lächeln legt die Regie Übertreibungen auf beiden Seiten bloß: Wo die einen sich im Namen der heiligen Kunst übermäßig empören, meinen die anderen, alles auf flache Show-Effekte reduzieren zu können.

Behutsam und mit feinem Gespür für die Psychologie der Figuren führt Sturminger die unvereinbar scheinenden Parteien zusammen. Je mehr ihm dies gelingt, desto mehr geht dem zu Beginn so quirligen Spiel aber auch der Schwung verloren: Ein Problem, das sich durch den wiederholten Einsatz der Drehbühne nicht überdecken lässt. Wenn der Gott Bacchus erscheint, kommt es im Duett mit Ariadne zum Rampensingen mit veraltetem Bewegungsvokabular. Das Ambiente ist historisierend edel, doch die zündenden Ideen sind zu diesem Zeitpunkt aus. Dafür gibt es zum guten Schluss ein wenig echtes Feuerwerk.

Abermals ist es das innige Strauss-Verständnis von Dirigent Stefan Soltesz, das den Abend weit über den Durchschnitt hebt. Unter seiner Leitung breiten die Essener Philharmoniker den verschwenderischen Reichtum der Partitur aus. Diese gleicht einem kostbaren Instrumental-Teppich, mal kammermusikalisch durchsichtig, mal himmelstürmend feurig, stets sprühend elegant und zuweilen voll jener beseligenden Süße, die nur ein Meister wie Richard Strauss über den Kitsch erheben kann.

Ein starkes Rollendebüt gelingt Silvana Dussmann, die als Primadonna/Ariadne bis in die Piano-Spitzen hinein glutvoll klingt. Wehmut und Feuer der Titelheldin erhalten bei ihr den Adelsschlag der „Grande Dame“. Den wirkungsvollen Kontrast dazu bildet Julia Bauer, die mit silberhellem Sopran feinste Stimm-Akrobatik serviert. Es ist keine große Stimme, die sie der leichtlebigen Zerbinetta leiht, aber sie schießt vogelleicht und souverän in schwindelerregende Höhen, wo sie köstlich kokette Kapriolen schlägt. Mehr Schwierigkeiten haben Michaela Selinger, deren kraftvolle Bögen als Komponist zuweilen spröde bleiben, und der Tenor Jeffrey Dowd, der mit den unbequem heldischen Höhen der Bacchus-Partie sicht- und hörbar ringt. Mit Heiko Trinsinger (Musiklehrer) und Albrecht Kludszuweit (Tanzmeister) sind die prägnantesten Nebenrollen gut besetzt. Mark Weigel ist als Haushofmeister die servile und zugleich arrogante Stimme seines Herrn.

Strauss und sein Librettist Hugo von Hofmannsthal wollten mit der „Ariadne“ einen Gegenentwurf zu Richard Wagners Ideal der Durchkomposition erproben. Wer dieses dissoziative Gesamtkunstwerk gerne kennen lernen möchte, ist in der Essener Produktion trotz einiger Schatten gut aufgehoben.

Informationen und Termine: www.aalto-musiktheater.de

(Der Bericht ist zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen.)




Wer heiratet, darf gratis ins Theater

Schauspielhäuser, Opern und Tageszeitungen haben oft ein ähnliches Problem: Junge Menschen wenden sich ab, das Publikum oder die Abonnenten werden immer älter und sterben dann natürlicherweise aus. Im Theater Hagen will man ein Verjüngungsmittel gefunden haben.

Schön ist es ja, das Hagener Haus. (Foto: Stadt Hagen)

Die architektonisch so schöne Spielstätte leidet besonders unter der Annähernd-Pleite ihrer Mutter, der Stadt Hagen. Aber es gibt einen rührigen Theater-Förderverein, und der geht nun mit einer neuen Idee ans Werk: Ab Januar des nächsten Jahres erhalten alle Paare, die sich vor einer Hagener Standesbeamtin oder einem -beamten das Ja-Wort geben, einen Gutschein für den Besuch einer Aufführung ihrer Wahl im Theater Hagen. „Sie trauen sich – wir laden sie ein“ heißt der eher wenig originelle Leitspruch der Aktion. Und der Förderverein schickt in der Pressemitteilung seine eigenen Bedenken gleich hinterher: „Bleibt zu hoffen, dass die Wahl der Aufführung nicht gleich zu einer ersten Ehekrise führt.“

Man denke nur an „Die Hochzeit des Figaro“ oder die „Geschichten aus dem Wienerwald“, und bei Romeo und Julia sind am Ende sogar alle tot, von Wagners Ring ganz zu schweigen. Nun wird der Ring in Hagen eher selten gespielt, und ob die Ehepaare jung sind, ist ja auch nicht gesagt. Mancher heiratet zum zweiten oder dritten Mal und ist in einem Alter, in dem er schon die Silbernadel für 25 Jahre Theaterabo trägt. Dann kann er oder sie den Gutschein immer noch verschenken, an die Enkel aus der früheren Eheschließung, als es noch nicht solche Prämien gab.




Auf hohem (Preis-)Niveau: Anna Netrebko als „Jolanthe“ in der Philharmonie Essen

Anna Netrebko sang in Essen die Titelpartie aus Tschaikowskys letzter Oper "Jolanthe" (Foto:Ester Haase)

Die Erkenntnis trifft den Grafen Vaudemont wie ein Blitz. Eben noch bat er die Königstochter Jolanthe um eine rote Rose als Zeichen ihrer Zuneigung. Aber die rätselhafte Schöne reicht ihm aus dem bunten Strauß eine weiße Rose. Als der Graf insistiert, reagiert die junge Frau immer ängstlicher und verwirrter. Endlich begreift der Graf: Die Geliebte ist blind. Der Vater schirmte sie so sehr von der Außenwelt ab, dass sie selbst nichts von ihrer Blindheit weiß.

Dies ist die Schlüsselszene aus Peter Tschaikowskys letzter Oper, dem Einakter „Jolanthe“, der die Titelheldin auf dem schmerzlichen Weg vom unwissenden Kind zur liebenden Frau begleitet. Inspiriert vom Drama „König Renés Tochter“, das dem dänischen Schriftsteller Henrik Hertz 1845 europaweit Erfolg einbrachte, schrieb Tschaikowsky ein ungemein lyrisches Werk von schier überströmendem Melos. Zehn Gesangssolisten, Chor und Orchester stimmen nach Jolanthes wundersamer Heilung in das allgemeine Gotteslob ein. Die Kräfte des Willens und der Liebe haben über die Gesetzte der Natur gesiegt.

Obgleich in Russland beliebt, taucht das Werk hierzulande kaum je auf den Spielplänen auf. Zu wenig abendfüllend ist das Stück, zu wenig bieten sich Kombinationen mit anderen Opern an. Auch will das große Solistenensemble möglichst gleichrangig besetzt sein. Dies ist nun einer konzertanten Produktion der „First Classics Berlin GmbH“ gelungen, die seit Anfang November mit der Sopranistin Anna Netrebko als Zugpferd auf Tournee ist.

So ergab sich in der Philharmonie Essen die seltene Gelegenheit, die märchenhafte Oper mit der tiefenpsychologischen Ebene kennen zu lernen. Im Vorfeld muteten freilich vor allem die Kartenpreise märchenhaft an: 50 Euro für einen Stehplatz, 150 bis 260 Euro für einen Sitzplatz, weitere 10 Euro für ein Programmheft, dem Entstehung und Bedeutung des Werks nicht eine einzige Zeile wert ist.

Gleichwohl blieb kaum einer der nahezu 2000 Plätze unbesetzt. Den „unvergesslichen Abend“, den das Programmheft versprach, haben die Besucher indes nicht allein der Netrebko zu verdanken. Es war die erlesene Sängerriege, die den Abend zum Fest erhob: Die Diva war umringt von stimmstarken Partnern, die einer veritablen Staatsopern-Premiere Ehre gemacht hätten. Die Partie des Almerich färbt JunHo You bei hoher Textverständlichkeit nahezu heldisch hell. Kernig, zuweilen beinahe gallig, dann wieder schwärmerisch ausgreifend gestaltet Alexey Markov den Robert. Hinreißend auch Monika Bohinec, die Jolanthes Amme Martha ihren wunderbar farbenreichen, stets flexiblen Mezzosopran leiht. Feierlich, aber beseelt klingen Vitalij Kowaljow als König René und Lucas Meachem als maurischer Wunderarzt Ebn-Hakia. Bis in die kleinsten Nebenrollen gibt sich niemand aus diesem Ensemble eine ernsthafte Blöße.

Das Orchester der Slowenischen Philharmonie und der Slowenische Kammerchor erweisen sich dabei keineswegs als Partner zweiter Wahl. Unter der Leitung des Franzosen Emmanuel Villaume breitet das Orchester akustisch überzeugende Naturbilder aus. Nur selten ist der orchestrale Glanz auf Gala-Effekt gebürstet. Die Musik fließt in großen, unaufdringlich noblen Bögen.

Anna Netrebko scheint die lyrische Partie der „Jolanthe“ wie auf den Leib geschrieben. Hier kann sie ihr reich umflortes Luxus-Timbre changieren lassen, kann spielerisch wandeln auf dem Grat zwischen mädchenhafter Unschuld und sirenenhafter Verführungskraft. Aus zarter Wehmut steigert sie sich zu leidenschaftlich ausgreifenden Höhepunkten, aus traumverlorener Trance zu nervöser Erregung, im Finale schließlich zu triumphalen Tönen. Die Partie strömt förmlich aus ihr heraus, unangestrengt und wie aus einem Guss. Wie bei einer derartigen Gala nicht anders zu erwarten, endet der Abend mit Ovationen. Bang hallt nur ein Gedanke nach: Die Frage nämlich, ob seine geldwerte Exklusivität nicht Wasser auf die Mühlen derer gießt, die Klassische Musik gerne als „überflüssiges Luxusvergnügen“ diffamieren.




Bürgerliches Trauerspiel und symbolistisches Drama: Debussys „Pélleas et Mélisande“ in Essen und Frankfurt

Mit „Pelléas et Mélisande“ bewegen wir uns im Spannungsfeld zwischen einem bürgerlichen Familiendrama, das an Ibsen erinnert, und einem symbolistischen Mysterium, das sich in bildmächtige poetische Seelenlandschaften vertieft. Die beiden profilierten Neuinszenierungen der vergangenen Wochen in Essen und in Frankfurt nähern sich Claude Debussys rätselvoller musikalischer Fassung des Dramas von Maurice Maeterlinck mit unterschiedlicher Perspektive.

In den magischen Licht-Räumen Raimund Bauers und Olaf Freeses: Mélisande (Michaela Selinger) und Pelléas (Jacques Imbrailo). Foto: Baus, Aalto-Theater Essen.

In den magischen Licht-Räumen Raimund Bauers und Olaf Freeses: Mélisande (Michaela Selinger) und Pelléas (Jacques Imbrailo). Foto: Baus, Aalto-Theater Essen.

Nikolaus Lehnhoff in Essen rückt die traumverwobene Atmosphäre in den Vordergrund. Die Figuren scheinen kaum aus sich heraus zu agieren, wirken oft statisch und wie gebremst vom lähmenden Gespinst bedeutungsvoller Zeichen und Zusammenhänge. Claus Guth in Frankfurt dagegen schaut auf die Psychologie der Personen, gibt ihren Aktionen und Reaktionen etwas Welthaftes, Eindeutiges mit. Er negiert den symbolistischen Hintergrund der Oper nicht, aber er zieht sich nicht auf den Topos des Unerklärbaren zurück, sondern bindet dessen Chiffren ein in die Entwicklung des Geschehens, das zu Tod und innerem Zusammenbruch führt.

Verlöschen im Dunkel: Christiane Karg (Mélisande) und Christian Gerhaher (Pelléas) in Frankfurt. Foto: Monika Rittershaus.

Verlöschen im Dunkel: Christiane Karg (Mélisande) und Christian Gerhaher (Pelléas) in Frankfurt. Foto: Monika Rittershaus.

Für Guth ist Mélisande kein geheimnisvolles Undinen-Wesen aus dem Irgendwo, sondern eine offenbar traumatisierte junge Frau, die zitternd versucht, sich eine Zigarette anzustecken, als sie in den Lichtkegel der Bühne tritt. Ihre Vorgeschichte bleibt im Dunkel, ihre psychische Verfassung ist es nicht. In Zuge des Dramas verdichten sich die psychologischen Motive, für die Guth die symbolistischen Züge des Dramas einsichtig verengt: Er will nicht das wabernde Ungefähr des Ahnungsvollen bebildern, sondern die Menschen in den elegant eingerichteten Räumen des zweistöckigen Hauses auf der Bühne Christian Schmidts stringent entwickeln – allerdings ohne die komplexen und rätselvollen Seiten ihrer Psyche eilfertig wegzuerklären. Warum sich die Lichtkreise Golauds und Mélisandes schon bei ihrer ersten Begegnung nicht berühren, warum sich Pelléas und die junge Frau finden und in der undurchdringlichen Schwärze des Raums in ihren Lichtauren verbinden, bleibt letztlich ein Geheimnis.

Wie ein Puppenhaus: Christian Schmidts elegante Interieurs in Frankfurt. Foto: Monika Rittershaus

Wie ein Puppenhaus: Christian Schmidts elegante Interieurs in Frankfurt. Foto: Monika Rittershaus

Auf der anderen Seite entwickelt Guth im Spiel präzise und faszinierend die Brennpunkte, in denen die Personen des Dramas interagieren: Der Dialog zwischen dem resignativen Pelléas, der im Selbstgespräch nur punktuell zum „Du“ durchdringt, und dem nahezu perfekt verdrängenden Patriarchen Arkel ist großes, reflektiert durchdrungenes Schauspiel. Ebenso die genau beobachtete Szene, in der Golaud versucht, mit Hilfe des Kindes Yniold die Beziehung zwischen Pelléas und Mélisande zu ergründen.

Guth achtet scharfsichtig auf versteckte Motive, deutet zum Beispiel die Szene, in der Pelléas vom Haar Mélisandes in Ekstase versetzt wird, als inneren Vorgang des in sich verschlossenen Mannes, dem die Frau tiefere Schichten seines Begehrens erschließen hilft. In Christian Gerhaher hat Guth den idealen Darsteller depressiv-verschlossener Innenwelten, dessen hoher Bariton zu unendlichen Schattierungen des Ausdrucks fähig ist. Die Mélisande Christiane Kargs erschöpft sich nicht im zerbrechlich-passiven Opfer, sondern ist eine Frau, die sehr wohl versucht, im Beziehungsgeflecht von Haus Allemonde ihre Position zu finden.

Christian Gerhaher als Pelléas in Frankfurt. Foto: Monika Rittershaus.

Christian Gerhaher als Pelléas in Frankfurt. Foto: Monika Rittershaus.

Die mühsam unterdrückte Aggressivität, mit der Paul Gay den Golaud zeichnet, bricht sich in einem ungeschönt inszenierten Ausbruch von Gewalt freie Bahn – einer Brutalität, die Mélisande wie Golaud selbst zu Opfern macht. Arkel schaut weg: Alfred Reiter gelingt trotz eines wabernd-gedeckten Basses eine beklemmende Studie von Verdrängung und uneingestandener Einsicht. Zutiefst verunsichert durch Mélisandes geschichtslose Reinheit, erinnert Golaud an den Major in Strindbergs „Vater“, gefangen im Wahntrauma der Patriarchen von der „verbotenen“ Liebe, dem uneinnehmbaren Rest weiblicher Souveränität.

Friedemann Layer und das Frankfurter Opernorchester bestätigen den auch musikalisch führenden Rang der Rhein-Main-Oper unter den deutschen Musiktheatern. Layer ist ein Sachwalter von Debussys Modernität, entdeckt nicht nur die Raffinesse der Klänge, sondern auch ihre Reibungen, ihre herbe Würze. Doch er zwingt ihnen keine Spaltklang-Sprödigkeit auf, wie sie Propagandisten eines neuen Debussy-Bildes vertreten.

Layer stützt in den wundervoll modellierten Akkordsäulen und den filigranen Rückungen im Klangverlauf die Statik von Debussys musikalischer Architektur und entdeckt ihre dramatische Funktion, die geschichtslosen Zustände der Bilder auf der Bühne abzusichern. Dass Guth dazu immer wieder eine Uhr ticken lässt und damit die verfließende Zeit als spannungsreiches, drängendes Element einführt, gehört zu den aussagestarken Details dieser – aus der Perspektive des bürgerlichen Dramas – modellhaft gelungenen Deutung, an der Layer mit seinen scharfsinnig beleuchteten Korrespondenzen zwischen Musik und Bühne erheblich Anteil nimmt.

In Essen sind die Perspektiven anders, aber nicht minder überzeugend. Denn Stefan Soltesz im Graben macht mit den Essener Philharmonikern schon in den einleitenden Akkorden, in den mysteriös eingefärbten Pianissimi der tiefen Streicher und den ersten, fahlen Holzbläserklängen seine ästhetische Position klar: Das soll ein Debussy der äußersten Verfeinerung, des raffinierten Details, der subtilen Klangmischungen werden. Die Verheißung wird glänzend erfüllt; der orchestrale Zauber entfaltet sich dank der vorzüglich auf ihren Dirigenten reagierenden Musiker mit aller Nuancierung in Farbe und Dynamik.

Magie des Raums: Das Licht spielt eine entscheidende Rolle. Foto: Aalto-Theater Essen

Magie des Raums: Das Licht spielt eine entscheidende Rolle. Foto: Aalto-Theater Essen

Ähnlich sensibel für atmosphärische Rückungen agiert Lehnhoff in seiner Inszenierung. Der hohe, kühl-dunkle Raum von Raimund Bauer, immer wieder neu ausgedeutet vom Licht Olaf Freeses, lässt naturalistische Anmutung bald hinter sich: Aus der hohen, dunklen Vertäfelung eines Saals mit der erdrückenden Noblesse der Villa Hügel wird ein Seelenraum, ein innerliches Gefängnis, aus dem Mélisande tastend, aber vergeblich einen Ausweg sucht, den sich nur das visionäre Licht, nicht aber die schwere Materialität der Körper öffnen kann. Das achte Bild mit seinen riesigen, nach unten führenden Treppen gemahnt an die Gefängnisse des Piranesi, tiefenpsychologisch radikalisiert und in eine schaurige Raumvision eines existenziellen Abgrunds verwandelt.

Auch Lehnhoff wirft einen Blick auf das bürgerliche Drama, inszeniert es aber weniger fest umrissen als sein Kollege Claus Guth in Frankfurt. Seine Annäherung an die symbolistischen Verdichtungen Maeterlincks bleibt allerdings oft unbestimmt – oder verliert sich, wie im siebten Bild die langen Haare Mélisandes, in zu konkret realisierten Bildern. So bleibt Michaela Selinger in der Hauptrolle ein verlorenes Wesen zwischen möglichen Konzepten, passiv und konturlos den Ereignissen ausgeliefert. Mit Vincent le Texier hat Essen einen kraftvollen, manchmal leider arg vordergründig bellenden Golaud, der seine Figur am Ende immer mehr in die Richtung des Gesellschaftsdramas entwickelt.

Konkretisierte Symbole: Die Haare der Mélisande in der Bildidee der Essener Inszenierung. Foto: Aalto-Theater Essen.

Konkretisierte Symbole: Die Haare der Mélisande in der Bildidee der Essener Inszenierung. Foto: Aalto-Theater Essen.

Auch der schönstimmige Jacques Imbrailo bleibt als Pelléas eher ein passives Wesen, unheilvoll verstrickt in die lastende Atmosphäre des Hauses. Wolfgang Schöne als Arkel und die mit grandios gereifter Stimme singende Doris Soffel als Geneviève sind die erstarrten, untoten Bewohner dieses unheilvollen Raumes; ihre Rolle wird sinnfällig unterstützt durch die Kostüme von Andrea Schmidt-Futterer, die sich im historisierenden und in einem zeitlos eleganten Arsenal von Ausdruckswerten bedienen. Getragen von wunderbar geatmeten Linien, von den bis zum Verlöschen gedämpften Piano-Schattierungen der Musik und der gestalterischen Raffinesse des Dirigenten können sich die Sänger drucklos frei entfalten. Und staunend ob dieses ästhetischen Wunders gewinnt der Satz Arkels noch eine Bedeutung über das Drama hinaus: „Man bedarf der Schönheit, wenn der Tod neben einem steht.“




Musiktheater zur Shoah: Essener Jüdin steht im Mittelpunkt

Als das Unheil begann, Gestalt anzunehmen, wohnte Perl Margulies in Essen. Mit ihrem Mann Benzion (oder eingedeutscht Benno) führte sie ein Geschäft. Eine ganz normale Hausfrau aus der bürgerlichen Mittelschicht wird 2012 zur Protagonistin einer Oper. „Refidim Junction“ heißt das Werk des Jerusalemer Komponistin Magret Wolf. Uraufgeführt wurde das Musiktheater nun in einer beispielhaften Zusammenarbeit von Musikhochschule und Theater Würzburg. Und die Essener Jüdin spielt darin eine Hauptrolle. Sie war eines von Millionen Opfern des nationalsozialistischen Rassenwahns.

Frühes Opfer des Rassenwahns: Perl Margulies lebte bis 1933 in Essen. Foto: privat

Frühes Opfer des Rassenwahns: Perl Margulies lebte bis 1933 in Essen. Foto: privat

In „Refidim Junction“ stellt Magret Wolf Briefe zweier jüdischer Frauen gegenüber, der Würzburger Dichterin Marianne Rein und der Essenerin Perl Margulies. Beide werden Opfer der Verfolgung: Die junge Lyrikerin wird 1941 nach Riga deportiert, wo sich ihre Spur verliert: Sie ist vermutlich verhungert oder erfroren. Perl Margulies taucht in Mannheim bei Verwandten unter, nachdem ihr Mann schon 1933 aus Deutschland geflohen ist. Ein quälendes Jahr lang muss sie auf das Visum warten, das ihr und ihren Kindern die Ausreise nach England ermöglicht. „Wir erreichten London am Sonntag, den 12. Mai 1934“, schreibt Perls Tochter, Alice Shalvi, im Programmheft.

Die Zeit dazwischen spiegelt sich in rund einhundert Briefen, aus denen Magret Wolf für ihre „szenisch-dokumentarischen Aktion“ Zitate ausgewählt hat. Es sind keine Briefe über den Holocaust, aber sie lassen in all ihren alltäglichen Bemerkungen, in den beiläufigen Bemerkungen, aber auch in manch verborgenem, bitterem Sarkasmus das Böse mitschleichen. Die allgegenwärtige Bedrohung, die Verfinsterung der Atmosphäre wird greifbar.

„Wir hatten ein sehr kultiviertes Haus“, erinnert sich Tochter Alice. „Ein Grammophon, Aufnahmen mit Beniamino Gigli, Jan Kiepura, berühmte Kantoren, Oper, Kino, Theater.“ Schon 1932 war der antijüdische Reflex – nicht nur in Essen – greifbar: „Eine Aufführung des ‚Kaufmann von Venedig‘ weckte so viel antisemitisches Gift im Publikum, dass meine Eltern aus Angst aus dem Theater flohen“, berichtet Alice Shalvi. Im Juni 1933 durchsuchte die Gestapo die Essener Wohnung der Familie Margulies – in deren Abwesenheit. Benzion Margulies floh nach London.

Die Mutter versuchte, das Geschäft abzuwickeln, litt unter dem alltäglichen Terror der kleinen Nadelstiche. Als polnische Jüdin – geboren 1893 in Galizien – hatte Perl Margulies bis dahin ein Aufenthaltsrecht. Noch 1933 erfolgte die Ausweisung und der Wettlauf mit der Zeit begann. Die Familie tauchte in Mannheim unter; die Verwandten dort behandeln sie verächtlich; der Schmerz schlägt sich in vielen Berichten über verletzende Äußerungen und abwertendes Verhalten nieder. Für Perl Margulies war die Zeit bis zur Ausreise elend und trostlos, geprägt vom schrecklichen Warten und zehrender Ungewissheit.

Zwei Jahre hat Wolf an ihrer „szenisch-dokumentarischen Aktion“ gearbeitet; der Eindruck der Uraufführung war überwältigend: Das liegt sicher auch am Thema, und zwar jenseits politisch korrekter Betroffenheitskultur. Es liegt aber auch an der fordernden Verbindung einer formal ausgereiften, klangstarken Musik mit einem Libretto, das sich vom Erzählen fernhält, das Dokumente sprechen lässt, das den unbeschreiblichen Terror der eiskalt funktionierenden Nazi-Vernichtungsindustrie aus erheblicher Distanz und gleichzeitig tiefster Betroffenheit künstlerisch gegenwärtig setzt.

Szene aus "Refidim Junction" in Würzburg. Foto: Nico Manger

Szene aus „Refidim Junction“ in Würzburg. Foto: Nico Manger

Das ist ein erhebliches Risiko, denn nach Adornos apodiktischer Verweigerung eines ästhetisch-künstlerischen Zugangs zum Ungeheuerlichen (nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, sei barbarisch) hat es lange gedauert, bis sich die Kunst an das Thema wagte. Das Tabu nützte denen, die am liebsten alles vergessen und auf sich beruhen lassen würden: Verfemte Komponisten und Werke etwa blieben weiterhin unaufgeführt. Es half aber auch nicht bei dem, zu dem sich Kunst berufen fühlen kann: das Unsagbare, die tiefste Schicht des Entsetzens, aber auch der Scham, der Schuld, des Versagens zu „verdichten“ und damit, wenn auch nicht begreifbar zu machen, so doch wenigstens eine Annäherung zu ermöglichen. Zwar schließt die zwangsläufige „Ästhetisierung des Grauens“, die Dramaturg Christoph Blitt zu Recht im Programmheft befürchtet und untersucht, die Gefahr ein, Bosheit, Terror und Leid in ihrer unmittelbaren Wucht zu verkleinern (was im Übrigen schon jede „Erzählung“ tut).

Jedoch ist eine künstlerische Bewältigung in der Lage, dem Unbegreiflichen einen Begriff zu geben und es damit in seiner Tragweite, Komplexität und furchtbaren Unmittelbarkeit gegenwärtig und kommunizierbar zu machen. Und ein Medium wie das Musiktheater, das alle Sinne des Menschen anspricht und seine emotionalen Tiefenschichten erreicht, kann unter Umständen eine tiefere Wirkung erzielen als eine nüchtern-kühle, auf den Verstand zielende, scheinbar objektive Dokumentation.

Magret Wolf hat das Dokumentarische und das Theatralische – sie nennt es „Aktion“ –miteinander verbunden und damit gegenseitig erhöht: Die Briefe der jüdischen Frauen sind private Dokumente, in denen die Schrecken der Zeit meist nur in Andeutungen vorkommen, die sich um Alltag und Familie, um Liebe, Zweifel, Angst und Not drehen. Aber wie in diesen oft einfachen Sätzen das Böse mitschleicht, das der einen der Frauen das Leben, der anderen Heimat und Existenz kostet, ist wegen seiner nicht greifbaren, aber allgegenwärtigen Drohung verstörend.

Wolf zieht in das Stück drei Ebenen ein: Die unmittelbarste ist die der beiden Frauen, verkörpert durch je eine Sängerin und eine Schauspielerin. Katja Beer (Sopran) und Charlotte Sieglin (Sprechrolle) sind Marianne – dunkelblonde, lange Haare, hochgewachsene Figur, vermutlich blaue Augen: das „deutsche Mädel“ des Rassenwahns nicht nur der Nazis. Die Sängerin Judith Beifuß und die Schauspielerin Britta Scheerer übernehmen die Rolle der Perl: dunkelhaarig, braunäugig, weiche Formen.

Britta Scheerer (links) und Judith Beifuß als "Perl" in "Refidim Junction". Foto: Nico Manger

Britta Scheerer (links) und Judith Beifuß als „Perl“ in „Refidim Junction“. Foto: Nico Manger

Für das Quartett bedeutet der Abend pausenlose Hochkonzentration. Kaum ein Moment bleibt ihnen, aus der Präsenz auf der Spielfläche auszubrechen. Schreien, Flehen, Protestieren; Einsamkeit, Angst, Resignation; verhaltene Nachdenklichkeit, flammende Wut, Verletzung und Sehnsucht nach Nähe: die Gefühlslagen der Briefzitate könnten unterschiedlich nicht sein. Aber selbst in der banalsten Bemerkung – Wollsocken anziehen, Unterwäsche suchen – schwingt die Bedrückung der Zeit mit, wird am einzelnen Schicksal greifbar, was es bedeutete, in dieser Zeit zu den Opfern zu gehören.

Die Ebene, die Menschen zu Opfern macht, ist in einer Video-Installation präsent. Sandra Dehlers Bühne meidet jede Form von plakativer Unmittelbarkeit. Es rollen einfach die Bestimmungen ab, die zwischen 1933 und 1942 erlassen wurden, um den Juden das Leben erst einzuschränken, dann praktisch unmöglich zu machen und schließlich zu nehmen. Es ist zu lesen, wie furchtbares juristisches Handwerk Zug um Zug Willkür in Gesetzesform gießt – bis schließlich die Züge fahren, nach Riga, nach Stutthof, nach Auschwitz und wie die Orte des Grauens alle heißen. Schreiendes Unrecht wird zu positivem Recht formuliert, hinter dem sich die Täter jahrzehntelang verstecken konnten. Die bürokratisch perfekte Machart lässt einen Kloß im Hals wachsen. An alles war gedacht, selbst an die – untersagte – Tätigkeit jüdischer Schaufensterdekorateure.

Mit dieser Ebene korrespondiert, wie eine Reaktion, ein Gebetstext von Rywka Kwiatkowski aus dem Ghetto Łódż: „Ich habe keine Gebete mehr“. Der Chor zieht eine Zwischenebene ein: Er liest die Namen der 202 Würzburger, die auf der Deportationsliste der Gestapo am 27. November 1941 standen. Schicksale werden benannt, Opfer bekommen einen Namen, Marianne und Perl reihen sich ein in ihren unendlichen Zug.

Das Orchester, das Ulrich Pakusch mit souveräner Übersicht leitet, besteht aus Studierenden der Hochschule. Die übliche Besetzung ist angereichert mit achtfach besetzter Perkussion und Harfe. Cembalo und zwei Akkordeone spielen eine charakterisierende, auf die handelnden Personen bezogene Rolle. Magret Wolf, die in Wien Judaistik und Vergleichende Musikwissenschaft studiert hat, verwendet „patterns“, also motivisch-melodische Bausteine, die sich permanent wandeln; eine zunächst repetitiv anmutende Musik, deren klangliche Variabilität und formale Flexibilität schnell einsichtig wird. Das Orchester agiert hinter dem Projektionsvorhang, der zu Beginn des Stücks einen friedlichen Wald zeigt: eine Naturidylle mit dem Hauch eines Friedhofs, trügerisch und unheilkündend.

Die Inszenierung von Kai Christian Moritz – langjähriges Mitglied des Schauspielensembles des Würzburger Mainfrankentheaters – setzt auf die Spannung von strenger, ritualisierter Bewegung und genau beobachtetem, emotional geladenem Spiel. An ihm liegt es nicht, dass vor allem zum Ende des ersten Teils hin die Spannung zur Anspannung wird und zu reißen droht. Der Versuchung, zu viel in das Stück zu packen, ist Magret Wolf nicht entkommen: Der Zuschauer erlebt das Wachsen des Drucks gleichsam körperlich mit. Doch die Gefahr der Überreizung durch das Trommelfeuer der Emotion ist konkret. Es ist auch Moritz‘ Regie zu verdanken, dass es nicht zum Übersprung von extrem herausgeforderter Betroffenheit zu innerlicher Abstumpfung kommt.

Dem Stück wären weitere Aufführungen zu wünschen; das Thema ist auch 67 Jahre nach dem Ende der Shoah bedrückend aktuell. Und Wolfs Musiktheater ist ein Teil der Erinnerungskultur, die dem Vergessen um der Opfer und der Zukunft willen entgegenwirkt.

Perl Margulies hat Essen nicht mehr wiedergesehen. Vermutlich wollte sie das auch nicht mehr. Sie starb am 21. November 1962 in Jerusalem.

Noch zwei Aufführungen sind in Würzburg geplant am 22. und 24. November. Tickets: (0931) 39 08 124.




Grundkurs Musik, zuweilen herzbewegend: Joachim Kaiser erklärt die Welt der Klänge

Das Publikum fragt – der Kritiker antwortet. So ist Joachim Kaisers Buch „Sprechen wir über Musik“ entstanden.

Der Mann, der seit vielen Jahrzehnten vor allem für die Süddeutsche Zeitung über so genannte E-Musik schreibt, hat sich auf seine etwas älteren Tage nicht gescheut, in einem Videoblog aufzutreten, um auf Fragen der geneigten Leser und User einzugehen. Dass das Ganze zu einem gedruckten Buch geronnen ist, verwundert ebenso wenig wie die Tatsache, dass parallel ein Hörbuch erscheint. Der Urheber liest leidlich, mit etwas schütter gewordener Stimme, seine Tochter Henriette führt Regie.

Was ist eigentlich „deutsch“ an deutscher Musik? Wer war besser: Bach oder Mozart? Warum muss es eigentlich Musikkritiker geben? Mag auch manche Frage reichlich unbedarft klingen, so gilt doch bei diesem Grundkurs letztlich die Sesamstraßen-Weisheit: Wer nicht fragt, bleibt dumm. Joachim Kaiser lässt sich offenbar herzlich gern herbei, unterhaltsam auf allerlei Wissbegier einzugehen. Apropos herzlich: Eine seiner Lieblingsvokabeln zur Kennzeichnung grandioser Musik, so verrät er, sei „herzbewegend“. Doch auch er hat natürlich vielfach die Erfahrung aller ernsthaften Rezensenten gemacht: Einen „Verriss“ zu schreiben, das sei bedeutend leichter, als ein fundiertes Lob zu formulieren.

Kaisers Ausführungen geraten jeweils kurz und knapp, er greift vielfach rasch und bereitwillig zu Anekdoten. Selten geht er analytisch vor, sondern stellt lieber – gestützt durch immense Hörerfahrung – Qualitäts-Behauptungen auf, an die man sich halten kann oder auch nicht. Er kommt nicht umhin, gelegentlich den Partyplausch zu bedienen. Seht her, wie leichtfüßig man über Klassik parlieren kann (und dabei auch schon mal haarscharf am Gemeinplatz entlang schrammt). Natürlich darf bei all dem der Gestus des „Ich kannte sie alle persönlich“ nicht fehlen. Motto: Als ich einst mit Karajan beisammen saß… Nun ja, ein solcher „Großkritiker“ darf das immerhin mit gewissem Recht sagen.

Tatsächlich mag es ja für den Laien spannend sein, zu erfahren, wen einer wie Kaiser für das Nonplusultra des Pianistentums hält: Rubinstein oder Horowitz? Unterwegs gelingen ihm jedenfalls immer wieder Textpassagen, die Lust aufs Hören der genannten Werke wecken. Dabei bewegt er sich überwiegend auf längst bestens befestigten Pfaden: Indem er erläutert, was die Größe etwa von Richard Wagner, Wilhelm Furtwängler, Franz Schubert oder Maria Callas ausmacht, schließt er zumeist weit offene Türen auf. Übrigens lässt er es auch durchgehen, wenn jemand Mozarts „Kleine Nachtmusik“ mag, denn irgend etwas müsse ja dran sein an solchen populären Stückchen. Hauptsache, man werde durch sie auf andere Schöpfungen neugierig.

Freilich werden auch flugs die feineren Unterschiede zwischen Stretta- und Cabaletta-Schlüssen (Einzelheiten bitte selbst nachlesen) erwogen, oder es wird das fragile Wesen von Pausen und Stille ein wenig ausgelotet. Kaiser relativiert das sonst so gedankenlos benutzte Wort „Hochkultur“. Franz Schubert, so Kaiser, habe seinerzeit zur „Subkultur“ gehört – im Gegensatz zum bereits etablierten Beethoven, der zur Hochkultur gezählt habe. Einige Jahre früher müsste demnach Beethoven seinerseits „Underground“ gewesen sein. Ein Gedankengang, der seinen Reiz hat und nebenher auch den markigen Rockspruch „Roll over Beethoven“ auf Normalgröße schrumpfen lässt.

Aus dem Herzen spricht mir Kaiser, wenn er gegen egozentrische Werkzertrümmerer eines überzogenen „Regietheaters“ angeht, denen Sinn und Form eines Theaterstücks oder einer Oper einerlei sind. Dem entspreche eine weit verbreitete Marotte der Kritik, welche die Sängerleistungen oft nahezu ignoriert, wie Kaiser zugespitzt darlegt: Über 200 Zeilen werde weitschweifig das Für und Wider des Regiekonzepts ausgebreitet – „und ganz zum Schluss heißt es knapp: ‚Der sang leis, und der sang laut.’“

Joachim Kaiser: „Sprechen wir über Musik. Eine kleine Klassik-Kunde.“ Siedler Verlag, 176 Seiten, 16,99 Euro.
Als Hörbuch: 2 CD, ca. 2 Stunden und 6 Minuten, Der Hörverlag, 19,99 Euro.

(Buch und Hörbuch erscheinen am 19. November)

Videotrailer mit Joachim Kaiser und Leseprobe (Werbematerial des Siedler-Verlages):
http://tinyurl.com/cdrdx93




Eine Bühne für den Spitzentanz: Ballett am Rhein mit b.13

Nach zahlreichen Performances auf Industriehalden, in Fabrikhallen oder genreüberschreitend im Museum ist es tatsächlich wieder einmal eine interessante Erfahrung, ein klassisches Ballett zu sehen: Virtuoser Spitzentanz im weißen Röckchen, Tänzerinnen leicht wie Pusteblumen, ihre Bewegungen akkurat, perfekt und hochmusikalisch.

Und die Musik kommt nicht vom Band. Auf allerhöchstem Niveau bietet der dreiteilige Ballettabend b.13 des Balletts am Rhein Düsseldorf Duisburg, ausgehend von George Balanchines „Concerto Barocco“, über Hans van Manens „Kleines Requiem“ bis hin zu Martin Schläpfers „Ungarischen Tänzen“, einen kurzen Gang durch die Tanzgeschichte.

Dabei ist Balanchines Choreographie zu Bachs Musik von 1941 strenggenommen natürlich „neoklassisch“ zu nennen, auch weil er die klassische Formensprache behutsam zu variieren beginnt. Trotzdem: Die Tänzerinnen im Eröffnungsstück bewegen sich als homogene Einheit, die auch der einzige hinzukommende Tänzer nicht zu stören vermag. Der Bühnenhintergrund ist lichtblau, ansonsten zählen nur Musik und Bewegung, andere Ablenkungen sind nicht zugelassen. Erstaunt stellt man fest: Das genügt vollkommen, zumal auch das Zusammenspiel mit den beiden Violinen perfekt funktioniert.

Zeitsprung: In Hans van Manens Choreographie von 1996 sind Beziehungen das Thema. In einer Art Reigen stört immer ein hinzukommender Tänzer den innigen Pas de deux des tanzenden Paares. Eifersucht, Zorn und Leidenschaft sorgen für eine emotionale Hochspannung, die die Tänzer in eine vibrierende Körpersprache übersetzen. Dabei entwickeln sich auch unvorhergesehene Konstellationen: Finden zwei Männer zusammen, muss die Frau alleine bleiben. Für einen unglücklichen Ausgang spricht, dass van Manen das Stück für eine ungerade Zahl von sieben Tänzern konzipiert hat. Einer wird schließlich einsam sein – doch wer weiß, vielleicht kann er so zu neuen Ufern aufbrechen?

b13_Ungarische_Taenze_17_FOTO_Gert_Weigelt

b13 Ungarische Taenze, FOTO: Gert Weigelt

Als erwarteter Höhepunkt des Abends springt Martin Schläpfer mit seiner Uraufführung von Brahms‘ ungarischen Tänzen einen Schritt weiter in die Gegenwart. Energie, Lebensfreude und süffige „Zigeunermusik“, schwungvoll dargeboten von den Düsseldorfer Symphonikern, zeigen Temperament und Spielfreude der Compagnie. Aufbauend auf dem klassischen Repertoire eines Balanchine sowie den Errungenschaften des modernen Tanzes eines Hans van Manen, zeigt Schläpfer hier wieder seine ganz eigene, wunderbar ironische Tanzsprache. Da wedeln die Tänzer mit ungarischen Fähnchen, nur eine hat sich die europäische Flagge umgehängt, darunter bleibt sie nackt, um dann verschämt von der Bühne zu schleichen.

Auch das Zigeunerleben hat mit idyllischen Vorstellungen wenig zu tun. So lustig die Tänze, so hitzig bricht das Temperament auf – bis hin zur angedeuteten Vergewaltigung am Bühnenrand. Die halbstarken Männer tragen Schlagstöcke und das alte Bauernpaar in Tracht wird zum Schluss kalt und steif von der Bühne getragen. Man braucht die alten Leutchen nicht mehr, die Zukunft gehört den Individualisten. Das ist allerdings eine Steilvorlage für die großartigen Tänzer des Balletts am Rhein, ihrer Lust an der Improvisation und an der kreativen Ausgestaltung der Charaktere. So wird der (politische) Kommentar zu Ungarn zugleich durchdrungen vom Lebensgefühl der Tänzer heute, das sie heraustreten lässt aus dem tänzerischen Kollektiv.

Auf diese Weise stellt der Tanzabend eine innere Verbindung her zwischen seinen drei Choreographien, die auch zu einem tieferen Verständnis dessen führen, was wir heute auf Tanzbühnen sehen – ebenso wie in Fabrikhallen.

www.ballettamrhein.de




Die spinnen, die Bonner: Theater um „Norma“

Was wäre auf einer Opernbühne zu sehen, wenn das mit der Sparpolitik im Kulturbetrieb so weiter ginge? Nichts! Brandmauer, kalte Scheinwerfer, schwarze Bühnenbretter. Florian Lutz‘ Inszenierung von Bellinis „Norma“ in Bonn thematisiert ein solches Schreckensszenario, dessen Realisierung mancherorts gar nicht mehr so fern liegt.

Man denke nur an die neuesten Nachrichten zur Schließung des Schauspielhauses in Wuppertal oder die Fusionsphantasien, die die Bonner Kulturpolitik selbst nach Köln schielen lässt. Vom Drama um den geschassten Kölner Opernintendanten Uwe Eric Laufenberg ganz zu schweigen, der wegen Etatstreitigkeiten buchstäblich vom Hof gejagt wurde. Das Bonner Publikum allerdings goutiert den Einbruch der Realität in die schöne heile Opernwelt keineswegs. Es möchte seine Belcanto-Arien unter keinen Umständen durch eine hinzuerfundene Sprechrolle (Roland Silbernagl) unterbrochen sehen, die in der „Norma“ für eine Art reflexive Ebene steht: Das Schicksal der Druiden-Priesterin unter römischer Besatzung wird hier gelesen als Kampf der Künstlerpersönlichkeit mit dem Intendanten, der Nebenbuhlerin, dem untreuem Liebhaber aus B-Promi-Kreisen und den Bedingungen unter denen heute eine Norma-Produktion auf einer Opernbühne entstehen könnte – einschließlich drohendem Sparzwangs.

THEATER BONN: NORMA/Foto:Thilo Beu

THEATER BONN: NORMA/Foto:Thilo Beu

So interessant diese Regie-Idee, so heikel die Umsetzung: Tatsächlich gehen die teilweise etwas hölzern getexteten Einwürfe des fiktiven „Intendanten“ an die Schmerzgrenzen des Musikliebhabers. Gnadenlos quatscht der Impresario als Fremdkörper ins Orchesterspiel, unterbricht Handlungsfluss und manche schwelgerische Melodie. Mit einem Wort: Er nervt ungeheuer. Das Publikum, bis auf äußerste gereizt, brüllt ihn regelrecht nieder, kurz davor, den armen Mimen von der Bühne zu zerren und ihn aus seinem eigenen Saal zu werfen. Gleichzeitig befindet sich diese Inszenierung gerade hier an ihrem neuralgischen Punkt. Denn schließlich: Wo kann man ungestört eine „Norma“ sehen, wenn es kein Opernhaus mehr gibt, das es sich leisten kann, sie auf die Bühne zu bringen?

Glücklicherweise ist es in Bonn (noch) nicht ganz soweit und deswegen gibt es nach anfänglicher Kargheit eine Kulisse aus hereingerollten Bäumen und eine Menge Gallier, die als Asterix-Figuren kostümiert sind. Außerdem eine Norma (Miriam Clark), die ihre Partie mit großer Meisterschaft singt und eine Adalgisa (Nadja Stefanoff), deren Stimme ebenfalls eine Entdeckung ist. George Oniani als Pollione und Ramaz Chikviladze als Oroveso meistern ihre Partien souverän und mit der nötigen Leidenschaft. Die vielzitierte Arie „Casta Diva“ gab dann auch zu Schwärmereien Anlass – egal ob im Abendkleid oder im Comic-Kostüm gesungen. Dank der großartigen Besetzung und dem engagierten Spiel des Beethovenorchesters kamen die Opernfreunde doch noch auf ihre Kosten und sparten auch nicht mit Applaus für die (wahren) Künstler.

www.theater-bonn.de/production.asp?ProductionID=668




Tschaikowskys „Mazeppa“ in Krefeld: Triste Orte ohne Ausweg

Diese Liebe freut sich schwärmerisch auf ihre Erfüllung. Aber sie erreicht, wie so oft bei Tschaikowsky, ihr Ziel nicht. Gegen sie steht nicht nur ein verbohrter Vater, sondern auch eine politische Intrige. Und am Ende regieren Tod, Wahnsinn, Leere. Piotr Iljitsch Tschaikowskys Thema ist immer wieder die unkonventionelle Liebe: So ist es in „Eugen Onegin“, so ist es auch in „Mazeppa“. Das selten aufgeführte Werk steht in dieser Spielzeit in Krefeld auf dem Programm.

Eine kluge Wahl, mit der sich der neue GMD Mihkel Kütson vorstellt und sofort Interesse weckt: Der estnische Dirigent, der bisher GMD am Landestheater Schleswig-Holstein war, wählt keines der üblichen „Chefstücke“ für sein Entrée. Das ist sympathisch und lässt am Niederrhein auf frischen Wind hoffen.

„Mazeppa“ ist nach „Eugen Onegin“ und „Pique Dame“ die dritte Puschkin-Vertonung Tschaikowskys, die am Krefeld-Mönchengladbacher Haus gezeigt wird. Die pessimistischen Sujets, die an der traurigen Verfassung der menschlichen Seele keinen Zweifel lassen, kamen dem homosexuellen Komponisten, der zeitlebens um innere Stabilität und äußere Akzeptanz rang, offenbar sehr entgegen. Das Biografische spielt bei Tschaikowsky – auch in den späten Sinfonien – eine gewichtigere Rolle als bei anderen Komponisten.

Die Liebe zwischen der blutjungen Tochter eines Großgrundbesitzers und dem wesentlich älteren Mazeppa scheitert zunächst am Einspruch des entsetzten Vaters, der in der ehrlichen Liebe der beiden Menschen eine Verirrung und in dem Kosakenführer einen Lüstling sieht. Die beiden setzten sich gegen Kotschubej, den Vater, durch: Maria verlässt ihre Familie, zieht mit ihrem Geliebten weg. Doch sie will nicht akzeptieren, dass sie hinter Mazeppas politischen Ambitionen zurückstehen soll.

Zum inneren Bruch kommt es, als Mazeppa ihr die Hinrichtung ihres Vaters eröffnet: Kotschubej hatte dem Zaren Mazeppas Pläne für die Unabhängigkeit der Ukraine verraten, ist aber Opfer seiner eigenen Intrige geworden. Der Machtmensch zögert nicht, den Vater Marias seinem nationalen Ehrgeiz zu opfern. Doch der Aufstand gegen den Zaren scheitert …

Unwirtliche Orte der Gewalt: Die Bühne Kathrin-Susann Broses thematisiert das Gefangensein. Foto: Theater Krefeld-Mönchengladbach

Unwirtliche Orte der Gewalt: Die Bühne Kathrin-Susann Broses thematisiert das Gefangensein. Foto: Theater Krefeld-Mönchengladbach

Tschaikowsky, der das Libretto weitgehend selbst erarbeitet hat, kann an diesem Stoff alle Aspekte seiner musikalischen Charakterisierungskunst ausleben: Sie reicht von der wehmutsvollen Lyrik, wie wir sie von der jungen Tatjana („Eugen Onegin“) kennen, bis hin zu kraftvollen Eruptionen von Wut, Enttäuschung, Rache und Aggression. In der Instrumentation zeigt sich Tschaikowsky auf der Höhe seines Könnens. Die ergreifenden, von russischer Kirchenmusik-Tradition grundierten Chöre (Maria Benyumova) erinnern an den zehn Jahre vor „Mazeppa“ uraufgeführten „Boris Godunow“: Tschaikowsky hat in seiner Oper von 1884 nicht nur einen historischen Stoff aus der russischen Geschichte gewählt, sondern scheint sich auch musikalisch mit dem Vorwurf einer zu westlich orientierten Musiksprache auseinanderzusetzen.

Kütson spornt das Orchester an, seine Klang-Konzeptionen aufzunehmen. Die wuchtigen Momente der kriegerischen Aktion, das Schlachtengemälde des Zwischenspiels zum Dritten Akt, die unruhevollen „Reiterfiguren“ der Ouvertüre spielen die Symphoniker mit Energie und Engagement. Wird es ruhiger und leiser, sind Piano-Schattierungen oder Mezzoforte-Delikatesse gefragt, poltern die Orchestergruppen oft weiter, lassen auch den elegisch-eleganten Tschaikowsky-Tonfall vermissen. Mihkel Kütson wird in Krefeld noch Aufbauarbeit zu leisten haben.

Mit dem Mazeppa Johannes Schwärskys steht ein kraftvoller Mann auf der Bühne, der zu herrischer Entschlossenheit wie zu sehnsuchtsvoller Nachdenklichkeit, zum Liebesschwur wie zum Rachebekenntnis den richtigen Ton findet. Seine große Soloszene im zweiten Akt gestaltet er emotional facettenreich. Schwärsky erhellt mit stimmlichen Mitteln die komplexe Psyche dieses Helden, der sich zur gescheiterten Figur entwickelt. Anders Heik Dèinyan als Kotschubej, der trotz beeindruckender Tiefe und manch berührender Stelle – vor allem im Angesicht des Todes – seinen Bass nicht aus einer gewissen Befangenheit befreien kann.

Freies, lockeres Singen hört man auch von Satik Tumyan als Mutter nicht. Sie gibt der Figur der Ljuboff ein treffendes darstellerisches Profil, zeigt ihren Stolz, ihre Hilflosigkeit, ihre innere Not. Aber bruchlose Registerwechsel und Flexibilität gehen ihr ab. Mit Carsten Süß steht ein Tenor auf der Bühne, der den dramatischen Momenten seiner Partie durchaus gewachsen ist. Aber sein Andrej bleibt in der Höhe stumpf; der Ton will nicht gut gestützt erblühen.

Izabela Matula, neu engagiert, hat als Maria im ersten und dritten Akt Momente, die aufhorchen lassen: mädchenhaftes lyrisches Leuchten, die selbstvergessen sich weiterspinnenden Phrasen des Endes, das berührende Wiegenlied. Im zweiten Akt geht ihr die Stimme öfter vom Atem, wird flach und unstet. Zudem verordnet ihr die Kostümbildnerin Alexandra Tivig strenge Frisur und Kluft einer Funktionärin, während sie im letzten Akt das aufgelöste Haar einer Lucia di Lammermoor der russischen Steppe tragen muss. Facetten der Figur erschließt das schwerlich.

Die Inszenierung ist Helen Malkowksy anvertraut, die in Nürnberg einen komplexen „Fliegenden Holländer“ und Reimanns „Melusine“ mit viel Sensibilität auf die Bühne gestellt hat. Seit 2010 ist sie am Theater Bielefeld unter anderem mit Brittens „Peter Grimes“ hervorgetreten. Eine gute Wahl, denn Malkowsky weiß die Geschichte spannend zu erzählen, ohne auf dieser Ebene steckenzubleiben. Ihr dominierendes Motiv ist das Gefangensein, das sie bereits während der Ouvertüre thematisiert: Kotschubej vegetiert bereits hinter Gittern; das Geschehen entwickelt sich wie aus einer Rückblende heraus. Der stolze, starre Patriarch ist ein Gefangener seiner selbst, noch bevor er zum politischen Häftling wird.

Orangefarbene Girlanden, Bänder und Accessoires zitieren die ukrainische „orange Revolution“ von 2004. Sie brechen das dominierende Graublau auf, mit dem Kathrin-Susann Brose ihre Bühne als einen Ort der Tristesse und des äußeren und inneren Elends kennzeichnet. Gefängnisgitter, Kerkertüren: An diesem Ort gibt es kein Entrinnen. Vergeblich die Träume, die Helen Malkowsky mit dem Bild einer Sternennacht eher vorsichtig andeutet als aufdringlich vorzeigt. Friedliche Naturbilder an der Wand von Mazeppas Büro wandeln sich zu gespenstisch drohenden Erscheinungen.

Hoffnungslose Zerstörung: Der dritte Akt von Tschaikowskys "Mazeppa" in Krefeld. Foto: Theater Krefeld-Mönchengladbach

Hoffnungslose Zerstörung: Der dritte Akt von Tschaikowskys "Mazeppa" in Krefeld. Foto: Theater Krefeld-Mönchengladbach

Am Ende trägt Maria in ihrem Wahnsinn das Sternenbild mit sich – Symbol verlorener Hoffnung, eines zerstörten Traums. Mazeppa verabschiedet sich mit den lapidaren Worten „gehen wir“ in den Tod durch eigene Hand. Die zunehmende Verrohung dieser Gesellschaft zeigt Malkowsky in immer eindringlicheren Konfrontationen, die bis zur Vergewaltigung Marias durch einen Trupp Soldaten reichen. Der Abgrund der Hoffnungslosigkeit reißt auf; die letzten Spuren der Liebe verwehen im Wiegenlied der Maria für ihren sterbenden Jugendfreund Andrej.

Malkowksy gelingt es, mit „Mazeppa“ eine überzeitliche Parabel über Menschen zu erzählen, die Opfer ihrer selbst und ihrer Zeit werden: gefangen in sich selbst und verstrickt in ihre Leidenschaften, die mit dem dumpfen Druck des Unausweichlichen auf ihnen lasten und doch von ihnen selbst entfesselt werden. Eine sehenswerte Spielzeit-Eröffnung, die für die Premieren von Puccinis „Suor Angelica“ und „Le Villi“ im Januar und „Rienzi“ im März 2013 viel hoffen lassen. Und nicht vergessen: Mit Bellinis „Norma“, inszeniert von Thomas Wünsch, der im Mai 2012 so unerwartet verstarb, wird in Mönchengladbach noch eine Produktion gezeigt, die man nicht verpassen sollte!




Schwungvoller Start: Gelsenkirchens neue Ballettchefin im „Ersten Gang“

Wenn Drei um Eine buhlen: Szenenfoto aus Bridget Breiners Choreographie „Sirs“ (Copyright: Costin Radu)

33 Jahre lang stand der Name von Bernd Schindowski für den Tanz in Gelsenkirchen. Nun ist der Wechsel da: Die gebürtige US-Amerikanerin Bridget Breiner wirkt fortan als Ballettdirektorin am Musiktheater im Revier (MiR). Sie arbeitet mit einer zwölfköpfigen Compagnie und mit Gästen, die als Residenzkünstler an das Haus gebunden sind.

Von vielen neuen Gesichtern ist daher zu berichten, von frischem Schwung und von einem vielversprechenden Anfang. Der erste Tanzabend, mit dem Breiner und ihre Compagnie sich jetzt vorstellen, bietet unter dem Titel „Der erste Gang!“ nicht weniger als zehn verschiedene Choreographien. Ein „bunter Strauss“, wie von Intendant Michael Schulz angekündigt, wurde zum Glück nicht daraus. Vielmehr reihen sich kleine Piècen von namhaften Choreographen zu einem kurzweiligen Abend, der den künstlerischen Anspruch der neuen Ballettchefin gleichwohl deutlich formuliert. Die in Ohio geborene Künstlerin errang Solisten-Positionen am Bayerischen Staatsballett, am Ballett der Dresdner Semperoper und am Stuttgarter Ballett, bevor ihr Weg ins Ruhrgebiet führte. Tief im klassischen Repertoire verwurzelt, vermag sie Spitzentanz und modernes Bewegungsvokabular mit glücklicher Hand zu verbinden.

Wie leicht ihr das gelingt, zeigt ihre Choreographie „La Grande Parade du Funk“ gleich zu Beginn. Aidan Gibson und der ungemein athletische Joseph Bunn wirbeln in einem Pas de Deux über die Bühne, der glamouröse Eigendarstellung durch selbstironische Coolness unterläuft. Es ist dieser intelligente, zuweilen durchaus freche Humor, der den Abend auch im weiteren Verlauf immer wieder einen Zentimeter vom Boden abheben lässt. Wenn drei Tänzer in „Sirs“ um eine kokette Dame buhlen (Maiko Arai), kommt das ritualisierte Cowboy-Gehabe fließend, synchron und herrlich lässig über die Bühnenrampe.

Aber Breiners Compagnie fächert viele weitere Facetten auf. Aufregend kraftvoll tanzt der Brasilianer Junior Demitre das Solo „Cultural Cannibalism“ von Luiz Fernando Bongiovanni. Seine raumgreifenden, von starker Rhythmik geprägten Bewegungen wirken wie ein Manifest des Machismo: hochfahrend und selbstsicher, lässig und provokant. Mächtig legen auch Kusha Alexi und Iván Gil Ortega los, die „In the Middle, somewhat elevated“ von William Forsythe mit Energie aufladen, bis es wie gefahrvoller Wechselstrom zwischen ihnen fließt.

Die ruhigen Stücke des Abends hinterlassen keinen geringeren Eindruck. Mit abgezirkelten, bis in die Fingerspitzen kalkulierten Bewegungen durchmisst Bojana Nenadovic die „Architektur der Stille“ von Edward Clug. Gemeinsam mit Wieslaw Dudek weitet sie Renato Zanellos Pas de Deux zum berühmten „Adagietto“ von Gustav Mahler zu einer berührenden Studie über Aufbruch und Ermattung, Sehnsucht und Resignation. Bridget Breiner selbst stellt sich mit dem Solo „Tué“ von Marco Goecke vor.

Zu hektischen, quasi hyperventilierend gesungenen Chansons von „Barbara“ tanzt sie mit flatterhaften, frenetischen Bewegungen, die dieser Musik bis ins Detail entsprechen. In ihrer neuen Choreographie „Blau Blue Bleu“ zum „Amerikanischen Quartett“ von Antonin Dvořák, inspiriert von Yves Kleins Gemälden im Foyer des Musiktheaters, versetzt Breiner den Traditionen des Klassischen Balletts freche Seitenhiebe. Die eindrucksvolle, ungemein ästhetisch beleuchtete Bühne von Jürgen Kirner lässt dazu Kunstnebel in einem Glaskasten zirkulieren.

„Der Erste Gang!“ war für Bridget Breiner und ihre Compagnie ein voller Erfolg. Wir sind gespannt auf Weiteres.




„Ruhri“ am Main: David Bösch inszeniert in Frankfurt Humperdincks „Königskinder“

Engelbert Humperdinck ist einer jener Ein-Opern-Komponisten, von dem sich nichts im Repertoire gehalten hat als das zum Weihnachtsmärchen verniedlichte grausame Kinderschicksalsstück „Hänsel und Gretel“. Wissenschaft und Theaterpraxis haben seine anderen Bühnenwerke mit dem vernichtenden Satz eingesargt, dass der Meister an seinen „früheren Erfolg nicht anknüpfen konnte“.

Gefährdete kindliche Idylle: Amanda Majewski als Gänsemagd in Humperdincks "Königskinder" in Frankfurt. Foto: Wolfgang Runkel

Gefährdete kindliche Idylle: Amanda Majewski als Gänsemagd in Humperdincks „Königskinder“ in Frankfurt. Foto: Wolfgang Runkel

Göttergleich fällt die Rezeptionsgeschichte das Urteil, ohne Bewusstsein für ihre eigenen, höchst vorläufigen Bedingungen. Der Regisseur Peter P. Pachl hat vor Jahren auf „Das Mirakel“ aufmerksam gemacht, ein einst ungeheuer erfolgreiches Theater-Experiment von Karl Gustav Vollmoeller und Max Reinhardt mit Musik Humperdincks – leider bisher vergeblich.

Einst erfolgreich, heute eine Rarität: Das gilt auch für Humperdincks zweite Oper „Die Königskinder“. An der Met, wo sie 1910 uraufgeführt wurde, war sie einige Zeit ein sicheres Repertoirestück. In den letzten Jahren gab es Versuche, ein neues Licht auf das spannende, den magischen Realismus eines Gerhart Hauptmann und symbolistische Strömungen der Wende zum 20. Jahrhundert aufnehmende Sujet zu werfen. In der Intendanz von Claus Leininger in Wiesbaden hat es Alois Michael Heigl 1991 eindrucksvoll realisiert; jüngst haben große Häuser wie München und Zürich eine neue Runde für die „Königskinder“ eröffnet.

Frankfurt zieht nun nach und verpflichtete mit David Bösch einen Regisseur, der in der Ruhr-Region seine ersten Arbeiten gezeigt hat und als innovativer, origineller Theatermann in Erinnerung bleibt: Viel gerühmt seine Shakespeare-Inszenierungen in Essen („Sommernachtstraum“, 2005) und Bochum („Romeo und Julia“, 2004), seine jeder Verkopfung widerstrebende Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Stücken, seine preisgekrönten Arbeiten wie „Viel Lärm um Nichts“ am Thalia Theater Hamburg.

Im Musiktheater hatte David Bösch diesen Erfolg nicht: Vivaldis „Orlando furioso“ in Frankfurt (2010) blieb in schrillem Klamauk stecken; auch sein Debüt in der Oper mit Donizettis „L‘Elisir d’amore“ am Münchner Nationaltheater wurde eher kühl aufgenommen. Mit den „Königskindern“ machte er sich an einen Stoff, dem die Autorin Elsa Bernstein-Porges zwar aus Märchenmotiven heraus entwickelt, aber nicht im Märchen verharren lässt. Was im ersten Akt, mit Hexe, Gänsemagd und Königssohn, noch mit vertrauten Figuren spielt, entwickelt sich im zweiten fast zum Sozialdrama, um im letzten Akt zu einer symbolistisch geprägten Nicht-Erlösungs-Geschichte zu mutieren.

Bösch und sein Team Patrick Bannwart (Bühne), Frank Keller (Licht) und Meentje Nielsen (Kostüme) nähern sich diesen verschiedenen Ebenen, indem sich die Geschichte aus der Sicht der beiden Heranwachsenden – der Gänsemagd und des Königssohns – entwickeln. Der Zauberkreis des ersten Bildes entspricht der Wahrnehmung eines Kindes: Die Gänsemagd empfindet den Druck der zweckmäßig organisierten Erwachsenenwelt; ihre „Erzieherin“ wird folglich zur „Hexe“, die sich schon in der Einleitung wie ein schwarzer Scherenschnitt am Horizont abzeichnet.

Das Kind spiegelt sich im Brunnen – eine symbolistisch geladene Chiffre – und genießt Sonne und Tiere; die Hexe drängt auf praktische Arbeit, deren Sinn freilich für das Kind undurchschaubar bleibt. „Wirst du den Kessel spülen? Ist der Brunnen nur gut als Spiegel?“ sagt die Alte: Ein Vers der exemplarisch für die unterschiedlichen Perspektiven steht.

Das Libretto von Elsa Bernstein-Porges, die unter dem Pseudoym „Ernst Rosmer“ geschrieben hat, bleibt jedoch nicht im Märchenhaften oder Psychologischen stecken – und Bannwarts Bühne zeigt das in überzeugender Bildsprache: Kreidezeichnungen kindlicher Spiele auf dem Boden, ausgeschnittene Gänse und Blumen rundum aufgesteckt. Das Kind entwirft sich seine Welt selbst. Sie beginnt, brüchig zu werden, als der Königssohn in sie eindringt. Die Entdeckung des „Du“ und der Erotik entfremden die Gänsemagd ihrer Welt. Entrinnen kann sie ihr noch nicht; erst als ihr der „Spielmann“ den Weg weist, den Zauber zu zerreißen, gelingt der Ausbruch in neue Erfahrungsräume.

Der zweite Akt in der Hellastadt trägt noch am deutlichsten die sozialkritischen Züge, die Bernstein-Porges im Sinn hatte: Bösch erzählt ihn als grimmige Parabel einer selbstgenügsamen Gesellschaft. Wie Maden aus einem Stück Speck kriechen die Bürger aus den Kanälen ihrer „Höllastadt“ – so verkündet der Zwischenvorhang mit dem abgestürzten korrekten „e“ den Namen. Der Herzensadel, mit „Lieben und Leiden“ errungen, gilt ihnen wenig, mehr noch: Sie bemerken ihn nicht einmal. Nur ihre Kinder weinen, als sie Königssohn und Gänsemagd aus ihrer satten Hölle vertreiben. Diesen sinistren Karneval dumpfer Selbstbezogenheit inszeniert Bösch zu wörtlich, stellt dralle Opernfiguren auf die Bühne. Da helfen auch die Schweinemasken nicht viel weiter.

Zweiter Akt der "Königskinder" an der Oper Frankfurt. Foto: Wolfgang Runkel

Zweiter Akt der „Königskinder“ an der Oper Frankfurt. Foto: Wolfgang Runkel

Für den sozialen Kältetod des Königskinder-Paares hält Patrick Bannwart seine Bühne wüst und öde. Nur nutzt Bösch die konzentrierende Leere nicht, um dieses Sterben zu transzendieren und der symbolistisch angelegte Figur des Spielmanns eine neue Dimension zu geben. Er steht nicht für eine Art Kunst-Erlöser, aber er ist eine sinngebende Gestalt, die dem inneren Entwicklungsweg der Kinder, aber auch ihrem Sterben die Bedeutung jenseits des Sozialdramas gibt. Das Lied des Spielmanns, in die Herzen gesenkt, macht die Kinder „sehend“; die Auferstehung der Königskinder in den Herzen gibt die Hoffnung auf eine neue Generation, fern der inneren Blindheit der Höllastadt und ihrer in Begierden gefangenen Bewohner.

Bösch verrät das Visionäre dieses Finales, wenn der vortrefflich singende und gestaltende Nikolay Borchev als humpelnder Opern-Opa über die Bühne hüpft, die Kinder ihre Holzschwerter zücken und das „Häppie Äntt“ auf hochgehaltenen Täfelchen konstatieren. Abwegig erscheint der Selbstmord der Königskinder per Schwertstreich. Er entwertet das Brot, das die Gänsemagd im ersten Akt backen muss, zum bloß peripheren Requisit, wo es doch ein sinnstiftendes dramaturgisches Mittel sein soll. Denn es ist nicht nur mit dem Todesfluch der Hexe behaftet, sondern auch mit dem Spruch des Mädchens: Der Esser „mag das Schönste sehn, so er wünscht sich zu geschehn“. Bösch findet kein theatrales Mittel, den symbolistisch-transzendierenden Aspekt von Humperdincks Oper zu vertiefen. Der dritte Akt verflacht, weil er sich zu wenig dem Sog des Vorhergegangenen entzieht.

Nur die Kinder verstehen den Spielmann (Nikolay Borchev). Foto: Wolfgang Runkel

Nur die Kinder verstehen den Spielmann (Nikolay Borchev). Foto: Wolfgang Runkel

Man darf annehmen, dass Frankfurts GMD Sebastian Weigle nicht ganz unbeteiligt an der Wahl des Stückes gewesen ist: Seine Domäne ist die deutsche Oper mit ihren Höhepunkten Wagner und Strauss. Humperdinck „Königskinder“ sind ein Zeugnis des mühevollen Strebens einer ganzen Komponistengeneration, sich aus dem riesigen Schatten Wagners heraus ins Licht neuer Ideen zu bewegen.

Humperdincks Schüler und des Bayreuther Meisters Spross und Erbe Siegfried Wagner ist ein anderer dieser vergessenen Generation, der im Licht einer neuen Rezeption geprüft werden müsste. Weitere sind zu nennen, etwa der langjährige Strauss-Vertraute Ludwig Thuille, ambivalente Komponisten wie Max von Schillings oder die französischen Vertreter des „Wagnerisme“. Vielleicht wäre diese verdienstvolle „Königskinder“-Aufführung ein Impuls, sich dieser Epoche zuzuwenden? Der erfolgreiche Intendant Bernd Loebe, der Anfang des Monats seinen Vertrag bis 2018 verlängerte, hätte die Kapazitäten seines Hauses und das Interesse des Publikums auf seiner Seite.

Und Sebastian Weigle bringt den Sensus für diese Art von Musik mit. Er macht mit dem wieder einmal ausgezeichnet disponierten Orchester der Oper deutlich, wo die Anklänge an Wagner liegen, aber auch, wo sich Humperdinck entschieden von dessen Vorbild abwendet. Weigle arbeitet kammermusikalische Finessen heraus, die den Techniker Humperdinck in bestem Licht erscheinen lassen, kennt aber auch den Herzenston der aufbrechenden Melodik, den schimmernden Zauber der Klangkombinationen. Dass er auf dem dreistündigen Weg durch Humperdincks Partitur auch matte Momente durchrutschen ließ, sei nicht verschwiegen.

Mit dem Königssohn hat sich das einstige Ensemblemitglied Daniel Behle erfolgreich eine schwierige Zwischenpartie erobert, die ihm weniger im lyrisch frei ausgestalteten Zentrum als in den noch nicht nachdrücklich genug gestützten Höhen Grenzen setzt. Amanda Majeski überzeugt durch ihre kindliche Aura und ihr Gespür für die Psychologie der Gänsemagd, geht aber zu zaghaft daran, vor allem im zweiten und dritten Akt Stimmfarben einzusetzen, die eine Entwicklung der Figur charakterisieren könnten.

Julia Juon, von der Szene zu sehr auf Märchenhexe festgelegt, muss den Beweis nicht antreten, was für eine großartige Sängerin sie ist. Man freut sich auf jeden Auftritt. Magnús Baldvinsson und Martin Mitterrutzner passen als Holzhacker und Besenbinder zu ihren Charakterpartien, die im dritten Akt manchmal in die Nähe missverstandener Lortzing’scher Chargen rücken. Für vorzüglich ausgefüllte kleinere Partien mögen Nina Tarandek und Katharina Magiera als Wirtstochter und Stallmagd stehen. Nicht zu vergessen sind der solide Chor Matthias Köhlers und der Kinderchor, der anspruchsvolle Aufgaben tapfer bewältigte. Michael Clark und Felix Lemke haben ganze Arbeit geleistet!

Weitere Aufführungen: 14., 19., 25., 27. Oktober.




Von der Last der Macht: „Boris Godunow“ im Dortmunder Opernhaus

Dimitry Ivashchenko als "Boris Godunow" in der gleichnamigen Oper von Modest Mussorgsky (Foto: M.Jauk/Stage Picture)

Diese Insignien der Macht übersteigen jedes menschliche Maß. Drei Männer braucht es, um das pelzgefütterte Prunkgewand des frisch gekrönten Zaren zu tragen. Tonnen scheint auch die mit Juwelen besetzte Mütze des Monomach zu wiegen.

Zwei Männer halten sie an Stangen in die Luft. Doch darunter ist kein Kopf. Auch der Mantel entpuppt sich als leere Hülle. Den zum Jubel abkommandierten Untertanen ist’s freilich egal. Für sie ändert sich ohnehin nur der Name der Knute, der sie sich beugen.

Solch klare und sinnfällige Bilder findet Katharina Thoma, Hausregisseurin an der Dortmunder Oper, die in ihrer Neufassung von Modest Mussorgskys „Boris Godunow“ die Schwere von Schuld und Macht erkundet. Dabei verzichtet sie fast gänzlich auf Prunk. Ein weißgrauer Betonbunker mit verschiebbarer Hinterwand verwandelt sich durch wenige Requisiten mal zur Straße, mal zum Palast, mal zu einem Birkenwäldchen (Bühne: Stefan Hageneier).

In diesem Rahmen, der oft überraschend licht wirkt, führt Katharina Thoma die individuelle Tragödie des Boris und das Drama des russischen Volkes zwingend zusammen. Mit feinem Gespür für Mussorgskys mitfühlende Musikpsychologie zeigt sie uns, dass der von Schuldgefühlen gequälte Boris nicht der schlechteste Regent ist, bevor ihn die Erinnerung an ein Verbrechen in den Wahnsinn treibt: hatte er doch aus Machtgier befohlen, den legitimen jungen Thronfolger zu ermorden. Im Stadium zunehmender geistiger Zerrüttung umhüllt sich Boris schutzsuchend mit seinem Mantel. Aber der erdrückt ihn schier, schrumpft ihn zum schaudernden Zwergen. Derweil schreit das hungernde Volk nach Brot. Es fleht zu einem Zaren, der sich nicht einmal selbst mehr helfen kann.

Es ist nicht das letzte Mal an diesem Abend, dass Katharina Thoma uns die ganze Bitterkeit von Russlands Misere schmecken lässt. Lob verdient ihre scharfe Ausleuchtung der Chorszenen. Das Volk ist bei ihr eine geschichtsbildende Kraft, zugleich aber dumpf, verroht, ungebildet und leicht zu manipulieren. Es kuscht vor der Gewalt, wird losgelassen aber zum reißenden Tier. Indes vereinen Opern- und Extrachor des Theaters sowie der Knabenchor der Chorakademie ihre Stimmkraft, ohne die Klangschönheit auf dem Altar des Fortissimo zu opfern (Choreinstudierung: Granville Walker und Jost Salm).

Als Gast erntet Dimitry Ivashechenko Beifallsstürme für die sensibel ausgeformte Titelpartie. Ivashchenko gibt „seinem“ Boris sonore Redlichkeit, aber auch grüblerische und gebrochene Töne. Der Tenor von Sergey Drobysheskiy bildet dazu den passenden Kontrast: Er singt den Hochstapler Dimitri, der aus der Mönchzelle mal eben flott auf den Zarenthron hüpfen möchte, mit einem zuweilen beinahe öligen Puccini-Schmelz. Die ernsthaft gestalteten Nebenrollen werten die Produktion weiter auf: Stellvertretend erwähnt seien Christian Sist als der Chronist Pimen und Hannes Brock als zwielichtiger Fürst Schuiskij, die wie der Rest des Ensembles in russischer Sprache singen (mit deutschen Übertiteln).

Der rauen Tonsprache des „Ur-Boris“ folgend, durchschreitet Dortmunds Philharmonisches Orchester unter der Leitung von Jac van Steen den großen Reichtum von Mussorgskys Partitur. Kinder- und Volksweisen, derbe Trinklieder, religiöse Choräle, Ausbrüche des Wahnsinns und der Verzweiflung klingen nicht immer ohne Wackler, aber mit zunehmender Vehemenz aus dem Graben.

Das Anarchiebild im Wald bei Kromy, das in Dortmund den Schluss bildet, könnte kaum deprimierender sein. Das marodierende Volk, kurz zuvor noch gegen Boris und dessen Blutschuld murrend, akklamiert unter Hurrageschrei den falschen Dimitri: einen Hochstapler und Mörder mit höchst zwielichtigen Absichten. Die Trostlosigkeit kulminiert im Klagelied des Gottesnarren: „Wehe dir, weine, du hungerndes Russland.“

(Informationen und Karten: www.theaterdo.de)




Klangwuchtiger Wahn – Die Rheinoper zeigt „Elektra“ als stetes seelisches Dahinwelken

Elektra, das Racheweib (Linda Watson), die Axt umschlingend. Foto: Matthias Jung

Plötzlich geht ein Ruck durch die Reihen. Ein paar Herrschaften schicken sich an, das Theater zu verlassen. Mitten im Stück. Ohne offensichtlichen Grund. Denn auf der Bühne wird weder bildmächtig gefoltert, noch blutig gemordet. Keine Orgien im Müll, keine Schändungen, nichts. Was also geschieht hier?

Positiv betrachtet, aus der Sicht der Kunst, in diesem Falle der Musik, spült die fantastische Kraft und Wucht der Klänge, die Wahn, Obsession und Deformation artikulieren, diese Menschen aus dem Düsseldorfer Opernhaus. Kein Wunder, wenn „Elektra“ gegeben wird, Richard Strauss’ revolutionär exzessiver Einakter mit all seinen dynamischen Extremen – hier sensibel, aber schon bedrohlich, dort immer noch lauter, brachialer, schockierender. Ins Negative gewendet aber heißt dies: Wer’s nicht aushält, der muss fliehen. Daraus einen Vorwurf zu stricken, ist indes Unsinn. Strauss hat sich in „Elektra“ einem dionysisch-pathologischen Rausch (auch der Orchesterfarben, bis hin zum Geräusch) ergeben, der im Grunde die Neurose auf die Bühne bringt. Kranke zu betrachten, wie sie seelisch dahinwelken, ist nicht jedermanns Sache.

Andere mögen diesen Abend im Düsseldorfer Opernhaus als Katharsis erkennen. Wer dieses tönende Stahlbad der Ekstasen durchschritten hat, sieht manch Nervositäten des Alltags mit einem milden Lächeln. Dass dies ein Werk leisten kann, das vor immerhin mehr als 100 Jahren uraufgeführt wurde, ist beachtlich. Dass Richard Strauss es mit „Salome“ und „Elektra“ bei seinem Ausflug in den wild-wuchernden Jugendstil und den harschen Expressionismus bewenden ließ, darf umso bedauerlicher registriert werden.

Es ist hier nicht zuletzt deshalb soviel von der Musik die Rede, weil die Düsseldorfer Neuproduktion der „Elektra“ ihre nervöse Spannung zuallererst aus der brodelnden Energie gewinnt, die aus dem Orchestergraben steigt. Dann muss von einer starken bis phänomenalen Sängerleistung die Rede sein. Zum Schluss von einer Regie, die, wie angedeutet, keinen Grund für reflexhafte Flucht liefert. Die sich mitunter gar der exaltierten Interaktion verweigert. Die andererseits ein wuchtiges Bühnenkonstrukt gewissermaßen mitsprechen lässt.

Grau, verwinkelt, unheimlich: Das Haus der Elektra. Foto: Matthias Jung

Roland Aeschlimann hat dies in Form eines gewaltigen Hauses erbaut und auf die Spielfläche gewuchtet. Flackernde Lichter. Fensterlose Löcher, aus denen bisweilen Tote herausbaumeln, graue Mauern, die das Innere weitgehend verbergen. Erst am Ende, wenn Elektras Bruder Orest aus Rache die Mutter und deren Liebhaber gemeuchelt hat, bekommen wir Einblick. In ein Eingeweide, das so deformiert ist wie die Seelen der Menschen.

Elektra also, gefangen in der Beschwörung ihres erschlagenen Vaters Agamemnon und ihrer Gier nach Vergeltung. Gefesselt vom eigenen Wahn und daraus resultierender Einsamkeit. Doch ach: So sehr Linda Watson die Partie betörend, verstörend, aufbegehrend singt, in leuchtenden Farben und in größter Kraft, so wenig körperliche Exaltation lässt Regisseur Christof Nel zu. Das Racheweib wirkt kalt, mitunter wie unbeteiligt. Selbst die große Mutter-Tochter-Szene, mit Renée Morloc als Klytämnestra, die ihre Stimme bis in die Überzeichnung treibt, bleibt ein eher zahmes Duell.

Immerhin darf sich Morloc wie eine Besessene, von Träumen Geplagte austoben, so wie Elektras Schwester Chrysothemis (Morenike Fadayomi, mit einigen Problemen bei der Stimmfokussierung), dauererregt an einem Brautkleid herumnestelt. Pure Statik hingegen umgibt den totgeglaubten Bruder Orest. Doch in seiner steifen Würde wirkt der Mann eminent bedrohlich, weil Hans-Peter Königs Bass noch das größte, stärkste orchestrale Wirbeln trefflich übertönt.

So soll erneut von den Düsseldorfer Symphonikern die Rede sein. Die Dirigent Axel Kober anfangs zügelt, um ihnen alsbald freien Lauf zu lassen. Und die doch, trotz aller Klangwucht, stets die Balance halten zu den Solisten, die ungemein textverständlich singen. Damit wird diese Rheinopernproduktion zu einem singulären Ereignis.

Wohl dem, der bis zu den letzten brutalen Schlägen des Orchesters ausgehalten hat. Sehr sehr schade allerdings, dass es nur noch eine Vorstellung gibt, am 7. Oktober.

Karten unter Tel.: 0211/8925-211

www.operamrhein.de

 




Ruhrtriennale: Die jungen Mädchen und der Traum von einer anderen Zeit

Anfangs gehen die 39 Mädchen wie in Zeitlupe quer über die Bühne. Ihr unentwegt gemurmeltes Mantra lautet „Alles wird gut“ („Everything’s going to be alright“). Sie schreiten in Trance. Woher und wohin?

Nur manchmal stößt die eine oder andere sacht an einen der verstreut stehenden Stühle. Doch plötzlich ein metallisches Kreischen! Die Stühle werden hart über den Bühnenboden geschoben, auch vernimmt man dabei schabende, knirschende, kratzende Geräusche. Es sind ungeahnte Stimmen, die da ertönen. Singende Stühle. Mythische Traumzeit in männerloser Welt.

Recht unscheinbar und verhalten hat der Abend begonnen, doch wenn man in den ersten Minuten gedacht haben sollte, hier wabere nur etwas im Ungefähren, so hat man sich gewiss geirrt. Diese Aufführung kann jederzeit in gläserne Poesie entschweben oder auch in schneidende Schärfe umschlagen. Sie kann naiv und durchtrieben sein. Schon kurz nach dem schlafwandlerischen Beginn setzen sich alle Mädchen in einer Phalanx auf die Stühle, den Zuschauern konfrontiert, für Minuten in Schweigen verharrend. Da baut sich eine Anspannung bis zur Alarmgrenze auf, die sich dann allerdings unversehens ins Federleichte löst.

Frontal zum Publikum: das Ensemble von "When the mountain changed its clothing" (Bild: Ruhrtriennale)

Frontal zum Publikum: das Ensemble von "When the mountain changed its clothing" (Bild: Ruhrtriennale)

Das Ruhrtriennale-Projekt „When the mountain changed its clothing“ (Als der Berg sein Kleid wechselte), vom Intendanten Heiner Goebbels mit dem famosen Vocal Theatre Carmina Slovenica in Szene gesetzt, ist wahrhaftig ein besonderes Ereignis aus Musik, Choreographie und literarischen Spiegelungen.

Glauben wir mal dem Programmheft und nehmen an, dass es hierbei vornehmlich um den Abschied von der (weiblichen) Kindheit geht. Tatsächlich werden ja Kuscheltiere rituell beigesetzt, wie im Kindergarten ziehen die Mädchen kollektiv Windjacken und Gummistiefel an und tollen herum. Altes wird abgelegt, Neues dämmert herauf. Unschuld und angemaßte Erfahrung halten einander die Waage. Einige Grundthemen des Seins werden fragend durchgespielt. Manche Passagen wirken, als könne alles, alles noch einmal ganz von vorn anfangen. Doch ach! Jegliche Zukunftshoffnung trägt das Weh doch wohl schon in sich. Und schon werden die Lügen des Lebens eingeübt.

(Foto: Wonge Bergmann für Ruhrtriennale)

(Foto: Wonge Bergmann für Ruhrtriennale)

Es ist streckenweise kaum zu fassen, welche Klangwelten diese zwischen 11 und 20 Jahre jungen Mädchen aus Maribor (unter der musikalischen Leitung von Karmina Šilec) herbeizaubern. Der streng präzise, unglaublich fugenlos gefügte, jedoch unangestrengt dargebotene Chorgesang umfasst staunenswert viele Register bis hin zur Obertontechnik; mal hört sich das an wie ein wundersamer Nachhall auf Gregorianik oder erinnert von fern her ans legendäre „Mystère des voix Bulgares“, das vor etlichen Jahren im Westen als Folkpop-Phänomen Furore machte. Mitunter steigert es sich bis zur rhythmischen Ekstase, so etwa beim indischen Traditional „Taka Din“. Sind diese Mädchen etwa auf Höchstleistung gedrillt worden – oder sind sie allesamt einfach phänomenal begabt? Jedenfalls können sie sich in einer nahezu kirchenähnlichen Akustik in der Bochumer Jahrhunderthalle angemessen entfalten.

Das musikalische Material (weit gespannt zwischen Schönberg, Brahms, slowenischer Folklore und Partisanenlied) ist ebenso vielfältig wie die Textbausteine. Der durch Klang und Bewegung geschaffene Kontext verwandelt die verwendeten Texte, macht sie gleichsam durchlässig, transparent: Wer hätte ohne weiteres gedacht, dass ein ungemein modern anmutendes, zyklisches Frage-Exerzitium über Jugend, Alter und Tod aus Jean-Jacques Rousseaus „Émile oder über die Erziehung“ stammt? Ein eigenwilliger Exkurs zum Geld wird dem Werk von Gertrude Stein entnommen, weitere Wortschwingungen kommen von Joseph von Eichendorff, Alain Robbe-Grillet („Wovon träumen die jungen Mädchen? – „Vom Messer und vom Blut.“), Adalbert Stifter oder Marlen Haushofer. Sie lösen auch im Spiel magische Momente aus: Ein Brot tragen. Mit einem Ball spielen. Wie innig das sein kann!

Alles besteht gleichwertig nebeneinander, entkoppelt und befreit vom herkömmlichen Sinn. Altgewohnte Zusammenhänge werden durch ebenso zwingende wie beiläufige Wiederholungs-Zyklen (geleitet und begleitet vom Kreislauf der Jahreszeiten, in deren Verlauf eben auch der titelgebende Berg sein Kleid wechselt) geführt, auf dass ein reiner Anfangszustand leuchten möge. Vielleicht sogar angstlos und frei.

Großer Beifall für große Kunst.

Weitere Aufführungen (mehrsprachig mit deutschen Übertiteln) nur noch am 28. Und 29. September, jeweils 19.30 Uhr, in der Jahrhunderthalle Bochum




Entstelltes Genie: Kurt Weills „Street Scene“ am Musiktheater in Gelsenkirchen

Leben in einer schäbigen Mietskaserne: Das Ehepaar Maurrant (l. Joachim Gabriel Maaß und Noriko Ogawa-Yatake) und Tochter Rose (Dorin Rahardja, r. Foto: MiR/Pedro Malinowski)

Den Blick für das Leid der Unterprivilegierten, Unterdrückten und Verfolgten verlor der Komponist Kurt Weill auch nach seiner Flucht aus Nazi-Deutschland nicht. In den USA musste der Schöpfer der „Dreigroschenoper“ sich freilich anpassen, um Erfolg zu haben.

Nach intensiven Studien amerikanischer Folksongs und der Jazzmusik unternahm der Einwanderer das Wagnis, eine originär „Amerikanische Oper“ schaffen zu wollen, die für ihn nur aus der populären Musik des Landes hervorgehen konnte.

Mit größter Energie arbeitete Kurt Weill an „Street Scene“, inspiriert vom gleichnamigen Drama von Elmer L. Rice, das 1929 den Pulitzer Preis erhielt. Die Handlung, Mitte der 40er Jahre in den Slums von New York angesiedelt, zeigt Amerika als „Melting pot“ der Nationen, aber auch die Deformation der Menschen durch materielle Not. Im Mittelpunkt steht die Familie Maurrant: Anna betrügt ihren Ehemann Frank, während Tochter Rose mit dem jüdischen Intellektuellen Sam Kaplan anbandelt. Unter den Augen klatschsüchtiger Mietskasernen-Bewohner spitzen sich die Dinge zu, bis es zu einem Doppelmord aus Eifersucht kommt.

Das Gelsenkirchener Musiktheater legt „Street Scene“ zur Saisoneröffnung in die Hände von Gil Mehmert, Musical-Professor an der Folkwang-Universität Essen und Regisseur für die Eröffnungsshow des Kulturhauptstadtjahrs Ruhr.2010. Diese Entscheidung ist schwer verständlich, zumal das Programmheft das „vermeintliche Musical“ als „Große Oper“ lobt. Mehmerts Zugriff ist zu sehr auf Unterhaltung bedacht und verniedlicht die sozialen Schärfen des Dramas. Statt der im Programmheft versprochenen „aufregenden Gesellschafts- und Sittenschau“ sehen wir eine bunte, zahnlose Revue, in der das Publikum sogar beim grausigen Doppelmord noch amüsiert gluckst.

Lys Symonettes deutsche Übersetzung der Songtexte von Langston Hughes sträubt sich gegen den Fluss der Musik, die vom jazzigen Swing zu Wagner’scher Emphase, von der schwelgerischen Puccini-Arie zum flotten Schlager und von der Kavatine zum Blues gleitet. Die dafür nötige Geschmeidigkeit kann Dirigent Heiko Mathias Förster den Musikern der Neuen Philharmonie Westfalen nur bedingt vermitteln. So gut es gelingt, zarte Momente wie die Ode an den Fliederstrauch mit subtilem Klangzauber zu unterlegen, so oft scheint sich das Holpern der deutschen Texte im Orchestergraben fortzusetzen. Hoffnung stiftende Ansätze von US-amerikanischem Schwung geraten immer wieder ins Straucheln.

In Erinnerung bleibt das Bühnenbild von Heike Meixner, die uns einen halb umgestürzten Hochhausblock von unten zeigt, und ein Ensemble, das an diesem Abend mehr Spielfreude denn sängerische Glanzleistungen bietet. Glaubhaft zeigen Joachim Gabriel Maaß und Noriko Ogawa-Yatake die fortschreitende Verhärtung und Verhärmung des Ehepaars Maurrant durch einen gnadenlosen Alltag. Weicher und hoffnungsvoller ist Tochter Rose, der Dorin Rahardja warme und wandlungsfähige Soprantöne gibt. Lars-Oliver Rühl verleiht Sam Kaplan Puccini-Farben, nicht immer ohne Mühe. Umgeben sind diese Hauptakteure von einem Typenkabinett, das zuweilen am Rande des Tingeltangel-Theaters agieren muss. Kurt Weill, dieses geniale musikalische Chamäleon, begegnet uns quasi in Turnschuhen, behängt mit einer Federboa aus prallbunten Klischees. Wie sollen wir ihn da ernst nehmen?

(Der Bericht ist zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen. Informationen: www.musiktheater-im-revier.de)




Ahnung und Geheimnis: Franz Schrekers „Der Schatzgräber“ in Amsterdam

Den großen Schatz, des Lebens Hort, alles Sehnens Ziel: Elis, der Schatzgräber, grüb‘ ihn gern. Doch: Was dieser Schatz auch sei, Franz Schreker lässt den Zuschauer seiner Oper mit dem Rätselwort allein. Ein typischer Zug der Zeit und seiner selbst geschriebenen Libretti: Der Komponist, der zwischen 1915 und 1933 zu den Stars des deutschen Musiktheaters gehörte, hüllt seine Sujets gerne in Ahnungen, gibt dem deutenden Geist Raum, lädt dazu ein, ihnen ihr Geheimnis zu entreißen. Wer es zu greifbar zu erklären strebt, bleibt im Geflecht der Symbole, der Traumbilder, der raunenden Andeutungen hängen.

Ob „Der singende Teufel“ oder „Irrelohe“, ob „Der ferne Klang“ oder „Die Gezeichneten“: Franz Schrekers Werke fordern den beherzten Interpreten. John Dew war das in seinen guten Jahren in Bielefeld; Hans Neuenfels hat mit „Die Gezeichneten“ in Frankfurt vor dreißig Jahren ein Schlüsselwerk der immer wieder stockenden Schreker-Wiederentdeckung geschaffen. Andere folgten, so Martin Kušej 2002 mit den Stuttgarter „Gezeichneten“, aber auch Klaus Weise in Bonn mit „Irrelohe“. Jetzt hat sich Ivo van Hove in Amsterdam an „Der Schatzgräber“ gemacht und ist mit seinem Team – Jan Versweyveld (Bühne und Licht), An D’Huys (Kostüme) und Tal Yarden (Video) aufrichtig gescheitert.

Van Hove ortet Schrekers 1920 uraufgeführte Oper im künstlichen Realismus eines Raumes, der Märchenbuch-Skizze oder minimalistische Filmkulisse sein könnte: Ein Dreieck aus Holz öffnet sich in weitem Winkel zum Zuschauer hin. Die beiden Schenkel tragen je eine hausförmige Öffnung, durch die sich Schauplätze wie Puppenhäuser schieben: Kneipe, Hütte, Todeskammer, Tribüne, Palast. Stets bleibt das „Spiel“ bewusst; Illusion soll nicht keimen.

"Der Schatzgräber" in Amsterdam: Szenenbild. Foto: Monika Rittershaus

"Der Schatzgräber" in Amsterdam: Szenenbild. Foto: Monika Rittershaus

Aber die feine Balance zwischen der nacherzählten Handlung und einem der Realität entschwebenden, halb träumerischen, halb symbolischen Spiel gerät immer wieder aus dem Gleichgewicht: Dann kommen die Szenen daher wie handwerklich routiniert am Libretto entlang inszeniert. Und der hybride Realismus der Bühne erweist sich als Falle, aus der auch die Videos keinen Ausweg bieten. Ihre „Herr der Ringe“ – Ästhetik, vermischt mit explodierendem kosmischem Farbennebel und softig beleuchteter nackter Haut, funktioniert anders als im Kino in der Oper nur schwer: Die Träume der Hauptfigur Els, einer Mischung aus traumatisiertem Missbrauchsopfer, männermordenden Besessenen, jugendstilhaftem Symbolweib und wagnerischer Erlösungs- und Liebesikone sind zu konkret: Man könnte meinen, es gehe um guten Sex und glückliche Familie.

Videos in "Herr-der-Ringe-Ästhetik": Schrekers "Schatzgräber" in Amsterdam. Foto: Monika Rittershaus

Videos in "Herr-der-Ringe-Ästhetik": Schrekers "Schatzgräber" in Amsterdam. Foto: Monika Rittershaus

Unter all den zauseligen gesellschaftlich Gestrandeten und eleganten Anzugträgern, mit denen Hove das Schreker’sche Figurenkabinett bevölkert, gelingen jedoch beeindruckende Einzelstudien: Graham Clark verkörpert mit seinem nach wie vor unverwechselbar schneidenden Charaktertenor den Narren als hinkenden alten Mann mit Witz und Wehmut. Wund vom Leben hat er sich längst der Gesellschaft bei Hofe entfremdet. Er weiß, dass ihm die Liebe versagt ist, gewinnt aber aus Erkenntnis Stärke. Er scheint die Fäden, wenn auch nicht zu ziehen, doch zu kennen: ein „Loge“ des Symbolismus.

Manuela Uhl als Els in Schrekers "Der Schatzgräber". Foto: Monika Rittershaus

Manuela Uhl als Els in Schrekers "Der Schatzgräber". Foto: Monika Rittershaus

Manuela Uhl hat die Figur, die weibliche Attraktion und die Spiel-Erfahrung, um die Els glaubhaft zu verkörpern. Das Vibrato ihres Soprans schlägt diesmal weniger schwer als sonst, die Höhe gleißt, das Zentrum strahlt klangsatt, die Artikulation bleibt immerhin nicht ständig auf der Strecke. Für die Sängerin ein starker Abend. Raymond Very kommt mit der kraftraubenden Partie des Elis stimmlich zurecht; könnte aber eine Szene wie die Liebesnacht differenzierter gestalten statt stämmig durchzustehen. Er hat glückliche Momente, aber auch manchen „Durchhänger“, der wohl auch der unentschiedenen Regie zuzuschreiben ist. Andere Darsteller sind herausgefordert, in kurzen, manchmal nur episodischen Momenten alles zu geben, etwa Gordon Gietz als Albi oder Andrew Greenan als Wirt. Nur Tijl Faveyts als König und Kay Stiefermann – der Wuppertaler „Holländer der vergangenen Spielzeit – als Vogt haben etwas mehr Raum, Charakter zu entwickeln.

Im Orchestergraben lässt Marc Albrecht Schrekers magische Klänge glitzern und gleißen. Er betont den schwankenden Boden einer aufgelösten Tonalität, indem er Reibungen ausmodelliert, die irisierenden Harmonien leuchten lässt. Das Nederlands Philharmonisch Orkest folgt seinen Impulsen en détail, mit Finesse in den dynamischen Valeurs und, wo gefordert, in der weit ausholenden Phrasierung ebenso wie im ziselierten solistischen Engagement. Alan Woodbridges Chor steht dem nicht nach: Musikalisch ein durch und durch überzeugender Schreker!




Gebremste Leidenschaft: Verdis „Macht des Schicksals“ im Aalto-Theater Essen

Dietrich Hilsdorfs Inszenierung hat nichts von ihrer Stringenz, Johannes Leiackers Bühne nichts von ihrem lichtvollen Realitätsentzug eingebüßt. Verdis „La Forza del Destino“ ist es wert, immer wieder ins Repertoire des Aalto-Theaters zurückzukehren. Auch wenn man gegen die rüden Kürzungen der Mailänder Fassung der Oper (1869) einwenden muss, dass Verdi in dieser Zeit kompositorisch sehr genau wusste, was er will. Doch es siegt der Wille des Regisseurs, eine psychologisch schlüssige Geschichte zu erzählen.

Dass er den Padre Guardiano mit dem alten Marchese di Calatrava verschmilzt und diesen aus dem Sarg zurückkehren lässt wie einen Zombie oder eine Erscheinung ist ein Sinn stiftender Theatercoup. Und auch Verdis Mittelalter-Camouflage, damals meist der Zensur geschuldet, ist heute entbehrlich: In Essen spielt das Stück zur Zeit seiner Entstehung.

Szene aus Verdis "La Forza del Destino" am Essener Aalto-Theater; Bühne Johannes Leiacker. Foto: Thilo Beu

Szene aus Verdis "La Forza del Destino" am Essener Aalto-Theater; Bühne Johannes Leiacker. Foto: Thilo Beu

Die Wiederaufnahme von „La Forza del Destino“ eröffnete die neue Spielzeit in Essen. Stefan Soltesz hat in seiner letzten Spielzeit einen bescheidenen Schwerpunkt auf Verdi, einen der „Jubilare“ des Jahres 2013, gelegt. Wieder aufgenommen werden noch „La Traviata“ und „Aida“, neu inszeniert „I Masnadieri“ („Die Räuber“ nach Schiller). Damit bringt Essen eine der vielen selten gespielten Opern Verdis. Andere Opernhäuser nudeln zum 200. Geburtstag dieses Giganten der Oper das übliche Repertoire ab: kein „Stiffelio“, kaum eine „Luisa Miller“, keine „Lombarden“, von den hitzköpfigen frühen Opern wie „Attila“, „I due Foscari“, „Ernani“ oder „Il Corsaro“ ganz zu schweigen. Dafür haucht „La Traviata“ hunderte Mal ihr Leben aus, lugt „Rigoletto“ hinter jedem Eck hervor. Zwischen 2001 (100. Todestag Verdis) und 2012 hat sich an der Einfallslosigkeit deutscher Spielpläne – in Sachen Verdi zumindest – nicht viel geändert.

Der Dirigent der Essener Aufführung, Giacomo Sagripanti, ist ein Debütant am Aalto-Theater und hoffentlich kein Vorzeichen für die Zeit nach Stefan Soltesz. Der Italiener kommt offenbar aus dem Mainstream, wie er heute von den zugrunde gewirtschafteten Konservatorien seines Heimatlandes herangebildet wird: Fern der – nicht mit alten Schlampereien zu verwechselnden – Traditionen schlägt er einen sorgfältig erarbeiteten, aber dramatisch geglätteten Verdi, mit schematischer Agogik, wenig vertraut mit dem Atmen der Sänger, ohne Sensus für die fiebernden Tremoli, das innere Drängen der Musik. Metrisch einförmig ist das, ohne rhythmischen Biss, in den Lyrismen klassizistisch poliert, in der Dramatik züchtig domestiziert. Gebremste Energie, gekappte Leidenschaft: das funktioniert zum Beispiel im unendlich zärtlichen Pianissimo am Ende der Oper, nicht aber zum Beispiel in der verzweifelten Szene des Alvaro, für den das Leben zur Hölle wird.

Sagripanti versucht auch, veristische Züge aus dem Stück herauszuhalten, was ihm zumindest mit Carlos Almaguer als Carlos nicht gelingt. Der Bariton hat eine phänomenal gut sitzende Stimme mit üppigen Resonanzen und kann mühelos jeden Raum füllen. Leider praktiziert er das mit ausuferndem Fortissimo bei jeder Gelegenheit: Gebrüll statt subtiles Gestalten, grobes Aussingen statt bewusste Stilisierung.

Als Alvaro wurde kurzfristig der rumänische Tenor Daniel Magdal gewonnen, der 2005 etwa in Münster in Stanislaw Moniuszkos „Halka“ gesungen hat. Er bringt die Stimme erst allmählich in Position und kann den Ton nicht füllen. Seine große Szene nach der Pause („La vita é inferno all‘infelice“) wirkt sorgsam vorgetragen, mehr nicht.

Mit dem Bemühen um den großen Bogen und das tragende Piano zeichnet sich Galina Shesterneva aus, die auch demonstriert, dass „russische Schule“ nicht unbedingt großhubiges Vibrato bedeuten muss. Ihre Arien baut sie gekonnt auf, ihr Timbre ist stabil und erinnert in „Pace, pace“ an Diven des Verismo wie Zinka Milanov. Dass sie eine von der blinden Willkür des Schicksals Gejagte ist, kann sie musikalisch nicht darstellen, weil ihr der Dirigent dazu die Dynamik im Tempo verweigert.

Von der Regie zur Episodenfigur reduziert, kann Yaroslava Kozina als Preziosilla immerhin mit ein wenig „Rataplan“ punkten. Tiziano Bracci mutiert als Melitone vom frechen, dicken Mönch zum Adjutanten des Marchese Calatrava und singt mit schlanker, damit auch farbreduzierter Stimme seine sprachlich bewusst gestaltete Szene. Albrecht Kludszuweit erweist sich als Trabuco mit schönem Tenor in ein paar Sätzen wieder einmal als sichere Stütze des Essener Ensembles. Und Marcel Rosca, auch ein Essener „Urgestein“, hatte einen guten Tag und gab der patriarchalistischen Doppelgestalt des Marchese di Calatrava mit gut fokussiertem Bass ein differenziertes Profil.

Nur noch zwei Mal ist diese „Macht des Schicksals“ in Essen zu sehen, am 15. September und am 14. Oktober. Eine Alternative bietet sich in Köln: Dort inszeniert Oliver Py die Oper zur Eröffnung der Spielzeit neu; Premiere ist am 16. September.




Festspiel-Passagen IX: Lust am Neuen und Seltenen

Während Händel mittlerweile im Repertoire der Opernhäuser eine wichtige Rolle spielt, gibt es bei anderen Komponisten von Weltgeltung noch einiges zu entdecken. Unermüdliche Arbeit für Gioachino Rossinis breit gefächertes Opernschaffen leistet seit Jahren das Rossini Festival in Bad Wildbad. Intendant Jochen Schönleber legt besonderen Wert auf Sänger, die den zum Teil exorbitanten Ansprüchen Rossini’scher Partien entsprechen. In den vergangenen Jahren hat das Festival manchem jungen Belcantisten zum Durchbruch verholfen.

In Rossinis kurzer Farce „Adina ossia Il Califfo di Bagdad“ ließ vor allem eine Nebenrolle aufhorchen: Christopher Kaplan als Ali – Mitglied des Jungen Ensembles der Semperoper Dresden – verbindet darstellerische Präsenz mit einem wohlgeformten Tenor. Auch Rosita Fiocco würde man gerne wieder hören, auch wenn die Koloraturen noch etwas schwer im Ansatz gebildet sind. Antonio Petris‘ Regie bemühte sich ohne Erfolg, dem Werk eine interessante Seite abzugewinnen. Ausnahmsweise mal ein Rossini, der für die Bühne zu Recht vergessen werden kann.

Gioachino Rossini. Historische Aufnahme von Nadar (eigentlich Gaspard-Félix Tournachon)

Gioachino Rossini. Historische Aufnahme von Nadar (eigentlich Gaspard-Félix Tournachon)

2013 wird solches wohl nicht der Fall sein: So wie in diesem Jahr Rossinis „Semiramide“ steht dann das monumentale Abschlusswerk von Rossinis Opernschaffen im Programm: „Guillaume Tell“, konzertant und so vollständig wie möglich. Ein geradezu vermessenes Vorhaben; eine Herausforderung, der man sich in den Staatsopern-Sphären von Berlin oder München bisher nicht zu stellen wagte.

Auf keinen Fall wieder in die Geschichte zurücksinken sollte die andere Rarität des Wildbader Festivals 2012: „I Briganti“ ist eine nach Schillers „Räubern“ entworfene Oper Saverio Mercadantes. Uraufgeführt 1836 in Paris, war sie ein von Rossini unterstützter Versuch, Paris für diesen damals in Italien weithin bekannten Kollegen zu gewinnen. Ein Projekt, das trotz exquisiter Sängerriege scheiterte: Mercadantes konservativer Ansatz, zu sehr dem italienischen „Melodramma“ verpflichtet, konnte sich gegen die moderne Oper Giacomo Meyerbeers nicht durchsetzen.

Wildbad versuchte, das Stück erstklassig zu besetzen. Unter der wenig geschmeidigen, metrisch oft schematischen Leitung von Antonino Fogliani boten die Virtuosi Brunenses aus Brünn kaum mehr als eine solide Unterstützung der Solisten. Der hoch gelobte Tenor Maxim Mironov war als Ermano den virtuosen Anforderungen seiner Partie gewachsen, aber die Stimme hat Stetigkeit und warmen Klang zu gewinnen. Petya Ivanova als Amelia agiert wie eine Diva der fünfziger Jahre; ihre Stimme verliert im Lauf des Abends den Kontakt zum Körper, wird hart, dünn und im Klang prekär.

Bruno Praticó, der alte Haudegen, zeigt, wie es geht: Als alter Graf Moor entfaltet er im Duett mit seinem Sohn Ermano wundersam die Aura des technisch zuverlässigen Singens mit schier endlosen Bögen und sprechendem Klang. Die Regie ließ die Akteure alleine, die sich mit allen Peinlichkeiten abgelebter Opern-Gepflogenheiten über Wasser hielten und ständig auf den Dirigenten starrten. Mercadantes Oper aber sollte wegen ihrer dramatischen Anlage und ihrer feurig-sensiblen Musik einen Weg zu weiteren Inszenierungen finden.

St. Gallen Festspiele Logo

Weiter im Süden, in der Ostschweiz, brachten die siebten St. Galler Festspiele Hector Berlioz‘ „La Damnation de Faust“ auf die weiträumige Freilichtbühne vor der Kulisse der barocken Stiftskirche. Carlos Wagner inszenierte die „Legende dramatique“ als Welttheater mit Méphistophéles als Zirkusdirektor. Das wirkte nicht willkürlich bunt, sondern entspricht dem Charakter der Stücks.

Stellenweise verwies die Inszenierung den Zuschauer auf farbige Zeit-Panoramen und epische Großbilder, wie sie in Romanen von Charles Koster (Ulenspiegel), Victor Hugo (Der Glöckner von Notre Dame) oder Umberto Eco (Der Name der Rose) geschildert sind. Die Fantasie der Kostüme (Ariane Isabell Unfried) verhinderte peinliche Anklänge an Monumentalfilm-Ausstattungen; die Spielfläche (Rifail Ajdarpasic) mit ihren verschiedenen Ebenen und Plateaus ließ bewegungsreiches „Augenfutter“ zu. Dass er am Ende in einem Hamsterrad endet, lässt Méphistophéles ein wenig wie den betrogenen Teufel erscheinen: Sein Werk, Menschen – hier mit Hilfe von Marguerite als dienstbarem Geist – zum Bösen zu verführen, ist eine Sisyphusarbeit, die dank göttlicher Gnade und Barmherzigkeit zum vergeblichen Mühen verurteilt ist.

Berlioz‘ farbige und klanglich subtile Partitur eignet sich nicht für eine Freilicht-Produktion, bei der das Sinfonieorchester St. Gallen unter der Bühne sitzt und mittels Lautsprecher verstärkt wird. Da mag sich Dirigent Sébastien Rouland noch so um die Finessen mühen: Der Klang bleibt oft grob und eindimensional. In den Opern der letzten Jahre, von Gaetano Donizettis Sintflut-Rarität „Il Diluvio universale“ über die frühen Verdi-Opern „Giovanna d’Arco“ und „I Lombardi alla prima crociata“ – heuer in Erfurt bei den Domstufen-Festspielen wieder aufgenommen – war das weniger problematisch, weil deren Partituren nicht so visionär klanglich gearbeitet sind wie die Musik des französischen Orchester-Revolutionärs. Mit Verdis selten gespielter Oper „Attila“ steht Sankt Gallen im Juni/Juli 2013 – im 200. Geburtsjahr Verdis – wieder auf der sicheren Seite (Premiere am 21. Juni 2013).

In Nürnberg rückten die Internationalen Gluck-Opern-Festspiele zum vierten Mal einen Komponisten ins Blickfeld, der hohe akademische Ehren genießt, im Bühnenalltag aber nicht allzu häufig präsent ist. Dass es nicht an stiller Einfalt und edler Größe liegen kann, zeigte das Staatstheater Nürnberg mit einer bestürzend konsequenten Aktualisierung von Glucks „Ezio“. Das finstere Machtspiel verlegte Andreas Baesler – in Nordrhein-Westfalen durch Regiearbeiten in Gelsenkirchen, Essen oder Münster kein Unbekannter – in die Überdrussgesellschaft einer außer Rand und Band geratenen Wohlstandszeit.

Nürnberg Gluck Festspiele Logo

Erpressung, sexuelle Gewalt, Mord gehören zum Verhaltensrepertoire. Ein derart geschärftes, in die Gegenwart geholtes antikes Drama lässt nicht kalt. Zumal der Schauplatz passt: Hermann Feuchter und Lilith-Marie Cremer bauten in der Theater-Tiefgarage hölzerne Verschläge, bei denen nicht klar war, ob die Darsteller oder die Zuschauer Gefangene oder Gaffer sind.

Die Darsteller agierten auf gefährliche Weise präsent, und die Musiker der Accademia Bizantina, der Neuen Nürnberger Ratsmusik und der Nürnberger Musikhochschule gaben unter Leitung von Nicola Valentini Glucks Musik trotz der akustischen Probleme Schlagkraft und Kontur. Eine tiefsinnige Choreografie des immer erfolgreicher agierenden Nürnberger Ballettchefs Goyo Montero zum ewigen Mythos des Don Juan und eine konzertante Aufführung der Oper „Das Goldene Vlies“ des gebürtigen Nürnbergers Johann Christoph Vogel (1756 bis 1788) rundeten die Festspiele zu einer kurzen, aber entdeckungsreichen Zeit. Peter Theiler, bis 2008 Intendant des Musiktheaters im Revier, hat bisher immer wieder Opern für die Bühne wiederentdeckt. So bleibt zu hoffen, dass er seine Linie 2014 – im 300. Geburtsjahr Glucks – mit ebenso viel Lust am Neuen und Ungewöhnlichen fortsetzen wird.