Der Traum zum Tode: Jules Massenets „Don Quichotte“ in Gelsenkirchen

Almuth Herbst und Krzysztof Borysiewicz in Jules Massenets "Don Quichotte" am Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen. Foto: Karl Forster

Almuth Herbst und Krzysztof Borysiewicz in Jules Massenets „Don Quichotte“ am Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen. Foto: Karl Forster

Jules Massenets „Don Quichotte“ ist kein häufiger Gast auf den Musiktheaterbühnen. Dass er – nach einer Kölner Inszenierung vor zehn Jahren – in zwei Spielzeiten gleich drei Mal in Nordrhein-Westfalen zu sehen ist, darf wohl dem Zufall zugeschrieben werden.

Wuppertal zeigte im Frühjahr eine auf ein subtiles Traumspiel konzentrierte Inszenierung von Jakob Peters-Messer, im Mai 2014 folgt das Theater Hagen, wo Gregor Horres Massenets Alterswerk auf die Bühne bringt. Und jetzt hatte der groteske Ritter, der seit Cervantes‘ Roman nicht mehr aus der Weltliteratur wegzudenken ist, seinen Auftritt in Gelsenkirchen – hier verantwortet von Elisabeth Stöppler.

Die Regisseurin hat sich unter anderem am Musiktheater im Revier die Basis einer Karriere erarbeitet, die sie inzwischen an große Häuser wie die Dresdner Semperoper geführt hat. Nicht zuletzt ihre Arbeit mit Benjamin Britten – zu erinnern ist an die szenische Version des „War Requiem“ 2011 – hat dazu beigetragen. Der „Don Quichotte“ ist ein weiteres Beispiel, wie Stöppler zum Kern eines Werkes vordringt und ihn in ausdrucksstarken Bildern freilegt.

Bei Massenet ist der alternde Adlige nicht der Träger einer idealistischen Erhabenheit und eines weltzersetzenden Humors wie bei Cervantes. Er ist auch nicht der Protagonist einer Komödie, die sich aus verstiegen-bizarrer Fantasie speist. Massenet stellt auf der Basis einer Fin-de-siècle-Tragikomödie von Jacques de Lorraine die Frage nach dem Anteil von Traum und Imagination an der Liebe. Für eine Zeit, die in Rausch und Traum aufregende Welten „hinter“ der physikalisch determinierten Realität entdeckt hat, ein hochaktuelles Thema. Dale Wasserman und Mitch Leigh haben in ihrem tiefsinnigen Musical vom „Mann von La Mancha“ das Thema weitergesponnen und reflektiert, ob nicht das, was gemeinhin als die reale Welt gilt, nicht erst durch den Begriff von der Welt konstituiert wird.

Reales, Imaginäres und Erträumtes verweben sich untrennbar

Elisabeth Stöppler rückt Massenets „Don Quichotte“ in genau diese Richtung: Bei ihr ist Don Quichotte weniger ein „Träumer“ als ein Mensch, in dessen Weltbegriff Reales, Imaginiertes und Erträumtes sich untrennbar verweben. Dazu lässt sie sich von Bühnenbildner Piero Vinciguerra eine hyperrealistische Villa bauen: Küche, Sanitärräume, Wohn- und Schlafzimmer, detailliert eingerichtet. Noch bevor ein Wort fällt, baut Stöppler die szenische Spannung zwischen den Protagonisten auf: Eine Hausangestellte – Dulcinée – reinigt Bad und Toilette, während im Obergeschoss ein alter Herr in seiner Bibliothek versonnen sein Cello streicht. Das Instrument, das ja oft als Symbol des weiblichen Torsos gilt, behält die Funktion als erotische Chiffre in der Inszenierung – ein Zeichen für die Klugheit, mit der Stöppler in ihrer Bildfindung ans Werk geht.

Reales und Imgainäres verschwimmen: Krzysztof Borysiewicz als Don Quichotte. Foto: Karl Forster

Reales und Imgainäres verschwimmen: Krzysztof Borysiewicz als Don Quichotte. Foto: Karl Forster

Don Quichotte hat sich ein wenig in seine Zugehfrau verguckt. An dieser eher banalen Ausgangslage entzündet sich eine romantische Vorstellung. Sie gibt der Welt eine Bedeutungsebene, die am Ende nicht einlösbar ist: Das Gespinst aus Idee und Imagination wird schlagartig zerrissen, als Dulcinée den Heiratsantrag Quichottes brüsk ablehnt: In diesem Moment scheitert nicht nur die Konstellation, aus der die Komödie besteht – die Liebe eines versponnenen alten Mannes zu einer jungen Frau. Sondern, viel tiefer gründend, bedeutet er auch die Vernichtung des Weltbegriffs Don Quichottes. Ein Zusammenbruch, den Stöppler und Vinciguerra mit einer radikalen Reduktion der Bühne bildlich erfassen: Es bleibt nur das Sterbebett im Dunkel. Eine Szene, die über die Gestalt Don Quichottes hinaus in eine allgemeingültige Dimension wächst: Wo die Begriffe ihre gestaltende Kraft verlieren, bleiben nur noch Leerstellen: Der Mensch verliert sein Leben.

Der Weg dahin wird von Figuren flankiert, die zunächst aus der unmittelbaren Lebenswelt des Ritters kommen – seine Familie –, sich dann aber zu einer Galerie von Lebensentwürfen erweitern. Die vorzüglich agierenden Gelsenkirchener Choristen verwandeln sich in Gestalten aus Historie und Fiktion: Superman, Mutter Teresa, Fidel Castro, Fred Astaire, Elvis Presley; den Meister der dämonischen politischen Fantastik Adolf Hitler und den Schöpfer surrealer Welten Salvador Dalí. Stöppler zeigt damit, wie sich die Grenzen von Don Quichottes Weltentwurf immer weiter ins Imaginäre verschieben, aber auch, wie die Fiktion auf die Realität einwirkt – am Beispiel von Menschen, die auf welche Weise auch immer durch ihre Visionen ihre Welt geformt haben. Diese Menagerie der Geschichte ist die große Stunde des Kostümbildners Frank Lichtenberg: der fantastische Realismus seiner Entwürfe balanciert genau auf der Nahtstelle zwischen Tatsächlichkeit und Vorstellung.

Wo endet die Realität - wo beginnt die Imagination? Szene aus "Don Quichotte" mit Almuth Herbst (Dulcinée). Foto: Karl Forster

Wo endet die Realität – wo beginnt die Imagination? Szene aus „Don Quichotte“ mit Almuth Herbst (Dulcinée). Foto: Karl Forster

Wieder einmal bestätigt das Gelsenkirchener Orchester, die Neue Philharmonie Westfalen, dass es mit einem bemerkenswerten Fortschritt in seiner Klangkultur in der Oberliga in Nordrhein-Westfalen mitspielen kann. Dirigent Valtteri Rauhalammi betont nicht so sehr die veristischen Einflüsse in der eklektischen Partitur Massenets, sondern arbeitet die impressionistischen Momente heraus: Klangschattierungen und dynamische Finessen, die eher an Debussy als an Mascagni erinnern. Und er beleuchtet den „Wagnerisme“ Massenets: Momente in der Musik, die an Wagner erinnern, ohne ihn zu imitieren. Der Rang dieses Spätwerks wird hörbar.

Die Solisten auf der Bühne, darstellerisch ebenso gefordert wie musikalisch, bleiben Massenet nichts schuldig. An Stelle des in der Premiere gefeierten Krzysztof Borysiewicz sang Jongmin Lim die Titelpartie nobel zurückhaltend, auf subtile Valeurs mehr achtend als auf den Glanz der großen Töne. Den Mann, der in Don Quichottes Dasein das unlösbare Band mit der banalen Welt des Alltags verkörpert, war Dong-Won Seo: Sein Sancho Pansa, manchmal zu guttural eingefärbt, ließ nachvollziehen, wie sich jemand, der sich zunächst mit dem Vorgegebenen arrangiert, die Schönheit und Kraft einer Vision zu entdecken beginnt.

Almuth Herbst setzte einen vollen, saftigen Mezzo ein, um die Facetten Dulcinées auszudrücken: zuerst arglose Putzfrau, dann Klischeebild der verführerischen Spanierin, schließlich ungewollt verderbliche femme fatale. Berechtigte Begeisterung: Mit diesem „Don Quichotte“ knüpft das Musiktheater im Revier an seine große Tradition wegweisender Inszenierungen an und setzt einen markanten Akzent in der Rhein-Ruhr-Theaterlandschaft.

Massenets „Don Quichotte“ gibt es im Gelsenkirchen noch an sechs Abenden zwischen 28. Dezember und 15. Februar 2014.




Heiterkeit und Melancholie: Donizettis „Don Pasquale“ am Theater Hagen

Der Bruch der Zeiten ist überdeutlich: Norina und Ernesto, das sind zwei junge Leute von heute, Jeans, Jacket, hübsches Top. Don Pasquale lebt in einer anderen Welt, im „Damals“: Kniehosen, bestickte Weste, reich ornamentierter Hausmantel. Er sitzt in einem altertümlichen Rollstuhl und starrt in seinen herrschaftlichen Salon, in dem die Möbel mit weißen Tüchern verhängt sind. Ein gelebtes Leben.

Wer so jemanden auf seine alten Tage noch heiraten will, muss sich anpassen. Und so schlüpft Norina am Theater Hagen in eine ausladende Robe: Krinoline drunter, Stoffschichten zwischen bonbonrosa und veilchenlila drüber, Rüschen, Reffungen und Schleifchen. Kurz, eine Fassade, die dem heiratslüsternen Alten signalisieren soll: Hier kommt eine Frau, die in deiner Welt aufgehen wird, die genau in die Ausstattung deines Haushalts passt.

Schein und Wirklichkeit: Norina (Maria Klier) stellt sich Don Pasquale (Rainer Zaun) als schüchterne Klosterschülerin vor. Foto: Stefan Kühle

Schein und Wirklichkeit: Norina (Maria Klier) stellt sich Don Pasquale (Rainer Zaun) als schüchterne Klosterschülerin vor. Foto: Stefan Kühle

Kostümbildnerin Lena Brexendorff – auch für die Bühne zuständig – hat in ihren Kostümen eine der Kernfragen von Donizettis letzter komischen Oper „Don Pasquale“ sichtbar gemacht: die Frage nach Wirklichkeit und Täuschung, aber auch die Selbsttäuschung, die erst möglich macht, dass sich Don Pasquale von der Intrige seines zweifelhaften Freundes Malatesta – der Name meint einen „bösen Kopf“ – irreführen lässt. Und Annette Wolf deutet in ihrer Inszenierung an, dass die sexuellen Gelüste des Titelhelden – von Malatesta mit den bekannten, blauen Pillen angeheizt – nicht unbedingt das erste Motiv seines Treibens sind: Die Einsamkeit des Eröffnungsbildes verweist deutlich tiefer in die Psyche.

Es gab Regisseure, die „Don Pasquale“ konsequent der buffonesken Einkleidung entledigt und das Drama des einsamen, alten, grausam getäuschten Mannes herausgeschält haben. So weit wollten Wolf und Brexendorff nicht gehen: Die Tannenzapfen-Gewichte einer Kuckucksuhr hängen riesig vom Schnürboden herab in die Bühne und erinnern sachte daran, dass Donizettis Oper ihre Wurzeln in der alten „Commedia“ mit ihren mechanisch-schematisch agierenden Figuren hat. Oder eben auch an die verzopfte Puppenstuben-Welt, in der Pasquale nach dem Leben schmachtet – das mit dem Einzug der vermeintlichen, schüchternen Klosterschülerin „Sofronia“ auch einkehrt: Ein prachtvoller Hirsch wird ausgepackt und der Hausherr verlässt mit Schwung den Rollstuhl.

Doch das Verstellungsspiel funktioniert nur teilweise: Die Begegnung zwischen der getarnten Norina und dem leichtgläubigen Don Pasquale gleitet in witzig gemeinten, aber abgestandenen Klamauk ab, statt psychologisch glaubwürdig ausgeformt zu werden. Rainer Zaun ist ein Komödiant alter Schule, der sich auf die abgelebten Tricks des Genres verlässt. Maria Klier als Norina agiert heftig und kann das Blümchen, das hinter klerikalen Mauern aufgewachsen sein soll, nicht recht glaubwürdig machen. Im Publikum lacht kaum jemand: Die ollen Kamellen kommen nicht mehr an.

Nach der Pause: Das Drama spitzt sich zu

Nach der Pause spitzt Annette Wolf das Drama dann doch noch zu: Norina gibt im Leoparden-Outfit das hässliche Selbstbewusstsein einer verzogenen Wohlstandsgöre zu erkennen. Neffe Ernesto hat vorher schon den Eindruck erweckt, das „Hotel Onkel“ ziemlich bequem auszunutzen. Keija Xiong schlurft erst im Morgenmantel herein und zeigt – entsprechend seiner Rolle als schmachtender, aber wenig aktiver Liebhaber – später auch nicht viel mehr Initiative.

Die treibende Rolle besetzt Oleksandr Prytolyuk (ein stimmgewaltig dröhnender Gast aus Darmstadt für den erkrankten Raymond Ayers): ein durchtriebener Geselle, der im bürgerlichen Gewande an Mozarts Don Alfonso aus „Cosí fan tutte“ erinnert. Einer derjenigen, bei denen die Aufklärung alle Werte wegerklärt und an ihrer Stelle nur den handfesten Geldwert hinterlassen hat? Den Eindruck, an der Erfüllung einer wahren Liebe zwischen zwei jungen Menschen interessiert zu sein, weckt er nicht.

"Liebe" in Zeiten der Spielkonsole: Maria Klier (Norina) und Kejia Xiong (Ernesto). Foto: Stefan Kühle

„Liebe“ in Zeiten der Spielkonsole: Maria Klier (Norina) und Kejia Xiong (Ernesto). Foto: Stefan Kühle

Norinas durchtriebenes Spiel mit Pasquales blutleeren Alltagsidealen gipfelt in einem unerhörten Übergriff: Die Ohrfeige, die sie dem Alten verpasst, bricht das Stück endgültig ins Melancholische – eindeutig zu hören in Donizettis sensibler Musik. Für das Ende hat sich Wolf eine Überraschung ausgedacht: Das bezaubernde Liebesduett „Tornami a dir che m’ami“ verbringt das Paar mit gleichgeschalteten Bewegungen jeder für sich mit der Spielekonsole. Am Ende büchst Norina mit Don Pasquale aus: Beide verlassen ihre Lebenswelt, in der eine authentische Beziehung jenseits von Rollen- und Lebensmustern nicht möglich war. So bricht Wolf die Komödie auf, ohne Donizettis Oper ins Tragische zu ziehen: eine originelle Idee.

Auch musikalisch liegen in Hagen Heiterkeit und Melancholie nahe beieinander: Auf David Marlows Dirigat reagiert das Orchester mit wendigen Tempi und transparentem Klang, aber auch mit kantig phrasierten Melodiebögen und gepfefferter Lautstärke. Patzer und Schludrigkeiten folgen auf sensibel aufgebaute Momente in der Balance und der dynamischen Nuancierung: Theateralltag eben. Die souveräne Bühnenerfahrung gibt dem Pasquale Rainer Zauns Autorität; stimmlich zeigt er sich flexibel, wird allerdings vom Orchester immer wieder zugedeckt.

Maria Klier hat die kecken Koloraturen der Norina auf Abruf, der klanglich erfüllte Ton ist ihre Sache weniger. Keija Xiong hat ein ernstes Problem mit der Stütze seiner an sich wohltimbrierten Stimme, was vor allem in der Höhe schmerzlich bewusst wird: sie bleibt dünn und klanglos. Wolfgang Müller-Salow hat den Hagener Chor auf eleganten Klang studiert. Wozu die Choristen den berühmten Dienerchor in einer überflüssigen Großküchen-Szene singen, während sie mit Endlos-Nudeln hantieren, bleibt schleierhaft. Und das Licht ist schlichtweg Pfusch: Der Zuschauer im Parkett muss sich jedes Mal, wenn sich bestimmte Türen öffnen, vor einer grellen Scheinwerfer-Batterie schützen. Auf diese Weise blendend hat Annette Wolf ihr Konzept sicher nicht gemeint.

Die nächsten Vorstellungen: 19. und 28. Dezember 2013; weitere Termine bis März 2014 unter www.theaterhagen.de




Tannhäuser im Christusgewand: Kay Voges inszeniert in Dortmund erstmals eine Oper

Elisabeth (Christiane Kohl) und Hermann, Landgraf von Thüringen (Christian Sist. Foto: Thomas M. Jauk/Theater Dortmund)

Elisabeth (Christiane Kohl) und Hermann, Landgraf von Thüringen (Christian Sist. Foto: Thomas M. Jauk/Theater Dortmund)

Venus spült in der Küche Geschirr, während Tannhäuser vor dem Fernseher gammelt. Er trinkt Dosenbier, zappt mit der Fernbedienung durch die vielen Kanäle. Auf Leinwänden flimmert an uns vorbei, was er sieht: Fußball, Wetten dass, Nachrichten, Syrien, der Wetterbericht, Sportschau, noch mehr Fußball. Tannhäuser hat genug. Er schaltet aus, wendet sich um und macht seinem Überdruss Luft. „Zuviel. Zuviel!“

Es kommt, wie es kommen muss: Richard Wagners Tannhäuser reißt sich auch in der neuen Version von Kay Voges vom Venusberg los. Aber Dortmunds Schauspielchef, der sich mit dieser Inszenierung erstmals in die Welt der Oper vorwagt, hat schon in der Ouvertüre ein Feuerwerk an Bildern und Ideen gezündet. Wie so oft, funktioniert das bei ihm über Videoeinspielungen (Daniel Hengst), die er zu Beginn des Stücks fast im Übermaß einsetzt. Indes ist die Bilderflut voller Hintersinn. Sie führt tief in das Spiel um Liebe und Erlösung hinein.

Gleich zu Beginn erblicken wir einen Tannhäuser mit Dornenkrone, ans Kreuz der Medien geschlagen. Aber Voges setzt die Titelfigur keineswegs mit Christus gleich, wie auch Elisabeth nicht einfach Maria ist und Venus nicht Maria Magdalena. Vielmehr schiebt er die Geschichten und Figuren wie zwei Folien übereinander. Er spielt mit den Unschärfen und Übereinstimmungen, die sich daraus ergeben, und spürt der Erlösungsproblematik nach, die Richard Wagner auch in anderen Werken umkreist. Wie in Scorseses Film „Die letzte Versuchung Christi“, den Voges hier zitiert, gibt es für Tannhäuser eine andere Möglichkeit als den Büßertod. Er könnte für immer mit Venus leben und sich weltlichen Genüssen hingeben. Doch Tannhäuser wählt die Pilgerfahrt und nimmt damit großes Leiden auf sich.

Voges, der die Eigenschaft besitzt, sich selbst nicht immer allzu ernst zu nehmen, durchbricht Wagners Weihe durch Momente von Witz und Leichtigkeit. Das Imponiergehabe der schrill gekleideten Wartburg-Sänger, die köstlich ironischen Kontrapunkte beim Aufzug der Festgäste bereiten Vergnügen. Aber nicht alles gelingt. Das erste Wiedersehen von Tannhäuser und Elisabeth wirkt trotz Einsatz der Drehbühne ratlos. Die Romerzählung wird vollkommen statisch vor einer Leinwand gesungen, die Tannhäusers Mimik in quälend langer Super-Slow-Motion zeigt.

Tannhäuser wird erst bedroht, dann verbannt (Daniel Brenna. Foto: Thomas M. Jauk/Theater Dortmund)

Tannhäuser wird erst bedroht, dann verbannt (Daniel Brenna. Foto: Thomas M. Jauk/Theater Dortmund)

Es ist ein Jammer, dass die Inszenierung musikalisch so schwach beglaubigt wird. Daniel Brenna ringt am Premierenabend schwer mit der Titelpartie. Seine Stimme wird bereits beim Abschied von Venus so rau, dass ein Abbruch der Vorstellung möglich erscheint. Sein Tenor klingt unstet, in der Höhe statisch oder flackernd, in der Romerzählung kurzatmig und deklamatorisch. Die Venus von Hermine May kennt dunkle Mezzo-Flammen, aber auch Schärfen und ein expansives Vibrato. Für den einzig wahren Lichtblick sorgt Christiane Kohl, die Elisabeth eine helle, leuchtende Sopranstimme mit klarer Diktion verleiht. Auch Christian Sist muss sich als Landgraf von Thüringen nicht verstecken. Gerardo Garciacano singt den Wolfram von Eschenbach steif und gaumig.

Die Dortmunder Philharmoniker spielen unter der Leitung von Gabriel Feltz Töne, ohne Musik zu machen. Sie bringen das Kunststück fertig, der Hallenarie jedes Strahlen und jeden Jubel zu nehmen. Feltz buchstabiert Choräle durch, seine Tempi sind blockhaft, sein Dirigierstil ist blutlos und akademisch. Oft klappert es vernehmlich zwischen Bühne und Orchestergraben. Die Chöre sind von Granville Walker solide einstudiert, verlieren im Fortissimo aber an Klangkultur.

Jammerschade dies, wie gesagt. Was hätte diese Produktion für ein Knaller werden können! Lange nicht mehr hat eine Dortmunder Premiere so starke und kontroverse Reaktionen hervorgerufen. Heftige Bravorufe und wütende Buhs hielten sich die Waage.

Ob man den neuen Tannhäuser aber nun frech findet oder trashig, verrückt oder vielleicht sogar ein wenig blasphemisch: Respektlosigkeit vor Richard Wagners Werk ist Voges in keiner Weise vorzuwerfen. Eher wird ihm die Fülle seiner Gedanken zum Problem: Er hat sich gründlicher mit dem Stoff auseinander gesetzt als manche, die gerne behaupten, Wagners Willen genau zu kennen.

Sollte darin etwa ein Affront liegen? Wer etwas von Voges Inszenierung haben will, darf weder denkfaul sein noch erstarrt in der eigenen Meinung. Wer aber gerne tiefer blickt wird staunen, was der Opernnovize alles ans Licht holt.

(Informationen und Termine: http://www.theaterdo.de/detail/event/4134/)




Charlotte im Puppenheim: „Werther“ von Jules Massenet im Aalto-Theater Essen

Spaziergang auf Kunstrasen: Werther (Abdellah Lasri) und Charlotte (Michaela Selinger) wandeln im Mondschein (Foto: Matthias Jung)

Spaziergang auf Kunstrasen: Werther (Abdellah Lasri) und Charlotte (Michaela Selinger) wandeln im Mondschein (Foto: Matthias Jung)

Ein Baumstamm durchschlägt das Dach des Hauses. Herbstlaub fliegt durchs Fenster herein, Schneeflocken wirbeln durch die Türen. Manchmal schneit auch Werther vorbei, ein Schwärmer und Träumer, der eng mit der Natur im Bunde steht. Seine manische Leidenschaft für die verheiratete Charlotte verwandelt deren trautes Heim nach und nach in ein Trümmerfeld.

Nach diesem simplen Prinzip funktioniert die neue Inszenierung der Oper „Werther“ von Jules Massenet, mit der Carlos Wagner jetzt seinen Einstand im Essener Aalto-Theater gab. Der im venezolanischen Caracas geborene Regisseur setzt seine Gedanken zu dem 1892 uraufgeführten lyrischen Drama mit einer kindlich anmutenden Begeisterung um, die sich nur wenig fragt, ob und wie von der „Amour fou“ des Werther heute noch glaubwürdig erzählt werden kann.

Wagner versetzt Charlotte in ein zweistöckiges Puppenheim, dessen Bullerbü-Romantik sogar die angedeuteten pädophilen Neigungen des Familienvaters zukleistert (Bühne: Frank Philipp Schlößmann). Die berühmte Mondnachtszene lässt er unbefangen mit einem Fuß durch den Edelkitsch spazieren. So bedient die Regie just die Süßlichkeit, die Massenets üppiger, zugleich aber höchst subtiler Musik ebenso oft wie ungerecht vorgeworfen wurde.

Die Personenführung bereitet peinvolle Momente. Werther muss entweder rennen und mit den Händen fuchteln oder mit starren Fischaugen ins Leere glotzen. Wenn er im Takt der Musik mit der Stirn gegen die Wand schlägt, ist eine Schmerzgrenze erreicht. Gekrönt wird das vom oberlehrerhaft erhobenen Zeigefinger im Schlussgesang. Horcht noch mal her, denn gleich bin ich tot!

Charlotte (Michaela Selinger) findet Werther (Abdellah Lasri) im Schnee gerade noch lebend an (Foto: Matthias Jung)

Charlotte (Michaela Selinger) findet Werther (Abdellah Lasri) im Schnee (Foto: Matthias Jung)

Der Marokkaner Abdellah Lasri, der dies in der Titelpartie umsetzen muss, ist nicht darum zu beneiden. Ihm und der Sopranistin Michaela Selinger ist es zu verdanken, wenn von dieser Neuproduktion doch noch Glanz ausgeht. Lasris Tenor besitzt beachtliche Strahlkraft und eine gelungene Mischung aus Brust- und Falsettstimme. Vehemenz und Fragilität des Werther sind bei ihm gut aufgehoben: Auf sentimentale Schluchzer kann er locker verzichten. Seine Mittellage ist warm und verfügt über schwärmerische, auch grüblerisch getönte Farben.

Dem Tenor zur Seite trumpft Michaela Selinger mit den lyrischen Qualitäten ihrer Stimme auf, aus der mit Charlottes zunehmender Seelenqual auch dramatische Spitzen lodern. Sie formt die Partie überzeugend durch; leichte Ermüdungserscheinungen machen sich erst in der Schlussszene bemerkbar. Christina Clark als vogelleicht zwitschernde Sophie und Heiko Trinsinger als sonorer Albert rahmen die Protagonisten sehr wirkungsvoll ein.

Der französische Dirigent Sébastien Rouland leitet die Premiere mit großen Bewegungen, aber durchaus umsichtig. Nach einem eher grob gezeichneten Beginn finden die Essener Philharmoniker unter seinem Dirigat zu schwärmerischen Klängen, die nicht in die Falle des Sentiments tappen. Die Mondmusik klingt zart und wiegend, die dramatischen Ausschläge sind dunkel, zuweilen aufgeraut expressiv. Emphase und Verzweiflung, Depression und Enthusiasmus fließen auf das Schönste ineinander. Gut einstudiert präsentiert sich der Kinderchor (Patrick Jaskolka), der das Drama mit einem starken Kontrapunkt beendet.

Das öde Schlussbild ertrinkt förmlich in Massen von Kunstschnee, die vom Bühnenhimmel rauschen. Nun ja. Die Natur kann zuweilen auch gnädig sein.

(Der Bericht ist zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen. Informationen: http://www.aalto-musiktheater.de/premieren/werther.htm)




Die Schule des „guten Singens“: Juan Diego Flórez in der Philharmonie Essen

Die Philharmonie Essen. Foto: Werner Häußner

Die Philharmonie Essen. Foto: Werner Häußner

Einen Sänger wie Juan Diego Flórez auftreten zu lassen, mutet eigentlich als pure Verschwendung an. Schon Theodor W. Adorno hat angemerkt, heute werde nur noch das Material als solches gefeiert. Und Adornos „heute“ liegt über 50 Jahre zurück. Seither hat sich die Lage auf dem Sängermarkt weiter verdüstert.

Stimmen, die früher sogar in der italienischen Provinz von der Bühne gezischt worden wären, feiern bejubelte Triumphe: technisch unfertig, stilistisch traditionslos, präsentieren sie verquollene Töne mit Kraft und Lautstärke, mit erschreckenden Defiziten in Atem und Artikulation. Egal: Laut ist schön und schön ist laut – das gilt zumindest für das italienische Fach. Was soll da noch ein Belcantist mit einer perfekt gebildeten Stimme wie Flórez?

Und dennoch: Auch wenn die Fetischisten, die einen Sänger schon feiern, wenn er sich irgendwie durch die Partie geschummelt hat, alle Kriterien des guten Singens als bloße Geschmacksurteile diffamieren: Der Gesang, der den klassischen Schulen des Belcanto folgt, fasziniert die Menschen noch immer. Vor allem, wenn sie ein unverbildetes Gehör mitbringen und sich von den hochgepuschten Namen der Klassik-PR nicht blenden lassen. Das atemlose Lauschen, die Stille im Saal, die gebannte Stimmung sprechen für sich. Das Gefühl, die Zeit stehe still, während die Töne fließen, die Entspannung beim Zuhören: das sind Reaktionen auf Sänger wie Flórez. Der Psychologe möge erforschen, woran das liegt. Die Beobachtung sagt: Der perfekt gebildete Gesang teilt sich dem Zuhörer mit – auch wenn er über die technischen Voraussetzungen keine Kenntnis besitzt.

So gesehen, war das Konzert des Peruaners in der Philharmonie Essen dann doch keine Verschwendung. In seiner Stimme teilt sich die Faszination des „schönen Singens“ mit. Selbst wenn er Salon-Petitessen bringt wie Francesco Paolo Tostis hübsche, naive Canzonen. Bei Flórez gibt es keinen falschen Schmelz, kein sentimentales Schmachten, sondern strenge, disziplinierte Tongebung. Aber dafür ein technisch abgesichertes, völlig entspanntes Piano („Ideale“), ein grandioses Diminuendo („Vorrei morire“), und einen leuchtenden hymnischen Ton („L’alba separa dalla luce l’ombra“).

Ähnlich behandelt Flórez die Arien aus drei im spanischen Sprachraum bekannten Zarzuelas von Pablo Luna („La pícara molinera“), Reveriano Soutullo („El ultimo romántico“) und José Serrano („El trust de los tenorios“): Montserrat Caballé hat solche melodischen Kostbarkeiten schalkhaft zu Charakterstückchen geformt; Juan Diego Flórez gibt ihnen eine fein sentimentale Stimmung, ohne sie an den Schmalz zu verraten. Die Stimme bleibt dabei ausgeglichen geführt – bis in die strahlende Höhe hinein. In solchen Momenten erinnert er an den unübertroffenen König der klassischen „leichten“ Muse, den irischen Tenor John McCormack (1884-1945).

Runder, ausgeglichener Ton über den gesamten Stimmumfang

In der Oper nähert sich Flórez mittlerweile dem legendären Alfredo Kraus. Dieser 1999 verstorbene Belcantist stand in einer Zeit des oft kruden, mit Lautstärke protzenden Verismo-Gesangs für stilistische Finesse und technischen Schliff. Die wehmutsvolle Legato-Linie in „O del mio amato ben“, der wohl berühmtesten der Arien „im alten Stil“ des Wahl-Sizilianers Stefano Donaudy, dürfte Flórez derzeit niemand nachmachen. Ebenso wenig wie die elegante, bruchlose Phrasierung auf einem Atem.

Mit solchen Vorzügen kann Flórez auch in zwei Arien aus Händels „Semele“ aufwarten: Oft wird heute übersehen, dass die Gesangsschulen des 18. Jahrhunderts das Legato, die Rundung und des Ausgleich des Tons über den gesamten Stimmumfang hinweg fordern. Flórez bringt alles das mit – aber ihm fehlt in diesem Fall das stilistische Rüstzeug: Die Arien sind zu verschlafen im Tempo, zu wenig akzentuiert artikuliert. Daran hat auch der Pianist Vincenzo Scalera, ein hochberühmter Begleiter führender italienischer Sänger, seinen Anteil: Er spielt Händel, wie man „arie antiche“ vor fünfzig Jahren begleitete: zäh, mit dickem Ton und üppigem Pedal.

Leider blieb Scalera auch im Feld des romantischen Belcanto den Klavierparts einiges schuldig. Technisch sind die Triolen, Sextolen, Dreiklangbrechungen, Arpeggi und Legato-Melodien nicht anspruchsvoll, gestalterisch umso mehr. Jeder Ton braucht seine Schattierung, seine Farbe. Scalera spielt das mitunter, als korrepetiere er bei einer Bühnenprobe.

Auf dem Weg zu Donizetti und Meyerbeer

Und Juan Diego Flórez zeigt, wohin sein Weg gehen wird: zu Donizetti, zu einigen ausgewählten Verdi-Partien, vielleicht auch zu Meyerbeer. Die Romanze des Raoul aus „Les Huguenots“ gelingt ihm mit makelloses Bögen, perfekt in die Linie eingebundenen Höhen, einer kühlen Tongebung voller Finesse im Detail. Dabei ist der Klang der Stimme so unforciert tragfähig, dass man sich Flórez im Meyerbeer-Jubiläumsjahr 2014 gerne in einer Rolle dieses nach wie vor unterrepräsentierten Giganten des 19. Jahrhunderts vorstellt.

Keine Frage, dass Flórez mit der sehnsuchtsvollen Farbe in seiner Mittellage für Come un spirto angelico“ aus Donizettis „Roberto Devereux“ ein ansprechender Interpret ist. Die Tessitura liegt ihm und hilft seinem Tenor, sich tragend im Raum zu entfalten. Flórez kleidet diese Abschiedsarie in einen elegischen Ton, hält sich in den Färbungen nobel zurück und beschwört einen Stil des Singens, wie er vor der kraftvollen Expressivität eines Enrico Caruso á la mode gewesen ist.

Sein feines Vibrato ist nicht aufgedrückt, wie etwa bei neo-italienischen und osteuropäischen Sängern heute üblich, sondern wächst gleichsam natürlich mit einem gesund und substanzvoll gebildeten Ton. Das hilft ihm auch in Verdis „Je veux encore entendre ta voix“ aus der selten gespielten Oper „Jérusalem“ – einer Bearbeitung des frühen Werks „I Lombardi alla prima crociata“. Allerdings zeigt diese Arie auch Flórez‘ derzeitige Grenzen: Das Rezitativ ist zu neutral geformt; es „spricht“ nicht, verleugnet in seiner streng gefassten vokalen Disziplin, dass Verdis Oper schon einer anderen Zeit angehört als die elegischen Helden Donizetti.

Dennoch: Flórez‘ Autorität als souveräner Gestalter erfährt dadurch keinen Abbruch; eine Kompetenz, die er in den Zugaben eindrucksvoll und zum Jubel des Publikums bestätigt: Rossinis augenzwinkernder Bolero „Mi lagneró tacendo“, Flotows „M‘ appari“, die italienische Version der Arie „Ach so fromm“ aus „Martha“, und „La donna é mobile“ als „Rausschmeißer“ – in einer Formung, die Klassen über der Bemühung liegt, mit der Vittorio Grigolo auf demselben Podium vor kurzem sein Publikum unterhielt.




Schillerndes Spiel um Macht und Liebe: Glucks „Ezio“ in Frankfurt

Die Frankfurter Oper hat es wieder einmal geschafft: Mit einer Inszenierung von Christoph Willibald Glucks „Ezio“ entriss sie ein Werk aus dem Dämmerschlaf, das noch vor Glucks bedeutsamen Reformopern entstanden ist. Gleichzeitig gelang dem Haus von Bernd Loebe damit das Präludium zum Gluck-Jahr: 2014 jährt sich die Geburt dieser wichtigen Gestalt der Musikgeschichte zum 300. Mal.

Edle Roben: Christian Lacroix schuf die Kostüme für Glucks "Ezio" In Frankfurt. Sene mit Max Emanuel Cencic, Paula Murrihy und Beau Gibson. Foto: Barbara Aumüller

Edle Roben: Christian Lacroix schuf die Kostüme für Glucks „Ezio“ In Frankfurt. Sene mit Max Emanuel Cencic, Paula Murrihy und Beau Gibson. Foto: Barbara Aumüller

Die Ausgangslage ist wie bei solchen Jubiläen üblich: Einige kleine Häuser in der deutschen Theaterlandschaft kündigen Premieren von Gluck-Opern an, die Flaggschiffe steuern unbeirrt daran vorbei. Ob sich an diesem Bild noch etwas ändern wird, wenn im Frühjahr die Pläne für die Spielzeit 2014/15 publiziert werden, steht noch dahin. Obwohl ein Komponist wie Gluck dringender eine zeitgenössische theatrale Befragung bräuchte als etwa Wagner.

Das ist kein Plädoyer für ein Opernmuseum: Sicher klaffen die musikhistorische Stellung und die aktuelle Bedeutsamkeit von Komponisten oder Werken bisweilen weit auseinander. Doch gerade die letzten Inszenierungen des „Ezio“, einer noch stark an den Konventionen der „opera seria“ orientierten Oper, lassen spüren, wie brisant ein Libretto des lange als Barock-Langweilers geschmähten Metastasio wirken kann, und von welch unterschiedlichen Positionen aus sich eine Regie der Gefühls- und Affektwelt des 18. Jahrhunderts nähern kann.

Vincent Boussard macht es in Frankfurt ganz anders als Andreas Baesler 2012 in Nürnberg. Dort verlegte eine freche, bestürzend aktuelle Regie den „Ezio“ in die Tiefgarage des Staatstheaters, verwandelte die Rezitative in Sprechtext, ließ die Sänger von Schauspielern doubeln, bot eine knallharte, temporeiche Action-Tragödie. Jetzt, in Frankfurt, wehrt sich die Regie im Schulterschluss mit dem genau analysierenden Dirigenten Christian Curnyn gegen Eingriffe in Glucks Musik, mutet dem Zuhörer von heute die ausführlichen Rezitative von damals zu.

Was Baesler in Nürnberg als brutales Kammerspiel herunterfetzte, wird in Frankfurt zu hochästhetischer theatralischer Aktion. Doch man sollte sich hüten, Stilisierung mit einem Verlust an Relevanz und packender Wirkung gleichzusetzen. Manchmal sind sparsame Gesten, Verzicht auf angeheizte Erregungszustände und Abstand von starken Effekten ergreifender als der zappelige Aktionismus, der noch die letzte musikalische Sekunde szenisch gewichten will.

Boussard spitzt das Drama um den neurotischen Machtinhaber Kaiser Valentinian, seinen von Ehrgeiz und Loyalität geschüttelten Feldherrn Ezio, der alptraumhaft rachsüchtigen Vaterfigur Massimo und den beiden Frauen Fulvia und Onoria ganz allmählich zu. Das führt im ersten Teil des gut dreistündigen Abends zu einigen Durchhängern, wenn die gepflegte und aufmerksame Gestaltung der Rezitative szenisch erlahmt oder von abgelebter Melodramengestik flankiert wird. Doch je mehr sich das Netz zuzieht, je verzweifelter sich die Figuren im Labyrinth ihrer Gefühle, Intrigen und Psychosen verrennen, desto eindringlicher spielen die Darsteller, desto schärfer zeichnet die Regie die Konturen des psychischen Verfalls, der seelischen Zerrüttung.

Paula Murrihy als Fulvia und Beau Gibson als Massimo in Glucks "Ezio". Foto: Barbara Aumüller

Paula Murrihy als Fulvia und Beau Gibson als Massimo in Glucks „Ezio“. Foto: Barbara Aumüller

Vor allen anderen gelingt Paula Murrihy ein gesanglich intensives, darstellerisch bewegendes Porträt einer Frau, deren seelische Qual jedes Maß sprengt: Fulvia liebt Ezio, wird vom Kaiser begehrt, von dessen Schwester Onoria mit Missgunst verfolgt und von ihrem eigenen Vater Massimo als Instrument seiner Rache an Valentiniano missbraucht. Die Sängerin klagt mit innig geführtem Mezzosopran über ihren zerstörten existenziellen Halt, kann erhabene Verzweiflung wie edle Menschlichkeit expressiv stimmlich darstellen.

Murrihy ist nicht die einzige, die vokal überzeugen kann: Mit Max Emanuel Cenčić steht als Valentiniano einer jener seltenen Counter, denen man die artifizielle Tonbildung dank einer soliden Technik problemlos abnimmt. Cenčić zeichnet den Kaiser – der historische Valentinian III. herrschte 30 Jahre lang im Weströmischen Reich – als eine Figur von shakespearehaften Dimensionen: machtbesessen und dennoch ohnmächtig den Intrigen ausgeliefert; selbstherrlich und brutal und dennoch fast infantil schwach; renaissancehaft selbstbewusst und dennoch seinen nagenden Zweifeln bis zum Verfolgungswahn ausgeliefert.

Cenčić drückt diese schillernde Figur stimmlich ausgezeichnet, in seiner Bühnenaktion oft mit auffahrenden, aber wenig profilierten Gesten aus. Den Ezio verkörpert Sonia Prina mit einem satten „Contralto“, der manchmal ebenmäßiger geführt sein könnte – eine energische, völlig von sich eingenommene Figur mit einem unerschütterlichen Selbstbewusstsein. Cenčić und Prina sind auch Protagonisten einer „Ezio“-Aufnahme unter Alan Curtis, die 2011 bei Virgin Classics erschienen ist.

Auch die Rollen in der zweiten Reihe kann Frankfurt ansprechend besetzen: Sofia Fomina hat für Neid wie Mitgefühl brillante Töne; Beau Gibson gibt dem Massimo die paranoid-gefährlichen Züge eines Triebtäters, aber auch die schleichende Gefährlichkeit des Intriganten; Simon Bode versucht erfolgreich, den Varo aus seiner Nebenrollen-Ecke herauszumanövrieren und gibt ihm das Profil eines willig dienenden Staatsglieds, das aber im richtigen Moment die menschliche Regung der Freundschaft über die geschuldete Räson siegen lässt und damit das „glückliche Ende“ ermöglicht.

Licht- und Schattenspiele als Mittel szenischen Ausdrucks: Sonia Prina als Ezio in Glucks gleichnamiger Oper in Frankfurt. Foto: Barbara Aumüller

Licht- und Schattenspiele als Mittel szenischen Ausdrucks: Sonia Prina als Ezio in Glucks gleichnamiger Oper in Frankfurt. Foto: Barbara Aumüller

Mit den fulminanten Roben des Modeschöpfers Christian Lacroix landete die Frankfurter Oper einen Coup, der ihr die Aufmerksamkeit des Boulevards sicherte. Barocke Flamboyanz, gediegenes bürgerliches Tuch, malerische Fantasie – so lassen sich die Elemente beschreibe, die Lacroix nutzt, um die Bühne Kaspar Glarners zu beleben. Die ist wieder einmal einer der weißen Kästen, an denen man sich in Frankfurt satt sehen kann. Mit beziehungsreichen Licht-Schatten-Spielen von Joachim Klein ermöglichen die kahlen Wände gleichnishafte wie gespenstisch-surreale Bilder, zusätzlich verlebendigt durch behutsam die Stilisierung stützende Videos der stets einfühlsam arbeitenden Bibi Abel.

Bis die heillosen Verwicklungen endlich gelöst werden können, haben Glarner und Boussard die Bühne mit einer allmählich wachsenden Schar von Imperatoren-Statuen zugestellt, die an den berühmten Augustus von Prima Porta erinnern. Zwischen ihnen streifen Touristen in Alltagskleidern herum, glotzen und fotografieren – und drängen die Personen des Dramas aus dem Fokus der Aufmerksamkeit. Was Boussard damit auch erzielen wollte – es bleibt unerreicht; der Bruch der Handlung verfängt nicht schlüssig, sagt uns über Metastasios ausgefeiltes Psychospiel im barocken Rahmen hinaus nichts Erhellendes über die Figuren und ihre Konstellationen.

Umso mitteilsamer ist die Musik: Christian Curnyn und die 27 Musiker des Frankfurter Opern- und Museumsorchesters bringen Glucks Musik leicht und leuchtend zum Klingen. Sie leugnen nicht, dass der „Ezio“ von 1750 – man spielt die frühere Prager Fassung – vergeblich nach den Errungenschaften der späteren Reformopern suchen lässt. Aber das ist kein Nachteil, denn Gluck beherrscht sein Handwerk und setzt es in den vielfältigen formalen Varianten von Rezitativ und Arie virtuos ein.

Doch zeigt sich im „Ezio“ schon, dass Gluck den Bezug zwischen Wort und Musik – im Gegensatz zu Händel in seiner „Ezio“-Vertonung – offenbar für so bedeutsam erachtet, dass er manche musikalische Finesse der dramatischen Schlagkraft opfert. Curnyn freilich bleibt dezent: Von den schlagkräftigen Wirkungen, die Gluck – und, nicht zu vergessen, sein Schüler Antonio Salieri – später einsetzen, ist in diesem „Ezio“ nur manchmal zu hören, wenn Curnyn kräftige Akzente zulässt. Es wird sich zeigen, wie sich die Frankfurter Gluck-Initiative auswirkt; am Main steht jedenfalls ab 8. Dezember mit Georges Enescus „Oedipe“ die nächste selten zu erlebende Oper um einen antiken Stoff auf dem Spielplan.




Stimmungsmache, Skandalgerede, Voraburteile: Dortmund und die „Tannhäuser“-Premiere

Kay Voges inszeniert in Dortmund den "Tannhäuser". Foto: TheaterDortmund/Birgit Hupfeld

Kay Voges inszeniert in Dortmund den „Tannhäuser“. Foto: Theater Dortmund/Birgit Hupfeld

Skandal! Das Wort ist ausgesprochen, ist nachzulesen schwarz auf weiß. Der Vorgang, den es bezeichnet, wird herbeigeredet, -geschrieben, von manchem vielleicht auch ersehnt. Stimmungsmache, Beschwichtigungen, Erklärungen und Voraburteile schwirren durch den Raum. Eine Debatte ist zu verfolgen, deren Gegenstand bisher nur fragmentarisch sich darstellt. Es ist so, als würde ein Schmetterlingsbein sich aus der Raupe herausschälen, und einer ruft: „Ist das Tier aber hässlich“.

Worum geht es? In nüchternen Worten formuliert, um die bevorstehende Premiere von Richard Wagners großer romantischer Oper in drei Akten „Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg“ am Theater Dortmund. Regie führt Kay Voges, der erfolgreiche, längst über die Stadtgrenzen hinaus bekannte Chef des Schauspielhauses. Es ist seine erste Arbeit im musikdramatischen Fach. Voges wird, über das Bühnengeschehen hinaus, multimediale Effekte einsetzen. Eigentlich ist solcherart Inszenierungsbeigabe ein nicht mehr ganz neuer Hut. Doch mancher Bedenkenträger fragt schon jetzt beklommen, ob das nicht zu viel des Illustrierens sei.

Wagners „Tannhäuser“ – da war doch was. Genau: etwa die tumultuöse Aufführung 1861 in Paris, als organisierte Gruppen mit aller Macht (und Trillerpfeifen) das Werk des Deutschen akustisch zerstören wollten. Ein Vorgang, der bis heute zu den größten Eklats der Musikgeschichte zählt. Und jüngst, im Mai, der Skandal um die Inszenierung von Burkhard C. Kosminski an der Rheinoper in Düsseldorf. Die Premiere war die erste und letzte szenische Vorstellung, hernach blieb der Vorhang zu, der „Tannhäuser“ mutierte zu einem rein konzertanten Erlebnis. Freilich, der Regisseur hatte das Werk teils in der Nazi-Zeit verortet und pantomimisch gezeigt, wie eine ganze Familie exekutiert wird. Einige aus dem Publikum gaben an, sie hätten ob der Zumutung einen Arzt aufsuchen müssen.

Wenige Tage später stellte Dortmunds Opernchef Jens-Daniel Herzog den neuen Spielplan vor, mit eben jener Nachricht, dass Kay Voges den „Tannhäuser“ inszenieren werde. Um eiligst hinzuzufügen, Nebenwirkungen seien nicht zu erwarten. Dann ging die Zeit ins Land und die Welt war in Ordnung. Nun aber, nach einigen Überlegungen des Regisseurs, abgedruckt in der Theaterzeitung, nach Einführungsmatinee und öffentlicher Probe, herrscht plötzlich jede Menge Aufgeregtheit. Der Knackpunkt vor allem: die Videoprojektionen.

Tischbein_-_Tannhäuser_1845

Joseph Tichatschek als Tannhäuser und Wilhelmine Schröder-Devrient als Venus in der Dresdner Uraufführung 1845. Zeichnung: F. Tischbein

Voges setzt sie im Schauspiel regelmäßig ein, etwa in seiner Inszenierung nach Thomas Vinterbergs „Das Fest“. Die Gesichter der Figuren werden groß auf eine Leinwand projiziert, auf dass das Publikum jede emotionale Regung und deren mimische Entsprechung mitbekomme. Das war immerhin eine Nominierung für den Theaterpreis „Faust“ wert. Ähnliches hat Voges im „Tannhäuser“ vor. Hinzu kommt der Versuch, in dieser Figur, taumelnd zwischen Venusberglust und hehrer Minne, Christus zu sehen; in Anlehnung an Martin Scorseses so umstrittenen wie glänzenden Film „Die letzte Versuchung Christi“.

Ob das gelingt, werden wir sehen. Voges sagt, Wagner, der Verfechter des Gesamtkunstwerks, hätte den Film als Gestaltungsmittel eingesetzt. Jens-Daniel Herzog hat das in einem Interview ähnlich formuliert. Ein Teil der veröffentlichten Meinung hingegen zerrt den wohlbekannten Satz mancher Wagnerianer hervor, der Komponist habe das so sicher nicht gewollt. Nun gut, Spekulationen sind das eine, teils polemische Urteile über einen Probenausschnitt aber sind von anderem Gewicht. Vom Skandal ist vorsorglich auch schon Mal die Rede.

„Kinder, schafft Neues!“ ist ein vielzitiertes Wagner-Wort. Ist der Einsatz der Video-Technik zu neu? Das Dortmunder Publikum werde durch die Bilder zu sehr von der Musik und den Figuren abgelenkt, unkt es im Blätterwald, das Seelenheil der Zuschauer könnte leiden. Solcherart Fürsorge ex cathedra wirkt geradezu putzig. Doch Filmsequenzen zur Oper sind den Musikfreunden der Stadt durchaus bekannt, zuletzt gesehen in hochgelobten Konzerthaus-Aufführungen von Bartóks „Herzog Blaubarts Burg“ und, man staune, in Richard Wagners „Tristan und Isolde“.

Voges hat unterdessen auf die Vorab-Urteile höchst originell reagiert. Bei aller Verärgerung stichelte er in einer Mischung aus Ernst und Ironie zurück. Inmitten seiner tiefsinnigen, urkomischen, so erfrischend albernen wie entlarvend verstörenden Revue „Das goldene Zeitalter“, in der uns das Leben als Endlosschleife offenbart wird, mit mehr oder weniger gelungenen Versuchen, daraus auszubrechen. Da dröhnt die „Tannhäuser“-Ouvertüre aus den Lautsprechern, und ein blondes Barbiepuppenwesen hämmert manisch in die Schreibmaschine „Volle Konzentration auf die Musik“.  Konsequent fällt der Vorhang, das Theater wird zum kollektiven Wohnzimmer mit Stereoanlage, Rezeption zur behaglichen Routine, wie der alltägliche Konsum der Tagesschau. Touché!

Gut nur, dass nun, kommenden Sonntag (1. Dezember), endlich Premiere ist, in annähernd ausverkauftem Haus. Erst dann ist die Stunde ernsthafter, kundiger Analyse und ästhetischer Beurteilung gekommen. Stimmungsmache aber vernebelt die Gedanken.

Informationen zur Inszenierung: http://www.theaterdo.de/detail/event/513/?not=1




„Tristan und Isolde“ in Essen: Peter Schneiders meisterliches Dirigat

Licht-Raum in abgründiger Schwärze: Klaus Grünbergs Bühnenraum für "Tristan und Isolde" fasziniert immer wieder. Foto: Matthias Jung

Licht-Raum in abgründiger Schwärze: Klaus Grünbergs Bühnenraum für „Tristan und Isolde“ fasziniert immer wieder. Foto: Matthias Jung

Hätte dieser Liebestod doch alleine im Orchestergraben stattgefunden! Musikalisch geformt von Peter Schneiders kundiger Hand, aufblühend aus einem delikaten Piano zu fiebrigem Glanz, transparent, geschmeidig und klangvoll, in leuchtender Ekstase auf dem Höhepunkt der dynamischen Entfaltung.

Aber zum Schlussgesang von „Tristan und Isolde“ gehört die Stimme – in Essen diejenige von Evelyn Herlitzius. Und die allseits gefeierte Sängerin brach am Aalto-Theater in der letzten der drei „Tristan“-Vorstellungen dieser Wagner-Jubiläums-Spielzeit den magischen Moment des Verströmens herunter auf höchst irdisches Buchstabieren.

Herlitzius hatte schon die Premiere von Barrie Koskys Inszenierung unter Stefan Soltesz 2006 gesungen. Es war ihre zweite Isolde nach Chemnitz – und die erste vor international relevanten Bühnen wie Dresden, Wien, Berlin. Bei ihrem Essen-Debüt lobte die Kritik ihre vokale Risikobereitschaft, ihren bedingungslosen Einsatz. Das stimmt auch für 2013, nur: Evelyn Herlitzius hat darüber vergessen, dass Isolde nicht nur ein Parforceritt im Zeichen von Forte- und Fortissimo-Anspannung ist. Der erste Akt geriet mit überbordender vokaler Gewalt zu einem Schrei-Duell mit der schönstimmigen, nur manchmal in der Höhe spitzen Martina Dike. Und der „Liebestod“ begann nicht „mild und leise“ – und setzte sich fort im Versinken und Ertrinken in riesigen Tönen, weit abgekehrt von sauberer Artikulation, flexiblem Legato oder sinnlichem Strömen.

Im zweiten Akt zeigte sich, dass allen prachtvollen Volumens zum Trotz der Kern der Stimme im Mezzoforte nicht erfüllt fließend, sondern flackernd gespannt klingt. Der Gegensatz zu Jeffrey Dowd, der sich bemüht, den Tristan lyrisch grundiert und entspannt zu singen, kann nicht größer sein: Zwei Stimmen, die im Duett nicht harmonieren, zumal Dowd die leuchtend-expansive Höhe nicht aufbringen kann. Mit kluger Ökonomie bewältigt das bewährte Essener Ensemblemitglied den dritten Akt, lässt sich nicht zum Forcieren hinreißen und kleidet so die Sehnsuchtsverzweiflung Tristans eher in resigniert gedämpfte als in aufbrausend gewaltige Klänge.

Resignation und Hingabe: Jeffrey Dowd (Tristan) und Heiko Trinsinger (Kurwenal) im dritten Aufzug von "Tristan und Isolde" in Essen. Foto: Matthias Jung

Resignation und Hingabe: Jeffrey Dowd (Tristan) und Heiko Trinsinger (Kurwenal) im dritten Aufzug von „Tristan und Isolde“ in Essen. Foto: Matthias Jung

Mit Liang Li präsentierte sich ein neuer König Marke, der die Partie aus einem kantablen Ansatz heraus gestaltet, aber hin und wieder den Ton nicht ausreichend fokussiert. Vielleicht kommt die Partie für den Bass, der einen mustergültigen Banco im Essener „Macbeth“ gesungen hat, noch zu früh. Tadellos Heiko Trinsinger, der die Rolle des Kurwenal szenisch wie musikalisch weiter verinnerlicht hat: Überzeugender als früher lässt er den Klang strömen, bildet kraftvolle Höhe statt mit gestautem mit freier gehaltenem Atemfundament. Die sorgende Zuwendung zu dem tödlich getroffenen Freund Tristan und das bedingungslose Einstehen für sein Leben haben in Trinsingers Gestaltung berührende Größe.

In den von Wagner weniger ausgiebig bedachten Partien kann das Aalto-Theater auf bewährte Sänger zurückgreifen: Albrecht Kludszuweit als kultiviert singender Hirte, Mateusz Kabala als klischeeferner Melot, Rainer Maria Röhr als Seemann und Thomas Sehrbrock als Steuermann. In der szenischen Wiederaufnahme gab sich Frédéric Buhr alle Mühe, die Intentionen Koskys zu reanimieren. Dennoch: Klaus Grünbergs Bühne mit dem in riesenhafter Schwärze schwebenden Licht- und Erzähl-Raum ist das Plus dieser Produktion, die Kosky nach einigen modisch-überflüssigen Sexual-Errationen im ersten und einer sorgfältigen, aber wenig pointierten Personenregie im zweiten und dritten Akt unschlüssig enden lässt.

Peter Schneider. Foto: TuP/Vivianne Purdom

Peter Schneider. Foto: TuP/Vivianne Purdom

So bleibt als prägender Eindruck das meisterliche Dirigat Peter Schneiders. Lange Erfahrung, eine intime Kenntnis der Partitur, Achtsamkeit für die Sänger prägen seine Auffassung. Schneider knüpft an der intensiven Arbeit von Stefan Soltesz an, der die drei „Tristan“-Vorstellungen ursprünglich als Gast an seinem langjährigen Stammhaus dirigieren sollte, aber alle Aalto-Auftritte abgesagt hat. Auf die Essener Philharmoniker ist Verlass: von der genau ausgehörten Streicher-Balance über die konturscharf zugeschnittenen prominenten Bläser-Momente, den solistischen Glanz bei Hörnern oder Holzbläsern bis hin zu Andreas Goslings elegisch-intensivem Englisch Horn.

Schneider nutzt dieses „Kapital“ für einen schlanken, fließenden Duktus der Musik, für bewegte Tempi – die nur im zweiten Aufzug die Holzbläser für einige Momente hastig wirken lassen – und für einen aufgelichteten Mischklang, der Details nicht zudeckt, aber auch nicht über Gebühr heraushebt und damit die Rundung des Klangs beeinträchtigt. Der dritte Aufzug beginnt mit der schmerzlich intensiven Tönung durch die tiefen Streicher und begeistert durch exquisit kultivierte Piano-Schattierungen und die Kunst des Übergangs – wie sie bei Schneiders letztem „Tristan“-Dirigat 2012 in Bayreuth schon zu bewundern waren. Wie hätte Wagner reimen können? In diesem „Tristan“ webt Wunder ein wissender Weiser.




Zwischen Avantgarde und Neo-Romantik: Krzysztof Penderecki ist 80 Jahre alt

Krzysztof Penderecki. Foto: Marek Beblot

Krzysztof Penderecki. Foto: Marek Beblot

Seine Musik kennen auch Menschen, die mit zeitgenössischer klassischer Musik nichts anfangen können, und seine Anfänge als weltweit renommierter Komponist sind eng mit Nordrhein-Westfalen verbunden: Heute, am 23. November, feiert Krzysztof Penderecki seinen 80. Geburtstag. Vergleichbar ist seine Popularität vielleicht noch mit Philip Glass oder Arvo Pärt – aber sonst gibt es nur wenige „klassische“ Komponisten, die seine Breitenwirkung erreichen.

Das Geheimnis hinter der ungewöhnlichen Akzeptanz liegt nicht allein in Pendereckis jüngsten Crossover-Konzerten oder in seiner Filmmusik. Der Pole hat die Frage, wie Komponieren heute geht, für sich klar beantwortet: „Ich glaube an eine Musik, die Wurzeln hat“, sagte er 2003 in einem Interview. Und aus diesen Wurzeln der europäischen Musik, die man „nicht vergessen darf“, schöpft Penderecki mit ungeheuerer Energie einen Teil seiner Inspiration.

Seine kreative Rückwendung, oft als Neo-Romantik kategorisiert, hat ihm nicht nur Freunde eingebracht. Kritiker und Komponisten-Kollegen stoßen sich an einem Stillstand, den Penderecki unverblümt zugibt: Seit vielen Jahren habe sich sein Musikstil nicht mehr geändert. Helmut Lachenmann wird mit dem spöttischen Wort zitiert, Penderecki sei der „die tonalen Paarhufer anführende Herr Penderadetzky“.

Das war nicht immer so: Mit seinen ersten Erfolgen wurde er unter die Avantgarde Europas eingereiht: „Aus den Psalmen Davids“ erregte 1958 Interesse; da hatte er gerade sein Studium am Krakauer Konservatorium beendet. 1959 gewann er bei einem polnischen Wettbewerb gleich drei Preise: Er hatte seine Stücke unter verschiedenen Namen eingereicht. Am 16. Oktober 1960 führte Hans Rosbaud bei den Donaueschinger Musiktagen „Anaklasis“ auf. Das Stück für Streicher und Schlagzeug katapultierte den 27-jährigen Polen in die Sphäre der Berühmtheit. Sein „Threnos“ für die Opfer von Hiroshima (1961) war jahrelang das meistgespielte zeitgenössische Werk.

„Die Avantgarde ist gestorben“

Doch längst legt Penderecki keinen Wert mehr darauf, zur Avantgarde zu gehören. Er habe sehr früh in seinem Leben Entdeckungen gemacht, sagte er im Interview. „Und dann habe ich festgestellt, dass ich nicht mein ganzes Leben lang Cluster schreiben will. Oder wieder etwas Neues erfinden, damit man in der ersten Reihe der Avantgarde steht. Die Avantgarde ist gestorben, das hat zehn Jahre gedauert, ca. von 1950 bis 1960, danach war es vorbei. Diejenigen, die das nicht verstanden haben, machen weiter, aber das ist sehr epigonal.“

Die „Wende“ kam recht früh in Pendereckis Biografie. Die „Flourescences für Orchester“ waren 1962 noch im damaligen Mainstream der Moderne eingeordnete Erforschungen klanglicher Möglichkeiten. Penderecki nannte es ein dekadentes Stück, das das klassische Orchester zerstört. Danach sei ihm klar gewesen, dass es für ihn so nicht weitergehe. Er schrieb ein „Stabat Mater“, ein Stück für Chor a cappella, das 1966 in die „Lukas-Passion“ aufgenommen wurde.

Kunstpreis NRW und Folkwang-Lehrauftrag

Dieses groß angelegte Oratorium war ein Auftragswerk des Westdeutschen Rundfunks anlässlich des 700jährigen Weihejubiläums des St. Paulus-Doms in Münster und wurde 1966 dort uraufgeführt. Der junge Komponist, damals 30 Jahre alt, hatte zum ersten Mal die erträumte große Form realisiert. Seine Studien des Kontrapunkts des 16. Jahrhunderts, die Entdeckung Bruckners als post-romantischen Symphoniker, die Referenzen auf Schostakowitsch, aber auch die Erfahrungen mit der Avantgarde, mit moderner Klangerzeugung und mit der menschlichen Stimme flossen in diesem Werk zusammen.

Der Erfolg war überwältigend: Mit Aufführungen in Warschau und Krakau durfte er zum ersten Mal im kommunistischen Polen geistliche Musik im Konzertsaal darbieten. Die Folkwang Hochschule in Essen bot ihm eine Dozentur. Von 1966 bis 1968 lehrte und lebte Penderecki mitten im Ruhrgebiet.

Die „Lukas-Passion“ brachte Penderecki mit dem Großen Kunstpreis des Landes Nordrhein-Westfalen die zweite bedeutende internationale Auszeichnung ein. Unter seinen zahllosen Preisen und Titeln zeigen einige weitere, dass er mit der Rhein-Ruhr-Region dauerhaft verbunden war – so der Musikpreis der Stadt Duisburg 1999 und der Staatspreis des Landes 2002. Außerdem ist er Ehrendoktor der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster.

Mit seinen Werken erwarb er sich in den folgenden Jahrzehnten die Zustimmung des Publikums. Die Ablehnung von Teilen der Musikkritik und der komponierenden Kollegen blieb. Seine erste Oper, „Die Teufel von Loudun“ (1969) erhielt bissige Kritiken. Dem Werk, das Rolf Liebermann für die Hamburgisch Staatsoper in Auftrag gegeben hatte, warf etwa Joachim Kaiser in der „Zeit“ die „banale Bilderfülle“ des Textbuchs vor, notierte einen „Eindruck der Trostlosigkeit und Uninspiriertheit“. Der Großkritiker ätzte, die Musik zu den „Teufeln von Loudun“ klinge oft deprimierend simpel und monoton.

Ironische Kritik an Pendereckis Werken für Musiktheater

Auch „Paradise Lost“ (1978) kam nicht besser weg: Heinz Josef Herbort kommentierte die Musik zu der „sacra rappresentazione“ nach Milton mit hintersinniger Ironie: Penderecki beherrsche seine seit zwanzig Jahren bekannten Techniken so gut, dass er von ihnen nicht mehr loskomme. „Paradise Lost“ war 2001 in Münster wieder einmal zu sehen: Der Eindruck, Penderecki habe nur seine erprobten, längst bekannten Mittel eingesetzt, ist nicht von der Hand zu weisen.

Auch als Dirigent eigener und fremder Werke genießt Penderecki einen exzellenten Ruf. Seine Beethoven-Dirigate etwa werfen stets ein erhellendes Licht auf den Komponisten-Kollegen aus der Vergangenheit. Foto: Ludwig van Beethoven Association, Bartosz Koziak

Auch als Dirigent eigener und fremder Werke genießt Penderecki einen exzellenten Ruf. Seine Beethoven-Dirigate etwa werfen stets ein erhellendes Licht auf den Komponisten-Kollegen aus der Vergangenheit. Foto: Ludwig van Beethoven Association, Bartosz Koziak

Trotz allem: Der Erfolg blieb und bleibt Penderecki treu. Sein Werkverzeichnis ist immens. Seit 1972 sind die Sinfonien Nummer eins bis fünf, sieben und acht entstanden; die noch fehlende Sechste will der Komponist demnächst vollenden. Seine Gerhart-Hauptmann-Oper „Die schwarze Maske“ traf ebenso wie seine komische Oper „Ubu Rex“ auf weltweite – leider nicht anhaltende – Aufmerksamkeit.

Mit „Dies Irae“, einem Oratorium zum Gedächtnis der Opfer von Auschwitz (1967) begann eine Reihe großer Werke für Chor, Solisten und Orchester: „Kosmogonia“ (1970) zum 25-jährigen Bestehen der UNO; ein „Te Deum“ (1980), das er nach eigenen Worten spontan nach der Wahl Karol Woityłas zum Papst geschrieben hat; schließlich das „Polnische Requiem“ von 1984 und ein „Credo“ 1998. In diesem Jahr wurde seine Messe für den Thomanerchor uraufgeführt – ein Beitrag zum 700jährigen Bestehen dieser Leipziger Institution von Weltgeltung.

Ein Publikum, das klassische Konzerte, noch dazu mit Musik von heute, kaum je einmal live erlebt, kennt Penderecki dennoch – vielleicht sogar, ohne es zu wissen: Die Soundtracks von Filmen wie „Shining“ von Stanley Kubrick, „Shutter Island“ von Martin Scorsese oder David Lynchs „Wild At Heart“ stammen von ihm. Bei seinen Festival-Auftritten mit dem Radiohead-Gitarristen Jonny Greenwood in Polen und in England wurde er von 50 000 Besuchern wie ein Pop-Star gefeiert.

Seit etwa 1998 konzentriert sich Penderecki auf Solokonzerte und Kammermusik. Viele Werke schrieb er für berühmte Interpreten, etwa ein Cello-Capriccio für Siegfried Palm oder das Zweite Violinkonzert („Metamorphosen“) für Anne-Sophie Mutter. Im Dezember führt die Geigerin in New York sein neues Werk auf, die Sonate „La Follia“ für Violine solo. Und der Komponist bekennt, er habe im Kopf noch Stoff für zwanzig Jahre Arbeit – unter anderem an einer Oper „Fedra“ als Auftragswerk der Wiener Staatsoper.

Das MDR Fernsehen zeigt heute, 23. November, 23.30 Uhr, einen Film von Anna Schmidt über Krzysztof Penderecki: „Wege durchs Labyrinth„.

In Münster steht ab 18. Januar 2014 das Tanztheater „Das Schloss“ nach Franz Kafka auf dem Programm des Stadttheaters. Zur Choreografie von Hans Henning Paar erklingt der vierte Satz von Pendereckis 3. Sinfonie.




Vom Flug der Seele: „Schwanensee“ als brillantes Kammerspiel in Gelsenkirchen

Fragiles Wesen, ins Herz getroffen: Kusha Alexi als Schwanenprinzessin Odette (Foto: Sebastien Galtier/MiR)

Fragiles Wesen, ins Herz getroffen: Kusha Alexi als Odette (Foto: Sebastien Galtier/MiR)

Der schöne Hals ist grausam verdreht. Der Kopf zuckt krampfhaft, wie in Agonie. Sie ist ein trauriger Anblick, diese hilflose Kreatur, die Odette heißt und zu Beginn des Abends noch ein stolzer weißer Schwan war. Die Zaubermacht, über die sie einst verfügte, die erlösende Kraft der Liebe, hat sich auf tragische Weise gegen sie gekehrt. Da liegt sie nun, zerschmettert, vernichtet.

Es ist fürwahr ein Paukenschlag, mit dem Gelsenkirchens Ballettchefin Bridget Breiner in ihre zweite Spielzeit startet. Hatte sie doch den Mut, sich mit ihrer nur 14-köpfigen Compagnie an „Schwanensee“ zu wagen, den Ballettklassiker schlechthin, märchenhaft, romantisch, opulent. Aus der Not, sprich aus dem Fehlen eines großen Corps de ballet eine Tugend zu machen, fiel Breiner dabei erst gar nicht ein. Lieber nahm sie den bekannten Stoff zum Anlass, Neues zu schaffen: ein dichtes psychologisches Kammerspiel über zwei Unglückliche, die die Liebe befreit, perfekt zugeschnitten auf ihre Compagnie und auf eine starke Primaballerina, die erfahrene Tänzerin Kusha Alexi.

Alexi ist anderer Art als die feenhaft-ätherischen Wesen im Tutu, die für gewöhnlich als Odette über die Bühne schweben. Ihre Schultern sind knabenhaft eckig; jeder einzelne ihrer stählern durchtrainierten Muskeln tritt deutlich hervor. Betont schlicht kostümiert, verkörpert sie ein wundersames Naturwesen, kraftvoll und doch bestürzend fragil. Ihrem Element unglücklich verhaftet – und darin der Nixe Undine nicht unähnlich – ist sie ständig von drei Schatten umgeben, die sie halten und heben, aber auch fesseln (kraftvoll: Joseph Bunn, Junior Demitre, Petar Djorcevski).

Das ändert sich, als Odette dem Prinzen begegnet (Ordep Rodriguez Chacon). Aus ihrem ersten Pas de deux formt Bridget Breiner ein kleines Wunder der Ballettkunst. Nicht genug damit, dass sie uns sämtliche Stadien der Annäherung zeigt, von anfänglicher Furcht und wachsender Zuneigung zur jubelnden Ekstase des Glücks. Hier, auf der Gelsenkirchener Bühne, befreien sich zwei Wesen aus deprimierender Existenz. Unverhofft finden sie ineinander die Erlösung, nach der sie bislang vergebens suchten.

Der Prinz (Orden Rodriguez Chacon) und die Schwanenprinzessin (Kusha Alexi. Foto. Sebastien Gallier/MiR)

Der Prinz (Ordep Rodriguez Chacon) und die Schwanenprinzessin (Kusha Alexi. Foto: Sebastien Galtier/MiR)

Kusha Alexi und Ordep Rodriguez Chacon tanzen das mit begeisternder, kompromissloser Hingabe. Die starre Formensprache des klassischen Balletts schmilzt dahin, je mehr Feuer die beiden entwickeln. Die Bewegungen werden immer freier und fließender, die Schrittfolgen immer leichter und schneller. Die Hände streben zum Himmel, die Füße enteilen der Erdenschwere, die ausgebreiteten Arme sind endlich bereit, die Welt zu umarmen. Die Zartheit, mit der dieses Paar einander führt und berührt, sprengt jede Fessel.

Es ist kein schwarzer Schwan, sondern die Verlobte des Prinzen, die das Glück des Paars zerstört. Aidan Gibson verkörpert den denkbar größten Gegensatz zur Schwanenprinzessin: Sie ist eine perfekte Blonde, puppenhaft kühl, und natürlich beherrscht sie die den höfischen Formenkanon vollendet. Gibson führt diese Ästhetik mit großer Eleganz vor. Brillant und vergnüglich wird der Abend, wenn Bridget Breiner spöttische Seitenhiebe auf Schwanensee-Klischees einbringt. Dann macht sich die Hofgesellschaft mit albern flatternden Armbewegungen über den Prinzen lustig, und die Hofdamen exerzieren den Pas de quatre der Schwäne mit genussvoller Häme.

Die kleinen, aber quirligen Ensembles bereiten Freude, zumal Breiner eine hübsche Charakterrolle in Gestalt eines frechen Gassenjungen eingebaut hat, der sich später als Mädchen entpuppt (Maiko Arai). Und natürlich kann sie sich auf ihre Compagnie verlassen, die ihre Sicht auf Schwanensee mit allem Herzblut unterstützt. Erstaunlich organisch fügen sich drei Tschaikowsky-Lieder in den Abend ein, die Breiner für intime Seelenstudien nutzt. Die neue Philharmonie Westfalen haucht Tschaikowskys Musik unter der Leitung von Heiko Mathias Förster nach sprödem Beginn durchaus Kraft und Glanz ein. Auch intime lyrische Momente und virtuose Violinsoli lassen aufhorchen.

Der Freund des Prinzen (Valentin Juteau) und eine Hofdame (Francesca Berruto. Foto: Sebastien Gallier/MiR)

Der Freund des Prinzen (Valentin Juteau) und eine Hofdame (Francesca Berruto. Foto: Sebastien Galtier/MiR)

Unterdessen muss Odette mit ansehen, wie ihr Prinz sich von der perfekten Grazie seiner Verlobten blenden lässt. Umhergestoßen und verhöhnt, wird sie Augenzeugin seines Verrats. Von diesem Augenblick an werden die Schatten zur unüberwindlichen Barriere. Vergebens, dass es Odette und dem Prinzen noch einmal gelingt, sie zu überwinden: Dieser zweite Pas de deux, er ist auch schon ihr letzter. Beide kleben am Boden, der Zauber wirkt nicht mehr, alle Leichtigkeit ist dahin. Odette liegt da wie eine Gekreuzigte, das Gesicht nach unten. Die Flügel zucken noch, aber sie sind gebrochen. Der Traum vom Fliegen ist aus.

(Informationen und Termine: http://www.musiktheater-im-revier.de/Spielplan/Ballett/Schwanensee/)




Mätzchen eines Show-Tenors: Vittorio Grigolo in Essen und Dortmund

Ein Glück, dass er nur den obersten Hemdenknopf geöffnet hat. Wer weiß, ob die enthusiasmierten Damen beim Anblick einer behaarten Brust nicht in Ohnmacht niedergesunken wären. Vittorio Grigolo, die neue italienische Tenor-Hoffnung mit der Betonung auf dem ersten „o“, hat seinen Auftritt in der Essener Philharmonie – der zwei Tage später auch im Konzerthaus Dortmund zu erleben war – zu einer Show genutzt, die sich gar nicht mehr die Mühe macht, den Anschein zu erwecken, als ginge es um die Kunst Donizettis, Verdis oder Puccinis.

Vittorio Grigolo. Foto: Alex James

Vittorio Grigolo. Foto: Alex James

Grigolo, schwarze Locken, gute Figur, dunkle Feueraugen – ein Mann, der sich vom Äußeren her zweifellos zum Tenorstar eignet. So einen brauchen die Italiener, die seit vierzig Jahren ihr musikalisches Bildungssystem und ihr Musikleben ruinieren. Einen, der den längst hohl gewordenen Mythos vom Land des Belcanto und der feurigen Hasardeure auf den Spitzen des hohen C stützt. Tatsache ist: Aus Italien kommt schon lange kein bedeutender Sängernachwuchs mehr – und auch Vittorio Grigolo ficht eher in der Nachhut als in der Attacke.

Wo es an stimmlicher Überzeugungskraft fehlt, muss die Charme-Offensive herhalten. Also wischen wir uns vor „Una furtiva lagrima“ demonstrativ eine heimliche Träne aus dem Auge, um diese sanfte, verinnerlichte, am Rande einer verzweifelten Selbsttäuschung lavierende Arie dann zu singen, wie sie garantiert nicht gemeint ist: extrovertiert, mit mangelhafter Linie, mit hochgedrückten Tönen statt eines fein dynamisierten Legatos, mit substanzlosen Piani und dem falschen Strahlen eines ziemlich hart sitzenden – und hier noch dazu unangebrachten – Forte, wenn der schüchterne Nemorino meint, bei seiner Angebeteten Spuren von Liebe entdeckt zu haben.

Grigolo bedient das Zuschauen, nicht das Zuhören. Er verzieht die Miene wie eine antike Theatermaske, stellt Schmerz oder Wonne überaffektiert aus, statt solche Gefühle stimmlich zu beglaubigen. Er wirkt wie eine Mischung aus Cecilia Bartolis artistischer Darstellungskunst und Rolando Villazóns übertriebenem Chargieren. Doch wo man den beiden das ernsthafte Engagement für die Musik, die sie ihrem Publikum präsentieren, abnimmt, drängt sich bei Grigolo vor allem der Eindruck einer abgeschmackten Fassade auf.

Denn wie soll man es sonst nennen, wenn der Tenor zu „Che gelida manina“ aus Puccinis „La Bohème“ erst mal armereibend den Menschen im Saal klarmachen zu müssen glaubt, dass an dieser Stelle gefroren wird. Wenn er sich hinkniet und seine – nach einem dünntönigen Aufstieg – respektable Höhe auf „speranza“ einer Dame in der Saalecke  hinschmettert? Und wenn er, in komischem Widerspruch zu den Frost-Signalen vorher, das Jackett auszieht und in einer pathetisch outrierten Geste auf den Boden breitet. So stellt sich Lischen Müller die Oper vor. Oder liegt die plötzliche Hitzewallung einfach daran, dass die imaginierte Mimí nun das Feuer des „Latin Lovers“ entzündet hat?

Wie auch immer, solche Eskapaden erinnern eher an Schmuseklassik à la André Rieu oder an Grigolos eigene Crossover-Vergangenheit als an eine seriöse Auseinandersetzung mit dem, was die Komponisten in ihre Musik gelegt haben. Die erste der drei Arien des Programms – mehr hatte Grigolo nicht zu bieten – eignete sich am wenigsten für pseudoszenische Mätzchen: Donizettis bewegendes „Angelo casto e bel“ aus „Il Duca d’Alba“ war mit nervöser Spannung aufgebaut. Um Brillanz zu erreichen, drückt Grigolo den Ton in die Maske. Die Folge: Die Piani können nicht auf dem Atem gebildet werden, bleiben substanzlos wie der Falsetteinsatz in der Höhe auf dem ausklingenden „dolor“.

Die Zugabe musste ein Schlager sein: Der Auftritt des Herzogs von Mantua aus Verdis „Rigoletto“ geriet beinahe zum Mitklatschen – nebst besagter Öffnung des Hemdenknopfs zwecks emotionaler Aufreizung. Die Rechnung geht, das ist das Erschütternde, weitgehend auf: Blümchen, Küsschen, Winkewinke. Da fallen diejenigen im Publikum, die nicht auf die Show hereinfallen, nicht weiter auf.

Der Mythos der „Scala“ lebt nur noch aus dem Glanz der Vergangenheit

Die Filarmonica della Scala half mit, das abgründige Niveau des Abends zu fördern; sicher auch ein Verdienst von Andrés Orozco-Estrada, der den Temperamentsbolzen am Pult mimte und so den Eindruck eines seriösen Dirigenten gefährdete. Auch die Scala lebt vom Nachleuchten eines Mythos, der längst seinen musikalischen Realitätsbezug verloren hat – und die Mailänder Musiker bestätigen das auf umwerfende Weise: So plump und lärmend ist die Ouvertüre zum „Barbiere di Siviglia“ weder in Gelsenkirchen noch in Krefeld zu hören. Das Orchester drosch auf Rossinis filigrane Noten ein, als habe es nie eine kritische Edition mit erheblichen instrumentalen Korrekturen gegeben.

Mascagnis Intermezzo aus „Cavalleria rusticana“ – dass dieser Komponist 2013 sein 150. Geburtsjahr hat, ist auch in Italien untergegangen – geriet zum seifigen Schmachtfetzen. Und in der Ouvertüre zu Verdis „Les Vêpres Siciliennes“ scheinen die saftig drauflos spielenden Scala-Musiker bestätigen zu wollen, dass diese Vorspiele zu italienischen Opern vor allem Lärm seien, um das Publikum zum Schweigen zu bringen. Immerhin: Orozco-Estrada hat den Musikern wohl nahegebracht, dass der Kontrast zwischen dem ätherischen Flirren der Geigen und den ruppig-bösen Einwürfen der Bässe musikalische Innenspannung aufbaut und Expressivität konstituiert.

Der an das Arienkonzert angeklebte zweite Teil mit Modest Mussorgskys „Bilder einer Ausstellung“ in der Orchesterfassung von Maurice Ravel rettete nichts mehr – trotz guter Eindrücke über die virtuose Reaktionsschnelligkeit einiger Orchestermusiker. Doch der Anlass zur Klangüberflutung wurde nicht erst am „Großen Tor von Kiew“ wieder dankbar angenommen und umgesetzt – in einer Wucht, die sich am Ende dieses desaströsen Events längst abgenutzt hatte.




Zur Ikone stilisiert: Eine gelungene szenische „Giovanna d’Arco“ in Bielefeld zum Verdi-Jahr

Astrid Kessler als Giovanna in Verdis Oper "Giovanna d'Arco" in Bielefeld. Foto: Bettina Stöß

Astrid Kessler als Giovanna in Verdis Oper „Giovanna d’Arco“ in Bielefeld. Foto: Bettina Stöß

So werden Legenden gestrickt. So entstehen nationale Mythen. Sabine Hartmannshenn erzählt in ihrer Bielefelder Inszenierung von Giuseppe Verdis „Giovanna d’Arco“, wie eine einfache Frau für einen kurzen Moment ihre Träume realisiert – und für eine Ewigkeit in eine Rolle gepresst wird. Das ist so holzschnittartig und schlagkräftig wie Verdis Musik und Temistocle Soleras Libretto.

Mit diesem anregend gelungenen Versuch, Verdis siebte Oper endlich wieder einmal szenisch ernst zu nehmen, positioniert sich das Theater Bielefeld nicht nur günstig in der Spitzengruppe kreativer Häuser zum Verdi-Jubiläum, sondern es kann auch nachweisen, dass in Verdis mittleren Opern mehr steckt als gemeinhin angenommen.

Sabine Hartmannshenn verkürzt, fokussiert und spitzt zu. Das ist gutes Recht einer Regie, die sich im Falle der Jungfrau von Orléans auch noch an der immens vielfältigen Rezeption dieses Stoffes abarbeiten muss. Die Regisseurin konzentriert ihre Arbeit, wie sie selbst sagt, auf die Frage: Wie werden Stars gemacht? Man könnte sie erweitern: Wie werden Heilige gemacht? Identifikationsfiguren? National-Heroen?

Die szenische Exposition in Bielefeld verfährt genauso drastisch wie Verdis Musik. Stefan Heinrichs hat die Bühne mit einem düsteren Käfig zugebaut. Brutalität, Verschleppung, Vergewaltigung, Tod – das sind die herrschenden Kräfte. Das gilt heute wie im Frankreich des 15. Jahrhunderts, in dem das Wirken der historischen Jeanne d’Arc seinen Anfang nahm. Berufung hat für Hartmannshenns viel mit Imitation und Projektion zu tun: Giovanna trägt eine Marienstatue bei sich, stilisiert sich – am Ort der Erscheinungen, Geister und Dämonen – zur zweiten Jungfrau, steht da, in goldenes Licht getaucht, wie eine Vorwegnahme ihrer späteren Mystifizierung.

Stefan Heinrichs hat die Bühne mit einem düsteren Käfig zugebaut: Ein Bild für Gewalt und Tod. Foto: Bettina Stöß

Stefan Heinrichs hat die Bühne mit einem düsteren Käfig zugebaut: Ein Bild für Gewalt und Tod. Foto: Bettina Stöß

Bei Verdi und Solera wird der Widerstreit der bösen Geister und der Engel in den Chören ausführlich exponiert; in Bielefeld bleiben davon leider nur ein paar hohle Töne aus Lautsprechern übrig. Das hat Auswirkungen auf die Figur des Vaters, Giacomo, eigentlich eine treibende Kraft des Dramas. Seine Anklage, Johanna habe sich dem Bösen – und der „niedrigen irdischen Liebe“ – verschrieben, wird er auf dem Höhepunkt des Geschehens formulieren, in dem Moment, in dem der König Johanna gegen ihren Willen zur Patronin des Landes und zur Heiligen hochstilisiert, ihr sogar eine Kirche weihen will.

Kitsch fürs Volk: Giovanna, zur Heiligen stilisiert. Foto: Bettina Stöß

Kitsch fürs Volk: Giovanna, zur Heiligen stilisiert. Foto: Bettina Stöß

Doch der Konflikt zwischen der visionären Energie, die Johanna leitet, und dem in seinem begrenzten Horizont die Tochter grandios missverstehenden Vater interessiert Hartmannshenn weniger. Sie knüpft an der verstiegen-exaltierten Hybris des Königs an. Carlo VII. will – zum Entsetzen Giovannas – aus ihr eine lebende Heilige machen, die beinahe gottgleich zu verehren wäre; ein Thema, das Verdi schon im „Nabucco“ interessiert hat, in dem sich der König selbst zum Gott erklärt und Anbetung fordert.

Von da an beginnt der Prozess, in dem Giovanna sich selbst verliert und zur Ikone stilisiert wird: Dafür steht ein Ausschnitt aus dem berühmten Jeanne d’Arc-Gemälde von Jean-Auguste-Dominique Ingres. Wie ein Emblem vervielfältigt füllt es die Bühne. Giovanna wird diesem Ideal angeglichen: Purpurrock, Rüstung, Standarte, Schwert. Am Ende steht sie auf dem Altar mit der Lilienfahne, erstarrt zur Statue ihrer selbst, freigegeben zur Verehrung. Eine bunt glitzernde Leuchtschrift senkt sich herab: „Santa Giovanna“. Die Stilisierung mündet im Kitsch: Ein genau getroffenes Bild einer degenerierten Heiligenverehrung.

In „Giovanna d’Arco“ experimentiert Verdi mit musikalischen Mitteln, die er später perfektioniert. Vor allem die Holzbläser werden prominent eingesetzt, um dem Orchesterklang Farbe, der Bühne Atmosphäre zu geben. Die gellenden Flöten und das tiefe Holz werden schon ähnlich charakteristisch eingesetzt wie im zwei Jahre später entstehenden „Macbeth“. Der Rhythmus ist exzessiv, manchmal grob und krude zupackend.

Aber Verdi greift auf die Konventionen seiner Zeit zurück, um seine musikalische Charakterisierungskunst weiterzuentwickeln. „Giovanna d’Arco“ ist ein Werk mitten in einem Prozess stürmischer Entwicklung, doch darob ist ihre Musik nicht weniger gültig und authentisch. Alexander Kalajdzic animiert die Bielefelder Philharmoniker dazu, gerade die innovativen Momente deutlich auszuspielen. Das gelingt meist eindrucksvoll modelliert, manchmal aber auch zu lärmend und zu spröde geschliffen.

Von den Sängern wird viel verlangt: Die Partie der Giovanna ist eher lyrisch grundiert, braucht die fein gesponnenen Piano-Linien für den Ausdruck des Visionären. Aber sie kennt auch die Momente kraftvoller Expansion des Tons. Netta Or gibt den Momenten des Träumerischen gefasstes Leuchten, aber wenig Farbe. Im Forte neigt die Stimme zu harter Brillanz, überzeugt aber mit sicherer Höhe.

Evgueniy Alexiev hat als Vater Giacomo einen fabelhaft timbrierten, gut geführten Bariton, neigt nur hin und wieder in der Höhe zum Forcieren und zeigt damit, dass die Kontrolle des Atems noch nicht zu hundert Prozent glücken will. Aber die verblendeten wie die tragischen Seiten dieses komplexen Verdi-Charakters stellt er überzeugend dar. Paul O’Neill ist in der Klage des Königs im vierten Akt präsenter und glaubwürdiger als in seinem Auftritt zu Beginn, in dem er die Stimme in ihre Position quetscht. Für den König bedeutet Giovanna einen Halt im Leben, den er selbst durch seine Schwäche aufs Spiel setzt. Zum Schluss flüchtet er sich in Projektionen des Weiblichen, wie sie die Marienstatue am Bühnenrand symbolisiert: ein Objekt der Entfremdung, kein Subjekt der Selbstfindung.

Nach dieser Arbeit mit einer Oper Verdis, die dem Regisseur nicht entgegenkommt, darf man gespannt sein, wie Sabine Hartmannshenn im Januar 2014 an der Deutschen Oper am Rhein in Düsseldorf Wagners „Lohengrin“ erarbeiten wird: Wie Giovanna scheitert der Schwanenritter mit seinem göttlichen Auftrag an einer Welt und einem Menschen, die ihre Begrenztheit nicht überschreiten können.




Für die Ruhmeshalle der Opernregie: Hilsdorfs überwältigender „Eugen Onegin“ in Köln

Es war einer jener Opernabende, die – wie es Zerbinetta in Strauß‘ „Ariadne auf Naxos“ sagt – hingegeben stumm machen. Bei dem man den Eindruck hat, noch so gewählte Worten blieben schmerzhaft ungenügend hinter der Tiefe des Erlebten zurück. Bei dem jede Beschreibung vergeblich ist, die versucht, dem unmittelbaren Eindruck einen Begriff zu geben. Bei dem es dem Rezensenten schwer fällt, die professionelle Distanz zu wahren.

Geschafft hat das kein „neuer Gott“, sondern ein erfahrener Regisseur, in Einklang mit einem wunderbaren Team: Dietrich Hilsdorf hat in Köln im Zeltbau am Hauptbahnhof einen „Eugen Onegin“ erarbeitet, der es zumindest auf einen Spitzenplatz bei den diversen Umfragen zur besten Inszenierung der Saison schaffen müsste.

Olesya Golovneva (Tatjana) und Andrei Bondarenko (Onegin) in der Kölner Inszenierung von Tschaikowskys "Lyrischen Szenen". Foto: Paul Leclaire/Oper Köln

Olesya Golovneva (Tatjana) und Andrei Bondarenko (Onegin) in der Kölner Inszenierung von Tschaikowskys „Lyrischen Szenen“. Foto: Paul Leclaire/Oper Köln

Das schier unglaubliche Maß des Gelingens ist zuallererst dem Menschenbeobachter Hilsdorf zu verdanken. Tschaikowskys „Lyrische Szenen“ eignen sich ja nicht für den Aktionismus, mit dem andere Regieführer sie aufzupeppen suchen. Aus dem Zusammentreffen eines in das fiktive Leben und Lieben seiner Romane versponnenen Mädchens mit einem jungen Mann, der schon (zu) viel erlebt haben dürfte, sind kaum szenischen Funken zu schlagen. Es sei denn, man heißt Dietrich Hilsdorf und hat einen ausnehmend scharfen Blick für die menschliche Psyche.

Die anderen Ursachen für das Kölner Opernwunder heißen Marc Piollet und das Gürzenich-Orchester. Sie treiben die Verfeinerung der ohnehin in ausgesuchtem Raffinement schwelgenden Partitur auf die Spitze. Das liegt nicht nur an der stets lockeren, gelassenen Phrasierung, der sanften Brechung der Orchesterfarben, der dynamischen Delikatesse. Piollet versteht es, die milde Wehmut und den zitternden Enthusiasmus in noblen Klang zu kleiden; das Orchester ist in den neblig-depressiven Momenten des zweiten Akts ebenso sensibel bei der Sache wie in der auffahrenden Aggressivität der Polonaise oder der nervösen Rastlosigkeit des Finales. Und der intensiven Glut der emotional hochfahrenden Musik Tschaikowskys, die ja nicht nur lyrische Verinnerlichung kennt, folgt Piollet nicht mit vordergründiger Brillanz oder saftigem Ausspielen, sondern mit einem gebändigten, untergründigen Drängen.

Was „macht“ Hilsdorf mit den „lyrischen Szenen“, dass sie so eindringlich wahrhaft wirken? Dass die Kunstfiguren der Oper an die tragischen Charaktere aus einem Tschechow- oder Gorki-Drama erinnern? Die Antwort: Eigentlich nichts. Er beobachtet nur genau, was in ihnen vorgeht, und weiß mit sicherer Hand seine Darsteller zu animieren, jeden Moment auf der Bühne zu leben. Dieser „Eugen Onegin“ ist ein Abend subtiler Interaktion, erschlossen mit minimalen Gesten, mit sprechender Mimik, mit genau austarierten szenischen Reaktionen auf die Musik. Hilsdorf ist einer der Regisseure, die auf die Musik achten – auch wenn er aus dem Schauspiel kommt, hat er selbst in seinen provozierendsten Arbeiten nie den Blick auf die Musik vergessen.

Präzise szenische Darstellung innerer Zustände

Wie präzis Hilsdorf innere Zustände szenisch zu repräsentieren versteht, erweist zum Beispiel die entscheidende Begegnung zwischen Tatjana und Onegin: Wie den jungen Andrei Bondarenko bei der Lektüre des Briefes der Überschwang des Bekenntnisses nervt, wie er um pubertäre Gefühlslagen wissend grausam gerecht urteilt, mit einer Mischung von wissender Anteilnahme und der eisigen Klugheit seiner abgebrühten Erfahrungen. Auch Onegin ist ein mehrdimensionaler Charakter – und Bondarenko macht das im Spiel und im Tonfall seines schlanken, gestaltungswilligen Baritons deutlich.

Ein Buch der Gefühle ist das Antlitz Tatjanas: Olesya Golovneva, die in Köln in so einigen großen Rollen brillierte, lebt diese Rolle geradezu: Wie sich vorausschauender Schmerz mit vager Hoffnung paart, wie sie die Tränen zurückhält, unter den Worten Onegins immer mehr die Fassung verliert, wie sie die Fäuste im Schoß ballt und die stumme Bitte formuliert, es möge vielleicht doch glücklich ausgehen – alles das ist große Menschendarstellung. Und durch den manchmal etwas schwer schwingenden, aber tadellos geführten und zum enthusiastischen Aufschwingen ebenso wie zu lyrischer Verinnerlichung und traumatischer Blässe fähigen Sopran Golovnevas erfüllt sich die szenische Intensität auch musikalisch aufs Wahrhaftigste.

Hilsdorf verliert mit der Konzentration auf Schlüsselszenen nicht den Blick auf die Figuren, die scheinbar am Rand stehen, tatsächlich aber dem Drama unersetzlich Akzente mitgeben: Da ist Dalia Schaechter als Larina, eine ernüchterte Frau, pragmatisch, durch das Schicksal hart geworden. Tatjanas Bücherverliebtheit akzeptiert sie nur mühevoll und mit einer Spur scharfen Hohns. Eine Frau, die dem Chaos der Welt ein beherrschtes System gesellschaftlich kontrollierten Verhaltens entgegensetzt, das durch Onegins und Lenskis Ausbruch zusammenbricht. So geht es auch ihr: Teilnahmslos sitzt sie zuletzt im Rollstuhl, vom Schlaganfall gelähmt.

Raum und Licht stützen Hilsdorfs Menschenstudien

Schaechter, eine großartige Darstellerin, bringt mit Anna Maria Dur als Filipjewna das Quartett mit Tatjana und Olga in der ersten Szene musikalisch so wunderbar auf den Punkt, wie man es selten zu hören bekommt. Der „Njanja“, ebenfalls vom Leben gezeichnet, gibt Dur mütterlich-verständnisvolle Züge, ausgedrückt in kleinen Gesten und Zwischentönen. Adriana Bastidas Gamboa ist die attraktive Olga, die sich eigentlich nur langweilt, während Lenski seine Liebesschwüre vorträgt, als würde er eine Lesung seiner eigenen Gedichte veranstalten. Sie steht auf der „realistischen“ Seite und wäre die geeignete Nachfolgerin der Hausherrin im System Larina. Dass sie sich – wie in der Vorlage Puschkins – schnell mit einem Soldaten tröstet, zeigt Hilsdorf in einem Streiflicht während der Polonaise des dritten Akts, die eher Züge einer Totenzugs als eines Festes trägt.

Die Schärfe der Analyse lässt nur in der Episode mit dem Fürsten Gremin nach. Das mag an Robert Holl liegen, der szenisch eher neutral einherschreitet, leider auch in den Höhen ins Schwimmen gerät und den Schmelz für die Legati nicht mitbringt. Auch Matthias Klink erfüllt die Rolle des Lenski nicht ganz glücklich. Bei aller darstellerischen Sensibilität, die sich mit musikalischem Verstehen eint, fehlt ihm der freie, gelöste Ton.

Alexander Fedin macht aus Monsieur Triquet eine bitter-komische Variante des Hoffmann’schen Kapellmeisters Kreisler: Er ist für ein bisschen Unterhaltung gut, aber verstehen wird ihn in dieser rustikalen Ballgesellschaft niemand. Dass er die letzte Strophe seines Couplets der geduldigen Filipjewna im allgemeinen Trubel unbeirrt vorträgt, trägt die Züge einer Groteske. Auch Stefan Kohnke als Hauptmann, Luke Stroker als Saretzkij und Rolf Schorn als Guillot machen aus ihren marginalen Figuren große, weil im Detail durchgestaltete Rollen. Nicht zu vergessen: Der Chor gibt – dank Andrew Ollivant – nicht nur musikalisch, sondern auch in seiner präzisen Bühnenaktion sein Bestes.

Dieter Richter hat für Hilsdorfs Menschenstudie eine im besten Sinne unspektakuläre Bühne gebaut: Einen Salon, wie man ihn in russischen Herrenhäusern heute noch finden kann, lichtvoll, dezent in Pastellfarben, mit zurückhaltender florealer Dekoration. Das elektrische Licht ist nachträglich eingebaut; die Leitungen führen in schwarzen Röhren zu altertümlichen Bakelit-Schaltern. Liebe zum Detail verbindet diesen Raum, der sich zur Halle erweitern lässt, mit Renate Schmitzers Kostümen, die sich stilistisch zwischen der Zeit Tschaikowskys und den fünfziger Jahren bedienen. Dass Raum und Licht (Andreas Grüter) die Inszenierung kongenial stützen, trägt dazu bei, für diesen Kölner „Eugen Onegin“ schon mal einen Platz in der Hall of Fame der Opernregie zu reservieren.




Dualismus und Erlösung: Vera Nemirovas „Tannhäuser“-Inszenierung in Frankfurt

Iso-Matten, Rucksäcke, bunte Käppis: Die Truppe sieht aus, als komme sie gerade vom Weltjugendtag. Zum frommen Klang der Pilgerchor-Melodie lässt man sich nieder. Viele beten, manche denken in sich versunken nach. Eine Gruppe zieht ein, schleppt ein riesiges Kreuz mit sich. Alle scharen sich darum. Dann übermannt der Schlaf das Völkchen.

So lange, bis die ersten Tremoli der Venusberg-Musik aufzüngeln: Jung und Alt werfen sich in die Arme, bald fliegen die Klamotten. Die fröhlichen Nackten ziehen einem weiß-blauen Himmel entgegen. Doch das venerische Treiben geht nicht lange gut: In Richard Wagners Orchester setzen sich die Pilgerchor-Motive wieder durch. Zuckende Leiber kriechen mit Gesten des Entsetzens und der Reue zum Kreuz. Klagende Gebärden zur triumphal vom Blech intonierten erhabenen Melodie.

Szene aus der Ouvertüre zu "Tannhäuser" in der Inszenierung von Vera Nemirova in Frankfurt. Foto von 2007: Monika Rittershaus

Szene aus der Ouvertüre zu „Tannhäuser“ in der Inszenierung von Vera Nemirova in Frankfurt. Foto von 2007: Monika Rittershaus

Inszenierte Ouvertüren sind manchmal nur der Angst des Regisseurs vor der reinen Musik geschuldet. Doch im Falle des Frankfurter „Tannhäuser“ erschließt Vera Nemirova damit die Sinnrichtung des Stücks. Sie stellt den prägenden Dualismus zwischen Venus und Maria, zwischen sexuell-sinnlicher Entfesselung und keusch-vergeistigt Liebe in einer präzis entwickelten Szene auf die Bühne. Und sie behauptet so, dass der Dualismus nicht allein eine Angelegenheit des 19. und des vergangenen 20. Jahrhunderts sei.

Der „Tannhäuser“, eine wichtige theatrale Station auf dem lebenslangen Weg Wagners zur Bewältigung seiner Konflikte zwischen Reinheit und Trieb, wurzelt in einem christlichen Menschenbild, das aber mit den ideologischen Brillen des 19. Jahrhunderts kaum erkennbar war. Die Verbindung von körperlich-sexueller und seelisch-spiritueller Liebe hätte durch Tannhäuser und Elisabeth erreicht werden können: Hier der Mann mit den Erfahrungen des Venusbergs, der weiß, dass der sterbliche Mensch auch durch Götter nicht zum Gott gemacht wird; der erfahren hat, dass der schrankenlose, ungetrübte Genuss sinnlicher Reize nur zum Überdruss führt. Dort eine starke Frau, die eine widerstandsfähige Liebe bewahrt, die nach ganzheitlicher Erfüllung strebt, die das „Rätsel ihres Herzens“ zu lösen hofft.

Vera Nemirova. Foto: Thilo Beu

Vera Nemirova. Foto: Thilo Beu

Vera Nemirova behauptet in ihrer Inszenierung eindrucksvoll, dass diese Liebe scheitern muss: Die Ideologie der Wartburg, im Wettstreit der Sänger zweifelsfrei zum Ausdruck gebracht, lässt nur den dualistischen Bruch zu. Hier der „Liebe reinstes Wesen“, das Wolfram von Eschenbach nicht „mit frevlem Mut“ berühren will. Dort der Tannhäuser mit seinem faustischen Vornamen Heinrich, der „im Genuss nur Liebe“ kennt, der in Venus „die Quelle alles Schönen“ propagiert. In diesem Konflikt weist selbst der Papst keinen Ausweg, und die Barmherzigkeit ist eine Tugend, die in dieser Welt nicht reift und von oben kommen muss.

Nemirova – die Regisseurin des gefeierten Frankfurter „Ring“ und eines neuen „Lohengrin“ in Basel – inszeniert den „Tannhäuser“ nicht als ein Stück von gestern, dem man für seine Schlüssigkeit heute ein neues Thema überstülpen müsste. Und es genügen ihr im Verein mit ihrem Bühnenausstatter Johannes Leiacker knappe Hinweise und Andeutungen, um einen zwingenden, berührenden Opernabend zu gestalten.

Etwa die Szene mit dem Hirten: In Frankfurt ist er mit einem Kind besetzt (Cedric Schmitt). Er singt von Frau Holda und malt mit Kreide ein Kreuz auf den Boden – für eines jener Hüpfspiele, mit denen sich Kinder früher auf den Straßen die Zeit vertrieben. Tannhäuser, der Wanderer mit Gitarre und Federn am Hut, legt sich auf das Kreuz und wird von seinen Ex-Sängerkollegen entdeckt. Der Hirte spielt am Ende dann eine entscheidende Rolle: Das Kind, von den Konflikten unberührt, führt Tannhäuser zu den Klängen des Erlösungschores weg.

Johannes Leiackers Szene für den Frankfurter "Tannhäuser". 2007 sang Ian Storey die Titelrolle. Foto: Monika Rittershaus

Johannes Leiackers Szene für den Frankfurter „Tannhäuser“. 2007 sang Ian Storey die Titelrolle. Foto: Monika Rittershaus

Leiacker genügt für die karge Bühne eine Wand mit einem weiß-blauen Himmel, davor eine Peitschenlampe mit kaltem, trübem Schein (Olaf Winters Licht mit entscheidendem atmosphärischem Anteil). Dieser Himmel mag, wenn die aufgedrehten Kirchentags-Teenies in ihm „baden“, ein Ort emotionalen Höhenflugs sein; eine Erfüllung der menschlichen Sehnsucht ist er nimmer. Im dritten Aufzug hat die Leinwand Löcher, wird das hölzerne Traggerüst sichtbar. Eine höchst irdische, vergängliche Illusion.

Der Hirtenjunge führt den Tannhäuser zwar in Richtung des zerfetzten Himmelsbilds, aber darin hat sich eine Öffnung gebildet, die ins Unbestimmte führt. Nemirova lässt offen, wohin dieser Weg führt, aber keinen Zweifel, dass es sich um einen Moment des Transzendierens handelt. Die Szene erinnert an den Schluss von Schlingensiefs Bayreuther „Parsifal“. Eine bedeutungsvolle Parallele: Beide Regisseure sind nicht mit vorschnellen Lösungen bei der Hand, stellen die für Wagner essenzielle Erlösungssehnsucht nicht in Frage, lassen aber offen, worin die Erlösung bestehen könnte.

Sänger machen sich das Regiekonzept zu eigen

Wie wenig authentisch die Wartburg-Welt ist, zeigt Nemirova deutlich: Der zweite Aufzug ist eine Show, die aus den Fugen gerät. Landgraf Hermann, von Andreas Bauer mit Autorität gesungen, liest die Frage nach dem wahren Wesen der Liebe wie eine Quizfrage vom Spickzettel ab. Die Sänger, einheitlich in lila Rüschenhemd, liefern ihre Beiträge ab: der kleine, eitler Walther von der Vogelweide (präsent: Jun Ho You), der nur in der Kategorie des „Kampfs“ denkende Biterolf (überzeugend: Magnus Baldvinsson). Und Wolfram von Eschenbach, der Vertreter eines Liebesbegriffs, der sich in Anbetung verzehrt, ohne das Subjekt der Liebe je erreichen zu wollen. Daniel Schmutzhard spielt die inneren Qualen dieses Charakters aus; sorgt mit klug gebildeter, ebenmäßig geformter Stimme für den vokalen Höhepunkt der Frankfurter Aufführung. Dass Wolfram im dritten Aufzug Elisabeth erdrosselt und sie so beim Übertritt ins Jenseits „geleitet“, ist aus der Anlage der Figur heraus nur konsequent.

Die Neueinstudierung der Inszenierung von 2007 – aus Anlass des Wagner-Jahres – ist auch gelungen, weil sich Lance Ryan (Tannhäuser) und Annette Dasch (Elisabeth) das Regiekonzept zu Eigen gemacht haben. Ryan singt anfangs mit extrem gespanntem, beengtem Tenor; wird nach und nach freier, hat die Kraft für die gefürchteten Stellen im zweiten Aufzug und für eine durchdachte Rom-Erzählung. Aber Schmelz und gelösten Klang erwartet man von diesem Tenor vergeblich.

Annette Dasch genießt zurzeit viel Anerkennung. Für das jugendliche Strahlen der „Hallenarie“ reicht der Klangkern der Stimme nicht, aber die lyrisch-innigen Momente gelingen mit dem Zauber, den nur eine reflektierte Gestaltung hervorruft. Der Frankfurter Opernchor hatte nicht seinen besten Abend; das Orchester unter Constantin Trinks überwand die groben Momente des Beginns und steigerte sich auf ein solides Niveau, das im dritten Aufzug vor den Finessen einer subtilen Dynamik nicht kapitulieren musste.




Wagner-Jahr 2013: Die Jugendoper „Das Liebesverbot“ in Leipzig

Wagner in Leipzig: Das neue Wagner-Denkmal von Stephan Balkenhol. Foto: Werner Häußner

Wagner in Leipzig: Das neue Wagner-Denkmal von Stephan Balkenhol. Foto: Werner Häußner

Wagners Verdikt scheint eindeutig: „Ich irrte einst und möcht‘ es nun verbüßen. Wie mach‘ ich mich der Jugendsünde frei?“. Die Widmung an König Ludwig II. von Bayern galt dem heiter-sinnlichen „Liebesverbot“. Geniusworte werden gemeinhin nicht kritisch hinterfragt. So wurde Wagners opéra comique „Das Liebesverbot“ nach seinem Tode erst 1914 wieder aufgeführt und blieb seitdem ein nur gelegentlich beachteter Sonderling.

Kein Wunder: Wagner selbst hat sich nach der katastrophal misslungenen einzigen Aufführung 1836 in Magdeburg vom Konzept der opéra comique, wie es ihm im Theateralltag in den Werken Daniel François Esprit Aubers formvollendet entgegentrat, gelöst und andere Wege beschritten, die ihn letztlich zurück zur romantischen Sphäre der „Feen“ geführt haben. Und die spätere Wagnerianer-Literatur konnte mit dem „Liebesverbot“ überhaupt nichts anfangen: Die Überwindung des Dualismus von sinnlicher Lust und asketischer Geistigkeit durch eine kontrollierte Balance beider Kräfte war nicht das Thema einer Zeit, die manichäisch in den Kategorien von „schmutzig“ und „rein“ dachte. So galt das „Liebesverbot“ als die Jugendsünde schlechthin – ein Kapitel Wagner, das man am besten verdrängte und vergaß.

Der Bedeutung des Werks für Wagners Œuvre wird man so freilich nicht gerecht: Das Thema selbst taucht, romantisch kategorisiert, im „Tannhäuser“ wieder auf – und die Reflexe der „Liebesverbot“-Musik in der großen romantischen Oper sind zu deutlich, um bloßer Zufall zu sein. Inhaltlich befasste sich Wagner bis kurz vor seinem Tod mit dem „Weibe“, sprich, der Problematik von Sinnlichkeit, Erotik und Liebe, von Verdrängung, Überhöhung und Integration des Sexuell-Körperlichen.

Der junge Richard Wagner. Zeitgenössischer Stich

Der junge Richard Wagner. Zeitgenössischer Stich

Musikalisch ist die an Auber geschulte rhythmische Verve in den Folgewerken verschwunden. Aber die schwärmerische Bellini-Melodik begegnet uns ab dem „Fliegenden Holländer“ in allerlei Facetten wieder, und die ausgefeilte Ensemblekunst – von Auber und Rossini geprägt – war wegweisend für das spätere Musikdrama. Wer also das „Liebesverbot“ aus dem sowieso fragwürdigen „Kanon“ von Wagners Meister-Werken eliminiert, wird der Entwicklung des Komponisten nicht gerecht. Und Wagner „Genie“ zeigt sich eben auch in der Adaption von Vorbildern: So, wie der Zwanzigjährige in den „Feen“ ein Finale schreibt, das in der Oper von 1833 seinesgleichen sucht, so gekonnt lässt es sich ein Jahr später auf den zündenden Überschwang französischen Vorbilder ein. Wer Aubers Opern aus dieser Zeit kennt, kann ermessen, mit welcher Souveränität Wagner mit dem Meister des Genres gleich zieht.

Wagner artikuliert revolutionär-demokratische Ideen

Die wenigen Inszenierungen der letzten Jahre haben erwiesen, dass sich das „Liebesverbot“ durchaus jenseits einer bloß „museal“ verstandenen Jubiläums-Würdigung auf der Bühne behaupten kann. Die aus Shakespeares „Maß für Maß“ entlehnte Story hat Wagner für seine Zwecke geschärft: Ein bigotter Statthalter – heute würde man ihm Kontrollzwang diagnostizieren – verbietet jede sinnliche Lust bei Todesstrafe und stolpert durch die List einer Nonne (!) und den fröhlich-selbstbewussten Widerstand des Volkes über seine eigenen Regeln. Jenseits der Kritik am moralischen Rigorismus artikuliert Wagner aber auch eine revolutionär-demokratische Idee, die ihn noch 1849 in die Nähe der Dresdner Barrikaden führte: Das Volk ist der eigentliche Souverän des Geschehens.

Tuomas Pursio als Statthalter Friedrich im Leipziger "Liebesverbot". Foto: Kirsten Nijhof

Tuomas Pursio als Statthalter Friedrich im Leipziger „Liebesverbot“. Foto: Kirsten Nijhof

In Leipzig – und wo sonst wäre Wagners Frühwerk angebrachter – hatte nun das „Liebesverbot“ in der Regie von Aron Stiehl Premiere; jene Version, die im Sommer anlässlich des Wagner-Geburtstags in Bayreuth zu sehen war. Jürgen Kirner bot in seinem Bühnenbild den technisch beschränkten Möglichkeiten der Oberfrankenhalle Paroli: Stellwände und beleuchtete, rasch verschiebbare bühnenhohe Kästen ermöglichen schnelle Szenenwechsel und schaffen atmosphärische Räume: ein Dschungel mit wuchernden Pflanzen für das Reich der Sinne und der Triebe; ein weiß leuchtendes Kreuz für den Raum des Klosters. Statthalter Friedrich residiert zwischen riesigen, nummerierten Schubkästen, Chiffren des Ordnungszwangs und Kategorisierungswahns.

Sven Bindseils Kostüme schärfen mit leichter Ironie den Gegensatz von Geistigem und Triebhaften, den Regisseur Aron Stihl herausarbeitet: Das „Volk“ – der Chor Alessandro Zuppardos leistet auch szenisch ganze Arbeit – trägt die Flecken und Streifen wilder Tiere in einer Art von Steinzeit-Fetzen-Look; Friedrich dagegen tritt im schwarzen Rock des bürgerlich-klerikalen 19. Jahrhunderts auf, sein alles andere als überzeugter Gefolgsmann Brighella in einer pompösen Amtsdiener-Robe. Die Regie setzt auf Bewegung und lebhafte Aktion: Stiehl versteht es, Personen unspektakulär, aber konsequent zu führen. Wenn im Finale die Beine geschwungen werden, ist das ein durchaus beabsichtigtes Zitat: Der Triumph der lustvollen Ausgelassenheit führt direkt zur Sensation des Offenbach’schen Can-Can.

Bis an die Grenzen geforderte Sänger

Musikalisch wird man in Leipzigs Opernhaus leider wieder einmal nicht glücklich: In der Ouvertüre schon bringen die vehementen Staccati und das rhythmisch Ungestüm Wagners die Musiker aus dem Tritt; lustlos nivelliert das Orchester die Kontraste der Musik. Später lässt Dirigent Matthias Foremny arg massive Lautstärke zu. Geformte Phrasen, ausgearbeitete Details? Oft Fehlanzeige. Da haben es die Sänger schwer, die Wagner ohnehin ständig an die Grenzen führt. Christiane Libor muss als Isabella mal hochdramatisch auftrumpfen, mal lockeren Singspielton anschlagen oder sich durch Ketten kurzer Noten hangeln – was ihr mit beachtlicher stimmlicher Reserve auch gelingt.

Olena Tokar hat es als Mariana einfacher: die Partie der verlassenen Ehefrau des Statthalters ist in Leipzig kurz. Und die dritte der Frauen auf der Suche nach der ehrlichen Liebe, Dorella, wird von Magdalena Hinterdobler verkörpert: In bester, sexistisch anmutender Boulevard-Manier von einem Presseorgan als einzig sehenswertes Formenwunder auf der Leipziger Bühne angepriesen, quält sie sich ohne zuverlässigen Stimmsitz und ohne tragende Resonanz durch Wagners Noten.

Bis an ihre Grenzen gefordert sind Mark Adler (Luzio) und David Danholt (Claudio): beide haben mit Wagners hybriden Anforderungen hörbar zu kämpfen. Reinhard Dorn orgelt den Brighella nicht als verschlagenen Sbirren, sondern als gemütliche Charge. Der Pontio Pilato Martin Petzolds lässt sich stimmlich nichts zuschulden kommen, bleibt aber als Figur von der Regie merkwürdig unerklärt. Tuomas Pursio hat die stocksteife Figur für den in seinen politischen wie psychischen Zwängen eingeklemmten Friedrich, ist als herrischer Bürokrat glaubwürdig, stimmlich aber oft verhärtet und trocken: Die belcantistischen Aspekte seiner Rolle kommen nicht zum Tragen.

Am Ende reißt der entlarvte Statthalter einen Blumenstrauß an sich und zieht dem zurückkehrenden König entgegen, während sich in der bunten Truppe der Karnevalisten die Feiernden wie Domino-Steine der Reihe nach zu Fall bringen: ein angedeuteter Zweifel an der finalen Versöhnung, der nicht so recht überzeugen will, weil er szenisch zu unbestimmt bleibt. Eine verdienstvolle Inszenierung: Wer den „ganzen“ Wagner verstehen will, wer um die Wurzeln des Musikdramas wissen will, kommt am „Liebesverbot“ nicht vorbei.




Verdis „Macbeth“ in Essen: Das Drama der lebenden Toten verläuft sich in Bildern

Gun-Brit Barkmin als Lady Macbeth in Essen. Foto: Matthias Jung

Gun-Brit Barkmin als Lady Macbeth in Essen. Foto: Matthias Jung

Ein kleiner Erdhügel zu den gläsernen punktierten Zweiunddreißigsteln des Vorspiels von Verdis „Macbeth“. Ein Grab. Zwei Menschen nähern sich ihm, Lilien in den Händen. Der Fortissimo-Sturm der scharf akzentuierten Bläser bricht los. Unter der Bühne kracht und knallt es; ein riesiger Baum reißt sich los, kämpft sich hinauf in den dunklen Himmel, als starte ein monströses Raumschiff. Die Wurzeln triefen zu Boden – dorthin, wo sich ein kreisrunder Schlund geöffnet hat.

Mit einem spektakulären Bild werden die Zuschauer im Essener Aalto-Theater von Bühnenbildner Christof Hetzer in Verdis abgründige Tragödie hineingestoßen. Baum und Grab – Symbole für Leben und Tod – bilden die zentralen Motive der Bühne; Abgrund und Brücke treten dazu: Hetzer baut über den manchmal schwarz starrenden, manchmal trüb beleuchteten Krater einen Steg wie aus einem jener schwarzweißen, gruseligen Gothic-Krimis, in denen sich das Abgründig-Menschliche und das Unheimlich-Übernatürliche auf geheimnisvolle Weise verbinden.

Herbstblätter bedecken die weite Fläche der Bühne. Ein riesiger Raum, in dem die Figuren oft verloren wirken – wie hinausgeworfen in eine Welt in Dunkelheit oder Zwielicht, in der sie keine Orientierung finden. Nur die Gräber sind Bezugspunkte: ein erdiges Kindergrab und ein alter Sarkophag aus rissig-moosigem Stein. Dorthin werden die Toten gekippt. Dort stirbt Macbeth, noch lebend schon im Grabe, mit seinen letzten Worten die Krone von sich werfend.

Kinderlosigkeit löst den blutigen Machttrieb aus: Tommi Hakala am Grab. Ein gestorbenes oder nie geborenes Kind? Foto: Matthias Jung

Kinderlosigkeit löst den blutigen Machttrieb aus: Tommi Hakala am Grab. Ein gestorbenes oder nie geborenes Kind? Foto: Matthias Jung

Das Motiv der lebenden Toten ist auch für David Hermann in seiner Inszenierung ein entscheidendes: Wenn der König die Schotten für jenes fatale Fest versammelt, auf dem ihn der Geist des ermordeten Banco in Angst und Wut entrückt, scheint er längst selbst zum Totenreich zu gehören: Er spricht mit den Ermordeten, die wie lebensgroße Marionetten auf dem Sarkophag hocken, lässt sie wie Handpuppen sprechen und nicken, echauffiert sich, als eine der Gestalten zusammenklappt. Ein grotesk-makabres Theater, von dem die Menschen um ihn herum keine Notiz nehmen. Wie bei einem Picknick in Glyndebourne sitzen sie im Herbstlaub, speisen aus geflochtenen Körben, lassen sich von Macbeth ohne Reaktion die Weinflasche wegnehmen. Mit der realen Welt hat das mörderische Königspaar nichts mehr zu tun – es ist längst in seine eigene Horrorwelt hineingestorben.

Das ist alles sehr klug, sehr konsequent und sehr detailreich erfunden – und lässt dennoch auf seltsame Weise unberührt. Vielleicht, weil uns diese Wiedergänger-Geschichte nicht interessiert. Weil die Spannung zwischen der Welt der Lebenden und der Toten im allumfassend leblosen Raum aufgelöst wird. Weil der humane und der politische Aspekt des Stücks wegsymbolisiert, wegpsychologisiert wird. Oder auch, formal argumentiert, dem spektakulären Baumstart zu Beginn szenisch nicht mehr viel folgt.

Ein riesiger Baum reißt sich los, kämpft sich hinauf in den dunklen Himmel. Foto Matthias Jung

Ein riesiger Baum reißt sich los, kämpft sich hinauf in den dunklen Himmel. Foto Matthias Jung

Die Hexenchöre schallen aus der unbestimmten Dunkelheit; die Erscheinungen im dritten Akt sind ein beziehungsreicher, aber szenisch läppisch gelöster Aufmarsch schwangerer Frauen. Das Bild des leidenden Volkes zu Beginn des vierten Aktes – der Chor schiebt sich durch den Zuschauerraum nach vorne – bleibt stumpf; die blutigen Kinderleichen um den Sarkophag auf der Bühne wirken dazu wie ein zu billig geratener Schockeffekt. Auch die zwei Zeit-Ebenen, durch Hetzers Kostüme gekennzeichnet, helfen nicht wirklich weiter.

So spitzt sich das Drama nicht zu, sondern verläuft sich eher in den Bildern. Ein Grund mag sein, dass Hermann mehr auf die sorgfältig gesetzten symbolischen Gesten setzt als auf eine sprechende Personenführung. Der glänzende Handschuh, den Macbeth vom Arm des toten Duncan streift – ist es „la man rapace“, die „räuberische Hand“, die er gegen seine erklärte Absicht dann doch erhebt? Wenn Macbeth den toten Banco mit einer Lilie peitscht – ist es eine Chiffre für den verzweifelten Hass auf den Mann, der Kinder hat? Kleine Jungs in Anzügen plagen den König – sind es die drohenden Nachkommen Bancos?

Die Videos von Martin Eidenberger, projiziert auf den massiven Mauerwürfel, der sich einige Male über die Szene senkt, schaffen in der Hexenszene des dritten Akts eine deutende Bild-Ebene, sind aber an anderer Stelle aber banal: eine rote Hand etwa, oder kaleidoskopartige Muster. Wir sehen eine Inszenierung, die das Stück nicht verschenkt, die viel Reflexion und Dramaturgen-Subtext integriert, aber als Theater die Spannung nicht hält, die Aufmerksamkeit nicht durchgehend fesseln kann. Kein missglückter, aber auch kein rundum überzeugender Auftakt der neuen Ära am Aalto-Theater.

Einstand mit "Macbeth": Tomás Netopil, der neue Chefdirigent der Essener Philharmoniker. Foto: TUP

Einstand mit „Macbeth“: Tomás Netopil, der neue Chefdirigent der Essener Philharmoniker. Foto: TUP

Mit Spannung erwartet wurde den Einstand des neuen GMD Tomáš Netopil in der Oper: Kurz gesagt, war es ein glückliches Debut. Netopil bewies, was sich bereits in Verdis „Missa da Requiem“ im Sinfoniekonzert angekündigt hatte: Er hat die Sensibilität für Verdis musikalisch-dramatische Orchestersprache, für den klugen Aufbau dynamischer Großstrukturen, für das behutsam ausgeformte Detail, für die rhythmische Prägnanz und den erfüllten Duktus der Melodie. Dem Finale des Ersten Akts etwa gibt er den agogisch gestalteten, inneren rhythmischen Drang, der sich in der sicher angesteuerten Entladung befreit.

Die Philharmoniker lassen kaum etwas zu wünschen übrig, sind auf dem Punkt, wenn es um die Einfärbung des Klangs durch gekonnte Balance der Instrumente geht, um die Schärfe punktierter Rhythmen oder den wuchtigen Tutti-Zugriff, gestützt von prachtvollen Blechbläsern. Was sich noch entwickeln muss, sind die Finessen des Ausdrucks: Die „tinta“, die Verdi haben will, jene im Falle des „Macbeth“ dunkel verschattete Orchesterfarbe, die fahlen Klänge, die erstickten, halb unterdrückten Laute, die unwirklichen, atmosphärisch entrückten Momente, bleiben bei Netopil noch zu neutral. Und im Vorspiel schlittert er aus einer zu stark angezogenen Bewegung in ein nicht unheimlich-majestätisches, sondern schleppend langsames Tempo. Auch die kruden Striche waren überflüssig und ärgerlich: So etwas sollte sich Netopil gleich gar nicht angewöhnen.

Eine reife Leistung darf man Alexander Eberles Chor attestieren: Tönten die Hexenchöre anfangs zu lyrisch-brav aus dem Off, entwickelte sich der Klang ab dem Sextett mit Chor zu prachtvoller Größe. Die Solisten geben dagegen nicht nur Anlass zum Glücklichsein. Gun-Brit Barkmin als Lady wird mit den Anforderungen ihrer Riesenpartie in punkto Beweglichkeit und psychologischer Differenzierung anstandslos fertig. Aber die Stimmfarbe ist sehr hell und schwer zu verschatten. Ihre Piano-Skala lässt sich weit auffächern, aber das hohe b, mit dem sie im Sextett über den Chor kommt, klingt gellend und scharf. Außerdem neigt Barkmin dazu, in die Sprechstimme zu wechseln, nähert sich veristischen Ausdrucksmitteln, die sie auch in ihrer Wahnsinnsszene einsetzt, statt mit der Stimmfarbe zu spielen.

Auch der Macbeth des finnischen Baritons Tommi Hakala flattert unzureichend gestützt, wird immer wieder in der Höhe eng, verliert den Kern des Klanges. Doch in der finalen Szene, als Macbeth allen Sinns verlustig mit seiner Krone auch sein Leben wegwirft, läuft Hakala zu großer Form auf: Diesem unterdrückten, stammelnden Absterben des Tones, das Verdi in seinem höchst expressiven Schluss des „Macbeth“-Ursprungsfassung von 1847 fordert, entspricht der Sänger voll und ganz. Hätte er nur für die kantablen Szenen dieselbe Solidität. Aber dort, wo sichere Technik gefragt ist, kommt Hakala ins Schwimmen.

Für Alexey Sayapin, neues Ensemblemitglied, als Macduff gilt das nicht. Er demonstriert in seiner Arie eine versierte Beherrschung seines Tenors – die ihm in den dünn gequäkten Tönen des Finales wieder fehlt. Was Sayapin nicht hat, ist der flutende, freie Klang, der den traditionell geschulten, heute selten gewordenen italienischen Tenor auszeichnet. Die Stimme sitzt zu fest, der Klang wird nicht entspannt gebildet.

Ein Gewinn für Essen ist der Bass Liang Li: Eine voluminöse, aber beherrschte Stimme, reich an Farben und fähig, sie auch flexibel einzusetzen; ein meist kontrolliertes Vibrato und eine schmelzende Legato-Linie. Ein mustergültiger Banco. Marie-Helen Joël bewährt sich erneut erfreulich als Kammerfrau der Lady, die von Macbeth ebenso gemeuchelt wird, ebenso wie der in seinen wenigen Sätzen schönstimmige Arzt (Baurzhan Anderzhanov). Abdellah Lasri kann als Malcolm problemlos Tenor-Paroli bieten. Die erste Premiere unter Intendant Hein Mulders ist mehr als ein Versprechen, noch nicht ganz eine Erfüllung, signalisiert aber den Elan, mit dem sich das neue Team am Aalto die Zukunft erobern will. Nur zu!




Glanz und Bravour – der Countertenor Philippe Jaroussky im Konzerthaus Dortmund

Philippe Jaroussky: Gesang nicht nur von dieser Welt. Foto: Pascal Rest

Philippe Jaroussky im Konzerthaus Dortmund: Gesang nicht nur von dieser Welt. Foto: Pascal Rest

Ein Ton wie aus dem Nichts. Stark und klar geformt, mit kristallinem Glanz den Raum füllend, balsamisch strömend, um alsbald in allerlei Farben zu schimmern. Solcherart betörender Gesang, den Philippe Jaroussky anstimmt, scheint kaum von dieser Welt zu sein. Nun, immerhin formuliert der französische Countertenor gerade den Dank des Aci an Jupiter für das Geschenk der Unsterblichkeit, in Arienform gegossen von Nicola Porpora. Da darf es schonmal engelsgleich klingen.

Der italienische Komponist gilt als Meister der barocken Opera seria, war Zeitgenosse Vivaldis, zeitweise Konkurrent Händels in London, als es darum ging, die besseren Stücke und virtuosesten Sänger dem Publikum schmackhaft zu machen. Porpora schrieb mehr als 50 Opern, errang aber vor allem als der überragende Gesangslehrer seiner Zeit eminente Bedeutung. Einer seiner berühmtesten Schüler war der Kastrat Farinelli. Ihm schrieb der Komponist – zu beider Ruhm – manche Bravourarie auf den Leib.

Jaroussky hat sich davon einige der effektvollsten, virtuosesten und koloraturreichsten musikalischen Rosinen herausgepickt. Andererseits zelebriert der Counter in Dortmunds Konzerthaus das Verströmen lyrischer Episoden. Es ist ein Abend der großen Gefühle: Überbordende Freude wechselt mit Anflügen von Mitleid, Sehnsucht, unglücklicher Liebe oder stiller Zufriedenheit. Das Schatzkästlein barocker Affekte öffnet sich zu unser aller Erstaunen aufs Schönste.

Dabei wirkt die Körperlichkeit, mit der Jaroussky seine stimmliche Kunst in Szene setzt, wie eine Illustration seelischer Befindlichkeiten. Das mag bisweilen den Manierismus berühren, wie denn auch einige der sanften Melodien das Sentiment streifen. Doch des Sängers Gestaltungskraft, zudem seine traumwandlerische Sicherheit, ohne Brüche zwischen Alt- und Sopranlage zu changieren, lassen den Hang zur Überzeichnung schnell vergessen.

Des Counters Expressivität ist übrigens nicht zu verwechseln mit Verkrampfung oder Anstrengung. Denn alles Technische scheint seiner geläufigen Gurgel kaum Mühe zu bereiten. Nur wenn er sich in die Arie „Wie ein Schiff in mächtigem Sturm“ aus Porporas Oper „Semiramide“ vehement hineinwirft, verhärtet sich die Stimme leicht in der Höhe, klingt ein wenig trocken. Überwiegend aber ist Jaroussky Garant für mitreißenden Schwung und strahlenden Glanz.

Die Ovationen sind ihm sicher, doch am Erfolg des Abends ist auch das 21 Köpfe starke Venice Baroque Orchestra stark beteiligt. Das von Andrea Marcon am Cembalo umsichtig geleitet wird und sich stets im Dienste des Gesangs zurücknimmt, ohne nur beiläufig zu wirken. Das sich andererseits in einigen Instrumentalstücken, etwa in Leonardo Leos Ouvertüre zu „L’Olimpiade“, als zupackend musizierendes Ensemble beweisen kann. Mit rhythmischer Intensität und wunderbar dynamischer Differenzierung. Nur schade, dass manche Solostellen ein wenig verunglücken, etwa in Francesco Geminianis Concerto grosso.

Philippe Jarousskys Plädoyer aber für einen Barockkomponisten, auf den zumeist nur Spezialisten ihr Augenmerk richten, eröffnet dem Publikum eine neue Welt. Und zugleich beweist der Sänger, dass eine Counterstimme nicht übermäßig künstlich wirken muss, bei allem, was sie etwa von einem klassischen Sopran trennt. Dass es vielmehr möglich ist, sie in schönster Natürlichkeit aufschimmern zu lassen. Das eben ist die große Kunst.

 

(Der Text ist in ähnlicher Form zuerst in der WR erschienen.)




Verzichtbar: Giuseppe Verdis „La Traviata“, aufgewärmt in Duisburg

Strahlend schön und elend einsam: Violetta (Brigitta Kele) in Andreas Homokis "Traviata" in Duisburg. Foto Hans Jörg Michel

Strahlend schön und elend einsam: Violetta (Brigitta Kele) in Andreas Homokis „Traviata“ in Duisburg. Foto Hans Jörg Michel

Ist das Hauptstadtoper? Ist das die Deutsche Oper am Rhein, einst ein viel gepriesenes und beachtetes Institut, das über Deutschland hinaus künstlerische Akzente gesetzt hat? Nach der Premiere einer nun zum dritten Mal aufgewärmten „La Traviata“ am Opernhaus Duisburg stellen sich solche Fragen noch drängender als sonst.

Ein Blick auf den Premierenplan der Deutschen Oper am Rhein: „Luisa Miller“ in Düsseldorf – eine Inszenierung aus der vergangenen Saison. „La Traviata“ als zweiter, denkbar unorigineller Beitrag zum Verdi-Jahr 2013 – eine Inszenierung aus dem letzten Jahrhundert von Andreas Homoki, seit 1996 in Leipzig im Repertoire, 2006 und wieder im Frühjahr 2013 in Bonn gezeigt. Die „Csárdásfürstin“ – ebenfalls aus der letzten Spielzeit. „Die Zauberflöte“ – ein Import aus Berlin. Und so heißt die erste kreative Neu-Tat „Lohengrin“ – im Januar 2014! Im Klartext: Die erste Hälfte der Spielzeit am Institut des bis 2019 verlängerten Intendanten Christoph Meyer bringt keine einzige tatsächliche Neuproduktion. Und die Auswahl der gezeigten Opern könnte biederer nicht sein.

Der wirkliche „Skandal“ ist nicht der missglückte „Tannhäuser“ im Mai, denn Risiken gehören zum Theater und Flops auch. Es ist die schleichende Entkernung eines einst wegweisenden Hauses, das sich offenbar davon verabschiedet, Opernkunst mit einem eigenen, klar konturierten Profil anbieten zu wollen und sich auf ein massen- und kassenkompatibles Repertoire zurückzieht. Wären da nicht die drei Wiederaufnahmen der hochkarätigen Britten-Inszenierungen von Immo Karaman im Oktober/November, der Spielplan könnte nicht austauschbarer sein.

Schnell verblüht: Kamelien umgeben Violetta (Brigitta Kele) auf Frank Philipp Schlößmanns Bühne zu "La Traviata". Drohend im Hintergrund: der alte Germont (Laimonas Pautienius). Foto: Hans Jörg Michel

Schnell verblüht: Kamelien umgeben Violetta (Brigitta Kele) auf Frank Philipp Schlößmanns Bühne zu „La Traviata“. Drohend im Hintergrund: der alte Germont (Laimonas Pautienius). Foto: Hans Jörg Michel

Über Andreas Homokis Inszenierung ist in den letzten beiden Jahrzehnten genug gesagt worden; sie zeigt sich in ihrer konzeptionellen Stringenz ungebrochen. Konzentriert auf eine Traviata, die eher eine „vom Weg gestoßene“ als eine „vom Weg abgekommene“ Frau ist, von der Masse bedroht und ausgespuckt in die Einsamkeit einer kalten, spiegelglatten, blauschimmernden Fläche.

Frank Philipp Schlößmanns Bühne, sinnig ausgeleuchtet von Volker Weinhart, lässt alles weg, was von den Menschen ablenken könnte, die ihre Beziehungen auf immer zerstören. Nicht nur diejenige zwischen Violetta, dem gesellschaftlichen Geschöpf des cholerischen Barons Douphol, und dem linkischen, aufgeregten Bürschchen aus der Provinz. Sondern auch zwischen dem mit seinen Ehrbegriffen gepanzerten Germont und seinem Sohn. Der Blick, den Alfredo über die tote Violetta hinweg seinem Vater zuwirft, lässt für die Zukunft dieser Familie nichts mehr hoffen.

Mit solchen Momenten hat Co-Regisseur Mark Daniel Hirsch die alte Homoki-Inszenierung merklich aufgefrischt. Er kann auf das präzise Spiel der Protagonisten setzen, das bis in die kleinen, dennoch wichtigen Rollen hinein trägt: Auf Cornel Frey, der dem Gastone etwas von einem schmierigen Varieté-Conferencier gibt. Auf die Flora Sarah Feredes, die leuchtend singt, sich aber dem hilfesuchenden Arm ihrer Freundin Violetta wie alle anderen entzieht. Oder auf Bruno Balmelli als Douphol, der Violetta schon Scheine ins Decolleté stopft, bevor Alfredo seinen schüchternen Auftritt hat. Dass der Baron im zweiten Akt wie ein Duisburger Vorstadtschläger gebändigt werden muss, verzeichnet den latenten Zynismus dieser Figur ins Grobe: Ein Mann wie Douphol würde sich wegen einer Kurtisane nie die Hände schmutzig machen.

Gesungen wird – und das steht symptomatisch für die Verdi-Interpretation heute – weder technisch noch stilistisch einwandfrei. Da mag der Beifall noch so herzlich rauschen: Auch Laimonas Pautienius, der Publikumsliebling des Abends, hat als bedrohlich als schwarzer Schatten auftauchender Vater Germont nicht den rund und ausgeglichen geformten Bariton, den diese Partie fordert. Zwar singt er sich im Lauf des Abends von seinen verfärbten Mundhöhlen-Tönen frei, aber die Stimme schwingt nicht ebenmäßig, klingt nicht natürlich: ein angespannt-flackriger Ton, keine schmiegsame Phrasierung. „Di Provenza …“, die belcantistische Nagelprobe für jeden Verdi-Bariton, klingt unstet, im Vibrato manchmal holprig, auch nicht elegisch abgetönt.

"Als Zeugen rufe ich euch - hier habe ich sie bezahlt!" Jussi Myllys (Alfredo) und Brigitta Kele (Violetta). Foto: Hans Jörg Michel

„Als Zeugen rufe ich euch – hier habe ich sie bezahlt!“ Jussi Myllys (Alfredo) und Brigitta Kele (Violetta). Foto: Hans Jörg Michel

Der Alfredo des Abends, der Finne Jussi Myllys, kämpft sich durch die Partie, dass man Erbarmen haben möchte. Schon im ersten Duett mit Violetta wird der dünne, jammernde Klang seines Tenors abgeschlagen. In „De‘ miei bollenti spriti“ zu Beginn des zweiten Akts zwingt er die Phrasen vergeblich auf den Atem, verliert an den heiklen hohen Stellen den Kontakt mit der Stütze und bildet fragil-heisere Töne. Für Verdi hat diese Stimme keine Fülle, keinen Kern, keine expansive Kraft und keine Reserve – von Farben oder stilistischen Finessen ganz zu schweigen. Wer ist für eine solche Besetzung verantwortlich?

Und Brigitta Kele ist vor allem eine Besetzung für’s Auge. Eine glanzvolle Erscheinung, wie sie im Vorspiel schlank, hochgewachsen und schön, in der edlen weißen Robe der Kostümbildnerin Gabriele Jaenecke alleine mit ihren Juwelen auf der Bühne wartet. Nervosität beim Debüt in einer so prominenten Rolle ist natürlich; so muss nicht jeder Ton auf der Goldwaage gewichtet werden. Aber wenn in der großen Szene „È strano ….“ die Stimme immer wieder nach hinten rutscht, wenn die Koloraturen mit aufgerissener, gerade noch erreichter Höhe unschön erzwungen werden, die Töne merklich gezwungen klingen, muss doch ein Fragezeichen gesetzt werden.

Der zweite und dritte Akt kommen Kele merklich entgegen; im Duett mit dem fordernd, fast aggressiv auftretenden Germont kann sie mit damenhafter Noblesse, aber auch todesbewusster Resignation überzeugen. Nur wenn sie im dritten Akt immer wieder gaumige Töne produziert, zeigt sich, dass an der Partie technisch noch einiges zu arbeiten wäre. Vom Chor der Deutschen Oper am Rhein hört man zuverlässige Solidität, von den Duisburger Philharmonikern viel Willen zur Gestaltung und zur Formung expressiver Details, aber auch unschön schrille Violinen und grob-lautstarke Momente.

Lukas Beikircher sucht nicht nur die ätherische Schönheit der Verdi’schen Kantilenen und die sanfte Pianissimo-Verzauberung, sondern will die Musik am dramatischen Geschehen orientieren und folgt damit Verdis Intentionen. Das Legato bekommt bei ihm Gewicht, die Phrasierung wird beredt. Das Tempo unterstreicht die untergründige Spannung, das Getriebensein der Menschen auf der Bühne. Auch wenn der Dirigent damit manchmal den großen Bogen opfert: sein Konzept hat gute Argumente für sich. Das alles ändert nichts daran, dass diese „Traviata“ als Beitrag zum Verdi-Gedenkjahr und als Ergänzung des Rheinopern-Repertoires verzichtbar ist.




Flügellahmer Firlefanz: Rossinis „Italienerin“ landet in Gelsenkirchen im Regenwald

Ab nach Hause: Die Italiener haben die Nase voll vom Dschungel (Foto: Pedro Malinowski)

Ab nach Hause: Die Italiener haben die Nase voll vom Dschungel (Foto: Pedro Malinowski)

Die Stärken von Gioacchino Rossinis komischen Opern verkehren sich im heutigen Theaterbetrieb leicht in ihr Gegenteil. Wo der erfindungsreiche Bonvivant aus Pesaro einst mühelos unterhielt, wo er mit geschliffener Ironie und funkelnder Spottlust zu Felde zog, holpern und stolpern Neuproduktionen oft mühsam zwischen lahmen Gags, derben Schenkelklopfern und platten Aktualisierungsversuchen. Dann wird aus turbulenter Komik eine bunte Klamotte, aus geistreichem Vergnügen eine alberne Farce.

So ist es jetzt im Gelsenkirchener Musiktheater geschehen, das für die temporeiche Komödie „Die Italienerin in Algier“ eines der aufwändigsten Bühnenbilder hat aufbauen lassen, die es je an diesem Hause gab. Der zerborstene Flugzeugrumpf, dessen Teile in einem dichten Regenwald liegen, wanderte nach seiner Premiere im französischen Nancy in vielen Einzelteilen ins Ruhrgebiet. Seit dem Sommer wurde er hier zusammengesetzt und mit diversen Konstrukten aus Bambus umbaut. Denn Isabella und ihr Lindoro versuchen nicht aus Algier zu fliehen, sondern von einer fiktiven Südseeinsel, deren einfältiger Regent namens Mustafà sich häuslich in dem aufgerissenen Flieger eingerichtet hat.

Ein spektakulärer Anblick ist dies, verwirklicht durch den MiR-Bühnenbildner Rifail Ajdarpasic. Und doch hat er der Regie einen Bärendienst erwiesen, denn das tonnenschwere Wrack erdrückt die gesamte Produktion. Regisseur David Hermann, der Helmut Lachenmanns „Mädchen mit den Schwefelhölzern“ an der Deutschen Oper Berlin eindrucksvoll in Szene setzte, bleibt in Gelsenkirchen kein Raum für Feingeistiges – und schon gar nicht für Eleganz. Ohne sie schmeckt aber selbst ein jugendlicher Geniestreich wie die „Italienerin“ eher nach Hausmannskost als nach Trüffelleber.

Quintett im Flugsessel: Carola Guber, Hongjae Lim, Alfia Kamalova, Krzysztof Borysiewicz und Piotr Prochera (v.l., Foto: Pedro Malinowski)

Quintett im Flugsessel: Carola Guber, Hongjae Lim, Alfia Kamalova, Krzysztof Borysiewicz und Piotr Prochera (v.l., Foto: Pedro Malinowski)

Beim Zusammenprall der Kulturen geht es absehbar derb zu: Die einen haben dem Kannibalismus noch nicht ganz abgeschworen, die anderen saufen die Bordbar leer, bevor sie zu Rossinis vorwärts treibenden Crescendo-Walzen das Tanzbein schwingen. Die Kostümabteilung zieht alles aus dem Fundus, was nicht niet- und nagelfest ist: Südseemasken, Federfummel, Seiden-Saris, Uniformen, Muschelketten, Goldschmuck, Orden, Sonnenbrillen, Macheten und vieles mehr. Um Mustafà zu betören und schließlich zu übertölpeln, muss Carola Guber (Isabella) fortwährend Schultern und Hüften schwingen, obgleich ihre Statur mehr einer Brünnhilde zuneigt als einer Salomé. Immerhin bietet das Finale des ersten Aktes einen Moment köstlich überdrehten Unsinns. Da reicht ein Statist Kühlelemente von Bord, damit die Köpfe des völlig verwirrten Sextetts nicht gänzlich überhitzen.

Gesungen wird ansprechend, wenngleich nicht brillant. Isabella Guber ist koloratursicher und behält die Fäden sicher in der Hand. Piotr Prochera vereint als Taddeo sonore Stimmqualitäten mit südländischer Quirligkeit. Alfia Kamalova (Elvira) und Anke Sieloff (Zulma) sind verlässliche Partner. Als Lindoro überrascht Hongjae Lim immer wieder mit Bögen voller Belcanto-Schmelz und Strahlkraft. Einzig der Bass von Krzysztof Borysiewicz zeigt bei der Premiere wenig Kern: Sein Mustafà bleibt ein blasser Tölpel, der sein Macho-Gehabe stimmlich nicht untermauern kann. Der Finne Valtteri Rauhalammi, seit August 2012 erster Kapellmeister des Hauses, dirigiert einen heiteren Rossini, der zuweilen recht brav und kultiviert klingt. Mancher mag da anarchischen Witz vermissen; andererseits verzichtet Rauhalammi auf krachende Effekte.

Für ihre Flucht bekommen die Italiener den flügellahmen Vogel am Ende angeblich wieder flott. Schade, dass wir davon nicht ein bisschen mehr bemerkt haben.

(Der Bericht ist zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen. Informationen: www.musiktheater-im-revier.de)




Stahlgewitter der Stimmen: Giuseppe Verdis „Don Carlo“ am Theater Dortmund

Susanne Braunsteffer als Elisabeth von Valois (Foto: Thomas M. Jauk, Stage Picture)

Susanne Braunsteffer als Elisabeth von Valois (Foto: Thomas M. Jauk, Stage Picture)

Zwei Männer versichern einander ewige Freundschaft: Don Carlo, Infant von Spanien, und der Marquis von Posa, ein Freigeist und Schwärmer, der Flandern vom Joch der spanischen Herrschaft befreien möchte. Ihr Schwur hat Giuseppe Verdi zu einem seiner hinreißendsten Duette inspiriert. Kernig im Ton, kraftvoll im Schwung und glühend in der Emphase, haftet es schon nach dem ersten Hören für immer in Herz und Sinn.

Hier aber, im Theater Dortmund, setzt jetzt das Stahlgewitter der Stimmen ein. Angeführt vom frankokanadischen Tenor Luc Robert, der in der Titelpartie sein Deutschland-Debüt gibt, schaukelt sich die vom Nationaltheater Mannheim übernommene Premiere zu einem Wettstreit der Phonstärken hoch. Luc Robert (Carlos) und Gerardo Garciacano (Posa) legen gleich zu Beginn derart los, dass von den Dortmunder Philharmonikern kaum noch etwas zu hören ist.

Robert schmettert mit heldischer Kraft, setzt bei monochromer Stimmfarbe auf die Demonstration müheloser Lautstärken, was bei einer Vorstellungsdauer von dreieinhalb Stunden ermüdet. Garciacano bietet als Posa wärmere Farben, gerät aber gleichfalls in den Sog, dem sich an diesem Abend kaum einer entziehen kann. Wen Wei Zhang als glückloser Monarch Philipp II, Christian Sist als blinder Großinquisitor, die von Granville Walker gewohnt gut einstudierten Chöre: Alle hauen raus, was die Lunge nur her gibt. Ein tragischer Total-Ausfall ist die Prinzessin Eboli von Katharina Peetz. Es grenzt an Verantwortungslosigkeit, eine Sängerin auf die Bühne zu schicken, die mit ihrer Rolle so massiv überfordert ist.

Mäßigend auf die Fortissimo-Exzesse einzuwirken, wäre die Aufgabe von Dirigent Gabriel Feltz gewesen. Doch statt dimmender Gesten sehen wir von Dortmunds neuem GMD vor allem den Zeigefinger, der jedes noch so kleine Detail bestimmen will. Derart ins Korsett der Struktur eingeschnürt, kann die Musik nicht atmen. Wo Verdi einen düsteren Schicksalston anschlägt, wo das Drama der Akteure in brennende Dringlichkeit gipfelt und die Musik vor mühsam unterdrückten Gefühlen glüht, tönt uns technokratische Kälte entgegen. Der Eifer des Richtigmachens ist der Kunst abträglich.

"Sire, geben Sie Gedankenfreiheit!": Marquis Posa (Gerardo Garciacano) bekniet Philipp II. (Wen Wei Zhang. Foto: Thomas M. Jauk, Stage Picture)

„Sire, geben Sie Gedankenfreiheit!“: Marquis Posa (Gerardo Garciacano) bekniet Philipp II. (Wen Wei Zhang. Foto: Thomas M. Jauk, Stage Picture)

Die Bühne von Mathis Neidhardt zeigt uns klassizistisch-imperiale Fassaden, deren Rückseite die Seelenlosigkeit einer bürokratischen Tyrannei zitiert. Die Kostüme (ebenfalls Mathis Neidhardt) mäandern durch die Zeitzonen, als wollten sie uns daran erinnern, dass auf Unterdrückung basierende Herrschaftssysteme auf keine Epoche der Geschichte beschränkt sind. Die Damen der Prinzessin Eboli wirken mit ihren Hochsteck-Frisuren wie gut situierte Hausfrauen der 60er Jahre. Sie planschen bei einer geselligen Cocktailparty am Plastikpool, während sich die Eboli bei ihrem maurischen Lied wollüstig in den Schritt fassen lässt. Soldaten tragen moderne Uniformen und Maschinengewehre, Posa sieht aus wie ein Handelsreisender in Sachen Freiheitskampf. Carlos, König und Königin hingegen sind prachtvoll historisch gewandet.

Von der Regie Jens-Daniel Herzogs gibt es leider nicht viel zu berichten. Dortmunds Intendant zitiert bekannte Bilder von langen Trauerzügen, mit denen das Volk pflichtschuldig am aufgebahrten Sarg des Herrschers Abschied nimmt: in diesem Fall von Philipps Vorgänger Karl V. Das Autodafé deutet er in einen quasi stalinistischen Selbstreinigungsprozess um, vergibt die mahnende Stimme aus dem Jenseits an den toten Marquis Posa und lässt ansonsten ausgiebig an der Rampe singen.

So klammern wir uns an den einsamen Monarchen Philipp, dem Wen Wei Zhang zwischen eisernem Machtanspruch und verzweifelter Liebessehnsucht Kontur und Stimme gibt. Lichtblicke gönnt uns auch Elisabeth von Valois, achtbar gesungen von Susanne Braunsteffer, deren hochgesteckte, mit Perlen geschmückte rote Haartracht freilich mehr an die Tudor-Königin erinnert als an die Lilie von Frankreich. Zwar schafft die Sängerin es bei eher kalt gleißenden Höhen nicht, die Königin zur großen Schmerzensgestalt zu formen, lässt uns aber wenigstens ahnen, welche Majestät sich diese große Frau bewahrt – selbst noch im äußersten Verzicht.

(Der Text ist zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen. Informationen: www.theaterdo.de)




Seltenes zum Verdi-Jahr: Fesselnder „Stiffelio“ in Krefeld-Mönchengladbach

Für einen Augenblick sieht es so aus, als würde er es schaffen, der Papierflieger. Aber dann schmiert er jämmerlich ab. Ein schüchternes Zeichen von Hoffnung stürzt. In der Gesellschaft, in der Lina und Raffaele versuchen, zueinander zu kommen, haben ihre Träume keine Chance. Helen Malkowsky exponiert ihre Version der Verdi-Oper „Stiffelio“ mit diesem Verweis auf eine unlebbare Vision. Sie endet im grellen Licht der Hoffnungslosigkeit.

Schuld und Rache: Izabela Matula (Lina) und Michael Wade Lee (Stiffelio) in Verdis gleichnamiger Oper am Theater Krefeld-Mönchengladbach. Foto: Matthias Stutte

Schuld und Rache: Izabela Matula (Lina) und Michael Wade Lee (Stiffelio) in Verdis gleichnamiger Oper am Theater Krefeld-Mönchengladbach. Foto: Matthias Stutte

Zum Verdi-Jahr 2013 entschied sich das Theater Krefeld-Mönchengladbach gegen den üblichen Reigen aus Rigoletto – Traviata – Troubadour und setzte Verdis bedeutende, aber kaum bekannte Oper „Stiffelio“ auf den Spielplan. Eine Maßnahme, die dem Theater am Niederrhein ähnlich viel Aufmerksamkeit garantiert wie im Frühjahr ein neuer szenischer „Rienzi“ zum Wagner-Jubiläum. Mit Recht, denn unter den deutschen Musiktheatern hält sich die Spielplan-Kreativität in Sachen Verdi sehr in Grenzen.

Das 1850 entstandene Werk ist in mehrfacher Hinsicht ein Sonderfall. Schon die Uraufführung in Triest war von massiven Problemen überschattet. Eine protestantische Sekte, ein verheirateter Pastor, eine Predigt und eine Beichte auf offener Szene waren für die Zensur inakzeptabel. Von den wenigen Inszenierungen ging nur eine – 1852 im liberalen Venedig – in der ursprünglich vorgesehenen Form über die Bühne. Verdi zog das Werk zurück und verarbeitete die Musik in seiner heute ebenfalls unbekannten Kreuzfahrer-Oper „Aroldo“. Die Mittelalter-Camouflage diente dazu, die Zensur kaltzustellen.

Eine Rarität trotz unverkennbarer Qualitäten

„Stiffelio“ war verschollen und wurde erst 1968 Jahren wieder entdeckt. In Köln gab es 1972 einen ersten Versuch in Deutschland, sich der Oper zu nähern. Doch erst als 1993 eine kritische Edition auf der Basis der in Verdis Villa S. Agata aufbewahrten Autographteile vorlag, waren gültige Inszenierungen von „Stiffelio“ möglich. Auf die deutsche Opern-Szene hatte das keinen Einfluss. Trotz seiner unverkennbaren Qualitäten bliebt „Stiffelio“ eine Rarität. Man arbeitet sich lieber zum hundertsten Mal am unmittelbar danach entstandenen „Rigoletto“ ab.

Beide Werke haben in der Tat einiges gemeinsam: Verdi rückt einen unkonventionellen Helden ins Zentrum; die Liebesgeschichte tritt in ihrer dramatischen Brisanz zurück. Verdi sah, das hat er später noch deutlich angemerkt, im „Stiffelio“ einen der neuen, leidenschaftlichen Stoffe, die er sich so sehnlich gewünscht hatte. Das Libretto Francesco Maria Piaves – Grundlage ist ein allerdings kaum mehr erkennbares französisches Boulevardstück – inspirierte ihn zu frei angelegten Szenen, zu einer subtilen musikalischen Charakterisierung zu diffizilen instrumentalen Details, aber auch zum Vermeiden gassenhauerischer Melodiebildung – aus Sicht der Rezeptionsgeschichte zweifellos ein Hindernis.

Was gilt Gottes Wort wirklich? Lina (Izabela Matula), Stiffelio (Michael Wade Lee) und Stankar (Johannes Schwärsky) in Verdis "Stiffelio". Foto: Matthias Stutte

Was gilt Gottes Wort wirklich? Lina (Izabela Matula), Stiffelio (Michael Wade Lee) und Stankar (Johannes Schwärsky) in Verdis „Stiffelio“. Foto: Matthias Stutte

„Stiffelio“ ist zweifellos Verdis „theologischste“ Oper – und ein Unikum unter den zeitgenössischen Werken. Die Titelfigur, ein protestantischer Pastor mit einer Frau an seiner Seite, war für das italienische Publikum ebenso exotisch wie ein Libretto, das die Fragen nach Schuld und Versöhnung, nach authentischer Liebe und ehelicher Treue im Kontext des Evangeliums stellt. Doch was damals befremdlich wirkte, könnte heute eine Chance sein. Denn „Stiffelio“ gibt uns nicht nur einen tiefen Einblick in die Religionsgeschichte des 19. Jahrhunderts, sondern lässt auch gewisse Schlüsse auf Verdis eigene Religiosität und seine Stellung zum Christentum zu. Und trotz der philosophischen Fragen agieren auf der Bühne, wie immer bei Verdi, lebendige, leidenschaftliche Menschen aus Fleisch und Blut.

Die Vaterfigur spielt eine entscheidende Rolle

Es mag sein, dass die Story von der evangelischen Pfarrersfrau Lina, die während der langen Abwesenheit ihres Gatten dem Werben eines jungen Mannes nachgibt, Verdi besonders berührt hat: Er lebte jahrelang mit seiner späteren Frau Giuseppina Strepponi zusammen, ohne verheiratet zu sein, und hat die moralische Missbilligung in seiner Heimat schmerzlich erfahren. In Verdis Oper werden aber auch zentrale ethische Themen verhandelt: Es geht um „Reinheit“, um „Ehre“, um Rache.

Wie in vielen Verdi-Opern, auch im „Rigoletto“, spielt eine Vaterfigur eine entscheidende Rolle: Der alte Stankar, Linas Vater, ist ein Offizier (man denke an den Vater Luisa Millers), dem die Ehre über alles geht. Mit allen Mitteln versucht er, den Ehebruch seiner Tochter zu kaschieren. Der Patriarch wütet im Namen der Ehre gegen jede barmherzige Lösung, kennt nur eine Konsequenz: die Rache, die er schließlich mörderisch an Linas Verführer Raffaele vollzieht. Der wiederum ist einer der schwachen Verdi’schen Liebhaber, eine Person ohne Profil. Lina dagegen tritt uns als starke Frau entgegen, die nicht bereit ist, sich vom Druck der Gesellschaft und der Männer um sie herum entwürdigen zu lassen. Sie ist sich ihrer Schuld bewusst und verleugnet sie nicht, steht aber dazu, eine „Sünderin“ zu sein.

Zahn um Zahn – oder Barmherzigkeit und Vergebung

Der zerrissene Held, Stiffelio: ein von seiner Mission durchdrungener Prediger und Seelsorger, aber auch ein eifersüchtiger Ehemann. Herausgefordert von der versöhnlichen Botschaft des Evangeliums und der barmherzigen Gestalt Jesu, aber auch erfüllt von rasender Rachgier. Das Programmheft hat den Konflikt auf den Punkt gebracht: Alttestamentliche Vorstellungen von Vergeltung („Zahn um Zahn“), die Verdi in der Institution und der unerbittlichen Morallehre der Kirche seiner Zeit erkannt haben mag – stehen der neutestamentlichen Botschaft des Verzeihens und der Barmherzigkeit gegenüber. In Stiffelios Bekehrung im Finale der Oper mag sich Verdis eigene Glaubenssehnsucht wiedergefunden haben: Heilung statt Rigorismus. Stiffelio schlägt das Johannes-Evangelium auf und liest die Stelle, in der Jesus der Ehebrecherin vergibt: „Wer ohne Schuld ist, werfe den ersten Stein.“

Düstere Gesellschaft vor trügerischer Alpen-Idylle im Bühnenbild Hartmut Schörghofers in Verdis "Stiffelio". Foto: Matthias Stutte

Düstere Gesellschaft vor trügerischer Alpen-Idylle im Bühnenbild Hartmut Schörghofers in Verdis „Stiffelio“. Foto: Matthias Stutte

Helen Malkowksy zeigt in ihrer Inszenierung eine Gesellschaft, die in ihren Tugendbegriffen gefangen ist wie in den bühnenhohen Mauern von Hartmut Schörghofer. Die Rituale – als Chiffren dienen Tücher – wirken entleert. Immer wieder geht die Gemeinde – der Chor ist von Ursula Stigloher bestens präpariert – wie in einer Front auf Konfrontation; sie distanziert sich, sie grenzt aus. Lina im spießig adretten blauen Kleidchen ist verdammt zur Existenz eines „Blaustrumpfs“: demütig sollen solche Frauen sein, sich unterordnen, keine eigenen Wünsche verfolgen. Izabela Matula gibt der von Schuldkomplexen schwer beladenen Frau, die es sich nicht nehmen lässt, zu sich selbst zu stehen, ein gesanglich bewegendes Profil, dem auch die bisweilen schrillen und engen Töne nichts nehmen.

Der äußere Schein zählt

Eine fesselnde Studie eines zwischen seinen patriarchalistischen Blockaden und seiner inneren Traumatisierung zerriebenen Charakters bietet Johannes Schwärsky als Oberst Stankar. Schwärsky setzt einen machtvollen, aber nicht immer gut fokussierten Bass ein. Mit bewegender Intensität bewältigt er sein Solo zu Beginn des dritten Akts, das man zu den großen psychologisch durchdrungenen und musikalisch avancierten Szenen Verdis zählen darf.

Stankars verkrüppelte linke Hand steht als Zeichen für seinen deformierten Charakter: Er ist der Repräsentant einer Gesellschaft, für die der äußere Schein alles zählt, in der die dunklen Seiten unter den Tisch gekehrt werden: Die Leiche des im rächenden Rausch erstochenen Raffaele wird hastig unter dem Altartisch versteckt; Stankar zieht noch das Tuch ordentlich gerade. An dem Alten lässt sich vielleicht auch ablesen, auf welche Weise Verdi Exponenten des katholischen Glaubens erfahren hat: Unter der Kruste einer nur selektiv akzeptierten christlichen Ethik brodeln atavistische Leidenschaften.

Auch Stiffelio ist von diesen Impulsen geschüttelt: Eben noch von Güte und Nachsicht durchdrungen, packt ihn das Begehren nach Rache, als er erfährt, wer der Verführer seiner Frau ist. Erst der Gesang der Gemeinde aus der Ferne – wie eine innere Eingebung wirkend – bringt ihn zur Besinnung. Michael Wade Lee kann in diesem Moment klar machen, wie schwer es Stiffelio fällt, dem Vorbild des vom Kreuz herab noch verzeihenden Jesus zu folgen. Die Figur macht klar, dass Verdi der Anspruch ehrlich gelebten Christentums bewusst ist, wie er ihn selbst als Maßstab in seinem Urteil anlegt. Nicht durchgehend hat Michael Wade Lee so eindrucksvolle Momente als Sänger und Darsteller: Gerne neigt er dazu, seine kraftvolle Stimme auszustellen, statt sich der Palette der von Verdi vorgegebenen psychologischen Grundierungen zu stellen. Michael Siemon als Raffaele bewegt sich klug im Bereich des Lyrischen; Hayk Dèinyan als Gemeindevorsteher Jorg scheint am Premierenabend nicht gesund gewesen zu sein: Er überzeugt als Darsteller, aber seine wenigen Sätze klingen heiser.

Wie stets klug konzipierend, gelingt es der Regisseurin Helen Malkowksy, die philosophisch-theologischen Fragen mit psychologisch glaubwürdigen, auch im Detail überzeugend gestalteten Personen zu verbinden. Sie will sich der verzeihenden Predigt Stiffelios nicht als Happy End nähern: Ob die Botschaft auf fruchtbaren Boden fällt, bleibt offen. Stiffelio will nicht nur Verzeihen, sondern auch Wahrheit: Während des Gottesdienstes wird das Licht entlarvend hell; schließlich reißt Stiffelio selbst das Altartuch vom Tisch und lässt der schockierten Menge die Leiche Raffaeles sehen. Und im Hintergrund leuchtet kalt und weiß ein Gitter aus Leuchtröhren auf: Werden sich die Menschen aus ihren inneren Gefängnissen befreien?

Mit Mihkel Kütson hat Verdi einen Anwalt am Pult der Niederrheinischen Sinfoniker, der auf differenzierende Detailarbeit Wert legt. Verdi hat den Bläsern viele dankbare charakterisierende Aufgaben gestellt, denen sich die Solisten im Theater in Rheydt gewachsen zeigen. Aber er fordert auch von den Streichern ein Höchstmaß an aufmerksamer Arbeit am expressiven Moment. Dem stellen sich die Sinfoniker anfangs noch etwas wackelig, später mit beträchtlichem Erfolg. Wieder einmal hat das Theater Krefeld-Mönchengladbach unter seinem Generalintendanten Michael Grosse gezeigt, wie anspruchsvolle Theaterarbeit abseits der Aufmerksamkeit heischenden Zentren aussieht. Gut, dass es solche Häuser gibt!




Gala zu 25 Jahren Aalto-Theater: Norbert Lammerts Plädoyer für die Oper

Wird 25 Jahre: Das Essener Aalto-Theater. Foto: Werner Häußner

Wird 25 Jahre alt: Das Essener Aalto-Theater. Foto: Werner Häußner

„Wacht auf“! Der Chor aus Richard Wagners „Meistersinger von Nürnberg“ hätte durchaus an den Schluss der Rede von Norbert Lammert gepasst. Nicht, weil dieser Appell an die Zuhörer bei der Gala zum 25-jährigen Bestehen des Essener Aalto-Theaters nötig gewesen wäre: Der Bundestagspräsident hielt sein Publikum gekonnt bei der Stange. Sondern weil sein leidenschaftliches, argumentativ brillantes Plädoyer für die Oper endlich einmal zum Aufwachen führen sollte.

Zum Aufwachen bei seinen Kolleginnen und Kollegen in der Kulturpolitik, die dem Musiktheater seit Jahren eine Krise nach der anderen einbrocken. Davon war bei der festlichen Gala im Aalto-Theater nichts zu hören. Verständlich: Man feiert zu Recht das Bestehende, freut sich am Gegebenen. Es muss nicht Krisen-Geraune über jedem Anlass zur Freude liegen.

Essen: Das Aalto-Theater. Foto: Häußner

Einer der schönsten Theaterbauten Europas: Das Aalto-Theater. Foto: Häußner

Und ein Grund zum Feiern ist das Jubiläum in der Tat: Essen besitzt mit dem Bau des finnischen Architekten einen der schönsten Theaterbauten Europas, wenn nicht sogar weltweit. Das betonte Oberbürgermeister Reinhard Paß zu Recht. Wohl kaum ein Essener Bürger wird vergessen, neben der Zeche Zollverein „das Aalto“ als kulturellen Leuchtpunkt der Stadt zu nennen. Die Festschrift zum Jubiläum, nach der Veranstaltung kostenlos verteilt, lässt zwischen blau-silbernen Buchdeckeln 25 Jahre Erfolgsgeschichte Revue passieren: Von der Eröffnungspremiere – natürlich „Die Meistersinger von Nürnberg“ – über die damals provokante erste von 18 Regiearbeiten Dietrich Hilsdorfs („Don Carlos“) bis hin zum Abschied von Stefan Soltesz mit Joachim Schlömers verstiegenem „Parsifal“.

Das Aalto hatte in diesen 25 Jahren drei Intendanten, drei Generalmusikdirektoren, drei Chordirektoren, drei Ballettchefs und drei Geschäftsführer: ein Zeichen von Solidität und kontinuierlicher Arbeit. Das Niveau in diesen Jahren ist unbestritten; die Auszeichnung „Opernhaus des Jahres“ 2008 ist nur ein Zeichen dafür, wie sehr das Aalto-Theater als eine der führenden deutschen Bühnen geschätzt wird.

Auch Nordrhein-Westfalen ist Theater-Krisenland

Aber: Man muss nicht nach Sachsen-Anhalt blicken, wo gerade eine von allen guten Geistern verlassene Landesregierung die Theaterlandschaft irreparabel zu schädigen plant und die Zukunftsinvestitionen Bildung und Kultur zusammenstreichen will. Auch Nordrhein-Westfalen ist ein Theater-Krisenland; da mögen sich die Kulturhauptstadt-Nachklänge noch so sirenenhaft entfalten: Die Kölner Opernkrise ist nach dem peinlichen Spiel um die Intendanz Uwe-Eric Laufenbergs mühevoll auf einem Niveau abgewendet, auf dem künstlerische Wagnisse kaum mehr finanzierbar sind. Die Oper Bonn muss unter ihrem neuen Intendanten Bernhard Helmich mit drei Millionen Euro weniger auskommen.

An der Deutschen Oper am Rhein herrscht Ruhe, so lange, bis die nächste Krisenrunde in Duisburg ansteht. In Gelsenkirchen wird in dem wunderbaren Bau von Werner Ruhnau dank des ungebrochenen Willens zur Kultur noch produktives Musiktheater gespielt – allerdings im Vergleich zu früher mit einem Rumpfprogramm, das zu unterschreiten seriös nicht mehr möglich ist. Hagen kämpft verzweifelt ums Überleben – und das schon seit Jahren.

Und in Wuppertal ist die – von politischer Seite sogar als mutig bezeichnete – Schließung des Schauspielhauses bittere Realität: Die Schauspieltruppe ist auf einen Zehn-Personen-Rest geschrumpft und auch die Oper wird unter ihrem neuen Intendanten Toshiyuki Kamioka, dem bisherigen Chefdirigent der Wuppertaler Sinfoniker, auf ein Niveau gekürzt, auf dem vielleicht noch ein Betrieb, aber kaum mehr künstlerische Herausforderungen bewältigt werden können.

Wuppertal steht exemplarisch für ein weithin beobachtbares Phänomen, das innere Aushöhlen kultureller Einrichtungen. Das liegt ja auch in Essen nicht fern: Auch das Aalto-Theater litt unter Kürzungsrunden. Ein Haus dieser Größe müsste sich eigentlich mehr als fünf Opernpremieren pro Spielzeit leisten können, von der fast verschwundenen Operette ganz zu schweigen. Aber das wagt kaum jemand mehr zu sagen – es könnte ja als undankbar gelten: Seien wir froh, dass wir noch so gut dastehen. Und wer weiß, wann die Theater und Philharmonie Essen (TuP) angesichts des Wetterleuchtens für den Essener Haushalt 2014 erneut mit dem falschen, aber dennoch wirksamen Totschlagargument konfrontiert wird, dass in Krisenzeiten „alle“ sparen müssten.

Harte Argumente für die Oper

Aufwachen also! Aber wie? Für die von Nothaushalten gebeutelten Städte, denen vor allem der Bund viele Kosten aufgebürdet, aber keine Entlastungen gewährt hat, ist diese Frage kaum zu lösen. Norbert Lammert ist als Bundestagspräsident weit weg von der kommunalen Kleinarbeit, aber nahe dran an denen, die große Linien vorgeben. Die Situation drängt nach der Frage: Wann kommt der Rettungsschirm für die Kultur? Die Kommunen alleine sind längst überfordert.

Gala zum 25jährigen Bestehen des Aalto-Theaters Essen: Norbert Lammert tritt für die Oper ein. Foto: Matthias Jung

Gala zum 25jährigen Bestehen des Aalto-Theaters Essen: Norbert Lammert tritt für die Oper ein. Foto: Matthias Jung

Norbert Lammert hat sein Eintreten für die Oper mit harten Argumenten untermauert: Die Kunst- und Kulturlandschaft gehört zu den Pfunden, mit denen das Ruhrgebiet wuchern kann. „Die Ausgaben für Kunst und Kultur fließen mit bemerkenswerter Präzision in die heimische Wirtschaft zurück“, fasste er das Ergebnis vieler Studien der letzten Jahrzehnte zusammen. Es sind also nicht allein schöngeistige Argumente, die für die Oper sprechen. Die werden zwar höchstens von Kämpfern gegen die „elitäre“ Kultur angezweifelt – wie jüngst in Bonn u.a. von den „Piraten“ –, aber angesichts von Haushaltszwängen und Verteilungskämpfen dennoch gerne in die zweite Reihe abgeschoben.

Lammert wusste auch solchen Einwänden überzeugend zu kontern: Wer die angeblich elitäre Hochkultur nicht ausreichend öffentlich fördert, „verschärft den sozialen Ausschluss hochinteressierter, in der Regel aber nicht hochverdienender Kunstfreunde“. Und weiter: „Wer Kulturausgaben kürzt, gefährdet nicht Salzburg, sondern Hagen und Gelsenkirchen.“ Dafür war ihm der Beifall des Auditoriums sicher.

Kein Haushalt wird durch Kultur-Kürzungen solider

Auch was Lammert zu den finanziellen Belastungen durch Kulturausgaben erwähnte, ist längst bekannt, wird aber in den Debatten regelmäßig verdrängt: Zehn Milliarden jährlich geben Bund, Länder und Gemeinden jährlich für Kunst und Kulturförderung aus. Eine Menge Geld, aber gänzlich ungeeignet, um Haushalte zu konsolidieren. Der Anteil an den Gesamtausgaben liegt nämlich bei lediglich 1,7 Prozent – zu gering, um selbst bei drastischem Kürzen messbare Ergebnisse für öffentliche Haushalte zu erbringen. Für die Kultur dagegen ist die Bedeutung dieser Ausgaben immens – und man muss dazu ergänzen: lebensnotwendig. Lammert räumte auch mit der Sage auf, die staatliche Finanzierung könnte durch privates Sponsoring ersetzt werden: Gerade einmal ein Prozent der Theaterfinanzierung kommt aus privaten Mitteln – und die fließen meist in prestigeträchtige Projekte.

Für die Theater und Orchester in Deutschland mit ihrer beeindruckenden Bilanz – 35 Millionen Besucher jährlich, 105.000 Theateraufführungen, 84 Musiktheater mit mehr als 9.300 künstlerische Beschäftigten und 6.000 Opernaufführungen jährlich – werden gerade einmal 0,2 Prozent der öffentlichen Ausgaben aufgewendet. „Das müssen wir uns leisten, wenigstens dann, wenn wir eine Kulturnation bleiben wollen.“ Es wäre zu wünschen, dass – um bei Wagners „Meistersingern“ zu bleiben – Lammerts „Stimm‘ durchdringet Berg und Tal“, auf dass in der Welt der Kultur „die rotbrünstige Morgenröt‘ her durch die trüben Wolken geht“. Schade, würden diese Worte bei den Tausenden wohlmeinender, aber folgenloser Sonntagsreden zur Kultur abgeheftet.

Großbürgerlich erhaben: Jubel mit Wagner

Hein Mulders, neuer Intendant. Foto: Matthias Jung

Hein Mulders, neuer Intendant. Foto: Matthias Jung

Dass der Rückblick auch mit Aufbruch verbunden ist, machte die Begrüßung durch den neuen Intendanten Hein Mulders deutlich: Spannendes Musiktheater und mitreißende Ballettabende versprach er für die Zukunft. Im künstlerischen Programm der Gala war davon noch nichts zu spüren. Früher hätte man für einen solchen Anlass unter Umständen eine neue Komposition in Auftrag gegeben; heute greift man auf Wagner zurück: Erhaben muss es sein, wenn großbürgerliche Weihe- und Jubelveranstaltungen zu untermalen sind. Dass der „Einzug der Gäste“ aus dem „Tannhäuser“ eine ziemlich verkniffene Gesellschaft schildert, wen kümmert’s? Es schmettert und marschiert so schön! Tomáš Netopil, der „Neue“ am Pult der Essener Philharmoniker, hat den Überblick und das Händchen fürs Rhythmische, kam mit Schwung und Präzision auf den Punkt, auch dank der kernigen Stimmen in Alexander Eberles Chor.

Der neue GMD Tomás Netopil mit den Essener Philharmonikern. Foto: Matthias Jung

Der neue GMD Tomás Netopil mit den Essener Philharmonikern. Foto: Matthias Jung

In „Wachet auf“ aus den „Meistersingern“ überzeugte der Aufbau der Dynamik. Doch an die „Walküre“ wird sich Netopil noch gewöhnen müssen: Fließend-transparenter Orchesterklang, aber ohne dramatische Gestaltung. Jeffrey Dowd, bewährtes „Urgestein“ im Aalto-Ensemble, sang einen lyrischen Siegmund; Anja Kampe holte sich als fein artikulierende Sieglinde herzlichen Beifall. Zum bunten Abschluss gab das Orchester Ben van Cauwenberghs „Bolèro“-Choreographie das strikte Gerüst. Auch das ein Zeichen: Im Ballett regiert die Kulinarik des Anstoßfreien, die smarte Verführung durch das Gängige. In diesem Sinne bewegten sich auch die Tänzer im fantastischen Bühnenbild Dmitrij Simkins. So wird es wohl bleiben, so lange Cauwenbergh alle die bedient, die nach der Aufführung vor allem „schön“ zu stöhnen belieben.

 

Die Festschrift. Foto: TuP

Die Festschrift. Foto: TuP

Anlässlich des 25-jährigen Jubiläums hat das Aalto-Theater eine Festschrift und einen Dokumentarfilm veröffentlicht. Buch und DVD sind ab sofort im TicketCenter der TUP sowie an den Kassen des Aalto-Theaters und der Philharmonie Essen erhältlich. Der Preis beträgt jeweils fünf Euro.

Die 224-seitige Festschrift lädt ein zu einer Reise in die Vergangenheit des Opernhauses. Sie bietet eine umfangreiche Rückschau auf alle im Aalto-Theater gezeigten Inszenierungen, dazu enthält das Buch unter anderem viele Szenenfotos, Kurzporträts der Intendanten und Geschäftsführer, die am Haus gewirkt haben. Die 35-minütige Dokumentation des amerikanischen Filmemachers Sam Shirakawa auf der DVD widmet sich – unter anderem anhand von Archivmaterial und Interviews – der Geschichte und der Architektur des Hauses, aber auch dem Alltag im Theater.




Expressive Eleganz: Neuer Essener GMD Netopil dirigiert in Dresden Halévys „Die Jüdin“

Tomás Netopil, der neue Chefdirigent der Essener Philharmoniker. Foto: TUP

Tomás Netopil, der neue Chefdirigent der Essener Philharmoniker. Foto: TUP

Jacques Fromental Halévys große historische Oper „Die Jüdin“ („La Juїve“) ist, was den Dirigenten betrifft, ein echtes „Chefstück“: Wer sich diesem Meilenstein der französischen Oper widmen will, muss einen untrüglichen Sinn für musikalische Kontraste mitbringen.

Halévy setzt das gesamte musikdramatische Arsenal seiner Zeit ein: Pompöse Aufmärsche, von denen Wagner profitierte („Rienzi“). Brillantes Koloraturfeuerwerk und verinnerlichte Lyrismen. Geradliniges Pathos und existenzielle Gebrochenheit. Halévy versteht das Handwerk des Musik-Magiers, kann satztechnisch dicht und mitreißend populistisch schreiben, kann in Melodie schwelgen oder mit exquisiten Harmonien frappieren.

Dresden: Halevys "La Juive": Der Tenor Ragon Gilles in der Rolle des Juden Eléazar. Foto Matthias Creutziger

Dresden: Halevys „La Juive“: Der Tenor Ragon Gilles in der Rolle des Juden Eléazar. Foto Matthias Creutziger

Für Tomáš Netopil war „Die Jüdin“ an der Sächsischen Staatsoper Dresden also keine leichte Fingerübung. Der neue Essener Generalmusikdirektor, der in diesen Wochen in der Philharmonie und am Aalto-Theater durchstartet, hatte im Juni die Premiere geleitet und stand jetzt in der Wiederaufnahme am Pult. Was ihm herzlichen Beifall, aber auch einige deutliche Buhs einbrachte. Netopils Zugang zur Musik des Franzosen jüdischer Herkunft mit familiären Wurzeln in Fürth in Bayern war hörbar nicht unumstritten.

Die Suche nach dem Grund für das Missfallen ist nicht einfach: Denn der Dirigent aus Tschechien hat nichts falsch gemacht. Zügig und elegant führte er die Sächsische Staatskapelle; tadellos signalisierte er Einsätze, trug er die Sänger mit, unterstützte er den prächtigen Chor der Semperoper. Zwischen den groß angelegten Szenen und der von Phrase zu Phrase changierenden Ausdruckswelt der Musik Halévys fand er die richtige Balance: Lektüre der Partitur mit Augenmaß, kein Verzetteln in reizvollen Details, aber auch kein großzügiges Übersehen charakteristischer Momente. Die Bläser des Orchesters klangen so, als fühlten sie sich mit dieser Leitung pudelwohl. Die Streicher zeigten nicht nur ihre gerühmte samtige Dunkelheit, sondern auch lichte Brillanz, geschmeidiges Reagieren auf die Wechsel der „Beleuchtung“ in der Musik.

Netopil ist ja mit 38 Jahren auch kein Newcomer mehr, sondern ein erfahrener Opern-Dirigent. In Prag, seiner bisherigen künstlerischen Heimat, hat er viel Mozart dirigiert: „Don Giovanni“, „Die Entführung aus dem Serail“, aber auch „Idomeneo“ und „La finta giardiniera“ („Die Gärtnerin aus Liebe“). In Dresden gastiert er bereits seit 2008, u. a. mit „Don Giovanni“ und „Le Nozze di Figaro“. Da hat man ihn nur zu gerne für eine neue „Rusalka“ geholt – ihn, der zu Hause nicht nur Janáčeks „Katja Kabanova“ dirigierte, sondern auch die im Westen zu Unrecht unbekannten Werke Dvořáks und Smetanas: „Jakobin“ oder „Libuše“. Und es gab in Antwerpen Camille Saint-Saëns „Samson et Dalila“ (2009) oder Offenbachs „Hoffmanns Erzählungen“ in Paris (2012) – und im Frühjahr, in Amsterdam, Prokofjews „Die Liebe zu den drei Orangen“.

Seit 2008 gastiert Netopil in Dresden an der Semperoper, einem Haus mit großer Tradition. Foto: Matthias Creutziger

Seit 2008 gastiert Netopil in Dresden an der Semperoper, einem Haus mit großer Tradition. Foto: Matthias Creutziger

Was fehlte also dem Dresdner Publikum? Der geliebte Christian Thielemann am Pult? Der wird wohl lieber bei seinen Leisten bleiben. Vielleicht war es Netopils relativ kühle Sicht auf das Werk, die zum Unmut führte: Sattfarbige Schwelgereien sind offenbar nicht sein „Ding“; auch hütet er sich, Halévy allzu nahe an die koloristische Pracht und die wehmütigen Legati der Italiener zu rücken. Bei aller differenzierten Kunst der musikalischen Charakterisierung: Halévy steht dem agilen Esprit eines Auber und dem marmornen Klassizismus seines Lehrers Cherubini näher als der Herzensglut Bellinis oder Donizettis. Netopil hat das berücksichtigt; ob es seine Kritiker so sehen, lassen die Dresdner Missfallenskundgebungen bezweifeln – so sie denn keine anderen als musikalische Gründe hatten.

Nach dieser beeindruckenden „La Juїve“ kann Essen mit doppelter Spannung die erste Premiere Netopils am Aalto-Theater erwarten: „Macbeth“ von Giuseppe Verdi am 19. Oktober.




Triennale: Eiskalte Spannung – Lachenmanns Oper „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“

Winkler

Angela Winkler als „Mädchen“ in eisigem Blau. Foto: Julian Mommert/Triennale

Unten die plane, rechteckige, weitgehend leere, öd und unwirtlich wirkende Spielfläche. Alles umringt von steil ansteigenden Zuschauerblöcken. Dahinter schließlich haben sich Chor und Orchester platziert. Gewissermaßen als musikalische Umzingelung. Sodass die Klänge uns mal auf den Pelz rücken, mal wie aus dem Nichts entstehen, uns drangsalieren und enervieren, aber auch aufs Schönste erregen und erheben. Helmut Lachenmanns „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern – Musik mit Bildern“ wird in einem Raum zelebriert, der bereits Teil des Interpretationskonzepts ist.

Dafür steht der amerikanische Regisseur Robert Wilson, der dieses Theaterkonstrukt als einen Operationssaal sieht. Wie passend: Denn die Geschichte vom armen Mädchen, das in der bitterkalten Neujahrsnacht keine Zündhölzchen verkaufen kann, sie anzündet, um sich für Augenblicke nur zu wärmen, das halluziniert und erfriert, wird gewissermaßen seziert, auf seelische Befindlichkeiten und körperliche Aggregatzustände hin untersucht. Mit einer überwiegend geräuschhaften Musik, die pendelt zwischen wahrhaft monströsem Suggestivklang und allerkleinstem Fragment.

Lachenmann hat dieses Märchen, das nicht zuletzt sozialkritische Züge trägt, um zwei Texte erweitert. Einer stammt von der RAF-Terroristin Gudrun Ensslin, ein ideologisch aufgeladenes Pamphlet gegen das „System“, in dem das Zündeln (!) als Akt des Widerstands gesehen wird. Der zweite Textzusatz ist das Höhlengleichnis Leonardo da Vincis, das einen Menschen beschreibt, der zwischen Angst und Neugier pendelnd darüber sinniert, ob er die Höhle betreten solle. Genau wie das Mädchen, schwankend zwischen Todesfurcht und Hoffnung auf ein besseres Jenseits.

Ein gutes Team: Regisseur Robert Wilson (li.) und Komponist Helmut Lachenmann. Foto: Lucie Jansch/Triennale

Ein gutes Team: Regisseur Robert Wilson (li.) und Komponist Helmut Lachenmann. Foto: Lucie Jansch/Triennale

Lachenmanns 1997 uraufgeführte „Oper“ steht im Zentrum der insgesamt sechs Wochen währenden Triennale, ragt wie ein fremder, wuchtiger, einsamer Monolith über alle bisherigen Festival-Produktionen hinaus. Weil Wilson zur Premiere in Bochums Jahrhunderthalle betörende Bilder findet: mit Hilfe von Licht, Farbe und den allseits bekannten knappen Gesten sowie mit zeitlupenhaften, in Erstarrung mündenden Bewegungen. Ganz im Dienste des Komponisten, der ja zuallererst das Zittern, Frieren und Verharren in Klänge gesetzt hat. Und dem es nicht darum zu tun war, ein Libretto linear musikalisch nachzuerzählen.

Das Mädchen, das ist Angela Winkler. Eine weißgewandete, angstvoll und stumm daherschleichende, fragile Ophelia, mit vom Eissturm gezausten Haaren. Deren stumpf blickende Augen zu leuchten beginnen, wenn sie staunend die Bilder einer besseren, warmen Welt imaginiert, die Wilson mit wenigen Requisiten und zauberhaften Licht-Spielen in Szene setzt. Winklers einziges Sprechen gilt dem erwähnten Höhlengleichnis. In expressiver, beinahe dadaistischer Manier wird der Text in seine Bestandteile, in Laute zerlegt, geht somit einher mit Lachenmanns Musik.

Anderes jedoch bleibt verrätselt: Steht doch Robert Wilson als Gestengeber oder Strippenzieher selbst auf der Bühne. So unterwirft er sich seiner eigenen Regie und leitet das Mädchen in doppeltem Sinne an. Als dessen Alter Ego, als Tod? Und was suggerieren die Menschen in dicken Mänteln, die kurz vor dem Erlösungsschluss im Halbdunkel über die Ebene stapfen?

Das freie Spiel mit Assoziationen, das Bedenken dessen, was zu sehen ist, wäre wohl ganz im Sinne Lachenmanns. Der uns mit unerhörten Klängen vom hörigen Hören, vom stets Gewohnten also, weglocken will. Dessen Musik nie brutal laut ist, sich andererseits in bisweilen ungeahnter Harmonie entfalten kann. Wort- und Gesangsfetzen, Atem-, Schleif- und Klopfgeräusche fügen sich zum fahrigen, wilden, großen Ganzen.

Üppiger Applaus, nicht zuletzt fürs Chorwerk Ruhr und das hr-Sinfonieorchester unter Leitung von Emilio Pomárico.

Info über weitere Vorstellungen unter www.ruhrtriennale.de

(Der Text ist in kürzerer Form in der WAZ erschienen.)

 




Oper Frankfurt: Verdi-Herbst mit „Les Vêpres Siciliennes“ glanzvoll eröffnet

Ein Schuss peitscht durch die Stille, noch vor der Ouvertüre. Ein junger Mann fällt und wird hastig weggeschleppt. Die Musik setzt ein, düster timbriert, mit einem unheilvoll dumpfen Doppelschlag. Er wird in der Oper immer wieder aufklingen, bis Schüsse und ein jäher, knapper Orchesterschlag das Drama beenden.

Die Oper Frankfurt hat ihre Spielzeit – und den Verdi-Herbst dieses Jubiläumsjahres – mit der Wiederaufnahme von „Les Vêpres Siciliennes“ eröffnet. Ein selten gespieltes Werk, mit dem Verdi 1855 während der Pariser Weltausstellung an der Opéra in Konkurrenz zu den „Klassikern“ der Grand Opéra trat. En Werk, dessen Dimensionen und Ansprüche einer breiten Rezeption im Wege standen. Aber in seiner psychologischen Differenzierungskunst steht Verdi in der „Sizilianischen Vesper“ auf der Höhe, die er mit „Rigoletto“ und „La Traviata“ erreicht und mit dem vier Jahre später entstehenden „Ballo in maschera“ perfektioniert hat.

Der Despot und der Revoluzzer: Quinn Kelsey und Alfred Kim in "Die sizilianische Vesper" in Frankfurt. Foto: Thilo Beu

Der Despot und der Revoluzzer: Quinn Kelsey und Alfred Kim in „Die sizilianische Vesper“ in Frankfurt. Foto: Thilo Beu

In Frankfurt hat Jens-Daniel Herzog inszeniert. Er lässt sich nicht auf Schauplatz und Zeit ein – Sizilien 1282, während der Gewaltherrschaft von Charles d’Anjou –, sondern arbeitet die Grundkonflikte des Stücks heraus, die mit den historischen Abläufen sowieso kaum etwas zu tun haben: Eine traumatische Vater-Sohn-Beziehung, eine Liebe im Spannungsfeld von politischer Kumpanei und zärtlicher Verinnerlichung, eine Auseinandersetzung von gesellschaftlichen Gruppen, getrieben von einem machtbewussten Regenten und einem fanatischen Freiheitskämpfer.

Den Schauplatz definiert Mathis Neidhardt mit seiner Bühne, dominiert von einem Hochhaus im Stil der sechziger Jahre. Der schwarzpolierte Stein des Erdgeschosses, der goldene Beschlag der Eingangstür erinnern an den aufwändigen, dennoch billig wirkenden Protz sozialistischer Repräsentationsbauten, aber auch den stillosen Aufwand der Wirtschaftswunderland-Architektur. Vor dem Haus wird im kalten Schein einer Neonlampe der Mord verübt. In der Ouvertüre huschen Menschen vorbei, stellen mit gehetztem Blick nach links und rechts ein Grablicht auf, legen Blumen ab, kleben das Bild des Ermordeten an den Marmor. Eine alte Frau wir vorbeigeführt, verharrt erschüttert vor dem Bild. Eine Moment, der uns an ähnliche Szenen aus den Bürgerkriegen dieser Welt denken lässt, ob Kosovo oder Afghanistan.

Herzog lässt in seiner Inszenierung, die zu seinen genauesten und scharfsichtigsten gehört, konkrete historische Andeutungen weg. Die Herren, die in geschmacksarm modischen Anzügen das Serviermädchen belästigen, könnten ihren Espresso im Sizilien der sechziger Jahre oder am Rand der französischen Studentenrevolte nippen. Ihre Gegner, dunkel und einfach gekleidete Menschen, stellen sich mit ihren Fahrrädern in einer Front auf. Herzog versteht es, die lauernde Konfrontation in einem kraftvollen Bild einzufangen.

Jens-Daniel Herzog erschließt die komplexen Charaktere

Die Inszenierung des Dortmunder Opern-Intendanten ist kein vordergründiges Polittheater: Herzog erschließt die komplexen Charaktere von Verdis Figuren in szenisch außerordentlich dichten Konstellationen. Guy de Montfort ist der Gouverneur des besetzten Landes, ein Machtmensch, rasch in der Entscheidung, knallhart in der Umsetzung. Seine klar strukturierte Welt beginnt zu bröckeln, als er in einem Brief erfährt, dass der kleine Revoluzzer Henri sein Sohn ist, geboren von einer von ihm vergewaltigten Sizilianerin. Von diesem Moment an spürt Montfort die innere Leere; er lässt seine verdrängte Sehnsucht nach Zuneigung zu – die Suche nach einem „Menschen“, die Verdi zwölf Jahre später in König Philipp im „Don Carlo“ so bewegend darstellen sollte.

Quinn Kelsey macht mit den Farben seines ausgewogenen, sicher geführten Baritons die innere Welt Montforts deutlich: Er ist, wie die anderen Hauptfiguren dieses Verdi-Dramas, kein einschichtiger Charakter. Er leidet an der Einsamkeit des Herrschenden und kann sie nicht überwinden: Im vierten Akt erzwingt er von seinem Sohn mit seinen vertrauten Machtmitteln das öffentliche Bekenntnis zu ihm als Vater. Verdi gibt ihm einen Zug ins Tragische: Montfort ist, innerlich angerührt und „bekehrt“, bereit zur gesellschaftlichen Versöhnung.

Doch die verhindert ein Anderer, der sich zunehmend verhärtet: Jean de Procida, aus dem Exil zurückgekehrt, besingt in seinem Auftritt innig und voll Pathos seine Heimat. In der Bass-Arie, einer der schönsten Verdis, nimmt man ihm eine ehrliche, tief empfundene Verbundenheit mit seinem Land ab. Später mutiert er zu dem, was Verdi als „gewöhnlichen Verschwörer … mit dem Dolch in der Hand“ beschreibt.

Unversöhnliche Fronten: Jens-Daniel Herzogs kluge Inszenierung von Verdis "Sizilianischer Vesper" in Frankfurt. Foto: Thilo Beu

Unversöhnliche Fronten: Jens-Daniel Herzogs kluge Inszenierung von Verdis „Sizilianischer Vesper“ in Frankfurt. Foto: Thilo Beu

Procida spitzt den Konflikt zu, schürt die Gewaltbereitschaft, opfert jede menschliche Regung seiner politischen Mission. Wer persönliche Gefühle zulässt, ist Verräter: Henri, weil er sich außerstande sieht, seinen Vater einem Mordkomplott zu opfern. Hélène, weil ihre Hochzeit mit Henri nicht als politisches Kalkül sieht und mit ihrem Ja nicht das Stichwort für eine blutige Erhebung geben will. Kihwan Sim gestaltet diesen Weg ins Unmenschliche mit einer sonoren Stimme, deren schneidende Härte gut zum Charakter Procidas passt. Doch Sim vergisst nicht, dass Verdi den Typ des „basso cantante“ vor Augen hatte – anders als Raymond Aceto in der Premierenserie des „Vêpres Siciliennes“ im Juni, der zu wenig auf Linie sang, zu rau intonierte.

Verdi hat die Entwicklung der großen historischen Oper in Paris genau beobachtet und ihre musikalischen und dramaturgischen Errungenschaften für sich zu nutzen gewusst. Aber er blieb bei seinem Interesse an den Leidenschaften und seelischen Konflikten und hat unter diesem Aspekt das Libretto Eugène Scribes mehrfach kritisiert. Henri und Hélène wirken in der klugen Sichtweise Herzogs nicht als Liebespaar, sondern zunächst als Verbündete in der Opposition. Ein Liebesduett gibt es nicht, doch Verdi gibt vor allem Henri den musikalischen Raum zu verzweifelter Leidenschaft und spitzt damit den dritten und vierten Akt ungeheuer spannungsreich zu: ein idealistischer Junge, zerrissen zwischen den väterlichen Ansprüchen, der Liebe zu Hélène und der patriotischen Pflicht, seine Heimat zu befreien.

Burkhard Fritz lässt diese ausweglosen Konflikte mitfühlen: Er gibt der Figur bis ins mimische Detail hinein Konturen, setzt einen kraftvollen, technisch versierten Tenor ein, der in der schwierigen Partie die gestalterische Herausforderung meistert. Vor ihm hat Alfred Kim den Henri gesungen, mit mehr italienischem Schmelz, Legato-Leidenschaft und hinreißender Attacke. Fritz hat nicht die satte, schmeichelnde Höhe seines Vorgängers, wird beim Aufstieg in die obere Lage gerne schneidend spitz, kann aber mit seiner überzeugenden psychologischen Durchdringung der Figur alles wieder wettmachen.

Elza van den Heever (Hélène) und Quinn Kelsey (Guy de Montfort). Foto: Thilo Beu

Elza van den Heever (Hélène) und Quinn Kelsey (Guy de Montfort). Foto: Thilo Beu

Mit Elza van den Heever kann Frankfurt die hybride Rolle der Hélène mit einer weltweit gefragten Sopranistin besetzen. Die Südafrikanerin gehörte bis Ende vergangener Spielzeit dem Ensemble an und ist jetzt – nach ihrem Debut an der Metropolitan Opera New York – freischaffend tätig. Hélène ist keine der duldenden Heroinen Verdis, trägt eher die Züge starker „Macherinnen“ wie Abigaille oder Odabella. Ihre solistischen Selbstäußerungen sind merkwürdig distanziert. Weder das gleichnishafte Revolutionslied des ersten noch der schillernde Boléro des fünften Akts sprechen über sie selbst. Traumatisiert vom Mord an ihrem Bruder dringt sie erst im fünften Akt, zerrissen von der Liebe zu Henri und der Solidarität mit ihren Kampfgefährten, zu ihrer seelischen Mitte vor. Zu spät: Im losbrechenden Aufruhr verlieren die Liebenden ihr Leben.

Van den Heever durchmisst ihre technisch anspruchsvolle Partie mit Bravour, die sie von einer lodernd-aggressiven Cabaletta über psychologisch feinnervige Ensembles zum Koloraturfeuerwerk des berühmten „Boléro“ führt, ein Schaustück vokaler Geläufigkeit, das eher der Sphäre des kapriziösen Oscar aus dem „Ballo in maschera“ nahesteht.

Beispielhafte Verdi-Inszenierungen

Frankfurt wählte die kaum gespielte fünfaktige französische Originalfassung, allerdings ohne die melodienreiche, fast halbstündige Ballettmusik, und setzte damit wieder einmal Maßstäbe in der deutschen Opernlandschaft. Das war auch dem engagierten Orchester zu verdanken, dem Pablo Heras-Casado genau die atmende Phrasierung, differenzierte Dynamik und melodische Intensität abverlangte, die Verdis Musik spannend und vielfarbig machen.

Der 35jährige Spanier hat sich mit diesem Frankfurter Debut nachhaltig als Verdi-Dirigent empfohlen, dem man gerne wiederbegegnen möchte. Die derzeit laufende Vorstellungsserie dirigiert Giuliano Carella, nicht ganz so differenziert im Detail und flexibel im Tempo, aber ebenso mit Gespür für Verdis orchestrale Farben und glühende Expression. Dem Chor, für seine umfangreiche Aufgabe von Matthias Köhler bestens präpariert, würden deutliche Zeichen vom Pult her gut tun: Verdis rhythmisch kantig geschnittene Einsätze sotto voce und a cappella gelangen nicht überzeugend.

Mit „Les Vêpres Siciliennes“ hat Frankfurt neben einem immer wieder bewegenden „Don Carlo“ in David McVicars Regie und einem szenisch wie musikalisch hochkarätigen „Ballo in maschera“ von Claus Guth eine beispielhafte Verdi-Inszenierung im Repertoire; ein Nachweis der Leistungsfähigkeit des Hauses, das unter seinem Intendanten Bernd Loebe in die europäische Spitzengruppe aufgerückt ist. Dass ein solches Erfolgsunternehmen mit Kürzungen bedroht wird, ist ein weiterer Beweis für die desolate Kulturpolitik in Deutschland, das von Rostock bis Halle, von Dessau bis Wuppertal derzeit drauf und dran ist, sein kulturelles Kapital im Bereich des Theaters zu verspielen. Das ist kein Krisen-Management, das ist die pure Leichtfertigkeit.

 




Festspiel-Passagen VI: Opernromantik unterm Sternenzelt – Verona feiert 100 Jahre Oper in der Arena

Der Inbegriff der Opernromantik: Ein samtblauer, sternübersäter Himmel spannt sich aus, ein sanfter, linder Wind erfrischt die Wärme des Abends, ein ägyptischer Tempel hebt sich aus dem Dunkel, warm beleuchtet, als würden ihn Tausende Kerzen illuminieren. Und eine Frau singt sehnsüchtig zur weichen, leisen Riesenharfe eines Orchesters: „Ah, komm, mein Geliebter, berausche mich, beglücke mein Herz!“

Vor der Vorstellung: Arena-Besucher stärken sich in der Bars und Restaurants der Piazza Brá. Foto: Häußner

Vor der Vorstellung: Arena-Besucher stärken sich in der Bars und Restaurants der Piazza Brá. Foto: Häußner

Für solche Momente bezaubernder Stimmung ist die Arena von Verona weltberühmt. Wenn sich Amneris in Giuseppe Verdis Oper „Aida“ mit einem schmeichelnden Melodiebogen nach dem fernen Radamès sehnt, der die ägyptischen Heerscharen an der Grenze zu Äthiopien zum Siege führt, bleibt den Zuschauern der Atem stehen. Ganz still wird es dann unter den Fünfzehntausend, die das Rund der römischen Arena füllen. Nur aus weiter Ferne wehen ein paar Stimmfetzen von der Piazza Brá bis zu den „gradinate“ des Monumentalbaus – den narbigen Steinstufen, auf denen vor 2000 Jahren die römischen Veroneser Gladiatoren und Tierhetzer anfeuerten.

So still ist es nicht immer: Italien trägt ein temperamentvolles Volk auf seiner Erde, und auch die zahllosen Touristen, von denen die Opern-Festspiele in der Arena di Verona leben, lassen sich zu gerne vom südlichen Feuer entzünden. „Brava Violeta“ schreit ein stimmgewaltiger Mann von oben, kaum dass der letzte Ton verklungen ist: ein Claqueur oder jemand, der sein eigenes Organ ebenso gerne hört wie das der Sängerin. Aber er steckt an: Menschen jubeln, klatschen, schreien. Die Oper, das alte „Kraftwerk der Gefühle“, drängt die innere Bewegung zum äußeren Ausdruck.

Am Beifall spürt der langjährige Operngänger in Italien aber den Unterschied zum früheren Publikum: Da haben die „tifosi“ nicht geklatscht, sondern getobt. Da war auf der Bühne der Wettkampf der Stimmen zu erleben – eine Arena der vokalen Exhibition, die nicht selten um des Effektes willen die Grenzen des Geschmacks und des stilistisch sauberen Singens hinter sich ließ. Haudegen wie Mario del Monaco oder Franco Bonisolli haben mit elektrisierenden Spitzentönen den kollektiven Aufschrei provoziert wie ein Siegestreffer in der Arena von Schalke 04. Und die Schlachtrösser des Sopranfachs – erinnert sei zum Beispiel an Ghena Dimitrova – haben in „Turandot“ oder „La Gioconda“ Expression und Opulenz auf die Spitze getrieben.

Blick in die Arena: 15 000 Zuschauer erwarten den Beginn der Oper. Ennevi Foto, per gentile concessione della Fondazione Arena di Verona

Blick in die Arena: 15 000 Zuschauer erwarten den Beginn der Oper. Ennevi Foto, per gentile concessione della Fondazione Arena di Verona

Daneben gab es Sänger, die mit den riesigen Dimensionen der Arena „gespielt“ haben, ohne die Musik an die Show zu verraten: Mit Wehmut ist an Fiorenza Cossotto zu denken, eine bestrickende Amneris in zahllosen „Aida“-Aufführungen. Gelingen ihnen die „Schlager“ ihrer Rolle, werden die Protagonisten auch heute hin und wieder noch mit „bis“-Rufen aufgefordert, ihre Arie zu wiederholen – und stellen sich, wenn der Maestro am Pult mitspielt, nur zu gerne der Ehre, ein vokales Schaustück noch einmal zum Besten zu geben. Auf der anderen Seite waren auch schmähliche Schiffbrüche zu erleben: Wer seine schönen Stellen versiebte, durfte nur mit Gnade rechnen, wenn das Rund gerade mehrheitlich mit angereisten Deutschen oder Amerikanern besetzt war. Ansonsten gab es schmerzliches Zischen, hämische Bemerkungen oder Rufe wie „vai a casa“ („Geh‘ nach Hause“).

Das Publikum – ein Raubtier

In solchen Momenten blitzt das antike Erbe der Arena auf: der Wettkampf, die emotionale Erregung, der mörderische Sport. Dann sind nicht nur die Akustik und die immensen Entfernungen zwischen Dirigent, Orchester, Chor und Solisten der Feind des Sängers, sondern auch die lauernden Raubtiere auf den Rängen: bereit, nach jedem glücklichen Spitzenton zu schnappen, bereit auch, jede Unaufmerksamkeit mit Angriff zu vergelten. Mit dem gesitteten Publikum unserer Stadttheater ist diese Atmosphäre nicht zu vergleichen. Aber mit dem Verlust des Maßstabs für gutes Singen, der in Italien noch schmerzlicher als anderswo zu spüren ist, versinken solche Konfrontationen in Vergangenheit: Heute genügt zum Jubel, dass die Partie irgendwie geschafft wird. Maßstäbe für gutes Singen werden für subjektiv gehalten, offene Kritik oder gar Unmut sind dann nicht mehr angebracht.

Oper in Verona – das hat wenig mit dem zu tun, was über die Kunstform reflektierend gesagt und geschrieben wird. Oper in Verona bedeutet Spektakel, Befriedigung der Schaulust, Ergötzen an der monumentalen Dimension, Unterhaltung und, ja, Romantik, im sentimentalen Sinne des Wortes: eine warme Sommernacht, die blitzenden  Sterne, die tausend kleinen Flämmchen der „candelini“ zu Beginn der Vorstellung, das lustvolle Auskosten der schönen Melodie, die unmittelbare Freude am faszinierenden Klang, an der Monumentalfilm-Kulisse, an den Klischees großer Gefühle.

Rekonstruiert: "Aida" in Kulissen und Kostümen von 1913. Foto Ennevi, per gentile concessione della Fondazione Arena di Verona

Rekonstruiert: „Aida“ in Kulissen und Kostümen von 1913. Foto Ennevi, per gentile concessione della Fondazione Arena di Verona

Wer sich der Oper mit dem scharfen Messer des Verstands, mit dem Skalpell der Analyse nähert, wird sein Instrument auf dem Stein der „gradinate“ schnell abstumpfen. Verona ist nichts fürs Konzept- oder Regietheater. Hier hat die Dekoration das Sagen. Es gab Versuche, auch in der Arena Oper anders zu machen als 1913. Sie sind resonanzlos gescheitert. Nicht umsonst hat man 1982 die „Aida“-Aufführung von vor 100 Jahren rekonstruiert. Sie gehört zu den beliebten Schaustücken – und in diesem Jahr, zum Arena-Jubiläum konnte der Besucher sogar wählen: zwischen einem bunten Alt-Ägypten, wie man es sich zu Verdis Zeit vorgestellt hat und dem postmodernen Schnickschnack, wie ihn das spanische Dekorations-Großunternehmen La Fura dels Baus derzeit über die Opernzentren der Welt ausbreitet. Gewonnen hat, so war auch aus den Kritiken zu entnehmen, die Postkarten-Belle-Époque der historisierenden Inszenierung Gianfranco de Bosios.

Alt-Ägypten in der Fantasie der Belle Époque: Víoleta Urmana als Amneris. Foto Ennevi, per gentile concessione della Fondazione Arena di Verona

Alt-Ägypten in der Fantasie der Belle Époque: Víoleta Urmana als Amneris. Foto Ennevi, per gentile concessione della Fondazione Arena di Verona

Und da schreiten sie, die ägyptischen Scharen, von hinten nach vorne, von links nach rechts über die riesige Bühne, zwischen bunt bemalten Säulen durch, die in ihrer Massivität mit Luxor oder Abu Simbel konkurrieren können. Erhaben gewandet, luxuriös geschmückt. Amneris und der König in Gold und Weiß, Aida im ägyptisierenden Modellkleid, alles andere als eine „ria schiava“, eine anonyme kriegsgefangene Sklavin. Gut, Elefanten sind nicht von der Partie, aber beim Triumphmarsch, dem Höhepunkt der spektakulären Aufzüge, reiten Pferde ein. Radamès, der Sieger, wird auf einem riesigen Thron hereingefahren. Kostbare Stoffe, edle Metalle, Federn: Vor diesem Altägypten verlöre jede Mode-Boutique im Paris der Belle Époque vor Neid und Scham ihre Farbe.

Dekorative Ästhetik von heute in der "Aida" von La Fura dels Baus. Foto Ennevi, per gentile concessione della Fondazione Arena di Verona

Dekorative Ästhetik von heute in der „Aida“ von La Fura dels Baus. Foto Ennevi, per gentile concessione della Fondazione Arena di Verona

Dagegen kann das stilisierte Sonnenkraftwerk von La Fura dels Baus nicht punkten. Ebenso wenig überzeugt das Planschbecken mit echtem Wasser und Plastik-Krokodil-Masken für plätschernde Statisten im Nilakt. Die „alte“ Inszenierung setzt dagegen auf stimmungsvolle Lichtregie, wenn die Säulen eines Tempels im dunstigen Mondlicht am Fluss sich gewaltig und düster über kleine Menschen erheben. Solche Momente wären durchaus in einer spannungsvollen, glaubhaften Regie mit dramatischem Leben zu erfüllen, wäre da nicht eine grenzenlos banalisierende Personenregie am Werk. Zwischen Rampengesang und Ausfallschritt, zeremoniellem Schreiten und vorhersehbaren Arrangements könnte ein Hauch von Psychologie, von wahrhaftigem menschlichem Verhalten Wunder wirken.

Das ist bei einem Tenor wie Marco Berti nicht zu erwarten, der mit robustem Ton durch seine Partie pflügt und es offenbar dem Zufall überlässt, ob eine Phrase mal stimmig ausgesungen, mal einfach nur mit Kraft geschmettert wird. Der Mann hat die vokalen Fertigkeiten für einen überzeugenden Radamès, aber weder das stilistische Bewusstsein noch das psychologische Feingefühl. Die Aida von Fiorenza Cedolins tut sich bei der Gestaltung von Angst, Ausweglosigkeit, Resignation, aber auch im Moment des Aufbegehrens gegen Amneris und im abgeklärten Einverständnis mit dem Sterben im Finale leichter. Aber ihr Timbre klingt ölig, ihr Vibrato verbraucht – da hilft auch nicht, dass sie die Höhe in der Nil-Arie sicher erreicht.

Der Tenor Marco Berti als Radamès. Foto Ennevi, per gentile concessione della Fondazione Arena di Verona

Der Tenor Marco Berti als Radamès. Foto Ennevi, per gentile concessione della Fondazione Arena di Verona

Violeta Urmana war als Amneris die überzeugendste Sängerin des Ensembles: In der Szene, in der Radamès von den Priestern verhört und verurteilt wird, breitet sie das Psychogramm einer stolzen, starken Frau aus, die an die Grenzen ihrer seelischen Leidensfähigkeit geführt wird. Überzeugend auch ihre stimmlich beglaubigte Doppelzüngigkeit am Anfang, in der Konfrontation mit Aida, als sich der Verdacht erhärtet, die Sklavin könne ihre erfolgreiche Konkurrentin um die Liebe Radamès‘ sein. Nur die schmeichlerischen Legati in der ersten Szene des zweiten Aktes gelingen ihr nicht ganz: Der Stimme fehlen Samt und schwärmerischer Ton.

Die männlichen Protagonisten bleiben auf mittlerem Niveau: Anbrogio Maestri imponiert in Statur und Stimmgewalt, singt den Amonasro aber wenig differenziert und mit vielen engen Tönen. Orlin Anastassov bleibt als Ramfis ebenso rau und stilistisch grob wie Carlo Gigni als König. Daniel Oren liefert ein routiniertes Dirigat ab, ohne auf die Finessen der Partitur intensivere Blicke zu richten.

Über 600 „Aida“-Vorstellungen in 100 Jahren

Arena und Aida – das sind beinahe schon Synonyme geworden: Mit über 600 Vorstellungen steht die Oper Verdis an der Spitze der Aufführungsstatistik. Vor 100 Jahren verwirklichte der Tenor Giovanni Zenatello zusammen mit dem Impresario Ottone Rovato die Idee, zu Ehren des Komponisten im damals frisch restaurierten römischen Monument „Aida“ aufzuführen. Das Experiment von 1913 – damals noch ohne elektrisches Licht! – gelang, die Arena etablierte sich als sommerliche Spielstätte. 1914 folgte Bizets „Carmen“, dann unterbrach der Erste Weltkrieg bis die junge Tradition, die aber bereits 1919 wiederbelebt wurde. Und zwar, was heute undenkbar ist, mit einer relativ neuen Oper Amilcare Ponchiellis, „Il Figliuol Prodigo“ („Der verlorene Sohn“) von 1880. In den Folgejahren gab es zwar wieder „Aida“, aber auch modernere Stücke: „Il piccolo Marat“ von Pietro Mascagni (1921), „Nerone“ von Arrigo Boito (1926) oder die erst drei Jahre zuvor uraufgeführte „Turandot“ Giacomo Puccinis 1928.

Gab den Anstoß für die Arena-Opernfestspiele: Der Tenor Giovanni Zenatello. Archivfoto Bain Collection

Gab den Anstoß für die Arena-Opernfestspiele: Der Tenor Giovanni Zenatello. Archivfoto Bain Collection

Ein letztes solches Experiment wagte die Arena 1952 mit Italo Montemezzis „L’Incantesimo“ („Der Zauber“). In den zwanziger Jahren spielte man sogar Wagner in der Arena – nicht einmal das traut sich das Opernunternehmen in seinem und Wagners Jubiläumsjahr: „Lohengrin“ erklang 1922, noch einmal in den Jahren 1933 und 1949 und zum letzten Mal 1963 – eine kluge Wahl für die szenischen Möglichkeiten der Arena. Selbst „Parsifal“ (1924) und „Die Meistersinger von Nürnberg“ (1931) standen je einmal auf dem Spielplan.

Die Gründer der Operntradition in der Arena hatten ein treffendes Gespür für die Auswahl der Werke. Camille Saint-Saëns‘ „Samson et Dalila“, 1921 gezeigt, erfüllt die Bedingungen ideal: große Tableaus und Chorszenen, monumentale Schauplätze, historisierender Stoff, wirksame Musik. Man fragt sich, warum dieses Stück 1974 zum letzten Mal in der Arena zu erleben war. Eine Erklärung: Die Aufführungen in Verona müssen massenkompatibel sein. Abend für Abend zwischen Juni und September sind 15 000 Plätze zu verkaufen. Und in Zeiten, in denen italienische Politiker die Oper nicht mehr für finanzierungswürdig halten, weil sie den Staat nicht in der Pflicht sehen, „Musikshows“ zu unterstützen, gibt es wohl keinen Spielraum für künstlerische Entscheidungen. So kristallisiert sich seit den neunziger Jahren ein Kern von einem Dutzend Opern heraus, die immer wieder aufgeführt werden, unterbrochen von nur wenigen „Ausreißern“ wie „La Gioconda“ (2005) oder dem ersten Mozart in der Arena, „Don Giovanni“ (2012).

Doch diese Entwicklung ist nicht nur ein Indiz finanzieller Risikovermeidung, sondern auch ein Zeichen für die sterile Erstarrung der Oper als Kunstform: Verona schwimmt an der Spitze des internationalen Mainstreams. Ideen wie etwa die Inszenierung einer Meyerbeer-Oper – wie sie in den dreißiger Jahren stattgefunden haben, weil sich die Grand Opéra hervorragend für den Raum eignen würde – sind daher selbst im 150. Todesjahr Meyerbeers 2014 utopisch. Der Spielplan für das nächste Jahr beinhaltet also wieder beide „Aida“-Inszenierungen, dazu Verdis „Maskenball“ sowie „Madama Butterfly“ und „Turandot“ von Giacomo Puccini, ergänzt durch „Carmen“ und Charles Gounods „Roméo et Juliette“ – eine Konzession an Veronas zweiten Touristen-Mythos.




Festspiel-Passagen V: Die unerträgliche Provokation – Castorfs „Ring“ in Bayreuth

Die Festspiele sind aus. Glanzlos gingen sie vorüber in diesem Jubiläumsjahr, sagen die einen. Kühn waren sie, meinen andere. Bayreuth wurde seinem Ruf gerecht, ist im 200. Geburtsjahr des „Meisters“ eine Werkstatt geblieben.

Noch unverhüllt: Das Bayreuther Festspielhaus 2012. Foto: Häußner

Noch unverhüllt: Das Bayreuther Festspielhaus 2012. Foto: Häußner

Der „Ring“ des Berliner Alt-Enfant-Terrible Frank Castorf: eine Provokation mit Buh-Stürmen nach bester Bayreuther Manier. Der „Tannhäuser“ Sebastian Baumgartens: dekonstruierende Installation eines postmodernen Konstrukteurs. „Lohengrin“ von Hans Neuenfels: die putzigen Ratten des einstigen Provokateurs, der inzwischen als „altersmilde“ gilt, als Trost für Regie-Zumutungen. Da fällt der „Holländer“ Jan Philipp Glogers gar nicht mehr auf. Auch das mag man als Zeichen für den andauernden Werkstatt-Charakter Bayreuths werten: Solide erarbeitetes Musiktheater punktet nicht in der Aufmerksamkeits-Skala. Man nimmt es zur Kenntnis, die Kritik mäkelt, dann wendet man sich wieder den Aufregern zu.

Werkstatt war 2013 aber auch anders: Das Festspielhaus so säuberlich camoufliert, dass man die Ziegelwerk-Fassade auf den Handy-Fotos für echt halten kann. Villa Wahnfried – eine Baustelle. Wer weiß, ob Wagner diese Zeichen des Vorläufigen nicht sogar gefallen hätten. Zu schaffen, nicht zu schauen, ist er selbst ja nach Bayreuth gekommen. Was allerdings an Neuem aus den Baugruben wachsen, hinter den Gerüsten vorscheinen wird, bleibt noch zu erwarten. Die Besucher trösteten sich mit den bunten Wagner-Männchen des Künstlers Ottmar Hörl. Wagner allgegenwärtig – als ironischer Plastik-Nippes. Auch das vielleicht ein Zeichen der Zeit.

Nicht mehr gegen den Strich gebürstet

Mit den Zeichen der Zeit wohl vertraut gibt sich „Ring“-Regisseur Frank Castorf. Zweite oder dritte Wahl war der Berliner, dort seit 1992 Leiter der Volksbühne, nachdem Wim Wenders abgesagt hatte. Castorfs Berliner Stücke mögen nach wie vor lustvoll und wild, schrill und aggressiv sein. Aber sie sind längst nicht mehr gegen den Strich gebürstet, weil die Borsten der Regie nicht einmal mehr an der Oberfläche kratzen. „Wirre, müde, vor allem lange Abende“ schrieb die „Zeit“ über die Castorf’schen Elaborate. Und welches Publikum wird noch erreicht, lässt sich noch einfangen von den theatralischen Exkursionen des freundlichen Sauriers aus der Vorregietheaterära?

In Bayreuth hatte er – endlich? – wieder einmal eine Öffentlichkeit, die diesen Begriff tatsächlich verdient: Wie Castorf die Reaktionen genossen hat, ist hinlänglich berichtet worden. „Das für Bayreuth wirklich Neue fand vor dem Vorhang, beim Applaus statt“, schrieb der Festspiel-Kenner Peter P. Pachl in der „Neuen Musikzeitung“. Castorf ließ den Buh-Sturm, das Crescendo der Trillerpfeifen-Attacken, das Wutgeschrei und den aggressiven Tumult nach der Premiere der „Götterdämmerung“ über sich hereinbrechen, setzte sich dem Affront offen und offenbar lustvoll aus, hielt stand und reagierte mit provozierenden Gesten. So ungeniert hat wohl noch niemand in Bayreuth auf Konfrontation gesetzt.

Patchwork-Sätze und Bilder-Trümmer

Es war nicht anders zu erwarten. Castorfs Theater-Ansatz verträgt sich nicht mit den Erwartungen: Nicht mit denen der alten Wagnerianer, die unverdrossen glauben, des Meisters Regieanweisungen seien geschriebenes Gesetz. Nicht mit denen, die sich vom Musiktheater die große, schlüssige, emotional ergreifende Erzählung erhoffen. Nicht mit denen, die sich nach der ästhetischen Illustration sehnen, egal, ob in den abstrahierenden Stilisierungen der fünfziger Jahre, der vorsichtigen Bild-Moderne der achtziger oder dem kühl-kühnen Glamour der Neunziger.

Aber Castorfs Theater-Erfindung hat auch wenig zu tun mit den bespielten Installationen, wie sie Sebastian Baumgarten mit einem ambitionierten Bühnenkünstler wie Joep van Lieshout für „Tannhäuser“ geschaffen hat. Dabei ist auch der „Ring“ 2013 visuell dominiert: Aleksandar Denićs „Route 66“-Nostalgie, seine schmuddelige B-Movie-Ästhetik, die Dreckswelt der Ölförderzentren im Kaukasus (oder anderswo auf der Welt), die ideologische Maskerade der Mount-Rushmore-Karikatur im „Siegfried“,  der Coup mit verhülltem Reichstag und New Yorker Börse in der „Götterdämmerung“ oder die triste DDR-Alltags-Ästhetik erfuhren in der Kritik viel Lob. Eine konsequente Entwicklung in einer Welt, in der das Visuelle immer mehr dominiert, der äußere Schein, die perfekte Gestaltung, die mit dem Auge erfassbare Ästhetik ausschlaggebend wird für Anerkennung und Erfolg, bis hinein in die Intimsphäre des Menschen, den Kult des makellosen Körpers.

Geschichten erzählen? Zusammenhänge deuten? Subtext aufhellen? Bedeutung klären oder konstruieren? Das ist alles nichts für Castorf. Selbst im Interview nicht. Vor der Kamera von 3sat spricht er in Patchwork-Sätzen, nestelt sich durch Gedankenfäden, springt von Buna, Kaukasus und Stock Exchange zu Wagner als Nicht-Romantiker und zum Bakuninschen Weltenbrand. Irgendwie hängt das alles in Castorfs Gedankenwelt zusammen, aber er kann nicht aussprechen, wie.

Die „anarchistischen Situationen“, die er in Wagners „Ring“ entdeckt, spiegeln sich im assoziativen Lauf seiner Rede. Aber auch das scheint konsequent: Was Castorf interessiert, sind die „logischen Widersprüchen, die man nicht erklären kann“, die verschiedenen Welten, die zusammentreffen. Einmal wird Castorf in diesem aufschlussreichen Interview sehr deutlich. Da regt er sich sogar ein wenig auf: Er wolle kein „soziologisches Besserwissertheater“ sehen, wo ihm jemand die Welt erkläre, die nicht mehr zu erklären ist.

Bedeutungsebenen – nicht kontrollierbar

Vielleicht trifft Castorf hier den Punkt, von dem aus sein „Ring“ betrachtet werden kann, ohne als bloße Provokation, als „Apotheose der Sinnlosigkeit“ oder auch als lustvoll-bedeutungsloses Bildertheater durchgewunken zu werden. Die Frage, ob hier bloß ein Scharlatan am Werke sei, der ein ernsthaft strebendes Publikum mit hinterhältig erfundenem Nonsens in die Irre führen wolle, stellt sich bei Castorf ebenso wenig wie etwa in der bildenden Kunst bei Joseph Beuys. Denn selbst die perfide Scharlatanerie, so sie denn mit der schillernden Intelligenz des Diabolischen erfunden sein sollte, reißt Bedeutungsebenen auf, die sie selbst nicht mehr kontrollieren kann. So ist eben zeitgenössische Kunst: Was der Betrachter mit ihr, aus ihr „macht“, hat sie selbst nicht mehr unter Kontrolle.

Castorf überschüttet den Zuschauer im „Ring“ mit einem Wust aus Zitaten, Klischees, Gags, Bildfetzen aus biographischer oder kollektiver Erinnerung, medialen Chiffren, politischen Zeichen und symbolbehafteten Schauplätzen. Doch die Suche nach dem fügenden „großen Gedanken“, nach dem Zusammenhang, nach der „Idee“ geht ins Leere. Die Frage nach der „Interpretation“ stellt sich nicht, auch wenn der Regisseur irgendetwas von der Bedeutung des Öls vorabgeraunt hatte. Das klassische Regietheater-Konzept will nicht mehr greifen.

Unerklärbar gewordene Welt

Es gibt nicht einmal mehr die privatistische Ideologie, wie sie zum Beispiel Ruth Berghaus meisterhaft über einige ihrer Inszenierungen gestülpt hat. Es gibt nur mehr Material, bunt verspielt ausgekippt und lustvoll verrührt. Und den Zuschauer, der auf sich alleine zurückgeworfen ist. Fügt sich ihm ein Bild, mag er zu den wenigen Bravo-Rufern gehören, die sich tapfer gegen die kollektive Empörung im Festspielhaus gestemmt haben. Fügt sich ihm keines, kann er wählen, wie er damit umgehen will: hedonistisch, gleichgültig, ironisch-abwertend, resigniert, sauer oder wütend.

Jede dieser Reaktionen – das wird Castorf aus seinem Kunstbegriff heraus nicht bestreiten dürfen – ist gerechtfertigt. Er hat das Spiel-Feld eröffnet, überschreiten werden es andere. So gesehen ist es für ihn folgerichtig, sich dem Ansturm der Reaktionen zu stellen. Was Castorfs „Ring“ in Bayreuth geleistet hat, ist zweierlei: Er hat Wagner in einen Kontext geholt, den wir aus der zeitgenössischen bildenden Kunst sehr gut kennen, der aber im Opernhaus – vielleicht zum Glück – (noch) nicht angekommen ist. Und er mag einen Finger in eine Wunde gelegt haben, die schwärt und brennt, ohne dass wir uns groß darum kümmern: die einer unerklärbar gewordenen Welt, die uns, wenn wir sie dann doch als solche erleben müssen, unerträglich provoziert.




RuhrTriennale: Tanz-Skulptur auf der Halde

Levée des conflits / Ruhrtriennale

Levée des conflits / Ruhrtriennale

Das Stück beginnt, und nach wenigen Minuten haben die Zuschauer oben im Amphitheater auf der Halde Haniel in Bottrop alles gesehen. Das können sie zu diesem Zeitpunkt allerdings noch nicht wissen. Erst mit zunehmender Dauer von Boris Charmatz‘ Choreografie „Levée des conflits“ (Die Aufhebung der Konflikte) erahnt man das Prinzip, begreift die Struktur im vermeintlichen Chaos.

Der französische Tänzer und Choreograf, der schon vor einem Jahr bei der Ruhrtriennale mit seinem Mensch-Maschine-Stück „enfant“ für Aufsehen sorgte, lässt die 24 Tänzer diesmal kein Stück in klassischem Sinne aufführen. Es gibt weder Thema noch Handlung, keine Entwicklung und kaum tänzerische Interaktion. Vielmehr bildet Boris Charmatz eine kinetische Skulptur. Er schafft mit tänzerischen Mitteln ein Stück bildender Kunst auf der Bühne – ein Perpetuum Mobile aus einem festgelegten Bewegungskanon, der von den Tänzern zeitversetzt ausgeführt wird.

Es beginnt mit einer Tänzerin. Sie setzt sich auf das mit Rasen ausgelegte Bühnenrund und streicht weit ausholend übers Gras, als würde sie sich einen Schlafplatz zurechtmachen. Etwa eine Minute später die nächste Figur: Sie streckt den Hintern gen Luft und schiebt ihn nach links und rechts wie eine Katze. Eine Minute später steht sie und schlägt, beide Armen vor- und rückschleudernd, auf Brust und Rücken zugleich. Eine Minute, dann folgt ein maschinenähnliches Hantieren mit unsichtbaren Geräten, das einem nicht zu durchschauenden Ziel folgt.

Minütlich folgen weitere Bewegungsabläufe, und längst sind weitere Tänzer in Straßen- oder Sportkleidung auf die Bühne gekommen. Ohne erkennbar Notiz voneinander zu nehmen, führen sie die gleiche Abfolge aus, jeder in seinem Tempo, jeder in seinem Stil – bis zwei Dutzend Tänzer gleichzeitig auf der Bühne sind. Sie rollen und winden sich über den Boden, hüpfen und springen, drehen sich um die eigene Achse, lassen sich zu Boden werfen und wieder aufhelfen, fließen weich wie eine Welle durch den Bühnenraum und scheinen alle Möglichkeiten auszukosten, ihn mit dem eigenen Körper zu erkunden. Dazu läuft eine Sound-Collage: Mal sind es HipHop-Fetzen, mal avantgardistische Neue Musik, mal industrielle Geräusche, mal alles zugleich.

Irgendwann scheinen sich die Tänzer wie zufällig zu formieren: Es zentriert sich ein strudelartiges Knäuel in der Mitte, dann am Rand. Obwohl jeder für sich arbeitet, bilden sie doch erkennbar ein Ganzes. Es braucht seine Zeit, diesen irgendwann sogar meditativen Rhythmus zu erkennen und es letztlich zu genießen, seine Augen in dem Strudel treiben zu lassen, der ständig wiederkehrende und doch neue Bilder produziert.

Die nötige Muße dazu kam allerdings wetterbedingt nur schwerlich auf. „Das Stück ist sowieso chaotisch, aber heute Nacht ganz sicher“, hatte Charmatz vor Beginn mit Blick auf das Wetter angekündigt. Der leichte Regen wurde im Laufe des Stücks immer heftiger, so dass die Compagnie des „Musée de la Danse“ aus Rennes sich am Ende entschloss, die Aufführung etwas abzukürzen. Dankbarer, dennoch begeisterter Applaus.




Entdecker gesucht: Die Ruhrtriennale 2013 beginnt mit Musik von Harry Partch

Heiner Goebbels, Komponist und Intendant der Ruhrtriennale (Foto: Wonge Bergmann)

Heiner Goebbels, Komponist und Intendant der Ruhrtriennale (Foto: Wonge Bergmann)

Heiner Goebbels hält seine Emotionen zurück. Zehn Tage vor Beginn der diesjährigen Ruhrtriennale, die vom 23. August bis 6. Oktober mehr als 800 international gefragte Künstlerinnen und Künstler und 43 Produktionen präsentiert, zeigt der Festival-Intendant kaum Spuren von Aufregung oder Anspannung. Ganz auf Inhalte konzentriert, berichtet er bei der Auftakt-Pressekonferenz in Bochum von Proben, von letzten Vorbereitungen und vom reichhaltigen Eröffnungsprogramm der ersten zehn Tage.

Aber dann ergreift es den zurückhaltenden 61-Jährigen plötzlich doch. Was er in den letzten Tagen entstehen sah, hat sichtlich tiefen Eindruck hinterlassen. Zum Beispiel der Aufbau einer Installation mit 400 Pendeln im Museum Folkwang, die der Choreograph William Forsythe in „Nowhere and everywhere“ zum Geschicklichkeitsparcours für die Besucher machen will. Und die 100 Meter lange Bodenprojektion des japanischen Künstlers und Komponisten Ryoji Ikeda, der die Besucher in der Kraftzentrale des Landschaftsparks Duisburg-Nord über einen gigantischen virtuellen Teppich aus flackernden Barcodes schickt. Dann die explosive Videoinstallation von Douglas Gordon in der Mischanlage der Zeche Zollverein. Und natürlich die Eröffnungspremiere, bei der das Musiktheaterstück „Delusion of the Fury“ des amerikanischen Avantgardisten Harry Partch seine europäische Erstaufführung erlebt.

Eine audiovisuelle Installation ist der 100 Meter lange Barcode, die der Japaner Ryoji Ikeda in der Kraftzentrale des Landschaftsparks-Nord in Duisburg projiziert (Foto: Zan Wemberley)

Eine audiovisuelle Installation ist der 100 Meter lange Barcode, den der Japaner Ryoji Ikeda in der Kraftzentrale des Landschaftsparks-Nord in Duisburg projiziert (Foto: Zan Wemberley)

Als „Riesenabenteuer“ bezeichnet Goebbels die Aufführung dieses Spät- und Schlüsselwerks in zwei Akten, das er an der Schnittstelle von Pop-Musik und Klassik ansiedelt. Die Musiker des Ensembles „musikFabrik“ mussten dafür nicht nur das selbst erfundene Instrumentarium des Amerikaners nachbauen lassen, sondern es auch spielen lernen. „Es ist eine sehr rhythmische, sehr körperliche Musik“, gerät Goebbels ins Schwärmen, der die Regie des Stücks übernimmt. „Alles ist sehr präzise definiert und ergibt sich direkt aus der Partitur.“ Zu erwarten ist eine Art Traumtheater, das von japanischen und afrikanischen Mythen ausgeht und, laut Programmheft, „die Versöhnung der Lebenden mit dem Tod feiert“. Die Produktion wird nach der europäischen Erstaufführung in Bochum auch in Genf und Oslo und New York gezeigt.

47.000 Tickets gibt die diesjährige Ruhrtriennale in den Verkauf, doch sind diverse Installationen und Ausstellungen auch kostenfrei zugänglich. So zum Beispiel die Zeichnungen des Rumänen Dan Perjovschi, der die Wände im Foyer der Jahrhunderthalle mit Kreideskizzen bedeckt. Was auf den ersten Blick kindlich einfach und wie spontan hingekritzelt aussieht, ist auf den zweiten Blick hintersinnig und häufig politisch motiviert. Seine Kunst ist auf Zeit angelegt: Durch Übermalung werden seine Strichfiguren und Wortspiele im Laufe der Wochen verschwinden. Bewusst lädt der Künstler die Festival-Besucher ein, seine neue Installation mit dem Titel „wall window workshop“ zu vervollständigen, zu kommentieren und zu überzeichnen. Die Lichtinstallation „Agora/Arena“ des Düsseldorfer Medienkünstlers Mischa Kuball wird das Gelände vor der Jahrhunderthalle verwandeln.

Wenig greifbar bleibt die Produktion „The last Adventures“, für die sich die Performancegruppe „Forced Entertainment“ aus dem englischen Sheffield mit dem libanesischen Komponisten Tarek Atoui zusammengetan hat. Im Gespräch finden Tim Etchells, Leiter von „Forced Entertainment“, und der libenesische Komponisten keine erhellenden Begriffe für das, was sie in der Maschinenhalle Zweckel in Gladbeck auf die Beine stellen. Viel ist von Fragmenten und Collage die Rede, von einer vieldeutigen Live-Performance, medialen Bilderwelten und vom Experiment. „Uns war rasch klar, dass es völlig falsch wäre, den riesigen Raum der Maschinenhalle füllen zu wollen“, sagt Tarek Atoui. Die Künstler entschlossen sich stattdessen, ihn als Stimulans zu nutzen und zum Teil der Aufführung zu machen.

Schlagwerk aus Glas: Der Amerikaner Harry Partch hat das Instrumentarium für "Delusion of the Fury" selbst erfunden (Foto: Jörg Baumann)

In „Delusion of the Fury“ erklingt auch Schlagwerk aus Glas (Foto: Jörg Baumann)

Es wird dies nicht das einzige Abenteuer sein, auf das sich die Besucher der Triennale einstellen müssen. Hinter vorgehaltener Hand murren manche Beobachter über den experimentellen Charakter des aktuellen Programms, über seine angebliche Kopflastigkeit und intellektuelle Abgehobenheit. Indes spricht der Verlauf des Kartenvorverkaufs offenbar eine andere Sprache. Die Festivalmacher zeigen sich zufrieden: „Die Zahlen sind zu diesem Zeitpunkt ein wenig höher als im letzten Jahr“, sagt Lukas Crepaz, Geschäftsführer der Kultur Ruhr GmbH. Die Auslastung liegt nach Angaben der Veranstalter bei rund 70 Prozent. Für das stark gefragte Konzert von „Massive Attack“ und dem Filmemacher Adam Curtis wurde eine Zusatzvorstellung am 1. September eingerichtet.

Ausverkauft sind die Tanzperformance „CRACKz“ von Bruno Beltrão und der Grupo de Rua, das Tanzstück „Partita 2“ mit Boris Charmatz und Anne Teresa de Keersmaker und die Konzerte „Ikon of Light“ mit dem ChorWerk Ruhr und dem Ensemble Resonanz. Zu virtuellen Spielern in der Welt des Waffenhandels werden die Besucher in den 20 penibel rekonstruierten „Situation Rooms“ des „Rimini Protokolls“. Auch hier ist die Nachfrage so stark, dass täglich neue Vorstellungen eröffnet werden.

Mangelnde Aufgeschlossenheit oder Entdeckerfreude lässt sich dem Triennale-Publikum so leicht offenbar nicht nachsagen. Das stumme Forum der Journalisten, das diese Pressekonferenz ohne eine einzige Frage absaß, wirkte hingegen merkwürdig teilnahmslos.

(Informationen: www.ruhrtriennale.de. Ticket-Hotline: 0221/ 280 210)




Festspiel-Passagen IV: Salzburg – Fanatische Kämpferin, zerbrechliches Opfer

Anna Netrebko: umschwärmter Star in „Giovanna d’Arco“ in Salzburg. Foto: Silvia Lelli

Anna Netrebko: umschwärmter Star in „Giovanna d’Arco“ in Salzburg. Foto: Silvia Lelli

Die Jungfrau von Orléans, die heilige Johanna, die kriegerische Maid: Hexe und Heilige, Symbol der Nation, Identifikationsfigur in Zeiten der Unterdrückung, selbstbewusst-selbständige Frau, keusche Verkörperung eines Reinheitsideals, amazonenhafte Kriegerin, radikale Kämpferin, Bild des Edel-Erhabenen, verehrt und verspottet, unantastbar und unverstanden. Die Ikone der 1431 auf dem Scheiterhaufen hingerichteten und 1920 heiliggesprochenen Bauerntochter Johanna aus dem lothringischen Domrémy ist immer wieder neu gemalt und übermalt worden.

Voltaires Spottgedicht „La Pucelle d’Orleans“ zieht den Johanna-Mythos ins Ordinäre, diffamiert das Religiöse durch das Obszöne. Friedrich Schiller wehrt sich in seiner „Jungfrau von Orléans“ vehement gegen die abschätzige Dekonstruktion. Temistocle Solera erkennt als Librettist Giuseppe Verdis für die Oper „Giovanna d’Arco“ einen wichtigen Aspekt der historischen Rolle der Johanna, die im späten Mittelalter Euphorie und Rohheit der Masse gleichermaßen ausgelöst hat. Und in Walter Braunfels‘ „Jeanne d’Arc“ – 1939 bis 1943 in der inneren Emigration entstanden – spiegelt sich die existenzielle Unsicherheit der Zeit, der Verlust aller kultureller Gewissheit und eine entschiedene Zuwendung zum Transzendentalen, das alleine im alle Werte vernichtenden Feuerbrand Bestehen verheißt: Das Herz der Jungfrau bleibt von der Glut des Scheiterhaufens unversehrt.

Die Salzburger Festspiele haben sich mit den beiden Werken des Musiktheaters und mit Schillers „romantischer Tragödie“ einigen Aspekten des Johanna-Mythos genähert. Natürlich hätten noch andere dazu treten können: Arthur Honeggers mystisches Gleichnisspiel „Jeanne d’Arc au Bucher“ hätte dazu gepasst; Tschaikowskys heroische Tragödie „Die Jungfrau von Orléans“ auch. Aber bedauerlicher ist, dass beide Opern nur konzertant zu erleben waren: Die Chance, den Johanna-Mythos szenisch unterschiedlich auszudeuten, blieb so ungenutzt.

Das Landestheater Salzburg: Hier wird Michael Thalheimers Version von Schillers "Jungfrau von Orléans" gespielt. Foto: Häußner

Das Landestheater Salzburg: Hier wird Michael Thalheimers Version von Schillers „Jungfrau von Orléans“ gespielt. Foto: Häußner

Michael Thalheimer will uns die Schiller’sche Heldin in ihrer anachronistischen Mischung aus nationaler Entflammung, dualistischem Reinheitswahn und mystischer Entrückung nicht nahe rücken. In seiner Inszenierung, die ab September am Deutschen Theater in Berlin zu erleben ist, steht Johanna von Anfang an isoliert: Bühnenbildner Olaf Altmann richtet einen einzigen, grellweißen Lichtspot auf sie, einen Strahl aus dem Jenseits, der diese einsame Gestalt im weißen Hemd mit dem Schwert in der Hand erleuchtet. Kathleen Morgeneyer spricht die so zerbrechlich wie verhärtet wirkende Figur mit dröhnendem Überzeugungston, jenseits menschlicher Realität. Sie gehört zu den Reinen, die nicht fühlen, die nicht weinen. Alexander Khuon kotzt als sterbender Montgomery sein Leben blutig über die ungerührte Johanna aus. Liebe, Mitleid, Schuld – das sind Regungen, die im Dienst einer höheren Macht nicht zählen.

Kathleen Morgeneyer als Johanna: Die Jungfrau im Licht. Foto: Arno Declair

Kathleen Morgeneyer als Johanna: Die Jungfrau im Licht. Foto: Arno Declair

Schließlich weint sie doch, die Unberührbare, getroffen vom Blick Lionels – und damit ist ihre Mission gebrochen: Sobald die ungeheuerliche Gotteskriegerin ihre mörderische Isolation verliert, einen Kontakt mit Menschen aufbaut, der ihr Subjekt fordert, ist die Magie dahin, die Kraft gebrochen. Thalheimer lässt die Figur in ihrer Ambivalenz unberührt, erklärt nichts weg von ihrer Problematik: weder ihren glühenden Nationalismus noch ihre geradezu antichristliche Umdeutung Marias von der barmherzigen Mutter zu einer blutgierigen Göttin der Schlachten. Am Ende löst das fahl aufdämmernde Licht (Robert Grauel) die Bühne aus der Schwärze. Sichtbar wird eine gewaltige Wölbung, eine Kirche, ein Mausoleum, eine düstere Himmelskuppel. Von der Jungfrau von Orléans bleibt ein verletzliches Mädchen, das einen riesigen Schatten wirft.

Thalheimers auf zweieinviertel Stunden und 14 Rollen konzentrierte Version der Tragödie funktioniert nur, weil er hervorragende Sprecher in seinem Ensemble hat: Den eindimensional auf den heiser bellenden Krieger festgelegten Andreas Döhler als Dunois. Die Agnes Sorel der Meike Droste, die in einer starken Persönlichkeit die Ideale der Johanna teilt, aber mit menschlichen Regungen verbindet. Den markant charakterisierenden Michael Gerber als Thibaud. Und Christoph Franken als König, der sich von praktischer Vernunft, politischer Resignation und einer halb wehleidigen, halb hedonistischen Vision privaten Lebens leiten lässt: ein Schlappschwanz, dessen winselnde Ohnmacht eine gewisse innere Größe nicht abzusprechen ist.

Expressive Theatersprache: Almut Zilcher als Isabeau. Foto: Arno Declair

Expressive Theatersprache: Almut Zilcher als Isabeau. Foto: Arno Declair

Das ausgefeilteste Rollenporträt spricht allerdings Almut Zilcher als Königinmutter Isabeau: Sie stochert als dürres Gespenst in High Heels über die Bühne, jedes Wort in eine andere Klangfarbe kleidend, jeden Satz nachkomponierend. So wünscht man sich Theatersprache.

Das Sprachliche, in diesem Fall in Verdis beredte Musik gekleidet, dominiert auch die konzertante Aufführung von „Giovanna d’Arco“ in der Felsenreitschule. Vor dem Eingang ein Defilee der Kartensuchenden: Anna Netrebko und Placido Domingo sind eine Besetzung, für die Melomanen wie Adabeis einiges springen lassen.

Die Oper von 1845 gehört nicht zu den bevorzugten Werken aus Verdis mittlerer Schaffensperiode. Zu Unrecht, wie sie herausstellt. Denn Verdi experimentiert mit musikalischen Mitteln, die er später perfektioniert: Die grellen Flöten, die fahlen Farben des tiefen Holzes und die exzessive Rhythmik für das Diabolische führen zu „Macbeth“, die ätherischen Momente zu „Don Carlo“ und „Aida“. Die Emphase der groß angelegten Chöre weisen von Rossinis Finali zu Meyerbeers Tableaux. Daneben gibt es das ausgesponnene Legato Bellinis und die lyrische Intensität der Bariton-Romanzen Donizettis. Doch Verdi setzt diese musikalischen Elemente seiner Gegenwart nicht, wie die ältere Kritik abwertend behauptete, aus kreativer Verlegenheit und Zeitmangel ein. Sondern er verwendet Ausdrucksmittel der Tradition bewusst, um Figuren musikalisch zu profilieren.

Die Reinheit der fragilen Heldin

Temistocle Soleras Libretto nähert sich eher dem Oratorium und der großen Oper an – ein italienischer Reflex auf die neuen Entwicklungen der Pariser Bühne. Giovanna ist bei ihm eher ein junges Mädchen, das demütig eine überirdische Botschaft empfängt und ausführt, als eine fanatisierte Kriegerin. Im ersten Auftritt träumt sie von einer politischen Rolle, von Rüstung und Schwert; später imaginiert sie sich aus dem Fest im Königspalast zurück in ihre ländliche Heimat. Ihre Schwäche ist die unmögliche Liebe, die in diesem Fall nicht ein Engländer, sondern der König selbst von ihr begehrt. Ihre Apotheose gleicht einer Entrückung: Der Himmel entzieht die Jungfrau dem irdischen Treiben und bestätigt ihre Unschuld.

Die Reinheit Johannas ist bei Solera nicht sexuell, sondern transzendental geprägt: Schon im Prolog wird der Widerstreit der bösen Geister und der Engel in den Chören ausführlich exponiert. „Giovanna d’Arco“ verbindet dieses Motiv mit dem Vater Johannas, Giacomo, der sich als treibende Kraft des Dramas entpuppt: Sein Anklage, Johanna habe sich den bösen Geistern – und der „niedrigen irdischen Liebe“ – verschrieben, formuliert er auf dem Höhepunkt des Geschehens, in dem Moment, in dem der König Johanna gegen ihren Willen zur Patronin des Landes und zur Heiligen hochstilisiert, ihr sogar eine Kirche weihen will.

Die Hybris wie die Verleumdung kommen von außerhalb: Johanna ist das Opfer dieser Mächte, die sie in ihrem Inneren nicht berühren. Sie gehört zu den fragilen Mädchen und Frauen der italienischen Oper, denen vom Druck ihrer Umgebung der vitale Lebensatem ausgepresst wird. Mag sein, dass Verdi – wie Roger Parker im Programmheft erklärt – durch die sanfte Lyrik der Stimme der Uraufführungssängerin Erminia Frezzolini zu dieser Lösung angestoßen wurde. Auf jeden Fall fügt sie den Deutungen des Jeanne d’Arc – Stoffes eine originelle Facette hinzu.

Für Anna Netrebko ist die Partie der Einstieg in das dramatischere italienische Fach, der sich bereits mit Donizettis „Anna Bolena“ angekündigt hatte. Die Leonora in Verdis „Trovatore“ und die Lady in „Macbeth“ werden in der kommenden Spielzeit folgen. Pünktlich zur Premiere der „Giovanna d’Arco“ wurde in Salzburg auch die neue Netrebko-CD vorgestellt, auf der das zu erobernde Terrain bereits vorweggenommen ist.

Die dunkler gewordene Stimme der Sängerin hat in der Tat klangliche Fülle gewonnen, ist im Zentrum dunkelgolden üppig, entfaltet sich in der Höhe mit Substanz und Glanz. Dabei ist die gleichmäßige Tonproduktion ebenso bewahrt wie die lyrische Finesse. Im Rezitativ ihrer Auftritts-Kavatina zieht Netrebko den schönen Ton der ausdrucksvollen Gestaltung vor; die träumerische Wehmut der Giovanna, ihre kindlich anmutende Sehnsucht nach einer Rolle im Freiheitskampf wirkt mehr vorgetragen als empfunden. Doch im Duett mit dem König im ersten Akt spielt sie die gestalterischen Trümpfe voll aus: Eine der seltenen Sternstunden technisch sicheren und dramatisch erfüllten Singens, zu dem der Tenor Francesco Meli einen gleichrangigen Part beiträgt.

Mit Meli steht – endlich – wieder einmal ein Sänger auf dem Podium, bei dem man nicht das eine oder andere Ohr zudrücken muss, um ihn in die Traditionslinie überzeugender Verdi-Stimmen einzuordnen. Er hat nicht ganz die Flexibilität und den strahlenden Schmelz eines Carlo Bergonzi, kommt ihm aber sehr, sehr nahe. Druckfrei gebildete Höhe und natürlich anmutendes Legato zeichnen sein Singen aus. Dass manches Piano mit viel Kopfstimme gebildet wird und ein Crescendo nicht bruchlos gelingen kann, ist noch ein Manko. Aber Meli kann sich als Carlo VII. erfreulich positionieren. Bisher hat er vor allem das Repertoire zwischen Nemorino („Der Liebestrank“) und Alfredo („La Traviata“) gesungen – die Partie in „Giovanna d’Arco“ bedeutet also auch für ihn, einen Schritt weiter.

Tendenz zum Spielen, auch auf dem Konzertpodium: Placido Domingo als Vater Giacomo in Verdis "Giovanna d'Arco". Foto: Silivia Lelli

Tendenz zum Spielen, auch auf dem Konzertpodium: Placido Domingo als Vater Giacomo in Verdis „Giovanna d’Arco“. Foto: Silivia Lelli

Mit Jubel wurde der erst im Juli von einer Lungenembolie genesene Placido Domingo begrüßt: Er hatte mit der Rolle des Giacomo eine Partie, die sich würdig in die Reihe der markanten Vätergestalten Verdis einreiht. Verdi baut die Rolle aus, gibt ihr Gewicht und tragische Konturen: dieser Giacomo wirft seiner Tochter vorurteilsbeladen den Pakt mit teuflischen Kräften vor, muss seinen tragischen Irrtum erkennen und tief bereuen.

Domingo hat von seiner gestalterischen Kraft nichts eingebüßt, die sich auch immer wieder in einem unmittelbaren Bedürfnis nach körperlicher Rollendarstellung Bahn bricht. Seine Stimme tendiert eher zum Silber des Tenors als zur warmen Bronze eines echten Baritons. Aber diesen Jahrhundertsänger so präsent, mit dem Hintergrund seiner Erfahrung zu erleben, ist ein Geschenk. Nicht zu vergessen ist Roberto Tagliavini als Talbot, der nur im ersten Akt einige rhythmisch scharf geschnittene Sätze zu singen hat – diese allerdings mit schlankem, gut fundiertem Bass.

Mit der ambivalenten musikalischen Leitung Paolo Carignanis sich anzufreunden fällt nicht leicht: Da herrscht ein schlanker, nerviger Klang im Münchner Rundfunkorchester, prägnante Kontraste in der Ouvertüre zwischen den robusten Tutti und den ätherischen Flöten-Fiorituren und Holzbläser-Kantilenen. Die Musiker des Orchesters treffen auch die unheimliche Sphäre beim Auftritt Giacomos, das geisterhafte Gelächter der Flöte, den spitzen, bewusst banalen Rhythmus für die Dämonensprüche des glanzvoll disponierten Philharmonia Chores Wien (Walter Zeh).

Carignani lässt auch den Donizetti-Rhyhmus „abspringen“, den Verdi der Arie Giacomos („Franco son io“) im ersten Akt unterlegt. Aber er hält den Takt immer wieder unflexibel und steif, gibt zu wenig Freiheit, kann so zum Beispiel den Kontrast der Dämonen- und der Engelschöre im Finale des Prologs nicht ausformen. Das Cantabile Verdis bleibt dann flach, eingespannt in eine missverstandene Präzision, die Verdis Musik genau das unterstellt, was tunlichst zu vermeiden ist: den Leierkasten-Rhythmus der dörflichen Banda. Mit der Frage nach einer idiomatisch zutreffenden Verdi-Interpretation jenseits von preußischer Akkuratesse und traditionalistischer Schlamperei wird man sich – auch nach diesem Verdi-Jahr – noch zu befassen haben.




Festspiel-Passagen III: Salzburg – Jeanne d’Arc oder der Sieg im Scheitern

Alexander Pereira - noch Intendant der Salzburger Festspiele. Foto: Luigi Caputo

Alexander Pereira – noch Intendant der Salzburger Festspiele. Foto: Luigi Caputo

Wäre das in diesem Jahr überpräsente Verdi-Wagner-Thema die einzige inhaltliche Leitlinie der Salzburger Festspiele 2013, man könnte gelangweilt zur Tagesordnung übergehen.

Aber Alexander Pereira hat die sommerlichen Festtage wieder einmal mit einem fein gesponnenen Netz von Beziehungslinien überzogen: Die beiden zum Heiteren neigenden Meisterwerke der Jubilare – „Falstaff“ und „Die Meistersinger von Nürnberg“ sind freilich programmatisch eher unspektakulär, auch wenn Pereira mit Stefan Herheim einen der profiliertesten Opernregisseure der Gegenwart für Wagner gewonnen hat.

Spannender ist da schon die Konzentration auf verschiedene Aspekte der Geschichte der Jeanne d’Arc, einer Heiligen, die wie selten zwischen großer Politik und scheinbar naiver Frömmigkeit, pragmatischem Realismus und kühner Vision steht. Ein Fanal für unerschütterlichen Glauben an Gott, an das Wunder in der Geschichte und an die eigene Berufung; ein Beispiel, wie eine einfach Frau des späten Mittelalters gegen ihre Umwelt ihre Persönlichkeit behauptet.

Jeanne d’Arc bietet Stoff für viele Interpretationen. Pereira hat drei ausgewählt: Den Anfang machten Walter Braunfels‘ „Szenen aus dem Leben der heiligen Johanna“ und Friedrich Schillers „Jungfrau von Orleans“. Folgen wird noch Giuseppe Verdis selten gespielte „Giovanna d’Arco“, eines der geschmähten Werke der „Galeerenjahre“ des Komponisten, das heute wieder stärker in den Fokus rückt.

Wagners Schatten wird überwunden

Walter Braunfels, 1882 im Jahr der Uraufführung des „Parsifal“ geboren, gehört zu einer Generation, die darum ringen musste, aus Wagners übermächtigem Schatten herauszutreten. In seiner Musik blitzen die Spuren seines Lehrers Ludwig Thuille auf – etwa in den farbigen Bläsersoli und der subtilen Orchesterbehandlung. Aber sie trägt auch Züge des von ihm verehrten Hans Pfitzner, so in der rezitativischen Prosa des ersten Teils. Die Rückgriffe auf Musik der Renaissance, die archaisch anmutenden Anklänge an Gregorianik und italienische Monodie entsprechen teils dem Zeitgeist – man mag an Igor Strawinsky oder Ottorino Respighi erinnert sein –, sind aber eigenständig entwickelt und wollen das Werk atmosphärisch verorten.

Die Felsenreitschule, Aufführungsort von Braunfels' "Jeanne d'Arc". Foto: Silvia Lelli

Die Felsenreitschule, Aufführungsort von Braunfels‘ „Jeanne d’Arc“. Foto: Silvia Lelli

Mit der Salzburger Aufführung – leider nur konzertant – wird Walter Braunfels auch an diesem Ort die gerechte Beachtung gezollt, die er längst verdient hat. Denn der von den Nationalsozialisten zum Schweigen gebrachte Komponist gehörte zu den erfolgreichsten Protagonisten des musikalischen Lebens in den zwanziger Jahren.

Mit seiner Oper „Die Vögel“ hatte er 1920 den Grundstein seiner Popularität gelegt, war als Gründungsrektor der Kölner Musikhochschule auch in der Ausbildung junger Leute eine maßgebliche Größe. Die Nazis enthoben den „Halbjuden“ 1933 seiner Ämter, belegten ihn mit Berufsverbot. Konrad Adenauer setzte den Verfemten schon im Oktober 1945 wieder auf der früheren Kölner Stelle ein, holte ihn vom Bodensee zurück, wo er im inneren Exil Werke für die Schublade schuf – unter anderem seine „Jeanne d’Arc“.

Bis zu seinem Tod 1954 schrieb Braunfels unermüdlich weiter, zuletzt ein „Spiel von der Auferstehung des Herrn“. Danach hat sich dichtes Vergessen zwischen ihn und das Jetzt gesenkt, das erst seit etwa fünfzehn Jahren aufreißt. Braunfels’ Weg war in der bundesrepublikanischen Nachkriegsgeschichte fatal folgerichtig: Wie anderen Nazi-Opfern ist es ihm nicht gelungen, an die Zeit vor 1933 anzuknüpfen. Das Musikleben bestimmten Leute wie Carl Orff oder Werner Egk, die nach den alten Machthabern nun die junge Demokratie bedienten.

Nach 1950 – die braune Vergangenheit war mittlerweile auch für den öffentlichen Dienst kein Hindernis mehr – hatten Musiker wie Braunfels in den sich dogmatisch verhärtenden Richtungen der zeitgenössischen Musik ihren Ruf als gestrig und überholt weg. Und man vermied es allzu gerne, sich den Aufbruch ins Neue durch die Erinnerung an Geschehenes vermiesen zu lassen. Zudem dürften Braunfels‘ Konservatismus und seine Ablehnung der musikalischen Avantgarde seine Isolation noch verstärkt haben. Auch sein künstlerisches Ethos – er wollte die „christliche Oper“ vollenden – war wohl nicht geeignet, ihm das Interesse der Nachwelt zu erhalten. Das ändert sich nun, und es ist zu wünschen, dass der erneuerte Blick auf Menschen wie Walter Braunfels nachhaltig bliebe.

Manfred Honeck als kundiger Sachwalter von Braunfels‘ Musik

„Jeanne d’Arc“ war schon als „Wiederentdeckung des Jahres 2008“ bei ihrer szenischen Uraufführung an der Deutschen Oper ein grandioser künstlerischer Erfolg, nicht zuletzt, weil Christoph Schlingensief ein Mysterienspiel in wuchernden Bildern entwickelte. In Salzburg dirigierte Manfred Honeck – wie bei der auf CD dokumentierten konzertanten Uraufführung 2001.

Manfred Honeck (Musikalische Leitung), Johan Reuter (Gilles de Rais). Foto: Silvia Lelli

Manfred Honeck (Musikalische Leitung), Johan Reuter (Gilles de Rais). Foto: Silvia Lelli

Nicht immer gelang es, dem ORF Radio-Symphonieorchester Wien die Impulse für einen konturenreichen Klang zu vermitteln: Im ersten Teil standen die Klangkomplexe wie Blöcke da; auch die von einem ariosen Rezitativstil á la Pfitzner geprägten Szenen waren atmosphärisch eher beiläufig gestützt. Das änderte sich immer, wenn die vorzüglich einstudierten Chöre (Bachchor Salzburg, Chor und Kinderchor der Festspiele und des Theaters) zum Einsatz kamen. Alois Glassner und Wolfgang Götz haben, was Chorklang und Prägnanz der Artikulation betrifft, ganze Arbeit geleistet!

Mit der gesteigerten hymnischen Emphase des Finales des ersten Teils war das Orchester dann bei Braunfels angekommen: Die Musik zwischen vergeistigtem Oratorium und farbenfroher Oper fordert illustrative Details, theatralische Kommentierungsfreude, den Ton des Erhabenen wie des Burlesken – so etwa im „Zwischenspiel“, einer Solo-Szene des Herzogs von La Trémouille, in der Ruben Drole eine komödiantische Charakterisierungskunst zeigen konnte, wie wir sie etwa in Liedern von Hugo Wolf oder Ludwig Thuille wiederfinden.

An Juliane Banse, Protagonistin der Aufnahme von 2009, einem Mitschnitt der Uraufführung 2001, sind die Jahre nicht spurlos vorübergegangen: Das als engelsgleich gerühmte Timbre klingt vor allem in der Höhe hohl, die Stütze bemüht. Aber Banse wirft dafür ihre Erfahrung in die Waagschale: So gelingen ihr die Szenen im Gefängnis, ihr selbstbewusster Auftritt vor dem Gericht, ihre gereifte Ergebung in den Willen Gottes eindrücklicher als der Aufbruch des optimistischen jungen Mädchens.

Fedora Wesseler bezeichnet im Programmheft den „Schrei nach Gewissheit“ als ein zentrales Thema der Oper, das sich in der Figur des Gilles de Rais manifestiert. Johan Reuter bringt für diese zweifelnde, zuletzt resignierende Figur eine markante Stimme mit: Der Münchner Wotan – 2014 wieder zu erleben – trägt reflektierende Momente („Heißt das, dass Nacht nun sein soll…“) durch ein erlesenes Mezzoforte, gestaltet die Entwicklung zum auf ein Wunder hoffenden Pessimisten, der im Scheiterhaufen Johannas den Sieg Satans sieht.

Das diabolische Element des rechtsbeugenden Richters führt Michael Laurenz als Cauchon mit einem glänzend fokussierten Charaktertenor ein: Gellend preist er sein „System“, mit dem er die Seelen in die Richtung hetzt, die er für sein Urteil braucht. Vor dem Hintergrund der Entstehungszeit der Oper mag es nicht abwegig sein, an die giftigen Tiraden eines Roland Freisler zu denken.

Eine großartige Szene hat auch Pavol Breslik als von Selbstzweifeln geschüttelter Karl von Valois. Doch der gefeierte Tenor vergibt die Chance, über strahlende Töne und glanzvollen „Squillo“ hinaus subtilere Nuancen der Charakterisierung zu zeigen. „Ein neuer Morgen, und immer noch die gleiche Nacht“ wirkt wie ein Vortrag aus den Noten, nicht wie die tief empfundene seelische Verunsicherung eines Königs, die mit der großen Szene des Philipp in Verdis „Don Carlo“ konkurrieren könnte.

Licht und Schatten gibt es in der Besetzung der kürzeren Partien: Norbert Ernst gibt Colin, dem Jugendgefährten Jeannes, rhetorischen Pfiff, Tobias Kehrer kleidet die mahnenden und die trauernden väterlichen Worte des Jacobus von Arc in einen schlanken, substanzvollen Bass. Martin Gantner erweist sich als Ritter Baudricourt wieder einmal als zuverlässiger, stets sinnig gestaltender Sänger; an seiner Seite Wiebke Lehmkuhl mit feinem Ton als Lison.

Mit Siobhan Stagg und Sofiya Almazova gaben zwei Damen aus dem „Young Singers Projekt“ eine sympathische Kostprobe schöner Stimme; für Johannes Dunz (Herzog von Alençon) heißt es noch, an der Stütze zu arbeiten. Auch Thomas E. Bauer kann sich als Erzbischof von Reims nicht freisingen. Und Brian Hymel stellt mit ziemlich festgefahrenem Tenor und unfrei-knödeligem Timbre die Frage des Heiligen Michael: „Wer ist wie Gott?“ – eine Frage, die 1943, als Braunfels seine Oper vollendete, auf unheimliche Weise aktuell gewesen ist. Dass sie heute, unter ganz anderen Vorzeichen, nichts an Brisanz verloren hat, wird der Beobachter der Zeitläufte unschwer bestätigen können.

Informationen zu den Salzburger Festspielen: http://www.salzburgerfestspiele.at




Eine Ära geprägt: Der Dirigent Stefan Soltesz nimmt Abschied von Essen

Der Mann wirft einen prüfenden Blick ins Parkett des Aalto-Theaters, dreht sich um, schaut scharf in die Runde. Ruhe. Jeder Atemzug scheint kontrolliert. Spannung. Erwartung. Dann ein kurzes Anspannen der Schultern, ein Schlag – und die ersten dunklen Akkorde von Richard Strauss‘ „Frau ohne Schatten“ fluten den Raum: transparent, untergründig, mit dräuendem Nachdruck.

Stefan Soltesz. Foto: Matthias Jung

Stefan Soltesz. Foto: Matthias Jung

Stefan Soltesz beim Dirigieren: Das war stets eine Studie wert. Zu beobachten, wie er über den Rand seiner Brille eisblaue Blicke wirft. Zu verfolgen, wie der Finger hochschnellt, einem Sänger „Achtung“ signalisiert, im Abtauchen den Einsatz markiert. Mitzufiebern, wie er bald hundert Frauen und Männer im Orchestergraben antreibt, mitreißt, befeuert. Oder wie er mit unendlicher Geduld eine Innenspannung in der Musik aufbaut, einen schwerelosen Bogen trägt, eine Entladung vorbereitet.

Wucht und Macht: Nur sehr dosiert setzt Soltesz diese Mittel ein. Er weiß, dass sich die Riesengebärde, der massierte Klang schnell abnutzen. Gerade bei Richard Strauss, der so viele Dirigenten zu knalliger Koloristik verführt, setzt Soltesz auf Transparenz, auf Präzision, auf luftiges Acryl statt auf fettes Öl. Er hat damit einen Trend gesetzt, den andere inzwischen auch entdeckt haben. Ähnlich arbeitet er mit Partituren Puccinis: „Tosca“ oder „La Bohème“ sind bei ihm Chefstücke. Da gibt es keine hingeschmierte Kapellmeister-Routine, keine zuckersüße Opulenz. „Madama Butterfly“ gewinnt bei ihm emotionale Intensität aus einem – fast möchte man es so nennen – emotionsgedrosselten Zugang: Sehr nah am Notentext, mit allergrößter Sorgfalt gelesen.

Auch der üppige Orchesterzauber liegt ihm

Auf diese Weise setzte Stefan Soltesz am Aalto-Theater auch Vincenzo Bellinis „I Puritani“ mit einer suggestiven Qualität um, die das schnell vergebene Prädikat „einzigartig“ wirklich einmal verdient hat. Wer weiß, wie hilf- und lieblos Bellini-Opern abgewedelt werden, musste bei Soltesz ins Schwärmen geraten: So präzis, nuanciert, gleichzeitig auf die kantable Entwicklung geachtet und mitgeatmet sind die scheinbar einfachen, in Wahrheit unendlich sensiblen Notenbilder des sizilianischen Meisters selten in klingender Musik vollendet worden. Soltesz kennt nicht nur die Noten – er kennt auch die Tradition, wie sie zu lesen sind. So hat er die weiten, schwermütigen Seelenlandschaften Bellinis erschlossen,

Na gut: Auch Soltesz will sich dem Glanzvollen, dem Üppigen, der saftigen Entfaltung orchestralen Zaubers nicht entziehen. Sonst würde er Strauss nicht so lieben – obwohl er nicht als „Strauss-Dirigent“ gelten will. In der „Frau ohne Schatten“ ist er mit solchem Streben in seinem Element: Da klingen das Leuchtende und das Fahle, die schwelgerischen Aufschwünge und die harten Attacken, die sorgsam ausbalancierten Mischungen und die aggressiven Tutti. In der Wiederaufnahme im Aalto-Theater gibt es schon nach dem ersten Aufzug Bravi, nach dem zweiten Begeisterung, nach dem dritten eine herzliche, enthusiastische Ovation.

Szenenfoto aus der Inszenierung von Strauss' "Die Frau ohne Schatten" am Aalto-Theater Essen. Foto: Bernd Schmidt

Szenenfoto aus der Inszenierung von Strauss‘ „Die Frau ohne Schatten“ am Aalto-Theater Essen. Foto: Bernd Schmidt

Das Publikum in Essen liebt den Dirigenten, jubelt ihm zu, bereitet ihm in diesen Tagen bei seinen Abschiedsvorstellungen einen herzlichen, von Zuneigung und Hochachtung geprägten Empfang. Ein Flug der Herzen. Aber auch eine Ovation, die in der Stadt merkwürdig wenig Widerhall findet: Die Frage nach der Form von Soltesz‘ Abschied nach sechzehn Jahren Intendanz in Essen, die Kabale um den Titel des „Ehrendirigenten“: seltsame, hinter vorgehaltenen Händen geführte Debatten. Es scheint zur Unkultur unserer Zeit zu gehören, dass man Menschen wie Soltesz nicht mehr mit großzügiger, freier Anerkennung verabschieden kann.

Vielleicht hat er es seinen Partner auch nicht einfach gemacht: „Mal will er, mal will er nicht“, seufzte Hans Schippmann, Aufsichtsratsvorsitzender der Theater und Philharmonie, in der WAZ. Soltesz selbst hat seinen Abschied aus der machtvollen und in Deutschland seltenen Kombination des Intendanten und Generalmusikdirektors gern mit feinem Humor leichter dargestellt, als er ihm vielleicht fällt. Es ist nicht einfach, nach sechzehn Jahren äußerst erfolgreicher Arbeit in der letzten Saison den komplexen Betrieb zusammenzuhalten und bis zum letzten Tag zu motivieren.

Kämpferischer Theatermensch mit eindeutigen Positionen

Sicher: Soltesz war kein einfacher Chef, kein unkomplizierter Partner. Seine Wutausbrüche sind legendär. Dass seine Musiker auf der Stuhlkante spielen, wenn er dirigiert, ist ein offenes Geheimnis. Es gab heftige Worte, aber im Endeffekt war allen klar: Ohne Soltesz` unerbittliches und manchmal auch mit harten Bandagen durchgesetztes Regiment wäre die Qualität nicht möglich gewesen, die Essen über Häuser vergleichbarer Größe hinaushebt. Das hat dem Aalto-Theater beispielsweise 2008 das ehrenvolle Doppel des „Opernhauses des Jahres“ und des „Orchesters des Jahres“ eingebracht.

Und wer den Betrieb kennt – und der „Theatermensch“ Soltesz kennt ihn wie kaum ein zweiter – weiß, dass Koordination, Minimierung von Reibungsverlusten, aber auch der Kampf an den Fronten von Verstiegenheit oder Schlendrian aufreibend sind: Ein „netter Kerl“ erreicht da wenig. Dass er vor der Politik nicht kniff, muss man ihm hoch anrechnen. In der Debatte um die katastrophale Finanzlage der Städte und die notwendige Haushaltskonsolidierung bezog er eindeutig Position. Was er in einem offenen Brief vom 7. Januar 2010 in die Diskussion warf, ist ein ebenso schlüssiges wie notorisch nichtbeachtetes Argument:

„Die Kultur wird … zu einem Hauptverantwortlichen für die finanzielle Malaise der Kommunen gestempelt. Dass die Kultur dies nicht ist, wissen Sie genau. Selbst bei völliger Streichung der Kulturförderung wäre eine Haushaltskonsolidierung auch nicht ansatzweise erreicht. Die Staatsausgaben für Kultur in Deutschland betragen über alle öffentlichen Haushalte hinweg 0,8 Prozent der Etats. Ich appelliere daher dringend an Sie, das Thema Kultur weit hintanzustellen, wenn Sie über Haushaltssanierung diskutieren.

Als Stefan Soltesz mit der Spielzeit 1997/98 seinen Posten antrat, war noch nicht klar, mit welchem hingebungsvollen Einsatz er sich künftig seinem Stammhaus widmen würde. War er doch bereits ein Dirigent mit weitreichendem Aktionsfeld und hoher Reputation: von Hamburg bis Berlin, von München bis Amsterdam. Er brachte Leitungserfahrung mit, war in Braunschweig Generalmusikdirektor und in Antwerpen Chefdirigent. In Wien steht er seit seinem Debüt mit Rossinis „Barbiere di Siviglia“ 1983 regelmäßig am Pult, leitet in der kommenden Saison erneut den „Barbiere“ und Puccinis „Tosca“.

Entrée und Abschied mit Richard Strauss

Für Essen wählte er sich als Entrée ein Strauss-Werk, das nicht häufig gespielt und gerne gering geschätzt wird: „Arabella“. Das Publikum ging mit, erinnert sich der Dirigent, und so kam 1998 die „Frau ohne Schatten“ in der heute noch tragfähigen Regie von Fred Berndt heraus. Soltesz setzte auf Strauss: 1998, im 50. Todesjahr des Komponisten, folgte noch die Rarität „Daphne“ in einer Inszenierung Peter Konwitschnys, später „Elektra“, „Ariadne“, dann eine ehrgeizige „Ägyptische Helena“ und „Der Rosenkavalier“. Mehr Strauss gab es nicht einmal in München oder Dresden – und irgendwie ist es schade, dass ausgerechnet im Strauss-Jahr 2014 diese spezielle Essener Tradition abbricht: das sensible Alterswerk „Capriccio“ oder die Petitesse „Intermezzo“, von Soltesz dirigiert, wären das Schlagobers auf dieser feinen, reichen Tafel gewesen.

Der "Parsifal" Joachim Schloemers in Essen. Szene aus dem ersten Aufzug im Bühnenbild von Jens Kilian. Foto: Thilo Beu

Der „Parsifal“ Joachim Schloemers in Essen. Szene aus dem ersten Aufzug im Bühnenbild von Jens Kilian. Foto: Thilo Beu

Soltesz ist ein Pragmatiker: Die großen Stücke des gängigen Repertoires gehören für ihn zu jedem publikumsfreundlichen Spielplan: Mozart, Verdi, Puccini, Wagner. In Essen machte sich Soltesz 2008 an seinen allerersten „Ring“. Seine letzte eigene Premiere war Wagners „Parsifal“: musikalisch krönender, szenisch verunglückter Schlussstein der Reihe der zehn Opern des Bayreuther Kanon, die er im Lauf der Jahre in Essen dirigiert hat. Ausgrabungen waren seine Sache nicht – auch wenn er sich einen Meyerbeer durchaus auf der Aalto-Bühne hätte vorstellen können.

Gelegentlich ließ er sich auf Ausflüge ein: Verdis „Luisa Miller“, Umberto Giordanos „Andrea Chenier“, Alexander Borodins „Fürst Igor“ oder Händels „Hercules“ kamen unter seiner Intendanz heraus – und vor kurzem zum Verdi-Jahr „I Masnadieri“ nach Schillers „Die Räuber“. Soltesz machte sich auch für Aribert Reimanns „Lear“ stark und erinnerte an Hans Werner Henzes kluge Reflexion über das Künstlerdasein: „Elegie für junge Liebende“. Dass er sich 2008 mit Christian Josts „Die arabische Nacht“ abplagte, zeigte, wie undankbar der Einsatz für Zeitgenössisches sein kann.

Alles was ist, endet, sagt Erda im „Rheingold“. Das ist für sterbliche Menschen auch gut so. Mit dem Weggang von Stefan Soltesz geht eine lange, stabile und künstlerisch fruchtbare Ära am Aalto-Theater zu Ende. Seine Nachfolger werden die Akzente anders setzen. Die Zeiten, in denen eine starke Persönlichkeit Orchester und Ensemble prägte, sind wohl auf absehbare Zeit vorbei. Gastdirigenten kommen, neue Regisseure, andere Schwerpunkte im Spielplan. Soltesz‘ Erbe ist eine Herausforderung: Das hohe Niveau will gehalten sein. Die Zuversicht ist groß, dass es gelingt.

Als Dirigent wird Soltesz dem Essener Publikum erhalten bleiben: Am 10. November leitet er die Wiederaufnahme von „Tristan und Isolde“; weitere Vorstellungen der „Zauberflöte“, des „Fliegenden Holländer“, von „La Traviata“, „Ariadne auf Naxos“ und „Madama Butterfly“ sind geplant. Seine „riesige Musizierlust“ kann er wieder außerhalb Essens ausleben – bei Gastspielen, die er zugunsten seines Stammhauses stets zurückgestellt hat. In der kommenden Saison steht er u.a. in Wien, Budapest („Der Rosenkavalier“ und „Elektra“), Warschau („Lohengrin“) und Hamburg („Arabella“) am Pult.

Die letzten Vorstellungen: Strauss, Die Frau ohne Schatten, am 21. Juli (ausverkauft); Puccini, Tosca, am 14. Juli (Restkarten); Mahler, Sinfonie Nr. 2, am 18. und 19. Juli in der Philharmonie (ausverkauft).




Auschwitz auf der Opernbühne: „Die Passagierin“ als DVD-Edition

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Dies ist eine nachdrückliche Empfehlung: Die DVD der Bregenzer Aufführung von Mieczysław Weinbergs Oper „Die Passagierin“ überzeugt durch präzise Inszenierung, durchdachtes Bühnenbild, spannungsvollen Handlungsablauf, die Figurenzeichnung und -verkörperung, die Rezitative sowie den Einzel- und Chorgesang und durch die orchestrale Musik.

Nie hätte ich vorher gedacht, dass es möglich wäre, noch dazu überzeugend möglich wäre, ein derartiges Thema ins Zentrum einer Oper zu stellen. Zwar, dass man sich auch an diesem Thema mal vergreifen können würde, habe ich schon vor 30 Jahren geargwöhnt, als ich mal gesprächsweise prognostizierte, dass der Tag nicht fern sei, dass man auch aus Auschwitz noch ein Musical machen werde.

Was ich damals noch nicht wusste, was fast jeder nicht wissen konnte, war dies, dass eine Oper zu diesem Thema schon seit dem Jahre 1968 existierte. Eine Oper übrigens, die auch ihr Komponist, ein russischer Komponist mit polnisch-jüdischen Wurzeln, den ich vor drei Jahren noch nicht einmal namentlich kannte, zeitlebens nie in einer Aufführung hören konnte, nämlich weil sie nie aufgeführt wurde, in der UdSSR nicht aufgeführt werden durfte.

„Als er in den letzten Jahren seines Lebens gefragt wurde, welches Werk er für sein wichtigstes halte, antwortete Weinberg ohne Zögern: D i e P a s s a g i e r i n. Noch zwei Tage vor seinem Tod 1996 klagte er gegenüber Alexander Medwedjew, dem Librettisten des Werkes und bedeutenden Musikwissenschaftler, dass er das Werk nie gehört habe. Um ihn zu trösten, versprach Medwedjew, ,doppelt‘ genau zu hören, falls die Uraufführung jemals stattfinden würde: einmal für den Komponisten und einmal für sich selbst. Medwedjew konnte sein Versprechen am 25. Dezember 2006 bei der konzertanten Aufführung des Werkes im Swetlanow-Saal des Moskauer Hauses der Komponisten einlösen.“ (Zitat aus David Fanning: Mieczysław Weinberg / Auf der Suche nach Freiheit“ / aus dem Englischen von Jens Hagestedt, Wolke Verlag, Hofheim 2010, S. 131)

Im Sommer 2010 hatte ich zwar in einem sehr positiven Bericht der Sendung „Kulturzeit“ in 3sat mitbekommen, dass Weinbergs Oper im Rahmen der Bregenzer Festspiele aufgeführt worden sei, ohne dass ich diesen Hinweis damals mehr als zur Kenntnis nahm. Erst in diesem Jahr wurde ich wieder auf Weinberg aufmerksam, zunächst durch die ganz hervorragenden, brandaktuellen Aufnahmen seiner sämtlichen Violinwerke auf 3 CDs mit Linus Roth, Violine, und José Gallardo, Klavier, dann durch 4 (inzwischen 6) CDs mit den von dem Quatuor Danel dargebotenen Streichquartetten Weinbergs, und schließlich, nachdem ich endlich gemerkt hatte, welch großartigen Komponisten ich bislang noch nicht gekannt hatte, die Opern-DVD „The Passenger“ (op. 97), von der hier vor allem die Rede ist.

Fürs Fach Deutsch war in der gymnasialen Oberstufe in NRW vor nicht allzulanger Zeit noch Bernhard Schlinks Roman „Der Vorleser“ als Kurs-Lektüre verbindlich vorgeschrieben. Dieser Roman kam (trotz aller kritischen Vorbehalte, die man haben könnte; vgl. etwa die Rezension von Jeremy Adler) bei den Schülern in der Regel gut bis sehr gut an. Dies habe ich in meiner allerletzten aktiven Zeit als Lehrer noch mitbekommen. Heute würde ich ganz entschieden diesen Roman mit der zunächst ganz ähnlich in deutscher Nach-Auschwitz-Zeit ansetzenden Oper konfrontieren: als Ergänzung und Kontrast für eine mit ziemlicher Sicherheit noch ergiebigere Besprechung.

Wer Opern immer noch vorurteilsvoll grundsätzlich meidet, könnte sich zumindest die der Oper zugrundeliegende Romanvorlage der polnischen Auschwitz-Überlebenden Zofia Posmysz aus dem Jahre 1962 etwas genauer ansehen. Dieser Roman mit dem gleichen Titel „Die Passagierin“ erschien auf deutsch erstmals 1969 in der Übersetzung von Peter Ball und ist inzwischen wieder neu aufgelegt worden.

Die Opern-DVD überrascht übrigens auch durch eine außergewöhnlich gute Kameraführung und durch exzellente, sehr aufschlussreiche Extras, so mit einem Documentary unter dem Titel „In der Fremde“. (Je nach dem, wo man diese DVD der Firma NEOS erwirbt, kostet sie zwischen 30 und 40 Euro.)




Hier rätselhaft, dort Leidenschaft: Die Rheinoper würdigt Alexander Zemlinsky

Schwertkampf von hohem Abstraktionsgrad: "Eine florentinische Tragödie" mit Corby Welch, Jana Vuletic, Anoosha Golesorkhi. Foto: Hans-Jörg Michel

Schwertkampf von hohem Abstraktionsgrad: „Eine florentinische Tragödie“ mit Corby Welch, Jana Vuletic, Anoosha Golesorkhi. Foto: Hans Jörg Michel

Wir wissen nicht viel über das Ehepaar B. und S., sehen immerhin, dass sie schon mal ins Kino gehen. Da sitzen die beiden dann, im roten Sessel, erste Reihe. Sie wie in sich selbst gefangen, vom Gatten ein wenig abgerückt, der sich großspurig mit Popkorneimer in den Sessel gedrückt hat. Ein grober Klotz, ein verängstigtes Weibchen? Nun ja.

Es ist auch nicht ohne weiteres ersichtlich, dass die holde Gattin sanft entschlummert und sich dabei träumend in ihre Innenwelt verkriecht, um eine Geschichte zu imaginieren, die da heißt „Eine florentinische Tragödie“. Nur wer lesen kann im Rheinopern-Programm, ist klar im Vorteil.  Der unbedarfte Zuschauer aber blickt in Düsseldorf auf eine surrealistische, bunte, sonderbare Bebilderung eines Stückes, das doch eigentlich einen Psychothriller darstellt. Erdichtet von Oscar Wilde, in exaltierte, rauschhafte Musik gegossen von Alexander Zemlinsky.

Sich dieses Komponisten anzunehmen, ist grundsätzlich ein Verdienst. Seine Opern hatten ihre Zeit, zu Beginn des 20. Jahrhunderts, im Gefolge des Verismo. Zemlinsky war ein exzellenter Klangfarbenzauberkünstler, liebte das Ornament, bisweilen die expressive Schärfe, nicht zuletzt eine offene Harmonik auf dem Weg zur Abschaffung der Tonalität. Von den Nazis ins New Yorker Exil getrieben, glänzte sein Stern nur kurz. Erst Ende der 70er Jahre begann eine zögerliche Zemlinsky-Renaissance.

Wenn also die Deutsche Oper am Rhein eben jene „Florentinische Tragödie“ auf die Bühne bringt, in Koppelung mit „Der Zwerg“, ist das alle Aufmerksamkeit wert.  Wenn aber die Regisseurin Barbara Klimo die Dreiecksgeschichte zwischen den Eheleuten Bianca (B.) und Simone (S.) sowie dem Liebhaber Guido Bardi kaum als Kammerspiel, vielmehr als belangloses Nebeneinander inszeniert, wächst die Enttäuschung mit jedem Takt. Die Traumsequenzen, das durch einen Harlekin geleitete Spiel im Spiel, wirken so beliebig wie grotesk. Nun, wir kennen zwar skurrile, irreale Träume. Dass wir indes irgendwie verändert, gar geläutert aus solcherart Schlaf erwachen, scheint allzu unsinnig.

„Die Florentinische Tragödie“ mag kein Schocker sein wie Richard Strauss’ Einakter „Salome“, verträgt deshalb gewiss Distanz vom Opulenten. Doch die aufgeladene psychologische Situation – der Gatte kommt nach Haus und findet einen Fremden bei seiner Frau – verdient eben mehr als die zwanghafte Bebilderung fast jedes Wortes, jeder Geste. Selbst die Zweckentfremdung Magrittescher Motive, die sich Ausstatterin Veronika Stemberger leistet, wirkt da nur befremdend. Dass Kaufmann Simone den Unbekannten, der sich als Fürstensohn entpuppt, einlullt, ihn durch allerlei Gerede perfide in den Bann zieht und zu einem scherzhaften Duell treibt, das für den Liebhaber tödlich endet, entbehrt in Düsseldorf jeder Spannung.

Und dies, obwohl doch die Symphoniker unter Jonathan Darlington die Musik überaus exzessiv aufleuchten lassen, ja sie klanglich und dynamisch bisweilen ins Extrem treiben. Die Sänger indes befinden sich in einer Zwickmühle. Sie müssen spielen ohne Entäußerung, aber zumeist forciert singen, um gegen die orchestrale Macht anzukommen. Kein Leichtes für Corby Welch (Guido Bardi), Anooshah Golesorkhi (Simone) und Janja Vuletic (Bianca).

Neugier und Furcht: Der Zwerg (Raymond Very) wird ausgepackt. Foto: Hans-Joerg Michel

Neugier und Furcht: Der Zwerg (Raymond Very) wird ausgepackt. Foto: Hans Jörg Michel

Wie anders hingegen „Der Zwerg“. Wo eben noch Ratlosigkeit herrschte, ist nun Staunen angesagt. Wir rücken an die Stuhlkante, lauschen der in ihrer Textur leichteren, gleichwohl süffigen, schillernden Musik. Wir ergötzen uns an schönen, charakterstarken, wendigen, farbenreichen Stimmen. Und wir werden hineingezogen in Immo Karamans spannende, sinnfällige, psychologisierende Inszenierung. Wenn auch der Schluss ein wenig verwirrt.

Zemlinskys Oper, ebenfalls nach Oscar Wilde („Der Geburtstag der Infantin“) spielt am spanischen Hofe. Wo die Prinzessin Donna Clara ihren 18. Geburtstag feiert. Ihr als Geschenk ein Zwerg zugesandt wird. Der fein singen kann, aber hässlich ist, von seiner Fratzenhaftigkeit allerdings nichts weiß. Weil er keinen Spiegel kennt. Der sich in die Infantin verliebt, ihrer Zuneigung gewiss ist, schließlich aber die Bedeutung eines Spiegels begreift und vor Erschrecken über sich selbst stirbt.

Die Geschichte ist so angelegt, dass die Infantin mit ihrem Geschenk nur spielt. Und am Ende die Schultern zuckt, dass das Spielzeug so schnell kaputt geht. Nicht so bei Karaman. Er verhandelt die Anziehungskraft des Hässlichen. Stellt Donna Clara eine Schar von Freundinnen und Zofen an die Seite, die mit pubertärem Gekicher, frühsexuellem Begehren, mit Neugier und Angst einem seltsamen Wesen, dem Zwerg begegnen. Und schafft mit Claras Vertrauter Ghita eine Figur, die in ihren Sehnsüchten und Träumereien nichts anderes als das alter Ego der Infantin ist.

Des Zwergen Pein und der Infantin Leid: Szene mit Raymond Very und Sylvia Hamvasi. Foto: Hans Jörg Michel

Des Zwergen Pein und der Infantin Leid: Szene mit Raymond Very und Sylvia Hamvasi. Foto: Hans Jörg Michel

Der Zwerg wiederum ist Opfer. Nicht das eines Spiels, sondern das der eigenen Unzulänglichkeit. Er ist verwirrt, verliebt, verzweifelt. Und wenn die vermeintliche Spielerei fast ihr tragisches Ende findet, sitzt Donna Clara ebenso verwirrt, vielleicht ein wenig verliebt, eher ziemlich verstört in einer Ecke. Hat sich gekauert neben einen, mit einem imaginierten, üppigen Spiegel verzierten, schicken Sekretär. Verortet in einem weiten Gewölberaum, den Nicola Reichert erdacht hat.

Dass jedoch aus dem Zwergen ein Priester wird, Regisseur Karamann so offenbar das streng katholische Spanien ins Spiel bringen will, in dem die jungen Damen in Einheitskleidchen von uniformierten Gouvernanten getriezt werden, wirkt ein wenig konstruiert. Gleichwohl allenthalben Faszination. Zumal hier die Düsseldorfer Symphoniker so differenziert wie leidenschaftlich zu Werke gehen. Und mit Sylvia Hamvasi (Infantin), Anke Krabbe (Ghita) sowie Raymond Very (Der Zwerg) ausgefeilte Charaktere auf der Bühne stehen, berührender Gesang inklusive.

Die Rheinoper präsentiert also einen Zemlinsky-Doppelabend, der zwischen Rätselhaftigkeit und Leidenschaft pendelt. Gleichwohl muss er als wichtiges Plädoyer für einen zu Unrecht vernachlässigten Komponisten gelten.




Akzent zum Verdi-Jahr: „Die Räuber“ („I Masnadieri“) am Aalto-Theater Essen

Was bringt eigentlich so ein Jubiläum? Im Zweifelsfalle nichts: Auf Richard Wagners 200. Geburtsjahr trifft das zu. Und für Giuseppe Verdi, dessen 200. Geburtstag im Oktober gerade medial präpariert wird, steht Ähnliches zu befürchten.

Schreibtischtäter: Szene aus Verdis "Masnadieri" am Aalto-Theater Essen: Marcel Rosca (Maximilian), Zurab Zurabishvili (Karl), Liana Aleksanyan (Amalia), Rainer Maria Röhr (Herrmann). Foto: Thilo Beu

Schreibtischtäter: Szene aus Verdis „Masnadieri“ am Aalto-Theater Essen: Marcel Rosca (Maximilian), Zurab Zurabishvili (Karl), Liana Aleksanyan (Amalia), Rainer Maria Röhr (Herrmann). Foto: Thilo Beu

Verdi hat nicht einmal die hässliche Seite aufzuweisen, die bei Wagner von einer aufgescheuchten Kultursociety nach jahrzehntelanger seriöser Forschung nun in hippeligem Moralismus breit getreten wurde. Verdi war kein Antisemit, sein Lebenswandel sperrt sich der Mythenbildung und kein Faschist hat ihn zum Inspirator erkoren.

Hätten sich wenigstens die Operntheater von seinem Œuvre inspirieren lassen, hätte das Jubeljahr den Blick weiten können. Denn Verdi hat gut doppelt so viel komponiert als das Dutzend Werke von „Nabucco“ bis „Falstaff“, die des Geburtstagsklamauks nicht bedürfen, um andauernd überall inszeniert zu werden. Doch bisher ist – auch mit Blick auf die Spielzeit 2013/14 – von einem Aufbruch hin zu unvertrauten Verdi-Ufern wenig zu spüren. Ein paar hochherzige Projekte gibt es: Krefeld-Mönchengladbach eröffnet die Spielzeit mit „Stiffelio“ – einer der am sträflichsten missachteten Opern Verdis. In Bielefeld wird es „Giovanna d’Arco“ in einer der Urfassung angenäherten Rekonstruktion geben. Und Frankfurt lenkt schon zum Ende dieser Spielzeit den Blick endlich einmal wieder auf Verdis großes französisches Experiment „Les Vêpres Siciliennes“ – in einer Inszenierung des Dortmunder Intendanten Jens-Daniel Herzog.

Als einziges der großen deutschen Opernhäuser plant Hamburg ein Projekt, das der Bedeutung Verdis angemessen ist. Wie als Gegenpol zur „Trilogia popolare“ (Rigoletto, La Traviata, Il Trovatore) stellt die Staatsoper im Oktober/November drei verschollene Verdi-Opern auf die Bühne: „I Lombardi alla prima crociata“, „I due Foscari“ und „La Battaglia di Legnano“ – letzteres ein Werk, das bei seiner Uraufführung 1849 wegen seiner politischen Stoßrichtung für Furore sorgte, aber kaum mehr gegeben wird, in Deutschland wohl seit Kriegsende nicht mehr.

Bei den selten gespielten Verdi-Opern mischt Essen mit

Aber das Aalto-Theater mischt diesmal vorne mit: Stefan Soltesz hat seinem Hang, im Zweifelsfall zu Populärem zu greifen, nicht nachgegeben und die Essener Erstaufführung von Verdis „I Masnadieri“ – nach Friedrich Schillers „Die Räuber“ – ermöglicht. 1847 uraufgeführt, gehören die italianisierten „Räuber“ zu den problematischen Werken Verdis: Der Komponist war seit „Macbeth“ dabei, neu aufgestoßene Wege in seinem Musiktheater zu erforschen, die er im „Rigoletto“ endgültig stabilisiert hat.

In der Regie setzte der Intendant auf Bewährtes und beauftragte Dietrich Hilsdorf mit der Erarbeitung seiner inzwischen neunzehnten Aalto-Inszenierung. Und wieder einmal schwankt Hilsdorf zwischen einer bravourös aus dem Stück entwickelten Interpretation und seiner Lust an überdrehten szenischen Nadelstichen. Für ihn sind die „Masnadieri“ zunächst eine Familiengeschichte: „Familienbande“ steht zweideutig auf dem Gazevorhang, auf dem vor Beginn der Oper schon ein dunkler teutscher Tann den Zuschauer ironisch in die Irre führt.

Den konservativen Spruch von der Familie als „Keimzelle der Gesellschaft“ nimmt er beim Wort: In der prunkvoll-kalten Eleganz eines gigantischen Büros, gestaltet vom bewährten Johannes Leiacker, exponiert er die Konstellation mit genau beobachteten Gängen und Gesten. Carlo Moor ist der Träumer, der Außenseiter, der nach Alternativen sucht; Francesco Moor, hinkend und missgestaltet, der eilfertige, machtlüsterne Anpasser; Amalia das begehrte Objekt zwischen den Männern, zu der noch Arminio gehört, Kammerherr der Familie, in Essen umgedeutet zum geduldeten Bastard des alten Moor. Dieser Graf Massimiliano ist eher hilfloses Opfer der Intrige als ein entschiedener Täter; Hilsdorf wird die Figur des alten Vaters im Lauf des Stück bis zum Zerrbild eines patriarchalistischen Richter-Vaters und Gottes-Ersatzes demontieren.

So weit ist die Exposition bestechend erdacht. Aber mit den Räubern kommt Hilsdorf nicht ins Reine, weil er im Räuber-Bild des zweiten Akts die „Kampfzone ausweitet“ und das Stück zur Kritik des liberalen Kapitalismus umbiegt. Da klemmen Broker und Börsianer vor Flatscreens, flimmern Zahlen und Grafiken, tummeln sich offenbar russische Oligarchen, gegen die ein paar bunte Pussy-Riot-Vermummte blank ziehen. Hilsdorf hat versucht, die Szenen mit den Räubern auf zwei Ebenen anzusiedeln – der von Alexander Eberle vorzüglich präparierte Chor singt teilweise von oben oder aus den Zuschauerraum –, aber es wird szenisch nicht klar, was die idealen Kopfgeburten des Carlo Moor und die Bande enthemmter Kapitalistenknechte auf der Bühne miteinander zu tun haben sollten.

Ende im Welt-Ekel: Verdis "Masnadieri", von Dietrich Hilsdorf gedeutet. Foto: Thilo Beu

Ende im Welt-Ekel: Verdis „Masnadieri“, von Dietrich Hilsdorf gedeutet. Foto: Thilo Beu

Ab hier verliert die Inszenierung ihre Schlüssigkeit, auch wenn sich am Ende abzeichnet, dass Hilsdorf auch die Geschichte von Menschen erzählen will, die am Lebens-Ekel zugrunde gehen. Der von Verdi dramaturgisch genial und musikalisch zukunftsweisend vertonte Wahnsinn der „Kanaille“ Francesco Moor wirkt aus sich heraus; der Schluss, als Carlo Moor einer völlig im existenziellen Nichts gestrandeten Amalia den Rest gibt, zeigt ihn als einen an der Welt verzweifelten Gescheiterten, ähnlich wie Corrado in Verdis wenig später entstandener Byron-Oper „Il Corsaro“. Für diesen Aspekt öffnet Hilsdorf die Augen: In der Schaffensphase um 1847/48 kreiert Verdi Anti-Helden, gekennzeichnet von einer schwarzen Negation jeglichen Sinns und einer dämonischen Hybris: Macbeth gehört hierher, die Gebrüder Moor, der Korsar. Ein Nachfolger tritt uns erst wieder mit dem Jago in „Otello“ entgegen.

Verdis „Galeerenjahre“ gehen zu Ende

Ähnlich ausgefeilt wie die Regie mit der Szene geht der Dirigent Srboljub Dinić mit Verdis Partitur um. Dinić will uns hörbar machen, dass Verdis „Galeerenjahre“ zu Ende gehen, dass er über die schlagkräftigen Cabaletten hinauswächst, dass seine Instrumentation reicher und dramaturgisch überlegter wird. Dass Dinić den zündenden Schwung und die federnd abspringende Attacke punktierter Rhythmen dämpft, muss nicht sein: Es ist gerade der Kontrast von innovativer Sprache und überkommenen „Floskeln“, die den Reiz der „Masnadieri“ ausmachen.

Das Orchester lässt spüren, wie es die „hohe Schule“ seines Chefs verinnerlicht hat: delikate Phrasierungen, sorgsame Balance, kultivierte Soli sorgen für einen veredelten Verdi-Klang. Das Sänger-Ensemble erreicht ein solides, gemessen an Verdis Anforderungen aber nicht immer konsistentes Niveau – was aber auch schon bei einer gefeierten „Masnadieri“-Produktion im Scala-Jubiläumsjahr 1978 in Mailand festzustellen war. Vokal am überzeugendsten nähert sich Aris Argiris seiner Partie des Francesco Moor: ein solide gestützter, klangschön timbrierter Bariton mit sicherer Höhe und psychologisch charakterisierend eingesetzten Nuancen im Klang.

I Masnadieri in Essen: Zurab Zurabishvili (Karl), Liana Aleksanyan (Amalia). Foto: Thilo Beu

Zurab Zurabishvili (Karl), Liana Aleksanyan (Amalia). Foto: Thilo Beu

Anders Zurab Zurabishvili als Carlo Moor: Der Tenor hat zwar entspannte Töne im Zentrum, zwingt seiner Stimme aber die Höhe förmlich auf und kommt so zu larmoyanter Schärfe und oft nur ungefähr treffender Intonation. Das Fach des Verdi-Tenors, das einst Sänger wie Carlo Bergonzi ideal verkörperten, scheint ausgestorben. Liana Aleksanyan bringt für die Rolle der Amalia – für die „Nachtigall“ Jenny Lind geschaffen – die nötige Leichtigkeit und einen gut anspringenden, lyrisch-hellen Ton mit. Auch ihre Mezzavoce kann sich hören lassen. Nur in der Attacke gelangen ihr einzelne Töne nicht ausreichend fokussiert – womöglich eine Frage der Tagesform.

Rainer Maria Röhr und René Aguilar als Arminio (Hermann) und Roller können auf Augenhöhe mithalten; sie überzeugen auch als Sing-Schauspieler in knappen, prägnanten Auftritten. Marcel Rosca ist als alter Graf Massimiliano ein die Facetten souverän beherrschender Gestalter. – Das Aalto-Theater hat mit dieser ehrgeizigen Produktion einen markanten Akzent in der deutschen Opern-Landschaft gesetzt und gezeigt, dass es sich lohnt, Kräfte für den wenig bekannten Verdi zu mobilisieren. Wenn der neue Intendant Hein Mulders im Herbst mit „Macbeth“ die Spielzeit eröffnen lässt, wird sich zeigen, wie beide Werke in ihrem Ringen um dramatische Wahrheit und Innovation miteinander verwandt sind.

Weitere Aufführungen am Aalto-Theater Essen: 20., 23. und 29. Juni; 3., 5., 7., 10. und 20. Juli. Kartentelefon: (0201) 81 22 200. Infos im Internet: http://www.aalto-musiktheater.de/premieren/die-raeuber.htm




Ein Europäer aus der bayerischen Provinz: Johann Simon Mayr zum 250. Geburtstag

Venedig, Karneval 1794: Im neuen „Teatro La Fenice“ wird die Oper „Saffo“ aufgeführt. Der Komponist ist ein „Zugereister“ aus Bayern, der sich durch einige Oratorien einen Namen gemacht hat: Johann Simon Mayr. Die Oper hat Erfolg, der 30-jährige Maestro erhält ein Jahr später erneut einen Opernauftrag: „Lodoiska“. In den kommenden Jahren sollte Mayr eine der führenden Gestalten nicht nur des venezianischen, sondern des italienischen Opernlebens werden.

 

Giovanni Simone Mayr. Bild: Archiv Häußner

Giovanni Simone Mayr. Bild: Archiv Häußner

Bis vor wenigen Jahren teilte dieser Komponist das Schicksal vieler seiner Kollegen, die in der Übergangszeit zwischen der Barockoper etwa eines Johann Adolph Hasse und der neuen Generation eines Gioacchino Rossini wirkten. Doch das Blatt hat sich gewendet: In Mayrs Heimat Ingolstadt bemüht sich seit 20 Jahren eine sehr aktive Johann-Simon-Mayr-Gesellschaft um die Wiederentdeckung seines Œuvres. An der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt wurde eine Forschungsstelle eingerichtet. Symposien, Editionen, Dissertationen erschließen Werk, Person und Umfeld des Komponisten.

Der italienische Verlag Ricordi hat eine Ausgabe in Angriff genommen, die Zug um Zug die bisher in Archiven schlummernden Noten aus der Hand Mayrs kritisch ediert und der musikalischen Öffentlichkeit zugänglich macht. Die Folgen sind schon spürbar: In den letzten Jahren sind wichtige Opern Simon Mayrs auf die Bühne zurückgekehrt, etwa „Fedra“ in Braunschweig (2007/08), „Il Ritorno d’Ulisse“ in Regensburg (2009/10) und Mayrs wohl berühmteste Oper, „Medea in Corinto“, in St. Gallen und München (2010). Zum 250. Geburtstag Mayrs am 14. Juni 2013 führt das Münchner Rundfunkorchester in Ingolstadt die Oper „Ginevra di Scozia“ in einem Festkonzert auf.

Von Mendorf nach Venedig

Am 14. Juni 1763 wird dem Schullehrer und Organisten Joseph Mayr zu Mendorf, 25 Kilometer von Ingolstadt entfernt, ein Sohn geboren. Johann Simon, so sein Name, macht gute Fortschritte in der Musik. Im Kloster Weltenburg, wo er zur Schule geht, rühmt der Abt sein virtuoses Klavierspiel. Mit zehn Jahren erhält der begabte Sänger einen Freiplatz am Jesuitenkolleg in Ingolstadt, wechselt 1777 an die Bayerische Landesuniversität und beginnt, Theologie, Philosophie und Jura zu studieren. Nebenher verdient er sich seinen Unterhalt als Organist. Ohne theoretischen Unterricht genossen zu haben, veröffentlicht er 1786 „12 Lieder, beim Klavier zu singen“.

Ingolstadt ist damals ein Zentrum der „Illuminaten“, einer aufklärerischen Geheimgesellschaft. Mayr kommt mit der nach Freiheit, Bildung und persönlicher Vervollkommnung strebenden Bewegung in Kontakt. In dem Freiherrn Thomas von Bassus findet er einen Förderer, der ihn als Musiklehrer auf sein Schloss Sandersdorf holt. Als der Illuminatenorden 1785 verboten wird, muss Bassus fliehen. Mayr folgt ihm nach Poschiavo in Graubünden – und will sich endgültig der Musik verschreiben.

Wohl ermutigt und finanziert von Bassus geht Mayr 1789 nach Bergamo, lernt bei Carlo Lenzi, dem damaligen Kapellmeister der Kirche Santa Maria Maggiore, studiert ab 1790 in Venedig. Dort nimmt sich der renommierte Kapellmeister an San Marco, Ferdinando Bertoni, ein stark an Gluck orientierter Musiker, seiner an. Die Begegnung mit dem reichen Musikleben Venedigs und die Bekanntschaft von Komponisten wie Peter von Winter und Nicola Piccinni regen ihn an, sich der Oper zuzuwenden.

Der Bayer eignet sich schnell die Sprache und die Gewohnheiten seiner zweiten Heimat Venedig an, heiratet 1796 in eine venezianische Familie ein und ändert seinen Namen in „Giovanni Simone“. In den nächsten Jahren geht er ganz im aufreibenden Betrieb auf. Für vier der Opernhäuser Venedigs, zunehmend aber auch für Mailand, schreibt er komische und ernste Werke, typische, sogenannte „semiseria“-Opern, die Elemente der alten „Seria“ mit solchen aus der Welt der „Buffa“ verbinden.

Seine einaktigen Farcen sind im Karneval erfolgreich. Sein Ruhm dringt mit der Buffa „Che originali!“ („Was für Originale“) über Italien hinaus. Paris, München und Lissabon spielen das Werk, das die Marotten eines musikliebenden, aber ungebildeten Dilettanten in feinsinniger Satire verspottet. In Italien kann es sich bis 1830 auf den Spielplänen behaupten; in einer Ausgrabung an der Hamburger Kammeroper ist es auch jetzt wieder äußerst erfolgreich.

Der Übergang zur modernen italienischen Oper

Mit der Oper „Ginevra di Scozia“, die von Triest und Wien aus 1801 einen Siegeszug antritt, hat sich Mayr endgültig als führender Komponist der Zeit etabliert. „Ginevra“, basierend auf einem Epos aus Ludovico Ariostos „Orlando furioso“, wird als Maßstäbe setzend eingeschätzt. Die Oper auf ein Libretto Gaetano Rossis markiert den Übergang zum „Melodramma“ des 19. Jahrhunderts. Ein Hinweis ist schon die Stoffwahl: aufgegriffen wird der später so beliebte Schauplatz Schottland. Mayr und Rossi setzen nicht mehr auf die Intrigenhandlung, sondern den wechselnden Kontrast der Affekte. Lokalkolorit kommt ins Spiel; musikalische Charakterstücke kennzeichnen Personen und Schauplätze. Instrumentierung und Orchesterbehandlung sind richtungsweisend. Englischhorn und Harfe zum Beispiel werden eingesetzt, um charakteristische Farben zu erzeugen.

Einer der Biographen Mayrs, Cristoforo Scotti, meinte 1903, keiner von Mayrs Zeitgenossen habe so viel profitiert vom dramatischen Realismus Glucks, der poetischen Melodie Italiens und der Fertigkeit der Instrumentation der Deutschen. Früher sah man besonders den Einfluss Glucks, Mozarts und Haydns auf Mayr; heute sieht die Forschung eine wichtige Quelle in der französischen Revolutionsoper, die Mayr in den bisweilen engen und drückenden Grenzen der italienischen Tradition rezipiert hat.

Neben antiquierten Elementen, wie langen, reflektierenden Arien findet sich zum Beispiel in seiner „Medea“ viel Richtungsweisendes: die Verknüpfung der begleiteten Rezitative mit Arien, Duetten und Chören, die avancierte Orchesterbehandlung, der ausdifferenzierte Satz, die kühne Instrumentierung und eine fortschrittliche, im Dienste des charakteristischen Ausdrucks stehende Harmonik. Die Uraufführung vor zweihundert Jahren, am 28. November 1813, in Neapel sah Isabella Colbran, die spätere Frau Rossinis, als Medea und den Tenor Manuel Garcia, der später ein berühmter Gesanglehrer wurde, als Egeo. Als Hauptstück der Oper gilt die Szene im zweiten Akt, in der Medea die Götter der Unterwelt beschwört, ihr bei ihrer Rache zu helfen. Sie geht weit über die „Ombra-Szenen“ der Barockoper hinaus.

Als Mayr sich nach 1815 mehr und mehr aus der Opernszene zurückzog, dem neu aufstrahlenden Stern Gioacchino Rossini das Feld überlassend, konnte der allgemein geschätzte, liebenswürdige Mann auf 20 Jahre Erfolg und internationalen Ruhm zurückschauen – aber, mehr noch: er hatte die musikalische Entwicklung in Italien entscheidend vorangebracht. Zu den großen Verdiensten Mayrs gehört die Entwicklung eines modernen, sprechenden Opernorchesters.

Gebildet, gütig, generös

Der Nachwelt blieb er vor allem als Pädagoge in Erinnerung, hatte er ja einen weltberühmten Schüler, Gaetano Donizetti. Dieser besuchte als mittelloser Knabe von 1806 bis 1815 die von Mayr in Bergamo gegründete „Scuole caritatevoli di musica“. Der gebildete und belesene Mann ließ die Schüler nicht nur unentgeltlich im Gesang unterrichten, sondern sorgte für Unterweisung in Musiktheorie, Orgel, Klavier, Violine, dazu noch in Geschichte, Geographie, Mythologie und Poesie. Der fromme Mayr, der ein ausgeprägtes Mitleidsgefühl hatte, errichtete 1809 noch das „Pio Istituto Musicale“, in dem mittellose alte Musiker, Witwen und Waisen Aufnahme fanden. Für seine gerühmte Güte und Freundlichkeit spricht auch, dass er Donizetti teils auf eigene Kosten nach Bologna schickte, damit der Hochbegabte beim damals ersten Kompositionslehrer Italiens Unterricht bekäme.

Hätte der bescheidene Komponist, statt sich ab 1802 nur noch seiner Kapellmeisterstelle an S. Maria Maggiore in Bergamo verpflichtet zu fühlen, die verlockenden Angebote aus Paris, London oder Dresden angenommen – wer weiß, wie sein Nachruhm heute erklänge. Die Fama seiner guten Werke ist mit denen, an denen er sie getan hat, gestorben. Dass sein musikalischer Nachruhm gering ist, dafür hat er selbst gesorgt: er hat sich dagegen gewehrt, dass seine Partituren veröffentlicht würden.

Dass sich über Mayr dichtes Vergessen gesenkt hat, ist nicht mit einer sowieso fragwürdigen musikhistorischen Auslese zu begründen, in der das Bessere ein Feind des Guten sei. Iris Winkler, wissenschaftliche Betreuerin der Simon-Mayr-Forschungsstelle Ingolstadt, sieht in Mayr einen Komponisten von europäischem Format: „Mayr ist in einen europäischen Kontext einzuordnen, nicht nur wegen seiner Herkunft und seinem Lebensweg, sondern auch wegen seinen weit über die Musik hinaus greifenden Interessen und seiner musikalischen Sprache.“




Das Spektrum der Romantik: Michaela Selinger singt Lieder im Aalto-Foyer

Michaela Selinger. Foto: Ruth Ehrmann

Michaela Selinger. Foto: Ruth Ehrmann

Wien, Paris, Glyndebourne, Hamburg: Die Sängerin Michaela Selinger hat sich in den letzten Jahren einen internationalen Ruf erarbeitet. Und kehrt dennoch immer wieder gerne nach Essen zurück, so zuletzt mit einer Liedmatinee ins Foyer des Aalto-Theaters.

Sie beginnt mit einem raffinierten Bogenschlag: Sie nimmt mit Hanns Eislers „Erinnerung an Eichendorff und Schumann“ direkt Bezug zum zweiten Teil ihres Konzerts, dem „Liederkreis“ op. 39 Robert Schumanns auf Texte von Joseph von Eichendorff. Dazwischen fächert sie Aspekte der Liedkunst des 20. Jahrhunderts auf: Romantik in der Sprache Claude Debussys, Franz Schrekers, Gustav Mahlers. Und Neu-Romantik eines Wieners, der unter dem Namen Albin Fries feine Miniaturen komponiert, die in ihrer melodischen und harmonischen Sprache sich gerade noch im Kontext der Moderne von Schreker und Mahler behaupten.

Dem klug komponierten Programm entspricht eine klug geführte Stimme. In Essen am Aalto, seit 2010 ihr Stammhaus, hat sich Michaela Selinger große Rollen ihres Fachs als lyrischer Mezzosopran erarbeitet. In der nächsten Spielzeit kommen zwei dazu: die Charlotte in Jules Massenets „Werther“ und eine neue Händel-Partie in „Ariodante“. Seit sie Fotos vom Aalto-Theater gesehen hatte, war es ihr Wunsch, an diesem Haus zu arbeiten, bekennt die Österreicherin im Gespräch. Erstklassiges Orchester, gute Arbeitsbedingungen, schöne Rollen: diese Vorzüge schätzt Michaela Selinger am Aalto. Vor allem auf die Partie der Charlotte freut sie sich, nachdem sie sich bereits als Mélisande in Claude Debussys Oper im französischen Fach „ausprobiert“ hatte.

Das Aalto-Theater, Stammhaus von Michaela Selinger, an das sie immer gerne zurückkehrt. Foto: Werner Häußner

Das Aalto-Theater, Stammhaus von Michaela Selinger, an das sie immer gerne zurückkehrt. Foto: Werner Häußner

Das Lied steht für die Sängerin ganz oben in der Wunschliste: „Ich habe im Studium das Lied für mich entdeckt. Das war lange vor der Oper, denn ich komme vom Oratorium her. Für mich ist es ein Mittel des persönlichen Ausdrucks. Eine intime Form, in der ich Freiheit des Gestaltens bis ins Kleinste habe.“ Auf der Bühne sei das nicht möglich; der Zuschauer würde solche Nuancen gar nicht wahrnehmen. „Beim Singen eines Liedes kommt es darauf an, ob ich schnell oder langsam atme, geräuschlos oder laut. Alles kann dem Ausdruck dienen.“ Diese Möglichkeit, genau zu modellieren, fordert Michaela Selinger heraus. Und sie sieht den Liedgesang als „Stimmhygiene“: „Wenn ich viel Oper gesungen habe, merke ich, wie gut das Lied meiner Stimme tut.“

Die beiden Eisler-Lieder – Selinger sang noch „Die Heimat“ auf einen Hölderlin-Text – könnte man psychologisch als regressiv bezeichnen: Trauer über das Verlorene herrscht vor, das „Ich“ träumt sich weg, will sich im Kinderland ausruhen, sehnt sich danach, zum zweiten Mal ein Kind zu sein: Die deutsche Romantik als Sehnsuchtsort in einer Zeit, in der die Blaue Blume im Exil und auf hartem, blutgetränktem Boden vergeblich zu blühen versuchte.

Exemplarisch zeigte sich schon in dieser Exposition, was die Matinee kennzeichnen sollte: Der Wiener Pianist Clemens Zeilinger erwies sich als überlegt-überlegen gestaltender Poet, die Sängerin als ein aufmerksamer, für die Nuancen sich aufhellender oder eintrübender Emotionen hellwacher Kopf. Aber deutlich wurde auch, dass Michaela Selinger technische Grenzen hat, die das Spiel mit den Ausdruckswerten des Singens limitieren.

"Pelléas et Mélisande" in Essen: Michaela Selinger als Mélisande und Jacques Imbrailo als Pelléas. Foto: Hermann und Clärchen Baus

„Pelléas et Mélisande“ in Essen: Michaela Selinger als Mélisande und Jacques Imbrailo als Pelléas. Foto: Hermann und Clärchen Baus

Im Einzelnen: Schon bei Eisler fallen Perioden auf, die verschwommen artikuliert sind, in denen die Konsonanten nicht ausreichend gebildet werden. Geht es um erfüllte Bögen, fehlt dem Mezzosopran der sicher fundierte Kern und ein weiträumiger Klang. Wenn Selinger uns einen öden Strand vors innere Auge führt, wenn sie Tränen und fahle Resignation besingt, ist ihr ganz leicht rauchiges, feingliedriges Timbre genau richtig. Auch für Claude Debussys „Trois Chansons de Bilitis“ bringt sie lyrische Clarté im Zentrum mit. „Le Tombeau de Naїades“ kleidet sie zu den charakteristischen, hell-unwirklichen Klängen des Klaviers in einen zurückhaltend bleichen, tonarmen Schimmer. Aber Schrekers und Mahlers groß angelegte, blühende Entwicklungen – mit herrlichen Pointen Zeilingers auf dem Flügel – kann sie klanglich nicht entfalten; da bleibt Selingers Mezzo begrenzt. Manchmal klingt auch die Höhe erzwungen, der Ton mit einer Spur zu viel gaumigem Klang.

So kann Michaela Selinger in Schumanns Zyklus vor allem in den verhaltenen, traurigen, ironischen, auch spukhaften Momenten überzeugen, während Visionäres oder sehnsuchtsvoll Kantables unerfüllt bleibt. Nochmals sei Clemens Zeilinger hervorgehoben: Er durchlebt Schumanns Gefühlskosmos mit einer Vielfalt von Farben und Nuancen, mit einer gestalterischen Souveränität, die den Zuhörer staunend und ergriffen zurücklässt. Freudiger Beifall im Foyer, in dem noch Stühle zugestellt werden mussten: So schlecht scheint es um das Liedpublikum nicht bestellt zu sein. Und man zeigte, dass man die Gattung und ihre jugendlich-sympathische Interpretin ins Herz geschlossen hat.




In öffentlicher Mission – Cecilia Bartoli ehrt den Komponisten und Diplomaten Agostino Steffani

Cecilia Bartoli schwungvoll in der Philharmonie Essen. Foto:  Sven Lorenz

Cecilia Bartoli bei ihrem schwungvollen Auftritt in der Philharmonie Essen. Foto: Sven Lorenz

Am Anfang war sie ein Geheimtipp. Eine junge Stimme unter den Mezzosopranistinnen. Mit gleichwohl schon charakteristischem, dunklem Timbre, einer eminenten Freude am Gesang, und, wie es hieß, mit einer großartigen, charakterstarken Bühnenpräsenz.  Kurzum: Die musikalische Welt staunte nicht schlecht über die Römerin Cecilia Bartoli.

Wir hörten ihre Rossini-CD’s und waren berauscht von der Geläufigkeit ihrer Gurgel, von der Perfektion ihres akrobatischen Singens. Und die Künstlerin schien die natürlich Gabe zu besitzen, all das in eine Stimme zu legen, was es braucht, um einer Opernfigur Leben einzuhauchen.

Das liegt nunmehr zwei Jahrzehnte zurück. Es war der Ausgangspunkt einer großen, bis heute andauernden Karriere. Dass die PR-Maschinerie schnell mit dem Vergleich „die neue Callas“ zur Hand war, flankiert von einer mehr oder minder sachkundigen Journaille, gehört leider zu den Mechanismen des Klassikmarktes. Von solcherart Glorifizierung ist indes längst nicht mehr die Rede. Jüngere Sängerinnen, deren Namen hier nichts zur Sache tun, sind nachgerückt, und wurden ihrerseits mit dem „Callas“-Titel beschwert. Bartolis Popularität hingegen hat Bestand.

Rossini, Mozart oder Partien des italienischen Belcanto – das war zunächst die musikalische Welt der Sängerin. In jüngerer Zeit folgte die Hinwendung zum Barock, legte sie dabei ihr Augenmerk auf das bisher kaum aufgeführte, gleichwohl hinreißend spannende Repertoire. Davon zeugt Bartolis Projekt „Mission“, dem Komponisten, Priester und Diplomaten Agostino Steffani gewidmet. 1654 in Venetien geboren, galt er  schnell als bedeutendster Vertreter der italienischen Oper in Deutschland – seine ersten Werke schrieb er bereits als 13jähriger im Dienste des Bayerischen Kurfürsten.

Bartoli hat nun ihr Programm in Essens Philharmonie präsentiert. Mit all dem gewohnten Temperament, der unbedingten Leidenschaft, die ihr Auftreten stets auszeichnen. Mit rasselndem Tambourin erstürmt sie die Bühne und schleudert uns triumphierend einen Siegesgesang aus Steffanis Oper „Alarico il Baltha“ entgegen. Die Bewegungen und Mimik der Sängerin sind dem Charakter der Texte aufs Schönste angepasst. Anders gesagt: Bartoli ist die Inkarnation barocker Affekte.

So singt sie sich durch Triumpharien, Nachtstücke, kecke Liebesbekundungen oder sanfte Weisen von intimer Reflektion. In tiefer Lage bisweilen mit gutturalem Ton, andererseits mit ausgefeiltem Legato und einer samtenen Höhe. Manchmal stürzt sie sich in einen spektakulären Koloraturenwettstreit mit Oboe oder Trompete, sehr zum Plaisir des Publikums. Mag das manchmal nach allzu mechanischer Reproduktion klingen, bleibt doch der positive Eindruck des kontrollierten, aber nicht künstlichen Überschwangs.

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Am Ende große Dankbarkeit für den verdienten, frenetischen Applaus. Foto: Sven Lorenz

Spätestens hier sei auf das bemerkenswerte Ensemble hingewiesen, mit dem Bartoli auftritt. I Barocchisti ist eine der besten Formationen, die es im weiten Feld der historisch informierten Aufführungspraxis gibt. Das Musizieren mit Originalinstrumenten wirkt nie spröde, vielmehr äußerst lebendig, besonders in rhythmischer Hinsicht. Andererseits gelingt dem Klangkörper ein piano von unendlicher Sanftheit, die uns scheinbar ins Sphärische katapultiert. Und wenn Cecilia Bartoli die Arie des Amphion aus Steffanis Oper „Niobe“ zelebriert – „Um der matten Seele Qualen zu mildern, kehre ich zu dir zurück, geliebter Ruheort“ –, wenn dazu ein Streichquartett höchst Sensibles intoniert und im Bühnenraum Glöckchen bimmeln, dann darf sich das Publikum getrost beseelt fühlen. Jedenfalls ist in solchen Momenten in der Philharmonie kein Laut zu vernehmen.

Dass Steffanis Musik so spannend wie zauberhaft aufleuchtet, ist nicht zuletzt dem Dirigat Diego Fasolis’ zu danken. Er ist ein wahrer Orchesterbeschwörer, der aus jedem noch so kleinen Einsatz eine staatstragende Sache macht. Mit Bewegungen, die bisweilen unfreiwillig komisch wirken. Andererseits entpuppt er sich so als idealer Partner der Bartoli. Mag es auch, bei soviel Temperament, mitunter zu rhythmischen Hakeleien kommen, bleibt doch der Eindruck eines großen Abends.

So gilt der frenetische Applaus einer Sängerin, die es über Jahre geschafft hat, sich ihr Repertoire Schritt für Schritt aufzubauen, die ihrer Stimme nichts Grenzwertiges zumutet. Manchmal scheint die Tragfähigkeit dieses Mezzo einen Hauch von Blässe zu zeigen, doch die Wirkung ihres Gesang ist noch immer unmittelbar. Typisch Bartoli eben.

 




Zwischen Popularität und Wagnis – der neue Spielplan des Dortmunder Theaters

Theater Dortmund - Gebäude -

Die Oper, die Dortmund verdient. Foto: Theater

Eine Dame und fünf Herren. Das Leitungssextett des Dortmunder Theaters gibt sich die Ehre zur Verkündung des neuen Spielplans. Ein 75 Minuten langer, sechsfach unterteilter Vortrag über Eckdaten, Produktionen, Programmprinzipien, über die Bedeutung des Hauses für die Stadt. Inklusive einiger dürrer Zahlen. Eine Pressekonferenz könnte spannender sein. Doch hinter allen Fakten verbergen sich interessante Details.

Bettina Pesch, geschäftsführende Direktorin des Theaters, ist die Herrin der Bilanzen. „Es geht wieder mal aufwärts“, verrät sie. 350.000 Euro Mehreinnahmen in allen Sparten, ein Auslastungsplus von 1,5 Prozent für die Oper oder plus 7 Prozent fürs Schauspiel seien Belege für solcherart Optimismus. Bezugsgrößen für diese Zahlen nennt sie nicht. Und Pesch muss konstatieren, dass die Stadt zwar die Tariferhöhungen 2013 fürs Personal ausgleicht, zudem aber einen Konsolidierungsbeitrag von 510.000 Euro einfordert. Dies gelte indes nur für die Saison 2013/14. „Weitere Einsparungen sind nicht machbar, sie gingen an die Substanz des Hauses“, sagt Pesch.

Wie die einmalige Konsolidierung aussehen soll, wo also ein Abzwacken noch möglich ist, bleibt offen. „Wir sparen nicht an der Kunst“ ist das Credo und dann verrät Pesch, sie habe auch ihre Tricks. Nun, abseits dieser sonderbaren Aussage bleibt festzuhalten, dass es im Musiktheater zwei Produktionen weniger geben wird: keine konzertante Oper, kein Werk der (klassischen) Moderne. Zwei Linien, die Intendant Jens-Daniel Herzog zu Amtsbeginn vorgegeben hat, sind erst einmal gekappt.

Immerhin: Im Doppeljubiläumsjahr zu Ehren von Richard Wagner und Giuseppe Verdi stehen zwei gewichtige Premieren an. Herzog selbst inszeniert „Don Carlo“ (Übernahme von Mannheim) und Schauspielchef Kay Voges wagt sich an den „Tannhäuser“. Eilig versichert er, es werde keine Nazis auf der Bühne geben. Andererseits wird betont, die Konstellation dokumentiere die gute Zusammenarbeit zwischen den Sparten des Dortmunder Hauses.

Szene aus dem Mannheimer "Don Carlo". Foto: Theater

Szene aus dem Mannheimer „Don Carlo“. Foto: Theater

Insgesamt sei angemerkt, dass der Opernspielplan,  um es dezent auszudrücken, populär ist. „Carmen“ und „La Cenerentola“, „Der Graf von Luxemburg“ und „Anatevka“ – Repertoire-Raritäten suchen wir vergebens. Dass Herzog Haydns Oratorium „Die Jahreszeiten“ dramatisiert, sei aber als Besonderheit durchaus erwähnt. Und dass sich die Junge Oper in Kooperation mit dem Kinder- und Jugendtheater des „Carmen“-Stoffes annimmt, darf ebenfalls als Zeichen guter Nachbarschaft gewertet werden.

Neu im Boot der Nachbarn ist Gabriel Feltz als Chef der Dortmunder Philharmoniker. Er gibt sich sachlich, beschwört keine visionären Ideen, ja bremst sogar die Erwartungen. „Es gab Anfragen, ob die Philharmonischen Konzerte nicht wieder an drei Abenden stattfinden könnten“, sagt Feltz. Doch er wolle erst einmal in Dortmund ankommen. Dort wird er drei Opernpremieren dirigieren, fünf der zehn „Philharmonischen“ sowie diverse Sonder-, Jugend- oder Familienkonzerte. Das klingt nach gehöriger Präsenz, aber sein Vorgänger Jac van Steen war im Grunde nicht weniger fleißig. Gleichwohl hat die Stadt ihn unsanft aus dem Amt gedrängt. Pech gehabt.

Der neue Chefdirigent Gabriel Feltz. Foto: Stadt Dortmund

Der neue Chefdirigent Gabriel Feltz. Foto: Stadt Dortmund

Ein Glücksjunge hingegen ist Ballettdirektor Xin Peng Wang. Die Sparte ist beliebt, die Compagnie wird international beachtet, das Programm zeugt stets von üppiger Fantasie. Dementsprechend launig verkündet er die Premieren der neuen Saison als opulentes, schmackhaftes Mehrgangmenü. Und vor allem die Hauptspeise hat es in sich: Wang selbst setzt Ödön von Horváths „Geschichten aus dem Wiener Wald“ in Szene. Die Choreographie wolle Menschenschicksale zeigen in der so schönen wie geisterhaften Stadt Wien. Mit Musik von Johann Strauss und Alban Berg, also mit übersprudelnden, prachtvollen wie brüchigen, morbiden Klängen.

Hier der Blick nach draußen, sonst aber stets der Hinweis, dass das Theater als Ganzes sich in der Stadt verorten müsse. Was niemand so konsequent angeht wie  Schauspielchef Kay Voges. Mit „Stadt der Angst“ will die Bühne das Ende der Leistungsgesellschaft einläuten – mit Hilfe einer Lichttherapie. Das klingt so kryptisch wie spannend. Ein Wagnis mit Intensität, denn an drei Tagen werden sechs Premieren, Vorträge und Diskussionen offeriert.

Andere Abgründe kommerzieller Art will wiederum Kristof Magnussons Komödie „Männerhort“ ausloten. Ein Blick auf weiblichen Shoppingwahn und die kleinen Fluchten des Mannes. Ein Spiel, das sich nur wenige Meter von Dortmunds Thier-Galerie ereignen wird, wie Voges eigens betont. Neben dem Premierenreigen – von „Peer Gynt“ bis „Der Elefantenmensch“ – setzt er auf Neues. Auf Stücke in türkischer Sprache (Kooperation mit Mülheim), auf Lesungen aus der Bloggerszene, auf eine Herbstakademie für Jugendliche.

Opernintendant Jens-Daniel Herzog. Foto: Theater

Opernintendant Jens-Daniel Herzog. Foto: Theater

Erste Adresse für diese Zielgruppe ist das Kinder- und Jugendtheater (KJT), das Andreas Gruhn nun in die 15. Spielzeit führt. In all den Jahren konnte er einen Publikumszuwachs von fast 26.000 auf 35.000 Besucher verbuchen.  Eine Erfolgsgeschichte, die sich auch nach 2015 fortsetzen soll, wenn die Spielstätte an der Sckellstraße aufgegeben werden muss, wenn möglicherweise ein neues Domizil neben dem Schauspielhaus entsteht. Zunächst aber bietet die neue Saison acht Premieren – Stücke, in denen etwa die Themen Liebe und Sexualität, Mobbing oder virtuelle Kriegsspiele verhandelt werden. Märchenhaftes wird das Programm ergänzen, ein Werk soll in Kooperation mit dem Jugendclub produziert werden.

Ja, die Dortmunder Bühnen haben in der Spielzeit 2013/14 einiges zu bieten. Doch vor allem die musiktheatralische Abteilung ächzt unter den Altlasten schlechter Intendanzen, ringt um jeden Zuschauer. Die Auslastung in der Saison 2011/12 liegt hier bei gut 53 Prozent. Dass Intendant Jens-Daniel Herzog den Satz in die Runde wirft, „Die Stadt hat die Oper, die sie verdient“, ist Ausdruck trotzig-optimistischen Nachvornblickens. Andererseits: Eine Kommune, die Millionen in einen „Kulturleuchtturm“ namens U pumpt, dem Theater aber kalt lächelnd das Geld aus der klammen Kasse zieht, bekommt eben die Oper, die sie verdient.

Alles zum Programm der Spielzeit 2013/14 unter www.theaterdo.de




Die Liebe, ein sehnsüchtiger Wunsch: Das Hamburg Ballett unter John Neumeier in Essen

Logo: Hamburg Ballett

Logo: Hamburg Ballett

Das Licht verlischt, der Horizont glüht blassblau auf. Christoph Eschenbachs Charakterkopf und der Flügel zeichnen sich scharf konturiert vor dem Hintergrund ab – wie ein Scherenschnitt des 19. Jahrhunderts. Eine Tänzerin tritt an den Flügel, ihr Kostüm ist einfach; reines Weiß.

Eschenbach beginnt zu spielen, leicht und verträumt. Schumanns „Kinderszenen“ eröffnen das Gastspiel des Hamburg Balletts in der Essener Philharmonie. Es sind stille, in sich versunkene Momente; die Tänzer bilden in fließenden Abläufen poetische Bewegungs-Bilder.

John Neumeier. Foto: Steven Haberland

John Neumeier. Foto: Steven Haberland

Eschenbachs Schumann-Interpretation, die er auch bei der Premiere des Balletts 1974 spielte, war ein Grund für die Entstehung der Choreografie, bekennt John Neumeier in seinen Lebenserinnerungen. Der Mann ist jetzt schon eine Legende: dienstältester Ballettdirektor der Welt, über 140 eigene Choreografien. Seit 1973 prägt Neumeier das Hamburg Ballett. Im September 2013 feiert die Compagnie die 40-jährige Zusammenarbeit mit dem Amerikaner, der ihr ein unverwechselbares Profil gegeben hat.

Eine Uraufführung für Essen

Pünktlich zum Jubiläum hat es die Philharmonie Essen geschafft, Neumeiers Truppe zu einem Gastspiel an die Ruhr zu bringen. Es gab auch ein Geburtstagsgeschenk: Damit ist nicht die Torte gemeint, die Intendant Johannes Bultmann am Ende der gefeierten Gala aufs Podium bringen ließ. Sondern eine Uraufführung: John Neumeier schuf unter dem Titel „Um Mitternacht“ eine neue Arbeit zu den Rückert-Liedern von Gustav Mahler, die er 1976 schon einmal choreografiert hatte. Vom „In Residence“-Künstler Christoph Eschenbach mit feinsten Nuancen begleitet, sang Matthias Goerne die ergreifend resignativen Klagen Mahlers mit seinem dumpfen, gurgelnden Timbre, prekärer Wortverständlichkeit und unklarer Vokalisierung – stets ein neues Rätsel, warum dieser Bariton zu den führenden Liedsängern zählen soll.

Edvin Revazov. Foto: Holger Badekow

Edvin Revazov. Foto: Holger Badekow

Neumeier deutet tragisches Scheitern von Liebessehnsucht, Beziehungsnot und Einsamkeit eher an, als sie allzu erzählend auszubreiten. Wenn am Ende der grandiose Solist Edvin Revazov sein Gesicht in die Hände einer der Welt enthobenen Frau in grüner Gaze legt, sich die Farbe des Kleides als Licht über die Szene legt, wird die Entrückung greifbar. In der „realen“ Welt triumphiert derweil die Kälte: Anna Laudere sitzt trotzig mit unbeteiligt gelangweiltem Blick da; Revazov legt seinen Kopf auf ihre Knie: „Liebe um Liebe“, wie sie das Lied „Liebst du um Schönheit“ erträumt, bleibt eine Vision.

Eschenbach folgt am Flügel Mahlers Anweisung, die Tempi „äußerst langsam“ zu nehmen. Dass die Spannung hält, ist seiner Kunst zu verdanken, die Töne zusammenzubinden. Die Tänzerinnen und Tänzer des Hamburg Balletts beherrschen die konzentrierte Bewegung so virtuos, dass sie auch in der rubatoverliebten Metrik stets mit Eschenbach zusammen auf einen Punkt kommen.

Souveräne Bewegungs-Kontrolle

Auch in den anderen Choreografien des Abends, frühe Arbeiten Neumeiers aus den siebziger Jahren, weckt die souveräne Kontrolle fließender Abläufe Bewunderung. Neumeier fordert kaum einmal Tempo. Er lässt die Paare sensible, fast schon skulpturenähnliche Figuren bilden: präzise Abstimmung und dosierte Kraft sind bewundernswert. Beispielhaft sei der Solist Alexandre Riabko genannt: In „Vaslaw“ von 1979, einer Hommage an den Tänzer und Künstler Vaslaw Nijinski mit Musik Johann Sebastian Bachs, bildet er mit unglaublicher Körperspannung den ruhenden Gegensatz zu den ausgezirkelten Figuren der Paare und der Solistin Patricia Tichy.

Mitgebracht hatte Neumeier auch das von ihm 2011 gegründete und betreute Bundesjugendballett. Begleitet von dem beherzt zugreifenden jungen Pianisten Christopher Park tanzten drei Paare Strawinskys „Petruschka-Variationen“ (1976) mit Lust an der rhythmischen Mechanik und kraftvoller Geschmeidigkeit.

Der Abend unter dem Titel „Nirgends … wird Welt sein als innen“ ist noch einmal zu sehen: am Samstag, 22. Juni, in Hamburg.

(Der Beitrag ist in ähnlicher Form zuerst in der WAZ erschienen).