Aufklärung, das unvollendete Projekt – opulente Ausstellung in Berlin

Erstdruck der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika vom 4. Juli 1776, gedruckt von Steiner und Cist in deutscher Sprache, Philadelphia, 8. Juli 1776. (© Deutsches Historisches Museum)

In einem der wirkungsmächtigsten Dokumente der demokratischen Staatsphilosophie, formuliert im Jahr 1776, wird festgestellt, „daß alle Menschen gleich erschaffen worden, daß sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt worden, worunter sind Leben, Freyheit und das Bestreben nach Glückseligkeit. Daß zur Versicherung dieser Rechte Regierungen unter den Menschen eingeführt worden sind, welche ihre gerechte Gewalt von der Einwilligung der Regierten herleiten; daß sobald einige Regierungsform diesen Endzwecken verderblich wird, es das Recht des Volks ist, sie zu verändern oder abzuschaffen, und eine neue Regierung einzusetzen, die auf solche Grundsätze gegründet, und deren Macht und Gewalt solchergestalt gebildet wird, als ihnen zur Erhaltung ihrer Sicherheit und Glückseligkeit am schicklichsten zu seyn dünket.“

Daniel Chodowiecki: Allegorisches Blatt zum Zeitalter der Aufklärung, Göttingen, 1791. (© Deutsches Historisches Museum)

Hauptautor der Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, die sofort vom in Philadelphia angesiedelten Druckhaus „Steiner und Cist“ ins Deutsche übersetzt wurde, war Thomas Jefferson, ein von der Aufklärung geprägter Staatstheoretiker, der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit aller Menschen predigte (und der Französischen Revolution die passenden Stichwörter lieferte) und im Sinne von Immanuel Kant die Vernunft als oberste Maxime des menschlichen Denkens und Handels propagierte.

Jefferson war auch Sklavenhalter

Jefferson war aber auch, und das wird gern vergessen, ein reicher Großgrundbesitzer, der auf seinen Plantagen hunderte Sklaven für sich schuften und sich darüber keine grauen Haare wachsen ließ. Wer die richtigen Ideen formuliert und die Fortschrittsgeschichte der Demokratie beflügelt, muss also im konkreten Handeln und alltäglichen Leben nicht immer ein leuchtendes Vorbild und schon gar nicht unbedingt ein guter Mensch sein.

Deutlich wird das jetzt wieder in einer mit über 400 Exponaten opulent ausgestatteten Ausstellung im Deutschen Historischen Museum Berlin (DHM). Sie trägt den Titel: „Was ist Aufklärung? Fragen an das 18. Jahrhundert“ und kreist längst nicht nur um das Denken von Kant, der in einem berühmten Aufsatz von 1784 die Frage, was denn eigentlich Aufklärung sei, in der „Berlinischen Monatsschrift“ auf die Vernunft als kategorischen Imperativ verwies und schrieb: „Habe Muth, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.“

Friedrich Wilhelm Springer: Miniaturbildnis des Immanuel Kant, Königsberg, 1795 (© Deutsches Historisches Museum)

Der Aufsatz von Kant ist genauso als historisches Dokument ersten Ranges in der grandiosen Ausstellung dokumentiert, wie auch der Erstdruck der deutschen Übersetzung der Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung sowie das Original des handgeschrieben Verzeichnisses mit den Namen der von Thomas Jefferson ausgebeuteten Sklaven.

Zwiespältige Vernunft 

Die Aufklärung, lernen wir, ist ein von Widersprüchen gezeichnetes Unterfangen, eine Aufgabe, die bis heute nicht vollendet ist. Zum Ende der mit Bilder-Fluten und Text-Bergen, Video-Installationen und Hör-Stationen zur ambivalenten Geschichte der Aufklärung und der mit politischen Verweisen und wissenschaftlichen Exkursen fast überinszenierten Performance zur Kulturgeschichte eines widerborstigen Begriffs erinnern uns denn auch Theodor W. Adorno und Max Horkheimer an die „Dialektik der Aufklärung“ und ihre Warnung, dass der aufklärerische, vernunftgeleitete Zweck der Selbstbefreiung zum bloßen Instrument  verkommen könne, um alle möglichen Zwecke zu erreichen.

„Große Scheiben-Elektrisiermaschine“ aus dem Besitz Johann Wolfgang von Goethes. (© Klassik Stiftung Weimar, Museen)

Von Kant bis Habermas

Das letzte Wort hat dann Jürgen Habermas, der wohl bedeutendste Soziologe und Philosoph der Gegenwart: Er  beschwört trotz aller Krisen, Kriege und Katastrophen der Moderne die „Einsicht der klassischen Aufklärung: Deren rationaler Kern besteht unverändert darin, an die Freiheit der Bürgerinnen und Bürger zu appellieren, ihre Vernunft öffentlich zu gebrauchen, um politisch auf die Gestaltung der Grundlagen ihrer gesellschaftlichen Existenz Einfluss zu nehmen. Eine solche vernünftige politische Willensbildung ist freilich nur im Rahmen der Institutionen eines unversehrten demokratischen Rechtsstaates und auf der Basis einer wenigstens halbwegs gerechten Gesellschaft möglich.“

Um anschaulich zu machen, wie weit der Weg von Kant bis Habermas war, werden Fragen zu Wissenschaft und Geschichte gestellt, Bilder, Skulpturen und Dokumente gezeigt, die den Fortschritt des Menschenbildes und das Unbehagen an der Kultur belegen, Geschlechterrollen befragen, über Bedeutung von Religion und Pädagogik nachdenken und die Aufklärung als unvollendetes Projekt der Menschheitsgeschichte beschreibt.

Georg Melchior Kraus: „Zwischen Wissenschaft und Ehe“, Mainz, um 1770-1776. (© Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg)

 

 

 

„Was ist Aufklärung? Fragen an das 18. Jahrhundert“, Deutsches Historisches Museum, Unter den Linden 2, 10117 Berlin, Pei-Bau, 1. und 2. OG. Bis 6. April 2025, geöffnet täglich 10-18 Uhr (geschlossen nur am 24.12.2024), Eintritt 7 Euro, ermäßigt 3,50 Euro, bis 18 Jahre frei. Infos unter www.dhm.de/aufklaerung, Katalog (Hirmer Verlag) im Museum 30 Euro, im Buchhandel 39,90 Euro. 




„Es musste etwas besser werden“ – Jürgen Habermas und die Pflicht zur Vernunft

„Ich halte das Streben, die Welt um ein Winziges besser zu machen oder auch nur dazu beizutragen, die stets drohende Regression aufzuhalten, für ein ganz unverächtliches Motiv. Daher bin ich mit der Bezeichnung ,Philosoph und Soziologe‘ ganz zufrieden.“

So äußert sich Jürgen Habermas in einem neuen Buch, in dem er über die Motive seines Denkens, die Umstände, unter denen es sich entwickelte, und die Veränderungen, die es im Laufe der Jahrzehnte erfuhr, Auskunft gibt.

Debatten und Diskurse beispielhaft geprägt

Dass der inzwischen 95-jährige Intellektuelle, der mit seinen Beiträgen und Büchern wie kein anderer die politischen Debatten und wissenschaftlichen Diskurse in Deutschland geprägt hat, mit dieser Selbstbeschreibung tiefstapelt, weiß er natürlich auch. Denn Habermas war nie nur ein „Philosoph und Soziologe“, der sich im universitären Elfenbeinturm verschanzt und von oben herab seine neuesten Erkenntnisse zu gesellschaftlichen Transformationen, kulturellen Phänomenen und kommunikativen Strategien verkündet.

Ob als Hochschullehrer in Frankfurt und Heidelberg oder als Autor der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“: Sich mit sozialwissenschaftlichen Argumenten und historischen Erkenntnissen in die aktuellen Debatten einzumischen, war stets sein größtes Bestreben, die Europäische Einigung sein größter Wunsch und die Abwehr rechtsnationaler Tendenzen der innerste Antrieb des enzyklopädisch gebildeten Großintellektuellen, der sich in jungen Jahren in einer von Alt-Nazis beherrschten Universitätslandschaft durchsetzen musste.

„Es musste etwas besser werden“, sagt Habermas (so auch der Titel des Buches), „und es lag an uns, ob sich die Welt zum Besseren verändern würde.“ Uns, das sind seine aus dem Exil heimgekehrten Kollegen von der „Kritischen Theorie“ der Frankfurter Schule: Adorno, Marcuse, Horkheimer, aber auch seine linksliberalen Mit-Studenten Karl-Otto Apel, Ernst Tugendhat und Michael Theunissen.

Wider die bleierne Zeit der Restauration

Im Gespräch mit Stefan Müller-Doohm und Roman Yos umkreist Habermas die Anfänge seiner wissenschaftlichen Biografie und die bleierne Zeit der bundesrepublikanischen Restauration, in der Habermas und sein Konzept einer auf die Demokratisierung der Gesellschaft und die Formulierung einer vernunftgeleiteten Kommunikation ausgerichteten Sozialwissenschaft wie ein Fremdkörper wirkte und als linksradikal diffamiert wurde.

Dabei hatte Habermas längst den ollen Marx neu interpretiert, auch Freuds Psychoanalyse und vor allem die US-amerikanischen Forschungen zur Linguistik und Sprechakt-Theorie in sein Werk einbezogen, Bücher verfasst, die heute legendär sind: „Strukturwandel der Öffentlichkeit“, „Erkenntnis und Interesse“, „Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus“, „Theorie des kommunikativen Handelns.“

Aber hört ihm auch noch jemand zu?

Im kollegialen Diskurs schreitet Habermas die wichtigsten Stationen seines Lebens und zentrale Begriffe seines Denkens ab, plädiert eindringlich für das Projekt der Europäischen Einigung, fordert ein entschlosseneres Handeln zur Verhinderung der Klimakatastrophe, kommentiert den völkerrechtswidrigen Überfall Russlands auf die Ukraine, mahnt Israel, bei seinem gerechtfertigten Krieg gegen den Terror der Hamas die zivilgesellschaftlichen Maßstäbe zu beachten, erinnert an die „Pflicht zum Gebrauch unserer Vernunft“. Habermas hat recht. Aber hört ihm auch noch jemand zu?

Jürgen Habermas: „Es musste etwas besser werden.“ Gespräche mit Stefan Müller-Doohm und Roman Yos. Suhrkamp, 254 Seiten, 28 Euro.




Entdeckung der Gelassenheit – „Das kleine Haus am Sonnenhang“ von Alex Capus

„Als ich noch ein ziemlich junger Mann war, nicht mehr Student und noch nicht Schriftsteller, habe ich für fast kein Geld im Piemont ein kleines Haus gekauft.“ Das marode Gemäuer, versteckt in einem Seitental an einem Sonnenhang gelegen, ist schwer und bei schlechtem Wetter nur zu Fuß zu erreichen. Es zieht durch alle Fugen und Ritzen, aber in den Augen des neuen Besitzers ist es genau das Richtige, um auszusteigen und sich neu zu erfinden.

Denn der junge Mann, der bisher ziellos durchs Leben geisterte und sich mit journalistischen Arbeiten über Wasser hielt, will seinen ersten Roman schreiben und Schriftsteller werden. Zwei, drei Jahre lang wird er sich in die Einsamkeit zurückziehen, die Ruhe genießen und die Gelassenheit entdecken, die er braucht, um aus seiner überbordenden Fantasie ein Buch zu formen. Irgendwann wird es fertig sein, dann wird er über verschneite Wiesen ins Tal hinabsteigen und ein neues Leben beginnen.

Schönheit der kleinen Dinge

Mit „Das kleine Haus am Sonnenhang“ entwirft Alex Capus nicht nur eine Philosophie der Langsamkeit und besingt die Schönheit der kleinen Dinge, er führt uns auch durch die schlingernden Pfade seines Daseins und öffnet die Tür in seine literarische Werkstatt. Capus, inzwischen längst ein Autor mit Bestseller-Garantie, beschreibt mit sanfter Ironie, wie er sich das schriftstellerische Handwerk selbst beibrachte und langsam begriff, dass Schreiben und Leben zwar zusammengehören, aber nie dasselbe sind.

Während er an seinem ersten Roman bosselt, in den Schreibpausen Reparaturen an seinem Haus vornimmt und manchmal ins nächste Städtchen wandert, in einer mit flackernden Neonröhren notdürftig beleuchteten Bar ein Glas Wein trinkt und mit den immergleichen Besuchern die immergleichen Gespräche führt, denkt er darüber nach, ob und wie ein Autor seine Biografie verwenden, verfremden und in Literatur verwandeln kann. Oder wie er das Chaos und den Zufall, der sein Leben beherrscht, in eine logische Kette von Wahrscheinlichkeiten verbiegen kann, die dem Leser glaubwürdig erscheint.

Als die Welt sich langsamer zu drehen schien

Reflektierend reist er durch die Weltliteratur und macht gelegentlich Station bei seinen eigenen, späteren Romanen. Wer würde ihm schon abnehmen, dass er – was der Wirklichkeit entspricht – fünf Söhne hat? Also belässt er es in einem autobiografisch grundierten Romane lieber bei drei. Wovon das Buch handelt, an dem Capus in seinem „kleinen Haus am Sonnenhang“ schreibt, bleibt im Ungefähren. Wichtiger ist, welche Gedanken ihm beim Schreiben durch den Kopf gehen oder wie er Macken und Marotten der kleinen Leute in dieser weltabgewandten Gegend (nicht ohne nostalgische Reminiszenzen) einfängt; damals, Mitte der 1990er Jahre, als mobile Telefone noch die Ausnahme waren, als man noch überall und immer rauchen durfte, an den Tankstellen noch persönlich bedient wurde und die Welt sich nur sehr langsam zu drehen schien.

Capus hat damals begriffen, was Zufriedenheit bedeutet, wie man Glück findet und ein gelassener Mensch wird: Warum sollte er ständig eine neue Pizza ausprobieren, wenn doch seine geliebte Pizza Fiorentina völlig in Ordnung ist? Und was bringt es, auf einer Urlaubsinsel täglich nach anderen Stränden zu suchen, wenn der eine – meistens gleich der erste – bereits gut genug ist und völlig ausreicht?

Alex Capus: „Das kleine Haus am Sonnenhang“. Hanser, München 2024, 160 Seiten, 22 Euro.




Immanuel Kant – auch am Billardtisch der Beste

Manchmal höre ich in den inspirierenden Podcast „ZEIT Geschichte: Wie war das noch mal?“ hinein. Die neueste Folge vom 27. Januar befasst sich mit der philosophischen Übergröße Immanuel Kant – zum Jubiläumsjahr (300. Geburtstag des Denkers) wahrlich keine Überraschung.

Titelblatt von Kants „Kritik der reinen Vernunft“ aus dem Jahre 1781. (Wikimedia Commons / gemeinfrei)

Zwei Leute aus der ZEIT-Redaktion haben mit dem Kant-Spezialisten Prof. Marcus Willaschek (Frankfurt) gesprochen. Selbstverständlich ging es vor allem um Hauptgedanken aus Kants denkerischen Kraftakten „Kritik der reinen Vernunft“, „Kritik der praktischen Vernunft“ und „Kritik der Urteilskraft“. Natürlich kam der kategorische Imperativ („Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“) ebenso zur Sprache wie die Bewunderung und Ehrfurcht, die Kant zufolge von zweierlei Phänomenen ausgelöst werden und immer wieder das Gemüt erfüllen: „Der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir“.

Zwischendurch erhob sich die Frage, ob Kant etwa Rassist gewesen sei. Vorsichtiges Fazit: Er habe einige zweifelhafte Sätze geschrieben, was aber der überragenden Bedeutung seines Gesamtwerks keinen Abbruch tue. Freilich genüge es nicht, ihm als „Kind seiner Zeit“ Generalabsolution zu erteilen. Das Für und Wider wollen und können wir an dieser Stelle nicht vertiefen. Hierzu sei beispielsweise Marcus Willascheks Buch „Kant. Die Revolution des Denkens“ (Verlag C. H. Beck, 28 Euro) empfohlen. Einen etwas leichteren Einstieg ermöglicht das neue Heft von „ZEIT Geschichte“, das gleichfalls um Kant kreist. Damit genug der gar nicht so schleichenden, sondern fast polternden Werbung. Smiley.

Ansonsten hangelte man sich durch ein paar Episoden aus dem Leben des weltberühmten Königsbergers, der vor 300 Jahren (22. April 1724) als Kind einfacher Handwerksleute geboren wurde und die Philosophie „grundstürzend“ verändert habe, wie es hieß. Entgegen gängigen Klischees, muss es dabei  phasenweise auch schon mal feuchtfröhlich zugegangen sein. Doch in etwas reiferen Jahren soll Kant – nach dem Vorbild des engen Freundes Joseph Green – gelebt haben wie ein Uhrwerk, nach dem die Bürger angeblich sogar ihr Zeitempfinden justierten. Wenn er aus dem Haus ging, war es hohe Zeit, um zu… Allerdings sprach Willaschek von einer Art Anekdoten-Übertragung, wie sie häufig vorkomme. Demnach soll sich das ungeheure, stadtbekannte Regelmaß des Alltags damals auf Green bezogen haben. Erst später habe man es Kant selbst zugeschrieben. Auch sei die gängige Behauptung, Kant habe zeitlebens niemals Königsberg verlassen, etwas übertrieben. In der umgebenden Region habe er sich gelegentlich schon bewegt.

Doch nun kommt’s, was trivial anmuten mag, aber vielleicht dennoch von Bedeutung ist. Hand aufs Herz: Wem ist denn schon geläufig, dass Immanuel Kant ein höchst versierter Billardspieler gewesen ist? Zeitweise habe er gar seinen Lebensunterhalt damit verdient, dass er mit anderen um die Wette spielte. Er soll dabei so überlegen gewesen sein, dass irgendwann keiner mehr mit ihm spielen mochte – jedenfalls nicht um Geld. Ob man daraus folgern kann, dass Billard ein besonderes Maß an Intelligenz erfordert?

Wer schreibt nun die Abhandlung darüber, ob sich das raffinierte Spiel mit den Kugeln auch in Kants Gedankenwelt abbildet? Gibt es wohl so etwas wie „Gedankenbillard“, gleichsam a priori über die Bande gespielt?

 




Fleisch und Geist: Dortmunder Festival „Klangvokal“ geht zurück zu den Anfängen der Oper

„Vox Luminis“ im Reinoldihaus Dortmund beim Festival „Klangvokal“. (Foto: Klangvokal)

Das Festival „Klangvokal“ in Dortmund pflegt über seinen Schwerpunkt im Mai/Juni hinaus eine Serie von Konzerten über das ganze Jahr hinweg. Letzter Höhepunkt war eine halbszenische Aufführung von Emilio de‘ Cavalieris „Rappresentatione di Anima, et di Corpo“. Damit geht das Musikfestival an den Anfang der Operngeschichte zurück.

De‘Cavalieri, ein hochgebildetes Multitalent, schrieb das allegorische Spiel im Jahr 1600 für die Bruderschaft des heiligen Filippo Neri in Rom. Jacopo Peri, der gemeinsam mit seinem römischen Kollegen mit seiner „Euridice“ am Ursprung der Oper steht, rühmt die „wundervolle Erfindungsgabe“ der Musik. In Dortmund sorgte das Ensemble „Vox Luminis“ mit einem vielfarbigen Instrumentarium nicht nur für beredte Rhythmen und variablen Klang, sondern vor allem für Transparenz, damit die kontrapunktischen Experimente, die sich über dem Generalbass erheben, deutlich zu verfolgen sind.

Cavalieris Spiel über den alten Gegensatz von Fleisch und Geist ist eindeutig für eine szenische Aufführung gedacht, denn die ersten Ausgaben enthalten Bühnenanweisungen. Kein Oratorium also, sondern eine in Szenen gegossene theologische Philosophie, geschrieben von Agostino Manni, einem Juristen, Schriftsteller und Biographen Filippo Neris. Die flüchtige Zeit – der Tenor Raffaele Giordani – äußert sich zuerst, dazu schlägt die Harfe (Sarah Ridy) eine tiefe Saite an wie den Glockenschlag einer Uhr. Der Theologe Anselm von Canterbury und der große Augustinus lassen grüßen, wenn der Verstand nach dem unstillbaren gierigen Verlangen fragt und eigentlich schon die Antwort des ganzen geistlichen Dramas vorwegnimmt: Zu erstreben ist das höchste Gut, das jedes andere Gut in sich einschließt – und das ist im christlichen Horizont des Stücks die Gemeinschaft mit Gott, die alles Sehnen stillt. André Peréz Muíño reflektiert diese existenziellen Fragen mit präsentem, brillant gebildetem Tenor.

Aber zuvor haben Körper und Geist ihren Weg der Erkenntnis zurückzulegen. Der führt über die Einsicht, dass Genuss den brennenden Durst des Menschen nur verstärkt und die Seele in sich selbst keine Befriedigung auf Dauer  erreichen kann. Giordani und seine Seelen-Partnerin – Sophia Faltas mit dem in der „alten“ Musik üblichen flach-schneidenden, vibratolosen Ton – formulieren diesen Disput sehr wort- und bedeutungsorientiert. Spannend im Sinne einer christlichen Auffassung ist, dass der Körper am Ende des ersten Aktes keinem Dualismus das Wort redet, sondern gemeinsam mit der Seele die Liebe, den Himmel, das ewige Leben und Gott, den Herrn suchen will.

Heiterkeit und Harmonie des Paradieses

Die Hindernisse, die es zu bewältigen gilt, formulieren zunächst der Counter Jan Kullmann als „Piacere“ mit seinen Begleitern Roberto Rilievi und Guglielmo Buonsanti in einem rhythmisch ausgelassenem Terzett, das in polyphoner Wirrnis endet. Das Vergnügen kann mit seiner irdischen Genuss-Botschaft nicht überzeugen. Geschliffenere Waffen zücken dann die Welt und das irdische Leben (scharf und kokett: Estelle Lefort), aber sie werden entlarvt und erweisen sich unter ihrer Verkleidung als todesträchtig. Ein Schutzengel (nicht ohne Mühe: Victoria Cassano) bestärkt die beiden Wanderer durch die Untiefen der Versuchung. Das lyrische Lamento des Körpers („Non so s’è stato bene“) und die folgende Echo-Arie der Seele sind Höhepunkte der Komposition de’Cavalieris.

Im dritten Akt erweitert sich dann der Horizont: Unter kräftiger Anteilnahme des „Guten Rats“ (Massimo Lombardi bringt eine neue Farbe ins Spiel, könnte aber die Stimme sorgfältiger kontrollieren) zeugen auch die seligen und die verdammten Seelen vom ewigen Tod und ewigem Leben (Zsuzsi Tóth und Lóránt Najbauer), bevor in einem finalen „Fest“ der Chor Heiterkeit und Harmonie des Paradieses besingen, wobei der Tenor Olivier Berten und vor allem der Altus Korneel van Neste wohlklingende, technisch befriedigende Stimmen erklingen lassen.

Die geschmückte Erde als Abbild des Himmels ist das in kraftvollen Farben gemalte musikalische Schlussbild, und sicherlich hat Emilio de‘ Cavalieri nichts gegen die Aufforderung an die „himmlischen Hierarchien“ gehabt, „neue Melodien“ zu machen. „Vox Luminis“ jedenfalls, unter der diskreten Leitung des Bassisten Lionel Meunier hat mit seiner beherzten Spielweise, seinem farbigen Instrumentarium, auch den durchaus unterhaltsamen Intermezzi und seiner Sensibilität für das gesungene Wort einen brillanten Beitrag geleistet, ein Stückchen Himmel auf dieser Erde erscheinen zu lassen.

Weiter geht’s am 10. November

Am Freitag, 10. November, setzt das Festival „Klangvokal“ die Reihe seiner Konzerte fort: Im Reinoldihaus Dortmund gestalten um 19.30 Uhr die Tenöre Emiliano Gonzalez Toro und Anders Dahlin zusammen mit dem Ensemble Gemelli Vokalmusik des italienischen Frühbarock und machen dabei auch auf unbekannte Komponisten wie Vincenzo Calestani oder Francesco Turini aufmerksam. Das Naghash Ensemble folgt am Freitag, 1. Dezember (19.30 Uhr) an gleicher Stelle mit Musik aus Armenien.

Tickets und Infos: www.klangvokal.de, Ticket-Hotline (01806) 57 00 70.    

 




Entwaffnend: Platons „Apologie des Sokrates“, neu übersetzt

Sonderlich geschickt war es eigentlich nicht, was Sokrates da angerichtet hat. Er hat allerlei Fachleuten in Athen, die sich für ungemein wissend hielten, glasklar vorgeführt, dass sie im Grunde nichts wussten – und damit natürlich mancherlei Eitelkeiten verletzt.

Eigentlich kein Wunder, dass sich viele dieser Kleingeister gegen den umtriebig umher ziehenden und disputierenden Philosophen verbündet haben, Anklage gegen den angeblichen Verderber der Jugend erhoben und schließlich gegen ihn die Todesstrafe durch den berühmt-berüchtigten Schierlingsbecher erwirkten. Dabei war es keine hochfahrende Arroganz, die Sokrates antrieb; auch er selbst wusste von sich, dass er (nahezu) nichts wusste. Nur vielleicht ein klein wenig mehr als seine Gegner.

Vor dem erwähnten Todesurteil durfte Sokrates eine öffentliche Verteidigungsrede halten, seine Apologie. Platon hat sie bekanntlich aufgezeichnet und für alle kommenden Zeiten festgehalten. Und Kurt Steinmann hat sie für die vorliegende Ausgabe neu übersetzt. Flüssig, aber doch nicht gar zu eingängig. Da sagt schon mal jemand schlichtweg „Ja, klar.“ Warum auch nicht? Es mag salopp klingen, ist aber passend, bezeichnen die zwei Wörtchen doch den hilflosen Duktus des größten Sokrates-Feindes, der halt nicht wortmächtig, sondern einfältig und beschränkt ist. Überdies dürften auch die schlaueren alten Griechen nicht ständig auf sprachlich hohem Kothurn einher gestakst sein.

Gar manches andere kommt entwaffnend einfach daher. So entwaffnend wie Sokrates‘ Logik, mit der er in der Apologie den Unsinn seiner Widersacher vorführt. Doch so klug und fintenreich er auch argumentiert, die Mehrheit der 500 ausgelosten Laienrichter ist nun einmal gegen ihn und lässt sich nicht umstimmen. Immerhin konnte er einige auf seine Seite ziehen: 280 „Männer Athens“ (wie Sokrates sie anspricht) plädierten für schuldig, 220 dagegen.

Es ist sonderbar bewegend, durch einen (letztlich auch subjektiv zugerichteten) Text Kunde zu erhalten von einem Prozess, der vor rund 2400 Jahren stattgefunden hat. Da fühlen wir uns dem Geschehen ganz nah, ja, wir sehen es womöglich geradezu filmisch vor uns ablaufen wie eines der großen Gerichtsdramen des Kinos.

Übrigens sind es – genau genommen – drei Reden, die Sokrates gehalten hat; eine Hauptansprache vor dem Urteil, eine nach dem Schuldspruch und schließlich letzte Worte nach Bestimmung des maximalen Strafmaßes. Sokrates ist, Platon zufolge, wahrhaft aufrecht in den Tod gegangen. Das Sterben erschien ihm nicht als finales Übel, sondern als Sphäre des Durchgangs. Und das unbeirrte Einstehen für die Wahrheit war ihm wichtiger als das bloße Überleben.

Dass und wie sehr Platons „Apologie des Sokrates“ zu den ewigen Klassikern und sozusagen zu den Gründungstexten Europas gehört, wird spätestens durch den Anhang des Bandes deutlich. Hier werden erlauchte Geister der letzten Jahrhunderte zitiert, die sich auf die sokratische Denk- und Redeweise bezogen haben – von Cicero bis Dante, von Montaigne bis Lessing und Goethe, von Hegel, Schopenhauer und Nietzsche bis Walter Benjamin und Elias Canetti. Lauter Denkanstöße und Lese-Anregungen erster Güte.

Platon: „Apologie des Sokrates“. Manesse. 192 Seiten, 24 Euro (Aus dem Griechischen übersetzt und kommentiert von Kurt Steinmann. Anhang mit zahlreichen Zitaten aus der Geistesgeschichte. Nachwort von Otto Schily).




Rudi Stephans einzige Oper „Die ersten Menschen“ in Frankfurt: Tobias Kratzer entdeckt ein aktuelles Endzeitstück

BegBegehren am Ende der Zeit: Ambur Braid (Chawa) und Ian Koziara (Chabel)ehren am Ende der Zeit: Ambur Braid (Chawa) und Ian Koziara (Chabel). Foto: Matthias Baus.

Begehren am Ende der Zeit: Ambur Braid (Chawa) und Ian Koziara (Chabel). (Foto: Matthias Baus)

Die Frau steht am Fenster und schaut hinaus auf sanft geschwungene Hügel, grüne Hecken, blühende Rapsfelder unter blauem Himmel. Im Raum waltet werkelnd ein Mann, pflegt ein Beet unter einer UV-Lampe. Ein Stromaggregat ist zu erkennen, neben der Wohnküche eine Kammer mit Dosen und Einmachgläsern. Bis zu 200.000 Prepper bereiten sich Schätzungen zufolge in Deutschland auf einen Zivilisationskollaps vor; auf der Bühne der Oper Frankfurt blicken wir in Rudi Stephans Oper „Die ersten Menschen“ auf eine Familie, die in ihrem Bunker eine solche Katastrophe überlebt hat.

Nach draußen geht der Weg über einen Schacht, der nur mit Schutzmaske erklettert wird. Die Naturidylle in den Fenstern erlischt bei einem Stromausfall und erweist sich als bloße Projektion auf LED-Screens. Frau, Mann, zwei erwachsene Söhne: die letzten Menschen stehen vor uns.

Tobias Kratzer, ab 2025 Intendant der Hamburgischen Staatsoper und ein gesuchter Regisseur („Tannhäuser“ in Bayreuth), hat das Thema der Oper virtuos umgedeutet, ohne dem Sujet Gewalt anzutun. Denn eigentlich geht es um Adam und Eva, Kain und Abel – das ist das Personal von Rudi Stephans Oper aus dem Jahr 1914. Der höchst begabte Komponist blieb 1915 in der heutigen Ukraine auf einem Schlachtfeld des Ersten Weltkriegs, eines von Millionen sinnlosen Opfern; einer, dessen Genius elend ausgelöscht wurde.

Passionierte, drängende Musik

Die Sehnsucht nach dem "wilden süßen Weib":

Die Sehnsucht nach dem „wilden süßen Weib“ führt zu einem ersten Gewaltausbruch: Iain MacNeil (Kajin) und Andreas Bauer Kanabas (Adahm). (Foto: Matthias Baus)

Welches Potenzial in dem 28-Jährigen am Erwachen war, eröffnet Sebastian Weigle dem Ohr mit dem sinnlich-üppig aufblühenden Frankfurter Opern- und Museumsorchester – die letzte von 38 Premieren mit ihm in 15 Jahren als Generalmusikdirektor in Frankfurt. Eine würdige Wahl: Die Epoche der in die Moderne hinüberklingenden Spätromantik liegt dem Dirigenten besonders nahe, das hat er mit Richard Strauss oder Franz Schreker bewiesen. Und der junge Rudi Stephan zeigt in jedem Moment seiner passionierten, drängenden Musik, dass er alle Mittel seiner Zeit verlegenheitslos beherrscht. Es gibt keine Durchhänger in den zweieinhalb Stunden.

Schon in der ersten Szene deckt Kratzer auf, welche psychischen Konstellationen die Beziehungen bestimmen. Auch dass die Figuren der Bühne mehr repräsentieren als ein individuelles Schicksal. Es geht um Lebenstriebkräfte, die den Zugang eines Menschen zu seiner Welt bestimmen: Sehnsucht nach Nähe und Zuwendung (Eva), Arbeit und Weltgestaltung (Adam), sexuelles Begehren (Kain) und Erfahrung des Transzendenten, die sich im Begriff „Gott“ verdichtet (Abel). Das Libretto verwendet die hebräischen Namens-Umschriften Adahm, Chawa, Kajin und Chabel mit einem dialektischen Sinn: Die Personen werden näher an die jüdische Heilige Schrift gerückt, gleichzeitig markieren die Bezeichnungen eine Distanz zur christlich-lateinischen Überlieferung und zur biblischen Thematik des Sündenfalls und der gestörten Gottesbeziehung.

In diesem Setting entwickelt sich eine Familienkonstellation, die eher an Ibsen, Strindberg und Freud denken lässt als an die Bibel. Adahm ist der unermüdliche Gestalter, der auch nach der Katastrophe aus seinem Geiste die Welt „neu pflanzen“ will. Seine Emotionen sind „im Brunnen in der Brust“ tief verschüttet. Chawa formuliert nach einem an Wagners „Tristan“ erinnernden Englischhorn-Solo in großen erotisch geladenen Bögen ihre Sehnsucht nach Nähe, unverständlich für ihren Mann, der den Sinn des Lebens in Arbeit sucht, ein „höheres Eden“ schaffen will: Das „neue Kleid“ für seine Frau ist eine praktische Schürze. Explizit und von explosiver Musik drastisch unterstützt, formuliert das Libretto das Erwachen von Kajins jugendlich ungestümer Sexualität: Aus unbestimmtem Drängen – er „fühlt nicht, was es ist, und fühlt doch, es ist da“ – kristallisiert sich das Begehren, das sich auf die einzige Frau dieser hermetischen Welt, seine Mutter Chawa richtet.

Präziser Sprach-Expressionismus

Der heute völlig unbekannte Dramatiker Otto Borngräber (1874-1916) hat diese Entwicklung in der überspannt expressionistischen Sprache des Librettos ohne blumige Umschreibung ausgedrückt – so explizit, dass die Uraufführung seines Schauspiels 1912 in München zum Skandal geriet und das Stück verboten wurde. Bei aller möglichen Kritik am Pathos der Worte: Borngräber erfasst die menschlichen Triebkräfte ungeniert direkt, anders als etwa Hugo von Hofmannsthal im raunenden Ungefähr seiner allegorischen und symbolischen Verschlingungen.

Ambur Braid (Chawa) und Iain MacNeil (Kajin). Foto: Matthias Baus.

Wenn sich Kajins aggressive Suche nach der Erfüllung seines sexuellen Begehrens zuspitzt, wechselt der Schauplatz auf Rainer Sellmaiers Bühne. Im düsteren Licht (Joachim Klein) wird eine zerstörte Welt sichtbar. Baumstümpfe, ein hoch gemauerter Kamin, ein aschgrau ausgebranntes Auto. Die Gestelle von Kinderschaukeln und ein wunderhaft farbenfroh gebliebenes Aufblas-Schwimmbecken signalisieren: Hier könnte einst ein Garten Eden gewesen sein, ein Zauberland verlorener Kindheit, bevor die Schlange dem Menschen das Wissen um „Gut“ und „Böse“, die Distanz zu sich selbst und zu seiner Umwelt eröffnet hat. Hier legen Chabel und Chawa ihre Masken ab, hier kommt es in einer Mischung aus religiöser Ergriffenheit und zitterndem Begehren zum Sex. Kajin, der zu kurz gekommene Bruder, oft begleitet vom „schmutzigen“ Instrument Saxophon, erschlägt Chabel in einem urgewaltigen Ausbruch purer Verzweiflung, ohnmächtig seiner ausbrechenden Gewalt ausgeliefert. In solchen Momenten zeigt sich, wie genau Kratzer die Personen führen kann, wie gekonnt er die inneren Kräfte und Konflikte der Charaktere freilegt.

Das Ende umreißt noch einmal den ganzen Horizont des Geschehens – und Stephans Oper bezieht in ihre Dramatik Eckpunkte der Religionskritik ein, die bis heute gültige Fragen stellen. Es geht um den Begriff des Existenz Gottes: Ist „Gott“ eine grenzenlose Lüge, schaffen wir ihn uns selbst, um unserer durchs All taumelnden Welt einen Sinn zu geben? Hat alles Geschehen seinen Grund, aber der ist ein Fluch (Adahm)? Was bringt es dem Leben, wenn ich einen Begriff von Gott habe (Chawa)? Und vor allem: Ist Gott gerecht, sieht er das „blutenden Herz“ (Kajin)? Was in Borngräbers Text formuliert ist, macht Kratzer auf der Bühne erlebbar: Theaterkunst von ungeahnter Tiefe und hohem Können. Wenn am Schluss für den sich selbst kastrierenden Kajin und das Elternpaar ein „neuer Tag“ anbricht, kriechen lemurenhaft graue Gestalten aus den Trümmern der alten Welt. Einer Welt, deren Bedürftigkeit nach Erlösung aus jeder ihrer düsteren Klüfte klagt.

Entdeckungen beanspruchen Aktualität

Die Frankfurter Produktion der „ersten Menschen“ bestätigt die Erfahrung mit anderen Werken abseits des Repertoires: Eine früher gar nicht einmal erfolglose Oper, länger vergessen, erweist sich als aktuell in ihrer Korrespondenz mit drängenden Themen unserer Gegenwart. Dafür hat es in den vergangenen Spielzeiten einige überraschende Beispiele gegeben: Karol Rathaus‘ „Fremde Erde“ in Osnabrück, Rolf Liebermanns „Leonore 40/45“ in Bonn, Walter Braunfels‘ „Die Vögel“ in Köln, Ernst Kreneks „Leben des Orest“ in Münster, Peter Tschaikowskys „Zauberin“ in Frankfurt, Gioachino Rossinis „Le Siege de Corinthe“ in Erfurt, Benjamin Godards „Dante“ in Braunschweig. Nicht zu vergessen eindrucksvolle Uraufführungen, von „Dog Days“ von David T. Little ebenfalls in Braunschweig über „Blühen“ von Vito Žuraj in Frankfurt bis „Dogville“ von Gordon Kampe in Essen. Keine Rede davon, dass die Kunstgattung Oper an ihr Ende gelange, was im Zusammenhang mit der eingebrochenen Kartennachfrage bei den Bayreuther Festspielen wieder herbeigeraunt wird.

Doch Frankfurt macht auch auf Rudi Stephans „eigene, neuartige Tonsprache“ – so der Kritiker Paul Bekker – aufmerksam, die sich zwischen Wagner-Erbe, Strauss-Innovation und Schreker-Sensualismus ihren Weg erkämpft. Sebastian Weigle schreitet den musikalischen Horizont ab, von Stephans Spektrum grell dissonanter Akzente bis zu smarten Akkordfolgen, wie sie zwanzig Jahre später Paul Abraham in seinen Operetten verwendet hat, von einer Klangfarbenpalette auf der Höhe der Zeit bis zu ausladenden melodischen Konstrukten für die Solisten.

Das Personenquartett ist szenisch gefordert und muss sich musikalisch im Wagner-Format bewähren. Ambur Braid als Chawa zeigt gestützte Präsenz, lässt aber auch die Anstrengung der großen Bögen in der Höhe merken. Andreas Bauer-Kanabas gibt den leidenschaftslosen Adahm präzis deklamierend, aber auch mit einer trockenen Verzweiflung, die sich hinter Pragmatismus verkriecht. Iain MacNeil hat als Kajin die komplexeste Figur zu verkörpern und realisiert sein wildes Aufbegehren, seinen verzweifelten Zynismus, aber auch das drängende Pathos der Figur mit einem in Farben und Klang imponierenden Bariton. Ian Koziara sichert die visionären Leuchtetöne des Chabel im Timbre seines Zentrums ab, die Passaggio-Übergänge und die Höhen wirken angefochten.

Die Oper Frankfurt hat mit Rudi Stephans singulärem Werk wieder einmal längst fällige Entdeckerarbeit geleistet und sich als wichtiges Kraftzentrum der Oper in Europa bewiesen. In der kommenden Spielzeit mit ihren elf Premieren setzt Intendant Bernd Loebe diese Linie fort. Während sich der Nachfolger von Sebastian Weigle als GMD, Thomas Guggeis, am 1.Oktober mit Mozarts „Le Nozze di Figaro“ vorstellt, verspricht der Spielplan mit „Le Grand Macabre“ des vor 100 Jahren geborenen György Ligeti, Mozarts Frühwerk „Ascanio in Alba“, Alexander Zemlinskys „Der Traumgörge“ und Wolfgang Fortners „In seinem Garten liebt Don Perlimplin Belisa“ wieder erstrangige Befragungen jenseits des Mainstreams.

 




Papst Benedikt XVI. ist tot: Kritische Erinnerung an eine prägende Gestalt

Joseph Ratzinger, der emeritierte Papst Benedikt XVI., ist tot. Er starb am heutigen Festtag eines heiligen Papstes, Silvester. Die Gedenkartikel und Nachrufe, für einen 95-Jährigen längst vorbereitet, werden sich in den nächsten Tagen häufen und uns in ein neues Jahr begleiten. Joseph Ratzinger als Denker, als Theologen, als Kirchenmann und als Papst zu würdigen, ist eine kaum zu bewältigende Aufgabe. Daher nur ein paar wenige, persönliche Gedanken.

Der 2013 zurückgetretene Papst Benedikt XVI., aufgenommen am 10. Juni 2010. (Foto: Mark Bray/Flickr – Creative Commons). Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/

Natürlich gehörte Joseph Ratzinger für einen theologisch ausgebildeten und lange Jahre kirchlich tätigen Journalisten wie mich zum Alltag: Seine „Einführung in das Christentum“ war Standardlektüre, um seine Stellungnahmen als Konzilstheologe, als Erzbischof von München und Freising, als Präfekt der Glaubenskongregation und als Autor theologischer Werke kam man nicht herum. Sie waren stets bereichernd zu lesen, auch wenn man Dinge anders sah. Die Brillanz seiner Argumentation, die Eleganz der Gedankenführung, die intellektuelle Klarheit und geistliche Verantwortlichkeit, die aus seinen Äußerungen sprach, war stets beeindruckend.

Ob er wirklich „der größte Theologe, der jemals auf dem Stuhl Petri saß“, ob er der „meistgelesene Theologe der Neuzeit“ gewesen ist, mag zu Recht bezweifelt werden. Darüber entscheiden die Perspektiven der Betrachtung – und das Urteil einer Geschichte, die ganz im Sinne Joseph Ratzingers nicht in kurzatmigen Superlativen denkt. Dass er zu den großen Denkern des 20. Jahrhunderts zählt, ist aus einer kirchlichen und europäischen Sicht kaum zu bestreiten. Da tun ihm auch Häme, Spott und eine oft bittere Kritik keinen Abbruch. Ob diese Perspektive in der Sicht einer säkularen (Post-)Moderne und einer polyzentrischen Welt Bestand hat, ist eine andere Frage. Ratzinger war wohl zu sehr Protagonist eines durch und durch europäisch-konservativen Denkens, um auf dem säkularen Areopag mit seiner globalen Stimmenvielfalt so gehört zu werden, wie es seine durchaus weltweit verbreiteten Bewunderer als sicher annehmen.

Umgang mit der „Theologie der Befreiung“

Exemplarisch verdeutlichen könnte das sein Umgang mit der „Theologie der Befreiung“, aus meiner Sicht einer seiner fatalen theologischen und kirchenpolitischen Missgriffe. Er gab der aus dem tiefen Misstrauen gegen den Marxismus und dem Konzept des historischen Materialismus gespeisten Ablehnung Johannes Pauls II. dieser neuen Aufbrüche auf außereuropäischen Kontinenten, namentlich im katholischen Lateinamerika, die intellektuelle Grundlage. Damit begünstigte er – das darf wohl aus der heutigen Perspektive eine Generation später so gesehen werden – den gesellschaftlichen Niedergang des Katholizismus in Lateinamerika, wo heute Synkretismen und evangelikale Sekten obskurster Bekenntnisse mindestens starke Minderheiten bilden.

Joseph Ratzinger, der eigentlich aus seiner bayerischen Heimat ein tiefes Verständnis für die theologisch nicht immer fransenfreie Volksfrömmigkeit mitgebracht haben sollte, konnte die traditionelle Frömmigkeit etwa der Wallfahrer zur Madonna von Guadalupe akzeptieren; die Spiritualität der Basisgemeinden in den Barrios von Managua, den Favelas von Rio de Janeiro oder den von Gewalt erschütterten Elendsvierteln von Cali ist ihm fremd geblieben.

Woran lag das? Wohl nicht an mangelndem gutem Willen, vielleicht nicht einmal an kirchenpolitischen Vorbehalten. Denn Joseph Ratzinger war – anders als gerade in Deutschland gern gemutmaßt – kein gerissener Kirchenpolitiker. Die Ernennungen reaktionärer Gestalten zu Bischöfen, von Dyba (Fulda) über Krenn (St. Pölten) bis Groer (Wien) sind nicht aus seinem Einflussbereich gekommen. Die Ursache sehe ich in seinem Denken: Seine intellektuelle Systemik, das hochästhetische wie gedanklich schlüssige Konstrukt seiner Theologie hatte zu wenig Raum für das störend konkrete Leben in seinen schmutzigen Widersprüchen, für die Empirie und die Erfahrung konkreter Orte, an denen Menschen mit anderen Menschen Gottes- und Welterfahrung machen. Genau darüber aber spricht die Präambel der Konzilskonstitution „Gaudium et Spes“ über die Kirche in der Welt von heute. Zitat:

„Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi. Und es gibt nichts wahrhaft Menschliches, das nicht in ihren Herzen seinen Widerhall fände. Ist doch ihre eigene Gemeinschaft aus Menschen gebildet, die, in Christus geeint, vom Heiligen Geist auf ihrer Pilgerschaft zum Reich des Vaters geleitet werden und eine Heilsbotschaft empfangen haben, die allen auszurichten ist. Darum erfährt diese Gemeinschaft sich mit der Menschheit und ihrer Geschichte wirklich engstens verbunden.“

Das „Schiff der Kirche“ im Büro

Joseph Ratzinger hat sich auf diese Orte nicht eingelassen. Er hat, soweit ich weiß, die Realität dieser Gemeinden, dieser Kirche an den Rändern etablierter Gesellschaften und unter der Knute des (Neo-)Kolonialismus und eines gnadenlosen, verbrecherischen Kapitalismus nie persönlich kennengelernt. Der Ort seiner Entscheidungen war der Palast der Glaubenskongregation. Dort empfing er wohlwollend und aufgeschlossen Menschen und Berichte. Aber es ist eben ein Unterschied, ob man sich auf dem Deck des Schiffs der Kirche Jesu Christi unmittelbar der Gischt und den Stürmen des Ozeans aussetzt oder ob man in der geschützten Atmosphäre von Büro und Bibliothek verarbeitet, was man von Seegang und Unwetter draußen zu lesen und zu hören bekommt.

Ich erinnere mich genau an die Resignation, die aus den Worten lateinamerikanischer Bischöfe sprach, die vergeblich versucht hatten, den Kardinal Ratzinger zu einem Besuch dort zu bewegen, wo die Erfahrungen für eine Theologie der Befreiung gemacht werden. Ich erinnere mich auch an das Entsetzen, das seine Instruktionen zur Theologie der Befreiung hervorgerufen haben – freilich nicht bei den Bischöfen, die mit den Macht- und Wirtschaftseliten Lateinamerikas paktierten.

Persönliche Begegnungen

Persönlich begegnet bin ich Joseph Ratzinger nur zwei Mal: einmal mit einer kleinen Gruppe von Journalisten im römischen Campo Santo Teutonico und später beim Internationalen Treffen zum Jahr der Jugend 1985 in Rom. Seine Predigt in einem der großen Jugendgottesdienste hat mich damals tief beeindruckt: Er konnte in einfachen, aber brillant präzisen Worten zu den jungen Menschen sprechen und ihnen Jesus Christus nahebringen, ohne sich selbst in den Vordergrund zu spielen.

In meiner Erinnerung bleibt ein freundlicher älterer Herr mit etwas distanziertem Charme und geschliffenen Gedanken, der den „Zeitgeist“ vielleicht etwas zu sehr als Gegner und zu wenig als Chance begriffen hat, der Relationalität und Relativismus zu unscharf trennte und der mit seinem Rücktritt 2013 einen Akt der Demut und der Weisheit setzte. Er möge von den Stürmen der Welt, die ihn so sehr gebeutelt haben, hinweg ins Paradies geführt werden, wo in der Anschauung Gottes alle Grenzen überwunden sind, die gerade ihm, dem Denker, auf Erden schmerzlich bewusst gewesen sein dürften. Sein Anteil sei die Fülle des Lebens, die er nicht müde wurde, in seinem irdischen Wirken als beglückende Perspektive unserer fehlbaren menschlichen Existenz zu verkünden.




Wenn die Weltseele kocht – Phantasien über „Das Zuhause“

Wenn ein Buch „Das Zuhause“ heißt, so lässt sich alltagsnaher Lesestoff erhoffen. Doch der Philosophie-Professor Emanuele Coccia enttäuscht derlei Erwartungen. Er geht stets aufs Ganze und vermischt alles mit allem, bis einem der Kopf schwirrt.

Das Zuhause steht bei Coccia für eine Sphäre, die sich von der Öffentlichkeit und den Städten absetzt, in der die Welt überhaupt erst bewohnbar wird, mithin für einen allgemeinen, recht diffusen Glückszusammenhang, der immer erst noch entstehen muss.

Weitschweifig schildert der Denker, wie er 30 internationale, um nicht zu sagen globale Umzüge hinter sich gebracht hat und schlussfolgert: „Selbst in Momenten des intensivsten Nomadentums werden wir wieder zu einem Zuhause.“ So genau wollten wir es gar nicht wissen.

Sodann führt er seine wildwüchsigen Gedanken spazieren durch Gefilde der Liebe, des Badezimmers, der Schränke und der Mode, der sozialen Medien, der Haustiere, der Wälder und Gärten oder der Küche. Ganz gleich, wo er hindenkt, immerzu wird daraus eine allumfassende Behauptungs-Prosa, in der es jeweils ganz schnell um die gesamte Weltseele an sich geht, mit der er sich halt auszukennen beliebt. Typisch steiles Zitat von Seite 96: „Jedes Zuhause ist ein Akt kosmetischer Chirurgie, eine Alien-Invasion, die exterritoriale Taschen auf dem Planeten erzeugt. Es ist ein Vulkan, der in der alternativen Raumzeit einer nicht-irdischen Realität ausbricht. Das macht das Zuhause zu einem außerirdischen Ort..“  Tja.

Übrigens gehören nach Coccias Ansicht alle Betten auf die Straßen gestellt, auf dass in der Welt ein permanentes Erwachen sei. Und das Schreiben? Ist eine Droge! Es wirkt sich „auf den Geist so ähnlich aus wie eine Nuklearbombe auf den Körper.“ Damit das mal klar ist. Da sehnt man sich als Lesender freilich nach feineren, leiseren Tönen.

Aber wenn es um die Küche und ums Kochen geht, dann wird uns dieser Philosoph doch wohl bei unserer sinnlichen Alltagserfahrung packen? Nun ja, wie man’s nimmt. Zitat von Seite 142: „Es ist das allen Lebewesen innewohnende Feuer, das die Welt kocht. (…) Jede Interaktion mit Lebewesen ist eine Form des Kochens und der Weitergabe von Licht. Jede Erfahrung ist eine Art, zu kochen und uns von der Welt kochen zu lassen. Jeder lebende Körper ist eine Küche der Welt.“ Genug! Wir kapitulieren.

Solche verquasten Passagen erweisen sich auf Dauer als Zumutung, ja, als unerträgliches Geschwätz. Das ganze alchemistische Geraune läuft vage darauf hinaus, dass alles mit allem verschmelzen werde – nicht zuletzt durch das Internet. Mitunter wird die Suada auch unfreiwillig komisch; beispielsweise, indem Coccia sich erinnert, dass er in Berlin eine Dusche in der Küche hatte und diesen Umstand als Beispiel für Weltgestaltung nach dem Muster der menschlichen Anatomie beschwört. Auch sonst hat er es nie eine Nummer kleiner. Sein Weltwirbel muss immer neue Metamorphosen hervorbringen. Widerhall überall. Epochal, planetarisch, universal. So ungefähr.

Eingestreut werden eher banale Erkenntnisse wie jene, dass Identität eine Dauerbaustelle sei oder (Coccia wuchs mit einem Zwillingsbruder auf) dass das gesamte Universum durch zwillingshafte Beziehungen miteinander verbunden sei. Ganz ehrlich: Da lässt sich Karl Valentins erhabenen Weisheiten à la „Fremd ist der Fremde nur in der Fremde“ bedeutend mehr abgewinnen.

Emanuele Coccia: „Das Zuhause. Philosophie eines scheinbar vertrauten Ortes“. Hanser Verlag, 160 Seiten. 22 Euro.

 




Von Natur aus glücklich – „Katzen und der Sinn des Lebens“

Meiner Treu! Noch nie habe ich ein Buch gelesen, das dermaßen angefüllt ist mit Katzenlobpreisungen aller Art und Güte. Der britische Philosoph John Gray, Jahrgang 1948 und in olympischen Gefilden der Wissenschaften tätig (Oxford, Yale, London School of Economics), hat Dichtung und Geistesgeschichte auf katzenaffine Inhalte durchsucht und ist vielfach fündig geworden. Wir Menschen kommen in seinem Buch „Katzen und der Sinn des Lebens“ (Originaltitel: „Feline Philosophy“) weniger gut davon.

Einige Befunde, aus denen sich alles Weitere herleitet: Katzen sind offenbar prinzipiell zufrieden mit ihrem Leben, das Glück ist ihnen gleichsam angeboren, weil sie niemals an den Tod denken und nichts anderes sein wollen, als sie sind; weil sie schlicht und einfach ihrer Natur folgen und im Einklang mit den Instinkten leben, die ihnen nun mal gegeben sind. Nicht einmal Meister des Buddhismus oder Daoismus kommen ihnen an Gelassenheit auch nur annähernd gleich. Wer je eine Katze in ihren allfälligen Mußestunden länger beobachtet hat, wird dies kaum bezweifeln. Insofern führt das Buchcover in die Irre, auf dem eine grübelnde Katze dargestellt ist.

Gray zitiert Denker wie Pyrrhon von Elis und Michel de Montaigne (Seelenruhe als für den Menschen kaum dauerhaft erreichbares Lebensziel), er befragt Epikur und die Stoiker nach ihren Glücksvorstellungen, stellt uns die grundsätzliche Unruhe des Menschseins vor Augen, die Blaise Pascal im berühmten Diktum zusammenfasste, das Unglück der Gattung rühre daher, dass sie nicht ruhig in den Zimmern bleiben könne. Schlimmer noch: Der Mensch kann – nicht nur im Krieg – seine Menschlichkeit verlieren, die Katze bleibt jedoch immer eine Katze, mit allen Attributen.

Einbildung und Zerstreuung seien die flüchtigen Elemente, in denen die allermeisten Menschen sich bewegen. Auch die Philosophie, so Gray, weise letztlich keine Auswege aus unserer existenziellen Lage. Denken könne das Unglück nicht lindern, befand beispielsweise auch Samuel Johnson. Und weiter: Immerzu versuchten die Menschen, ihr Leben zur Geschichte zu machen, sich auf ein Ziel hin zu entwerfen. Daraus, aus der Angst vor dem Tod und aus der fortwährenden Sinnsuche entstehe ihr Leiden. Auch könne daraus Lebensfeindlichkeit nach Art eines Seneca erwachsen, der völlig ungebrochen den Selbstmord empfahl: „Es macht überhaupt nichts aus, an welcher Stelle Du aufhörst.“

Ganz anders die Katzen! Niemals käme es ihnen in den Sinn, für Ideen zu sterben. Wenn wir es nur vernehmen wollten, könnten sie uns Einblicke in ein anderes Sein geben, in ein Leben vor dem Sündenfall. Nun gut, das mag auf Tiere generell zutreffen, doch leben die wenigsten von uns mit einem Specht, Luchs oder Ameisenbär zusammen, viele hingegen mit Katzen, jenen Wesen also, die sich – im Gegensatz zu Hunden – niemandem unterordnen. Ihre Ethik (wenn man es denn so nennen will) sei – so paradox es klingen mag – eine des „selbstlosen Egoismus“. Sie haben kein „ungelebtes Leben“, nach dem sie sich in Sehnsucht verzehren könnten, auch werde ihre Seele nicht „vom Tod berührt“, den sie bejahend erwarteten, wenn sie sein Kommen fühlen. Woher John Gray das nur alles so genau wissen will? Sind es nicht auch wieder Zuschreibungen aus menschlicher Perspektive?

Auch grausame Details erspart uns der Autor nicht, so etwa die fürchterlichen Rituale von Katzenhassern früherer Jahrhunderte, die in Ausläufern beispielsweise bis zu René Descartes (Zitier-Hit: „Ich denke, also bin ich“) reichen, der fiese Experimente mit Katzen anstellte, um zu beweisen, dass sie keine richtigen Individuen seien. Weit gefehlt, ruft Gray aus, sie seien wahrscheinlich individueller als wir.

Der weit überwiegende Teil des Buches ist denn auch der Katzenverehrung und Katzenbewunderung gewidmet. Den alten Ägyptern galten diese Tiere als gottähnlich, ihnen wurden ganze Tempel gewidmet. Von Geschichte und Philosophie geht Gray sodann zur Literatur über und führt Texte vor allem von Autorinnen (Colette, Patricia Highsmith, Mary Gaitskill und Doris Lessing) auf, in denen Katzen den Menschen eindeutig überlegen sind. Den Katzen sei – bei allem Talent zur Ruhe – höchste Wachheit eigen, wenn es darauf ankommt, ihre Erfahrung sei intensiver als unsere, just weil sie ganz und gar sie selbst sind. Dagegen wir: so fragmentiert…

Wenn man das Buch nach der Lektüre sanft zuklappt, wird man versucht sein, sich vor der schnurrenden Spezies zu verneigen. Katzen machen uns vor, wie zu leben wäre. Doch wir können es nicht begreifen. Aber eins können wir auf jeden Fall tun: Unser Kater Freddy kriegt jetzt erst einmal eine Extraportion Futter!

John Gray: „Katzen und der Sinn des Lebens. Philosophische Betrachtungen“. Aus dem Englischen von Jens Hagestedt. Aufbau Verlag, 160 Seiten, 20 Euro.




Alles so schön bunt hier – „Das Spiel ist aus“ nach Jean-Paul Sartre in Dortmund

Pierre und Eve (Adi Hrustemović und Sarah Yawa Quarshie) sind fast ein Traumpaar. (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dotmund)

Bunte Neonröhren an Wänden und Decke illuminieren in rhythmisch getaktetem Aufleuchten die Bühne, Wandflächen konturieren sich in pulsierenden Lichtrahmen, harte, schnelle Beats wummern durch den Raum.

Endlich betreten die beiden Hauptpersonen die Bühne. Sie sind, das wird bald klar, durch Farb-, Licht- und Klangwirren hindurch im Totenreich angelangt, wo nun Nummern aufgerufen werden, mit denen die Neuen sich zur Registratur zu begeben haben. Ordnung muß schließlich sein. Man prüft, man sieht: etwas ist hier nicht in Ordnung, ein Fehler der Verwaltung, der korrigiert werden muß. Das ganze nimmt Fahrt auf, und nur am Rande irritiert, daß das Stück „Das Spiel ist aus“ heißt. Denn ganz im Gegenteil folgt nun eine relativ fest gefügte Handlung, die auch Azeret Kouas Inszenierung auf der Studiobühne des Dortmunder Schauspiels nicht verschweigt.

Film aus dem Jahr 1947

Vorlage für diesen Theaterabend ist der Film gleichen Titels aus dem Jahr 1947, für den Jean-Paul Sartre das Drehbuch schrieb und den die Kritik bis heute einhellig lobt. Lediglich das „Handbuch der katholischen Filmkritik“ glaubte 1960 anmerken zu müssen, daß der Film „aber nur für wirklich reife Menschen von Nutzen“ sei. Diese sauertöpfische Einlassung muß man verstehen, geht es doch darum, daß der existentialistische Philosoph Sartre hier den Zwang der Verhältnisse über die gleichsam göttlichen Regelungen von Leben und Tod stellt, die bekanntermaßen zur Kernkompetenz der Kirchen gehören.

Queen und King of Nebenrolle, hier zu sehen im Bürokratiehäuschen des Totenreichs: Antje Prust und Raphael Westermeier. (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Eve und Pierre

Die Geschichte erzählt von Eve und Pierre, die beide ermordet wurden und nun im Totenreich aufeinandertreffen. Es stellt sich heraus, daß sie eigentlich füreinander bestimmt waren und ihre Verbindung auf Erden durch einen (quasi himmlischen) Verwaltungsfehler unterblieb; daher bekommen sie die Möglichkeit, innerhalb von 24 Stunden das Versäumte auf Erden nachzuholen. Und was in Hollywood eine himmlische Komödie hätte werden können, endet bei Sartre – zwei Jahre nach Kriegsende recht nachvollziehbar – im Desaster. Zurück auf Erden will Pierre, Arbeiterführer und Revolutionär, seine mißtrauischen Genossen zunächst von einem Aufstand abhalten, von dem er weiß, daß er verraten wurde; Eve muß feststellen, daß ihr Mann sie ermordete, der lange schon ein unbemerktes Techtelmechtel mit ihrer Schwester hatte. Wie unter diesen Umständen die große Liebe finden? Bevor sich Eve und Pierre final in die Arme fallen können ist die Zeit um, und zurück geht es ins Totenreich. Dumm gelaufen.

Streit mit Schwester und mörderischen Gatten, beide links im Bild. Darsteller von links: Raphael Westermeier, Antje Prust, Sarah Yawa Quarshie und Adi Hrustemović (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Einiges zu klären

Heutzutage, da das Fernsehen überquillt von soften Liebesgeschichten mit garantiertem Happy End, wirkt das Scheitern der Liebe von Pierre und Eve auf das Publikum möglicherweise irritierend. Da wäre von der Theaterinszenierung einiges zu erklären, einiges auch zunächst zu klären. Die Dortmunder Produktion jedoch zeigt wenig Interesse daran, Motiv- und Problemlagen ernstlich auszuleuchten. Dabei, es soll nur ganz leise angedeutet werden, ist doch gerade die Liebe zwischen Mann und Frau oft eine recht komplizierte Angelegenheit. Gern bemüht man zur Verdeutlichung das Sprachbild vom Wechselbad der Gefühle; und wenn es die erste (große) Liebe ist, wird es noch schwieriger.

Nach Art des Hauruck-Kaspers

Aber Psychologie kommt auf der Dortmunder Studiobühne nicht vor. Ganz nach Art des Hauruck-Kaspers auf der Kirmes wird die Geschichte in 80 Minuten atemlos und hoch motorisch durchgebolzt. Laut und grell ist das ganze, aber nicht wirklich lustig und auch nicht tragisch, weil den Figuren die individuelle Zeichnung vorenthalten bleibt. Möglichkeiten der Intensivierung durch den direkten Kontakt zum Publikum, über die nur das Theater verfügt, bleiben ungenutzt. Das Geschwurbel schließlich vom „patriarchalen Kapitalismus“ auf dem Programmzettel, mit dem das alles irgendwie zu tun haben soll, wirkt gänzlich abwegig.

Sportlichkeit und Präsenz

Wenn aber Schauspielkunst kaum nachgefragt wird, haben es die Schauspieler schwer. Auf jeden Fall ist Adi Hrustemović, Antje Prust, Sarah Yawa Quarshie und Raphael Westermeier viel Sportlichkeit und Präsenz zu attestieren. Ihnen zu wünschen bleiben Inszenierungen, in denen sie mehr von ihrem Können zeigen können.

  • Weitere Termine
  • 25., 26. Januar, 2., 19. Februar, 5., 24. März
  • www.theaterdo.de



Gar nichts ist gewiss – die rätselhaften „Weltgeist“-Bilder des René Schoemakers

Selbstporträt des Künstlers als Bezwinger des rosaroten Panthers – René Schoemakers‘ Gemälde „Der böhse Paul“, Acryl auf Leinwand 180 x 120 cm, 2019/2020 (Bild: © René Schoemakers)

Da schau her: Dieses rosarote Stofftier ist doch Paulchen Panther! Und der Mann, der ihm mit einem (total verpixelten) Spielzeug-Schwert den Kopf abgeschlagen hat, ist offenkundig der Künstler und hat dieses stellenweise bluttriefende Bild gemalt. Sein gar nicht so triumphales Ganzkörper-Selbstbildnis changiert zwischen Grau und Pink. Was sollen wir davon halten?

Im Dortmunder Museum für Kunst und Kulturgeschichte bleibt man mit diesem und vielen anderen rätselhaften Bildern zunächst ohne Hilfestellung. Die Arbeiten haben Titel, die aber nicht vorgezeigt werden. Also wird man sogleich aufs genaue Hinschauen verwiesen. Aber das allein nützt nicht viel. Denn man muss zusätzlich parat haben, dass die rechtsradikale NSU-Mörderbande ausgerechnet die Panther-Figur in einem Bekennervideo verwendet hat. Doch selbst danach ist man nur bedingt schlauer, zumal auch noch ein Frauenakt zum Panther-Ensemble gehört. Etwas mehr Aufklärung halten Katalog und Internet-Auftritt bereit.

Irritationen und sinnliche Schauwerte

Der in Kleve geborene und in Kiel lebende Künstler René Schoemakers zieht in seine stupend fotorealistisch, geradezu altmeisterlich gemalten Bilder (2011 hat er den Cranach-Preis erhalten) gar viele Sinn-Ebenen ein, die sich auch stilistisch verzweigen. Irritierend sind die zahllosen Brüche und Widersprüche, die Ironisierungen, Verschiebungen und Verfremdungen, die Variationen und Überlagerungen. Hier ist nichts gewiss. Sobald man den Sinn eines Bildes halbwegs zu erhaschen glaubt, scheint der Künstler schon wieder ein paar Ecken und Hirnwindungen weiter zu sein. Es ist kompliziert. Doch die Ausstellung lockt auch mit sinnlichen Schauwerten.

Schoemakers hat nicht nur Kunst, sondern auch Philosophie studiert. Er denkt sich mancherlei Vertracktes aus. Doch wenn er vor der Leinwand steht, sagt er, sei er völlig spontan. Dann gehe es nur noch um die Wirkung des Bildes – und sonst um gar nichts mehr. Allerdings bereitet er jedes Werk penibel vor, oftmals mit dreidimensionalen Modellaufbauten als Vorlagen.

Der Schrecken kommt harmlos und clownesk daher

So kommt es beispielsweise, dass wir – als sei’s eine Dokumentation vom Tatort – die blutigen Spuren des rechtsradikalen Münchner Oktoberfest-Attentats von 1980 sehen, freilich wie mit Spielzeug bühnenhaft nachgestellt. Eine bestürzende Mischung aus vermeintlicher Harmlosigkeit, Nüchternheit und namenlosem Schrecken. Hier kann überall Gewaltsamkeit lauern, zuweilen auch seltsam verquickt mit Clownerie. Totenköpfe können hier aus Lego-Bausteinen bestehen oder als Papier-Faltungen herumliegen. Anspielungen auf Terrorismus werden auch schon mal mit dem Playboyhäschen-Logo unterlegt.

Rund 70 Arbeiten auf etwa 170 Leinwänden, nicht in Öl, sondern Schicht für Schicht mit schnell trocknender Acrylfarbe ausgeführt, sind in der Dortmunder Werkschau zu sehen. Die ungleichen Zahlen erklären sich daraus, dass Schoemakers eine Vorliebe für Triptychen hat, also für dreiteilige Bilder nach dem fernen Vorbild christlicher Altäre. An einem anderen Ende des Spektrums finden sich Schautafeln nach Art von Gebrauchsanweisungen oder Flugblättern, die freilich inhaltlich alles andere als simpel sind.

Gewagte Darstellung mit Bezug zum Massenmörder Anders Breivik: das Katalog-Cover mit René Schoemakers‘ Gemälde „Anders (Mummenschanz)“, Acryl auf Leinwand 160 x 120 cm, 2019. (Bild: © Foto René Schoemakers)

Christian Walda, stellvertretender Museumsdirektor und eigentlich Kurator der Ausstellung, sagt, Schoemakers habe ihm weitgehend die Aufbauarbeit abgenommen. Walda begibt sich auf die philosophischen Fährten, die der Künstler gelegt hat. Der setzt sich gedanklich und malerisch mit dem Idealismus und seinen Weiterungen (oder auch Verengungen) auseinander. Im Gefolge Hegels – die Schau trägt den hegelianisch inspirierten Titel „Weltgeist“ – seien  bloße Ideen vielfach übermächtig geworden und hätten sich gegen jegliche Realität durchgesetzt. Daraus seien die verschiedensten Ideologien mitsamt ihrem Gewaltpotential erwachsen.

Allmachts-Phantasien aus dem Idealismus

Die Allmachts-Phantasien, die sich darin verbergen, nehmen in der Historie und in Schoemakers‘ Bildern diverse Gestalt an. Hier gibt es einen Raum, in dem etwa Porträts von Martin Luther, des Islamisten Pierre Vogel und des US-Rechtsaußen Steve Bannon einander zugesellt werden – ergänzt um etliches Beiwerk. An anderer Stelle heißt es im Goebbels-Brüllton und in Frakturschrift: „Wollt ihr die totale Metapher?“ Mindestens ebenso abgründig ist solcher „Mummenschanz“: Eine Frau steckt in der Phantasie-Uniform, in der sich der rechtsextreme Massenmörder Anders Breivik gefallen hat. Dieselbe Frau posiert ebenso frontal mit Militärklamotten, Knarre und Theater-Schnurrbart – als „Karl-Heinz“ von der rechten „Wehrsportgruppe Hoffmann“.

Schoemakers scheint, allem Gedankenreichtum zum Trotz, kein Grübler zu sein. Für einen Mann vom Jahrgang 1972 hat er sich staunenswert jung erhalten, vielleicht just durch intellektuelle Wendigkeit. Seine Frau und fünf Kinder stehen ihm immer wieder Modell. Welch ein spezielles „Familienalbum“! Es hält seine ansonsten divergierenden Kunstwelten zusammen.

Seine Bilder lassen einen mit ihrer Überfülle möglicher Bezugspunkte nicht in Ruhe. Sie leisten Widerstand gegen Interpretation. Doch wer sie sieht, will ihnen zwangsläufig Sinn verleihen. Keine leichte, aber eine lohnende Übung.

René Schoemakers: „Weltgeist“. Museum für Kunst und Kulturgeschichte, Dortmund, Hansastraße 3. Noch bis zum 9. Januar 2022.

https://weltgeist-mkk.de

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Der Beitrag ist zuerst im „Westfalenspiegel“ erschienen:

www.westfalenspiegel.de




Imaginäre Begegnungen zwischen Ikonen der Geistesgeschichte – Herfried Münklers Buch „Marx, Wagner, Nietzsche“

Herfried Münkler ist einer der bekanntesten Professoren Deutschlands. Wann immer über ideologische Verwerfungen, historische Katastrophen und aktuelle Kriege diskutiert wird, ist seine Meinung gefragt. Ob „Die Deutschen und ihre Mythen“ oder „Der Große Krieg“ – die Bücher des Politik-Wissenschaftlers stehen auf der Bestseller-Liste. Jetzt hat Münkler drei Ikonen der deutschen Geistes- und Kultur-Geschichte vereint: „Marx, Wagner, Nietzsche. Welt im Umbruch.“

Die ambivalenten Biografien der drei Geistesgrößen, ihre Alltagssorgen und Geldnöte, ihre politischen Analysen, musikalischen Revolutionen, philosophischen Innovationen: alles scheint längst bis ins letzte dunkle Geheimnis und verwirrendste Detail ausgedeutet. Gesellschaftsanalyse und Kapitalismuskritik von Marx; die Idee des kunstreligiösen Gesamtkunstwerks von Wagner; die Vorstellung von individueller Freiheit und Umwertung aller Werte durch den von Kunst beseelten Übermenschen von Nietzsche: tausendfach durch dekliniert. Das weiß natürlich auch Münkler. Deshalb verwickelt er die drei in ein imaginäres Gespräch.

Für Marx war Bayreuth ein „Narrenfest“

Aber Marx und Wagner sind einander nie begegnet. Nur einmal hat sich Marx, als er 1876 auf dem Weg zur Kur nach Karlsbad war und bei einer Zwischenstation in Nürnberg kein Zimmer bekommen konnte, fürchterlich geärgert, weil die Stadt – wie Marx ätzte – überschwemmt sei von Leuten, „die sich von dort aus zu dem Bayreuther Narrenfest des Staatsmusikanten Wagner begeben wollten.“ Am Kurort angekommen, schreibt Marx an seinen Freund Engels: „Allüberall wird man mit der Frage gequält: Was denken Sie von Wagner?“ Marx dachte nichts über Wagner, er war ihm völlig schnuppe. Der Musikgeschmack von Marx war zu konventionell, um die kompositorischen Neuerungen Wagners auch nur ansatzweise erfassen zu können.

Auch das individualpsychologische und kunstphilosophische Werk Nietzsches hat Marx weder zur Kenntnis genommen noch irgendwo kommentiert. Bei Wagner und Nietzsche liegt der Fall anders: Nietzsche hat Wagner erst glühend verehrt und in ihm den Retter des dionysischen Geistes gesehen, der einen neuen Kunst-Kult erschaffen und Deutschland zu einem aus antiken Ruinen wieder auferstandenen Griechenland machen könnte. Dass sich Nietzsche später von Wagner entfremdete, von seinem großbürgerlichen Lebensstil und seinem Antisemitismus angeekelt war, steht auf einem anderen Blatt.

Posthume Verfälschung der Werke

Münklers Buch ist der Versuch, Marx, Wagner und Nietzsche vom Kopf auf die Füße zu stellen, aufzuzeigen, dass Marx mit dem Realen Sozialismus nichts am Hut gehabt hätte und von Stalins Schergen an die Wand gestellt worden wäre; dass Wagners Antisemitismus zwar etwas Verwerfliches und Nietzsches Kunst-beseelter Übermensch etwas Wahnwitzes hatte, dass beide aber im Grabe rotieren würden, wenn sie wüssten, dass der eine zum Lieblings-Musiker von Hitler und der andere zum Vordenker des Faschismus vergewaltigt wurde.

Münkler konzentriert sich auf so genannten „Knoten“, Punkte, in denen die Biographien der drei sich berühren, Ereignisse, die für alle drei von besondere Bedeutung sind. Einer dieser „Knoten“ ist Bayreuth 1876, wo der vorbei reisende Marx sich über die vielen Wagner-Fans ärgerte und Nietzsche sich von Wagner nicht genügend gewürdigt fühlte, enttäuscht von den Festspielen abreiste und fortan zum Wagner-Hasser mutierte.

Knotenpunkte der Geschichte

Auch der deutsch-französische Krieg von 1870/71 ist ein „Knoten“, der Wagner in seiner Deutschtümelei bestärkte und von der Zerstörung des verhassten Paris träumen ließ, während Nietzsche sich erst freiwillig als Sanitäter meldete und später um das von der Pariser Commune zerstöre kulturelle Erbe fürchtete. Marx dagegen sah als Diagnostiker auf den Krieg und die Niederschlagung des Aufstands und entwickelte aus seinen Analysen eine neue Sicht auf die Rolle der deutschen Arbeiterklasse. Die Revolution von 1848/49 ist ein weiterer „Knoten“: Wagner hat als Hofkapellmeister zusammen mit seinem Anarchisten-Freund Bakunin auf den Dresdner Barrikaden gekämpft, Marx als Chefredakteur der „Neuen Rheinischen Zeitung“ die Politik mit journalistischen Mitteln begleitet: beide, Wagner und Marx, gingen nach dem Scheitern der Revolution ins Exil.

Für Nietzsche, damals noch ein Kind, blieb die Revolution folgenlos, sie war für ihn nie ein Thema. Der Antisemitismus ist ein „Knoten“ und Anlass, nach entsprechenden Belegen zu suchen, zu zitieren, wie Marx in privaten Briefen seinen Widersacher Lassalle wegen seines „jüdischen Aussehens“ beleidigte; Anlass auch, ausführlich zu diskutieren, ob Alberich im „Ring“, Beckmesser in den „Meistersingern“ und Kundry im „Parsifal“ als Juden-Stereotype anzusehen sind, und was es bedeutet, wenn Nietzsche die Juden als Urheber des „Sklavenaufstands in der Moral“ tituliert.

„Begleiter im 21. Jahrhundert“?

Münkler umkreist Themen wie die Wiedergeburt der Antike, Krankheit und Schulden, gescheitere Revolution und gelungene Reichsgründung, Bourgeoisie und Proletarier, die europäischen Juden und die Umsturzprojekte mittels Kunst und neuer Werte-Ordnung. Er fahndet nach Zitaten und biografischen Daten, versucht das Werk der drei Protagonisten zu entwirren, auf seinen unverfälschten Kern zurück zu führen und als Wegweiser vom 19. Jahrhundert in die Gegenwart zu deuten. Eine Sisyphusarbeit.

Zum Schluss schreibt Münkler, „alle drei miteinander ins Gespräch gebrachten Denker (sind) im 21. Jahrhundert angekommen – und haben hier, nach hochideologischer Auslegung ihrer Werke im 20. Jahrhundert, wieder zu sich selbst gefunden. Einer Welt im Umbruch entstammend, können sie zu Begleitern im 21. Jahrhundert werden, ebenfalls eine Welt im Umbruch.“ Wie diese „Begleitung“ aussehen, welche Themen für die Lösung der heutigen Probleme wichtig sein könnten, das hätte man doch gern etwas genauer gewusst. Doch darüber schweigt sich der sonst so beredte Münkler leider beharrlich aus.

Herfried Münkler: „Marx, Wagner, Nietzsche. Welt im Umbruch“. Rowohlt Berlin 2021, 720 Seiten, 34 Euro.

 




Reisen durch ein fantastisches Universum: Vor 100 Jahren wurde Stanislaw Lem geboren

Als Science-Fiction-Autor wollte er sich nicht gerne bezeichnen lassen, aber auf diesem Feld hat sich Stanislaw Lem einen unsterblichen Namen gemacht. Vor 100 Jahren, am 12. September 1921, im damals noch polnischen Lemberg geboren, hat er originelle Werke voll Humor und visionärer Kraft geschrieben, die laut Wikipedia in 57 Sprachen übersetzt und über 45 Millionen Mal verkauft wurden.

Die Werke von Stanislaw Lem erscheinen im Suhrkamp-Verlag, so auch der Roman „Die Stimme des Herrn“. (Cover: Suhrkamp Verlag)

Zu seinen bekanntesten Büchern zählt der Roman „Solaris“, der drei Mal verfilmt und von Michael Obst, Detlev Glanert und Dai Fujikura auch zum Opernstoff erkoren wurde. Stanislaw Lem hatte gerade begonnen, Medizin zu studieren, als die Deutschen in Lemberg einmarschierten. Während des Krieges gelingt es ihm, seine jüdische Herkunft zu verschleiern; er arbeitet als Mechaniker und Schweißer für eine deutsche Firma. Bis auf Vater und Mutter wurde seine Familie Opfer des Holocausts. Wehrmacht und Rote Armee, Sowjets und Deutsche: Die Erfahrung willkürlicher Gewalt und der zerstörerischen Katastrophe der Besatzungszeit in Polen prägten ihn.

1946 zieht er aus seiner nun sowjetisch besetzten Heimat nach Krakau und studiert weiter. Da er sich weigert, im Abschlussexamen Antworten im Sinne der stalinistischen Ideologie zu geben, fällt er durch und geht, da er nicht als Arzt arbeiten kann, in die Forschung.

In dieser Zeit beginnt seine schriftstellerische Arbeit. 1946 erscheint in einer Zeitschrift „Der Mensch vom Mars“. Lem spricht darin bereits Themen an, die in späteren Werken bedeutsam werden sollten: Das Wesen vom Mars ist eine Kombination aus einem organischen Gehirn und einer atomgetriebenen Maschine, ungeheuer fremdartig, ohne Gefühl und Empathie, aber nicht bösartig. Die Menschen, die es untersuchen, haben jedoch kein Interesse an der Persönlichkeit des Außerirdischen; es gelingt ihnen keine dauerhafte Kontaktaufnahme.

Unbegreiflich andersartige Intelligenz

Diese Unfähigkeit, mit unbegreiflich andersartigem Leben, mit unverständlicher Intelligenz umzugehen, ist auch in „Solaris“ ein bestimmendes Thema. Dort umfließt ein riesiges Wesen wie ein Ozean einen ganzen Planeten. Ewig alleine, versucht es, mit den Menschen in Kontakt zu treten, die es entdeckt haben und die seit Generationen versuchen, das offenbar denkende Plasmameer zu erforschen. Lem verweigert sich in diesem wie in anderen Romanen einfachen Lösungen, aber die offen bleibende, dennoch sehr bewegende Begegnung des Psychologen Kelvin mit dem Wesen deutet den utopischen Moment eines Kontakts an.

Mit dem in viele Sprachen übersetzten Roman „Die Astronauten“ gelingt Lem 1951 ein Erfolg, der es ihm ermöglicht, als freischaffender Autor zu leben. Das Buch erschien drei Jahre später in der DDR auf Deutsch als „Der Planet des Todes“. Eine Expedition zur Venus entdeckt dort die Reste einer aggressiven Zivilisation, die sich selbst vernichtet hat, bevor sie ihren Plan, alles Leben auf der Erde auszulöschen, in die Tat umsetzen konnte. „Wesen […], die sich die Vernichtung anderer zum Ziel setzten, tragen den Keim des eigenen Verderbens in sich – und wenn sie noch so mächtig sind“, schreibt Lem über sein Buch, das er später selbst als „naiv“ bezeichnet hat.

Nachdenken über technologischen Fortschritt

Aber die gesellschaftlichen Probleme und Visionen, die Lem auch in Romanen wie „Eden“ (1959) oder dem Zukunfts-Szenario „Fiasko“ (1986) in fantastische Welten überträgt, fesseln den Leser und lassen über die Folgen unseres zivilisatorischen und technischen Fortschritts nachdenken. Lem nimmt schon früh etwa mögliche Folgen neuer Kommunikationstechnologien in den Blick. Über die Epoche der Neuro- und Gentechnologie und die Verbindung von Mensch und Maschine sagt er in einem Interview kurz vor seinem Tod 2006: „Wir stehen am Anfang einer Epoche, vor der mir ein bisschen graut.“

Stanislaw Lem hat es virtuos verstanden, ungewöhnliche philosophische Fragen, Probleme der technologischen Entwicklung und kühne Gedankenexperimente in seine Art von „Science Fiction“ einzubeziehen. Doch er ist auch Autor von geradezu prophetischer Sachliteratur wie der „Dialoge“ (1957) oder der „Summa technologiae“ von 1964, in der er sich bereits mit „virtual reality“ und Nanotechnik beschäftigt.

Zwischen 1982 und 1988 lebt Lem nicht im krisengeschüttelten Polen, sondern als hochgeachteter Autor in Berlin und Wien. Seine Kurzgeschichten, Anthologien und Romane finden in den siebziger und achtziger Jahren in beiden Teilen Deutschlands breite Resonanz, so etwa die „Robotermärchen“, der „Futurologische Kongress“ oder „Der Unbesiegbare“. Figuren wie der Raumfahrer Ijon Tichy, der Pilot Pirx oder die beiden skurrilen Robot-Konstrukteure Trurl und Klapaucius bevölkern sein Universum, in dem Humor und Satire nicht zu kurz kommen, aber auch – wie in der Erzählung „Terminus“ – bisweilen eine kaum zu fassende, unheimliche Atmosphäre entsteht, die Lem selbst so beschreibt: „Obwohl in dieser Erzählung keine Gespenster vorkommen, sind sie dennoch da.“

Persönliche Empfehlungen? Unheimlich und faszinierend zugleich, wie in „Der Unbesiegbare“ unscheinbare, harmlose Maschinenteilchen zu einer unüberwindlichen Macht zusammenwachsen. Höchst amüsant und geistreich, wie in den „Robotermärchen“ ein Elektrodrachen besiegt wird. Wen heute bei „Alexa“ oder „Siri“ im smart durchdigitalisierten Home leises Unbehagen befällt, sollte unbedingt mit der dümmsten vernunftbegabten Waschmaschine der Welt Bekanntschaft schließen. Immer wieder ins Nachdenken führend, wie fremdartig Lem außerirdisches (intelligentes) Leben erfindet und beschreibt, etwa in „Solaris“. Und eine bittere Abrechnung mit der menschlichen Fähigkeit zum Guten wie zum Bösen ist „Die Stimme des Herrn“, spröde zu lesen, aber ein Buch, das den Verstand fliegen lässt.




Abstand von der Gesellschaft gewinnen – Rüdiger Safranskis philosophisches Buch „Einzeln sein“

Der vielfach bewanderte Gelehrte Rüdiger Safranski hat sich ein Thema von geradezu universellem Gewicht vorgenommen: Wie verhalten sich Individuen und Gesellschaft zueinander, wie steht überhaupt das Einzelne zum großen Ganzen? Hierzu unternimmt Safranski einen Streifzug, der vornehmlich durch die abendländische Philosophie-Geschichte führt.

Die Geistes- und Gedankenreise geleitet uns zunächst in die Renaissance mit ihrer nicht zuletzt geldwirtschaftlich bedingten Freisetzung des Individuums, und zu Martin Luther, der den Gottesglauben als Sache des Einzelmenschen betrachtete, unabhängig von (kirchlichen) Institutionen. Sodann gelangt Safranski zu Michel de Montaigne, der im höchst persönlichen Denken eine Zuflucht vor gesellschaftlichen Zumutungen suchte. Er wollte im Denken schlichtweg seine Ruhe finden und Abstand gewinnen. Jean-Jacques Rousseau schwankte später zwischen den Extrempolen einer völligen Preisgabe an den Staat („Du contrat social…“) und einer Absolutsetzung des Selbst („Émile“).

So geht es fort und fort mit all den individuellen Selbstbehauptungen und – Achtung, Modewort! – Selbstermächtigungen. Im Wesentlichen seien noch genannt: Diderot, Stendhal, Kierkegaard, Max Stirner, Henry D. Thoreau, Stefan George, Max Weber, Ricarda Huch, Karl Jaspers, Martin Heidegger, Hannah Arendt, Jean-Paul Sartre und Ernst Jünger. Bemerkenswert, dass beispielsweise Kant, Hegel, Schopenhauer und Nietzsche oder auch Karl Marx und Ernst Bloch keine oder wenigstens keine nennenswerten Exkurse gewidmet sind. Auch Stimmen aus der angloamerikanischen Welt kommen kaum vor. Vielleicht waren sie aus Safranskis Sicht im Sinne der Fragestellung nicht ergiebig genug?

Noch erstaunlicher, dass diese geistesgeschichtlichen Recherchen mit einem wie Ernst Jünger aufhören und keine neuere Fortsetzung mehr finden. Was mag Safranski zu dieser Entscheidung bewogen haben? Hat er Auswahl und Bewertung gescheut, weil die Rangstellung im Kanon noch nicht ausgemacht ist? Wollte er es sich mit gegenwärtig Philosophierenden nicht verderben? Oder hält er sie nicht für satisfaktionsfähig?

Freilich mündet das Buch auch in die akute Frage nach dem Internet, das (via Algorithmen) gleichzeitig passgenau die Einzelnutzer bedient und doch ein übermächtiges Ganzes verkörpert. Hat das Allgemeine und Gesellschaftliche sich damit endgültig und unumkehrbar der Individuen bemächtigt – und das ausgerechnet im Gewand je besonderer, individueller Ansprache? Oder können die Einzelwesen – wie es der Existentialist Sartre postulierte – auch jetzt noch in jedem Augenblick ihre Freiheit ergreifen?

Nun gut, es liegen fürwahr schon einige andere Philosophiegeschichten vor. Doch selbstverständlich bietet auch dieses Buch immer wieder interessante Perspektiven und Passagen; schon deshalb, weil es stets Gewinn verheißt, Gedanken reger Geister wenigstens ansatzweise nachzuvollziehen. Zwar macht Safranski auf innere Widersprüche gewisser Theorien aufmerksam, doch lässt er eigentlich allen Protagonisten Gerechtigkeit widerfahren. Mehr noch: Es ist allemal ein Kapitel wert, welch hochanständige und couragierte Haltung Ricarda Huch zur NS-Zeit bewiesen hat. Distanz zum Gesellschaftlichen kann durchaus eine Widerstandshandlung sein.

Noch heute wird einem hingegen unbehaglich zumute, wenn manche Gedankengänge Georges, Stirners, Heideggers und Jüngers zur Sprache kommen. Gleichwohl bleiben auch Um- und Abwege des Geistes aufschlussreich. Überdies ist es um so erhebender, wie Hannah Arendt dem Sein zum Tode ihres vormaligen Gefährten Heidegger eine Philosophie der stets neu beginnenden „Geburtlichkeit“ entgegengesetzt hat. Sollte dies etwa ein spezifisch weiblicher Ansatz gewesen sein?

Rüdiger Safranski: „Einzeln sein“. Eine philosophische Herausforderung. Carl Hanser Verlag. 286 Seiten, 26 Euro.

P. S. Vielleicht hat ihn auch dies zum neuen Buch motiviert: Zwar nicht als Einzelner, jedoch als einer, dem einiger Unmut entgegenschlug, dürfte sich auch Rüdiger Safranski selbst erfahren haben, als er sich in der Debatte über Geflüchtete mit kritischen Anmerkungen zur „Willkommenskultur“ hervortat – ein Themenfeld, das derzeit wieder von dringlicher Aktualität ist.




Nietzsche und sein „Gast“, Thomas Bernhard und die finale Richtigstellung – Nachtrag zur Dortmunder „Korrektur“-Tagung

Hier noch ein Nachtrag zur Dortmunder Fachtagung übers Korrigieren und seine diversen Weiterungen. Am zweiten Konferenztag ging es u. a. um zwei besonders markante Gestalten der Philosophie- bzw. Literatur-Geschichte: Friedrich Nietzsche und Thomas Bernhard.

Screenshot-Auszug aus der Präsentation von Prof. Justus Fetscher: links ein heftig korrigiertes Typoskript von Thomas Bernhard („Tamsweg“, 1960), das nie in Buchform erschienen ist. (© Suhrkamp / Justus Fetscher)

Haben Sie schon mal den Namen Heinrich Köselitz gehört? Wahrscheinlich eher nicht. In der Fachwelt galt und gilt er vielfach als mediokrer Geist, doch Friedrich Nietzsche setzte einiges Vertrauen in den Mann, dem er diktierte oder Seiten zur Abschrift überließ. Zwar korrigierte Nietzsche dann seinerseits in Köselitz‘ Niederschriften, doch ließ er ihm auch zunehmend recht freie Hand. So veränderte Köselitz hie und da Ausdrücke des Philosophen, dachte sich eigenständig Kapitelüberschriften aus und begriff sich schließlich selbst als eine Art „Editor“ oder Ko-Autor mit der Lizenz zum Mitschreiben.

Stavros Patoussis (Saarbrücken) und Mike Rottmann (Freiburg / Halle-Wittenberg) legten anschaulich dar, welchen Einfluss Köselitz auf die Textgestalt mancher Nietzsche-Werke hatte bzw. gehabt haben könnte. Die Forschung dazu ist noch lückenhaft, es sind noch längst nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft.

Der Unterschied zwischen Autor und Schriftsteller

Nietzsche selbst schrieb im Zusammenhang mit dem Buch „Menschliches, Allzumenschliches“, er sei zwar der Autor (also Urheber), Köselitz aber sei gleichsam der Schriftsteller, zuständig für manche stilistische Feinheit. Fraglich allerdings, inwieweit man alles für bare Münze nehmen muss, was Nietzsche so von sich gegeben hat – nicht nur in Sachen Korrekturen. Dass ihm die Form ungemein wichtig war, ist indes ausgemacht. Der Stil war nach seiner Auffassung keineswegs sekundär, sondern essenziell fürs gesamte Gedankengebäude. Demnach hätte Köselitz (von Nietzsche übrigens „Peter Gast“ genannt) also auch inhaltliche Prägekraft entfaltet. Ein durchaus spannender Diskussionsansatz.

Bemerkenswert, wie auf solche Weise Nietzsches Bild als Originalgenie auf einsamer Geisteshöhe denn doch etwas zurechtgerückt wird. Er bediente sich eines ganzen Netzwerks von Zu- und Mitarbeitern. Vielleicht bringen uns solche Erkenntnisse den Philosophen sogar wieder etwas näher. Es könnte nicht schaden.

„Herumfuhrwerken“ in den eigenen Texten

Zeitsprung zu Thomas Bernhard, dessen korrigierendes „Herumfuhrwerken“ in eigenen Hervorbringungen geradezu manisch gewesen sein muss. Justus Fetscher (Germanist an der Mannheimer Uni) zeigte dazu einige Bernhardsche Korrekturfahnen im Faksimile. Da offenbart sich ein gehöriges Schriftchaos. Zuweilen strich Bernhard ganze Passagen, bis nur noch ein Halbsatz übrig blieb, der dadurch aber insgeheim mit viel mehr Bedeutung aufgeladen wurde. Es sind Lehrbeispiele zur möglichen Wirkung radikaler Kürzungen, die ja auch einen (häufigen) Sonderfall des Korrigierens darstellen.

Es bedurfte schon eines legendär duldsamen und auch den schwierigsten Autoren in besonderer Weise zugeneigten Verlegers wie Siegfried Unseld (Suhrkamp), um Bernhards Marotten zu ertragen oder sie gar ins Ertragreiche zu wenden.

In letzter Minute fertige Bücher zurückgezogen

Zuweilen konnte Bernhard das Erscheinen seiner Bücher nicht schnell genug gehen, sie sollten dann nur noch flüchtig lektoriert werden, da gab sich der Autor ungeahnt nonchalant. Justus Fetscher sagte, er selbst habe als junger Suhrkamp-Hospitant einen solchen Fall erlebt. Berüchtigt war Bernhard freilich für das umgekehrte Vorgehen: Immer mal wieder zog er Bücher, die schon fertig gesetzt waren, in den Vorschaukatalogen standen und vom ambitionierten Buchhandel sehnlichst erwartet wurden, quasi in letzter Minute zurück. Das kostete im Verlag nicht nur Nerven, sondern auch bares Geld.

Zu solchen Rückziehern dürfte Bernhard auch ein Gefühl des Ungenügens bewogen haben. Seine Korrekturseiten legen ja beredtes Zeugnis ab vom prinzipiell unendlichen Änderungs-Bedarf. Die drangvoll eng beschriebenen Blätter wirken zuweilen wie eine Prüfung auf maximal mögliche Seitenkapazität, die über und über gehämmerten Buchstaben-Anschläge durchlöchern oder zerfetzen an so manchen Stellen das Papier. Fast möchte man von „Anschlägen“ im doppelten Sinne sprechen. Das Schriftbild anderer Seiten ergibt, mitsamt den überschriebenen, gestrichenen und verworfenen Stellen, ein ruhigeres, nahezu graphisch wirkendes Bild, Justus Fetscher fühlte sich an „Frottagen“ erinnert, wie sie etwa Max Ernst geschaffen hat.

Fortwährende Korrektur als Stundung des Todes

Es konnte sich nicht besser zum Tagungsthema fügen: Thomas Bernhard hat einen Roman mit dem Titel „Korrektur“ verfasst. Auch darin geht es um unaufhörliches Korrigieren des Korrigierten – prinzipiell ad infinitum. Fortwährend erstellte, immer neue Versionen erweisen sich dabei als Aufschub und Stundung des Todes. Solange man korrigiert, lebt man. Letztlich aber reicht diese wahnwitzige Praxis – im Leben wie im Roman – eben nicht bis in die Unendlichkeit. Und so besteht die finale „Korrektur“, so eine Bernhardsche Denkfigur, im Selbstmord des Protagonisten Roithamer, der in einigen Wesenszügen dem Philosophen Ludwig Wittgenstein nachempfunden ist.

Die Schlussdiskussion der Tagung habe ich mir nicht mehr ansehen können. Auf jeden Fall hat diese Konferenz ein bislang unterschätztes, im Grunde aber höchst bedeutsames Themenfeld aufgetan. Korrekturen, ob von eigener oder fremder Hand, stehen geradezu im Mittelpunkt nicht nur des kulturelles Tuns und Trachtens.




„Denken ohne Geländer“ – ertragreiche Berliner Ausstellung über die Philosophin Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert

Die große Denkerin, lesend und rauchend: Hannah Arendt in der Wesleyan University, 1961/62, Middletown, Connecticut. (© Middletown, Connecticut, Wesleyan University Library, Special Collections & Archives)

Es ist ein Höhepunkte der Medienkultur der frühen Bundesrepublik und ein Meilenstein des kritischen Denkens. Bisher hatte sich der legendäre politische Journalist Günter Gaus in seiner ZDF-Gesprächsreihe „Zur Person“ nur politisch mächtige Männer zum Diskurs eingeladen – Ludwig Erhard, Franz Josef Strauß, Willy Brandt. Jetzt, am 28. Oktober 1964, sitzt ihm die einst von den Nazis aus Deutschland vertriebene Philosophin Hannah Arendt gegenüber, die nach ihrer Flucht über Frankreich in die USA gekommen ist und dort eine neue Heimat gefunden hat.

Sie hat ein epochales Werk über „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ verfasst, die ideologischen Verirrungen und politischen Verwerfungen von Nationalsozialismus und Stalinismus gnadenlos analysiert, sich bei Linken und Rechten unbeliebt gemacht. Sie besteht darauf, dass es wichtig ist, komplizierte Sachverhalte nicht nur zu beschreiben und zu erklären, sondern – im Sinne von Immanuel Kant – kritisch zu beurteilen. Auch auf die Gefahr hin, falsch zu liegen und später alles noch einmal neu überdenken und neu  beurteilen zu müssen. Hannah Arendt nennt das: „Denken ohne Geländer“. Und genau das macht sie jetzt in dieser Sternstunde des Fernsehens.

Nicht Dämonen haben gemordet

Während Hannah Arendt, zeitlos elegant gekleidet, genüsslich an ihrer Zigarette zieht und druckreif redet, wird Günter Gaus immer schweigsamer, begnügt sich mit der Rolle des beharrlichen Nachfragers. Seitdem Hannah Arendt als Reporterin der Zeitschrift „The New Yorker“ den Prozess gegen Adolf Eichmann, den Organisator des Massenmordes an den europäischen Juden, beobachtet und das Buch „Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen“ verfasst hat, sieht sie sich Anfeindungen ausgesetzt: Sie habe das Verhalten der jüdischen Funktionäre bei der Organisation der „Endlösung“ falsch dargestellt und die monströsen Verbrechen der Nazis verharmlost. Dabei, und darauf beharrt sie im Gespräch mit Gaus, geht es ihr um das genaue Gegenteil. Gerade in der Banalität eines Mannes, der vom normalen Kleinbürger zum willigen Vollstrecker wird, liegt für Arendt das eigentlich Erschreckende und Verstörende. Wer sich die Nazis nur als entartete Monster vorstellt, wird nie die Frage nach der eigenen Schuld stellen und in der Lage sein, die Vergangenheit aufzuarbeiten. Nicht Dämonen haben gemordet, sondern Menschen. Was geschah, kann wieder geschehen.

Wir sollen Stellung beziehen

Die verstörenden Auskünfte und umstrittenen Erkenntnisse der Philosophin laufen im digitalen Zeitalter nicht nur als Video bei YouTube und werden millionenfach abgerufen. Sie können jetzt auch, auf Bildschirmen und in Hör-Stationen, im Deutschen Historischen Museum Berlin begutachtet, diskutiert und beurteilt werden. Denn die Ausstellung über „Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert“ will nicht Leben und Werk der geistreichen Denkerin einfach nur nacherzählen, sondern den Besucher ermuntern, Stellung zu beziehen, sich ein Urteil zu bilden.

Hannah Arendt an der University of Chicago, 1966. (© Art Resource, New York, Hannah Arendt Bluecher Literary Trust)

Präsentiert werden hunderte Objekte, Bücher, Manuskripte, Notizen, Fotos, die immer aufs Neue bezeugen, dass Hannah Arendt sich als permanente Grenzgängerin verstand, die keine Angst hatte, im Widerspruch zur herrschenden Meinung zu stehen. Sie vertrat nie eine Denkschule und war nie Parteigängerin einer Ideologie. Wenn sie mit ihren Definitionen von „totaler Herrschaft“ und der „Banalität des Bösen“ aneckte, war ihr das gerade recht. Wenn sie, als verfolgte Jüdin, sich kritisch mit dem Zionismus auseinandersetzte, hatte das Gewicht.

Rassismus, Studentenbewegung, Feminismus

Mit zahllosen Dokumenten werden die von ihr angezettelten Kontroversen dokumentiert. Natürlich auch ihre kritischen Kommentare zum alltäglichen Rassismus in den USA, dem Land, das sie liebte und dessen Demokratie sie schätzte. Ihre Sicht auf die Studentenbewegung wird erläutert und gezeigt, dass sie die französischen 68er wegen ihrer anarchischen Radikalität schätzte, die deutschen Rebellen aber als viel zu dogmatisch empfand.

Mit dem Feminismus, auch das sieht man in der Ausstellung, konnte die Philosophin nie viel anfangen. Dass sie beharrlich für ihre Rechte kämpfen konnte, belegen die Dokumente, mit denen sie im Wiedergutmachungsverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht den Anspruch auf eine entgangenen Beamtenpension geltend machte und die so genannte „Lex Arendt“ erstritt: Aufgrund ihrer Flucht aus Deutschland hatte Arendt ihre Studie über Rahel Varnhagen nicht mehr mit einem Habilitationsverfahren abschließen können. Das Gericht entschied 1966, die Studie nachträglich als Habilitation anzuerkennen.

Heidegger und andere Freundschaften

Auch das Private kommt, ohne voyeuristisch zu wirken, zum Vorschein. Nicht unerwähnt bleibt, dass sie (als junge Studentin) die Geliebte ihres Professors, Martin Heidegger, war, sich zwar von seiner späteren Nazi-Sympathie distanzierte, mit ihm aber auch nach dem Krieg noch korrespondierte und ihn wieder sah. Hannah Arendt hatte, wie Hans Jonas einmal sagte, eine „Genie für Freundschaften“ und lud alte Weggefährten und Bekannte immer wieder zu sich ein, wenn sie den Sommer in Tegna (Schweiz) verbrachte. Bei einem Besuch einer Freundin in Münchner kaufte sie sich 1961 eine kleine „Minox“, die als „Spionage-Kamera“ bekannt war, trug sie immer bei sich und fotografierte fortan damit bei jeder Gelegenheit Freunde, Kollegen, Bekannte. Viele dieser privaten Fotos sind jetzt im Museum zu sehen. Genauso wie einige ihrer Utensilien, ohne die sie selten aus dem Haus ging. Aktentasche, Pelzcape, Zigarettenetui, auch die goldene Brosche mit Brillanten und Perlmutt (die sie auch beim TV-Interview mit Gaus trug).

Ohne Hannah Arendt sei das 20. Jahrhundert eigentlich gar nicht zu verstehen, hat der Schriftsteller Amos Elon einmal gesagt. Wem das aber alles zu viel und zu verwirrend ist, dem sei der zur Ausstellung erschienene Begleitband empfohlen. Er versammelt 19 Essays und ordnet Leben und Werk von Hannah Arendt im historischen und politischen Kontext. Eine intellektuelle Fundgrube, bestückt mit einigen Dokumenten und Fotos, die auch im Museum auftauchen. Ein Buch zum Lesen und Denken, ganz ohne Geländer.

Deutsches Historisches Museum, Hinter dem Gießhaus 3, Pei-Bau, 10117 Berlin. Bis 18. Oktober, Fr – Mi 10-18 Uhr, Do 10-20 Uhr.

Besuch nur mit Voranmeldung online unter www.dhm.de Es gelten die üblichen Abstands- und Hygieneregeln. Das Tragen einer Mund-Nase-Maske ist Pflicht.

Begleitband: „Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert“ (Hrsg.  Doris Blume, Monika Boll, Raphael Gross), Piper Verlag, 288 S., 20 Euro.




Gartenvernichtung mit Oberhalunkenmaschine

gartenfrevel - die riesige Oberhalunkenmaschine

Thomas Scherl: »Die riesige Oberhalunkenmaschine«, Tusche auf Zeichenpapier, 25x30cm, 2020

Der Nachbar hat ja das Haus verkauft – da, wo mein Atelier war, Ende April war Übergabe (an einen Arzt aus dem Krankenhaus übrigens, die hams ja) und seither sind dort alle möglichen Halunken zugange, die renovieren und was weiß ich.

Wer diese Burschen kennt, weiß, daß 98,7% der aufgewandten Energie in Schall umgesetzt werden, 92,3% in Dreck, 91,7% in Gestank und der Rest in das gewünschte Ergebnis.

Jetzt wütet in dem schönen alten Garten mit den schönen alten Bäumen und den schönen alten Büschen seit dem frühen Morgengrauen ein ruchloser Oberhalunke mit einer riesigen Oberhalunkenmaschine, die gleichzeitig schon tragende Bäume fällt und mundgerecht zerlegt, die Hecke und die blühende Büsche, in denen Vögel brüten, bis unter die Grasnarbe schneidet, den üppigen Rasen bis unter dieselbe mäht, die gute Mutter Erde bis dicht über den Erdkern aufwühlt und die Steine, ja, die Steine, alles gleich shreddert, pulverisiert, atomisiert und die Atome dann unter lautem Schreien der geschundenen Materie in ihre Elementarteile zerreißt, zerfetzt, zerbeißt, verletzt und meine armen Trommelfelle gleich mit und der Fallout der vernichteten Existenz legt sich wie ein Leichentuch über meine Skizzenbücher und mich.

Die Meisen, die Schmetterlinge, die Hummeln und die Bienen, die Katze, der Hund und ich verachten ihn und seine Maschine, deren Erfinder und den neuen Besitzer, der das nicht selber von Hand machen kann wie alle anderen auch, und den Geist, der meint, daß er nur genug Krach machen muß, damit was »Arbeit« ist, mit jeder Faser unserer Körper, Seelen und… tja, was noch?

Ich kann so nicht arbeiten.

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(Text und anderes auch auf scherl.blogspot.com)




Die „Essais“ des Michel de Montaigne und ihr deutscher Übersetzer – doppelte Ermutigung zum unzeitgemäßen Leben

Mit seinem singulären Übersetzungswerk wurde der unter dem messerscharfen Pseudonym „Hans Stilett“ veröffentlichende  Hans A. Stiehl in zwei Jahrzehnten zur kraftvollsten deutschen Stimme des Humanisten Michel de Montaigne (1533-1592). Ich hatte 2008 das Vergnügen, mit Hans Stilett bei seiner Lesung am Theater an der Ruhr ein Bühnengespräch zu führen. Der 86-Jährige beeindruckte dabei – wie sein Vorbild Montaigne – durch Geistesgegenwart, Humor und enzyklopädisches Wissen.

Stilett (1922-2015) lebte, schrieb und übersetzte in Bonn. Im Brotberuf war er jahrzehntelang als Fremdsprachenredakteur beim Bundespresseamt tätig. Nach dem Ende seiner Berufstätigkeit und neben eigener schriftstellerischen Arbeit wagte er einen couragierten Neuanfang und begann, an der Universität zu Bonn Vergleichende Literaturwissenschaft, Germanistik und Philosophie zu studieren. 1989 schloss Stiehl seine Dissertation über Montaignes „Reisetagebuch“ ab.

In deren Rahmen hatte er bereits mit der eigenen Übertragung einzelner Passagen des „Journal du voyage de Michel Montaigne en Italie“ begonnen. 1998 erschien dennoch zunächst seine Übertragung der „Essais“ Montaignes im Eichborn Verlag, die „erste moderne Gesamtübersetzung“. 2002 folgte dann die des vollständigen „Tagebuch(s) der Reise nach Italien über die Schweiz und Deutschland“. Für seine Arbeit wurde Stilett 2003 mit dem Schweizer Prix lémanique de la traduction ausgezeichnet. Seine „komparatistische“ Übersetzungsweise fand international Beachtung und seine deutsche Fassung des „Reisetagebuchs“ wurde gar der südkoreanischen Übertragung zugrunde gelegt.

„Relax, Baby, Deine Zeit ist begrenzt, bloß keinen Stress …“

Die Übersetzung der „Essais“ hatte bald phänomenalen Erfolg, sie wurde gerühmt als „die Wiedergeburt Montaignes in deutscher Sprache“ und viele Zehntausend Exemplare des Foliobandes konnten verkauft werden. Harald Schmidt schrieb dazu im Focus:
„Unsereins hat das Buch zum Beispiel gekauft, weil es so geil aussieht und sich so toll anfühlt, und plötzlich fängt man an drin rumzulesen und findet amtliche Äußerungen zu wirklich jedem Thema. Nach den ersten Lesestunden  (…) lässt sich Montaigne schon mal für alle zukünftigen Fans so weit vereinfachen: ‚Relax, Baby, Deine Zeit ist begrenzt, bloß keinen Stress, shit happens.‘ Irgendwie beruhigend, weil schon um 1580 erkannt.“

Nach der Übersetzung der „Essais“ und des „Reisetagebuches“ arbeitete Hans Stilett auch an verschiedenen Auswahlbänden zu Montaigne – vor allem aber am Opus magnum „Von der Lust, auf dieser Erde zu leben. Wanderungen durch Montaignes Welten“. Insgesamt sicher ein gutes Vierteljahrhundert beschäftigte sich Hans Stilett mit dem lebensweisen  Schriftsteller und Denker, übersetzte diesen frühen Mitbegründer einer Philosophie der Lebenskunst und rezipierte die weltweite Forschung über den Franzosen.

Hochachtung vor Lebewesen und Lebensweisen

„Lebendigem lebendig begegnen“ war das Motto, unter das Stilett seine Arbeit zu Montaigne gestellt hatte – denn Montaigne lebte zwar vor weniger als 500 Jahren, lebendig geblieben und hochaktuell sind sein Zugang zur Welt, sein Leben und Werk aber auch noch heute. Montaignes zeituntypischer Respekt vor Frauen und ihrem Intellekt, seine menschenfreundlichen Ideen zur Erziehung, seine tolerante Hochachtung vor anderen Lebewesen und Lebensweisen stechen heraus. Montaignes Leben und Denken auf großer Tour und im engeren Turm seines Schlosses sind, so Stilett, vor allem deshalb so reizvoll und der Beschäftigung wert, weil sie sich nicht auf einen Nenner bringen lassen, sondern voller Widersprüche sind – und weil Montaigne eben im Wissen dieser Widersprüchlichkeit lebte und schrieb.

„Dieses Buch, Leser, gibt redlich Rechenschaft“

Schillerndes Werk und Persönlichkeit, Erfahrungshunger und tiefes Nachdenken machen Montaigne so faszinierend – und natürlich sein enormes sprachliches Talent, seine Fähigkeit, Details und Zusammenhänge wahrzunehmen und auf den Punkt zu bringen. Montaignes Werk bietet einen Kosmos der Innenschau und mitfühlenden Welt-Anschauung – einen Kosmos, der immer neu erkundet werden will, obwohl Montaigne selbst in seiner „Essai“-Vorbemerkung „An den Leser“ kokett bescheiden genau davon abrät:

„Dieses Buch (…) ist meinen Angehörigen und Freunden zum persönlichen Gebrauch gewidmet, damit sie, wenn sie mich verloren haben (was bald der Fall sein wird), darin einige meiner Wesenszüge und Lebensumstände wiederfinden (…). Meine Fehler habe ich frank und frei aufgeschrieben, wie auch meine ungezwungene Lebensführung, soweit die Rücksicht auf die öffentliche Moral mir dies erlaubte. Hätte ich unter jenen Völkern mein Dasein verbracht, von denen man sagt, daß sie noch in der süßen Freiheit der ersten Naturgesetze leben, würde ich mich, das versichere ich dir, am liebsten rundum unverhüllt abgebildet haben, rundum nackt. Ich selber, Leser, bin also der Inhalt meines Buchs: Es gibt keinen vernünftigen Grund, daß du deine Muße auf so einen unbedeutenden, so nichtigen Gegenstand verwendest.“

Michel de Montaigne: Essais. Erste moderne Gesamtübersetzung von Hans Stilett. 7. korrigierte Auflage, Eichborn Verlag, Frankfurt am Main, Juni 2008




Nachdenken über Städtebau, Rechtsradikalismus und die autoritäre Persönlichkeit – Vorträge von Theodor W. Adorno

Also schrieb Botho Strauß in seinem 1981 erschienenen Buch „Paare Passanten“ über Theodor W. Adorno, anlässlich einer Lektüre der „Minima Moralia“: „Wie gewissenhaft und prunkend gedacht wurde, noch zu meiner Zeit! Es ist, als seien seither mehrere Generationen vergangen.“ Tatsächlich sind inzwischen etliche weitere Jahre vorübergezogen, seit Adorno, der Mitbegründer der „Frankfurter Schule“, seine Wirksamkeit vollends entfaltete. Doch eine Wiederbegegnung lohnt sich immer noch und allemal.

Jetzt sind gesammelte „Vorträge 1949-1968″ Adornos im Rahmen der Nachgelassenen Schriften bei Suhrkamp erschienen – wissenschaftlich sorgsam eingeordnet in die „Abteilung V – Vorträge und Gespräche, Band 1″.

Doch man muss hier keine Angst vor knochentrockenem Dozieren haben. Gewiss, Adorno (1903-1969) bewegt sich stets auf beachtlichen theoretischen Höhen, doch hat er gerade in seinen öffentlichen Vorträgen auch spürbar versucht, auf sein jeweiliges Publikum einzugehen, zuweilen gar geradezu unterhaltsam an dessen Verstand zu appellieren. Selbst beim wahrlich ernsthaften Vortrag über Rechtsradikalismus verzeichnet die Niederschrift einige Lacher im Publikum. Es war das Gelächter der Erkenntnis.

Was die Schönheit einer Stadt ausmacht

Das Themenspektrum der 20 Vorträge ist vielfältig und größtenteils von bleibender Relevanz. Es reicht von überaus differenzierten (wenn auch heute nicht mehr in allen Punkten nachvollziehbaren) musiktheoretischen Erwägungen und allgemeinen soziologischen Analysen („Die menschliche Gesellschaft heute“, 1957) über Fragen des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg („Städtebau und Gesellschaftsordnung“, 1949) bis hin zu einer nach wie vor aufschlussreichen Betrachtung über „Aspekte des neuen Rechtsradikalismus“ aus dem Jahre 1967, als die NPD aufkam. Apropos: Historische Differenzen und Details werden in einem umfangreichen Anmerkungs-Apparat am Ende des Bandes erschlossen.

Gehen wir – anhand von drei prägnanten Beispielen – chronologisch vor. 1949, als weite Teile Deutschlands noch in Kriegstrümmern lagen, empfahl Adorno einen demokratischen Wiederaufbau, an dem möglichst auch die Bürger beteiligt werden sollten – damals alles andere als eine Selbstverständlichkeit, heute zumindest formal vielfach üblich. Die „Schönheit“ von Städten als Mischung aus organisch und historisch Gewachsenem ist für Adorno nicht so sehr eine rein ästhetische Frage, sondern vielmehr eine soziologische: Sie habe sich phasenweise ergeben, wenn die Interessen der einzelnen Bewohner mit denen des Gemeinwesens übereinstimmten.

Im Geiste der Moderne

Diese Zeiten, in denen Wohnen und Arbeiten noch nicht räumlich getrennt waren, sind allerdings 1949 längst Geschichte. Und so rät Adorno denn auch zum Wiederaufbau im Geiste der Moderne, keineswegs zur Wiedererrichtung historischer Altstädte, deren gesellschaftliche Grundlagen entfallen seien. Ein Wiederaufbau des alten Nürnberg, so sein Beispiel, würde nur auf eine Spielzeug-Variante der Historie hinauslaufen. Ein entschiedener „Gegenschlag“ zum Gewesenen würde hingegen verbliebende Traditionen erst recht zur Geltung bringen.

Immer noch hochinteressant und in so manchen Punkten weiterhin gültig ist auch Adornos Vortrag über „Die autoritäre Persönlichkeit“ (1960). Auf der Grundlage langjähriger Untersuchungen arbeitet er abermals einige Kernpunkte seiner Thesen heraus. Die autoritätshörige Persönlichkeitsstruktur ist nach seiner Ansicht die Basis aggressiv-nationalistischen Unwesens. Der weit verbreitete Typus lasse lebendige Erfahrungen, die ihn verunsichern könnten, gar nicht mehr an sich heran. Also verhärteten sich seine irrationalen Vorurteile zusehends. Auch wenn heute andere Sozialtypen vorherrschen mögen, so erkennt man doch einige Züge dieser charakterlichen Prägung heute wieder, vielleicht sogar im wachsendem Maße – so etwa auch im „finsteren und brütenden Einverständnis“, das derlei Gruppierungen kennzeichne. Muss man da noch eigens Ross und Reiter unserer Tage nennen?

„Technik der plumpen Lüge“

Womit man beinahe bruchlos zum Thema Rechtsradikalismus überleiten kann. In seinem Vortrag von 1967, kurz vor dem Scheitelpunkt der bundesdeutschen Studentenrevolte, registriert Adorno, welche Teile und Regionen der Gesellschaft noch oder schon wieder für rechtsradikale Ideologien anfällig seien. Adorno befindet, dass diese Ideologie kein zusammenhängendes Theorie-Konstrukt ausgeformt hat, sondern weit überwiegend nur aus Propaganda und Machttechnik bestehe.

Unter dem Eindruck einer seinerzeit erstarkten NPD gerät das Phänomen in den Blick, dass von rechts (z. B. seinerzeit in der National-Zeitung) ganz bewusst an den Grenzen des „Sagbaren“ operiert wurde. Kommt einem nicht auch das neuerdings wieder bekannt vor? Auch geht es um systematische Fake-Behauptungen, die Adorno damals natürlich noch nicht so genannt hat. Er sprach von „solchen völlig irren und phantastischen Geschichten“ sowie von der „Technik der plumpen Lüge“. Oh, schreckliche Wiederholung!

Wahrheit im Dienste der Unwahrheit

Weiteres Zitat, bezogen auf rechtes Imponiergehabe: „Es wird mit Kenntnissen geprotzt, die sich schwer kontrollieren lassen, die aber eben um ihrer (Un)kontrollierbarkeit willen dem, der sie vorbringt, eine besondere Art von Autorität verleihen.“ Von Adorno erfundenes, aber triftiges Beispiel einer infamen Lüge aus rechten Kreisen: „Was? Das weiß doch jedes Kind! Und Sie wissen nicht, daß seinerzeit der Rabbiner Nussbaum gefordert hat, daß alle Deutschen kastriert werden sollen?“

Bemerkenswert auch Adornos fein unterscheidende Sicht auf den Umgang mit der Wahrheit: „Ich möchte (…) darauf hinweisen, daß keineswegs alle Elemente dieser Ideologie einfach unwahr sind, sondern daß auch das Wahre in den Dienst einer unwahren Ideologie (…) tritt…“ Dieser Umstand müsse bei der Gegenwahr berücksichtigt werden.

Überhaupt erwägt Adorno am Rande auch taugliche Abwehrstrategien gegen rechte Umtriebe. So solle man nicht moralisieren, sondern jenen Leuten, die noch erreichbar sind, deren eigene und eigentliche Interessenlage ganz klar vor Augen halten und die Tricks ihrer Anführer entlarven. Ob es (noch) hilft?

Theodor W. Adorno: „Vorträge 1949-1968″ (Hrsg.: Michael Schwarz / Theodor W. Adorno Archiv). Im Rahmen der Ausgabe „Theodor W. Adorno Nachgelassene Schriften, Abteilung V: Vorträge und Gespräche, Band 1″. Suhrkamp, 786 Seiten, 58 Euro.

 




Meistens streng – auch zu sich selbst: Briefe von Elias Canetti

Man kann es im Register nachschlagen: Die hier versammelten, rund 600 Briefe von Elias Canetti („Die Blendung“, „Masse und Macht“) richten sich mitunter an illustre Adressaten. Gleich zu Beginn des voluminösen Briefbandes, der 1932 einsetzt und bis zu Canettis Todesjahr 1994 reicht, sind beispielsweise Schreiben an Thomas Mann, Alban Berg, Hermann Broch und Hermann Kesten zu lesen. Um nur wenige Namen anzuführen. Und dabei hat sich Canetti selbst einen schlechten Briefschreiber genannt.

Nun muss aber ein weiterer Teil der Wahrheit heraus: Elias Canetti hat zahllose Briefe offenbar vor allem dann geschrieben, wenn es um Nutz‘ und Frommen fürs eigene Werk ging. Nicht so sehr (literatur)theoretische Reflexionen hat er im Sinn, sondern häufig strategische oder taktische Winkelzüge, um sich Leute gewogen zu machen – Schmeicheleien inbegriffen. Der Titel des Buches („Ich erwarte von Ihnen viel“) bezeichnet hingegen eher die offensivere Variante.

Die Mühen der Ebenen

Schier endlos kommen einem etwa die Episteln an Lektoren und Zeitschriften-Herausgeber vor, die heute allenfalls noch Fachleuten namentlich bekannt sind. Gar vieles dreht sich zudem um die alltäglichen Mühen der Ebenen und dabei wiederum nicht selten um finanzielle Bedrängnisse.

Zunächst vor allem aus dem Londoner Exil (seit 1938), viel später dann vorwiegend aus Zürich kommen seine Briefe. Die jeweiligen Antworten der Briefpartner(innen) enthält der auch so schon sehr umfangreiche Band nicht, so dass das Ganze über weite, weite Strecken wie ein Monolog ohne Echo wirkt, wie ein ständiges, zuweilen fruchtloses Anschreiben gegen allerlei Widrigkeiten.

Canetti hat, zumal nach dem Zweiten Weltkrieg, ziemlich genaue und manchmal rigide Vorstellungen davon, wann, wie und wo seine Schriften herauskommen sollen. Das ist – auf Länge gesehen – eine Lektüre, die uns Heutigen nicht immer allzu spannend vorkommen mag, sofern man sich nicht auf Canetti spezialisiert hat.

Zorn auf Enzensberger und Reich-Ranicki

Natürlich zeigen sich, allerdings vielfach eher nebenher und gleichsam in gedämpfter Form, auch zeitgeschichtliche Zusammenhänge und Debatten früherer Tage. Allerdings scheint Canetti sich beispielsweise nicht allzu viel aus „1968 in Paris“ gemacht zu haben, obwohl er im legendären Mai/Juni dort gewesen ist. In den Briefen spiegelt es sich jedenfalls kaum wider. Gorbatschows „Glasnost“ weckte mit allen Folgeerscheinungen gegen Ende seines Lebens Canettis Hoffnung auf eine friedlichere Welt. Aber auch das handelt er eher en passant ab.

Ist man für Literaturbetriebs-Tratsch empfänglich, erhält man stellenweise Nahrung. Canetti regt sich geradezu königlich über negative Rezensionen auf, die ihn betreffen. Prominentes Beispiel, bezogen auf Kritiken über den 1963 erneut publizierten Canetti-Roman „Die Blendung“: „Enzensberger fand ich armselig, ich hab mich für ihn geschämt. Es ist offenkundig, dass er das Buch nicht wirklich gelesen hat, er hat nur, ein Schmetterling, da und dort genascht.“ Anno 1968 über den einflussreichen Großkritiker: „Über den Reich-Ranicki lohnt es kaum, ein Wort zu verlieren. Ich habe es nicht besser erwartet.“ Und in einem weiteren Brief desselben Jahres: „…denn das ist schon geistig ein schwer erträglicher Mensch, ein ahnungsloser Schulmeister…“

Gelegentlich scharfe, aber meist treffliche Urteile

Überdies erfährt man nach und nach etwas über Canettis Meinungen zu gleichaltrigen oder jüngeren Zeitgenossen wie z. B. Theodor W. Adorno, Jean Améry, Günter Grass, Uwe Johnson, Arno Schmidt, Thomas Bernhard (von dem er zusehends abrückte), Wolfgang Koeppen, Lars Gustafsson („der seltene Fall eines Dichters, der einen als Person nicht enttäuscht“) oder Paul Nizon. Nehmt alles nur in allem, so sind seine Urteile gelegentlich scharf, aber zu allermeist trefflich.

Und die großen Vorläufer? Man findet Lichtenberg, Büchner und Kafka gepriesen als Gipfel deutschsprachigen Schrifttums, als weitere Fixsterne werden Stifter, Hebbel, Robert Musil und Karl Kraus benannt. Und man findet immer wieder Sätze, die man sogleich unterschreiben möchte: „Ich kann von Svevo nie genug bekommen.“ Bedenkenswert auch diese Charakterisierung der Prosa Franz Kafkas: „Die deutsche Sprache, deren Reichtum und Überschwang man immer gekannt hat, ist hier von einer Enthaltsamkeit und Strenge, die man ihr kaum zugetraut hätte.“

Hofmannsthal hingegen ist nach Canettis Auffassung bei weitem überschätzt, und ein fremde Schöpfungen anzapfender Spaßvogel wie der heute weitgehend vergessene Parodist Robert Neumann findet erst recht keine Gnade.

„Das Recht, in Ruhe davonzugehen“

Ganz entschieden grenzt sich Canetti gegen die grassierende Bestselleritis ab. Also muss sein Verdikt über das in Dortmund erscheinende Branchen-Magazin „Buch-Report“ im Jahr 1977 auch besonders harsch ausfallen. Zitat aus einem Brief an Fritz Arnold (nach Herbert Göpfert neuer Lektor Canettis beim Hanser Verlag): „Ich kann nicht glauben, dass Sie von mir ernsthaft erwartet haben, dass ich für diese erbärmliche Bestseller-Retorte etwas schreibe. Das würde ich unter gar keinen Umständen tun.“

Was sein Lebenswerk angeht, legt Canetti bei sich selbst strengste Maßstäbe an. Er findet, dass man erst dann „in Ruhe davongehen“ (also in Frieden sterben) dürfe, wenn man das persönlich Zugedachte und Aufgetragene erfüllt habe. Er sieht sich 1971 noch lange nicht am Ziel: „Schon ich z. B. hätte nicht das Recht, in Ruhe davonzugehen, denn wie wenig habe ich geleistet, gemessen an dem, was ich leisten sollte. Es gibt kein Erbarmen für den, der sich sehr ernste Ziele gesteckt hat.“ Wohlgemerkt: Das schreibt einer, der kurz darauf den Büchnerpreis (1972) und später den Literaturnobelpreis (1981) erhalten hat.

Passagen über seine erste Frau Veza und seine zweite Frau Hera, die er beide durch frühen Tod verloren hat, sind in der vorliegenden Auswahl relativ spärlich und angenehm diskret gehalten. Anrührend sodann die spürbare Begeisterung des „späten Vaters“ Canetti (Jahrgang 1905) über das Aufwachsen seiner 1972 geborenen Tochter Johanna. Hier wird der oft zu sich und anderen so strenge Mann als sanftmütiger Mensch sichtbar, der er wahrlich auch gewesen sein muss.

Elias Canetti: „Ich erwarte von Ihnen viel. Briefe“. Carl Hanser Verlag, 864 Seiten, 42 €.

 

 

 




Denn alle Lust will Heiterkeit: In Bochum inszeniert Herbert Fritsch de Sades wilde Fantasien nicht ohne Ironie

Blicke aus dem Abgrund - Ensembleszene. Foto: Birgit Hupfeld

Blicke aus dem Abgrund – Ensembleszene. Foto: Birgit Hupfeld

Nun hat das Schauspiel Bochum also sein erstes Skandälchen. Nach kraftvollem Aufbruch unter dem neuen Intendanten Johan Simons, in Form einer hochintellektuellen, bildmächtigen, exzellent gespielten „Jüdin von Toledo“ (Feuchtwanger) oder der auf ein Zweipersonenscharmützel zentrierten „Penthesilea“ (Kleist), schleicht plötzlich ein Stück herbei, das von Lust und Laster und Gottlosigkeit redet. Dabei klingt der Titel recht harmlos: „Die Philosophie im Boudoir“.

Doch hier geht’s um einen Stoff des Marquis de Sade, des selbsternannten Propheten sexueller Ausschweifungen, eines Libertin im Gefolge der französischen Revolution, dessen Fantasie manche Grenze überschritten hat. Und dann wird das Ganze, in Bochums großem Haus, auch noch von Herbert Fritsch inszeniert, dem Propagandisten des choreographischen Rausches, des Hyperventilierens, des kindlich-kindischen Umhertollens, des ungehinderten Tobens. Also verließen zur Premiere die Gäste scharenweise den Saal, knallten Türen und echauffierten sich – so zumindest ist es Teilen der Presse zu entnehmen.

Penetrant unkeusches Sinnieren über Körperöffnungen

Solcherart lautstarkes Aufbegehren hat indes schon oft genug zu einem „succès de scandale“ geführt, zum aus dem Eklat gewachsenen Erfolg. Hinzu kommt, dass Fritsch mit seiner in Berlin längst Kult gewordenen Produktion „Murmel, Murmel“ auch in Bochum punktete; viele Vorstellungen sind ausverkauft.

Svetlana Belesova,
Jele BrüŸckner und
Anna Drexler (v.l.) im Rausch. Foto: Birgit Hupfeld

Doch bei de Sade liegen die Dinge offenbar anders. Die inflationäre Nutzung des F-Wortes, das penetrant unkeusche Sinnieren über Körperöffnungen, das Beschreiben von Stellungsanordnungen und zügellosen Handlungen haben manchen Theaterbesucher hinausgetrieben. Da nutzte auch die beste philosophische Herleitung nichts – so verstandene allumfassende Aufklärung überschritt wohl jede Vernunftgrenze. Die Folge: Karten fürs „Boudoir“ gibt es noch reichlich.

Diesmal knallen keine Türen

Nun also hinein in die dritte Vorstellung, ins immerhin noch ganz anständig gefüllte Parkett. Viel Jugend sitzt da, nicht wenige haben sich ihr Ticket erst an der Abendkasse besorgt. Und nur zwei ältere Paare, zumindest in unserem Umfeld, verlassen das Haus vorzeitig. Türen knallen keine. Oft ist es sehr still, mitunter wird gelacht im Publikum und am Ende gibt’s beherzten Applaus. Das Skandälchen ist noch weiter in sich zusammengeschrumpft.

Was haben wir auch erwartet? Orgien auf offener Szene, abstoßendes Blut-und-Hoden-Theater? Wildes Geschrei und pikant-detaillierte Einblicke, möglichst noch per Video vergrößert? Nichts von alledem, kein Plaisir dem Voyeur. Stattdessen eine Mischung aus Varieté, Grusel, Trash, Kasperlbude, Slapstick und Karikatur. Die Regie nimmt de Sade ernst und bricht ihm doch manchen Zacken aus der libertären Krone. Mit den Mitteln der Pose, der Überzeichnung, der Repetition oder mimischen Entäußerung.

Philosophische Ergüsse, hehre Religion – und ein bisschen Kitsch

Die philosophischen Ergüsse setzen den Denkapparat in Bewegung, die ausgeklügelte szenische Aktion, verbunden mit den wilden Kostümen Victoria Behrs und dem farbsatten Lichtdesign Bernd Felders, bleiben wohl noch lang im Gedächtnis haften. Dazu die musikalische Untermalung des Pianisten Otto Beatus mit dem zweiten Choral aus Bachs Johannes-Passion und Claydermans „Ballade pour Adeline“ – Kitsch und hehre Religion dem Atheisten und Ästheten de Sade zu Leid.

Karge, aber farbsatte Ausstattung. Nur ein wuchtiger Kubus dient als Requisite. Foto: Birgit Hupfeld

Die Handlung dieses Thesen- und Beischlaf-Stückes ist denkbar simpel. Im Lustschloss der Madame de Saint-Ange wird die Klosterschülerin Eugénie in die scheinbar endlosen Weiten sexueller Praktiken eingeführt. Sie erweist sich schnell als äußerst gelehrig. So entwickelt sich ein lustvoller Reigen, der erst durch das Erscheinen von Eugénies Mutter jäh gestört wird.

Unterfüttert hat der Marquis de Sade dies mit flammenden Reden auf die Herrschaft der grenzenlosen Fantasie sowie spitzzüngigen Debatten über Tugend, Verbrechen und Religion. Zwischendurch wird die eine oder andere besonders perverse Geschichte eingestreut – sei es die von der Unzucht im Irrenhaus oder die von abstrusen Gelüsten eines finsteren Fürsten. Starker Tobak allenthalben, gewiss auch ein wenig länglich. Doch die Regie setzt überwiegend  auf Tempo, vor allem auf die kraftvolle Aktion des sechsköpfigen Ensembles.

Lüsterne Griffe in dichtem Gedränge. Foto: Birgit Hupfeld

Aufmarsch einer Zombiehorde

Das gruppiert sich in Form kleiner Tableaus, lässt die Glieder zucken und die Gesichter grimassieren. Sie wirken, zusammen mit ihren Stecknadelkopfpupillen, wie der Aufmarsch einer Zombiehorde. Oder wie Ausgeburten der Hölle, die sich bühnenmittig und feuerrot vor uns auftut. Bisweilen erwächst aus diesem Inferno ein massiger Kubus – mal als Podest dienend, mal als Klotz, hinter dem sich Unheil verbirgt, oder als Fläche für allerlei Schweinigeleien.

So jongliert Herbert Fritsch mit de Sades Groteske und setzt sie zugleich, untermalt von elektronisch verzerrten Klängen, unter Spannung. Das Ensemble spielt sich entsprechend die Seele aus dem Leib. Wir sehen ein äußerst homogenes Kollektiv statt solistischer Virtuosität, eine Gruppe, die einzelne Rollen im Rotationsverfahren besetzt. Alle seien sie genannt: Svetlana Belesova, Jele Brückner, Anna Drexler, Anne Rietmeijer, Ulvi Teke, Jing Xian sowie Julia Myllykangas als Artistin mit einem stummen, verrätselten Prolog und Epilog.

Trotz kleiner kritischer Einwände: Herbert Fritschs Bild- und Bewegungsvokabular gleicht einer faszinierenden Komposition, so skurril wie durchdacht, wiedererkennbar, doch nie vorhersehbar. Er reiht sich ein in die Gruppe von Regisseuren, deren Handschrift unnachahmlich ist: Fritsch, der Schöpfer des ausgeklügelten Hyperventilierens; Robert Wilson, der Prophet des akribisch ausgeformten, gezirkelt kühlen Gesamtkunstwerks; Christoph Marthaler, Anwalt traumverlorener Seelen, die durch trostlose Räume wie in Trance dahingleiten. Keine schlechte Gesellschaft.

Weitere Termine: 31. Dezember 2018 (16 Uhr und 20 Uhr – mit anschließender Silvesterparty); 4., 5., 12., 25. und 26. Januar 2019, 2., 9. und 16. Februar 2019.

Infos: https://www.schauspielhausbochum.de/de/stuecke/189/die-philosophie-im-boudoir




Entzifferung einer fremden Welt: Georg Kleins Roman „Miakro“

Miakro – der Romantitel lässt vermuten, dass es um eine Verschmelzung von Mikro und Makro gehen könnte, doch beim Lesen lassen die bestätigenden Indizien auf sich warten. Wie überhaupt die Ungewissheit, das Mutmaßen und Mitdenken zu den beglückenden Wesenheiten dieser Lektüre gehören.

Den Anfang bildet ein Tableau einer Arbeitswelt, das zugleich mehr zu sein verspricht. Im „Mittleren Büro“ stehen Männer wie die Musiker der Gruppe Kraftwerk an ihren Pulten, allerdings in hellblauen Overalls, die Hände in die obersten der fünf Schichten ihres Bildschirms eingetaucht, und interpretieren die von rechts nach links vorüberfließenden Bilder und Zeichen. Ihr gesamtes Weltwissen beziehen sie aus dem „weichen Glas“.

Büroarbeit als Höhlengleichnis

Es sind unscharfe, schemenhafte Bilder; und ähnlich wie die Gefangenen in Platons Höhlengleichnis die auf der Wand vorüberziehenden Schatten zu deuten versuchen, wollen auch die „höchstnützlichen Idioten“, wie sie genannt werden, sich einen Reim darauf machen, was die Welt ist. Worin ihre Nützlichkeit besteht, ob Karl Marx ihr Tun als Arbeit in einem produktiven Sinne definiert hätte, bleibt fraglich. Vermutlich würde eine Consulting-Firma ihre Arbeitsplätze wegrationalisieren. Aber sie deuten, die „Büroler“. Sie versuchen die Welt – die Außenwelt ebenso wie die eigene Binnenwelt – zu verstehen. Nicht zuletzt, weil ihr Überleben davon abhängt, wo das Glas ihnen den nächsten Nährflur aufzeigt.

Nährflure und Materialschächte

Gab es im Ritterroman Witiko von Adalbert Stifter die nahrungtragende Flur, ist es im Roman von Georg Klein der Nährflur. Gewöhnlich sondert die bleiche Wand „Dicksprossen“ ab, seltener Süßkartoffeln in unterschiedlichen Graden der Genießbarkeit. Aber auch nicht-essbare Dinge werden in ständig neuen sich öffnenden und schließenden Materialschächten „ausgewandet“, sozusagen von der organischen Wand geboren, seien es hellblaue Overalls oder die begehrten Sandalen, sei es eine Gabel, die später ein Eigenleben führen wird, oder ein Schockstock als Waffe, der im weiteren Verlauf der Handlung gegen eine Maus eingesetzt wird, mit möglicherweise fatalen Folgen, nicht nur für die Maus.

Die von silbernem Haardraht durchwucherte weiche Wand versorgt die sich in ihren Kojen erholenden Arbeiter über „Zapfstummel“, an denen sie jederzeit saugen können, mit Trinkwasser. Auch ihre Arbeitstische sind Organismen – zehn Tage benötigt solch ein Pult mit weichem Glas, bis die schrumpeligen Knospen auf Hüfthöhe herangewachsen sind, und je nach dem Bauchumfang ihrer Bediener, der aber nur bei einem von ihnen ausgeprägt ist, bildet sich eine Mulde im Display. Als ein totgeglaubter, auf einem früheren Streifzug zur Materialbeschaffung wie in einer Art rückgängiger Geburt von der Wand eingesogener Kollege über das „weiche Glas“ Lebenszeichen sendet, bricht aus dem Büro eine Vierergruppe zu einer Expedition an den Rand der „wilden Welt“ auf, um den Verschollenen zu suchen.

Aufbruch zur Heldenreise

Für den ehemaligen Büroleiter Nettler, den erfahrenen Guler, den kräftigen Axler und den schönen Schiller beginnt, sobald sie die Schleuse mit den blauen Blitzen hinter sich gelassen haben, eine ritterliche Quest, eine Âventiure oder Heldenreise, wobei sie sich mit schlafwandlerischer Sicherheit durch die fremde Welt bewegen, als müssten sie sich nur rückbesinnen. In jeder Situation wissen sie, was zu tun ist, ohne zu wissen, woher sie ihr Wissen beziehen. Allen voran ist es Guler, der sich an ein früheres Stadium, ein vorausgegangenes Leben vor dem Eintritt ins Mittlere Büro erinnert; konkret ist es das Schulungsjahr im „Hohen Büro“. Er, der versierte Materialkundler, ein guter Diagnostiker der Zustände, muss immerzu achtgeben, sich nicht durch vorlautes Bescheidwissen zu verraten.

Die „wilde Welt“ ist die Domäne der Beute jagenden „Volksfrauen“, aber auch der in langen Kutten gekleideten „Wandler“, eine Art Kaste von Heilern, hochspezialisierten Technikern oder Schamanen, die jedoch unfähig sind, das Mienenspiel ihres Gegenübers intuitiv zu erfassen. Einmal bringen sich die vier Ausreißer in den Genuss einer Flasche aus dunkelgrünem Glas, die sie einem schlafenden Wandler entwenden. Das Trinken des Inhalts ruft bei ihnen die verschiedensten Reaktionen hervor: Heiterkeitsausbrüche durch wortloses Verstehen, das Bedürfnis nachzudenken, Regression ins Krabbelalter, eine besondere Aufmerksamkeit für das blaue Licht und überhaupt veränderte Sinneswahrnehmungen, oder auch wie bei Guler Schwatzlust oder Neugier, „die das Maß des bürolich gewohnten Wissenwollens“ unangenehm überschreitet.

Über einen Aufzug gelangen sie in das dritte Stockwerk – wie leicht lässt sich im stumpfen Spiegel des Aufzugs das „E“ für Erdgeschoss, wohin sie eigentlich wollten, mit einer Drei verwechseln. Sie fahren jedenfalls nach oben, in eine Welt, wo ihnen die wirklichen Dinge begegnen, die sie bislang nur als unzureichende Abbilder von ihren Bildschirmen kannten. „Breitbeinig stehen sie da, genießen unübersehbar, dass alles, restlos alles um sie herum verheißt, auf eine andere Art präsent zu sein.“

Papiertaschentuch in der Ur-Jeans

Zunächst begegnet ihnen ein Stück Laminat, in der Außenwelt als Pseudoholz oder Falschholz bezeichnet. Von Nettler aber wird der ihm zuvor nur als unvollkommenes Abbild begegnete Gegenstand weihevoll wie ein Kultobjekt angesprochen. In einem Umkleideraum öffnen sie einen Spind, finden einen Pullover. „Dann greifen Nettlers Finger nach der Hose, die, ebenso ordentlich gefaltet wie dieser, unter dem Wollpullover gelegen hat. Ihr Stoff ähnelt dem ihrer Overalls, ist aber nicht ganz so glatt, ihr Blau ist ungleichmäßig dunkel, man könnte glauben, die Zeit, in der sie sich um die Hüften und Schenkel ihres Trägers spannte, hätte mit einem ihr eigenen Durst an gewissen Stellen einen Teil der Farbe wie eine Flüssigkeit herausgesogen.

Findet er dann in einer Tasche des bestaunenswerten Urbilds einer Blue Jeans – sozusagen der Jeans an sich – ein Papiertaschentuch, wird ihm wie durch platonische Anamnesis sogleich der Verwendungszweck klar, und er, der ebenso wenig wie seine Kollegen in der hermetischen Bürowelt auch nur den Anflug einer Krankheit kennengelernt hat, schnäuzt sich vor den Augen der ihn entgeistert angaffenden Kameraden. Manchmal verdankt es sich aber auch einem Unfall, wenn einem von ihnen „eine Rückschau in ihr Herkommen glückt“.

Ein eher unverbindliches Sterben

Im oberen Stockwerk stößt die Gruppe an die Grenze zur Außenwelt. Nun wechselt die Perspektive; eine mit militärischem Gerät ausgestattete Truppe observiert ein Objekt, ein quaderförmiges Industriegebäude, das von Riesenpilzen mit bläulichen Kappen durchwirkt ist – ein beängstigendes Wuchern, das mit einer ganzen Hundertschaft bekämpft werden muss. Frau Fachleutnant Xazy, die zugleich Naturkontrollagentin ist, erweist sich als eine toughe und kompetente Vorgesetzte, die vor dem Alleingang in das sich bedrohlich ausformende Objekt, das „Unding“, nicht zurückschreckt.

Zuvor hatte sich ein kleiner Stoßtrupp vorgewagt, der, auch was die Namen der Beteiligten betrifft, in einer verzerrten Spiegelung der anderen Gruppe ähnelt, die ihnen aus dem Inneren des organischen Baus entgegenkommt. Obwohl zahlreiche Todesopfer zu beklagen sind, kann nicht behauptet werden, hier würde ein Krieg mit allen seinen Gräueln geschildert. Gestorben, wenn überhaupt, wird eher unverbindlich wie in Computerspielen.

Der Roman ist jedoch keine rein gedankliche Versuchsanordnung. Neben allem erlösenden Lachen, das die abstruse Handlung, aber auch die vielen geglückten Formulierungen bei einer Vielzahl der Leserinnen und Lesern auslösen dürften, wird auch gefühlvoll eine subtile Erotik angedeutet – zwischen einigen der Männer, zwischen dem Bürovorsteher und einer der „Volksfrauen“; in der Region der äußeren Welt auch zwischen Frau Fachleutnant Xazy und dem ihr untergebenen Hauptmann Blank. Aber: „Das Geschlecht hat sich im Griff“ – wie sich Guler, alias Guhl, an einen der während seiner Schulung im Chor gebrüllten Merksätze erinnert. Vielleicht ließe sich auch die Liebe in Miakro als platonisch bezeichnen.

Langsames Lesen lohnt sich

Miakro lädt ein, ein fremdes System, das dem unseren womöglich nicht so unähnlich ist, schrittweise zu verstehen. Tauchen, verbunden mit einer „Flussverlangsamung“, einzelne Buchstaben im Bilderstrom des „weichen Glases“ auf, ist bei den Bürolern hohe Konzentration gefordert. Parallel dazu sind in der etwa ab der Mitte des Romans beschriebenen Außenwelt die Bibliotheken zwar mit einigen Büchern ausgestattet, aber das systematisch gepflegte Vorlesen der mit wenigen Wörtern und hilfreichen Bildern bedruckten Buchseiten geht nur mit Improvisationskunst vonstatten. Die fünfblättrige Kladde mit einem Einband aus dünnem Holz gilt bereits als Herausforderung.

Möglicherweise steht die Entzifferung der Welt, Wort für Wort – mühsames Buchstabieren ist kein neues Motiv in Georg Kleins Romanen; man denke an Die Sonne scheint uns – als Metapher einer Leseempfehlung auch für Miakro. Langsames Lesen lohnt sich, Zurückblättern fördert Erkenntnisse, die im schnellen Lesefluss unterzugehen drohen.

Dem reduzierten Wortschatz der „Büroler“ (bei Tieren etwa kennen sie allenfalls die Gruppen wie Vögel oder Fische, nicht aber Gattungen oder Arten) setzt der Autor einen immensen sprachlichen Erfindungsreichtum entgegen. Hinreißende Formulierungen laden ein, sie sich auf der Zunge zergehen zu lassen, wäre da nicht zugleich der starke Sog der Erzählung, der uns in die Handlung hineinzieht, tiefer in die Dekodierung des rhizomartigen Baus, des wuchernden Pilzes oder der Innenansicht eines Gehirns.

Avancierte Technik geht in dieser Welt mit Archaismen einher, beispielsweise bei den Längenmaßen, die sich am ungefähren Vergleich mit Körperteilen orientieren. Befehle spielen eine große Rolle, sowohl im Sinne von Programmierung als auch im Militärischen. Dabei herrscht eine Art höherer Gerechtigkeit.

Das Staunen über die ersten Dinge

Als Dystopie gelesen, würde der Roman wenig Schrecken bereithalten. Eher entsteht der Eindruck, es folgten alle Wesen und Dinge ihrem eigenen Programm, im Sinne – um einmal von Platon zu Aristoteles zu springen – einer Vorstellung von Entelechie, also der Eigenschaft von Individuen, ihr Ziel (Telos) in sich selbst zu tragen. Es ist das Staunen über die ersten Dinge, die Georg Klein die Leserinnen und Leser miterleben lässt. Wie es an einer Stelle, aus der Perspektive eines „Wandlers“ gesprochen heißt: „Vor allem ihrem Adjutanten, der so eindrucksvoll staunen konnte, hätten Xazy und wir, die das Selber-Staunen noch Schritt für Schritt erwerben müssen, ein Hiersein und damit eine weitere Innigkeit gegönnt.

Der Autor verschafft uns viele solcher Innigkeiten. Denn was dem Suchtrupp aus dem Mittleren Büro bei der Konfrontation mit der Außenwelt widerfährt, und umgekehrt der Außenwelt mit dem unheimlichen Wesen, dürften wir mehr oder weniger alle irgendwann zum ersten Mal erlebt haben oder noch erleben. Wie eine erkenntnisbegünstigende Substanz hilft Georg Kleins Roman der Wiedererinnerung auf die Sprünge. Wir, die wir verstehen wollen, deuten im besten Sinne verwundert, was der sanfte Meister uns zu sagen hat.

Georg Klein: „Miakro. Roman. Rowohlt Verlag, Reinbek. 336 S., 24 Euro.




Gott, der Konsum, Kafka, das Kino und die Tiere – ein paar Buch-Hinweise, ganz en passant

Es muss nicht immer die ausufernde Einzel-Rezension sein. Hier ein paar knappe Buch-Hinweise, gleichsam en passant; damit die kostbare Zeit nicht beim Lesen der Kritik verrinnt, sondern dem Buch vorbehalten bleibt:

Götterdämmerung und Glaubenswille

Der wohl prominenteste Philosoph der Nation (wenn man von Jürgen Habermas absieht und Richard David Precht gar nicht in Erwägung zieht) heißt Peter Sloterdijk, er wurde zuerst mit seiner legendären „Kritik der zynischen Vernunft“ weithin bekannt und ist nun nicht nur bei Gott, sondern „Nach Gott“ angelangt.

Doch mit einem bloßen Abgesang auf Gott gibt er sich keineswegs zufrieden. Ein zentraler Gedankengang: Auch nach Nietzsches berühmtem Diktum, dass Gott tot sei, sei die Geschichte der Menschheit mit „ihm“ noch lange nicht ans Ende gekommen. Der verstorbene Weltenlenker schaue uns neidisch beim Sein zu, bedaure uns jedoch auch. Nanu, sollte er also doch irgendwie existieren?

Sloterdijk untersucht Gottesbilder diverser Epochen und Kulturen. Eindeutige Resultate sind dabei schwerlich zu haben. Sloterdijk fasst nicht zuletzt auch die Gegenbewegung zur Götterdämmerung und zur Säkularisation, nämlich den „Willen zum Glauben“, in den Blick.

Peter Sloterdijk: „Nach Gott“. Suhrkamp Verlag, 364 Seiten. 28 Euro.

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Wir haben Dinge, die Dinge haben uns

Dieses wuchtige Buch kündet von der „Herrschaft der Dinge“. Der heute in London wirkende Geschichtsprofessor Frank Trentmann (vormals Hamburg, Harvard, Princeton und Bielefeld) unternimmt nichts weniger, als die aufregende Geschichte des Konsums seit dem 15. Jahrhundert nachzuzeichnen.

Zwischen dem China der Ming-Zeit, italienischer Renaissance und Globalisierung habe die käufliche Dingwelt zunehmend alle Verhältnisse dominiert, so dass heute z.B. ein Deutscher im Schnitt zehntausend Gegenstände besitzt – fürwahr eine imposante bis bestürzende Zahl. Man könnte (mit Blick auf Sloterdijks oben vorgestelltes Buch) durchaus meinen, die Objekte hätten Gott ersetzt. Haben wir die Dinge, oder haben die Dinge uns?

Lang ist’s her, dass die „Achtundsechziger“ den „Konsumterror“ geißelten und verweigern wollten. Sie haben den Kampf wohl verloren – und ausgerechnet der Hedonismus mancher Leute aus ihren Reihen hat dafür den Boden bereitet. Heute wird rund um die Uhr geshoppt.

Anhand zahlloser Beispiele geht es in Trentmanns Wälzer ebenso um exzessiven, entgrenzten Konsum wie um allmähliche Geschmacks- und Genussbildung. Und natürlich spielen auch die Folgen des alles und jedes verbrauchenden Lebensstils für die Erde eine zentrale Rolle, wie denn überhaupt die Entwicklungslinien der Historie auch bedrohlich auf die Zukunft verweisen.

Ein weit ausgreifendes, voluminöses, ebenso detailfreudiges wie gedankenreiches Werk zur Alltags- und Wirtschaftsgeschichte, das beim Großthema Konsum einen Standard für künftige Debatten setzen dürfte.

Frank Trentmann: „Herrschaft der Dinge. Die Geschichte des Konsums vom 15. Jahrhundert bis heute“. Deutsche Verlags-Anstalt (DVA), 1104 Seiten, 40 Euro.

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Als Franz Kafka ins Kino ging

„Im Kino gewesen. Geweint.“ Wohl jeder halbwegs ambitionierte Kinogeher dürfte diesen berühmten Satz von Franz Kafka wenigstens einmal gehört oder gelesen haben. Viel intensiver hat man sich dann freilich nicht mit Kafka und dem Kino befasst. Ganz anders der Filmschauspieler, Regisseur und Essayist Hanns Zischler, der sich seit rund 40 Jahren wie kein anderer in den Themenkreis vertieft hat.

1996 ist Zischlers Buch „Kafka geht ins Kino“ erstmals herausgekommen. Schon damals hat es Maßstäbe gesetzt und das Kafka-Bild um eine vorher ungeahnte Dimension bereichert. Zischler hat sehr penibel rekonstruiert, wann Kafka welche Filme gesehen hat und wie er sich dazu geäußert hat. Und wer wollte bezweifeln, dass Kafkas recht häufige Kinobesuche auch sein Schreiben mitgeprägt haben?

Die jetzige, noch einmal wesentlich erweiterte und reichhaltig illustrierte Neuauflage, geht auf den seither grundlegend veränderten Stand der Kafka-Forschung ein. Überdies sind die Filme, die Kafka kannte, durch Restaurierung und Digitalisierung inzwischen ungleich besser verfügbar, so dass dem Band auch eine einschlägige DVD beigegeben werden konnte.

Manche Stummfilme, die 1996 als verschollen galten, wurden inzwischen ans Licht geholt und sind wieder greifbar. Auch Programme, Fotos und Plakate ergänzen die deutlich verbesserte Quellenlage. Doch auch nach all den neuen Funden sieht Zischler die Arbeit am Thema noch nicht als abgeschlossen an…

Hanns Zischler: „Kafka geht ins Kino“. Galiani, Berlin. 216 Seiten. Mit DVD. Zahlreiche Abbildungen. 39,90 Euro.

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Mit Tiermeldungen auf menschlichen Spuren

Die aus Wien stammende Schriftstellerin Eva Menasse sammelt seit vielen Jahren mehr oder weniger kuriose Tiermeldungen – beispielsweise über Raupen, die ihr eigenes Grab schaufeln oder über Bienen und Schmetterlinge, die gelegentlich die Tränen von Krokodilen trinken. Außerdem als Anreger für Erzählstoff tätig: Igel, Schafe, Opossum, Haie, Schlangen und Enten.

Frau Menasse sammelt freilich nicht einfach drauflos, sondern lässt sich durch derlei kurze Mitteilungen auf die Spur menschlichen Verhaltens in existentiellen Situationen bringen. Das ist nicht minder denkwürdig und zuweilen grotesk, traurig oder tragisch.

So scheint eine Gattung die andere zu spiegeln. Doch so leicht wie ehedem die lehrreichen Tierfabeln gehen die (Ver)gleichungen selbstverständlich nicht auf. Auch nähren sich die Geschichten nicht etwa von falscher Vermenschlichung und schon gar nicht von Verniedlichung der Tiere.

Schillernde Mehrdeutigkeiten eignen sich ja auch viel eher für Romane und Erzählungen. Und so haben wir hier eine anregende, durchaus mit erhellendem Witz gewürzte Lektüre – auch, aber nicht nur für Fortgeschrittene.

Eva Menasse: „Tiere für Fortgeschrittene“. Erzählungen. Kiepenheuer & Witsch. 320 Seiten. 20 Euro.




Selten satanisch, meistens aufklärerisch: Umberto Ecos kurzweilige Kolumnen zur „flüssigen Zeit“ der Gegenwart

Wenn prägende Gestalten der Geisteswelt verstummen, so mag man dennoch Denkart und Tonfall nicht missen. Es soll noch etwas bleiben, möglichst sogar bislang Unbekanntes aufscheinen. Also wird der Nachlass durchgesehen oder Fragmentarisches posthum herausgebracht. Im Falle von Umberto Eco (1932-2016) liegt nun ein Buch vor, das er – zumindest im italienischen Original – offenbar noch selbst besorgt hat.

Unter dem etwas kryptischen Titel „Pape Satàn“ (geht auf Dantes „Göttliche Komödie“ zurück, reflektiert wohl allerlei Teufeleien, hat aber laut Eco Interpreten scharenweise verzweifeln lassen) gibt es jetzt weitere „Streichholzbriefe“ zu lesen, jene kurzen Kolumnenbeiträge, für die Eco sich Stichworte just auf den leeren Innenseiten von Streichholzheftchen notiert hat.

Notizen auf Streichholzheftchen

Das Vorwort zur 2016 in Italien erschienen Zusammenstellung stammt noch von Eco selbst, also war er gewiss auch an der Textauswahl beteiligt. Insofern darf das Buch als eine Edition letzter Hand gelten, für die deutsche Ausgabe gilt dies freilich nur sehr bedingt.

In der Einleitung rechnet Eco vor, er habe ab 1985 (zunächst wöchentlich, dann alle 14 Tage) Kolumnen fürs Nachrichtenmagazin L’Espresso verfasst, macht über 400 in den Jahren 2000 bis 2015. Aus diesem neueren Fundus stammen also die vorliegenden Streiflichter, die sich kreuz und quer über die Themenfelder der unübersichtlichen Gegenwart bewegen. Es kann bei dieser Textsorte nicht um den ganz großen Wurf gehen, sondern eher um zugespitzte Denkanstöße. Gerade das garantiert Kurzweil.

Schwund des Verlässlichen

Eco konstatiert den Schwund alles Festen und Verlässlichen, Welt und Zeit hätten sich gleichsam verflüssigt, die Geschichte werde von lauter Jetzigem überschwemmt. Als eine Haupttriebkraft solcher Entwicklungen macht der Autor – nicht allzu überraschend – das Internet aus, das für ihn spürbar „Neuland“ bedeutet.

In Zeiten des Netzes wolle jeder gesehen und oder anderweitig wahrgenommen werden – egal wie. Auch kein sonderlich origineller Befund, möchte man meinen. Doch Vorsicht mit solchen Urteilen. Man sollte stets die Jahreszahl unter den einzelnen (nicht chronologisch geordneten) Beiträgen berücksichtigen. Anno 2000 oder 2002 war manches in der virtuellen Welt noch nicht so sichtbar wie heute. Und auch Schriftsteller vom Schlage eines Umberto Eco müssen sich erst einmal zurechtfinden. Dafür denken sie dann auch gründlicher als so mancher vorlaute „Netzaktivist“.

Rabiat gegen Handymanie

Vor dem Hintergrund eines von ihm behaupteten Generationenkriegs (Alt gegen Jung) kann Eco freilich auch schon mal ziemlich rabiat austeilen. 2015 hat er äußerst aggressiv gegen die allgegenwärtige Handymanie gewettert. Zitat: „Eigentlich müsste man diese hektischen Dauertelefonierer schon als Kinder töten, aber da nicht jeden Tag ein Herodes zu finden ist, empfiehlt es sich, sie wenigstens als Erwachsene zu bestrafen…“ Das klingt wirklich mal ziemlich satanisch…

Nicht ohne Entsetzen stellt Eco fest, dass das Netz so vieles mit sich reißt. Es verändert die Lyrik. Es verlagert alle Magie in die Technik. Es sorgt für permanente Sex-Aufstachelung. Und so weiter. Ein kritischer Umgang mit diesem krakenhaften Medium ist das Mindeste, was demnach anzuraten wäre. So schlägt Eco auch vor, dass Zeitungen regelmäßige Internet-Kritiken veröffentlichen sollen, um ganz allmählich die Spreu vom Weizen zu trennen. Hört sich nach dem Bohren sehr dicker Bretter an. Wahlweise auch nach einer Luftnummer. Aber man könnte es ja mal probieren.

Verschwörung und Verschleierung

Eco steht in bester aufklärerischer Tradition. Sehr zeitgemäß muten seine betont nüchternen Überlegungen zu Verschwörungstheorien an. Eine Erkenntnis: Natürlich gibt es tatsächlich etliche Verschwörungen, aber eben nicht die eine große Weltverschwörung, auf die alles zurückzuführen wäre. Was zu beweisen war.

Ähnlich nüchtern, pragmatisch und unaufgeregt (den Klischees zufolge fast so, als wäre er ein Engländer und kein Italiener) legt Eco beispielsweise dar, was vom Antisemitismus zu halten ist. Auch sinnt er über Verschleierung nach und kommt u. a. zu diesem speziellen Befund: „Versteht man unter Schleier jene Art von Kopftuch, bei der das Gesicht unbedeckt bleibt, dann mag ihn tragen, wer will (zumal er, wenn hier ein unbefangenes ästhetisches Urteil erlaubt ist, das Gesicht veredelt und alle Frauen wie Madonnen von Antonello da Messina aussehen lässt).“ Übrigens spricht sich Eco auch gegen das böswillige Karikieren jeglicher Religion aus…

Was Prosa von Poesie unterscheidet

In den Beiträgen, die summarisch mit „Über Schreiben und Lesen“ betitelt sind, befürwortet Eco kalligraphische Übungen, weil seit Erfindung des Kugelschreibers das hässliche Schreiben überhand genommen habe. Erfreut konstatiert er ein staunenswertes Interesse vieler junger Leute an Literatur und Philosophie (mit Massenpublikum bei Lesungen und Diskussionen), lässt sich über Sinn und Unsinn akademischer Festschriften aus und erläutert den Unterschied zwischen Prosa (erst die Dinge, dann die Worte) und Poesie (erst die Worte, dann die Dinge). Anhand dieser kurzen Aufzählung merkt man schon: Der schmale Band bietet reichlich Abwechslung.

Eins noch, eher nebenbei: Den Anmerkungen des Übersetzers Burkhart Kroeber lässt sich entnehmen, wie viel substanzielle, von Eco angeführte Literatur bisher nicht ins Deutsche übertragen worden ist – und das, wo die Deutschen doch als weltweit fleißigste literarische Übersetzer gelten.

Umberto Eco: „Pape Satàn“. Chroniken einer flüssigen Gesellschaft. Für die deutsche Ausgabe ausgewählt, übersetzt und eingerichtet von Burkhart Kroeber. Hanser Verlag. 222 Seiten. 20 €.

 

 

 




Wo Nanopartikel herrschen: Welten ohne Menschen als Thema im Dortmunder U

Das Plakat zur Ausstellung „Die Welt Ohne Uns. Erzählungen über das Zeitalter der nicht-menschlichen Akteure“ © JAC-Gestaltung

Das Plakat zur Ausstellung „Die Welt Ohne Uns. Erzählungen über das Zeitalter der nicht-menschlichen Akteure“ © JAC-Gestaltung

Autos fahren selbst, Computer kaufen und verkaufen Aktien, Roboter untersuchen und operieren Menschen, Haushaltsgeräte reagieren intelligent auf Veränderungen. Was heute schon in greifbarer Zukunft liegt, könnte sich bald noch weiter entwickeln: Künstliche Intelligenz ist kein Märchen von übermorgen mehr. Eine Welt, bevölkert von nicht-menschlichen Lebensformen, nicht erst seit Stanislaw Lem ein utopischer (Alp-)Traum, ist immerhin denkbar.

Das beliebte „Was wäre, wenn“-Spiel findet derzeit beim Hartware MedienKunstVerein (HMKV) im Dortmunder U statt: „Die Welt Ohne Uns“ ist eine Ausstellung betitelt, die bis 5. März 2017 in Werken internationaler Künstler „Erzählungen über das Zeitalter der nicht menschlichen Akteure“ präsentiert. Sie entwickeln Visionen radikal anderer Welten, in denen sich nicht-menschliche Lebensformen unter Umständen als anpassungsfähiger erweisen als der Mensch selbst.

Die 18 Künstlerinnen und Künstler aus dem Iran, den USA, der Türkei, Frankreich, Kenia, Litauen, Dänemark, Norwegen, Belgien, Italien und Großbritannien thematisieren eine „Ökologie nach dem Menschen“. In diesem „Post-Anthropozän“ haben andere „Lebens“-Formen die Macht übernommen: Algorithmen, KIs, künstlich erzeugte Nanopartikel, gentechnisch veränderte Mikroorganismen und aus heutiger Sicht monströs erscheinende Pflanzen.

Der letzte Mensch? Videostill aus dem Film "Pumzi" (2009) von Wanuri Kahiu.

Der letzte Mensch? Videostill aus dem Film „Pumzi“ (2009) von Wanuri Kahiu.

Die ausgestellten Arbeiten sind zum größten Teil Videos oder Video-Installationen. So zeigt etwa der norwegische Filmemacher und Designer Timo Arnall in „Robot Readable World“ einen Kurzfilm, in dem Roboter unsere Welt und schließlich uns selbst bevölkern. Wanuri Kahiu, Filmregisseurin aus Kenia, lässt in ihrem Film „Pumzi“ eine Wissenschaftlerin in einer post-apokalyptischen Welt nach Lebensspuren suchen. Pinar Yoldas aus der Türkei thematisiert in „The Kitty AI, Artificial Intelligence for Governance“ die Frage nach der Regierbarkeit einer Welt, in der durch den Klimawandel neue Lebens- und Gesellschaftsformen entstehen.

Timo Arnalls "Internet Machine"  ist ein Triptychon über die verborgene  Infrastruktur des Internets. In langsamen Kamerafahrten  führt es durch eines der größten, am besten gesicherten Datencenter der Welt, das von Telefónica im spanischen Alcalá betrieben wird © Timo Arnall

Timo Arnalls „Internet Machine“ ist ein Triptychon über die verborgene Infrastruktur des Internets. In langsamen Kamerafahrten führt es durch eines der größten, am besten gesicherten Datencenter der Welt, das von Telefónica im spanischen Alcalá betrieben wird © Timo Arnall

Weitere Werke stammen von Morehshin Allahyari & Daniel Rourke, LaTurbo Avedon, Will Benedict, David Claerbout, Laurent Grasso, Sidsel Meineche Hansen, Ignas Krunglevicius, Mark Leckey, Eva & Franco Mattes, Yuri Pattison, Julien Prévieux und Suzanne Treister. Kuratiert wird die Schau von Inke Arns.

Die Ausstellung „Die Welt Ohne Uns. Erzählungen über das Zeitalter der nicht-menschlichen Akteure“ ist bis 5. März 2017 im HartwareMedienKunstVerein (HMKV) im Dortmunder U, Ebene 3, zu sehen. Nach der Präsentation im Dortmunder U wird sie vom Aksioma – Center for Contemporary Art in Ljubljana, Slowenien, übernommen, im Juni/Juli 2017 in der Vžigalica Galerie (City Museum) in Ljubljana, Slowenien, und im September 2017 im MMSU/Mali Salon in Rijeka, Kroatien, gezeigt.

Geöffnet ist das „U“ in Dortmund Dienstag, Mittwoch und an Wochenenden und Feiertagen von 11 bis 18 Uhr, am Donnerstag und Freitag von 11 bis 20 Uhr. Der Eintritt kostet 5, ermäßigt 2,50 Euro. Begleitveranstaltungen wie Führungen und Familiensonntage mit freiem Eintritt sowie ein Filmprogramm, beginnend am 10. und 11. November mit dem Science Fiction Film „The Whispering Star“ von Sion Sono, ergänzen die Ausstellung.

Info: www.hmkv.de, www.dortmunder-u.de




Als Balzac im Zug saß – Heinrich Peuckmann auf den Spuren des ruhmreichen Romanciers

Er war ein Lebemann, ein Draufgänger und zugleich hat er der Nachwelt ein beeindruckendes literarisches Erbe hinterlassen. Die Rede ist von Honoré de Balzac.

Dem französischen Schriftsteller (1799-1850) hat Heinrich Peuckmann sein neues Buch gewidmet. Er greift dazu eine Episode aus der Biographie des bereits zu Lebzeiten populären Romantikers heraus und legt ein pointiertes Portrait des Literaten vor.

peuckmannbalzac

1847 begab sich Balzac auf eine lange Zugfahrt von Paris nach Wierzchowia in der heutigen Ukraine, um dort seine Geliebte, die reiche Großgrundbesitzerin Evelina Hanska, zu besuchen. Sie hatte schon Jahre vorher den Kontakt zu Balzac aufgenommen, doch seine Hoffnung, sie würde ihn nach dem Tod ihres Gatten heiraten, hatten sich (zunächst) nicht erfüllt. Umso mehr hoffte Balzac nun, dass der bevorstehende Aufenthalt endlich zum Ziel führen wurde.

Seine Heimat Paris hatte er aber nicht nur der Liebe wegen Hals über Kopf verlassen, einmal mehr waren seine Geldgeber dem chronisch verschuldeten Balzac auf den Fersen. Sich in damaliger Zeit auf eine Zugreise zu begeben, war für jeden Gast strapaziös, erst recht für einen Mann wie Balzac, den man heute wohl als Workaholic bezeichnen würde. Tag und Nacht arbeitete er an seiner Romanreihe „Menschliche Komödie“ und ruinierte sich nicht zuletzt durch seinen massenhaften Kaffeegenuss die Gesundheit. So litt er unter häufigen Hustenanfällen, die ihn auch auf der mehrwöchigen Reise plagten, wie es Heinrich Peuckmann eindrucksvoll schildert.

Balzacs Gedanken kreisen während der Fahrt aber nicht nur um das eigene literarische Schaffen, er ruft sich auch die Begegnungen mit seiner geliebten Evelina in Erinnerung und denkt zudem gern an die vielen anderen Frauengeschichten, die ihn schon als jungen Erwachsenen in die höchsten Adelskreise führten. Die Eindrücke und Erlebnisse in dieser gesellschaftlichen Umgebung hat er in zahlreichen Werken verarbeitet und dabei den Menschen gern mal den Spiegel vorgehalten. Trotzdem oder auch gerade deshalb erreichte er bereits zu Lebzeiten eine hohe Popularität, wie es auch auf der Zugreise deutlich wird. In Peuckmanns Buch trifft Balzac zahlreiche Zeitgenossen, die ihn schätzen und auch ihre Bewunderung zum Ausdruck bringen.

Das Verhältnis zu Dichtern und Denkern seiner Zeit beschäftigt Balzac stets auf Neue. Das belegen die Zwiegespräche mit Victor Hugo oder Heinrich Heine. Nicht immer sind es die großen philosophischen Diskurse über die Zukunft der Welt, manchmal auch ganz praktische Überlegungen. Heine empfiehlt Balzac, doch mehr Theaterstücke zu schreiben. Mit schnell verdientem Geld könne er sich doch von seinen Schuldnern loseisen.

Wenn Balzac sich in Kindheit und Jugend versetzt, kommt er nicht um das schwierige Verhältnis zu seiner Mutter herum, die ihn nicht leiden konnte und ihn zu einer Amme gab. Mit dieser Entscheidung haderte Balzac wohl bis zum Tod.

Dass Heinrich Peuckmann intensiv für das Buch recherchiert hat, zeigt sich nicht nur an den vielen Details aus dem Leben Balzacs, sondern auch bei der Beschreibung der Zugfahrt in der Pionierzeit der Eisenbahnen. In Köln mussten die Fahrgäste zu Fuß eine Rheinbrücke passieren, um danach ihre Fahrt mit einem anderen Zug fortzusetzen. In Madgeburg stand zur Überquerung der Elbe eine Fähre für die Bahn parat.

Zu Ehren kommt auch ein Begriff, der heute längst in Vergessenheit geraten ist. Der Name Perron für Bahnsteig/Treppe war seinerzeit in aller Munde. Manche Selbstverständlichkeiten in jener Zeit geben zum Schmunzeln Anlass, unter anderem, wenn es Balzac es ertragen muss, dass eine Frau Hühner und Ziege mittransportiert.

Dieses Mal ist es zwar kein Krimi, den Peuckmann vorlegt, dennoch hat das Buch einen Spannungsbogen. Ob Evelina schließlich zur Heirat bereit ist, diese Frage lässt der Autor nicht unbeantwortet.

Heinrich Peuckmann: „Die lange Reise des Herrn Balzac“. Lychatz Verlag, 124 Seiten, 19,95 Euro




Ein Hochstapler als Philosoph: Lars Gustafssons letzter Roman „Doktor Wassers Rezept“

Lars Gustafsson sagte über sich selbst, er fühle sich als Philosoph, dessen Werkzeug die Literatur sei. Wie etliche seiner Werke unterstreicht auch sein letzter Roman „Dr. Wassers Rezept“ dies eindrücklich.

Gustafsson war einer der bekanntesten und bedeutendsten Autoren Schwedens, er verstarb im April diesen Jahres im Alter von 80 Jahren. Erst im letzten Jahr erhielt er den Thomas Mann Preis. Seine Dankesrede zur Verleihung ist noch auf seinem Blog nachzulesen. In dieser Rede bekennt er, dass er Thomas Mann auch deshalb bewundere, weil Mann die Trivialität des absurden Lebens aufheben und ihn in eine ganz andere Sphäre versetzen konnte. Diese Worte muten nun nach Gustafssons Tod an, als hätte sich ein Kreis geschlossen. Umso mehr, als mit seinem letzten Buch ausgerechnet die Geschichte eines modernen Felix Krull zu seinem Vermächtnis wurde.

GustafssonDrWasser

Denn Gustafssons „Dr. Wasser“, der seine medizinische Laufbahn als Generaldirektor einer Klinik beendete und sich einen Namen in der Schlafforschung machte, ist gar kein Doktor med. Er ist „nur“ Bo Kent Andersson aus den schwedischen Wäldern, Fensterputzer und Hilfskraft in einer Reifenwerkstatt.

Zu klug für seine kleine Welt

Der junge Bo Kent merkt früh, dass er klug ist, genau genommen: zu klug. Zumindest für das kleine schwedische Karbenning. In der Welt, in die er hineingeboren wurde, hilft ihm Klugheit nicht. Eigentlich müsste für ihn eine andere Welt her. Da findet er eines Tages die Leiche eines schon vor Monaten tödlich verunglückten Motorradfahrers – und dessen Papiere, die den Verunglückten ausweisen als Dr. Kurth Wolfgang Wasser, DDR-Flüchtling und approbierter Mediziner. Dieser Fund gibt ihm einen zufälligen Moment der Freiheit und er verwandelt den „eigentümlich durchsichtigen, fast unsichtbaren schmalen Typ aus Karbenning, die gläserne Mücke“ in einen angesehenen Wissenschaftler.

Er entschied sich für den Identitätswechsel „nicht, weil ich mir besonders viel von diesem anderen versprach, sondern weil die Verführung, die von der Idee eines eigenen freien Willens ausging, unwiderstehlich war“. Nun verbringt er seinen Lebensabend als Gewinner, zumindest legen das die Ergebnisse seines Hobbys – Preisausschreiben in allen erdenklichen Formen – nahe. Aber hat er auch in seinem Leben gewonnen? Das ist die Frage, die ihn nun mit dem nahenden Lebensende vor Augen umtreibt. Kann es ihm wirklich reichen, dass er sich heiter fühlt und nicht unzufrieden?

„Doktor Wassers Rezept“ ist weit mehr als ein Schelmenroman über einen gewieften Hochstapler. Gustafsson erzählt mit der Geschichte seines Helden eine Geschichte über riskante Lügen, sinnliche Lieben und fragile Identitäten. Er folgt dabei allerdings keiner stringenten Chronik. Die Erzählung folgt – ganz Gustafssons Selbstverständnis entsprechend – einzig und alleine seinen philosophischen Gedankengängen. Die Versatzstücke des Lebens des Dr. Wasser werden dabei fragmentarisch nur zur Untermauerung der philosophischen Überlegungen gebraucht.

Dem Leben einen Sinn geben

Doch auch wenn die eigentliche Romanhandlung immer wieder unterbrochen wird, der doch man neugierig folgen möchte, ist „Dr. Wassers Rezept“ ein ungeheuer spannendes Buch. Spannend schon alleine wegen der Fragen, die das Buch aufwirft. Fragen, die sich wohl jeder zu irgendeinem Zeitpunkt seines Lebens stellt. Die ganz existentiellen Fragen darüber, wer man ist, wie man zu dem wird, der man sein möchte, ob man überhaupt die Freiheit hat, selber zu bestimmen, wer man ist und welche Verantwortung man damit übernimmt. Noch spannender, weil Gustafsson sich nicht scheut, zumindest in Teilen Antworten zu geben: „Nein, einen Sinn hat das Leben nicht. Aber man kann ihm einen Sinn geben, vielleicht war es das, was ich tat“.

Ganz besonders spannend ist noch eine ganz andere Frage, die der Roman allerdings nur am Rande aufnimmt: Wie konnte Dr. Wasser damit eigentlich durchkommen? Wieso hinterfragte nie einer die doch so offensichtlichen Diskrepanzen in seiner Geschichte? Selbst die, die ihn aus seiner Kindheit noch als Bo Kent kannten, schluckten die phantastische Geschichte von der Adoption durch ein DDR-Ehepaar und fragten nie weiter nach.

Wen kennt man eigentlich wirklich?

„Niemand war wirklich daran interessiert, die Fäden zu entwirren“. Gustafsson findet auch darauf eine Antwort: „Die Menschen füllen Lücken gerne aus. Das ist eigentlich nicht so merkwürdig. Leben ist eine sinnstiftende Aktivität. Leben heisst zu deuten.“ Eine Antwort von bestechender Logik, die eine weitere Frage aufwirft: Wen von unseren Mitmenschen kennen wir eigentlich wirklich und wollen wir ihn überhaupt wirklich kennenlernen? Reicht uns nicht vielmehr das Bild, das wir uns von diesen machen?

Immerhin muss man Dr. Wasser zugute halten, dass er gut war auf seinem Gebiet der Schlafforschung. Er hatte diesen Beruf nicht gelernt, aber er war seine Berufung geworden. Sein Fachgebiet hatte er sich schnell ausgesucht, schien es ihm doch eines der wenigen medizinischen zu sein, auf dem er keinen Schaden anrichten konnte. Hat man auch nicht alle Tage – einen Hochstapler, der keinem je geschadet hat. So zeichnet Gustafsson ganz en passant noch das Bild eines Menschen, auf den ihn in Ansätzen durchaus die Bezeichung „Psychopath“ zutrifft, dem man aber seinen friedlichen, verkreuzworträtselten Lebensabend dennoch gönnt.

Lars Gustafsson: „Doktor Wassers Rezept“. Roman. Hanser Verlag. 144 Seiten, €17,90.




„Wie sich die Welt von uns entfernt“ – die Kunst des Sterbens in Alban Nikolai Herbsts Roman „Traumschiff“

Zu den Heterotopien – den Orten, an denen abweichende Regeln gelten – zählte der Philosoph Michel Foucault neben Psychiatrien, Gefängnissen, Bibliotheken, Museen, Friedhöfen und anderen dem Alltag enthobenen Einrichtungen ganz besonders das Schiff. Das von Alban Nikolai Herbst beschriebene „Traumschiff“ kann man sich neben all dem Remmidemmi, der unentwegt für die vergnügungsfreudigen Luxuspassagiere veranstaltet wird, in etwa wie ein schwimmendes Altenheim vorstellen, inklusive Pflegestation und einiger Kühlkammern für die Leichen der unterwegs Verstorbenen.

Traumschiff Cover von der Verlagsseite

Nicht alle der mehr als 500 Passagiere und 278 Besatzungsmitglieder sind einem baldigen Tod geweiht, sondern lediglich jene 144, die „das Bewusstsein“ haben. 144 ist auch die Anzahl der Spielsteine im Mah-Jongg, dem chinesischen Sperlingsspiel, von dem der Ich-Erzähler ein schönes Exemplar in seiner Kabine aufbewahrt. Gregor Lanmeister hat „das Bewusstsein“ seit Barcelona. Doch die Handlung setzt nicht in Europa, sondern im Südatlantik, westlich von Südafrika ein, genau gesagt auf hoher See bei 33° 14‘ S / 13° 20‘ O. Von dort aus geht es nordwärts über Sankt Helena, die Kapverden, die Kanaren, Lissabon und den Golf von Biskaya in den Ärmelkanal.

Heterotopien im Sinne Foucaults repräsentieren gesellschaftliche Verhältnisse in besonderer Weise, reflektieren sie, negieren sie oder kehren sie um. Das Schiff stellt ein Modell der Gesellschaft dar, zwar mit überwiegend zahlungskräftigen Teilnehmern, dennoch mit allen Verhaltensmustern der Welt. Ein Heer schlecht bezahlter Servicekräfte hält die Sache am Laufen.

Rituale am nicht alltäglichen Ort

Was das Schiff zu einem nicht alltäglichen Ort macht, sind seine Ein- und Ausgangsrituale, das Esskontinuum, die fortwährende Musikberieselung, die Kapitänsdinner, die Spielbank, der Klabautermann, die Äquatortaufe und so weiter. Die Passagiere können und möchten sich nicht alle gegenseitig kennenlernen. „Sondern sie finden sich, dem Charakter von Spatzen völlig gemäß, in Gruppen zusammen. Die sind es, die sich erkennen. Das war zum Beispiel die Erklärung für den Rauchertisch oder die Raucherecke ein Deck höher. Es erkennen sich nicht alle untereinander, sondern immer nur einige. Die eben zueinander passen.“

Folglich werden nur wenige Mitreisende dem Leser näher beschrieben, ein Club von Auserwählten, eine „Gemeinschaft von Sterbenden“. Sie alle wissen auf eine nicht näher beschriebene Weise voneinander, wer „das Bewusstsein“ hat und wer nicht. Auf dem Weg in die große Auslöschung begegnen dem Erzähler einige Mentoren, die nicht möchten, dass er „falsch sterbe“. Eine Ars moriendi scheint auf, die teilweise durch den Schiffsarzt, Dr. Samir, oder auch mit der Stimme der Senhora Gailint spricht: „Merken Sie nicht, wie Wahrheit und Lüge uns manchmal verschmelzen? Nein, Wahrheit und Märchen hat sie gesagt. Es ist unser größtes Vermögen, sagte sie, jede Lüge in Wahrheit zu verwandeln.“ Oder: „Denn welch eine Rolle spielt es noch, wo einer überhaupt ist.“

Damit ist zugleich ein poetologisches Konzept benannt, das der Autor sowohl theoretisch ausgeführt als auch in seiner 2.000 Seiten umfassenden „Anderswelt“-Trilogie angewandt hat. Eine Synthese aus Fiktivem und Erlebtem, Alban Nikolai Herbst spricht von einem „kybernetischen Realismus“.

Indem er mit seinem Ich-Erzähler Gregor Lanmeister einen Sterbenden erzählen lässt und die Altersdemenz gleichsam von innen beleuchtet, entfaltet der Autor eine Heterotopie – in des Autors eigener Sprache: eine Anderswelt – im doppelten Sinne. Das Schiff, der in den Weiten des Meeres sich verlierende schwimmende Raum, ein Ort ohne festen Ort, in sich geschlossen, autark und den Naturgewalten ausgeliefert, ist bereits eine Anderswelt par excellence.

Kathedrale des Schweigens

Aber auch die schiffseigenen Regeln werden konsequent durchbrochen durch die körperliche und geistige Hinfälligkeit des räumlich und zeitlich desorientierten Protagonisten, der in einer Kathedrale des Schweigens das für ihn Festhaltenswerte mit den jeweiligen geographischen Koordinaten in 17 Kladden einträgt, die allesamt verschwinden – bis auf die letzte, oder war es immer nur die eine? Die Einträge sind eine lange Ansprache an seine imaginäre Geliebte, die er nach den im Südatlantik beobachteten Feenseeschwalben zärtlich Lastotschka nennt und die ihr lebendes Vorbild in der ukrainischen Bord-Pianistin hat.

Seine Einträge, aus denen sich der Roman zusammensetzt, sind eine ständige Selbstvergewisserung und Infragestellung des (scheinbar?) Erlebten. „Zeitgitterstörungen“ wäre wohl der medizinische Befund, doch den Literaten interessiert mehr das phantastische Potential. „Die Heterotopie erreicht ihr volles Funktionieren, wenn die Menschen mit ihrer herkömmlichen Zeit brechen“, schrieb Foucault. Gregor Lanmeister – verlieh sein Schöpfer ihm diesen Vornamen nach dem Papst, der den inzwischen weltweit gültigen Kalender zu verantworten hat? – wähnt sich womöglich seit Ewigkeiten auf dem Traumschiff. Seefahrergeschichten aus früheren Jahrhunderten erscheinen ihm wie selbst erlebt. „Gibt es nicht, Lastotschka, Legenden von Menschen, die verdammt dazu sind, ihre Leben über ihr Leben hinaus und über das aller anderen Menschen immer weiterzuleben?“

Der vermeintliche Dämmerzustand ist voller luzider Momente, und auch in den für den Leser offensichtlichen Selbsttäuschungen liegen tiefe Erkenntnisse. Gregor Lanmeister kommt zur Auffassung einer statischen Zeit, die zugleich der Tod ist. „Was wir den Tod nennen, steht einfach still. Das genau ist sein Wesen. Nur wir sind unterwegs. Er bleibt, wo er ist, und das Traumschiff schiebt sich ihm Raumsekunde für Raumsekunde entgegen. Das ist es, was wir das Sterben nennen. Wenn wir an Bord gekommen sind.“

Wortfindungsschwierigkeiten

Alban Nikolai Herbst schafft mit „Traumschiff“ eine Allegorie des Lebens und des Sterbens, eine Allegorie des Übergangs. „Das Bewusstsein“ – so viel wird klar – hat auch damit zu tun, sein Ziel zu kennen. „Aber vielleicht sind es verschiedene Ziele, für jeden Menschen ein anderes, oder sogar mehrere. Manche, habe ich den Eindruck, kennen es bereits vor dem Bewusstsein, haben es im Blut. Ich stelle mir das vor wie bei den Tieren den Instinkt.“ Sein Ziel in sich haben. So streift der Autor elegant den schönen aristotelischen Gedanken der Entelechie – heute würde man von Selbstverwirklichung sprechen.

Die Dinge werden für ihn transparent, wie in Vladimir Nabokovs spätem Roman Durchsichtige Dinge, der aus der Perspektive eines bereits Gestorbenen erzählt ist. „Darum schauen wir durch die Dinge hindurch, durch den Topf und den Holzlöffel und die Binde vor den Augen. Wir durchschauen die Dinge und Euch. Aber wir lassen es Euch nicht merken, damit nicht Ihr wie kleine Kinder dasteht. Sondern wir leiten es um auf uns.“

Der im Gehen bereits eingeschränkte Herr Lanmeister mutet sich zu viel zu und stürzt. Er hört den Schiffsarzt etwas von einem „zweiten Schlaganfall“ murmeln; sonst aber hält sich der Autor mit der Benennung von Diagnosen zurück. In der Darstellung des Funktionierens beziehungsweise Nicht-Funktionierens menschlichen Denkens dürfte der Autor auf der Höhe der gegenwärtigen Gehirn- und Gedächtnisforschung sein. In seinen Wortfindungsschwierigkeiten fallen Lanmeister immer wieder Wörter ein, die seine Großmutter benutzt hätte, die Frau, bei der er aufwuchs, weil seine Mutter, ihn, das „Russenkind“, nicht wollte – „liederlich“, „bedröppelt“, „betüdeln“ – der Autor bewahrt sie vor ihrem allzu schnellen Verschwinden.

Fließender Übergang vom Erlebten zum Ausgedachten

Durch die fortlaufende Mitschrift seines Lebens, dem Blog Die Dschungel. Anderswelt ließ Alban Nikolai Herbst seine Leser von April bis Juni 2014 das Logbuch seiner Reise, das auch zahlreiche Fotos enthält, in Echtzeit miterleben. Der WDR sendete außerdem eine vom Autor vorgenommene Zusammenstellung von O-Tönen und vorgelesenen Texten als Hörstück unter dem Titel „Eine akustische Kreuzfahrt“, die weiterhin im Internet verfügbar ist. Auf der Website der Reederei ist unter anderem der Deckplan der MS Astor als detaillierte Risszeichnung einsehbar.

Die Kapitel des Romans sind nach exakten geographischen Koordinaten benannt. Von der Lage seiner Kabine über die Wege des Autors bis zu den lebenden Vorlagen seiner Geschichte lassen sich alle möglichen Einzelheiten des Romans im „wirklichen“ Leben nachverfolgen. Und doch handelt es sich bei „Traumschiff“ großenteils um einen phantastischen Roman – eine Seltenheit in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Bei nachträglicher Lektüre des minutiös Dokumentierten wird deutlich: der Anteil an Erfindung ist immens. Doch im Unterschied zur Anderswelt-Trilogie, deren Teile 1998, 2001 und 2013 erschienen sind, und zum Blog „Die Dschungel. Anderswelt“, in dem auch hartgesottene A.N.H.-Fans den Überblick verlieren können, macht es der Autor mit dem übersichtlichen Roman „Traumschiff“ (320 Seiten) seinen Lesern leicht. Und schön.

Mit der Wahl eines in der Zuverlässigkeit seiner Äußerungen fragwürdigen Protagonisten hat der Autor alle Möglichkeiten, auch das Unwahrscheinlichste überzeugend vorzuführen. Ob es sich bei den unvermittelt in seiner Kabine auftauchenden Spatzen um die verwandelten Ziegel des chinesischen Sperlingsspiels handelt; ob sich mitten auf dem Meer tatsächlich Zikaden auf dem oberen Deck niedergelassen haben; ob die Mantarochen fliegen können – wenn nicht real, so empfindet der Erzähler diese Phänomene als von einer die Wirklichkeit übersteigenden Schönheit. „Wir sind sowieso, Lastotschka, längst dreiviertel drüben. Nur ist dieses Drüben ein Teil dieser Welt. Jede ihrer Fasern wurzelt im Drüben. Aus dem saugt sie Nahrung herauf.“

Eine Art Lebensbeichte

Wohl sämtliche mythologischen und kulturgeschichtlich überlieferten Konzepte vom Sterben und vom Tod werden im Vorbeifahren aufgegriffen, und der Autor lanciert dabei auch manche Spitze gegen allzu esoterische Vorstellungen. Sie alle haben den Makel, dass sie lediglich aus diesseitiger Perspektive entwickelt wurden.

Zwischendurch tauchen Erinnerungen auf, die den Sterbenden peu à peu zu einer Art Lebensbeichte veranlassen. Lanmeister hat bei weitem nicht alles richtig gemacht, als Geschäftsmann im zwielichtigen Handel mit Halbleitern, im Umgang mit Frauen, und vor allem reut es ihn, sich zu wenig um seinen Sohn gekümmert zu haben, der nach einer unschönen Scheidung den Kontakt zum Vater abbrach. Auch sentimentales Abschiednehmen auf seiner letzten Fahrt wird – zum Beispiel vor Ascension – deutlich, der kleinen tropischen Insel im Südatlantik, 1297 km nordwestlich von St. Helena: „Nie käme ich hier wieder hin. Weil ich das wusste, stieg Wehmut in mir hoch.“ Ihn tröstet, dass alles Gewesene eine Spur hinterlässt. Über den körperlichen Schmerz will Lanmeister nichts zu Papier bringen. Eher über seine Dankbarkeit. „Mit jedem Tag nimmt unsere Dankbarkeit zu. Wie sich die Welt von uns entfernt. Dann wird alles zur Meeresglut. Was aber ein Glühen der, wie ich Dir schon geschrieben habe, Zeit ist. Indem sich an ihr der Abend entzündet.“

Ein mystisches Verschmelzen mit allem und jedem? Das einmalige Erreichen von Allwissenheit? Ein kurzer posthumer Nachsatz stellt klar, dass es so nicht ist. Dennoch: Die dem Protagonisten vergönnte Art des Sterbens ist – ohne es zynisch zu meinen – vergleichsweise privilegiert.

Die MS Astor, auf der Alban Nikolai Herbst den Südatlantik bereiste, übertrifft die ähnlich gebaute „Astor“ aus der Fernsehserie „Traumschiff“ an Länge lediglich um zwölf Meter; der Roman als Kunstwerk aber unterscheidet sich von der ehemals wöchentlichen Soap fundamental. Alban Nikolai Herbsts „Traumschiff“ ist ein meisterhaft ausgedachter Roman, mutig, voller weiser Worte und pure Poesie obendrein. Das richtige Buch für alle, die irgendwann einmal älter werden und sterben müssen.

Alban Nikolai Herbst: „Traumschiff“. Roman. Mare Verlag, Hamburg. 320 Seiten, 22,00 Euro.




Sich in Faultiere und Birnen einfühlen – ja, selbstverständlich geht das!

Weckerbrüllt! Uff… nur… ne Viertelstunde noch… konzentriert schlafen (jawoll, das geht)…

»Schorsch (nach Picasso)« Scherl, 2015

»Schorsch (nach Picasso)« © Scherl, 2015

…wenn dann Kater Schorsch sein aggro-beleidigtes MRRRRRAAUU! MRRRRRAAUU! MRRRRRAAUU! raushaut ohne Luft zu holen, weil er der Meinung ist, daß er sogleich Hungers stirbt, wenn ich ihn nicht sofort fütter (Essenszeit für ihn in zwei Stunden!), hau ich mein 100% aggro RUHEJETZTVERDAMMTESCHEIßE! raus, daß die metallenen Bettpfosten mitsingen.

Es kümmert ihn zwar keinen feuchten Kehricht, aber immerhin hab ich das erhebende Gefühl, daß mir wenigstens ein Ding auf Erden Resonanz gibt – und wenn’s nur die Bettpfosten sind.

Wenn ich dann allerdings zB versuche, mich in ein Faultier einzufühlen, weil ich einen Faultiershirtentwurf machen muß und das Vieh so richtig schön faul werden soll oder das gleiche in drei Birnen für eine Auftragszeichung, damit da auch wirklich die richtige Geschichte erzählt wird mit dem Obst (ja freilich kann man sich in Birnen einfühlen. Bin ich Künstler oder Hobby-?) und der schwarze Pelzsatan legt dann los mit seinem Geschrei (wofür er in 99% aller Fälle exact (ja, mit »c«)) den richtigen Zeitpunkt findet und auch nicht eher aufhört, bis ich entweder keine Zeit mehr hab oder mir auch noch das letzte bissl Muse zerrüttet ist), packt mich einfach nur noch tiefste Verzweiflung und eine Stimme fragt in mir:

»Was hätt Picasso an meiner statt getan? Oder Matisse? Oder Cezanne? Oder Christian Schad? Oder…« (Zwischenruf einer anderen Stimme: »Charles Manson?«) und es antwortet: »Sie wären ins Atelier gegangen und wenn sie da schon gewesen wären, in ’n anderes.«, dann kommentiert die nächste: »Thomas, schreib auf deinen ‹Ziele 2016›-Zettel ganz oben, ganz groß: ‹1. Viel Geld verdienen, 2. Atelier mieten›.«

Done.

(Also das mit dem Zettel.)




Über Digitalisierung – einige grundsätzliche Überlegungen zum Internet und seiner künftigen Gestaltung

Wie und nach welchen Prinzipien soll das Internet der Zukunft gestaltet werden? Unser Gastautor Michael-Walter Erdmann, Künstler und Publizist aus Essen, hat dazu einen grundlegenden Text geschrieben:

̈Wäre das menschliche Auge nicht sonnengleich, es könnte die Sonne nicht sehen. Wenn das menschliche Gehirn kein Computer wäre, könnte es keine Computer bauen. Die Erfindung des Computers ist ein zwanghafter, zwangsläufiger Akt der Auto-Mimesis. Das Internet ist das bislang größte mimetische Projekt des Menschen; digitale Höhlenmalerei.

Mimesis ist nicht nur ein auf Erkenntnis abzielender Kunstvorgang, jedenfalls kein auf Kunst begrenzter Vorgang: Mimesis ist ein biologisch-geistiger Reflex, ein Grundprinzip der Evolution. Zwei, drei Dinge, die man ganz generell zu „Digitalisierung“ sagen muß. Die Digitalisierung krempelt die gesamte Kultur der menschlichen Spezies um. Kein Bereich des menschlichen Lebens bleibt davon unberührt: Ökonomie, Politik, Gesellschaft, Privatleben, der Öffentliche Raum, Ästhetik, Kunst und Kommunikation. Es wird nichts mehr geben, kein Merkmal und keinen Raum und keine Äußerungsform menschlicher Existenz als Species und intelligibler Zivilisation, der von diesem Prozeß nicht erfaßt und prinzipiell umgestellt, umgebaut, in grundlegender Weise strukturell verändert wird.

Digitale WEltmächte dicht an dicht: die Logos von Google, Amazon und Facebook auf einem Apple-Bildschirm. (Foto/Screenshot: Bernd Berke)

Digitale Weltmächte dicht an dicht: die Logos von Google, Amazon und Facebook auf einem Apple-Bildschirm. (Foto/Screenshot: Bernd Berke)

Die digitale Revolution ist die am schnellsten wachsende Infrastruktur seit Menschengedenken. Dieser Prozeß ist unumkehrbar, und dieser Prozeß ist unabsehbar, und er verläuft in einer exponentiellen Wachstumskurve. Wir stehen am unteren Ende dieser Kurve.

Die Digitalisierung ist eine neue, ist die aktuelle Periode der menschlichen Evolution. Das 21. Jahrhundert ist das Zeitalter der Digitalisierung.

Es gibt 3 Gesetze der Digitalität:
Simultaneität
Ubiquität
Konvergenz

Alle drei Werte tendieren zum Absoluten, akzeptieren keine Endlichkeit, keine Begrenzung. Ein digitaler Content ist prinzipiell überall verfügbar. Das heißt: überall, wo es menschliche Zivilisation und digitale Technik gibt, also so gut wie überall auf diesem Planeten und außerdem außerhalb dieses Planeten überall dort, wo Menschen digitale Technik hinschicken; also auch in Räumen und an Orten, wo keine Menschen sind! Dieser content ist überall gleichzeitig präsent, und Gleichzeitigkeit ist immer Zeichen für und Anzeichen von absoluter, sich selbst absolut setzender Macht.

Herrschaftsanspruch und strukturelle Gewalt

Simultaneität ist Herrschaftsanspruch. Ubiquität und Simultaneität gepaart symbolisieren und repräsentieren eine große materielle Machtfülle und strukturelle Gewalt. Und die Urheber solcher Gewalt wissen um ihre Macht. Um das an einem historisch frühen und vergleichsweise simplen Beispiel zu verdeutlichen, erinnere ich an die erste internationale Währung der Menschheitsgeschichte, an die Standard-Silbermünze, die Alexander der Große in seinem Imperium prägen ließ. Trotz eines gewissen Variantenreichtums legte er großen Wert auf unmißverständliche Wiedererkennbarkeit seines Konterfeis, ikonographischer Ausweis der Omnipräsenz, der Militanz und der wirtschaftlichen Potenz seiner Herrschaft.

Konvergenz bedeutet in diesem Zusammenhang das tendenzielle und progressive Konvergieren vieler unterschiedlicher Medien: Einem digitalisierten Content ist es egal, ob er auf einem großen Screen erscheint, auf einem normalen Computer, einem Tablet, einem Smartphone oder einer Uhr. Er kann an jedem beliebigen Ort als Fernsehbeitrag, CD/DVD/Diskette, als Zeitungsartikel, Buch oder Plakat erscheinen; kann sich also auch wieder in rein analoge oder gemischte (analog-digitale) Medien zurück verwandeln.

Um auch die Grenzbereiche des Analogen zu erwähnen: Ein optischer Content kann als Projektion erscheinen, ein akustischer Content als reines Schallereignis. Content switcht zwischen analogen und digitalen, materiellen und immateriellen Welten und ist in diesen Welten (also an verschiedenen Orten) inclusive der Zwischenwelten gleichzeitig. Darin ähnelt er dem Verhalten von Teilchen im Quantenbereich.

Im Prinzip funktioniert also jegliche Digitalität nach diesen 3 Grundprinzipien, und um sie philosophisch zu fassen, bedarf es keines weiteren Prinzips. Der Rest sind Akzidentien und Anthropologie: Sozialverhalten, Biologie, Evolution. Kein Konzern hat diese 3 Prinzipien besser, umfassender und konsequenter in Produktstrategien und Konnektivität, in Image und Produktprestige umgesetzt als APPLE.

Verlust an Kulturtechniken

Die Digitalisierung sorgt in vielen Bereichen für einen Verlust an Kulturtechniken, kulturellen und zivilisatorischen Standards, für deren Entwicklung die Menschheit Jahrtausende gebraucht hat. Europa war an der Entwicklung dieser Techniken und Standards maßgeblich beteiligt, verteidigt diese aber nicht. Beispiele: Das Navigationsgerät verdrängt die Kunst des Kartenlesens. „Whatsapp“ ist der Ruin der Rechtschreibung, des Briefeschreibens, der Intimität und der Vertraulichkeit; zumindest für ein, zwei, drei Generationen.

Berühren heißt noch lange nicht begreifen: Bildschirm eines so genannten Smartphones. (Foto: Bernd Berke)

Berühren heißt noch lange nicht begreifen: Bildschirm eines so genannten Smartphones. (Foto: Bernd Berke)

Das Gefährliche an der gefälligen „usability“ von digitalen Endgeräten ist die enorme Leichtigkeit der Prozeduren, sind die vielen Automatismen, das Leicht-Fertige. Digitalisierung ist anthropologisch gesehen tendenziell regressiv. Sie erleichtert die Befriedigung atavistischer Instinkthandlungen wie jagen, sammeln, Beute machen; alles vom Sofa aus, jederzeit, an jedem Ort, mühelos.

Die Entwicklung des menschlichen Gehirns ist gekoppelt an die des aufrechten Gangs, die gleichzeitige Evokation von Sprache und dies beides wiederum an die Evolution der menschlichen Hand. „Begreifen“ als Weltaneignen ist immer ein Doppeltes: Das reale Tun, die Mechanik der Hand, das Anfassen und die Verarbeitung der so zustande kommenden Objektwelt als innere Landkarte auf der Metaebene/Datenverarbeitung des Gehirns.

Bei digitalen Geräten ist der Kontakt des Menschen mit dem Objekt auf ein paar Quadratmillimeter Fingerkuppe reduziert; das ist kein „Begreifen“ mehr. Trotzdem verfügen wir mittels dieser Geräte über prinzipiell unbegrenzte Macht: Macht über Menschen, Geld, Dinge, Prozeduren, Sprache. Das ist verführerisch, das schmeichelt unserer kindlichen Omnipotenz, unserem Narzißmus; es ist regressiv, und wir geben dem allzugern nach. Je jünger wir sind, desto gefährdeter sind wir. Wir brauchen eine europäische Ethik des Digitalen. Der Umgang mit digitalen Geräten muß normativ gelenkt und gelernt werden und gehört in ein Unterrichtsfach und an die Universitäten.

Wo bleibt der Einspruch im Sinne der Aufklärung?

Das alles sind reale Gefahren, die durchaus auf ein kulturelles und zivilisatorisches Verblassen der menschlichen Spezies hindeuten. Und es sind reale Gefahren, weil wir Europäer nichts unternehmen, dieser Entwicklung etwas entgegenzusetzen. Digitalisierung ist nicht aufhaltbar und sie ist im Großen + Ganzen unumkehrbar. Aber man kann sie gestalten, einiges kann + sollte man sogar zurücknehmen.

Es entspricht europäischer, aufgeklärter Vernunft, nicht alles zu tun, was man – technisch gesehen – kann. Im Moment versäumen wir den Einspruch aufklärerischer Vernunft, überlassen die Entwicklung von Algorithmen und damit die kulturelle Prägung von Alltagsprozeduren/Kommunikation/ Marktverhalten etc. den Amerikanern und die Produktion von Geräten den Asiaten.

Es entspricht standardisiertem amerikanischem Denken und einem anthropologisch, kulturell naiven Verständnis der techne, zu sagen: „If it’s makeable, we make it!“ Das ist falsch; das ist auf lange Sicht sogar unökonomisch, weil es aufgrund seiner Priorität (technische Machbarkeit) die Grundlagen von Ökonomie tendenziell zerstört: die Balance von Mensch und Ressourcen. Dieses Denken hängt mit der spezifisch amerikanischen Raumerfahrung zusammen, und die hypostasiert einen prinzipiell unendlichen Raum für Bewegung, Planung und Existenzausdehnung. Dieser Raum ist sowohl real wie auch – im amerikanischen Protestantismus – theologisch aufgehoben und existenzbettend.

Die Sorge um das einzelne Subjekt

Der europäische Begriff von „Ökonomie“ beginnt auf begrenztem Raum beim „oikos“, dem einzelnen Haus und seinen Bewohnern und bei einem prozessualen, dialogischen, dynamischen Ausgleich zwischen Individuum, oikos und der polis als der zusammengehörenden Vielzahl der Häuser; europäisches Denken hebt an mit dem Begriff der Differenz, seine Sorge gilt dem Einzelnen, dem Subjekt: Dem großen Ganzen der Polis geht es gut, wenn es dem Einzelnen in seinem Haus gut geht und umgekehrt.

Diese einfachen existentiellen, komplementären Prinzipien bilden den Kern europäischer Identität und des großen, genuin europäischen Projekts AUFKLÄRUNG, aus ihnen resultieren die regulativen ethischen Werte (Freiheit, Solidarität, Gleichheit, Toleranz usw.) für die man Europa weltweit respektiert, woran Millionen von Menschen in anderen Erdteilen sich orientieren, wenn sie gegen staatliche Willkür, Despotismus, religiöse Intoleranz und Korruption kämpfen.

Diese Sorge ums begrenzt Individuelle, das sein Selbst-Bewußtsein und seine Identität geradezu daraus gewinnt, daß es sich den Verführungen der Entgrenzung klug und verantwortungsvoll verweigert, ist – verkürzt gesprochen – den Algorithmen von KINDLE, AMAZON, FACEBOOK, GOOGLE, WHATSAPP & Co. fremd. Diese Algorithmen zielen auf grenzenlosen Konsum, grenzenlose Kommunikation und grenzenlose Kontrolle und Verfügung bei gleichzeitig grenzenloser Mobilität und Ubiquität.

Rückbesinnung auf europäische Werte

Deswegen plädiere ich für die Rückbesinnung auf die zentralen Werte und Normen europäischen Denkens und für die „Übersetzung“, sozusagen für die „Migration“ europäischer Kategorien in die Sprache und Prozeduren der Digitalität. Das Zeitalter der Digitalität hat gerade erst begonnen, es ist keineswegs zu spät, um mit dieser Aufgabe der Europäisierung der digitalen Revolution zu beginnen.

Digitalität ist eine Technik. Als techne ist sie – so lehrt uns europäisches Denken und so kriegt man die Sache vielleicht auch in den Griff – dem Menschen, seinen Zielsetzungen, seinen Absichten und Zwecken untertan. Zwar ist das leichter gesagt als getan; aber es ist so. Es ist nicht das erste Mal, daß die Geister, die einer neuen Technik innewohnen, sich über den Menschen erheben, ihn verführen oder ihm Angst machen und ihn beherrschen. Es war immer wieder schwierig und manchmal auch langwierig, solche Verkehrungen vom Kopf auf die Füße zu stellen; und es beginnt immer mit diesen zwei Wörtern: Sapere aude!

Ceterum censo:
Schaffen wir eine Digitalisierung mit europäischem Antlitz! Nach meinem Dafürhalten gehört diese Aufgabe ins Ruhrgebiet. Es gibt hier eine Menge Menschen + Institutionen, die an dieser Aufgabe partizipieren könnten und es sicher auch gern täten.




Sie sind jung und schön und hören gerne Zaz oder Milky Chance

…ok, Zaz hab ich sogar schon mal gehört.

Das sind halt junge schöne glückliche Menschen, die sich freuen, dass sie ihren Platz in der Kultur-Industrie gefunden haben (hauptberuflich Designer, Fotografen, Foodblogger, Modeblogger, Techblogger, Pornodarsteller und Aufnahmeleiter bei Jamie Oliver etc.) und viele Fans auf Instagram und Twitter. Und sie sind glücklich und schön, weil sie jung und schön und glücklich sind und ihren Platz in der Kultur-Industrie gefunden haben und Designer, Fotografen, Foodblogger, Modeblogger, Techblogger, Pornodarsteller und Aufnahmeleiter bei Jamie Oliver sind etc.

sternzeichen smoothie und veggieburgerIhr Sternzeichen ist der Smoothie aus Bio-Früchten und fettarmem Bio-Joghurt oder der Veggie-Burger mit biologischen Süßkartoffelpommes für 14,95 (Getränke extra). Sie sind für die Umwelt und für Bioklamotten und für Bioessen, weil das irgendwie dazugehört und eh besser ist für die Umwelt, fahren am Sonntagmorgen mit dem SUV, das ist sicherer!, Brötchen vom Bäcker nebenan holen und stehen da in der Schlange, weil sie das aus der Rama-Werbung kennen und freuen sich, dass sie in der Schlange stehen, weil sie das aus der Rama-Werbung kennen und das ist alles so schön und warm und so vertraut und so heimelig und Kinder wollen sie ja eh mal, zwei, n Jungen undn Mädchen, weil Kinder sind doch so wichtig für alles und so und wenn die einen dann so anlachen. Außerdem können sie dann auch bald nen eigenen YouTube-Channel mit Spielzeugtests machen und aus den Werbeeinnahmen was zum Haushalt dazugeben. Aber das mit den Flüchtlingen ist echt schlimm.

hipsterpärchenDie Frauen tragen weite Strickpullover mit zu langen Ärmeln, Wollsocken und Flip-Flops und halten die Tasse mit koffeinreduziertem senseo-Latte in beiden Händen, während sie die neue Country Homes aufm ipad durchblättern, den manufactum-Katalog studieren, die greenpeace-Überweisung machen und noch eben die online-Petition für die Flüchtlinge unterzeichnen und nachher nachm Büro gehts noch zur urban-knitting-Gruppe, weil das ist ja wichtig für uns alle und so und die Männer tragen Bart oder auch nicht, weil das ja unhygienisch ist, trinken mit guten Freunden ein craftbier (max.) und sind fast so lustigdoof wie der Golden Retriever, stinken aber weniger, wenn man ihnen jeden Tag sagt, dass sie duschen und auf jeden Fall mehrmals täglich Deo verwenden sollen und auch Zahnseide und sone Pflegeserie für ihn.

Aber irgendwie ist der Retriever dann doch irgendwie, naja, kuscheliger und so und man muss ihn nur ab&zu mal rauslassen und Futter geben und er passt ja auch besser zum Sofa und lecken kanner ja auch und wenn dann erst mal die Kinder da und aus dem Gröbsten raus sind, naja.

[Zeichnungen ©scherl]

[Lehrreiches: urban knitting]




Ohne Wachstum und gewaltfrei leben: „Das konvivialistische Manifest“

Eine neue Zeit der Manifeste scheint gekommen. Nach Stéphane Hessels manifestartigem Pamphlet „Empört Euch!“ und dem „Akzelerationistischen Manifest“ erschien im September 2014 in deutscher Übersetzung „Das konvivialistische Manifest“, das inzwischen mehr als 2.500 Unterzeichner gefunden hat.

Seit Ivan Illichs Veröffentlichung von „Tools of Conviviality“ (dt.: „Selbstbegrenzung. Eine politische Kritik der Technik“, 1975) ist Konvivialität im politisch/soziologischen Diskurs – mehr noch im anglo- und frankophonen Bereich als in Deutschland – ein fester Begriff. Ein Jahr vor Illichs Erstpublikation des Buchs in den USA (1973) war der Bericht für den Club of Rome, „Die Grenzen des Wachstums“, erschienen, der seitdem in mehreren Neuauflagen aktualisiert worden ist, dessen Einschätzungen und implizite Warnungen bis heute jedoch nichts an Dringlichkeit eingebüßt haben.

Cover Konvivialistisches Manifest

Ausgehend von einem Kolloquium in Tokio im Jahr 2010 veröffentlichten 64 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterschiedlichster politischer und religiöser Überzeugungen unter dem kollektiven Autorennamen „Les Convivialistes“ das konvivialistische Manifest, das die wesentlichen globalen Herausforderungen benennt und Chancen aufzeigt, wie ein gewaltfreies Zusammenleben unter gleichzeitiger Schonung der Ressourcen unseres Planeten möglich sein könnte.

Der Markt dringt in jeden Winkel vor

Konstatiert wird, was nicht zu übersehen ist, ein Vordringen ökonomischen Denkens in Bereiche, die noch bis in die 1970er-Jahre weitgehend frei von marktwirtschaftlichen Ansprüchen waren. „Benchmarking und ständiges reporting werden nun zu den Grundwerkzeugen des lean management und der Verwaltung durch Stress.“ (S. 55) Veränderungen im Gesundheitswesen, Hochschulranking, Stadtmarketing, effizienteres Kulturmanagement – jedem Leser und jeder Leserin wird zu diesen Stichworten eine Vielzahl von Beispielen einfallen. Das Manifest begnügt sich zusammenfassend mit dem Hinweis auf ein „Neomanagement“, das nicht nur in den Wirtschaftsunternehmen ausartet, sondern auch den öffentlichen Sektor erfasst, bis der Markt auch den letzten noch unterkapitalisierten Winkel unserer Freizeit besetzt hat.

„Es gibt keine erwiesene Korrelation zwischen monetärem oder materiellem Reichtum einerseits und Glück oder Wohlergehen andererseits“, schreiben die Autor(inn)en (S. 68). Statt einer Verkürzung der Arbeitszeit durch technischen Fortschritt, wie sie John Maynard Keynes um 1930 voraussagte, erhöht die Automatisierung den Arbeitsdruck. Psychische Defekte wie Depression und Burnout gehen mit diesen Entwicklungen einher.

Die Standard-Wirtschaftswissenschaft gelte es in ihre Schranken zu verweisen. Von den Autoren des Manifests ist es vor allem der Ökonom Serge Latouche, der in den letzten Jahren mit Überlegungen zu einer möglichen Wachstumsrücknahme an die Öffentlichkeit getreten ist. „Degrowth“ im Englischen, bzw. „décroissance“ als das französische Äquivalent und, da der Glaube an Wachstum als eine Quasi-Religion angesehen werden kann, spricht Latouche analog zum Atheismus, auch von „acroissance“.

Selbstverständlich müssen für die weit und die weniger weit entwickelten Länder unterschiedliche Maßstäbe angelegt werden, will man die nicht zuletzt im Zusammenhang mit der Flüchtlingsfrage stets beteuerten Politikerfloskeln, die Situation in den Herkunftsländern der Flüchtlinge verbessern zu müssen, beim Wort nehmen und einen wirtschaftlichen Ausgleich anstreben.

Die Maßlosigkeit bekämpfen

„Das Niveau des weltweit universalierbaren materiellen Wohlstands entspricht annähernd demjenigen der reichsten Länder um das Jahr 1970, vorausgesetzt, man erreicht es mit den heutigen Produktionstechniken.“ (S. 67) Das würde nicht nur Selbstbegrenzung in den Industrienationen erfordern, sondern eine Neudefinition der Ziele. Vom wirtschaftlichen Wachstum ist nicht nur keine Rettung zu erwarten; es führt geradewegs in den Untergang. Einfacher Wohlstand, der mit einem Konzept vom „guten Leben“ einhergeht, wird von den Konvivialisten anvisiert. Dazu müssen die der Zocker-Mentalität der Spekulanten eigene, zerstörerische Maßlosigkeit und die Auswüchse der Finanzwirtschaft bekämpft werden. Die Autor(inn)en setzen sich nicht nur für ein Mindesteinkommen, sondern auch für ein Höchsteinkommen ein.

Alternative Formen von Ökonomie sieht Alain Caillé, einer der maßgeblichen Initiatoren des konvivialistischen Manifests, in der „Schenkökonomie“, wie der französische Soziologe/Ethnologe Marcel Mauss sie in seiner Schrift „Die Gabe“ unter anderem am Beispiel des indianischen Potlatsch und des melanesischen Kula beschreibt.

Sicherlich ließen sich einem modernen Mitteleuropäer oder Nordamerikaner archaische Vorstellungen von der Beseeltheit und dem Eigenwillen von Dingen, etwa Geschenken, oder die unter Drohung von Ehr- und Gesichtsverlust unbedingte Verpflichtung des Beschenkten zur Gegengabe schlecht vermitteln und taugen kaum als Modelle zur Rettung der Welt. Doch lesen sich manche Gedanken aus dem 1925 veröffentlichten Werk erstaunlich aktuell. „Und wir müssen ein Mittel finden, um die Einkünfte aus Spekulationen und Wucher einzuschränken. Nichtsdestoweniger muss das Individuum arbeiten. Es muss veranlasst werden, mehr auf sich selbst zu bauen als auf andere. Andererseits muss es sowohl seine Gruppeninteressen wie seine persönlichen Interessen verteidigen. Allzuviel Großzügigkeit und Kommunismus wäre ihm und der Gesellschaft ebenso abträglich wie Selbstsucht unserer Zeitgenossen und der Individualismus unserer Gesetze“, schreibt Marcel Mauss.

Aufwertung des Unentgeltlichen

Die Verfasser(innen) des Manifests weisen in diesem Zusammenhang auf zahlreiche bereits praktizierte unentgeltliche Aktivitäten hin – Fair Trade, Open-source-Projekte, Ehrenämter, Non-Profit-Organisationen, digitale Netze als Gemeineigentum oder das Konzept einer „Weltzivilgesellschaft“. Das sind keine neuen Erfindungen, doch scheint in einer durchökonomisierten Welt das Bedürfnis gestiegen, auf den unentgeltlichen Dienst am Mitmenschen besonders hinzuweisen.

Der homo oeconomicus, wie die Wirtschaft ihn sich vorstellt, kenne nur „äußerliche Motivationen“ – Streben nach Gewinn und hierarchischem Aufstieg. In diesem System, folgern die Autorinnen und Autoren, wird sich jegliche intrinsische Motivation – Arbeit, die ihren Wert in sich selbst hat, Freude an gutem Handwerk, Drang nach sinnvoller Betätigung, Handlungen aus Solidarität oder aus Pflichtgefühl – zurückentwickeln.

Was kann man machen? Ulrike Herrmann, Wirtschaftskorrespondentin der taz und Autorin des Buchs „Der Sieg des Kapitals“ (2013), sagte in einem im Gespräch in der Reihe „Essay und Diskurs“ im Deutschlandfunk am 19.04.2015: „Wenn man sehr massiv in dieses System [des Kapitalismus‘] eingreift, wäre der einzige Effekt, dass es wirklich einbricht. Und das wäre ein chaotischer Prozess, den man sich auch nicht friedlich vorstellen darf. Da wären Verluste zu verkraften, und an Sicherheit, dass die Leute alle panisch würden.“

Was der Ritus vermag

Die Gefahr sehen auch die Autor(inn)en des konvivialistischen Manifests. „Die schwierigste Aufgabe, die dazu erfüllt werden muss, besteht darin, ein Bündel politischer, wirtschaftlicher und sozialer Maßnahmen vorzuschlagen, die es der größtmöglichen Zahl von Menschen ermöglichen, zu ermessen, was sie bei einer neuen konvivialistischen Ausgangssituation (einem New Deal) nicht nur mittel- oder langfristig, sondern sofort zu gewinnen haben. Schon morgen.“ (S. 74)

In seinem 1962 erschienenen Werk „Das wilde Denken“ erläutert Claude Lévi-Strauss, dessen ethnologische Arbeiten Marcel Mauss viel verdanken, den Unterschied zwischen Spiel (mit Wettkampfcharakter) und Ritus. Das Spiel gehe von einer prästabilen Ordnung aus und schaffe in seinem Verlauf Ungleichheit. Der Ritus dagegen habe eine Ausgangslage der Asymmetrie – profan und sakral, Gläubige und Priester, Tote und Lebendige, Initiierte und Nicht-Initiierte – und möchte alle Beteiligten auf die Gewinnerseite bringen, so Lévi-Strauss. Er nennt das Beispiel einer Ethnie in Papua-Neuguinea, die das Fußballspielen gelernt hat, „die aber mehrere Tage hintereinander so viele Partien spielen, wie nötig sind, damit sich die von jedem Lager verlorenen und gewonnenen genau ausgleichen.“ Den Wettkampf funktionieren sie zu einem Ritus um. Die großen Wirtschaftskonzerne werden sich diese ehrenwerte Haltung sicher nicht zum Vorbild nehmen. Die Hoffnung lastet auf den Zivilgesellschaften.

Les Convivialistes: „Das konvivialistische Manifest. Für eine neue Kunst des Zusammenlebens“. Herausgegeben von Frank Adloff und Claus Leggewie in Zusammenarbeit mit dem Käte Hamburger Kolleg / Centre for Global Cooperation Research Duisburg, übersetzt aus dem Französischen von Eva Moldenhauer; [transcript] Verlag, Bielefeld, 2014; 09/2014, 78 Seiten, kart.; 7,99 Euro; kostenloser Download über http://www.transcript-verlag.de

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Diese Besprechung wurde in ähnlicher Form ebenfalls im Hotlistblog veröffentlicht: https://derhotlistblog.wordpress.com/2015/06/26/affirmatives-vom-firwitz-2/




„Das Nichts und die Liebe“: Ingo Munz‘ Versuch über den geglückten und den missratenen Tag

Zwei Männer und eine Frau, doch zum Glück keine Dreiecksbeziehung. Oder wenn, dann eine abstrakte. Denn alle drei verbindet ein Hang zum Philosophischen.

Die Versuchsanordnung: Ein trostloser Abend, dem ein katastrophal verlaufender nächster Tag folgt, wird parallel zum Modell seines scheinbaren Gegenteils erzählt, einem äußerst gelungenen Abend, einschließlich der Nacht und des folgenden Morgens. Hier der gedankenverlorene einsame Mann, dort das harmonisierende, äußerlich perfekte Liebespaar.

Quelle: www.ingomunz.com/presseinformationen/

Quelle: www.ingomunz.com/presseinformationen/

Der einsame und fast geldlose Grübler heißt Robert, und wir können ihn uns vielleicht ein bisschen wie eine Figur aus einem Roman oder einer Erzählung Robert Walsers vorstellen, oder, wenngleich er ein Mann mit Eigenschaften ist, uns an die Gedankenprosa von Robert Musil erinnert fühlen.

Über den Anlass seiner Reise in eine ihm fremde deutsche Großstadt erfahren wir gleich zu Beginn, dass es um das Wiedersehen mit einer Frau geht. Am Tag seiner Ankunft versetzt sie ihn, und so spaziert er allein durch die „windige“ Stadt, beobachtet Menschen in einer heruntergekommenen Kneipe („Hier, hier sterben die Leute“) und anschließend in einer stärker herausgestylten Café-Bar, die sich für ihn nur auf eine andere Art als traurig erweist.

Währenddessen (oder an einem anderen Abend?) gibt die gutaussehende Jung-Philosophin Rebekka in ihrem Appartement am alten Hafen von Marseille dem langjährigen Freund ihres Vaters ein mehr als zärtliches Stelldichein. Er hat alles zu bieten, was heutzutage von einem erfolgreichen Philosophen erwartet wird – Fernsehauftritte, körbeweise Fanpost und natürlich beste Chancen nicht nur bei der Tochter seines Freunds, die er schon als kleines Mädchen kannte.

„Das berühmte achtzehnte Kapitel“ (der in Essen lebende Autor nennt es so) spart nicht an deutlichen Beschreibungen von Körperstellen und -vorgängen, doch weit von Pornographie entfernt, wird vielmehr über den Einfluss von Pornographie auf zeitgemäße sexuelle Praktiken nachgedacht. Deren Ausübungen entbehren nicht der Mühsal, aber am Ende gelingt es dem schwächelnden Philosophen, mit Methode, Erfahrung und Rebekkas Mitarbeit die Nacht zu einem gelungenen Abschluss und in deutlich abgekühlte, jedoch die gute Form wahrende, Frühstücksdialoge zu retten.

Wer historisch und regional weitgefächert liest, den können Ingo Munz‘ gewählte Spracheigentümlichkeiten nicht abschrecken – wie die durchgängig starke Konjugation von „fragen“ (frug), die wiederholte Voranstellung richtungsanzeigender Präpositionen (nur ein Beispiel: „fast blickte der Philosoph weiterhin hindurch Rebekka auf die Badezimmertüre“) oder ein zuweilen an Hölderlin-Gedichte erinnernder Satzbau. Vielleicht wären zur Kennzeichnung der Grundstimmungen, die diesen Roman tragen, aber auch die Namen der anderen Autoren aussagekräftig, die Ingo Munz in seinem Erzählwerk nennt: Samuel Beckett, Rolf Dieter Brinkmann, Françoise Sagan, Georges Bataille.

Dass sich erst auf den letzten fünfzig Seiten Zusammenhänge schließen, weitere Personen ins Spiel kommen, vom Autor bis dahin zurückgehaltene Informationen mitgeteilt werden – wie (relativ belanglos) der Name der Stadt oder (wichtiger) Roberts Beziehung zum „Anlass seiner Reise“ – bedeutet nicht, alles Vorausgegangene sei lediglich ein langer Anlauf. Keineswegs. Seite für Seite bietet das Buch beeindruckende Beschreibungen, originelle Vergleiche, hübsche Formulierungen. Nicht zuletzt gibt Ingo Munz durch dezent eingesetzte Schlüsselwörter sein Informiertsein über aktuelle Debatten auf den Grenzgebieten von Philosophie, Soziologie, Kommunikationstheorie und Ideen zur Schonung unseres arg ausgebeuteten Planeten zu erkennen.

Warum Roberts Ausflug so völlig misslingt (nicht literarisch), kann nicht verraten werden, ohne einen der wenigen Momente von Handlungsspannung in diesem reflektierten Werk preiszugeben. Und schließlich darf nach dem Ende der Lektüre jede Leserin und jeder Leser für sich entscheiden, wessen Lebensweise gelungen und wessen missraten ist.

Bleibt nur noch zu sagen übrig, dass „Das Nichts und die Liebe“ – über die literarische Schönheit hinaus – ein ästhetisch erfreuendes, in der Gestaltung und mit Zeichnungen von Stefan Michaelsen handwerklich gut gemachtes Buch ist.

Ingo Munz: „Das Nichts und die Liebe. Ein gänzlich humorloses, dafür durchaus politisches Erzählwerk“. Mit 25 Zeichnungen von Stefan Michaelsen, 216 Seiten, Fadenheftung mit Umschlagprägung. Verlag Ingo Munz, Essen (ISBN: 978-3-944585-03-1). Preis: 24,90 Euro.




Wundersam fröhlich: Milan Kundera feiert „Das Fest der Bedeutungslosigkeit“

Es schien, als sei Milan Kundera literarisch verstummt, hatte doch der Autor, der 1975 seine tschechische Heimat verließ und seitdem in Paris lebt, viele Jahre keinen Roman mehr veröffentlicht. Doch jetzt, mit 85 Jahren, meldet er sich zurück. Mit einem Roman, der mit melancholischer Heiterkeit und humorvoller Eleganz ein ironisches „Fest der Bedeutungslosigkeit“ zelebriert.

Milan Kundera zählt zu jenen Autoren, die schon deshalb zeitlos allgegenwärtig sind, weil die Titel ihrer Romane – „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ – einen philosophischen Fantasieraum aufschließen und geradezu sprichwörtlich wurden. Und weil sie beim Schreiben immer auch über die Bedingungen und Absichten des Schreibens nachdenken.

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Und so ist es auch jetzt wieder, als schaue sich Kundera beim Formulieren zu und habe unendlichen Spaß daran, mit seiner Rolle als Erzähler zu jonglieren. So lässt er einen gewissen Ramon (eine literarische Figur, die seinem Erfinder sehr ähnlich ist) die von Kundera in seinen Werken schon mehrfach variierte existenzielle Philosophie der Negation auf den Punkt bringen: „Die Bedeutungslosigkeit“, sagt Ramon, „ist die Essenz der Existenz. Sie ist überall und immer bei uns. Sie ist sogar dort gegenwärtig, wo niemand sie sehen will: in den Greueln, in den blutigen Kämpfen, im schlimmsten Unglück.“

Die List der Dialektik weiß natürlich, dass – wenn nichts wirklich von Bedeutung ist – auch der Roman, an dem Kundera mit Hilfe von Ramon gerade feilt, nichts bedeutet, nur ein Zeitvertreib ist, ein Spiel, eine Illusion. Dies zu verstehen, macht aber auch frei und fröhlich. Und so wird ihm die Bedeutungslosigkeit zugleich auch zum „Schlüssel zur Weisheit“ und zum „Schlüssel zur guten Laune.“

Ja, Kundera ist wahrhaftig gut gelaunt, lässt Hegel und Stalin, Schopenhauer und Chruschtschow aufmarschieren, um sie zu karikieren und zu unfreiwilligen Zeugen der Bedeutungslosigkeit zu machen. Ob Krieg und Katastrophen, Literatur und Kunst, alles nur trostloser Tand.

Um noch einen letzten Erzähl-Walzer zu tanzen, lässt Kundera einige Herren durch Paris flanieren: Alain beobachtet junge Frauen und sinniert über die Erotik des Bauchnabels. Ramon würde sich gern eine Chagall-Ausstellung anschauen, kapituliert aber vor der langen Museumsschlange. Charles reißt politische Witze und organisiert Cocktailpartys, auf denen Caliban, ein Schauspieler ohne Engagement, als Aushilfskellner jobbt. Schließlich D´Ardelo, der sich eine erfundene Krebserkrankung zulegt und sich über seine eigenen Lügen amüsiert.

Ach ja, ein paar Frauen huschen auch noch kurz durchs Bilder-Gestöber: Eine junge Portugiesin, die, weil sie kein Französisch beherrscht, nur nonverbal kommuniziert. Oder eine schwangere Frau, die beim Versuch, sich zu ertränken, ihren vermeintlichen Lebensretter tötet und nun mit der Schuld weiterleben muss, aber ihrem verpfuschten Leben eine ganz neue Bedeutung geben kann.

Kundera umkreist seine Figuren, begegnet ihnen kurz und entlässt sie dann wieder in das Straßenlabyrinth von Paris, in die Freiheit und zum Fest der Bedeutungslosigkeit.

Milan Kundera: „Das Fest der Bedeutungslosigkeit“. Roman. Aus dem Französischen von Uli Aumüller. Hanser Verlag, München. 140 Seiten, 16,90 Euro.




Leben im Wildwuchs der Lektüren: Ulrich Raulff blickt in die 1970er Jahre zurück

Leicht kommen einem die eigenen Jugendjahre mitsamt den Zwanzigern wie die allerbesten Abschnitte der Geschichte vor. Das waren noch Zeiten. Da fühlte man sich noch (gelegentlich) kraftvoll und schier unverwundbar. Und wie man von Tag zu Tag immer klüger wurde, wie man allen die Stirn bieten wollte…

In solchem Sinne, wenn auch mit nachträglicher Skepsis ausbalanciert, hat Ulrich Raulff jetzt Bruchstücke seiner intellektuellen Autobiographie vorgelegt. Ein weiteres Beispiel fürs Genre „Wenn Großvater erzählt“?

Der 1950 in Meinerzhagen geborene Raulff hat seine historischen und philosophischen Studien vornehmlich in Marburg, Frankfurt und Paris betrieben, sich aber auch in Berlin, England, Italien und den USA umgetan. Man darf da wohl einen gutbürgerlichen Familienhintergrund mit entsprechendem Selbstbewusstsein vermuten.

Raulff

Jedenfalls hat Raulff etwas aus sich gemacht: Er war zeitweise Feuilletonchef der FAZ sowie leitender Redakteur der „Süddeutschen Zeitung“ und ist schließlich 2004 Direktor des Deutschen Literaturarchivs in Marbach geworden. Alles vom Feinsten.

In dem Buch „Wiedersehen mit den Siebzigern“ erzählt er nun vornehmlich von seinen studentischen Lehr- und Wanderjahren. Der „Nach-68er“ Raulff, der somit an der vermeintlich großen Rebellion nicht beteiligt war, schildert die frühen 70er Jahre als Zeit des überaus heiligen Ernstes aus dem allmählich versiegenden Geiste marxistischer Strömungen und Grüppchen. Welch eine Rechthaberei herrschte da! Wie war man im Gehege des Zeitgeistes gefangen! In so mancher festgefahrenen Debatte ward den Sensibleren unbehaglich zumute. Hier drohte der Absturz ins Kleinbürgerliche, dort das Elend der Polit- und Psychosekten.

Ulrich Raulff beschreibt die vielen, vielen langen Tage, die er in den schönsten und ergiebigsten Bibliotheken verbracht hat. Er selbst baute an der Uni regelmäßig einen Büchertisch auf. Auch die erotische Neigung zu zartsinnigen Mädchen scheint sich allemal durch gehabte oder ersehnte Lektüren angebahnt zu haben. Büchereien, so lernen wir abermals, sind nicht zuletzt Stätten eines im weitesten Sinne erotischen Begehrens. Das Leben und das Lesen waren also nahezu eins.

Als große Befreiung hat der junge Mann es erlebt, im Paris der mittleren und späten 70er Jahre in ein ganz anderes intellektuelles Klima einzutauchen als vormals in Marburg, wo etwa Wolfgang Abendroth das Sagen hatte. In Frankreich waren es die großen Zeiten von Roland Barthes und Michel Foucault. Glückhafter Umstand für die weiteren Jahre: Von Foucault hielt Raulff alsbald ein Empfehlungsschreiben in den Händen, das seinerzeit in Paris und eigentlich weltweit alle Türen der Geisteswelt öffnete. Er und ein Freund hatten sich einfach getraut, den großen Meister anzusprechen…

Der Strukturalismus und seine Vernunftkritik, die etwas später als Import in Deutschland anlangten, erwiesen sich für Raulff als Vademecum gegen den bis dato stramm links dominierten Diskurs. Ideologische Spurwechsel wurden damals vielfach vollzogen. Vom „Auszug aus der Suhrkamp-Kultur“ ist bei Raulff die frohe Rede. Als weiterer Zweig des Bedenkenswerten kam u. a. Aby Warburgs und Erwin Panofskys Ikonologie (Lehre von den Bildern) hinzu, deren Impulse im deutschen Sprachraum von Denkern wie Klaus Theweleit und Ausstellungsmachern wie Harald Szeemann aufgenommen wurden.

Noch heute zeigt sich Raulff so beseelt von jener Zeit, dass er sich vielfach in Einzelheiten verliert. Der Punk kam damals auf und Raulff war Mitbegründer einer eher randständigen Zeitschrift namens „Tumult“. Man vernimmt hie und da Gestus und Duktus eines weltläufigen „Ich war dabei“, doch behält all das einen gewissen Charme und gerät nirgendwo zum Auftrumpfen. Gegen die Gefahren eines Bildungsphilistertums ist Raulff offenbar gefeit.

Auch kann man wahrlich die Wehmut nachvollziehen, mit der Raulff die schweifenden, wildwüchsigen Lektüren beschwört, deren Früchte sich in Zettel- und Karteikästen statt in Computer-Dateien ergossen haben. Jeder Lesende war sozusagen seine eigene Suchmaschine.

Wer damals (wenngleich begrenzter und glanzloser) ebenfalls studiert hat, kann zudem einigen geistigen Signaturen jener Jahre nachspüren, die einen selbst – so oder so – berührt haben. Auch in diesem Sinne sind Raulffs Erinnerungen ein aufschlussreiches Dokument der „Jahre, die ihr kennt“.

Ulrich Raulff: „Wiedersehen mit den Siebzigern. Die wilden Jahre des Lesens“. Klett-Cotta. 170 Seiten. 17,95 Euro.




„Jeder soll leben, für immer“ – „Das Buch gegen den Tod“ aus dem Nachlass von Elias Canetti

Es ist kein erzählendes Werk, auch keine Lyrik, kein Tagebuch und keine philosophische Abhandlung. Was aber ist Elias Canettis „Buch gegen den Tod“?

Schwer zu sagen. Man liest zahllose einzelne Sätze und Absätze, oft in Paradoxien zugespitzt, vielfach in aphoristisch vollendeter Form. Bruchstücke einer großen Konfession. Eine imponierende, sprachlich und gedanklich funkelnde Materialsammlung – wider den Tod. Ein „unmögliches“ Unterfangen also? Doch genau solche verzagten, schicksalsergebenen Gedanken hätte Canetti nicht gelten lassen. Obwohl auch er gelegentlich solche Anwandlungen hatte. So bezichtigt er seine eigenen Mühen einmal mit diesen Worten: „…nichts als ein Prahlen und von Anfang zu Ende so hilflos wie jeder andere.“

Zeitlebens hat Elias Canetti („Die Blendung“, „Masse und Macht“) Sätze und Gedanken aufgehoben, die sich dem Tod widersetzen, die ihn weder bejahen noch hinnehmen. Das stetig anwachsende Werk ist fragmentarisch geblieben. Canetti selbst hat vorgeschlagen, dass andere daraus ein Buch machen sollten. Ohne sein weiteres Zutun.

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Nun liegt ein solcher Versuch vor. Für den Hanser-Verlag haben Sven Hanuschek, Peter von Matt und Kristian Wachinger sich der Aufgabe gestellt, Canettis Aufzeichnungen über den Tod in einen Zusammenhang zu bringen. Sie haben sich vor allem an eine zeitliche Abfolge gehalten, was Canetti zu Lebzeiten selbst erwogen hat: „Vielleicht würde es genügen, alle noch unpublizierten Aufzeichnungen über den Tod in chronologischer Folge aneinanderzureihen.“ Einen systematischen Plan fürs große Ganze hatte der vom Thema Besessene offenbar nicht. Er stürzte sich immer wieder hinein und schreckte doch davor zurück.

Zwar ist manches schon andernorts erschienen, doch rund zwei Drittel der Texte liegen erstmals gedruckt vor – und das trotz strenger Auswahl aus dem Nachlass. Die wesentlichen Aufzeichnungen reichen von 1942 bis in Canettis Todesjahr 1994.

Die Anfänge liegen also mitten im Zweiten Weltkrieg, woraus sich schon ein Antrieb herleiten lässt: der Protest, der Aufschrei gegen das allgegenwärtige Töten und Sterben. Schon das Zählen der Toten im Kriege raubt Canetti zufolge dem Einzelnen alle Würde. Hinzu kommen traurige Anlässe wie der frühe Tod des Vaters und später der Mutter, die Canetti niemals verwinden kann. Dies drängt ihn gleichfalls zum Schreiben.

„Der Gedanke an einen einzigen Menschen, den man verloren hat, kann einem Liebe zu allen anderen geben.“ Und also soll niemand sterben. Notiz von 1993: „Nicht einer, nicht ein einziger darf verlorengehen, jeder soll leben, für immer.“ Ein ungeheuerlicher Anspruch.

Canetti postuliert „ein allmächtiges Gefühl von der Heiligkeit jedes, aber auch wirklich jedes Lebens“. Seine Schlussfolgerung: „Ich anerkenne k e i n e n Tod.“ Oder auch: „Der Tod soll – ohne billigen Betrug – sein Ansehen verlieren. Der Tod ist falsch. Es ist unser Sinn, ihn falsch zu finden.“ Und so fort, in Hunderten von Formulierungen, die den Tod umkreisen und geradezu belauern; mal zornig und mal fintenreich.

Natürlich weiß ein scharfsinniger, freilich oft genug ins Surreale ausgreifender Denker wie Canetti, dass man es sich mit der Ablehnung des Todes nicht leicht machen darf – im Gegenteil. Dem Tod zu widersagen, bleibt seine lebenslange, sozusagen heroische Aufgabe. Also sucht er den Tod von allen Seiten her zu stellen und zu fassen, wie in einem unaufhörlichen Kampfgetümmel.

Dabei verwirft er harsch die Haltung anderer Schriftsteller. T. S. Eliot, der tote Dichter abqualifiziert, wird ebenso gescholten wie Hemingway mit seinem Kult des Tötens. Auch Thomas Bernhard, den Canetti zunächst als seinen Schüler schätzt, gebe – ähnlich wie Samuel Beckett – dem Tod nach.

Lodernd gegenwärtig muten die Äußerungen zum israelisch-arabischen Sechstagekrieg im Juni 1967 an. Canetti, der Mann jüdischer Herkunft, fühlt sich nach eigenem Bekunden vom Bild toter ägyptischer Soldaten so sehr verfolgt wie von Auschwitz: „Ich kann zwischen Toten keine Unterschiede machen.“ 1991 wird er dann vehement ein entschiedenes Einschreiten gegen Saddam Husseins Größenwahn fordern.

Rastlos sucht Canetti nach Mitteln der Gegenwehr (als wolle er eine neue Religion über alle Religionen hinaus stiften): ob nun in der Bibel (anfängliche Unsterblichkeit Adams, bis er vom Apfel aß), in den Mythen der Aborigines oder in Lehren von der Wiedergeburt, selbst in der am Horizont aufscheinenden technischen Möglichkeit, sich für kommende Zeiten einfrieren und eines Tages auftauen zu lassen. Auch Zeugungskräfte werden vom virilen Canetti, der noch mit 66 Jahren Vater einer Tochter geworden ist, als hoffnungsvolles Zeichen der Wiedergeburt aufgerufen.

Elias Canetti hat das Arsenal wider den Tod reichhaltig angefüllt, die Formulierungen liegen bereit. Was künftige Menschen daraus machen werden, können wir nicht wissen.

Und wer weiß, was uns von Canetti selbst noch erwartet. Er hat verfügt, dass seine Tagebücher und Briefe bis ins Jahr 2024 nicht publiziert werden dürfen. Ob sein Oeuvre danach noch einmal eine andere Dimension bekommt?

Elias Canetti: „Das Buch gegen den Tod“ (aus dem Nachlaß herausgegeben von Sven Hanuschek, Peter von Matt und Kristian Wachinger unter Mitarbeit von Laura Schütz). Mit einem Nachwort von Peter von Matt. Carl Hanser Verlag, München. 352 Seiten. 24,90 Euro.




Neuerscheinungen zur Leipziger Buchmesse: Scheitern ist wieder „in“

buch2014_4654_kleinerSpätestens die diesjährige Leipziger Buchmesse machte deutlich: Scheitern ist wieder ganz groß im Kommen. Seit mindestens dreißig Jahren wartet eine älter werdende Generation auf die Wiederherstellung des guten Rufs der Erfolglosigkeit, und nun, da sich der Wunsch endlich erfüllt, schwingen sich Jüngere zu den Propheten und Protagonisten des neuen Scheiterns auf.

Katrin Bauerfeind scheitert vergnüglich, wobei sie das tägliche kleine Scheitern der großen Katastrophe vorzieht. Beim neuen Flughafen Berlin Brandenburg habe man schließlich auch nicht die Rollbahn vergessen, sondern es seien 70.000 Einzelmängel, die sich zum großen Fiasko summierten.

Ariadne von Schirach gebietet im Titel ihres neuesten Buchs den zahlreichen Leserinnen und Lesern gar: „Du sollst nicht funktionieren“. Gut. Wenn sie das sagt, tun wir das in Zukunft nicht mehr und raffen all unseren Mut zusammen, um unvollkommen zu bleiben. In Deutschland scheitern wir gern auf Befehl. Zumindest fühlen wir uns wohler, wenn wir uns auf jemanden berufen können, der immerhin auf einem für philosophische Fragen reservierten Forum zum Scheitern aufruft.

Der Schweizer Lukas Bärfuss beschreibt in seinem Roman „Koala“ den nach diesem auf australischen Eukalyptusbäumen faul abhängenden Tier benannten Halbbruder des Protagonisten, der jede Arbeitsaufnahme verweigert und sich schließlich tötet. Hans-Ulrich Treichel schildert nicht ohne Selbstironie in „Frühe Störung“ eine Lebensvariante aus dem Akademikerprekariat, gepaart mit dem Versagen angesichts der Anforderungen einer sterbenden Mutter. Und der in Berlin lebende Peter Wawerzinek erzählt in „Schluckspecht“ sehr erfolgreich eine Alkoholikerbiographie (wobei zumindest die beiden letztgenannten Autoren nicht mehr zur jüngeren Generation gezählt werden dürfen).

Wollte man jedoch eine einigermaßen repräsentative Auskunft darüber wagen, in wie vielen der zigtausend Neuerscheinungen dieses Frühjahrs lustvoll und virtuos oder auch ungewollt gescheitert wird, an einer solchen Erhebung müsste man notwendigerweise scheitern.

• Katrin Bauerfeind: Mir fehlt ein Tag zwischen Sonntag und Montag. Geschichten vom schönen Scheitern. Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main 2014, ISBN 978-3-596-19891-7.

• Ariadne von Schirach: Du sollst nicht funktionieren. Für eine neue Lebenskunst. Tropen Verlag. Berlin 2014, ISBN 978-3608503135

• Lukas Bärfuss: Koala. Roman. Wallstein, Göttingen 2014, ISBN 978-3-8353-0653-0

• Hans-Ulrich Treichel: Frühe Störung. Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2014, ISBN 978-3518424223

• Peter Wawerzinek: Schluckspecht. Roman. Galiani Berlin, 2014, 978-3869710846




Sind Schulden wirklich lobenswert? – Ein Buch wirft Fragen auf

Lob der Schulden, Sarthou-Lajus Mit einem „Lob der Schulden“ feiert der Berliner Wagenbach Verlag die zweihundertste Publikation seiner Buchreihe Salto.

Ein Salto stellt den Gleichgewichtssinn auf den Kopf und genau das illustriert wohl die Absicht dieser unkonventionellen Reihe: bestehende Annahmen, anerkannte Grundregeln so auf den Kopf zu stellen wie das A im Logo der Salto-Reihe. Mit dem Essay „Lob der Schulden“ der französischen Journalistin und Philosophin Nathalie Sarthou-Lajus ist das bestens gelungen. Wer mag schon Schulden (außer bedienten Gläubigern), wer mag ihnen ein hohes Loblied singen?

Schuldlos schuldig sind wir alle! Denn Schulden sind die Grundbedingung menschlicher Existenz, unser aller Erbe und Vermächtnis, weil wir von Geburt an voneinander abhängen und das nicht allein in finanzieller Hinsicht.“ So schreibt es Sarthou-Lajus und schlussfolgert, dass die immer noch gegenwärtige Finanzkrise genau deshalb so erschütternd sei, weil sie eben durch die Demonstration der Abhängigkeit aller von allen durch Schulden das neoliberale Ideal der vollkommenen Freiheit und Unabhängigkeit grundlegend in Frage stellt.

So weit, so gut. Bis hierher kann man ihren Ausführungen gut folgen. Wer hat nicht ein ungutes Gefühl bei den unzählbaren Vorkommastellen der Schuldenuhren?

Stand Dezember 2013

Stand Dezember 2013

Laden wir nicht alle alleine durch Nichtstun Schuld auf uns? Ganz groß sind wir alle auch in der Disziplin der Schuldzuweisungen. Einst ehrbare Berufe tragen eine Art Erbschuld mit sich rum, Politiker, Journalisten, Banker, Fernsehmoderatoren seien nur als Beispiel genannt. Immer mehr Angehörige dieser Berufskasten haben das Gefühl, auf ihrer Stirn prange ein Zettel, beschriftet mit der Anklage „Generalschuld“. Nur Hersteller von Tretminen stehen in noch schlechterem Ansehen.

Ich schweife ab. Meine Schuld. Stattgegeben.

Natalie Sarthou-Lajus jedenfalls bemüht im weiteren Verlauf ihres Essays Beispiele aus der Literaturgeschichte, um die Allgegenwart der Schulden zu veranschaulichen. Mit Shakespeare, Spinoza, Molière zieht sie den Schluß, dass schon alleine dadurch, dass das menschliche Dasein aus Geben und Nehmen besteht, wir alle uns immer etwas schuldig bleiben. Aus Schulden müsse aber nicht zwangsläufig ein Schuldgefühl entstehen, zumal sich niemand davon befreien kann. Man könne die Schulden auch einfach mal annehmen und sie loben.

Sie schreibt: „Wenn es gelingt, die unbezahlbare und damit existenzielle Verschuldung gelassen anzunehmen, wird zugleich tröstlich die überindividuelle Kontinuität erkennbar. Denn in der unauflöslichen Erbschuld allein liegt die Möglichkeit einer Zukunft.“ Den Beweis dafür bleibt allerdings wiederum die Autorin ihren Lesern schuldig. Denn gerade weil so viele schuldlos schuldig werden, ist die Annahme, dass irgendwer einen heiteren Grad der gelassenen Schuldanerkennung erreicht, auch schon auf philosophischer Ebene mehr als utopisch.

Übertragen wir diese Hypthese wieder zurück auf die bemühte Finanzkrise, wird sie auch gefährlich. Denn was würde eine achselzuckend hingenommene Unauflöslichkeit bedeuten? Mag ja sein, dass es den ein oder anderen Finanzmarkt vorläufig rettet, wenn wir die Schulden zahlungsunfähiger Schuldner einfach entfristen und sie in unauflösliche verwandeln. Aber was macht das mit den Menschen, die direkt oder indirekt von diesen Märkten abhängen? Und mit der Staatsform, in der wir leben und wohl auch leben möchten. Was macht das mit einer Demokratie?

Blicken wir auf ein Beispiel der jüngsten Zeit. In Griechenland hat man es mit staatlichen Anleihen so gemacht. Schuldanerkenntnis. Schuld entfristet. Rückzahlung ungewiss. Aber immerhin noch im fragmentarischen Bereich des Möglichen. Fragt man die Finanzminister der EU, hat dieses Instrument prima gegriffen und der Kunstgriff ist geglückt. Fragt man eine griechische Oma, die staatstreu ihre lang erstrickten Ersparnisse für die Rente in eben solche staatlichen Anleihen gesteckt hat, dann kann man sehr gut verstehen, warum diese sich die Monarchie und ihrethalben auch die Diktatur zurückwünscht. Theoretisch hört sich das alles wunderhübsch an, praktisch eher menschenverachtend, begibt man sich mal vom philosophischen Ross herunter in die Niederungen normalen Alltagslebens.

Zum guten Schluß fehlt ein wichtiger Aspekt, der den nicht philosophierenden Leser davor zurückschrecken lässt, in das hohe Loblied der Schulden einzustimmen. Der einfache Algorithmus: Schulden sind ohne Zinsen nicht zu haben. So wahr, so simpel. Sie sind der Preis, den man für Schulden zahlen muss, ob im mathematischen oder philosophischen Bereich. Schulden gibt es nicht umsonst. Nie und nirgends.

Nathalie Sarthou-Lajus: „Lob der Schulden“. Wagenbach-Verlag, 86 Seiten, € 13,90




Familienfreuden XI: Die Lauschabschaltautomatik

Ich freue mich schon wahnsinnig auf die Zeit, sobald Fiona sprechen kann. Wenn sie ein bisschen nach mir kommt, sollte es da mit der Quantität keine Probleme geben.

Ob sie wohl auch Wörter erfinden wird? Bei mir heißen bequeme Pantoffeln zum Beispiel Kuschelpuscheln und wenn ich nicht gut drauf bin, aber nicht weiß warum, bin ich unduchtig.

Vielleicht wird es in Fi’s Leben auch kuriose Szenen geben wie jene, die ich zwischen einem Jungen und einem Mädchen hörte, beide sahen aus wie 12: „Damit Du auf dem aktuellen Stand bist“, sagte er und sie nickte eifrig: „Ich und Luise waren so zwei, drei Jahre zusammen.“ Damit war auch ich auf dem aktuellen Stand und außerdem sehr erstaunt.

Kinder - die Meister der Worterfindungen! (Zeichnung: Albach)

Kinder – die Meister der Worterfindungen! (Zeichnung: Albach)

Einfach und wahr

Am schönsten aber finde ich es, wenn Kinder sehr einfache Sachen sagen, die aber so wahr sind, dass sie schon wieder eine philosophische Dimension haben.

Ich saß mit Fiona in der U-Bahn, uns gegenüber eine Oma mit ihrer Enkelin.

„Oma“, sagte das Mädchen, „ich kann nichts mehr hören. Weißt Du warum?‘

„Nein, warum denn?“

„Weil meine Ohren sagen: wir haben heute genug gehört.“

Ist das nicht eine großartige Vorstellung? Das Hören einfach abzuschalten, wenn man genug hat für den Tag?

Ein sanftes „Bssss“

Eine Freundin erzählte zum Beispiel, sie habe im Zug eine Dreiviertelstunde mit anhören müssen, wie sich drei Mitreisende über Katzenhaare unterhielten. Wo die so hinfielen, wie man sie wegkriegte… Da wäre eine Art Mini-Rollo doch schön, das man dezent per Kippschalter (hinter dem Ohr versteckt) über dem Gehörgang herunter ließe. Ein leises „bsss“ – und dann Ruhe!

Es gäbe so viele Situationen, in denen das höchst praktisch wäre: Gespräche über Gebrechen, die detaillierte Beschreibung des Krimis, den man noch sehen wollte, das Fußballergebnis des Spiels, das man extra aufgenommen hat, der 1000. Ratschlag zum Thema Kindererziehung, unangenehme Herbeizitiersituationen auf der Arbeit… Man könnte der Liebsten zuliebe sogar auf ein, sagen wir mal, DJ Bobo-Konzert mitgehen… Einfach „bss“… und alles ist gut!

Automatik-Schutz

Sicher ließe sich auch ein maximales Wortkontingent einführen, nach dessen Erreichen die Rollade automatisch runter geht. Für manche Beziehung könnte das aber schwierig werden. Es sei denn, man unterhielte sich nur noch mit ganz langen Worten – womit wir wieder bei den Wortschöpfungen wären.

Ach Fiona, was wirst Du mir erzählen? Ich weiß jedenfalls schon jetzt, dass deine Rollade bei einem Satz eine Runterlassautomatik haben wird: „Räum doch mal dein Zimmer auf!“