Heillose Heilanstalt: Heinz Strunks Roman „Zauberberg 2″

Welch ein tollkühnes Unterfangen, schon mit dem Romantitel und sodann mit der Handlung in einen Vergleich mit Thomas Mann einzutreten! Mit „Zauberberg 2″ nimmt Heinz Strunk wie selbstverständlich Bezug auf Manns großen, just vor 100 Jahren erschienenen Roman „Der Zauberberg“, der bekanntlich hauptsächlich in einem Sanatorium zu Davos spielte und wortmächtig aus einem gewaltigen Gedanken- und Bildervorrat schöpfte.

Strunks Protagonist namens  Jonas Heidbrink macht sich hingegen mit dem eigenen Fahrzeug in den abgelegenen und untervölkerten deutschen Nordosten auf. Der Aufenthalt in der Heilanstalt, in die er sich begibt, kostet pro Nacht exorbitante 823 Euro. Selbstzahler sind gern gesehen. Heidbrink, der sich ein Start-up mit Hightech-Idee hat abkaufen lassen, verfügt fraglos über das Geld, ist aber seelisch ein armer Tropf, schon längst zu Tode betrübt. So drastisch erinnert er sich bei Strunk an seine Jugendjahre: „Bei jeder Gelegenheit hatte Heidbrink seine Verzweiflung wegzuonanieren versucht – seine Wichsdichte war wirklich schwindelerregend hoch gewesen. Not in Wichse verwandeln.“ Das ist fürwahr ein anderer Sound als bei Thomas Mann, der in seinen Tagebüchern höchstens verdruckst eine „Niederlage“ eingestand, wenn es ihn über-mannt hatte.

„Böser Blick“ und Lachnummern

Heinz Strunk erweist sich erneut als Meister der wirksamen, zuweilen fuchsfrechen Zuspitzung, der seine Figuren mit „bösem Blick“ betrachtet und zu Karikaturen ihrer selbst gerinnen lässt. Ärzte, Psychiater, Psychologen und sonstige Therapie-Fachkräfte geraten so reihenweise zu Lachnummern, diverse Maßnahmen (Musiktherapie, Kunsttherapie, Fototherapie, Biblio-Therapie, Tanz und Bewegung et cetera pp.) erscheinen als ebenso sterbenslangweilige wie groteske Zusammenkünfte, unterfüttert mit schwer erträglichem Psycho-Kauderwelsch. Die „Kulturabende“ des nur äußerlich noblen, schlossartigen Hauses sind unterdessen gottserbärmlicher Schmock. Nicht nur bestens vorstellbar, sondern höchst wahrscheinlich, dass derlei Befunde in vielen Punkten der traurigen Wirklichkeit entsprechen.

Zu allem Überfluss teilt man Heidbrink auch noch – gleich nach der Aufnahme – Verdachtsmomente für ein Melanom (Hautkrebs) und einen Nierentumor mit. Eine Folge: Ständig werden uns fortan seine „Vitaldaten“ (Laborwerte) mitgeteilt. Wie sehr wir um ihn bangen, sei dahingestellt. Nicht, dass auch wir in der Lektüre noch dem bösen Blick verfallen sind… Oder verbirgt sich hinter all der Spottlust doch heimliche, sozusagen verschämte Empathie?

Quälende Schweiger und Schwätzer

Lauter desolate Existenzen fristen in der Klinik ihr Leben – bei langsamst dahinkriechender Zeit; Tag um Tag, Monat für Monat, ohne wesentliche Veränderungen. Wir begegnen gleichermaßen quälenden Schweigern und Schwätzern am abendlichen Esstisch. Da ist etwa ein heilloser, reichlich prolliger Säufer namens Klaus oder jener Pseudo-Philosoph Zeissner, der so manche Suada absondert. Dazu die zerbrechliche, durchaus vorgestrige Fabrikerbin Margot oder eine seltsam unzertrennliche Zweiheit: Eddy und Pia, denen gleichfalls auf Erden nicht zu helfen ist. Wer daran Vergnügen findet, mag die Bezüge zu Thomas Manns Figureninventar herstellen. Demnächst werden sich Doktorierende damit befassen.

Diese Beschreibung der Klinik mutet schließlich an wie die generelle Bestandsaufnahme einer miserablen Welt: „Übrig bleibt ein Haufen Irrer und Bedürftiger, Verbrauchter und Versehrter, Belämmerter und Benommener, Hinkender und Humpelnder.“

Welch ein Jahrhundert-Abstand zu Thomas Mann!

Heinz Strunk gelingen rasante und prägnante Charakterisierungen zwischen Gelächter und Depression. Unterhaltsamkeit kann man diesem Schriftsteller (einst Musiker und Comedian) gewiss nicht absprechen, sein Roman liest sich weg wie sonst was. Aber sind es nicht manchmal doch etwas herabgedimmte Thomas-Mann-Anklänge, die er uns auftischt? Andererseits: Soll er denn den ichzentrierten Großbürger Thomas Mann nachahmen oder paraphrasieren? Das geht ja nun auch nicht. Auf sprachlichen Höhen (und in Untiefen) bewegt sich Strunk mitunter gleichfalls, wenn auch nicht in Sphären des Altvorderen.

Der vierte und letzte Teil des Romans handelt vom Verfall der Klinik, deren Schließung so unvermeidlich ist wie das finale Schicksal von Jonas Heidkamp. Ins Kapitel „Kirgisenträume“ fließen etliche Originalzitate aus Thomas Manns „Zauberberg“-Roman ein, die man sogleich am hohen Ton erkennt und die im Anhang penibel aufgeführt werden. Welch ein Abstand zu jenen Zeiten und jener Sprache! Wahrlich ein ganzes Jahrhundert, in dem sich die Gattung jedoch gar nicht so sehr verändert hat.

Heinz Strunk: „Zauberberg 2″. Roman. Rowohlt Verlag. 288 Seiten, 25 Euro.

 

 




Freiheit, Albtraum und Erschöpfung – Theresia Enzensbergers Gedanken übers Schlafen

Hanser Berlin bringt derzeit und bis zum Frühjahr 2026 sukzessive 10 Bände über die wichtigsten Dinge des menschlichen Daseins heraus (Liste am Schluss dieses Beitrags). Theresia Enzensberger, 1986 geborene Tochter von Hans Magnus Enzensberger, Romanautorin („Blaupause“, 2017 – „Auf See“, 2022), außerdem Mitarbeiterin etlicher Premium-Medien, ist dabei schreibend fürs Schlafen zuständig.

Ein Hauptstrang ihres Essays handelt vom Schlaf unter kapitalistischen Bedingungen. In dieser Hinsicht diene er lediglich dazu, die Arbeitskraft wiederherzustellen. Dabei könnte er doch – mitsamt den Träumen – ein unkontrollierbares, unverfügbares Reich der Freiheit sein. Prinzipiell stehe der Schlaf außerhalb der sonst so universellen kapitalistischen Verwertbarkeit. Theresia Enzensberger ergreift die Gelegenheit, in solchen Zusammenhängen wieder einmal Karl Marx zu zitieren – ehedem flächendeckend üblich, heute eher selten.

Die Autorin geht nicht strikt systematisch vor, sondern zuweilen eher kursorisch und assoziativ, wobei sie auch die eigene Schlafbiographie einbezieht, die phasenweise von anhaltenden Schlafstörungen gekennzeichnet war; ein offenbar immer weiter verbreitetes Leiden, das besonders Frauen, Ältere und Arme plagt. Alltäglich und millionenfach. Am anderen Ende des Spektrums gibt es eine extreme Schlaflosigkeits-Krankheit, die zu 100 Prozent tödlich verläuft: die „Fatal Familial Insomnia“. Wie man annimmt, sind sind davon gottlob weltweit nur 40 Familien betroffen.

Als Kronzeugin der Insomnie fungiert auch Marie Darrieussecq mit ihrem Buch „Sleepless“. Im weiteren Kontext ist die zürnende Rede vom neoliberalen Sozialdarwinismus, der mitleidlos mit den Schwachen und Kranken umgehe – auch und gerade nach der Corona-Krise. Kleine Nebenbemerkung: Hat nicht jüngst ein „liberaler“ Politiker „Lust auf Überstunden“ eingefordert – ohne Rücksicht auf mancherlei Erschöpfungs-Zustände?

Zurück zum Buch: Ein Exkurs erkundet das zugehörige, auch politisch und religiös konnotierte Wortfeld des Aufwachens und der Wachheit zwischen „woke“ und „Schlafschaf“, „Erweckung“ und „Auferstehung“. Ferner geht es um die düsteren Seiten der Schlafwelt mit schauderhaften Nachtmahren, die das albtraumhafte Genre der Gothic Novel geprägt haben. Teilweise erschreckend weite innere Landschaften tun sich da auf, die auf 112 Seiten freilich nur gestreift werden können.

Der schmale Band enthält gleichwohl einige spannende Mitteilungen, denen man gern weiter nachgehen möchte. So stellt Enzensberger fest, dass es in der Literatur viele „Meister der Erschöpfung“ gegeben habe, die unter erheblichem Schlafmangel gelitten hätten. Womöglich befördert ja das Wachbleiben ungeahnte Phantasien. Im Gedächtnis bleiben auch Mitteilungen über die hohe Todesrate beim Erwachen aus dem tierischen Winterschlaf, den man sich keinesfalls als gemütliche Auszeit vorstellen darf. Im Gegenteil: Danach fehle vielen Wesen schlichtweg die Energie, weiterzumachen wie zuvor.

Theresia Enzensberger: „Schlafen“. Hanser Berlin, 112 Seiten. 20 Euro.

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Weitere vorliegende und geplante Bände der zehnteiligen Reihe „Das Leben lesen“, die fast ausschließlich von Frauen verfasst wird:

Elke Heidenreich „Altern“ (bereits erschienen)
Svenja Flasspöhler „Streiten“ (23.9.2024)
Emilia Rosig „Lieben“ (23.9.2024)
Doris Dörrie „Wohnen“ (Frühjahr 2025)
Heike Geißler „Arbeiten“ (Frühjahr 2025)
Daniel Schreiber „Essen“ (Herbst 2025)
Karen Köhler „Spielen“ (Herbst 2025)
Felicitas Hoppe „Reisen“ (Frühjahr 2026)
Daniela Dröscher „Sprechen“ (Frühjahr 2026)

 

 




Ausstellung in der Dortmunder DASA knöpft sich „Konflikte“ vor

Diese Ausstellung beginnt buchstäblich bei Adam und Eva – präsent durch eine Gemälde-Reproduktion. Am biblischen Anbeginn der Menschheit erleben sie, wie unversehens Sünden und damit Konflikte in die Welt geraten. Mit Kain und Abel, die hier nicht direkt vorkommen, steuert schon die Frühzeit auf eine Eskalation zu.

„Gartenzwerg-Olympiade“ vor angriffslustigem Rot: Die Platzierung zeigt an, worüber sich Nachbarn in Deutschland am häufigsten vor Gericht streiten. (Foto: Bernd Berke)

Den schlichten Titel „Konflikte“ trägt die neue Schau in der Dortmunder DASA (Arbeitswelt Ausstellung). Sie kommt vom inhaltlich ähnlich gelagerten Museum der Arbeit aus Hamburg und zieht das Thema hie und da an Beispielen aus dem hohen Norden auf. Doch im Grunde bewegt sie sich auf universalem Gelände. Kurator Mario Bäumer hat all die Denkanstöße just in Zeiten zwischen hitzigen Corona-Debatten und Krieg in der Ukraine arrangiert. Beides wird nicht konkret aufgeführt, ist aber stets gegenwärtig.

Bist du Hai oder Teddybär?

Knapper Platz, weiter Horizont: Auf rund 280 Quadratmetern Ausstellungsfläche wird das Thema praktisch von allen Seiten her angegangen. Gleich zu Beginn dürfen an Medienstationen 20 einschlägige Gewissens-Fragen beantwortet werden, danach ist einigermaßen geklärt, welcher Konflikttyp man sei, z. B. Eule, Fuchs, Hai, Teddybär oder Schildkröte. Aha. Mit diesem etwas wackligen Wissen gerüstet, geht’s auf den kurzen Parcours. Doch welch‘ weites Feld zwischen Alltag und Wissenschaft tut sich hier auf!

Alle streiten miteinander – Faltblatt-Titelbild zur „Konflikt“-Ausstellung. (© ungestalt, Leipzig / DASA)

All das wird möglichst sinnlich vermittelt. Da finden sich etwa kleine dreidimensionale Schaubilder (sozusagen Mini-Dioramen) mit typischen Konflikt-Situationen. Zwei Figuren tragen einen symbolischen Streit um eine Orange aus. Ob sie sich jemals einigen können? Zahllose Lösungsvorschläge stehen auf Zetteln, die bereits vom Publikum in Hamburg beigesteuert worden sind. Anhand von bunten Gartenzwergen, die auf ein Siegerpodest gestellt werden dürfen (Platz 1, 2, 3 etc.), soll geraten werden, worüber sich Nachbarn in Deutschland am häufigsten vor Gericht zanken: Lärm, Parkplätze, Haustiere, Grundstücksgrenzen? Zuvor ist zu sehen, dass veritable Äpfel in zwei Kisten mit den Aufschriften „Konflikt“ und „Empörung“ angehäuft sind. Auch da gilt es zu wägen und zu differenzieren – in diesem Falle wortwörtlich mit „Zank-Äpfeln“.

Sauertöpfische Ermahnungen

Im Laufe des assoziativen Rundgangs begegnen uns etliche Konflikt-Sorten – vom inneren Konflikt und Beziehungskonflikten über den Generationenkonflikt und den derzeit mal wieder aktuellen Arbeitskampf bis hin zum erbitterten Streit um Denkmäler (Bismarck vs. Heinrich Heine) oder zum schwelenden familiären Konflikt bei Tisch: Eine Schauspielerin bringt dort via Film lauter sauertöpfische Ermahnungen zu Benimmregeln vor. Wer da nicht aus der Haut fährt! Wer mag, kann gleich nebenan auf zwei frontal zueinander aufgestellten Stühlen Platz nehmen und „Gehaltsverhandlungen“ führen. Einige Argumente pro und kontra lassen sich vom Schreibtisch ablesen. Wie praktisch! Gegen Schluss wird, sozusagen pflichtgemäß, auch noch der Konflikt ums Klima angetippt, recht übersichtlich mit der Frontstellung Aktivistinnen gegen beharrende Kräfte.

Spezieller Konflikt: entspannt nachgestellte Gehaltsverhandlung in der DASA-Schau. (Foto: Pia Kiara Hilburg)

Zwischendurch erhebt sich mehrfach die grundsätzliche Frage: Was ist überhaupt ein Konflikt? Ist ein kriegerischer Überfall oder auch eine Vergewaltigung noch ein „Konflikt“ – oder sind sie nicht vielmehr jäh in ein ganz anderes Stadium getreten? Müsste es bei einem Konflikt nicht noch irgend etwas zu verhandeln geben, müssten Kompromisse nicht wenigstens denkbar sein?

Ohne Konflikt kein Wandel

Aus anderer Perspektive fragt sich: Haben viele Konflikte nicht auch ihr Gutes und Notwendiges? Im Gefolge des Philosophen Georg Simmel, der zuerst ausdrücklich auf solche Gedanken kam, präzisierte später der Soziologe Ralf Dahrendorf die Bedeutung von Konflikten, mit denen häufig gesellschaftlicher Wandel angestoßen wird. Ohne Konflikte keine Veränderung. So manche Auseinandersetzung bringt eben mehr als (falsche, verlogene) Harmonie.

Allerdings geht es auch um den vernünftigen Umgang mit Konflikten, die – wiederum animalische Klischees – nach Art eines aggressiven Wolfes oder einer höhengerecht umsichtigen Giraffe betrieben werden könnten. Die Tiere verkörpern Gut und Böse, als gäb’s nicht allzu viel dazwischen. Doch eigentlich macht die Schau feinere Unterschiede und zieht dabei auch allerlei Chancen zur Vermittlung (Mediation) in Betracht.

Vielleicht könnten die derzeit offenbar zerstrittenen Habeck, Lindner, Scholz, Baerbock & Co. ja mal eben in der Dortmunder DASA vorbeikommen und über ihre ständigen Ampel-Konflikte nachsinnen. Sollte Olaf Scholz etwa ein Teddybär sein? Oder doch ein Fuchs?

„Konflikte. Die Ausstellung“. 24. März 2023 bis 28. Januar 2024. DASA Arbeitswelt Ausstellung, Dortmund, Friedrich-Henkel-Weg 1-25. Geöffnet Mo-Fr 9-17, Sa/So 10-18 Uhr. Eibtritt 6 Euro, ermäßigt 3 Euro, Kinder/Jugendliche bis 18 Jahre frei. Begleitprogramm mit Workshops, u. a.  für Schulklassen (Besucherservice: 0231 / 9071-2645).

www.dasa-dortmund.de




Lauter Sonderlinge – Hanns-Josef Ortheils „Charaktere in meiner Nähe“

Hanns-Josef Ortheil zählt zu den ganz wenigen deutschsprachigen Autoren dieser Zeit, die Milde walten lassen, die Hoffnung und Sympathie für ihr Romanpersonal hegen, aber dennoch nicht ins Seichte geraten. Damit nimmt Ortheil eine gewisse Sonderstellung in der ernstzunehmenden Literatur ein, in der allerlei Dystopien deutlich höher im Kurs stehen.

Ein ausgemachter Freund des Gelingens und Genießens, erkundet Ortheil in seinem neuesten Buch „Charaktere in meiner Nähe“ (Titel) einige Aspekte je besonderen Menschseins, die freilich ins Allgemeine der Gattung weisen. In 50 Miniaturen, jeweils nur ein bis drei Seiten umfassend, erkundet er ein Gebiet der Marotten, Spleens und Besessenheiten. Es ist kein leichtes Unterfangen, könnte der Schreibende doch geneigt sein, sich derlei Charaktere „zurechtzubiegen“, auf dass sie so recht ins typisierende Schema passen.

Alle leben in ihrer eigenen Welt

Wir begegnen jedenfalls lauter Leuten, denen eine „wesentliche Prägung“ eigen ist. Da sind zum Exempel: die „Aber-Sagerin“, die sich stets unter Vorbehalt äußert und Gegenreden parat hat; der „Appetitor“, den immerzu etwas Essbares lockt; das „Familientier“, das alles und jedes auf Kinder bezieht. Und so geht es fort und fort: Der „Hedomat“ ist allzeit auf die kleinen Freuden aus. Der „Codaist“ lebt im Bann permanenter Abschiede. Die „Ausreden-Virtuosin“ weicht in jeder Gesprächs- und Lebenslage aus. Der Neutrale entscheidet sich niemals eindeutig, der Kultivierte lässt nur das Erlesene gelten. Die Eilfertige ist allen Gelegenheiten und Gefahren voraus, sie hat immer schon „gegoogelt“, bevor es ernst wird. Die Italiensüchtige kennt eigentlich (nur) alles Italienische, die „Waldgängerin“ ist eine Puristin der Stämme, Äste, Zweige und Blätter. Ergo: Auf einem Felde sind sie alle unschlagbar, auf vielen anderen recht begrenzt. Jede(r) lebt in einer eigenen Welt.

Genug der Beispiele. Anhand der Worte wie „niemals“, „alles“, „immer“, „stets“ und „nur“ lässt sich schon ahnen, dass die Protagonisten samt und sonders von einer Passion (oder Abneigung) beherrscht werden, die sie am vollen Leben hindert. Auch ein Sprachkünstler und Könner wie Ortheil kann es nicht gänzlich vermeiden, dass solche stark geprägten Charaktere mitunter beinahe zur Karikatur geraten. So ergeht es auch Zeichnern, die das Typische hervorkehren wollen. Ortheil aber möchte gerade vermeiden, dass sich Verzerrungen ergeben.

Blinde Flecken, tote Winkel

Seine Figuren schildert der Autor freundlich, teilnehmend, manchmal sanft kopfschüttelnd, niemals jedoch verurteilend. Er breitet ein wahres Panoptikum, wenn nicht gar einen Zoo der Sonderlinge vor uns aus. Er skizziert, wie sich die Probanden in bestimmten Situationen gebärden. Seltsame, merkwürdige Wesen sind sie allemal. Alsbald keimt der Verdacht, dass ihre Eigenheiten zutiefst mit der allgemeinen Conditio humana zu tun haben. So darf man sich fragen, ob nicht alle Menschen an etwas hängen, was ihnen selbst nicht so sehr auffällt, wohl aber der Mitwelt, sofern sie aufmerksam und empfänglich ist. Die Sonderlinge bemerken oft weder blinde Flecken noch tote Winkel.

Ein wenig vermisst habe ich die an und für sich gängige Unterscheidung zwischen vorherrschenden, halbwegs fluiden Verhaltensweisen und ziemlich fest betoniertem „Charakter“. Es will mir scheinen, als spräche „man“ heute nicht mehr so über psychische Befindlichkeiten. Aber vielleicht irre ich mich auch gründlich und Ortheil belebt eine alte Schule der Menschenbetrachtung wieder, die nicht vernachlässigt werden sollte. Außerdem dürfte die Vermutung stimmen, dass sich in diesen 50 Kurzporträts Ansätze zu ungleich differenzierteren Erzählungen oder Romanen verbergen. Wir harren der Weiterungen, die da hoffentlich kommen werden.

Hanns-Josef Ortheil: „Charaktere in meiner Nähe“. Reclam. 128 S., 18 Euro.

 

 




Zwischen Seelentrost und Menschheitsdämmerung – sechs Bücher über beinahe alles

Hier ein Schwung neuerer Bücher, in aller Kürze vorgestellt. Es muss ja nicht immer ein „Riemen“ (sprich: eine ausufernde Rezension) sein. Auf geht’s:

Lebensgeschichten am Sorgentelefon

Mit dieser Idee lassen sich allerlei Themen und Charaktere recht elegant unter ein Roman-Dach bringen: Judith Kuckarts Roman „Café der Unsichtbaren“ (Dumont, 206 Seiten, 23 Euro) spielt in der Ausbildungsgruppe für ein Sorgentelefon. Da lernen wir beispielsweise eine Theologie-Studentin und eine Sammlerin von Gegenständen aus der DDR kennen, aber auch einen Mann vom Bau, eine Buchhalterin, einen Radioredakteur im Ruhestand – und eine 80-jährige, die als Ich-Erzählerin fungiert. Nicht ganz zu vergessen die Anruferinnen und Anrufer, die sich ans Sorgentelefon wenden. Mit anderen Worten: Der Roman versammelt etliche Biografien, Wirklichkeiten und Perspektiven, sorgsam arrangiert und entfaltet von der Autorin, die hierzulande schlichtweg zu den Besten gehört. Die Lektüre dürfte auch auf ungeahnte Zusammenhänge der eigenen Lebengeschichte verweisen, sofern Lesende es zu nutzen wissen. Nebenbei gesagt: Speziell in Dortmund erinnert man sich gern an die Zeit, in der Judith Kuckart hier die erste „Stadtbeschreiberin“ gewesen ist. Die Lektüre ihres Romans ist in dieser Hinsicht eine angenehme und bereichernde „Pflicht“.

Die Tiere schlagen zurück

Etwas dürr und eindimensional mutet hingegen die Idee an, die diesem Buch zugrunde liegt: Nadja Niemeyer „Gegenangriff. Ein Pamphlet“ (Diogenes, 172 Seiten, 18 Euro) verdient sich den gattungsbezeichnenden Untertitel redlich. Die Handlung ist in der Zukunft angesiedelt, sie setzt im Jahr 2034 ein. Die Dystopie (wie man derart finster wuchernde Phantasien zu nennen beliebt) geht davon aus, dass die Tierwelt der menschlichen Gattung endgültig überdrüssig geworden ist und den zerstörerischen Homo sapiens vom Erdball tilgen will. Der „Gegenangriff“ gelingt total, und die Tiere können danach endlich im naturgerechten Frieden leben. So einfach ist das also. Von Seite 47 bis 54 werden, Zeile für Zeile, lauter Spezies aufgezählt, die der Mensch ausgerottet hat. Auch sonst ähnelt der arg gedehnt wirkende Text zuweilen eher einem aktivistischen Manifest bzw. einer Chronik der Schrecklichkeiten. Geradezu genüsslich werden die finalen Leiden der Menschheit registriert, es rattert die Mechanik der Vernichtung. Ein zorniges Buch, in dem alles Elend der Welt aus einem Punkt kuriert wird. Die Autorin heißt in Wirklichkeit übrigens anders, sie hat ein Pseudonym gewählt, „um nicht an Debatten teilnehmen zu müssen“. Sagen Sie jetzt nichts.

Musiktheorie auf Gipfel-Niveau

Schwere, kaum auszuschöpfende Kost für musikalische „Normalverbraucher“, wahrscheinlich wertvolle Anregung für Spezialisten: Ludwig Wittgenstein behandelt in den „Betrachtungen zur Musik“ (Bibliothek Suhrkamp, 254 Seiten, 25 Euro) musiktheoretische und kompositorische Fragen auf Gipfel-Niveau. Wohl denen, die da in allen Punkten folgen können! Jedenfalls sollte man sich in den Gefilden der E-Musik bestens auskennen, auch sollte das Partituren-Lesen leicht von der Hand gehen. Die aus dem Nachlass zusammengestellten und nach Themen-Alphabet geordneten Texte (Stichworte z. B.: Gesang, Grammophon, Harmonik, Instrumente, Komponisten, Melodie, Stille, Takt, Thema) sind in Satz und Typographie aufwendig aufbereitet, damit man Wittgensteins Arbeitsweise möglichst gut nachvollziehen kann. Ein Buch, das erstmals in solcher Fülle und Breite einen besonderen Werkaspekt des Philosophen Ludwig Wittgenstein (1889-1951) erschließt. Die Fachwelt wird’s gewiss zu schätzen wissen.

Ein „Ossi“ in Gelsenkirchen

Der mittlerweile bei manchen nicht mehr so wohlgelittene Richard David Precht (in Sachen Corona und Ukraine nicht so recht im Bilde) erzählte einst seine Kindheit bei linken Eltern unter dem Titel „Lenin kam nur bis Lüdenscheid“. Beim 1968 in Schwerin geborenen Gregor Sander taucht der russische Revolutionär abermals imaginär in Nordrhein-Westfalen auf, noch dazu mitten im Revier: „Lenin auf Schalke“ (Penguin Verlag, 188 Seiten, 20 Euro) heißt Sanders Roman. Auch so ein „Gegenangriff“, nein, bedeutend einlässlicher: eine Gegen-Beobachtung. Sonst erkühnt sich meist der Westen, den Osten zu schildern und zu deuten. Hier versucht also ein „Ossi“, sich in Gelsenkirchen, also weit im deutschen Westen, zurechtzufinden, was natürlich nicht ohne Komik abgehen kann. Sogar die legendäre „Zonen-Gabi“ feiert Urständ. Gelsenkirchen liegt in allen Wohlstands-Statistiken weit hinten, auch Schalke 04 ist (zum Zeitpunkt der Romanhandlung) zweitklassig. Der Westen im Zustand des Scheiterns. Alles fast so wie im Osten. Aber auch nur fast. Und doch: Gibt es da nicht gewisse Verbindungslinien? Ein Ruhrgebietsroman aus einer etwas anderen Perspektive. Das war doch mal fällig.

So nah am gelebten Moment

Zeit für die „Wiederentdeckung“ einer modernen Klassikerin: Clarice Lispector (1920-1977) wird mit 30 gesammelten Erzählungen unter dem Titel „Ich und Jimmy“ (Manesse, aus dem brasilianischen Portugiesisch von Luis Ruby, 416 Seiten, 24 Euro) nachdrücklich in Erinnerung gerufen. Die gebürtige Ukrainerin, Tochter russisch-jüdischer Eltern, flüchtete mit ihrer Familie vor sowjetischen Pogromen über mehrere Stationen nach Brasilien. Ihre Geschichten bewegen sich ungemein nah am gelebten oder auch versäumten Augenblick. Aspekte des Frauenlebens in allen Altersphasen bilden den Themenkreis. Phänomenal etwa, wie Clarice Lispector quälend Unausgesprochenes im Raum stehen und wirken lässt. Eine der allerstärksten Storys heißt „Kostbarkeit“ und folgt auf Schritt und Tritt den täglichen Wegen einer 15-Jährigen, die sich in jeder Sekunde mühsam behaupten muss. Es ist, als werde man beim Lesen tief ins Innere ihrer Angst geführt. Eine Art Gegenstück ist die peinliche familiäre Versammlung zum 89. Geburtstag einer Altvorderen, die all die Nachgeborenen abgründig verachtet. Andere Texte künden von unbändigem Lebensdurst. Ob er jemals gestillt werden kann?

Atemberaubende Balance

Wenn ein Buch von Yasmina Reza erscheint, ist dies eigentlich schon ein „Selbstläufer“. Auch ihr Roman „Serge“ (Hanser, aus dem Französischen von Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel, 208 Seiten, 22 Euro) hat es schnell zur Spitze der Spiegel-Bestsellerliste geschafft. Es gibt nur ganz wenige Autorinnen, die die Erinnerungs-Reise einer jüdischen Familie nach Auschwitz in solch einer atemberaubenden, nie und nimmer abstürzenden Balance zwischen Tragik und Komik halten können. Besonders Yasmina Rezas Dialogführung ist immer wieder bewundernswert. Auch im Hinblick auf neueste Ungeheuerlichkeiten bei gewissen Weltkunstschauen erweist sich dieser Roman als höchst wirksames Antidot. Dabei übt die Autorin sogar deutliche Kritik an Gedenkritualen zum Holocaust. Aber auf das „Wie“ kommt es an. Denn wir reden über Literatur, nicht über Polit-Gehampel.




Psychische Krankheit und Kreativität: Westfälisches Projekt nimmt „Outsider“-Literatur in den Blick

Eher eine Verlegenheitslösung, um das Thema zu bebildern: Szene aus der zum Projekt gehörenden Inszenierung von „Outsider“-Texten durch das theater en face unter dem Titel „Im Strom“. (Foto: Xenia Multmeier/Franziska v. Schmeling)

Zusammenhänge zwischen Künsten und psychischen Erkrankungen, krasser gesagt zwischen Genie und Wahnsinn, sind ein weites Feld. Ist nicht eine gewisse „Verrückt-heit“ gar Antriebskraft jeglicher Kreativität, weil sie ungeahnt neue Perspektiven eröffnen kann? Anders gewendet: Können Künste heilsam oder lindernd wirken? Oder geht dabei schöpferische Energie verloren? Uralte Fragen, die gelegentlich neu gestellt werden müssen. Um all das und noch mehr kreist jetzt ein westfälisches Kulturprojekt, das sich mit etlichen Veranstaltungen bis zum Ende des nächsten Jahres erstreckt.

Logo des „Outsider“-Projekts. (LWL)

Oft gezeigt und teilweise hoch gehandelt wurden Bilder von psychisch kranken oder geistig behinderten Menschen. Nun geht es beim vielteiligen Reigen mit dem etwas sperrigen Titel „outside | inside | outside“ um literarische Äußerungen, die sich weniger offensichtlich, sondern gleichsam diskreter und intimer zeigen. Gleichwohl gehen solche Schöpfungen beim Lesen oftmals „unter die Haut“.

Ein Akzent liegt vor allem auf westfälischen Autorinnen und Autoren, allen voran Annette von Droste-Hülshoff, die keineswegs den gefälligen literarischen Mittelweg beschritten hat. Zeitlich reicht der Rahmen bis zur aktuellen Poetry-Slam-Szene, die zumal im Paderborner Lektora-Verlag eine Heimstatt für gedruckte Texte gefunden hat.

Inklusion als Leitgedanke

Federführend beim gesamten Projekt ist die Literaturkommission des Landschaftsverbands Westfalen-Lippe (LWL) unter Leitung von Prof. Walter Gödden. Ein Leitgedanke ist die Inklusion, sprich: Was psychisch erkrankte Menschen schreiben, soll eben nicht als womöglich bizarres Außenseiter-Phänomen behandelt werden, sondern man will diese Literatur möglichst ans Licht und in die Gesellschaft holen – in aller Behutsamkeit, denn die Erfahrung zeigt, dass zwar manche Autorinnen und Autoren sich bereitwillig öffnen, andere sich jedoch behelligt fühlen, wenn eine größere, als zudringlich empfundene Öffentlichkeit ins Spiel kommt.

Die bisherigen Kooperations-Partnerschaften des Projekts konzentrieren sich vor allem am zentralen Standort des LWL, also in Münster. Dabei sind u. a. das Kunsthaus Kannen, die Akademie Franz Hitze Haus, die black box im kuba, das Cinema – und der historische Erbdrostenhof, Schauplatz der Auftakt-Veranstaltung, einem einleitenden Symposium am 25. und 26. März (siehe Programm-Link am Schluss dieses Beitrags).

Beispielhafte Reihe an der LWL-Klinik in Dortmund

Das Ganze versteht sich als „work in progress“, es können jederzeit noch neue Punkte hinzukommen. Neben einschlägigen Lesungen und Fachgesprächen soll es auch Theater- und Performance-Darbietungen sowie Filmvorführungen geben. Im Laufe der Zeit dürften die Veranstaltungen ganz Westfalen erfassen. Tatsächlich wäre zu hoffen, dass man sich noch etwas entschiedener über Münster hinaus bewegt. Immerhin sind schon jetzt u. a. das Netzwerk Literaturland Westfalen (koordiniert vom Westfälischen Literaturbüro in Unna), das Literaturbüro OWL (Detmold) oder auch das Kulturgut Haus Nottbeck (Oelde) mit an Bord. Im Projekt-Flyer werden weitere Kulturträger „herzlich zur Teilnahme eingeladen“. Vielleicht sind im Vorfeld ja noch nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft worden.

Bei der Online-Pressekonferenz zum baldigen Projekt-Start meldete sich auch der Psychiater Hans Joachim Thimm zu Wort, der an der LWL-Klinik in Dortmund-Aplerbeck arbeitet und seit Jahren Lesungen mit psychisch Kranken oder zum Themenkreis veranstaltet. Peter Wawerzinek („Rabenliebe“, „Schluckspecht“) war schon da, ebenso Joe Bausch (Gerichtsmediziner in Kölner „Tatort“ und zeitweise wirklicher Gefängnisarzt) oder der Fußballer Uli Borowka, der in dem Buch „Volle Pulle“ seine Alkoholabhängigkeit thematisierte. Erstaunlich der wachsende Zuspruch. Thimm: „Anfangs kamen manchmal nur zwölf oder dreizehn Zuhörerinnen und Zuhörer, inzwischen sind es bis zu 450.“ Man könnte darin einen Vorläufer zum westfälischen Projekt sehen. Eine Zusammenarbeit würde sich jedenfalls anbieten.

Überschneidungen mit der „Hochliteratur“

Überhaupt scheint Dortmund ein weiteres Zentrum des Geschehens zu sein. Das hier ansässige Fritz-Hüser-Institut gehört zu den Projektpartnern. Außerdem fallen im Zusammenhang Autorennamen aus der Stadt, nämlich der des in Hamm geborenen Tobi Katze („Morgen ist leider auch noch ein Tag: irgendwie hatte ich von meiner Depression mehr erwartet“) und der des prominenten Comedians Torsten Sträter, der sich auf seiner Homepage als Autor, Vorleser und Poetry Slammer bezeichnet und seine depressive Erkrankung in den 1990er Jahren öffentlich gemacht hat.

Umschlag der Textsammlung „Traumata“ (© Aisthesis Verlag)

Um den Themenhorizont zu erweitern: Just Walter Gödden von der erwähnten LWL-Literaturkommission hat die Sammlung „Traumata. Psychische Krisen in Texten von Annette von Droste-Hülshoff bis Jan Christoph Zymny“ (Aisthesis Verlag, 24 Euro) herausgegeben, in der rund 40 einschlägige Titel „quer durch die literarischen Gattungen“ vorgestellt werden.

Tatsächlich gibt es immer wieder aufschlussreiche Überschneidungen zwischen arrivierter, kanonischer Literatur und den Werken von „Outsidern“, zu denen hier auch Schreibversuche von Laien oder z. B. von Gefängnisinsassen gezählt werden. Man denke auf dem Gebiet der Hoch-, ja sozusagen Höchstliteratur nur an Genies wie den für Jahrzehnte „umnachteten“ (oder schlichtweg unverstandenen?) Friedrich Hölderlin oder an Robert Walser, der sich selbst in eine psychiatrische Klinik eingewiesen hat. Ein Quantum an geistig-seelischem Außenseitertum gehört wohl zu den meisten großen Oeuvres. Insofern handelt das Projekt nicht von einem randständigen Thema.

„outside | inside | outside – Literatur und Psychiatrie“. Projekt bis Herbst 2023, unterstützt von der Kulturstiftung des LWL und dem Land NRW.

Programm-Übersicht und Buchungsmöglichkeiten:

http://www.literatur-und-psychiatrie.lwl.org

 




Wenn Querulanten querulieren – aufschlussreiches Buch über einen altbekannten Sozialtypus

Querulanten? Kennen wir doch alle. Und wir wissen ziemlich genau, was wir davon zu halten haben. Wirklich?

Eine virtuelle Buchpräsentation im Kulturwissenschaftlichen Institut (KWI) in Essen hat nun auch manche Leute aus der Fachwelt eines Genaueren belehrt. Privatdozent Dr. Rupert Gaderer, Akademischer Oberrat am Germanistischen Institut der Bochumer Ruhr-Universität, hat sich über Jahre hinweg mit dem Themenkreis befasst. Nun liegt das Resultat als Buch vor: „Querulieren. Kulturtechniken, Medien und Literatur 1700-2000″. Gaderer stellte es im Dialog mit der Münchner Literaturwissenschaftlerin Prof. Juliane Prade-Weiss vor.

Der Begriff „Querulant“ in seiner heute noch gängigen Bedeutung hat sich Gaderer zufolge erst allmählich herausgebildet, als im Laufe des 18. Jahrhunderts das Rechtssystem für Beschwerden geöffnet wurde („Zugang zum Recht“). Die Figur des Querulanten wäre demnach kaum denkbar ohne die preußische Bürokratie, die sie recht eigentlich hervorgebracht hat.

Um „den“ Querulanten nicht von vornherein als starre Figur abzustempeln (wie dies im Laufe der Geschichte oftmals geschehen ist), hat Rupert Gaderer lieber das Verb „querulieren“ in den Buchtitel gestellt, das die Handlung sozusagen verflüssigt und nicht vorschnell verfestigt.

Bis hin zum „Rechts-Exzess“

„Querulant“ wurde im 18. Jahrhundert in der allgemeinen Bedeutung „Zänker“ oder „Streitsüchtiger“ verwendet, bezog sich um das Jahr 1800 aber zusehends auf den Rahmen des Rechtssystems. Wie es im Leben so geht: Einige Leute nutzten das Instrument der juristischen Beschwerde sehr ausgiebig. In preußischen Gesetzesbüchern wurden folglich alsbald jene erwähnt, die mutwillig immer und immer wieder Klage erhoben, was sich zuweilen als Störfaktor im System (sozusagen als „Sand im Getriebe“) erwiesen hat.

Die mutwilligen Kläger drohten Kapazitäten der Justiz zu „verstopfen“. Hatte man einmal das Rechtssystem geöffnet, konnte man es allerdings schwerlich wieder gänzlich schließen und abschotten. Misstrauisch beäugte und belauschte der Beamtenapparat jedoch besonders auffällige „Querulanten“ und setzte von oben herab Grenzmarken, nach denen es gleichsam „des Guten zu viel“ sei. Die Folge waren Repressalien bis hin zu Haftstrafen für „unverbesserliche“ Klageführer. Fortan kam auch die Schmährede vom „Rechts-Exzess“ auf.

Fast immer nur Männer

Querulanten waren traditionell fast immer männliche Wesen, also können wir uns auch die krampfhafte Schreibweise Querulant*innen schenken. Frauen galten in früheren Zeiten – mit Ausläufern bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts – kaum als klagefähig. Diese Möglichkeit, sich Recht zu verschaffen, wurde ihnen schlichtweg nicht zugestanden. Autor Gaderer nennt als äußerst rares Gegenbeispiel die Frau eines Müllers, dem die Wasserzufuhr zum Mühlrad abgesperrt worden war. Grob gesagt: Während Männer in gewissen Grenzen munter querulieren durften, wurden klagewillige Frauen schnell als „hysterisch“ verunglimpft.

Rupert Gaderer hat die Spuren des Querulierens freilich nicht nur in juristischer Hinsicht verfolgt, sondern auch in der Psychiatrie und der Literatur zahlreiche wertvolle Hinweise vorgefunden. Das Phänomen lasse sich überhaupt nur erfassen, wenn man interdisziplinär vorgehe. Als literarische Beispiele seien nur genannt: Heinrich von Kleists berühmte Novelle „Michael Kohlhaas“ (1810) und Hermann Bahrs „Der Querulant“ (1914), eine Kömödie in vier Akten.

„Krankhaftes Phänomen“

Mit dem Aufkommen der Psychoanalyse setzte auch eine verschärfte Neubewertung des Querulierens ein. Auf breiter Front setzte sich die Tendenz durch, das Querulantentum zu pathologisieren, es als krankhaftes Phänomen zu behandeln. Dazu entstanden beispielsweise Fotoreihen, die typische Querulanten anhand ihrer Physiognomie dingfest machen sollten. Auch wurden Handschriften daraufhin untersucht, ob sich in ihnen Hinweise auf notorisches Querulieren fänden. Die Klagesucht galt manchen Vertretern des Fachs gar als erblich.

Hochinteressant auch der internationale Vergleich. Das Querulantentum in seiner reinsten Form war innig mit dem preußischen und sodann deutschen Rechtssystem verwoben. Zwar bildeten sich z. B. auch in Österreich („Nörgler“) und Italien ähnliche Sozialtypen heraus, doch in England (und später in den USA) mit ihren ganz anders gearteten Rechtssystemen nahm auch die Literatur eine andere Richtung.

Ein Gruß von Karl Kraus

Wohl nur in Preußen konnte Heinrich von Kleists „Michael Kohlhaas“ entstehen, der wegen einer relativen Geringfügigkeit Klage erhebt und hernach mordend und brandschatzend durch die Lande zieht. Englische Übersetzer täten sich, wie es in der Diskussion zur Buchvorstellung hieß, seit jeher schwer mit Kohlhaas-Übertragungen. Die Literatur auf der Insel ergehe sich zumeist in Satiren aufs Rechts- und Bürokratie-System, das Kohlhaas-Syndrom sei den britischen Autoren hingegen fremd.

Dass man die ganze Angelegenheit trotz aller Ernsthaftigkeit auch (selbst)ironisch auffassen kann, bewies übrigens just der allzeit streitbare Karl Kraus. Er unterzeichnete Briefe gelegentlich mit dem Gruß „Ihr Querulant“.

Rupert Gaderer: „Querulieren. Kulturtechniken, Medien und Literatur 1700-2000″. Verlag J. B. Metzler (Reihe „Media. Literaturwissenschaftliche Forschung), 368 Seiten, 59,99 Euro.




Gartenvernichtung mit Oberhalunkenmaschine

gartenfrevel - die riesige Oberhalunkenmaschine

Thomas Scherl: »Die riesige Oberhalunkenmaschine«, Tusche auf Zeichenpapier, 25x30cm, 2020

Der Nachbar hat ja das Haus verkauft – da, wo mein Atelier war, Ende April war Übergabe (an einen Arzt aus dem Krankenhaus übrigens, die hams ja) und seither sind dort alle möglichen Halunken zugange, die renovieren und was weiß ich.

Wer diese Burschen kennt, weiß, daß 98,7% der aufgewandten Energie in Schall umgesetzt werden, 92,3% in Dreck, 91,7% in Gestank und der Rest in das gewünschte Ergebnis.

Jetzt wütet in dem schönen alten Garten mit den schönen alten Bäumen und den schönen alten Büschen seit dem frühen Morgengrauen ein ruchloser Oberhalunke mit einer riesigen Oberhalunkenmaschine, die gleichzeitig schon tragende Bäume fällt und mundgerecht zerlegt, die Hecke und die blühende Büsche, in denen Vögel brüten, bis unter die Grasnarbe schneidet, den üppigen Rasen bis unter dieselbe mäht, die gute Mutter Erde bis dicht über den Erdkern aufwühlt und die Steine, ja, die Steine, alles gleich shreddert, pulverisiert, atomisiert und die Atome dann unter lautem Schreien der geschundenen Materie in ihre Elementarteile zerreißt, zerfetzt, zerbeißt, verletzt und meine armen Trommelfelle gleich mit und der Fallout der vernichteten Existenz legt sich wie ein Leichentuch über meine Skizzenbücher und mich.

Die Meisen, die Schmetterlinge, die Hummeln und die Bienen, die Katze, der Hund und ich verachten ihn und seine Maschine, deren Erfinder und den neuen Besitzer, der das nicht selber von Hand machen kann wie alle anderen auch, und den Geist, der meint, daß er nur genug Krach machen muß, damit was »Arbeit« ist, mit jeder Faser unserer Körper, Seelen und… tja, was noch?

Ich kann so nicht arbeiten.

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(Text und anderes auch auf scherl.blogspot.com)




Corona-Wortsammlung – weitgehend ohne Definitionen, aber fortlaufend aktualisiert

Wohl unter „M“ einzuordnen: in diesen Tagen ratsame bzw. pflichtgemäße Mund-Nasen-Bedeckungen. (Update: Achtung, Achtung! Solche Stoffexemplare sind mittlerweile durch medizinische Masken zu ersetzen). (Foto: BB)

Hier ein kleines Corona-„Lexikon“, darinnen etliche Worte, Wendungen, Zitate, Namen und Begriffe, von denen wir zu Beginn des Jahres 2020 nicht einmal zu träumen gewagt haben; aber auch bekannte Worte, die im Corona-Kontext anders und häufiger auftauchen, als bislang gewohnt. All das zumeist ohne Definitionen und Erläuterungen, quasi zum Nachsinnen, Ergänzen und Selbstausfüllen. Und natürlich ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit, aber von Zeit zu Zeit behutsam ergänzt. Vorschläge jederzeit willkommen.

Dazu ein paar empfehlende Hinweise: Die Gesellschaft für Deutsche Sprache hat sich einige Wochen lang in einer Serie mit den sprachlichen Folgen der Corona-Krise befasst, hier ist der Link.

Eine mit derzeit (März 2021) rund 1200 Einträgen sehr umfangreiche Liste von Corona-Neologismen hat das in Mannheim ansässige Leibniz-Institut für Deutsche Sprache online gestellt. Bitte hierher.

Das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache (DWDS) hat ein umfangreiches Corona-Glossar veröffentlicht, dazu bitte hier entlang.

Ein Glossar zum phänomenalen NDR-Podcast mit Prof. Christian Drosten und Prof. Sandra Ciesek findet sich hier.

Einige weitere Erklärungen hat die Zeitschrift GEO gesammelt, und zwar hier.

In ihrer Ausgabe vom 4. Januar 2021 (!) ist die „Süddeutsche Zeitung“ in Person des Autors und Dramaturgen Thomas Oberender schließlich auch auf den Trichter gekommen und bringt unter der Zeile „Die Liste eines Jahres“ eine recht umfangreiche Wortsammlung. Daraus habe ich mir auch ein paar Ausdrücke genehmigt. Oberender darf sich wiederum hier bedienen.

Nun aber unsere Liste der Wörter, Wendungen und Namen:

1,5 Meter Abstand
2 Meter Abstand
2-G-Regel („geimpft oder genesen“)
2-G-plus („geimpft oder genesen und getestet)
3-G-Regel („geimpft, genesen, getestet“)
3-G-plus (nur mit PCR-Test, nicht mit Antigen-Text)
6-Monats-Abstand (bzw. 3, 4 oder 5 Monate – zwischen Zweitimpfung und „Boostern“)
7-Tage-Inzidenz
15-Minuten-Regel (Gesprächsdauer, die das Risiko begrenzt)
15 Schüler(innen) im Klassenraum
15-Kilometer-Radius (um den Wohnort)
20 Quadratmeter pro Kunde (in größeren Geschäften ab 26.11.2020)
21 Uhr (Ausgangssperre)
23 Uhr (Sperrstunde)
-70 Grad (erforderliche Kühlung des BioNTech-Impfstoffs)
800 Quadratmeter (Verkaufsfläche)
50.000 Arbeitsschritte (zur Produktion des BioNTech-Impfstoffs)
100.000 Einwohner (Maßzahl zur Inzidenz)

Absagen
absondern
Abstand
Abstrich
achthundert Quadratmeter (Verkaufsfläche)
Adenoviren
Aerosol
Aerosolbildung
AHA-Formel (Abstand – Hygiene – Alltagsmaske)
AHA-Regeln
AHA+L (…plus Lüften)
Akkolade (französ. Wangenkuss-Begrüßung, nunmehr verpönt)
Alkoholverbot
#allesdichtmachen (umstrittene Schauspieler-Aktion)
#allesschlichtmachen
„Alles wird gut!“
Allgemeinverfügung
Alltagsmaske
Alpha (neuer Name für britische Mutante)
Altenheime
Alterskohorte
Aluhut
„an Corona“ (verstorben – vgl.: „mit Corona“)
„andrà tutto bene“
Antikörper
Antikörpertest
App (zur Nachverfolgung)
Armbeuge (Hust- und Nies-Etikette)
AstraZeneca (Impfstoff-Hersteller)
asymptomatisch
„auf dünnstem Eis“ (Merkel)
„aufgrund der aktuellen Umstände“
„auf Sicht fahren“
aufsuchende Impfung
Ausgangssperre
Autokino (Renaissance)
AZD1222 (Impfstoff von AstraZeneca)
AZD7442 (Medikament von AstraZeneca)

B.1.1.7 (britische Mutation des Corona-Virus / Aplha)
B.1.1.28.1 – P.1 (brasilianische Mutation)
B.1.1.529 (neue südafrikanische Variante, November 2021)
B.1.351 (südafrikanische Mutation)
B.1.526 (New Yorker Mutation)
B.1.617 (indische Mutation / Delta)
BA.2 (BA.1, BA.3) Subtypen der Omikron-Variante
Balkongesang
Balkonklatscher
Bamlanivimab (Antikörper-Medikament)
„Bazooka“ (massive Geldmittel – laut Olaf Scholz)
Beatmung
Beatmungsgerät
bedarfsorientierte Notbetreuung (Kita)
Beherbergungsverbot
behüllte Viren
Bergamo
„Bergamo ist näher, als viele glauben.“ (Markus Söder, 13.12.2020)
Bernhard-Nocht-Institut
Besuchsverbot (Alten- und Pflegeheime)
Beta (neuer Name für südafrikanische Mutante / B.1.351)
Bfarm-Liste (Auflistung der Antigen-Tests)
Bildungsgerechtigkeit
„Bild“-Zeitung (Kampagne gegen Drosten etc.)
Biontech / BioNTech (Impfstoff-Hersteller)
Black-Swan-Phänomen
Blaupause, keine
„Bleiben Sie gesund“ (Grußformel)
Blitz-Lockdown (vor Weihnachten/Silvester 2020)
Blutgerinnsel
BNT 162b2 (Biontech-Impfstoff)
Böller-Verbot
Booster
Booster-Impfung
boostern
Bremsspur („Das Virus hat eine unglaublich lange Bremsspur“ – Jens Spahn)
Brinkmann, Melanie (Helmholtz-Zentrum, Braunschweig)
„Brücken-Lockdown“ (Armin Laschet am 5. April 2021)
Bundesliga (Geisterspiele etc.)
Bundesnotbremse
Buyx, Alexa (Vorsitzende Deutscher Ethikrat)

C452R (Teil der indischen Doppelmutante)
CAL.20C (kalifornische Mutante)
case fatality
Casirivimab (Antikörper-Medikament)
Celik, Cihan (Leiter der Covid-Station am Klinikum Darnstadt)
China
Chloroquin
Ciesek, Sandra (Virologin, Frankfurt/Main)
Click & collect (Bestellung und Abholung)
Click & meet (Shoppen mit Termin)
Comirnaty (Handelsname des Biontech-Impfstoffs)
Contact Tracing
COPD (Lungenkrankheiten)
Corona
Corona-Ampel
coronabedingt
Corona-Biedermeier
Corona-Bonds
Corona-Blues
Corona-Chaos
Corona-Deutschland
„Corona-Diktatur“
Corona-Ferien
coronafrei
coronahaft
Corona-Gipfel
Corona-Hilfsfonds
Corona-Hotspot
Corona-Kabinett
Corona-Krise
Corona-Koller
Corona-Müdigkeit
Corona-Mutation
Corona-Notabitur
Corona-Pandemie („Wort des Jahres“ 2020)
Corona-Panik
Corona-Party
Corona-Schockstarre
Corona-Skeptiker
Corona-Tagebuch
Corona-Ticker
Corona-Verdacht
Corona-Winke (Gruß aus der Distanz)
Corona-Zoff
Coronials („Generation Corona“)
coronig
coronös
„Corontäne“ (Quarantäne wg. Corona)
Corozän (Corona-Zeitalter)
Cove (Impfstoff von Moderna)
Covid-19
Covidioten (Hashtag / siehe Verschwörungstheoretiker)
CovPass (App)
CureVac (Impfstoff-Hersteller)

Datenschutz (bei der Corona-Warn-App)
„Dauerwelle“
Decke auf den Kopf („Mir fällt die…“)
Dekontamination
Delta (neuer Name für die indische Mutante)
Delta Plus (Variante der Variante: B.1.617.2.1)
Desinfektion, thermische
Desinfektionsmittel
Desinfektionsmittel spritzen (Trump)
„Deutschland macht sich locker“
Dezemberhilfe(n)
Digitaler Impfnachweis
Digitaler Unterricht
„Distanz in den Mai“ (statt „Tanz in…“)
Distanzschlange
Distanzunterricht
Divi-Intensivregister
„Doppelmutante“ (indische Mutation, laut Prof. Drosten irreführender Begriff)
„dorfscharf“ (lokale Grenzziehungen beim Lockdown)
dritte Welle (befürchtet im Frühjahr 2021)
Drittimpfung
Drive-in-Test
Drosten, Christian (Charité, Berlin)
Drosten vs. Kekulé
durchgeimpft
Durchseuchung

E484Q (Teil der indischen Doppelmutante)
Ebola
Eindämmung
eineinhalb Meter (Abstandsregel)
eingeschränkter Pandemiebetrieb
eingeschränkter Regelbetrieb
Einreisestopp
„Einsperr-Gesetz“ (Ausgangsbeschränkungen laut „Bild“-Zeitung)
Einweghandschuhe
E-Learning
Ellbogencheck (Corona-Gruß)
Ema (Europäische Arzneimittel-Agentur)
Epidemie
Epidemiologie
„Epidemische Lage (von nationaler Tragweite)“
„Epidemische Notlage nationaler Tragweite“
Epizentrum
Epsilon (Virus-Variante B.1.427 / B.1.429)
Erntehelfer
Erstgeimpfte
Eta (Virus-Variante B.1.525)
Etesevimab (Antikörper-Medikament)
Exit-Strategie
exponentiell (Wachstum)

Falk, Christine (Präsidentin Dt. Gesellschaft für Immunologie, Hannover)
Fallsterblichkeit
Fallzahlen
fatality
Fatigue
Fauci, Anthony (US-Virologe)
Fax (Kommunikations-Instrument mancher Gesundheitsämter)
„…feiert keine stille Weihnacht.“ („Das Virus feiert…“ / Olaf Scholz am 13.12.2020)
Ffp2
Ffp3
flatten the curve
Fledermaus
Fleischfabriken
Flickenteppich (Föderalismus)
Fluchtmutation
forsch / zu forsch (Lockerungen, laut Merkel)
free2pass (App für Tests und Einlasskontrolle)
Freiheit
Frisöre / Friseure
Fuß-Gruß

G 5 (Verschwörungstheorie um den Mobilfunkstandard)
Gästeliste (Pflicht im Lokal)
Gamma (neuer Name für brasilianische Mutante / P.1)
„Gang aufs Minenfeld“ (Erfurts OB über Lockerungen in Thüringen)
Gangelt
Gastronomie
Gates, Bill
Geisterspiele (Bundesliga etc.)
Genesene
Genesenenstatus
Geruchs- und Geschmacksverlust (als Corona-Symptom)
geschlossene Räume
geteilte Schulklassen
Google Meet (Videokonferenz-Plattform)
Grenzkontrollen
Grenzschließungen
Großeltern (nicht) besuchen
„Grüner Pass“ (Israel / bescheinigt Corona-Impfung)
Grundimmunität
Grundrechte
Grundsicherung
Gütersloh (kreisweiter Lockdown wg. Tönnies)

Händedruck (kein)
Händewaschen
Härtefall-Fonds
häusliche Gewalt
hammer and dance
Hamsterkäufe
hamstern
Heimbüro
„Heimsuchung“ (Angela Merkel am 25. Oktober 2020)
Heinsberg
Heizpilze (herbstliche Option für Gastro-Betriebe)
„Held / Heldin des Alltags“
Helmholtz-Gemeinschaft
Hepa-Filter
Herdenimmunität
Herold, Susanne (Uniklinik Gießen)
heterologe Impfung (zwei verschiedene Impfstoffe bei Erst- und Zweitimpfung)
Hildmann, Attila
Hintergrundimmunität
Hintergrundinfektion
Hirnvenenthrombosen
Hochrisikogruppe
Hochzeitsfeier
Home-Office
Home-Schooling
Hospitalisierungs-Inzidenz
Hospitalisierungsrate
Hotspot
Husten
Hust- und Nies-Etikette
Hybrid-Unterricht
„Hygiene-Demos“
Hygieneplan
Hygiene-Konzept
Hygiene-Regeln
Hygiene-Standards
Hyperglobalisierung

Ibuprofen
Imdevimab (Antikörper-Medikament)
Immunabwehr
Immun-Escape
Immunologe
Impfangebot
Impfbereitschaft
Impfbus
„Impfchaos“
Impfdosen
Impfdosis
Impfdrängler
Impfdurchbruch (Infektion trotz Impfung)
Impfgegner
Impfgipfel
Impfling
Impflücke
Impfneid
Impfpass
Impfpflicht
Impfquote
Impfreihenfolge
Impfskeptiker
Impfstau
Impfstoff
„Impfstoff-Nationalismus“
Impfstraße
Impfstrategie
Impftermin
Impfung
Impfversprechen
Impfverweigerer
Impfvordrängler
Impfwilligkeit
Impfzentrum
Impfzwang
„Impfzwang durch die Hintertür“
inaktivierte Vakzine
Infektionsampel
Infektionskette
Infektions-Notbremse
Infektionsschutzgesetz (IfSG)
„Infodemie“
Inkubationszeit
Insolvenz(en)
„Instrumentenkasten“ (verfügbare Corona-Maßnahmen)
Intensivbetten
Intensivkapazität
Intensivstation
Inzidenz
Inzidenz-Ampel
Inzidenzwert
„In (den) Zeiten von Corona“
Iota (Virus-Variante B.1526)
Ischgl
Isolation
Israel (weltweites Impf-Vorbild)
Italien

„Jens, jetzt keine Emotionen!“ (Angela Merkel zu Jens Spahn – beim Impfgipfel am 1.2.2021)
Johns-Hopkins-Universität
Johnson & Johnson (Impfstoff-Hersteller)

Kappa (Virus-Variante B.1.617.1)
Kappensitzung (Heinsberg etc.)
Kariagiannidis, Christian (Leiter Insensivbettenregister)
Kassenumhausung
Kaufprämie (für Autos)
Keimschleuder
Kekulé, Alexander S.
„…kennt keine Feiertage.“ („Das Virus kennt…“)
„…kennt keine Ferien.“ („Das Virus kennt…“)
„…kennt keine Grenzen.“ („Das Virus kennt…“)
Kita-Schließungen
„Kleeblatt-Prinzip“ (bei Verlegung von Intensiv-Patienten in andere Bundesländer)
Kliniken (im RKI-Jargon auch „Klinika“)
Knuffelcontact (Belgisch/Flämisch für den möglicherweise einzigen Kuschelkontakt)
„körpernahe Dienstleistungen“
Kontaktbeschränkung
kontaktlos
kontaktloses Bezahlen
Kontaktperson
Kontaktsperre
Kontaktsport(arten)
Kontakttagebuch
kontaminierte Oberfläche
Kreuzimpfung (z. B. Erstimpfung mit AstraZeneca, Zweitimpfung mit Biontech)
„Krise als Chance“
Krisengewinn(l)er
Krisenreaktionspläne
Kulturschaffende
Kurzarbeitergeld

laborbestätigt
Lambda (Virus-Variante C.37)
Laschet, Armin
Lauterbach, Karl (Gesundheitsminister ab Dez. 2021)
Leopoldina
Letalität
„(das) letzte Weihnachten mit den Großeltern…“ (Angela Merkel)
Lieferketten
Liquiditätshilfen
Lockdown
Lockdown Light
Lockerung
„Lockerungsdrängler“ (Röttgen)
Lockerungsperspektive
Lockerungsübung
Lolli-Test
Lombardei
Long-Covid (Langzeit-Nachwirkungen)
Luca (Warn-App)
Lüftung
Lungenentzündung

„macht sich locker“ („Deutschland macht…“)
Marderhunde (mögliche Virusquelle, laut Drosten)
Maske
Maskenintegrität
Maskengutschein
Maskenmuffel
Maskenpflicht
Maskenverweigerer
Maßnahmen
„mehr als 90 Prozent“ (Imfstoff-Wirksamkeit)
Meldeverzug
Merkel, Angela
MERS
Meyer-Hermann, Michael (Helmholtz / Braunschweig)
„mit Corona“ (verstorben)
mobile Impfteams
Moderna (US-Impfstoff-Hersteller)
Molnupiravir (Corona-Medikament)
Mortalitätsrate
mRNA-1273 (Impfstoff von Moderna)
mRNA-Impfstoff
„mütend“ (Corona-Gefühlslage, Mischung aus mürbe und wütend – oder müde und wütend)
Mund-Nasen-Schutz (MNS)
Mundschutz (Plural: Mundschutze)
Mutanten
Mutation

Nachverfolgung
„Nasenbohren“ (saloppe Umschreibung für manche Schnelltests)
Nena (Corona-Verharmloserin)
neuartig(es)
„Neue Normalität“
Neuinfektionen
New York
niederschwellige Basisschutz-Maßnahmen
Nies-Etikette
No-Covid-Strategie
Normalität
Notbetreuung
Notbremse (harte N. / flexible N.)
Notstand
Novavax (Impfstoff-Hersteller)
Novemberhilfe(n)
Null-Covid-Strategie

Obergrenze für Neuinfektionen
„Öffnungsdiskussionsorgien“ (Merkel)
Öffnungsschritte
„Öffnungsrausch“ (Markus Söder)
Olympische Spiele (in Tokyo praktisch ohne Live-Zuschauer)
Omikron / Omicron (neue südafrikanische Variante, November 2021)
Omikron-Wand (Steigerung der Omikron-Welle)
on hold („angehaltenes“ Leben)
Online-Aufführung
OP-Maske

P.1 (brasilianische Virus-Mutation)
Palmer, Boris (OB Tübingen)
Pandemie
Pandemie-Müdigkeit
Pangolin (Gürteltier als möglicher Zwischenwirt)
„Paranoia-Promis“ (Hildmann, Naidoo, Wendler, Jebsen etc.)
Party
Patentfreigabe
„Patient Null“ (ursprünglicher Überträger)
Paul-Ehrlich-Institut
Paxlovid (Corona-Medikament von Pfizer)
PCR-Test
PEG (Polyethylenglykol / Inhaltsstoff von Impfmitteln)
Penninger, Josef (speziell für unsere österreichischen Freunde)
persönliche Schutzausrüstung (PSA)
Pest (Referenz-Seuche)
Pflegeheime
Pflegekräfte
Pflegenotstand
physical distancing
„Piks“ (etwas infantile Bezeichnung für die Impfung)
Plateau
Pleitewelle
Pneumokokken
Pneumonie
„Pobacken zusammenkneifen“ (Appell von RKI-Chef Wieler am 12.11.2020)
Positivrate (z. B. pro 1000 Tests)
Postcorona (die Zeit „danach“)
Präsenzunterricht
Präsenzveranstaltung
Präventions-Paradox
Prepper
Preprint (vorveröffentlichte Wissenschafts-Studie)
Priesemann, Viola (Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation, Göttingen)
Prio (neuerdings gängige Abkürzung)
priorisieren
Prioritätsgruppe
Prof.
proteinbasierte Impfstoffe

Quarantäne
„Querdenker“ (Euphemismus für Verschwörungstheoretiker)

Rachenabstrich
Ramelow, Bodo (Vorreiter der Lockerung)
Regelbetrieb
Regeneron (US-Hersteller von Antikörper-Cocktails)
Reiserückkehrer
Reisewarnung
Remdesivir
Reproduktionsrate (gern 0,7 oder niedriger)
Respiration
Restart (Bundesliga)
Rettungsschirm
Rezeptoren
Rezession
R-Faktor
R-Wert
Risikogebiet
Risikogruppe
RKI
Robert-Koch-Institut
Rückholaktion
„Ruhetage“ (Gründonnerstag & Ostersamstag 2021 / verkündet 23.3.2021 – zurückgenommen 24.3.2021)

SARS
SARS-CoV-2
Schaade, Lars (RKI-Vizepräsident)
Schichtunterricht
Schlachthöfe (Coesfeld etc.)
Schlangenmanagement
Schlauchboot-Party (Berlin, Landwehrkanal)
Schleimhautschutz
Schmidt-Chanasit, Jonas (Bernhard-Nocht-Institut, Hamburg)
Schmierinfektion
„schmutzige Impfung“ (absichtliche Infektion mit erhoffter Genesung)
„Schnauze voll“ (Hessens Ministerpräs. Bouffier im Feb. 2021: „Die Leute haben die…“)
Schnelltest
Schnutenpulli
Schulschließungen
Schutzkittel
Schutzmaske
Schutzschirm
schwedischer Sonderweg
schwere Verläufe

Seife
Seitwärtsbewegung (Minister Spahn über kaum noch sinkende Infektionszahlen)
Selbstisolation
Sentinel-Testung (Stichproben statt Massentests)
Sequenzierung
Shutdown
Sieben-Tage-Inzidenz
Sieben-Tage-R
Sinovac (chinesischer Impfstoff)
Sinusvenen-Thrombosen
Skype
social distancing
Soloselb(st)ständige
soziale Distanz
Spahn, Jens (Gesundheitsminister, auch infiziert)
Söder, Markus
Soforthilfe
Soloselbstständige
Spanische Grippe
Sperrstunde
Spike-Protein
Speicheltest (Schnelltest)
Spuckschutz
Spucktest (Schnelltest)
Sputnik V (russischer Impfstoff)
Statistik
Stay-at-home
sterile Immunität
Stiko (Ständige Impfkommission)
Stoßlüftung
Streeck, Hendrik (Virologe, Bonn)
Stürmer, Martin (Virologe, Frankfurt)
Südkorea
Superspreader
Superspreading-Ereignis
systemrelevant

„Team Vorsicht“ (Formulierung von Markus Söder)
Tegnell, Anders (Schwedischer Epidemiologe)
Telearbeit
Telefonkonferenz (Telko)
Temperaturscanner
Test
Testkapazität
Testzentren (teilweise unter Betrugsverdacht)
Theaterschließungen
Theta (Virus-Variante P.3)
Thrombose (angebliche Impffolge)
Tönnies
Toilettenpapier
Totimpfstoff
Tracing-App
Tracking-App
„Treffen Sie niemanden!“ (Österreichs Kanzler Kurz am 14.11.2020)
Triage
Tröpfcheninfektion
„trotz Corona“
Trump, Donald (Erkrankter)
Twitter (Plattform auch für Corona-Dispute)
„Tyrannei der Ungeimpften“ (Frank Ulrich Montgomery, Vorsitzender des Weltärztebundes)

Überbrückungsgeld
Übersterblichkeit
„Unheil“ (Angela Merkel am 14. Oktober 2020)
Untersterblichkeit

Vakzine
Variant of concern
Vaxzevria (neuer Name des AstraZeneca-Impfstoffs, seit 26.3.2021)
Verdoppelungsrate
verimpft („Sie haben 2000 Dosen verimpft“)
Vektorimpfstoff
Vektorwechsel
Verschwörungserzählung
Verschwörungsmythen
Verschwörungstheoretiker (Jebsen, Hildmann, Schiffmann, Soost, Naidu u.a.)
verzeihen
Verzeihung
Videokonferenz (Viko)
vierte Welle (befürchtet für und dann eingetreten im Herbst 2021)
Virologe(n)
Virologie
Virulenz
Virus, das
Virus, der
Virusvariantengebiet
viruzid
Volksmaske
vollständig geimpft
„Vom Verbot zum Gebot“
Vorerkrankungen
vulnerabel

„Wand“ (siehe Omikron-Wand)
Watzl, Carsten (Immunologe, Leibniz-Institut, Dortmund)
Wechsel-Unterricht
„wegen Corona“
Wellenbrecher
Wellenbrecher-Lockdown
Wendler, Der (noch so’n Corona-Leugner)
Westfleisch
WHO
Wieler, Lothar H. (RKI-Präsident)
Wildtyp
„Wir bleiben zu Hause“
Wodarg, Wolfgang
Wohnzimmerkonzert
Worst-Case-Szenario
Wuhan
„Wumms“ („Mit Wumms aus der Krise“ – Finanzminister Olaf Scholz)

Zarka, Salman (Corona-Regierungsberater in Israel, genannt „Corona-Zar“)
Zero Covid (niedrigstes Ziel)
Zero-Covid-Strategie
Zeta (Virus-Variante P.2)
Zoom (Plattform für Online-Konferenzen)
Zoonose
Zweihaushalte-Regel
„Zweimal ,Happy Birthday‘ singen“ (Zeitmaß fürs Händewaschen)
zwei Meter (Abstand)
zweite Welle
Zweitgeimpfte

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Danke für Anregungen und Ergänzungen, die mich u. a. via Facebook erreicht haben.

Bei Virologe, Immunologe etc. bitte jeweils die weiblichen Formen hinzudenken.




In diesen Tagen der Langsamkeit

Eine ruhige Stelle. (Foto: BB)

Ich weiß ja nicht, wie es Euch geht. Mir fällt es (u. a. als einstigem Einzelkind) ziemlich leicht, mich auch über Stunden oder gar Tage selbst zu beschäftigen; zuvörderst mit Büchern. In Zeiten des äußerst ratsamen Abstandes ist das wohl ein unschätzbarer Vorteil.

Ich beneide schon sonst nicht, aber derzeit überhaupt nicht die Hyperaktiven aller Art, die ständig möglichst viele Leute um sich scharen müssen und immerzu im „Party“- oder Selbstverwirklichungs-Modus unterwegs sind. Auch die allgegenwärtigen „Aktivisten“ jeder Couleur zählen hinzu. Es mag Schwarmintelligenz geben, aber es gibt eben leider auch Schwarmdummheit.

Es ist keine gute Zeit für die Vergnügungssüchtigen und Hedonisten, die schnell vom Horror vacui befallen werden: Wie, du hast heute noch nichts vor? O je, da müssen wir sofort etwas losmachen, wenn noch nichts los ist. Wie dumpf derlei selbstzweckhafte Zeitfüllerei oft anmutet! Jetzt liegt man damit völlig neben der Spur.

Dann schon weitaus lieber diese heilsame, schon oft beschworene, aber selten praktizierte Entschleunigung, die jetzt gefragt ist und die häufig einhergeht mit einer beobachtenden, meditativen oder kontemplativen Lebensweise. Irgendwo in einem literarischen Werk steht der schlichte Satz geschrieben: „Ich schaue zu, wie die anderen leben.“ Das bedeutet ganz und gar nicht, dass man kein eigenes Leben habe. Es ist nur eine andere Daseinsform; eine, die es auch geben muss und der eben manche nachgehen – mehr oder weniger bewusst.

Es können nicht alle voranstürmen. Es müssen sich auch Menschen seitwärts oder in der Nachhut bewegen oder zeitweise dort verharren. Überdies die Wachenden, von denen Kafka literarisch in der Einzahl gesprochen hat: „Einer muss wachen, heißt es. Einer muss da sein.“

Doch nur nicht kläglich vereinsamen! Ich kann da, wie wir alle, nur für mich sprechen. Nicht am äußersten Rande des Geschehens halte ich mich am liebsten auf, sondern gleichsam an der Peripherie des Zentrums. Dort, wo man noch etwas erlebt, erfährt und mitbekommt. Und gewiss nicht ohne andere Menschen. In vollends unbevölkerter Umgebung hielte ich es wohl auch nicht allzu lange aus. Aber es müssen nicht die Vielen sein, die einen umschwirren. Schon gar nicht mag ich den Vielen besinnungslos nacheilen.

Und ja: Wir dürfen uns schon im Voraus auf die Tage freuen, an denen all diese gegenwärtigen Einschränkungen sich mildern werden und der Alltag sich langsam normalisieren wird. Dann werden wir dies oder jenes nachholen.




Trotz BVB-Kantersieg: Reus und Hakimi fuchsteufelswild

Das Tabellenbild sieht gar nicht so übel aus, doch bei manchen Spielern brennt die Sicherung durch… (Screenshot von Kicker online)

Der BVB hat 5:0 gegen Union Berlin gewonnen. Glatte Sache. Ungebrochener Fußball-Jubel in und um Dortmund. Sollte man meinen. Doch nun kommt ein mittelgroßes ABER:

Was waren denn das für zwei beleidigte Leberwürste, die sich nach einiger Spieldauer nicht auswechseln lassen mochten? Verstehen sie es als Majestätsbeleidigung, wenn sie durch einen anderen Spieler „ersetzt“ werden; noch dazu, wenn es durchaus nachvollziehbar ist, weil sie bei hoher Führung für den kommenden Dienstag (DFB-Pokalspiel bei Werder Bremen) geschont werden sollen?

Erst trat Achraf Hakimi nach seiner Auswechslung wutentbrannt gegen eine Flasche am Spielfeldrand und warf seine Schuhe von sich. Hatte man (sprich: Trainer Lucien Favre) etwa gegen seinen Ehrbegriff verstoßen, was immer das überhaupt heißen könnte?

Noch gravierender dann freilich der befremdliche Vorgang ein paar Minuten später: Auch der Mannschaftskapitän und erfahrene Nationalspieler Marco Reus, der eigentlich ein Vorbild sein sollte, ist mit seiner Auswechslung absolut nicht einverstanden und schmeißt sein Tape fuchsteufelswild auf den Boden, quasi dem Trainer (dem Rest der Mannschaft, dem Publikum, aller Welt?) vor die Füße. Fast sah es so aus, als hätte er seine Kapitänsbinde weggeworfen.

Nach meinem Verständnis sollte es für Reus‘ Verhalten eine saftige Geldstrafe vom Verein geben. Im Wiederholungsfalle dürfte ein anderer Spieler Kapitän werden, beispielsweise Mats Hummels. Und Hakimi? Hat sich eine Verwarnung redlich verdient.

Über die Beweggründe mag man rätseln. Sind durch die winterlichen Neuverpflichtungen (Erling Haaland, Emre Can) Hierarchie, Gehaltsgefüge und damit die psychologische Balance der Mannschaft etwa ins Wanken geraten? Verkraftet es ein Reus nicht, dass er selbst zuletzt reihenweise Chancen versiebt hat, während Erling Haaland einen Treffer nach dem anderen erzielt und entsprechend gefeiert wird? Du meine Güte: Der Bursche aus Norwegen ist nun mal der Mann der Stunde. Das wird man vielleicht verkraften können – erst recht im Sinne des Vereins und seiner Ziele.

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Wir erinnern uns an Reus‘ goldene Worte in einem TV-Kurzinterview: „Ist das euer Ernst? Kommt mir nicht mit eurer Mentalitäts-Scheiße! Das geht mir so auf die Eier mit euch, ehrlich!“




Nachdenken über Städtebau, Rechtsradikalismus und die autoritäre Persönlichkeit – Vorträge von Theodor W. Adorno

Also schrieb Botho Strauß in seinem 1981 erschienenen Buch „Paare Passanten“ über Theodor W. Adorno, anlässlich einer Lektüre der „Minima Moralia“: „Wie gewissenhaft und prunkend gedacht wurde, noch zu meiner Zeit! Es ist, als seien seither mehrere Generationen vergangen.“ Tatsächlich sind inzwischen etliche weitere Jahre vorübergezogen, seit Adorno, der Mitbegründer der „Frankfurter Schule“, seine Wirksamkeit vollends entfaltete. Doch eine Wiederbegegnung lohnt sich immer noch und allemal.

Jetzt sind gesammelte „Vorträge 1949-1968″ Adornos im Rahmen der Nachgelassenen Schriften bei Suhrkamp erschienen – wissenschaftlich sorgsam eingeordnet in die „Abteilung V – Vorträge und Gespräche, Band 1″.

Doch man muss hier keine Angst vor knochentrockenem Dozieren haben. Gewiss, Adorno (1903-1969) bewegt sich stets auf beachtlichen theoretischen Höhen, doch hat er gerade in seinen öffentlichen Vorträgen auch spürbar versucht, auf sein jeweiliges Publikum einzugehen, zuweilen gar geradezu unterhaltsam an dessen Verstand zu appellieren. Selbst beim wahrlich ernsthaften Vortrag über Rechtsradikalismus verzeichnet die Niederschrift einige Lacher im Publikum. Es war das Gelächter der Erkenntnis.

Was die Schönheit einer Stadt ausmacht

Das Themenspektrum der 20 Vorträge ist vielfältig und größtenteils von bleibender Relevanz. Es reicht von überaus differenzierten (wenn auch heute nicht mehr in allen Punkten nachvollziehbaren) musiktheoretischen Erwägungen und allgemeinen soziologischen Analysen („Die menschliche Gesellschaft heute“, 1957) über Fragen des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg („Städtebau und Gesellschaftsordnung“, 1949) bis hin zu einer nach wie vor aufschlussreichen Betrachtung über „Aspekte des neuen Rechtsradikalismus“ aus dem Jahre 1967, als die NPD aufkam. Apropos: Historische Differenzen und Details werden in einem umfangreichen Anmerkungs-Apparat am Ende des Bandes erschlossen.

Gehen wir – anhand von drei prägnanten Beispielen – chronologisch vor. 1949, als weite Teile Deutschlands noch in Kriegstrümmern lagen, empfahl Adorno einen demokratischen Wiederaufbau, an dem möglichst auch die Bürger beteiligt werden sollten – damals alles andere als eine Selbstverständlichkeit, heute zumindest formal vielfach üblich. Die „Schönheit“ von Städten als Mischung aus organisch und historisch Gewachsenem ist für Adorno nicht so sehr eine rein ästhetische Frage, sondern vielmehr eine soziologische: Sie habe sich phasenweise ergeben, wenn die Interessen der einzelnen Bewohner mit denen des Gemeinwesens übereinstimmten.

Im Geiste der Moderne

Diese Zeiten, in denen Wohnen und Arbeiten noch nicht räumlich getrennt waren, sind allerdings 1949 längst Geschichte. Und so rät Adorno denn auch zum Wiederaufbau im Geiste der Moderne, keineswegs zur Wiedererrichtung historischer Altstädte, deren gesellschaftliche Grundlagen entfallen seien. Ein Wiederaufbau des alten Nürnberg, so sein Beispiel, würde nur auf eine Spielzeug-Variante der Historie hinauslaufen. Ein entschiedener „Gegenschlag“ zum Gewesenen würde hingegen verbliebende Traditionen erst recht zur Geltung bringen.

Immer noch hochinteressant und in so manchen Punkten weiterhin gültig ist auch Adornos Vortrag über „Die autoritäre Persönlichkeit“ (1960). Auf der Grundlage langjähriger Untersuchungen arbeitet er abermals einige Kernpunkte seiner Thesen heraus. Die autoritätshörige Persönlichkeitsstruktur ist nach seiner Ansicht die Basis aggressiv-nationalistischen Unwesens. Der weit verbreitete Typus lasse lebendige Erfahrungen, die ihn verunsichern könnten, gar nicht mehr an sich heran. Also verhärteten sich seine irrationalen Vorurteile zusehends. Auch wenn heute andere Sozialtypen vorherrschen mögen, so erkennt man doch einige Züge dieser charakterlichen Prägung heute wieder, vielleicht sogar im wachsendem Maße – so etwa auch im „finsteren und brütenden Einverständnis“, das derlei Gruppierungen kennzeichne. Muss man da noch eigens Ross und Reiter unserer Tage nennen?

„Technik der plumpen Lüge“

Womit man beinahe bruchlos zum Thema Rechtsradikalismus überleiten kann. In seinem Vortrag von 1967, kurz vor dem Scheitelpunkt der bundesdeutschen Studentenrevolte, registriert Adorno, welche Teile und Regionen der Gesellschaft noch oder schon wieder für rechtsradikale Ideologien anfällig seien. Adorno befindet, dass diese Ideologie kein zusammenhängendes Theorie-Konstrukt ausgeformt hat, sondern weit überwiegend nur aus Propaganda und Machttechnik bestehe.

Unter dem Eindruck einer seinerzeit erstarkten NPD gerät das Phänomen in den Blick, dass von rechts (z. B. seinerzeit in der National-Zeitung) ganz bewusst an den Grenzen des „Sagbaren“ operiert wurde. Kommt einem nicht auch das neuerdings wieder bekannt vor? Auch geht es um systematische Fake-Behauptungen, die Adorno damals natürlich noch nicht so genannt hat. Er sprach von „solchen völlig irren und phantastischen Geschichten“ sowie von der „Technik der plumpen Lüge“. Oh, schreckliche Wiederholung!

Wahrheit im Dienste der Unwahrheit

Weiteres Zitat, bezogen auf rechtes Imponiergehabe: „Es wird mit Kenntnissen geprotzt, die sich schwer kontrollieren lassen, die aber eben um ihrer (Un)kontrollierbarkeit willen dem, der sie vorbringt, eine besondere Art von Autorität verleihen.“ Von Adorno erfundenes, aber triftiges Beispiel einer infamen Lüge aus rechten Kreisen: „Was? Das weiß doch jedes Kind! Und Sie wissen nicht, daß seinerzeit der Rabbiner Nussbaum gefordert hat, daß alle Deutschen kastriert werden sollen?“

Bemerkenswert auch Adornos fein unterscheidende Sicht auf den Umgang mit der Wahrheit: „Ich möchte (…) darauf hinweisen, daß keineswegs alle Elemente dieser Ideologie einfach unwahr sind, sondern daß auch das Wahre in den Dienst einer unwahren Ideologie (…) tritt…“ Dieser Umstand müsse bei der Gegenwahr berücksichtigt werden.

Überhaupt erwägt Adorno am Rande auch taugliche Abwehrstrategien gegen rechte Umtriebe. So solle man nicht moralisieren, sondern jenen Leuten, die noch erreichbar sind, deren eigene und eigentliche Interessenlage ganz klar vor Augen halten und die Tricks ihrer Anführer entlarven. Ob es (noch) hilft?

Theodor W. Adorno: „Vorträge 1949-1968″ (Hrsg.: Michael Schwarz / Theodor W. Adorno Archiv). Im Rahmen der Ausgabe „Theodor W. Adorno Nachgelassene Schriften, Abteilung V: Vorträge und Gespräche, Band 1″. Suhrkamp, 786 Seiten, 58 Euro.

 




Oh, schreckliche Sportart Völkerball – Sofort verbieten!

Ach, könnte man sich doch gegen alle Zumutungen des Lebens beschirmen... (Foto: Bernd Berke)

Ach, könnte man sich doch gegen alle Zumutungen des Lebens beschirmen! (Foto: Bernd Berke)

Dies vorangeschickt: Wir reden hier gewiss nicht über alle Kinder aller Eltern. Manche, ja viele, sehr viele wachsen auch in Deutschland unter unwürdigen oder gar gewaltsamen Bedingungen auf. Doch andererseits…

Andererseits gibt es in gewissen beflissenen Mittelschichts-Kreisen die Tendenz, den Nachwuchs (und sich selbst) quasi unbeschränkt vor allem Zumutungen des Lebens geradezu demonstrativ behüten zu wollen – zumindest, was den äußeren Anschein betrifft.

Das Helikopter-Phänomen ist zwischen Latte und SUV so oft geschildert worden, dass es längst zum komischen Klischee geronnen ist. Es verbindet sich aufs unfreiwillig Lächerlichste mit politischer Korrektheit und Unduldsamkeit, sollte da mal eine gegenläufige Meinung auftauchen.

Widersprüche will man einfach nicht hinnehmen und nicht wahrhaben. Ja, man hält sie nicht einmal mehr aus. Welch eine lebensferne Einstellung! Das Nicht-mehr-Aushalten anderer Auffassungen ist überhaupt ein Grundproblem dieser Gesellschaft. Zu dem Themenkomplex hat jüngst auch die Feministin und Philosophin Svenja Flaßpöhler der TAZ ein wichtiges Interview gegeben.

Genug der weitschweifigen Vorrede. Werden wir konkret. Denn wieder einmal haben wir ein neues Beispiel, natürlich – wie immer in derlei Fällen üblich – von „Experten“ aus dem Wissenschaftsbereich angestoßen und mitgetragen. Die Standard-Überschrift beginnt diesmal nicht mit „Experten warnen vor…“, sondern mit „Forscher fordern…“ Und was sollen sie schon fordern? Verbote natürlich. Man hat’s gern rigoros.

Verlierer*innen soll es gar nicht mehr geben

Kanadische Wissenschaftler*innen also (wir gendern hier ganz bewusst, um dem Kontext zu entsprechen) haben demnach für gutes Geld festgestellt, dass das seit Generationen in Schulen und anderswo gespielte, mehr oder weniger beliebte Völkerball (artverwandt in Nordamerika: Dodgeball) ein „Mittel der Unterdrückung“ und „legalisiertes Mobbing“ sei. Weil man nämlich laut Regelwerk Leute des gegnerischen Teams mit dem Ball treffen soll… Man könnte denken, dass damit Völkerball fast schon an Völkerschlacht grenzt. Jedenfalls, so die rigide Forderung, gehöre die Sportart abgeschafft.

Donnerwetter! Man könnte also einen Ball abkriegen und sich danach ganz, ganz schlecht fühlen. Denkt Euch nur: Es soll schon vorgekommen sein, dass böse Buben (oder Mädels) im Spiel absichtlich auf Mitschüler*innen gezielt haben. Doch nun wird uns endlich Gutes verheißen. Ganz klar: Wird kein Völkerball mehr gespielt, hört derlei übles Mobbing sofort auf, Lamm und Wolf lagern nett beieinander und der ewige Frieden bricht aus. Aber so was von!

Es gibt ja tatsächlich auch schon Leute, die überhaupt jedwedes Spiel ablehnen, bei dem es Gewinner und Verlierer gibt. Verlieren! O nein! Was für eine Schmach, die sich nimmermehr verwinden lässt! Den Herzchen ist es einfach egal, ob man dabei was fürs spätere Leben lernen könnte. Sie meiden jede mögliche „Verletzung“. Auch so kann man später ausbrechende Aggressionen züchten.




Literatur als Instanz ausgleichender Gerechtigkeit – Ulrike Anna Bleiers Roman „Bushaltestelle“

„Bushaltestelle“ – der schlichte Titel entspricht dem schicksalergebenen Wesen der Hauptpersonen dieses Romans. Doch darf von der Beiläufigkeit, mit der die Ereignisse daherkommen, keineswegs auf seichte Unterhaltung geschlossen werden. Ulrike Anna Bleier unterschätzt ihre Leserinnen und Leser nicht.

Das aufregende Leseerlebnis verdanken wir weitgehend der Kunst der Autorin, die notwendigen Informationen geschickt zu dosieren. Es ist bei aller Unaufdringlichkeit im Erzählton eine Menge Ungeheuerliches, was den Romanfiguren widerfährt.

Geografisch springt die Handlung zwischen einer kleinen Stadt in Bayern, unweit der tschechischen Grenze, und dem lange Zeit hinterm „Eisernen Vorhang“ verborgenen Nachbarland, das in seiner Geschichte einmal Tschechoslowakei hieß und leider auch einmal von deutscher Seite Protektorat Böhmen und Mähren genannt wurde.

Komplexes Beziehungsgeflecht

In kurzen Kapiteln mit jeweils eigenen Überschriften wird ein zeitlicher Bogen über vier Generationen gespannt; Tochter, Mutter, der Bruder der Tochter mit Frau und Kindern, die Geschwister der Mutter, zusätzlich eine Adoptivtochter der Großeltern, die Partner und Partnerinnen der Hauptpersonen sowie einige Nachbarn bilden ein komplexes Beziehungsgeflecht.

Im Mittelpunkt steht Elke, die eigentlich – in ihrer Familie und was ihre gesellschaftliche Stellung betrifft – so überhaupt nie im Mittelpunkt gestanden hat. Grammatisch in der 2. Person, der Du-Form, erzählt sie die Geschichte von Theresa, der abwesenden Mutter. Geht es jedoch um Elkes eigene Geschichte, wechselt die Erzählperspektive in die 3. Person. Womöglich ist Elkes Selbstbewusstsein zu wenig ausgeprägt, um aus einer Ich-Perspektive von sich erzählen zu können. Da ist kein starkes Ich vorhanden. Wie sollte es sich auch entwickelt haben bei ihr, die seit ihrer Geburt von der Mutter abgelehnt wurde.

Traumatische Geburt

Es war eine traumatische Geburt; Theresa hat viel Blut verloren und wurde ohne Narkose mit zwanzig Stichen „zugenäht“. „Die Jahre danach waren die schlimmsten, kaum konntest du die Geräusche des Kindes ertragen, sein Schmatzen nicht, sein Brabbeln nicht, sein Gurgeln nicht, selbst sein Atmen nicht, geschweige denn das Weinen und Schreien. Du hast dem Kind deshalb schnell abgewöhnt, Geräusche zu machen, Töne von sich zu geben (…).“

Ungeliebter Ehemann

Zu Theresas Entsetzen hat Elke die roten Haare ihres Vaters, Sepp. Ihn hat Theresa nur geheiratet, weil die sich anbietenden Alternativen noch schlimmer gewesen wären; es war eine Dann-schon-lieber-den-Sepp-Heirat. Bevor Theresa ihrer Mutter das Kind zeigt, setzt sie ihm eine Mütze auf.

Im Grunde hat Theresa immer ihren Bruder Martin geliebt. Theresas Schulabschluss wollen Martin und sein Freund Sepp mit einem Ausflug in ihrem Hanomag feiern. Theresa willigt ein, wegen ihres Bruders Martin, nicht wegen Sepp. Der (…) „ist neben dir gesessen, rechts von dir, Bein an Bein, und hat den Arm auf deine Rückenlehne gelegt, sodass er mit seiner Hand so nah an deinem Haar war, dass du sie zu spüren geglaubt hast, und du hast Angst bekommen, dass sich deine Haare bewegen und zum Feind überlaufen könnten.“

Bußgebete nach Gutdünken

Es kommt während des Ausflugs zu einem Unfall, für den wahrscheinlich Sepp weniger als Martin verantwortlich ist, aber Sepp begreift seine Schuldgefühle auch als Chance, sich Theresa zu nähern, die sich im Krankenhaus seiner Fürsorge nicht erwehren kann.

Der Pfarrer, der Theresa die Beichte abnimmt, scheint die Anzahl der zur Buße auferlegten Vaterunser und Ave Maria nach Gutdünken zu bemessen; „(…) du warst dir nicht einmal sicher, ob er wirklich mit dir sprach oder mit einer anderen Person, einen Moment lang hattest du das Gefühl, dass der Pfarrer noch einen weiteren Büßer bediente, vielleicht auf der anderen Seite des Beichtstuhls (…).“

Für die Verweigerung der ehelichen Pflicht sind mehr Vaterunser und Ave Maria zu beten als für die Missachtung des Vaters oder für den Verrat am Bruder und an der Schwester Marlene, die, nachdem Theresa die über eine unschuldige Geschwisterliebe hinausgehende Beziehung Theresas mit dem gemeinsamen Bruder Martin aufgedeckt hat, nur noch im Kloster leben kann.

Der kleine Bruder

Trotz der Zurückweisung des Ehemanns und trotz der Überempfindlichkeit nach Elkes Geburt bringt Theresa ein zweites Kind zur Welt, dieses Mal mit einem Schnitt, den sie unter Narkose nicht mitbekommt. Den Jungen, den sie leider nicht nach ihrem Bruder Martin nennen darf, dafür aber den ähnlich klingenden Namen Markus wählt, wird sie abgöttisch lieben.

Das Mädchen wird im mehrfachen Sinne zu einer Außenstehenden. Bereits als Kind lernt Elke, aus ihrem Körper herauszutreten. Zum ersten Mal wird ihr diese Fähigkeit während einer Busfahrt, zu der eine Nachbarin sie eingeladen hat, bewusst. „Und plötzlich fand sie sich da wieder, wo sie hinstarrte, und das war die andere Seite der Busfensterscheibe, erst noch in der Luft und dann an einer Ecke, wo sie sich umsah und dann winkte, dorthin winkte, wo sie stehengeblieben war, und dem Bus, in dem ihr eigener Körper saß, hinterherblickte.“

Blicke durch Fenster

Die andere Seite, die Sicht von außen, Blicke durch Fenster, der Doppelgänger oder Wiedergänger durchziehen leitmotivisch den Roman. Wenn Elke später von Markus, seiner Frau Helen und den Kindern Luisa und Pierre in Tschechien besucht wird, mieten sich alle in einer Pension ein:

„Ein paar Meter weiter befindet sich ein Fenster zum Gastraum des Restaurants. Elke schaut durch dieses Fenster wie von einer Welt zur anderen.

Auf einer langen Bank sitzen Helen, Markus und die Kinder. Die Kinder essen Pommes und trinken Saft. Helen trinkt Wasser, Markus ein Bier. Sie sind vertieft in etwas, das auf dem Tisch liegt, vielleicht ein Prospekt. Eine Landkarte. Ein Brief, den sie schon ein paar Mal studiert haben, ihn aber nicht verstehen. Sie sehen so ernst aus.“

Beobachtende Präsenz

Es ist das Außerhalb-Stehen, das die innere Distanz ermöglicht. Elke wurde als Kind stets übersehen, und spätestens im Erwachsenenalter bekommt ihre beobachtende Präsenz etwas Unheimliches. „Markus blickt plötzlich in Richtung Fenster, aber er kann niemanden sehen, weil Elke kein Licht in der Diele gemacht hat.“

Bevor die Kinder da waren, hatten Markus und Helen die Mutter einmal auf einen touristischen Ausflug nach Prag mitgenommen. Elke sieht die drei, aber es kommt zu keiner Begegnung. Über Theresa weiß sie: „(…) du hast sogar das Café auf der gegenüberliegenden Straßenseite gesehen, hast gesehen, wie Gäste hinein- und Gäste herausgingen, aber du hast nicht gesehen, dass es der Ort war, an dem Elke darauf wartete, dass du das Hotel verlassen würdest.“

Ein anderer solcher gespenstischen Momente begegnet uns an der Endstation eines Zuges, aus dem sie vergessen hat auszusteigen: Der Bahnsteig ist ansonsten leer. Eine Geisterstadt. Elke sieht sich selbst am Fenster stehen und hinausschauen und etwas steht auf der anderen Seite und sieht hinein.

Ein Klassenfoto

Von den Klassenfotos ihrer Tochter hat Theresa nur ein einziges ausgewählt, eines, auf dem die Lehrerin nett lächelt; sie hatte offenbar nicht bemerkt, dass gerade auf diesem Foto Elkes Gesicht von einem Mitschüler verdeckt ist – als kündigte dieses frühe Unkenntlichkeit bereits ihr späteres Verschwinden an.

Elke verlässt als Jugendliche das Elternhaus ohne jede Ankündigung. Was die Familie lange Zeit nicht erfahren sollte: Sie nimmt die Spur von Magdalena auf, der Frau, die von ihrer Großmutter adoptiert worden war und die neben Theresa wie eine Schwester aufwuchs. Während des Krieges war Magdalena als Funkerin ins Protektorat Mähren, nach Brünn, gegangen und wurde dort die Geliebte von Hans, einem Nazi. Als Partisanen die Burg besetzten und die Nazis hinrichteten, wurde Magdalena, von einem Exekutionskommando in die zweite Reihe gestellt, im letzten Moment aber von einem der Partisanen gerettet. Elke findet die Frau, die sich nun Madla nennt, und lebt einige Zeit mit ihr auf der Burg. Mit einer Anita aus Jena, die in den Westen möchte, tauscht Elke den Pass, da beider Fotos sich – bis auf die Haarfarbe – zum Verwechseln ähnlich sehen.

Mit Anitas Identität beginnt Elke ein Studium und lernt Boris kennen. Aber eine dauerhafte Beziehung wird daraus nicht. Elke kann auch ihm ihre Geschichte nicht erzählen. Bei einer Wiederbegegnung mit ihm, Jahre später, „fällt Elke zum Glück wieder ein, dass Boris auch sie nicht fragen wird, nicht nach dem Was und dem Warum und dem Wohin und dem Wo und dem Woher, und sie entspannt sich und hört ihm zu und vergisst alles, was er sagt, noch während er es sagt.“

Pointierte Prosa

Das alles wird uns nicht in der zeitlichen Reihenfolge erzählt; die Lektüre wird zum Puzzle und bleibt trotz der düsteren Geschehnisse ein reizvolles Abenteuer. Es ist Ulrike Anna Bleiers pointierte Prosa, die ihre Figuren so gut vorstellbar werden lässt. Die Autorin versteht es, die Eigenheit von Charakteren mit wenigen Strichen zu skizzieren; zum Beispiel als Elke auf die Familie ihres Bruders Markus zugeht: Der zweijährige Pierre „zeigt mit dem ausgestreckten Finger auf Elke, die vom Marktplatz her kommt, als wolle er auf sie zielen, dann winkt er aufgeregt. Dann winken Luisa und Helen und am Schluss winkt auch Markus, er winkt mit großer Geste, als habe er das Winken persönlich erfunden.“

Von Generation zu Generation

Muster wiederholen sich, werden von Generation zu Generation weitergegeben. Nicht nur die roten Haare, die auch bei Elkes Nichte Luisa wieder auftauchen, vererben sich. Auch das Motiv der juckenden Wunde – bei Theresa seit dem Unfall besonders ausgeprägt – wird auf mysteriöse Weise tradiert. Und nicht zuletzt das Thema des Verschwindens, das sich durch den Roman zieht. Bereits in Ulrike Anna Bleiers erstem Roman, Schwimmerbecken, der es 2017 als eines der zehn besten Bücher aus der Produktion unabhängiger Verlage auf die Hotlist schaffte, ging es um das Verschwinden – und das Wiederauftauchen – eines der Protagonisten. In Bushaltestelle verschwinden außer Elke gleich mehrere Personen, manche im Krieg, andere, um dem Elternhaus zu entkommen, und bei dem Jüngsten, Pierre, wohl eher aus Versehen.

Lakonische Erzählstimme

Ohne das treffsichere Sprachgefühl der Autorin, das sich oft in einer lakonischen Erzählstimme äußert, wäre die Lektüre der traurigen Geschichten wohl kein Vergnügen. Das folgende Beispiel soll den Aufbau eines Satzes, das Fortschreiten eines Gedankengangs, verdeutlichen – Martin, Elkes Onkel, hat bereits während des Kriegs mit einer Sondergenehmigung Magdalena und Hans auf der Burg in Mähren besucht:

„Dein Bruder gefällt mir, hatte der Hans gesagt, er ist eine ehrliche deutsche Haut, und Tante Madla dachte in ihrer Küche über den Ausdruck nach, ehrliche Haut, denn bei Haut dachte sie an Abziehen bei lebendigem Leib, ob ehrlich oder nicht, doch nirgendwo zog man Martin die ehrliche Haut ab, er erhängte sich ganz einfach, zuhause in der Wehrgasse, mit einem Kleiderbügel im Kleiderschrank.“

Das kurze Kapitel, in dem wir auf diese Weise von Martins Suizid erfahren, ist „Kleiderbügel“ überschrieben. Theodor W. Adorno hat in seinem Nachwort zu Walter Benjamins Briefsammlung Deutsche Menschen (1936) den Lakonismus die „sprachliche Form der bedeutenden Nüchternheit“ genannt. Alles an dieser Kennzeichnung trifft auch auf Bushaltestelle zu – der ausgeprägte Formwille, die Bedeutsamkeit des Erzählten und die Nüchternheit, mit der vom Unfassbaren gesprochen wird.

Bedeutende Nüchternheit

Scheinbar banale Tätigkeiten wie Theresas ewiges Putzen des Hauses werden zu einer vielschichtigen Metapher. Obwohl du die Wohnung zweimal die Woche geputzt hast, war das Wasser immer schwarz vor Schmutz. Doch haben an die Mutter gerichtete Sätze wie Nur beim Putzen warst du du selbst nichts Denunzierendes. Die Autorin will ihre Romanfiguren nicht anschwärzen, sie zeigt vielmehr die Bedeutung des Unscheinbaren auf. Und auch Elke in ihrem Gedankenmonolog will ihre Mutter verstehen, nicht brandmarken: „Es sind die kleinen alltäglichen Herausforderungen, die dich am Leben halten, Wäsche waschen, Vorhänge ab- und aufhängen, einkaufen, Müll wegbringen.“

Ein gut geputztes Haus und saubere Wäsche hat sie kennengelernt – eine Familie jedoch, in der sich eine(r) an den/die andere(n) anlehnen kann, wie Elke das bei Helen, Markus und ihren Kinder beobachtet, eine solche Familie hat Elke nie kennengelernt. Sie bleibt zeitlebens das Kind, das der Mutter zu viel war.

Seilbahnfahrt als Familienaufstellung

Bei einem der seltenen Familienausflüge in die Berge verhindert die Mutter geradezu gewaltsam, dass ihr Lieblingskind Markus mit dem ungeliebten Ehemann in einer Seilbahngondel zu sitzen kommt und zieht den Jungen zu sich in die nächste Gondel. Und Elke? Der Mitarbeiter an der Talstation „wusste nicht, wohin mit dem übriggebliebenen Kind, dem die Haare rötlich und wirr ins blasse Gesicht fielen; in jeder Gondel war nur Platz für zwei Personen, und so schubste der Mann das Kind in die nächste freie Kabine und sagte: Brauchst keine Angst haben, ist bisher noch jeder wieder runtergekommen.

Die Tür schloss sich mit einem Knall.“

Dieser Bergausflug liest sich wie eine aussagekräftige Familienaufstellung. Einsam in einer Seilbahngondel, starrt Elke auf Verbotsschilder, auf denen Personen, die sich aus dem Fenster lehnen und herausfallen, durchgestrichen sind. Auf keinen Fall wollte Elke zu diesen durchgestrichenen Menschen gehören.

Der Autorin gelingt es mit ihrem empathischen Blick, solche Durchstreichungen von Menschen zurückzunehmen und den im Leben Benachteiligten eine ausgleichende Gerechtigkeit als Romanfiguren zuteilwerden zu lassen. Liebe, Anerkennung, ein erfülltes Leben oder die volle Ausbildung der geistigen Kapazitäten, Notwendigkeiten, die das gute Recht eines jeden Menschen, die jedoch bei keinem Gericht der Welt einklagbar sind – es bedarf solcher Autorinnen wie Ulrike Anna Bleier, um die Ungesehenen aus ihrem Schattendasein ins Licht zu rücken. Literatur, Kunst überhaupt, ist eben doch die letzte Instanz.

Ulrike Anna Bleier: „Bushaltestelle“. Roman. lichtung verlag, Broschur, 224 Seiten, 17,90 Euro.




Daniel Paul Schrebers Wahnvorstellungen – „Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken“ in Bochum uraufgeführt

Raphaela Möst, Simin Soraya,  Therese Dörr, Veronika Nickl (v.l.)  (Foto: Vincent Stefan/Schauspielhaus Bochum)

Alle tragen sie zu Beginn hohe schwarze Zylinder. Doch bei vier Personen lugt unter dem Gehrock ein Damenkleid hervor. Eine Holzvertäfelung verheißt Gemütlichkeit, doch das eigentümliche Gebilde in Bühnenmitte, Konzertflügel ebenso wie Billardtisch, irritiert. Auf den zweiten Blick ist hier vieles nicht so, wie es sein sollte, auch die Beziehungen zwischen den Personen sind es schon bald nicht mehr. Wer ist hier Arzt, wer Patient? „Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken“ ist das Stück betitelt, das nun im Bochumer Schauspiel seine Uraufführung erlebte.

Therese Dörr (Foto: Vincent Stefan/Schauspielhaus Bochum)

Acht Jahre in der Anstalt

Die „Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken“, denen Stefan Wipplinger und Fabian Gerhardt (auch Regie) in Bochum eine dramatische Form geben, verfasste zwischen 1894 und 1902 der Psychiatriepatient Daniel Paul Schreber, während seines Aufenthaltes in der Anstalt Sonnenschein. Dieser zweite Psychiatrieaufenthalt währte lange acht Jahre. Vater des Patienten war übrigens der nicht unumstrittene Orthopäde und Begründer der Schrebergarten-Bewegung, Dr. Moritz Schreber.

Bis zu seiner erneuten Erkrankung war Schrebers Karriere steil nach oben verlaufen. Trotz eines sechsmonatigen Klinikaufenthaltes 1884/1885 war er 1893 zum Senatspräsidenten am Oberlandesgericht Dresden ernannt worden, zu Sachsens oberstem Richter mithin. Doch im Herbst desselben Jahres kehrte die Geisteskrankheit zurück, diesmal endgültig.

Strahlensystem und Nervenschwingungen

Schreber hörte Stimmen, stand durch ein Strahlensystem mit Gott in Verbindung, war der Überzeugung, dass Nervenschwingungen den Urgrund allen Seins bildeten und so fort. Sein Verdienst liegt darin, diesen Wahnideen in seinem 1903 veröffentlichten Text brillant und in sich schlüssig Ausdruck gegeben zu haben.

„Seit Freud und Lacan sind Daniel Paul Schreibers Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken das meistzitierte und meistinterpretierte psychopathologische Zeugnis der abendländischen Psychiatriegeschichte“, ist dem Programmheft (in den Worten Martin Stingleins) zu entnehmen. Sigmund Freud, Elias Canetti und andere beschäftigten sich mit Schrebers Text.

Jürgen Hartmann, Raphael Möst, Therese Dörr, Günter Alt (v.l.) (Foto: Vincent Stefan/Schauspielhaus Bochum)

Auf der Bühne bleibt von dem komplexen Gedankengebäude des Kranken nicht gar so viel übrig. Das bühnentauglichste Motiv ist offenbar Schrebers Wunsch, eine Frau zu sein. Wegen seiner im gesamten Kosmos einmaligen Nähe zu Gott, so argumentiert er, müsse er in der Lage sein, den göttlichen Keim zu empfangen, um einen Erlöser zu gebären.

Siegmund Freud erkannte in Schrebers Paranoia „das Auftreten einer femininen (passiv homosexuellen) Wunschphantasie“. Zudem gab es mit dem Psychiater Dr. Paul Emil Flechsig neben Vater Schreber einen weiteren Mann im Leben des Patienten, auf den sich unterdrückte homosexuelle Wünsche gerichtet haben könnten.

Die Stimmen kann man nicht verbieten

Live-Musik – eher verhalten, suchend – spielt Michael Emanuel Bauer mal auf dem Flügel, mal auf dem Kinderklavier. Die mit Schnurrbärten und bunten Röcken absichtsvoll widersprüchlich gewandete Damenriege (Raphaela Möst, Simin Soraya, Therese Dörr, Veronika Nickl) bildet einen eindrucksvollen, facettenreichen polyphonen Chor der Stimmen, die gleichzeitig locken und verbieten, aber selten ruhig sind. Mal sind sie aber auch, gewandet als phantasievolle Flatterwesen, „Gott“ oder doch wenigstens die Verbindung zu ihm, mal tumbe Protokollanten, die alles aufschreiben, ohne es zu verstehen. Und mal auch vierfaches weibliches Alter Ego, das tun darf, was der Patient gern tun würde. Wie sie flirren und gurren und einfach oft nur lästig sind, geben sie den Qualen des armen Schreber bildhaft Ausdruck.

Günter Alt, Jürgen Hartmann, Simin Soraya (v.l.) (Foto: Vincent Stefan/Schauspielhaus Bochum)

Vielleicht könnte man ihnen vorwerfen, insgesamt gesehen zu lustig zu sein, zumal es für das Leiden kein adäquates Schauspiel gibt, sondern nur gut gesetzte Videobilder (Vincent Stefan). Andererseits tut der gemessen heitere Grundton dieser Inszenierung dem Stückverständnis gut; es reicht, das Leiden in einer Psychiatrie des 19. Jahrhunderts mit ihren Irrenwärtern und Kaltwasser-Schockbehandlungen, wie hier, nur anzudeuten.

Gediegene Konversation

Doktor und Patient, zwei Herren erkennbar aus besseren Kreisen, pflegen meist den gediegenen Konversationston. Der eine fragt, der andere weiß; immer wieder, ein Spiel, tauschen sie ihre Rollen, und einmal auch kreuzen sie die Klingen vor dem Billardtisch, die hier aber lediglich die Queues sind. Ein symbiotisches Verhältnis, in welchem man dem etwas fülligen Günter Alt den allmächtigen Psychiater eher abnimmt als dem schlankeren Jürgen Hartmann, der letztlich doch der Patient bleibt. Der war er schon gleich zu Beginn, als er sich dem Publikum vorstellte.

Trotz projizierter Kapitelüberschriften (wohl aus dem Originalbuch) ist die chronologische Struktur locker gehalten, wirkt die Darbietung über längere Strecken hin eher wie ein Tableau des Ungeheuerlichen, als wie ein Stufenmodell des Niedergangs. Dem Titelhelden, und das ist fraglos eine Qualität dieser Inszenierung, merkt man in all seiner Not doch auch an, dass er ein Kämpfer ist, ein systematischer Denker, ein schlauer Kopf, und sein Anderssein (vielleicht auch: seine Verrücktheit) nicht als Totalverlust ertragen will.

Könnte man ihm heute helfen?

Eindrucksvoll schließlich geriet das Bühnenbild Christian Wiehles, das neben sparsamer Möblierung von Fransenvorhängen geprägt ist, die gleichsam die Allgegenwart von unendlich vielen Nervenbahnen symbolisieren. Die Vorhänge ermöglichen der Damenriege sogar Andeutungen von „Show-Acts“, heiter wie sinnfällig.

Eine ernsthafte, neugierige Inszenierung ist Stefan Wipplinger und Fabian Gerhardt in Bochum gelungen. Vielleicht wäre es schön gewesen, aus heutiger Sicht eine Diagnose zu hören, vielleicht auch eine Antwort auf die Frage, ob und wie man diesem Patienten heute helfen könnte. Doch mit solchen Themenstellungen wäre es ein anderes Stück geworden. Für dieses Stück und seine präsent agierende Darstellerriege jedenfalls gab es lang anhaltenden, begeisterten Applaus.




Mutter, Tochter, Spüli

Eben bei Edeka: eine Tante, entnervt, schwer beladen, aus ihrem Korb quillt schon sehr viel Wohlfeiles, auf den Armen balanciert sie auch noch Zeugs und angelt grad nochmal in die Kühltruhe nach Plastikcontainerchen mit Fleischlappen.

Spüli, Kuli auf Zettel, 9,5×9,5cm, 2018 (© Thomas Scherl)

Hinter ihr: das Töchterlein. Blühendstes Hormonchaos mit mürrisch-gelangweiltem Fluntsch (wie man halt so guckt in dem Alter, wenn man mit Muttern einkoofn muß). Latscht, die Hände in den Taschen und ich drauf&dran, daß ich sie anstupse und ihr ein »Mensch, jetzt hilf doch mal« zuraunze. ((Aber weil ich ein angenehmer Mensch bin, laß ich’s bleiben.) (Außerdem weiß man heut ja nie. Am End les ich dann so in zwanzig Jahren in der #meToo-Gazette meinen Namen. Neeneenee, lieber nich.))

Dann, als die beiden schon fast an der Kasse sind: »Spüli, wir brauchen noch Spüli!«, sprach Mutter zu ihrem Töchterlein und das latscht auch folgsam davon und prinzipiell sogar in die richtige Richtung. Vor dem Regal mit Zahnpasta, Duschzeugs usw usf steht sie. Und überlegt. Man sieht in ihrem Köpfchen zäh die Zahnräder sich bewegen (»drehen« wär in dem Stadium des Vorgangs noch zu viel gesagt). Und wenn alle ganz leise gewesen wären, hätt‘ man’s sogar ein bißchen knirschen gehört.

Ziehendes und gezogenes Trum: ah, jetzt wird das Ergebnis rufend ausgegeben: »Mama! Was ist Spüli?« (Bei »unserem« Edeka ist besagtes Regal gut zehn Meter von der Kasse entfernt und ums Eck gehts auch nochmal.)
Irgendwo im Regallabyrinth kicherts.

»Spülmittel!«, ich.
Irgendwo im Regallabyrinth lachts.

»Geschirrspülmittel!«, die Mutter.
An vielen Stellen im Regallabyrinth lachts lauter.

Je nu, ich konnts dann nicht weiterverfolgen, aber irgendwie hat sie die Aufgabe dann doch gemeistert. Applaus, mesdames et messieurs! Auf daß das Kind keinen bleibenden Seelenschaden trage!

An der Kasse seh ich die beiden dann nochmal und belausche Muttern (gehetzt): »Schnell! Jetzt kommt gleich die Sendung im Fernsehn, über Papas Firma.«

Ok, jetzt wär das also auch geklärt.




„reboot : jetzt erst recht“ – nach neun Jahren wieder zurück auf den Kunstmarkt

Als Künstler mit Ende 40 nach einer fast 9jährigen Auszeit mit Burnout-Qualität doch wieder zurück auf den »Markt«.

Kulitattoo "Jetzt erst recht"

Jetzt erst recht – Entwurf für eine Tätowierung / s/w-Foto / 18x24cm / mit schwarzem Rahmen: 28x38cm / 2017 / Preis auf Anfrage

Die alten Freundschaften zerbrochen wie die Netzwerke von damals.
Ne Ausstellung organisieren? Wie geht das nochmal? WTF Pressearbeit? Texte schreiben? Flyer machen? Plakate? Hä?
Der Autopilot funktioniert noch, stottert aber ’n bißchen.

Und überall tummeln sich eh schon die Jungen, Glücklichen, Erfolg­reichen, die Generation, die von den Eltern überall hingefahren wurde oder die Alten, die alles richtig gemacht haben und von Ausstellung zu Ausstellung zu Sammler zu Katalog zu Buch zu Besprechung in der FAZ zu Ankäufen rumgereicht werden. (Ok, die andern gibt’s auch noch.)

Selber schleppt man dieses Stigma rum, daß man zu lang weg vom Fenster war, weil man bei dem ganzen Kunstmarktscheiß nur noch kotzen mußte. Bin ich Künstler oder Verkäufer?

Irgendwann guckt man dann zum tausendsten Mal seine Sachen an und weiß, jetzt geht’s nicht mehr anders und man kann ja eh nur das und was anderes will man sowieso nicht.

Also anfangen, unbeholfen, Müll wegräumen, ständig fällt was runter, kippt um, nix klappt ohne Knirsch, man stellt sich an wie ein Depp. Trotzdem. Zurück ans Fenster. Was nutzt die beste Kunst, wennse keiner sieht?

Dann steht und hängt alles, ’n paar Leute sind auch da, ich hab mich wie ein Viertklässler durch die Begrüßungsrede und’s Künstlergespäch gewurschtelt.

Ich atme tief, guck mir das Kulitattoo auf meinem Arm an (Preis auf Anfrage) und mach mir ’n Bier auf:

reboot : jetzt erst recht
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(Text und Bild sind meine Bewerbung für den den open call »Haut zu Markte tragen« der Künstlergruppe Group Global 3000 [https://groupglobal3000.de/haut-zu-markte]
Das Foto ist/war Teil meiner Ausstellung »Thomas Scherl aka ©scherl @ Galerie Erika«, 13. – 27.7.2017, Quickborn, »Jetzt erst recht« der Arbeitstitel.
Dokumentation: https://www.facebook.com/events/102826140305647
Galerie Erika: http://www.galerie-erika.de)




Ein Herz für Hassende im Internet – „Flammende Köpfe“ von Arne Vogelsang im Dortmunder Theater

Arne Vogelgesang, Autor, Regisseur und Darsteller von „Flammende Köpfe“ (rechts), neben Videoprojektion (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Theater ist das eigentlich nicht. In der „Video-Lecture“ mit dem Titel „Flammende Köpfe“ von und mit Arne Vogelsang, jetzt zu sehen im Dortmunder „Megastore“, sitzt der Nämliche in Bühnenraummitte hinter seinem Schreibtisch am Computer, erzählt (bzw., es ist ja eine lecture, liest sein Manuskript vor) und bespielt zwei große Projektionswände links und rechts von sich mit Ausschnitten aus YouTube-Videos, in denen Haß-Menschen Haß-Reden halten.

Vogelsang ist, wie er selbst beschreibt, fasziniert von diesen oft wutschnaubenden, manchmal mahnenden, manchmal larmoyanten Selbstdarstellern aus der, wie man wohl sagen kann, rechten bis ganz rechten Ecke. Mit ihnen und ihresgleichen verbringt er (am Computer) mehr Zeit als mit seiner Frau, sagt er. Sein Verhältnis zu ihnen ist geradezu zärtlich, er weiß unglaublich viel über sie und nennt sie bei ihren Vornamen.

Zart und verletzlich: „jugendlicher“ Avatar (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Animierte Avatare

Aus seiner lange schon währenden Computer- und Internet-Obsession hat der 40jährige Autor, der in Berlin (Ost) zur Welt kam und in Wien Regie am Max-Reinhardt-Seminar studierte, eine Art Soloabend gemacht, zu dessen besonderen Ausschmückungen es gehört, daß Vogelsang die Köpfe seiner Haßprediger am Computer nachbaut und zu animierten Avataren macht. Sie bilden eine Art Ahnengalerie über der Bühne, die sich (qua Projektion) im Laufe des Abends immer weiter füllt.

Die animierten Köpfe sehen putzig aus, wenn sie sich bewegen, ein weiterer Sinn des Nachbaus erschließt sich indes nicht. Daß sie sich alle recht ähnlich sind, ist für sich genommen noch keine aufrüttelnde Message. Ebenso erschließt sich nicht recht der Mehrwert einer weiteren inszenatorischen Maßnahme: Statt den O-Ton zu bringen, spricht Vogelsang manche Textpassagen seiner Figuren. Das ist nett, der Mann kommt ja vom Theater, aber doch weit entfernt von jeder Anmutung eines Erkenntnis befördernden Brechtschen V-Effekts.

Arne Vogelgesang, Video eines Haßredners (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Was sind das bloß für Leute?

Und jetzt muß ich mal kurz persönlich werden. Für jemanden wie mich, der das Internet eher lästig findet, das iPhone verschmäht und seit ewigen Zeiten um 20 Uhr Tagesschau guckt, ist Vogelsangs Typen-Panoptikum der Ausflug in eine fremde Welt. Was sind das für Leute, die in reicher Zahl Wut- und Haß-Videos von sich drehen und sie ins Netz stellen? Hat es die früher auch gegeben? Sind sie von Moskau ferngesteuert (wie man zu Zeiten des Kalten Krieges hätte mutmaßen können)? Sind sie gefährlich? Sind sie das Volk (wie viele von ihnen auf die eine oder andere Weise behaupten)?

Der große Stammtisch im Internet

„Es genügt nicht, keine Meinung zu haben; man muß auch unfähig sein, sie auszudrücken“, formulierte vor vielen Jahren der große Kabarettist Wolfgang Neuss. Er meinte die geradezu empörend unpolitisch sich gebende Bundesrepublik der frühen Jahre, die „Weiter so“- und „Schwamm drüber“-Volksgenossen nach der Weltkriegskatastrophe. Geäußert werden die Menschen sich indes damals schon haben, am notorischen Stammtisch vermutlich, an Orten, wo man unter sich war. Und ein bißchen was hat das Internet ja wirklich von einem großen Stammtisch, an dem allerdings der direkte Dialog nicht mehr möglich ist. Das gebiert einen spezifischen Autismus, der mehr oder minder allen Monologisierern in diesen Videos eigen ist. Dieser Autismus enthemmt, was logisch ist, weil die sozialen Regulationen wegfallen.

Arne Vogelgesang am Schreibtisch, Avatar-Typenkabinett in der Hintergrundprojektion (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Keine Kommunikation

In gewisser Weise – ich hoffe, ich kriege die Kurve noch – paßt Wolfgang Neuss’ Beobachtung aus den frühen 60er Jahren bruchlos auf die Redenschwinger im Internet. Ob sie wirklich eine Meinung haben oder nur Objekte ihrer düsteren Affekte sind, wird nicht wirklich klar. Auf jeden Fall aber haben sie eigentlich alle ein Vermittlungsproblem. In nahezu jedem Vortrag fällt auf, wie schlecht sie die vermeintlichen Mißstände beschreiben. Was soll man beispielsweise damit anfangen, daß jemand sich über „den Tagesspiegelkommentar im Deutschlandfunk“ unglaublich erregt? Man müßte den Kommentar ja erst einmal lesen, um ihn verstehen zu können. Am ehesten noch werden Haßtiraden verständlich, wenn ihre Ausgangspunkte mit Schlagworten zu benennen sind, „Ausländer“, „Kölner Ereignisse“, „Deutschland in Gefahr“, „Merkel muß weg“ und ähnliches. Doch Begründungen, saubere thematische Ableitungen oder was immer des denkenden Menschen Verstand erfreuen könnte, bleiben seltene Ausnahmen. Man gewahrt Irre, denen normale verbale Kommunikation nicht mehr zur Verfügung steht.

Nicht ohne Küchenpsychologie

Das Unbewußte, à propos, bricht sich natürlich immer wieder Bahn. Die Frau, die sich in „Merkel muß weg“-Tiraden ergeht, wird plötzlich ganz süffisant: Nein, den Tod wünsche sie der Verhaßten nicht, sondern ein langes, langes Leben. In Ketten. In einer engen Zelle, in der es keine Kommunikationsmaschinen gibt, mit einem taubstummen Wärter. Küchenpsychologisch könnte man sagen, daß diese Folterphantasien der realen Existenz vieler Haß-Redner in ihrem autistischen Alltagsdasein recht nahe kommen dürften, der diffusen Wahrnehmung ihres qualvollen Kommunikationsdefizits in der Projektion auf das Haßobjekt.

Wenn ich es richtig in Erinnerung habe, hat Vogelsang in seiner Einleitung gesagt, daß der Bestand an YouTube-Material weltweit in jeder Sekunde um fünf Stunden zunimmt. Es war jedenfalls eine imponierende Zahl, die auf ihre Art auch tröstlich ist; sagt sie doch aus, daß der Wert jedes einzelnen Haß-Beitrags kontinuierlich an Bedeutung verliert. Aber verstörend sind diese Verstörten schon, keine Frage.




Voodoo aus der Dose – Wo soll das alles enden?

Puppe, Nadeln, Dose - Screenshot mit Komplett-Sets zur Arbeitswelt (links) und Liebe (rechts). (© Hersteller)

Puppe, Nadeln, Dose – Screenshot mit Komplett-Sets zur Arbeitswelt (links) und Liebe (rechts). (© Hersteller)

Mit Voodoo ist das so eine Sache. Obwohl wir bestimmt nicht abergläubisch sind, haben wir uns doch alle schon gefragt, was dran sein könnte am magischen Puppenstechen, das weit über Gebühr mit Voodoo assoziiert wird.

Piekst man eine derartige, sorgsam präparierte Puppe mit der Nadel, jault angeblich der Feind und Widersacher vor Schmerzen auf, zuckt der böse Chef zusammen oder es krümmt sich die untreue Gespielin. Üble Sache, das. Man mag es gar nicht ausprobieren. Oder etwa doch? Aber wenn es nun funktionierte und man hätte es übertrieben?

Mit den zehn Geboten stimmt es nicht so richtig überein. Außerdem braucht man vielleicht einen erfahrenen Voodoo-Priester oder Medizinmann. Geht meine Erinnerung fehl, oder haben früher brasilianische Fußballmannschaften wirklich auf solche Praktiken zurückgegriffen, um zum Exempel dem gegnerischen Mittelstürmer beizukommen? Damals, als die Brasilianer noch oberste Weltklasse waren. Und wissen wir, was sie heute hinter verschlossenen Türen beim FC Bayern München treiben?

Um mal so richtig schön in die Klischeekiste der Redewendungen zu greifen: Wer beschreibt mein Erstaunen, als ich dieser Tage ein niederschwelliges Online-Angebot in Sachen Voodoo vorfand? Es gibt doch wahrhaftig „Voodoo aus der Dose“.  Bequem zum Mitnehmen, allzeit bereit, also praktisch „Voodoo to go“. Nix Priester, nix Versenkung – einfach Fun… Yippieeee!

Ohne mich auszukennen, wage ich zu behaupten: Mit profaner Fabrikware kann das doch wohl nichts werden. Voodoo im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit? Och nö. Da macht man sich das Figürchen doch lieber selbst zurecht und steckt es in ein geeignetes Behältnis. Nadeln werden sich auch noch finden. Oder noch weitaus lebensechter: schamanische Praktiken um gläubig verehrte Fetische. Back to the roots. Aber das ist wohl nichts, was sich weiße Europäer einfach so aneignen könnten.

Voodoo in der Dose, das ist (analog zum Pulverkaffee) der Instant-Zauber, den man immer zur Hand hat. Und damit man nicht etwa nur ein einziges Döschen samt Minipuppe und Nadeln kauft, sind die Dinger spezialisiert. Die eine Stoffpuppe ist zuständig für die „bucklige Verwandtschaft“, eine weitere kümmert sich um die Arbeitswelt, wiederum eine andere um (nicht mehr so sehr) geliebte Personen. Hinzu kommen Sets für allgemeine Angelegenheiten und für nichts Geringeres als den Weltfrieden. Wohin piekst man da eigentlich?

Weil es gar zu hübsch und spaßig ist, zitiere ich mal aus einer Werbung für die „Voodoo Dolls“, Unterabteilung Arbeitswelt:

„An die Arbeit, Voodoo-Puppe!
Imaginäre Strafen für Chefs, Kollegen, Kunden, sämtliche Mitarbeiter von Service-Hotlines und viele weitere nervige Berufsgruppen.
Lass Deiner Feindschaft freien Lauf und bedenke Dein nächstes Voodoo-Opfer zum Beispiel mit Gedächtnisschwund, einer überhöhten Handyrechnung (…) einer veritablen Hodenprellung oder mit Senk- Platt- und Spreizfüßen.“

Nett, nicht wahr? Und ist es nicht umsichtig, dass auch an sämtliche Mitarbeiter der Service-Hotlines gedacht wird?

Jetzt mal eben im Ernst. Die Voodoo-Religionen mit ihren vielfältigen Varianten haben sich in Westafrika entwickelt und sind zu Zeiten der Sklaverei in die Karibik (besonders Haiti) vorgedrungen. Sie haben auch in der Popkultur Spuren hinterlassen. Da gab und gibt es die Dortmunder Kultband „Phillip Boa & the Voodooclub“ oder einzelne Titel wie „Voodoo Chile“ von Jimi Hendrix.

Doch das meine ich weniger. Das vielleicht beste Beispiel ist vielmehr Dr. John („The Night Tripper“), der sich intensiv mit Voodo befasst und mit Titeln wie „I Walk on Guilded Splinters“ trancehafte, geheimnisvolle Stücke komponiert hat, die der innigen Kontemplation zuträglich sein mögen.

Und jetzt kommen wir tatsächlich noch zu einem Ruhrgebiets-Aspekt des Themas. Jawohl, denn das nicht weit vom Museum Folkwang gelegene Museum „Soul of Africa“ in Essen widmet sich auch dem Thema Voodoo. Das war mir neu.




Ja, mach nur einen Plan: Über die Vergeblichkeit unserer Vorsätze

Und? Wie sehen sie aus? Ihre Vorsätze fürs neue Jahr? Wir alle lachen ja darüber und tun es doch immer wieder.

Wir geloben Besserung, wir wollen unsere Schwächen überwinden, eigentlich wollen wir ein anderer Mensch werden: sportlich, schlank, diszipliniert. Das sieht man schon daran, dass es in den Fitness-Studios im Januar von probeweise Trainierenden und endlich mal wieder Trainierenden nur so wimmelt. Da stöhnen sie in ihren neuen Turnhosen.

Was oft genug mit guten Vorsätzen geschieht... (Foto: Andreas Stix/pixelio.de)

Was oft genug mit guten Vorsätzen geschieht… (Foto: Andreas Stix/pixelio.de)

Stammkunden tragen die Störung mit Fassung, denn sie wissen: Schon im Februar wird die Entschlossenheit der falschen Sportskameraden erschlaffen, und der Betrieb normalisiert sich wieder.

Ein Zettel von 1992

Unzulänglich ist die planende Absicht des Menschen, und Bertolt Brecht lieferte uns 1928 in seiner Dreigroschenoper die passende Ballade: „Ja, mach nur einen Plan! / Sei nur ein großes Licht! / Und mach dann noch ’nen zweiten Plan, / Gehn tun sie beide nicht.“ Dafür gibt es Beweise – zum Beispiel in meiner Brieftasche, wo ich immer noch aus purer Sentimentalität zwischen altmodischen Familienfotos eine zerknitterte Liste aus der Silvesternacht 1992/93 aufbewahre. Damals saßen mein Mann, unsere zehnjährige Tochter und ich in den Schneeferien an einem Schweizer Kamin und notierten abwechselnd unsere Vorsätze und Pläne.

Es mag gemein sein, dass ich das hier nochmal erwähne. Aber die empirische Sozialforschung kennt kein Erbarmen. „Ich verspreche, im neuen Jahr weniger zu schnaufen. Das heißt, ich werde mindestens zehn Kilo abnehmen“, schrieb der Gatte. Nun, das ist ihm gelungen. Allerdings nahm er kurz danach zwölf Kilo zu. Und so fort. Um die Wahrheit zu sagen: Er entwickelte sich zum Großmeister des Jojo-Effekts. Heute wiegt er rund zwei Zentner, und Schnaufen ist seine Art zu atmen.

Abnehmen, aufräumen, arbeiten

Unsere Tochter Kathi schrieb unter anderem auf die Liste: „Ich räume mein Zimmer besser auf und meine Anziehsachen.“ Doch ach, bis heute ist kein ordentlicher Mensch aus ihr geworden, und der neue Lebensgefährte, ein ausgesprochen pingeliger Mensch, versucht vergeblich, sein Ablagesystem auf Kathis Klamottenberge zu übertragen und die Staubmäuse unter der Kommode zu bändigen.

Wenn ich meine eigenen Vorsätze von 1992 betrachte, war ich auch nicht viel erfolgreicher. Da wäre zum Beispiel: „Ich will konzentrierter arbeiten, nicht so viel Zeit verplempern.“ Sonderbar, dass ich für einen freien Text wie diesen nicht etwa Stunden brauche, sondern Tage. Und das liegt nicht nur am Aufwand von Recherche und Reflexion. Das hat auch damit zu tun, dass ich mich in meinem Home-Office sehr gerne ablenken lasse und plötzlich dringend die Bügelwäsche machen oder dem Gatten ein Spiegelei braten muss, nur, um wieder mal vom Schreibtisch aufstehen zu können.

Scheitern als Schicksal

Fokussieren kann ich nur, wenn der Redaktionsschluss droht. Deshalb ist es mir auch nie gelungen, größere Lebenspläne durchzusetzen. Ich habe lieber volontiert als über Heine promoviert, und den großen Entwicklungsroman, den habe ich auch nie geschrieben. Dabei war beides fest eingeplant.

Das Scheitern von Vorsätzen und Absichten gehört offenbar zu unserem Schicksal. Wir wissen schon aus Shakespeares Hamlet: „Der Vorsatz ist ja der Erinnerung Knecht, / Stark von Geburt, doch bald durch Zeit geschwächt.“ Man kann eigentlich noch von Glück sagen, wenn nur die eigene Saumseligkeit daran schuld ist und nicht ein Unheil, das uns natürlich auch treffen könnte. So oder so erfüllt der Mensch ihn selten, den eigenen Plan. Vor der großen Frustration rettet uns die Psychologie, die uns versichert: Scheitern ist menschlich.

Kennon M. Sheldon, Psychologe und Professor an der University of Missouri, hat ein Schlüsselwerk über das „Optimal Human Being“ (Optimales menschliches Wesen) verfasst und verriet der Zeitschrift „Psychologie heute“, dass wir oft Ziele anstreben, die „nicht dienlich“ sind. Weder passen sie zu uns noch erhöhen sie das Wohlbefinden oder dienen der persönlichen Weiterentwicklung.

Von fremden Werten gelenkt

Tatsächlich lassen wir uns oft, ohne es zu merken, von fremden Werten leiten. Von der Familie wird erwartet, dass der Junge später die Firma übernimmt, also studiert er Betriebswirtschaftslehre, obwohl er lieber Pianist wäre. Oder ein Mädchen will unbedingt abnehmen, weil die zickige Freundin sie sonst uncool findet. Die falschen Ziele können eine Qual sein.

Auch und gerade im Beruf haben viele Menschen den für ihre Natur nicht geeigneten Plan. Zu Unrecht gaukeln Erfolgsmanager uns vor, dass jeder alles erreichen kann, wenn er nur dem richtigen Verhaltensschema folgt. Letztendlich muss man seine Aufgaben lieben, und man braucht nicht nur Fleiß, sondern auch Talent. Wie aber, ist die bange Frage, erkennt man ein falsches Ziel? „Psychologie heute“ hat die Antwort: „Ständige Erschöpfung, fehlende Freude auf dem Weg dorthin und eine innere Leere, wenn man es erreicht hat, sind typische Symptome.“

Aha! Den Vorsätzen ist also nicht zu trauen, ihre Erfüllung führt keineswegs schnurstracks zum Glück. „Ja, renn nur nach dem Glück, / Doch renne nicht zu sehr! / Denn alle rennen nach dem Glück, / das Glück rennt hinterher.“ Dieser Teil der Brecht’schen Ballade ist nicht besonders aufschlussreich. Da fragen wir doch lieber die Wissenschaft. Anja Achtziger hat einen Lehrstuhl für Sozial- und Wirtschaftspsychologie an der Zeppelin Universität Friedrichshafen und ist eine Expertin für Motivation, erfolgreiches Handeln und, jawohl, Vorsatztheorie. Sie glaubt, sagte sie uns mal in einem zeitlos gültigen Neujahrsgespräch, grundsätzlich durchaus an den Sinn von Vorsätzen.

Präzise formulieren

Allerdings müssten zwei Fragen geklärt werden. Erstens: „Finde ich das Ziel überhaupt attraktiv?“ Also: Will ich wirklich Abteilungsleiter werden oder fühle ich mich weiter unten in der Hierarchie eigentlich wohl? Und: „Habe ich überhaupt die Fähigkeiten, die Vorsätze umzusetzen?“ Also: Ist der Plan wirklich realistisch? Für einen Marathon braucht man eben doch eine besondere körperliche Fitness, dazu ausreichend Zeit für ein systematisches Training. Anja Achtziger: „Die Motivationsforschung hat gezeigt, dass man bei intensiver Auseinandersetzung mit solchen Fragen auch besser in der Umsetzung von Vorsätzen wird.“

Damit das klappt mit dem Verhältnis von Theorie und Praxis, sollte man zudem präziser formulieren. Die Professorin empfiehlt „Wenn-Dann-Pläne“. Zum Beispiel: „Wenn ich vor einem Aufzug stehe, dann benutze ich ihn auf keinen Fall, sondern laufe die Treppe hoch.“ Solche Sätze setzen sich im Gehirn fest, werden zu inneren Gesetzestexten und helfen im Alltag tatsächlich, ein „zielförderndes Verhalten“ zur Gewohnheit zu machen. Nun ja, das stimmt gewiss, klingt aber irgendwie anstrengend. In den unendlichen Weiten des Internets findet man sicher noch ein paar süffigere Ansichten. Zum Beispiel im Blog „Mentale Revolution“ des Tönisvorster Heilpraktikers und Hypnose-Spezialisten Ulrich Heister. Er empfiehlt: „Definieren Sie Ihr Ziel am besten schriftlich. Formulieren Sie so, dass Sie Begeisterung spüren!“

Wenn Begeisterung verfliegt

Begeisterung? Das gefällt uns. Wir fänden es toll, dünn und erfolgreich zu sein, wir sehen uns schon auf dem roten Teppich der allgemeinen Bewunderung. Aber so einfach ist das Planen mit Mentaltrainer Heister auch nicht. Denn: „Vorhaben, die spontan aus einem Defizitgedanken geboren werden, sind in der Regel nicht sehr stabil.“ Beim ersten Genussverzicht und bei der ersten Anstrengung könne die Begeisterung schon verflogen sein. Womit wir wieder beim vorübergehenden Hochbetrieb im Fitness-Studio wären.

Experten können richtige Spielverderber sein. Vielleicht sollten wir uns jetzt einfach mal entspannen und ein kleines Späßchen machen. Auf Facebook kursiert in diesen Tagen ein „Vorsatz-Generator für 2017“, mit Versatzstücken aus typischen Vorsätzen wie „Nicht mehr so oft – aufs Smartphone gucken“ oder „Jeden Morgen – Sport machen“. Nach dem Monat der Geburt (bei mir: Februar) und dem ersten Buchstaben des Vornamens (bei mir: B) soll man seinen persönlichen Vorsatz für 2017 zusammenstellen. Und was kommt bei mir raus? „Öfter – Geld ausgeben“. Haha.

In aller Ruhe abwarten

Im Ernst habe ich mir für dieses Jahr vorgenommen, mir nichts vorzunehmen, sondern ganz ruhig abzuwarten, welche Möglichkeiten sich ergeben. Wie sagte doch schon unser Lieblings-Beatle John Lennon? „Life is what happens to you while you are busy making other plans“ – Leben ist, was geschieht, während du eifrig andere Pläne schmiedest. Das habe ich endlich begriffen.

Mit wachsendem Alter wird mir der Genuss des heutigen Tages ohnehin immer wichtiger, und es entsteht eine Dankbarkeit für das, was die Jugend für selbstverständlich hält: Gesundheit, Freunde, Familie. Tatsächlich lenkt das Schrumpfen der Zukunft den Blick auf die Geschenke der Gegenwart.

Wünsche machen uns lebendig

Das heißt natürlich nicht, dass ich nie mehr Pläne machen will. Der Versuch, die Zukunft selbst zu gestalten, ist ja zutiefst menschlich, er unterscheidet uns vom Tier, das seinen Instinkten folgt und nur den Augenblick kennt. Außerdem macht Planen großen Spaß, es ist ein Spiel der Einfallskraft. Wenn ich diese Ferienwohnung am Meer kaufen könnte, wie würde ich die dann wohl einrichten? Und wie schön wäre das…

Planen hat auch mit Wünschen zu tun, und Wünsche machen uns lebendig. Wenn wir uns von der Illusion verabschieden, alles kontrollieren zu können, ist das Planen zu jeder Zeit erlaubt. Das erfrischt den Geist. Wie sagte schon Jean Paul, Pastorensohn und Dichter der Romantik? „Gegen das Fehlschlagen eines Plans gibt es keinen besseren Trost, als auf der Stelle einen neuen zu machen.“




Wir Angsthasen und Zimperliesen: Die neue Empfindlichkeit

Sicher liegt es an dieser ordinären Currywurst in scharfer Soße, die ich gestern hemmungslos aus einer Pappschale gepickt und, jawohl, genossen habe. Ethisch nicht zu vertretende Schlachtprodukte, weiß der inzwischen omnipräsente Veganer, blockieren das Gutsein und fördern fiese Überlegungen.

Freunde, das mag sein. Jemand wie ich, der Fleisch, Fisch und tierische Segnungen wie Milch, Eier, Honig ohne Zögern zu sich nimmt, der frisst auch eure Bedenken. Mit Mayo. Es tut mir leid. Aber wann sind wir eigentlich alle so extrem empfindlich geworden? Je besser es uns geht, desto weniger können wir vertragen. Das gilt nicht nur fürs Essen, sondern auch für stickige Luft, Lärm und alles, was gegen unsere zimperlichen Gewohnheiten geht.

Illustration zu Andersens Märchen "Die Prinzessin auf der Erbse". (© Fotolia)

Illustration zu Andersens Märchen „Die Prinzessin auf der Erbse“. (© Fotolia)

„Stell dich nicht so an!“ Dieser barsche Satz gehörte in der Aufbauzeit des 20. Jahrhunderts zur Kindererziehung. Das war kein Spaß, kann ich jüngeren Lesern versichern. Wir mussten den Teller mit dem muffigen Kochfisch leeressen, bei Tisch die Klappe halten, im Stockdunklen einschlafen („Die Tür bleibt zu!“), sonntags ohne Widerspruch wandern und gruseligen alten Tanten ein Küsschen geben.

Verfeinerte Lebensart

All das wollten wir unseren eigenen Kindern nicht antun. Meine Tochter durfte sich Pommes bestellen, mit Erwachsenen plappern, nachts ihre Gänselampe anlassen und stets mit unserer Aufmerksamkeit rechnen. Auch wurde sie nie eiskalt abgeduscht, obwohl das sicher gesund ist. Keiner von uns wollte die Härte der von traumatisierenden Erlebnissen geprägten Kriegsgeneration an die Gesellschaft der Zukunft weitergeben.

Wir waren sensibel, wir wollten es sein. Für eine bessere Gesellschaft. Leider haben wir Gewalt und üble Absichten nicht aus der Welt schaffen können. Verrückte Diktatoren und hasserfüllte Fanatiker tummeln sich auch in der Gegenwart. Und was tun wir? Wir feilen wir an der eigenen Lebensart und haben sie so stark verfeinert, dass wir uns gegenseitig damit erheblich auf die Nerven gehen. Wir sind die Memmen des Alltags. Jeder Hauch von Zigarettenrauch widert uns an. Raus mit euch, ihr Qualmer!

Essen als Herausforderung

Ein gemeinsames Essen wird zu einer Herausforderung. Man muss so viel bedenken. „Kannst du eigentlich Brokkoli vertragen“, fragt mich meine Freundin Uschi, eine kreative Köchin. Nein, Süße, kann ich nicht. Auch andere gesunde Sachen wie Zwiebeln, Nüsse, Kohl und Linsen, sogar Salat sind schlecht für meine Art der Darmbeschaffenheit, um es mal vorsichtig auszudrücken. Ich hätte gern Maispoularde mit Kartoffelpüree. Und Suppe ohne Schnittlauch. Und bloß kein Körnerbrot. Lieber Baguette. Und zum Nachtisch keine Beeren. Aber gerne eine Schokoladen-Mousse.

Gut, dass meine Freundin nicht zugleich eine jener Frauen eingeladen hat, die abends keine Kohlenhydrate wollen und Zucker für pures Gift halten. Den größten Küchenstress hat Uschi, selbst eine erklärte Freundin von Gulasch und Leberkäs, in ihrem vegetarisch-kalorienarm orientierten Damenkränzchen, zu dem ich zum Glück nicht auch noch gehöre. Allerdings ist eine Allergikerin dabei, die weder Eier und Milchprodukte noch Schalentiere und Zitrusfrüchte vertragen kann – von Nüssen ganz zu schweigen.

Um es klar zu sagen: Einige Unverträglichkeiten können lebensgefährlich sein. Wer davon betroffen ist, hat keine Wahl, als auf die bedrohliche Eigenart seines Immunsystems Rücksicht zu nehmen. Aber niemand weiß genau, wie viele Menschen tatsächlich unter ernsthaften Allergien leiden. Nach Auskunft der Deutschen Dermatologischen Gesellschaft zeigen etwa 27 Prozent aller deutschen Männer und 39 Prozent der Frauen in unserer (zu) gründlich geputzten Zivilisation allergische Reaktionen. Die meisten davon reagieren verschnupft auf Pollenflug, einige bekommen Bauchweh von Mehl oder Milch. Andere klagen über die Tücke der Hausstaubmilbe und lassen den Teppichboden entfernen. Nur ein glatter Boden ist ein guter Boden. Der lässt sich leicht wischen. Aber nicht mit scharfen Substanzen, davon brennen uns die Augen. Am besten nur mit Wasser.

Selbst Wasser wird zum Problem

Apropos Wasser. Selbst das harmlose Element ist ein heikles Thema für uns Empfindsame. Während in Dürre-Regionen jedes Schlammloch genutzt wird, müssen wir, was da klar aus der Leitung fließt, erst mit Magneten und Heilsteinen „lebendig“ machen, um es trinken zu können. Manche glauben, jeder Schluck Sprudel könnte ihren Bauch aufblähen und die Gesundheit ruinieren. „Mit oder ohne Kohlensäure“ ist in Lokalen inzwischen eine gängige Frage, genau wie „mit oder ohne Koffein“. Ein Luxusproblem, wie mir scheint.

So, wie wir nicht mehr einfach zu uns nehmen, was auf den Tisch kommt, kontrollieren wir stets die gewöhnlichen Bedingungen unserer Umgebung. Allem wird misstrauisch nachgefühlt. Ist es hier drin zu kalt oder zu warm? Zieht es von der Tür her? Reden die Leute zu laut? Muss ich mich umsetzen? Aber nicht an den Tisch zwischen Fenster und Spiegel! Da geht nach Feng Shui die Energie verloren.

Kein Filter für die Umweltreize

Hilfe, wir sind so empfindlich, es ist nicht auszuhalten mit uns! Tatsächlich erforscht die amerikanische Psychologin Elaine Aron (72) schon seit den 1990er-Jahren ein anschwellendes Phänomen, das sie „high sensitivity“ nennt, Hochsensibilität (HS). Bis zu 20 Prozent der Bevölkerung, sind nach Ansicht der Bestseller-Autorin („Sind Sie hochsensibel?“) von dieser Besonderheit betroffen. Das heißt, sie nehmen die Reize ihrer Umwelt intensiver wahr als der Rest der Menschheit. Geräusche, Gerüche, Farben, zufällige Berührungen können für hochsensible Naturen schier unerträglich sein. Ihnen fehlt gewissermaßen der innere Filter, mit dem robustere Naturen ihre Wahrnehmungen dämmen.

Wenn es eng wird bei der Vernissage, flieht der hochsensible Typ nach Hause. Wenn das Ferienhotel neben der Durchgangsstraße liegt, muss er sofort abreisen. Er kann das weniger Angenehme einfach nicht ausblenden – und will es auch nicht. Wie der Antiheld aus Wilhelm Genazinos Roman „Mittelmäßiges Heimweh“. Zitat: „Ich muss überlaute Menschen rechtzeitig erkennen und ihnen schnell aus dem Weg gehen. Seit Wochen schon will ich private Lärmerwartungsstudien anstellen, damit ich im Straßenverkehr nicht mehr so oft erschreckt werden kann.“ Angst und das Bedürfnis nach Kontrolle gehören auch im wirklichen Leben zusammen.

Wie die Prinzessin auf der Erbse

„So ein Quatsch“, hätte meine Mutter dazu gesagt. Wie viele Zeitgenossen hatte sie früh gelernt, die eigenen Befindlichkeiten zu ignorieren, um Nazi-Terror, Kriegsnächte, mörderische Fluchten und Hunger zu überleben. Bis zuletzt mangelte es ihr an Zartheit. Wir behüteten Nachgeborenen hingegen scheinen geradezu stolz auf unsere Empfindlichkeit zu sein. Ja, vielleicht wollen wir sogar gern die Hochsensiblen sein. Und fein wie die „Prinzessin auf der Erbse“ aus Hans-Christian Andersens kleinem Märchen. Sie erinnern sich?

Es war einmal ein Prinz, der wollte partout eine Prinzessin heiraten. Doch er traf auf seinen Reisen nur Betrügerinnen. Da ersann die alte Königin zu Hause einen unfehlbaren Test. Sie ließ die nächste Kandidatin, die ganz durchnässt am Stadttor erschienen war, in der Schlafkammer übernachten. Ganz unten auf die Bettstelle hatte sie eine Erbse gelegt und darauf zwanzig Matratzen sowie zwanzig Eiderdaunendecken gestapelt. Als die Unbekannte am nächsten Morgen klagte, dass sie überhaupt nicht schlafen konnte, weil sie auf etwas Hartem gelegen habe, da wussten alle, dass dies die richtige Braut war. Denn: „So empfindlich konnte niemand sein außer einer echten Prinzessin.“

Und? Wie zickig ist das denn? Wir sind keine Märchenprinzessinnen und sollten unsere Empfindlichkeiten auf ein angemessenes Maß reduzieren. Wie wäre es mit einer Currywurst draußen an der Ecke, wo es zieht und der Verkehr vorüberrauscht? Nur so als Übung. Na bitte: Geht doch!




Heinz Strunks Roman über Fritz Honka – die schreckliche „Normalität“ eines Serienmörders

Schon der Name Fritz Honka erzeugt Grusel, zumindest bei allen, die schon etwas älter sind und die 70er Jahre bewusst miterlebt haben. Über den Mann, der mindestens vier Frauen ermordete und die Leichen zerstückelte, hat der Autor Heinz Strunk ein aussagekräftiges Buch geschrieben.

Der mit etwas über 250 Seiten eher schmale Band nähert sich literarisch einer Person, die aus den untersten Gesellschaftsschichten stammte und im Laufe des Lebens immer mehr verrohte. Doch der Schriftsteller Strunk scheint eigentlich weniger erklären als vielmehr erzählen und die Geschichte eines Mannes nachzeichnen zu wollen, dessen Taten die Boulevardpresse auch in allen Einzelheiten ausbreitete.

HonkaStrunk geht indes weniger chronologisch vor, sondern arbeitet meist mit Versatzstücken, die sich am Ende aber zu einem Bild zusammenfügen lassen. Sexbesessen, pervers, gewalttätig, versoffen sind alles treffende Begriffe, mit denen man diesen 1935 in Leipzig geborenen Serienmörder beschreiben könnte. Doch es gab da auch einen Fritz Honka, der sich nichts sehnlicher wünschte, als ein ganz normales Leben zu führen, mit einer Frau, mit einer Familie, mit Kindern.

Ganz nah dran, den Dingen eine Wendung zu geben, scheint er zu sein, als man ihm das Unternehmen Shell als Nachtwächter einstellt. Er erhält endlich eine Uniform, der Alltag bekommt eine feste Struktur. Der Hamburger Kiez-Kneipe „Der Goldene Handschuh“ versucht er zu entfliehen. Hier ist er Dauergast und dort wird er später seine Opfer abschleppen, samt und sonders (Gelegenheits)-Prostituierte aus dem Trinkermilieu. Doch noch ist es nicht soweit. Vielmehr versucht er ein bürgerliches Dasein zu beginnen, er besucht die touristischen Attraktionen der Hansestadt.

Recherchen in der Kiez-Kneipe

Wenn Strunk die Welt in der Wahrnehmung von Honka beschreibt, scheint dieser schrecklich normal zu sein. Doch seine Alkoholsucht in Kombination mit den seelischen und körperlichen Verletzungen, die er seit frühester Kindheit erlitten hat, bieten offensichtlich keine Chance, ganz von vorn zu beginnen. Versuche, so schimmert es durch, hat es wohl auch vorher gegeben, allerdings ebenfalls erfolglose.

Den Taten selbst widmet der Verfasser nicht allzu viel Raum, wobei er allerdings den Leser keineswegs schont, sondern durchaus die brutalen und verstörenden Details der Morde darstellt. Ohnehin sollte sich der Leser auf eine Sprache gefasst machen, die schockieren kann. Sie wirkt herb und schroff, nicht anders als die Menschen, denen man hier begegnet. Manchmal scheinen auch Sätze zunächst unverständlich zu sein. Doch man muss dann eben noch einmal ansetzen, es ist halt der Umgangston, der in diesem Milieu herrscht.

Strunk hat für sein Buch den „Goldenen Handschuh“ nach eigenem Bekunden rund 150 Mal besucht, um den Leuten von heute, aber auch speziell diesem Fritz Honka von damals nahe zu kommen. Der Serientäter unterscheidet sich dabei keineswegs von all den anderen Besuchern, die nicht in der Lage sind, dem Suff zu entrinnen. Ab und an erscheint auch der einzige Bruder, der offenbar nicht ganz so tief gesunken ist. Den Fiete (Strunk bezeichnet die Hauptfigur fortwährend mit diesem doch Vertrauen erweckenden Kosenamen) kann aber offensichtlich niemand aus der Gosse herausholen.

Dass die Kneipe nicht nur zum Ziel der gesellschaftlich total Abgestürzten geworden ist, sondern dass hier gern auch Bessergestellte auftauchen, ist ein Erzählfaden, der zweierlei verdeutlicht: Die Trinksüchtigen versinken keineswegs in einer Parallelwelt, sondern sind Teil des Alltags. Zudem zeigt sich einmal mehr, dass der Besitz von Geld keineswegs auch bedeutet, das Glück gepachtet zu haben.

Mit seinem Buch, für das der Autor umfangreiches Studium der Prozessakten betrieben hat, ruft Heinz Strunk zwar die gesellschaftlichen Debatten der damaligen Zeit in Erinnerung. Gleichzeitig konzentriert sich der Verfasser aber auch auf die juristische Aufarbeitung. Von „Persönlichkeitsabbau“ ist in dem Urteil des Hamburger Landgerichts die Rede, der sich in dem Umstand verdeutlichte, dass der Angeklagte mit den verwesten Leichen in einem Raum zusammengelebt habe.

Heinz Strunk: „Der goldene Handschuh“. Rowohlt Verlag, 255 Seiten, 19,95 Euro.




„Das Lachen der Täter“: Klaus Theweleits Gedanken zur monströsen Mordlust

Wir erinnern uns schemenhaft: Damals, ab 1977, haben praktisch alle links bewegten Leute Klaus Theweleits „Männerphantasien“ gelesen oder wenigstens darin geblättert und sich die Köpfe heiß geredet.

Da ging es um soldatisch zugerichtete Männerkörper und ihre Panzerungen, um ihre psychophysische Angst vor Fragmentierung und Auflösung, die sie dann als entgrenzte Gewalt nach außen kehrten – nicht nur in beiden Weltkriegen. So ungefähr. In zwei Bänden mit 1174 Druckseiten war das natürlich alles ungleich differenzierter und vielfältiger ausgeführt.

Klaus Theweleit bei seiner Lesung in Dortmund. (Foto: BB)

Klaus Theweleit bei seiner Lesung in Dortmund. (Foto: BB)

Klaus Theweleit (73) ist sich offenkundig treu geblieben. Noch immer wandelt er konsequent auf den Spuren seines einstigen Kultbuches, dessen Grundlinien er mit neuen Akzenten bis in unsere Gegenwart fortführt. Jetzt war er zu Gast in der „Blackbox“, einer an- bis aufregenden Lese- und Gesprächsreihe im Dortmunder Schauspielstudio, wo er seinen im März 2015 erschienenen Band „Das Lachen der Täter“ vorstellte, der bis zum Attentat auf das Pariser Satiremagazin „Charlie Hebdo“ (Januar 2015) reicht. Theweleit wirkte dabei nicht so sehr wie ein funkelnder, sondern eher wie ein bedächtiger, bedachtsamer Intellektueller.

Universelle Gültigkeit

Ein Ausgangspunkt des Buches ist das Gelächter des Anders Breivik, der 2011 in Oslo und vor allem auf der norwegischen Insel Utoya 77 Menschen erschoss und dabei immer wieder lauthals lachte. Ein wahnwitziger Einzelfall? Gewiss nicht. Denn Theweleit zeigt, dass das Phänomen des lachenden (Massen)-Mörders geradezu universell gilt. In allen Weltgegenden und vielen historischen Zusammenhängen lassen sich solche monströsen Ausbrüche verfolgen.

Klaus Theweleit hat denn auch zahllose abgründige Vorfälle gesammelt, bei denen einem der Atem stockt. Wem ist schon gegenwärtig, dass in den 60er Jahren in Indonesien Hunderttausende, ja Millionen bestialisch als „Kommunisten“ ermordet wurden – mit staatlicher Lizenz und Billigung, vielfach ausgeführt von „ganz normalen“ Zivilisten. Später haben sie solche straffreien Massaker lachend gefeiert.

Wähnten sich SS-Schergen unter ihresgleichen, so haben auch sie einander lachend mit ihren Untaten geprahlt. Ganz ähnlich im mörderischen Konflikt zwischen Hutu und Tutsi in Ruanda, wo der massenhafte Mord an der Tutsi-Minderheit zuweilen regelrecht als Unterhaltungsprogramm der totalen Enthemmung inszeniert wurde. Und so weiter, kreuz und quer über den Globus, vor- und rückwärts durch die Zeiten.

„Volksfeste des Tötens“

Theweleit schildert natürlich nicht nur die bloßen Phänomene, sondern sucht eine Theorie zu entwickeln, die in Dortmund freilich nur in Stichworten anklingen konnte: „Volksfeste des Tötens“, völlige Absorbierung durch die eigene Tat, Berufung auf ein „höheres Recht“, Entstehung eines schier unverletzlichen kollektiven „Überkörpers“, Durchbruch zu einer „neuen Körperlichkeit“, Grenzüberschreitung und gesteigertes Leben durch den Tötungsakt…

Wer es genauer wissen will, lese am besten im Buch nach. Wobei Theweleit, zumal in der von Alexander Kerlin (Dortmunder Schauspiel-Dramaturg) moderierten Fragerunde mit Publikum, auch schon mal punktuelles Nichtwissen eingesteht. Nicht alle Zusammenhänge sind wirklich zweifelsfrei geklärt; sofern das überhaupt menschenmöglich ist.

Erektion im Blutrausch

Jedenfalls stellt Theweleit auch äußerst schmerzliche Fragen, wie beispielsweise die, warum Täter bei Vergewaltigungen, die mit grausamsten Verstümmelungen einhergehen, überhaupt eine Erektion haben. Nicht Sexualität, sondern der Blutrausch unumschränkter Machtausübung scheint in solchen Extremfällen den tödlichen Trieb zu steigern. Eine wahrlich finstere Erkenntnis.

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Nach all den schrecklichen Beispielen hätte man meinen können, Theweleit sehe keinerlei Ausweg aus der ubiquitären Gewalt. Doch gegen Schluss warf er doch noch einen Hoffnungsanker aus. Er hält dafür, dass wir Heutigen und Hiesigen im Großen und Ganzen doch etwas beherrschter und zivilisierter seien als frühere Generationen – nicht zuletzt, weil Kleinkinder viel seltener durch Prügelstrafen fürs Leben verängstigt werden.

Auch beklagt Theweleit zwar das lachlustige „Happy Slapping“ (genüsslich mit Handy gefilmte Schüler-Gewalt), glaubt aber, dass etwa Schulhofschlägereien in den 50er und 60er Jahren viel härter und häufiger gewesen seien als jetzt. Da hört man schon die Skeptiker raunen: Alles nur Firnis, im Zweifelsfalle nicht haltbar…

Wie bitte? Ob Theweleit auch die unvermeidliche Frage nach Silvester in Köln gestellt worden sei? Aber ja. Doch da wich er wohlweislich aus und ließ lediglich vernehmen, dort habe sich ein ungutes Machtvakuum aufgetan.

Klaus Theweleit: „Das Lachen der Täter. Breivik u.a. – Psychogramm der Tötungslust“. Residenz Verlag. 248 Seiten, 22,90 Euro.




Sich in Faultiere und Birnen einfühlen – ja, selbstverständlich geht das!

Weckerbrüllt! Uff… nur… ne Viertelstunde noch… konzentriert schlafen (jawoll, das geht)…

»Schorsch (nach Picasso)« Scherl, 2015

»Schorsch (nach Picasso)« © Scherl, 2015

…wenn dann Kater Schorsch sein aggro-beleidigtes MRRRRRAAUU! MRRRRRAAUU! MRRRRRAAUU! raushaut ohne Luft zu holen, weil er der Meinung ist, daß er sogleich Hungers stirbt, wenn ich ihn nicht sofort fütter (Essenszeit für ihn in zwei Stunden!), hau ich mein 100% aggro RUHEJETZTVERDAMMTESCHEIßE! raus, daß die metallenen Bettpfosten mitsingen.

Es kümmert ihn zwar keinen feuchten Kehricht, aber immerhin hab ich das erhebende Gefühl, daß mir wenigstens ein Ding auf Erden Resonanz gibt – und wenn’s nur die Bettpfosten sind.

Wenn ich dann allerdings zB versuche, mich in ein Faultier einzufühlen, weil ich einen Faultiershirtentwurf machen muß und das Vieh so richtig schön faul werden soll oder das gleiche in drei Birnen für eine Auftragszeichung, damit da auch wirklich die richtige Geschichte erzählt wird mit dem Obst (ja freilich kann man sich in Birnen einfühlen. Bin ich Künstler oder Hobby-?) und der schwarze Pelzsatan legt dann los mit seinem Geschrei (wofür er in 99% aller Fälle exact (ja, mit »c«)) den richtigen Zeitpunkt findet und auch nicht eher aufhört, bis ich entweder keine Zeit mehr hab oder mir auch noch das letzte bissl Muse zerrüttet ist), packt mich einfach nur noch tiefste Verzweiflung und eine Stimme fragt in mir:

»Was hätt Picasso an meiner statt getan? Oder Matisse? Oder Cezanne? Oder Christian Schad? Oder…« (Zwischenruf einer anderen Stimme: »Charles Manson?«) und es antwortet: »Sie wären ins Atelier gegangen und wenn sie da schon gewesen wären, in ’n anderes.«, dann kommentiert die nächste: »Thomas, schreib auf deinen ‹Ziele 2016›-Zettel ganz oben, ganz groß: ‹1. Viel Geld verdienen, 2. Atelier mieten›.«

Done.

(Also das mit dem Zettel.)




Sie sind jung und schön und hören gerne Zaz oder Milky Chance

…ok, Zaz hab ich sogar schon mal gehört.

Das sind halt junge schöne glückliche Menschen, die sich freuen, dass sie ihren Platz in der Kultur-Industrie gefunden haben (hauptberuflich Designer, Fotografen, Foodblogger, Modeblogger, Techblogger, Pornodarsteller und Aufnahmeleiter bei Jamie Oliver etc.) und viele Fans auf Instagram und Twitter. Und sie sind glücklich und schön, weil sie jung und schön und glücklich sind und ihren Platz in der Kultur-Industrie gefunden haben und Designer, Fotografen, Foodblogger, Modeblogger, Techblogger, Pornodarsteller und Aufnahmeleiter bei Jamie Oliver sind etc.

sternzeichen smoothie und veggieburgerIhr Sternzeichen ist der Smoothie aus Bio-Früchten und fettarmem Bio-Joghurt oder der Veggie-Burger mit biologischen Süßkartoffelpommes für 14,95 (Getränke extra). Sie sind für die Umwelt und für Bioklamotten und für Bioessen, weil das irgendwie dazugehört und eh besser ist für die Umwelt, fahren am Sonntagmorgen mit dem SUV, das ist sicherer!, Brötchen vom Bäcker nebenan holen und stehen da in der Schlange, weil sie das aus der Rama-Werbung kennen und freuen sich, dass sie in der Schlange stehen, weil sie das aus der Rama-Werbung kennen und das ist alles so schön und warm und so vertraut und so heimelig und Kinder wollen sie ja eh mal, zwei, n Jungen undn Mädchen, weil Kinder sind doch so wichtig für alles und so und wenn die einen dann so anlachen. Außerdem können sie dann auch bald nen eigenen YouTube-Channel mit Spielzeugtests machen und aus den Werbeeinnahmen was zum Haushalt dazugeben. Aber das mit den Flüchtlingen ist echt schlimm.

hipsterpärchenDie Frauen tragen weite Strickpullover mit zu langen Ärmeln, Wollsocken und Flip-Flops und halten die Tasse mit koffeinreduziertem senseo-Latte in beiden Händen, während sie die neue Country Homes aufm ipad durchblättern, den manufactum-Katalog studieren, die greenpeace-Überweisung machen und noch eben die online-Petition für die Flüchtlinge unterzeichnen und nachher nachm Büro gehts noch zur urban-knitting-Gruppe, weil das ist ja wichtig für uns alle und so und die Männer tragen Bart oder auch nicht, weil das ja unhygienisch ist, trinken mit guten Freunden ein craftbier (max.) und sind fast so lustigdoof wie der Golden Retriever, stinken aber weniger, wenn man ihnen jeden Tag sagt, dass sie duschen und auf jeden Fall mehrmals täglich Deo verwenden sollen und auch Zahnseide und sone Pflegeserie für ihn.

Aber irgendwie ist der Retriever dann doch irgendwie, naja, kuscheliger und so und man muss ihn nur ab&zu mal rauslassen und Futter geben und er passt ja auch besser zum Sofa und lecken kanner ja auch und wenn dann erst mal die Kinder da und aus dem Gröbsten raus sind, naja.

[Zeichnungen ©scherl]

[Lehrreiches: urban knitting]




Wenn die Männer mit der Motorsense kommen… – ein bebildertes Panopticon

Also eigentlich läuft das immer gleich: ich guck raus und denk, ah, endlich wieder ein paar Blümchen auf dem Scheißrasen hier und ein, zwei Tage später ist dann der Gartennazi mit seinen Hanseln da und fräst alles bis 1mm über der Wurzel runter. Seine Geräte setzen 65% der eingesetzten Energie in Krach um, 47% in Gestank, 15 in Wärme und mit den restlichen 2 zertritt er ach die goldne Flur.
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Diesmal hat das perfide Schwein als Vorhut (Obacht: verleserträchtig!) einen Knilch abgeworfen, der die Motorsense bedient, wie andere das Morsegerät. Möchte er mir etwas mitteilen oder mich nur quälen? Ich bekomme keine Antwort oder wenn, dann kann ich sie nicht deuten, da ich des Motorsensenalphabets nicht kundig bin. Derweil senst er fröhlich dahin, kilometerweit, daß die Pflanzenleichen nur so spritzen (ich notiere kurz den Plot eines Zombiefilms), weder zeigt er Gnade, noch Ermattung, noch Unrechtsbewußtsein. Der HErr möge ihn strafen bis ins n+x->∞-te Glied. Das ist sehr viel.

Nachdem er dieses erste seiner Werke vollendet (und ich schreibe hier bewußt nicht »hat«, um meinem Bericht ein Eckchen mehr Pathos zu verleihen), holt er ein lustickes (sic!) Handmäherlein herbei und zieht damit beständig seine Bahn. The Loneliness of the Long Distance Mäher, nichts hält ihn auf, er ist das Pendel, die Maschine die Unruh, in meinen Ohren das Geläut. (Man muß dazu wissen, daß der Rasen zwei Hochhäuser umgibt, die gesamte Fläche dürfte eineinhalb Fußballfelder messen. Das mit dem Handmäher.)
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Oft hält er besorgt inne, zum Beispiel wenn das Motörchen ein wenig stottert oder spotzt, dann tätschelt er es leis, blickt in diese Öffnung und in jene, schraubt hier und da und zuletzt den Tankdeckel ab, aha: das Werkzeug braucht Treibstoff, er latscht, kehrt mit Kanister wieder, befüllt, bringt weg, kehrt wieder – ein modernes Arbeiterballett, das mir hier dargeboten wird.

Aber… Moment!: Wo ist der Aufsitzmäher?? Der wird doch sonst da immer in Stellung gebracht? Ist er kaputt und in Reparatur? Oder kaputt und nicht in Reparatur? Gestohlen? Gepfändet? Zu teuer? Nicht mehr abzugsfähig? Verkauft, um Nutten, Suff und die andren Drogen des Capos zu finanzieren, die sein bißchen Bewußtsein erweitern sollen? Mißgönnt derselbe, dieses Scheißkapitalistenscheusal, dem armen ihm Untergebnen die kurze Zeit der Erholung, in der er sich den Arsch auf dem Teil plattsitzen kann? Oder ist’s, um mich einfach noch länger entnerven zu können? (Rhet. Frage, ich bin mir dessen sicher.)

schorschInzwischen bemäht der Geknechtete die ca 20 Hektar unter unserem Balkon und sogar mein Schutzbefohlener, der Senior-Kater Schorsch, gibt seinen Beobachtungsposten auf und flieht vor dem argen Getös in die Wohnung. Ich fliehe mit und fasse zusammen: eine nachmittags stark befahrene Straße, ein Bahnübergang, Züge im Zehnminutentakt, zahlreiche Touribomber und Frachtflugzeuge, ein Handmäher. Was fehlt? Richtig. Da kommt er auch schon: Auftritt des o.g. Capos, im Kleinlaster, auf der Ladefläche eine Schubkarre, ein Sackerl Erde, ein Netz darübergeschmissen und: der Laubbläser.

Mir fällt der Kirchenbesuch von neulich ein: HErr, erbarme Dich unser.

[https://de.wikipedia.org/wiki/Panopticon]




Nixen im Badezuber – Dvoráks Oper „Rusalka“ findet in Essen den Weg in die Psychiatrie

Rusalka (besingt den Mond, der bloß eine OP-Lampe ist. Foto: Bettina Stöß

Szene aus der Anstalt. Rusalka (Sandra Janusaite) besingt den Mond, der bloß eine OP-Lampe ist. Foto: Bettina Stöß

Da bringt die junge Braut ihren Zukünftigen um. Weil sie den schlimmen Finger im erotischen Techtelmechtel mit einer anderen erwischt hat. Für ihn war das eine Art Flucht: weg von einem Wesen, das ebenso faszinierend wie rätselhaft ist, spröde und stumm wie ein Fisch, hin zu einer richtigen Frau. 

Derartiges kommt in den besten Familien vor. Selbst in jenen der vorletzten Jahrhundertwende, im großbürgerlichen Gefüge des Fin de Siècle. Zu jener Zeit also, als Sigmund Freud die „Traumdeutung“ herausbrachte und Antonin Dvorák seine Märchenoper „Rusalka“ komponierte. Und so hat die niederländische Regisseurin Lotte de Beer eins und eins zusammengezählt: Im Essener Aalto-Theater zeigt sie uns eine Nixe unter freudscher Beobachtung – im klinisch kühlen Ambiente, mit Anstaltsbadewannen und Gewölbezellen, nicht zu vergessen die berühmte Couch des Analytikers.

Klapse statt irrlichterndes Dasein ist das Los dieser Rusalka. Die Geschichte wird dabei gewissermaßen von hinten aufgerollt, vom Tod des Prinzen und ihrer Internierung aus – die einleitende Szenerie zu Dvoráks Vorspiel macht es deutlich. Dieser dramaturgische Kniff ist wohl auch erforderlich, um die Doppelung von Märchenzeit und Therapiezeit zu verstehen. Hilfreich wäre im übrigen ein Hinweis im Programmbüchlein gewesen, auf eine Schrift Freuds aus dem Jahr 1913, „Märchenstoffe in Träumen“. Oft nämlich verknüpften seine Patientinnen Erinnerungen und Träume mit dem Durchleben von Märchen.

Nun also: Die Nixen necken den Wassermann im Badezuber, Rusalka beklagt in der Wanne nebenan ihr seelenloses Dasein. Die Hexe Jezibaba rauscht nicht als schmuddeliges Hutzelweibchen heran, sondern gibt sich rauchend mondän im dicken Pelz. Die Menschwerdung Rusalkas gleicht einem Beschneidungsritus. Im übrigen gilt: Wer schön sein will, muss leiden – und stumm bleiben wie ein Fisch. Entsprechend herzig die Begegnung mit dem Prinzen, ein Tändeln zweier Backfische, ein Fremdeln zweier Zagender. Zuletzt aber doch: Küsse der Leidenschaft.

Wie die Backfische: Zärtliche Begegnung zwischen Rusalka (Sandra Januskaite) und dem Prinzen (Ladislav Elgr). Foto: Bettina Stöß

Wie die Backfische: Zärtliche Begegnung zwischen Rusalka (Sandra Januskaite) und dem Prinzen (Ladislav Elgr). Foto: Bettina Stöß

Was so intim klingt, ist auf der Riesenbühne des Aalto gleichwohl angenehm proportioniert in Szene gesetzt. Das eingespielte Duo Clement&Sanou schafft Atmosphäre durch Farbe, stellt die feine Festgesellschaft im 2. Akt aufs Podest, während unten Rusalka angstvoll deren patriarchalische Riten beobachtet, wuchtet Badewannen in den Raum oder kerkert die Nixe im mächtigen Gummizellengewölbe ein. Manches wirkt gelungen, anderes aber gehörig plakativ. Wie denn auch die Regie immerhin in sich schlüssig ist. Die Frage, die bleibt, ist eher grundsätzlicher Art: Ob nicht manche Frauenfigur der Opernliteratur sich neuerdings beständig der Psychoanalyse aussetzen muss.

Eines aber ist gewiss: Mit Sandra Janusaite hören und sehen wir eine Rusalka, die sich die Seele aus dem Leib spielt und singt. Fast körperlos, fahl und verhangen klingt zunächst ihr Mondlied, dann aber trägt ein dramatisch-emphatischer Sehnsuchtston ihre Empfindung. Die Stimme mag in der Mittellage etwas spröde wirken, gleichwohl verfügt die Sopranistin über Farbreichtum sowie flammende Verzweiflungsgröße. Und wenn sie sich, im Angesicht des untreuen Prinzen auf die Beine schlägt, als Symbol ihres fluchbeladenen Daseins, wenn sie im Zellengewölbe in ihrer Zwangsjacke dahinleidet, dann ist das gleichermaßen mitreißend wie anrührend. Bis ihr Dr. Freud eine Spritze geben lässt – sie sinkt hernieder, ob schlafend oder sterbend oder im Wagnerschen Sinne erlöst, bleibt unserer Fantasie überlassen.

Bitteres Ende in der Gummizelle. Foto: Bettina Stöß

Bitteres Ende in der Gummizelle. Foto: Bettina Stöß

Dagegen wirken alle anderen Akteure beinahe blass. Ladislav Elgr verleiht dem Prinzen zwar ein kultiviertes tenorales Timbre, wirkt in hoher Lage aber leicht nervös und lässt mitunter Eleganz vermissen. Markant Almas Svilpa als ewig mahnender und klagender Wassermann, nur bedingt verschlagen die Hexe der Lindsay Ammann.

Das eigentliche Wunder des Abends spielt sich ohnehin im Orchestergraben ab. Mit Tomás Netopil am Pult zaubern die Essener Philharmoniker die Idiomatik von Dvoráks Musik aufs Schönste herbei. Sie spinnen silberhelle Melodiefäden, geben der Dramatik, die schon auf Janáceks Realismus verweist, kantiges Gewicht, ohne zu überzeichnen. Und alles Böhmisch-Musikantische hält sich im Rahmen. Nichts von Verharmlosung eines bis dato immer noch unterschätzten Komponisten.

Noch einige Termine im Juni. www.aalto-musiktheater.de

(Der Text ist zuerst in ähnlicher Form im „Westfälischen Anzeiger“ erschienen.)

 




Im Zweifel für das Leben: Ian McEwans neuer Roman „Kindeswohl“

Für die Londoner Familienrichterin Fiona Maye gehören komplizierte juristische Fragen zum Alltag, doch der Fall des Adam Henry ist besonders bizarr. Sein Schicksal steht im Zentrum von Ian McEwans Roman „Kindeswohl“.

Der 17jährige Adam Henry ist an Leukämie erkrankt. Eine ihn rettende Bluttransfusion lehnen seine Eltern und auch er selbst aus religiösen Gründen kategorisch ab. Die Familie gehört zu den Zeugen Jehovas, die mit Verweis auf Worte der Bibel einen solchen medizinischen Eingriff untersagen. Die behandelnde Klinik kann und will sich mit der Verweigerungshaltung nicht zufrieden geben und stellt einen Eilantrag, die Blutübertragung durchführen zu dürfen. Aufgrund des gesundheitlichen Zustandes des jungen Patienten dulde die Entscheidung keinen Aufschub, betont das Hospital.

Auf den nun folgenden Seiten, 30 an der Zahl, breitet der Autor nun den Verlauf Gerichtsverhandlung aus, bei der rechtliche und ethische, religiöse wie auch psychologische Gesichtspunkte ausführlich erörtert werden. Dabei liegt der Gedanke nahe, dass es im Prinzip keinen Zweifel an der Haltung der Richterin geben dürfte. Es müsste doch ihre Pflicht sein, ohne Wenn und Aber für das Leben des Minderjährigen einzutreten.

Nun kennt das englische Recht allerdings die Besonderheit der Gillick-Kompetenz. Damit ist gemeint, dass junge Leute auch unter 16 Jahren intellektuell durchaus in der Lage sein können, zu entscheiden, ob sie sich bestimmten medizinischen Maßnahmen unterziehen wollen. Benannt ist diese Fragestellung nach Victoria Gillick. Die katholische Mutter von zehn Kindern startete in den 80er Jahre eine Initiative, die sich gegen eine Gesetzesänderung wandte, die vorsah, dass Mädchen unter 16 Jahren die Pille auch ohne das Wissen der Eltern verschrieben bekommen sollten. Daraus entstand eine juristische Auseinandersetzung, ob und wann Minderjährige die Reife haben, selbst über ihr Schicksal zu befinden.

Eindrucksvoll schildert der Autor, wie sich die Richterin nun selbst darum bemüht, Denken, Fühlen und Handeln des todkranken Jungen zu ergründen. Sie unterbricht die Verhandlung, um ihm am Krankenbett zu besuchen. So kühl und distanziert, wie der Leser sie bislang kennen gelernt hatte, ist die Juristin hier längst nicht mehr. In die Entscheidung, die die Richterin letztlich trifft, bezieht sie zwar ein, dass Adam über eine hohe moralische Kompetenz und einen scharfen Intellekt verfügt, sieht ihn aber eingezwängt in ein religiöses System, das ein freies Denken nicht wirklich zulässt. Dieses System, das ist ihr bewusst, ist für die Eltern mehr als nur eine Glaubensgemeinschaft. Insbesondere durch die schwierige Lebensgeschichte des Mannes ist die Gemeinde zu einem wichtigen Hort geworden, der Halt und Hoffnung bietet.

Doch mit dem Spruch der Richterin, die Klinik solle Adam wie beantragt behandeln, findet die Geschichte noch längst nicht ihr Ende. Das Leben danach, also nach der Transfusion, hält für alle Beteiligten noch schwierige Fragen parat. Wie gehen die Eltern nun mit ihrem Sohn um? Und was denkt der Sohn eigentlich wirklich über seine Eltern? Fiona Maye haben die Erlebnisse auch nicht unbeeindruckt gelassen und das auf eine Weise, mit der sie selbst wohl kaum gerechnet hätte. Sie kann nicht verhehlen, gewisse Gefühle für Adam entdeckt zu haben, was wiederum wie ein Treppenwitz in ihrer kinderlosen Ehe wirkt, hat ihr Mann Jack sie doch genau zu dem Zeitpunkt, als die Klinik sich an das Gericht wandte, gebeten, ihm eine außereheliche Beziehung zu gestatten.

Von beiden Partnern zeichnet Ian McEwan zunächst das Bild karrierebewusster Persönlichkeiten, die rational und wenig emotional ausgerichtet sind. Während Jack aber nun eher von innen heraus zu der Ansicht gelangt ist, dass ihm eine Affäre mal gut täte, sind bei seiner Frau eher äußere Einflüsse, die ihre bisherigen Vorstellungen ins Wanken bringen. Mit Adam verbindet sie zudem eine Liebe zur klassischen Musik. Im Zuge eines Konzerts erfährt sie schließlich, welche dramatische Wendung das Leben des jungen Mannes noch genommen hat.

McEwan versteht es brillant, nicht nur verschiedene ethische und juristische Ebenen miteinander zu verknüpfen, sondern die Vielschichtigkeit auch ansprechend darzustellen. Die Einbindung des Falls in einen Ehekonflikt mag zwar gewagt erscheinen, weil das eine mit dem anderen erst einmal nicht in Verbindung steht, doch es gelingt dem Autor, die Protagonisten mit ihren zum Teil widersprüchlichen Motiven sehr klar zu charakterisieren.

Ian McEwan: „Kindeswohl“. Roman. Aus dem Englischen von Werner Schmitz. Diogenes Verlag, Zürich. 224 Seiten, 19,90 Euro




„Nachkriegskinder“: Das fortwährende Leiden unter den Soldatenvätern

Die Kölner Journalistin Sabine Bode (WDR, NDR) hat ganz offenkundig seit langem das Themenfeld ihres Lebens gefunden – und intensiv durchpflügt. Ihr liegen die deutschen Kriegs- und Nachkriegskindheiten am Herzen, mithin die mehr oder minder verborgenen Verheerungen, die der Zweite Weltkrieg auch noch im Seelenleben von Nachkommen der Täter angerichtet hat.

9783608980394Eines ihrer Sachbücher heißt „Nachkriegskinder“. Der bereits 2011 erschienene Band ist ein mehr als heimlicher Verkaufserfolg, er hat kürzlich bereits die sechste Auflage erreicht. Bevor man es nun weiterhin versäumt, ihn zu entdecken und zu empfehlen, bespricht man ihn lieber doch noch. Besser spät, als nie.

Tatsächlich leben ja auch noch enorm viele Menschen, die hier zumindest Bruchstücke aus ihren Biographien wiederfinden können, geht es doch laut Untertitel um „Die 1950er Jahrgänge und ihre Soldatenväter“.

In etlichen eingehenden Gesprächen mit Zeitzeug(inn)en hat Sabine Bode die Historie sondiert. Es zeigt sich dabei immer wieder, wie sehr die seelische Innenausstattung einer bestimmten Epoche beileibe nicht nur persönliche, sondern zu großen Teilen eine kollektive Angelegenheit ist. Da ist eine ganze Generation im Schatten vielfach tyrannischer Väter aufgewachsen, die an der Kriegsfront höchstwahrscheinlich schwerste Schuld auf sich geladen haben, aber nie davon zu sprechen wagten.

Es sind charakteristische Jahre und Sozialtypen, deren Umrisse hier auftauchen; zutiefst widersprüchliche, innerlich zerrissene Väter, verbissen, verschwiegen und im Familienkreis auf ungemein pedantische Weise herrschsüchtig. Ja, arme Teufel waren sie natürlich auch. Irgendwie.

Man hatte diesen Männern die Jugend gestohlen und sie schickten sich ihrerseits an, ihrem Nachwuchs in grässlich verdrucksten Friedenszeiten die Kindheit zu versauen und so manche Freuden auszutreiben – mit willkürlichen Prügelstrafen und aller sonstigen Gewalt, die seinerzeit wie selbstverständlich dazugehörte.

Man lese als Ergänzung nur die üblen „Erziehungs“-Ratgeber von damals, die teilweise schon aus finsteren Zeiten stammten. Demnach waren etwa Jungen zur Härte abzurichten, indem man sie schon in frühester Kindheit lange allein vor sich hin schreien ließ. Man liest es heute noch mit kaltem Zorn.

Von manchen Vorfällen weiß ich auch selbst zu sagen, wie so viele andere Gleichaltrige: Mein Vater hatte sich als 17jähriger freiwillig an die russische Front gemeldet. Was er in und um Smolensk getan hat, blieb für mich allzeit im Dunkeln. Gegen Ende seines Lebens haben ihn die schrecklichen „Stahlgewitter“ noch einmal merklich durchzittert.

Eine abstruse Wutfigur, die ganz ähnlich auch in Sabine Bodes Buch vorkommt, war jene abgründig aggressive Spielart seines nachträglichen „Pazifismus“. Im Originalton hörte sich das so an: „Wenn du zur Bundeswehr gehst, schlag’ ich dich tot.“ Wortwörtlicher Wahnwitz. Andererseits erstaunlich, wie wenig Fotos und Dokumente aus seiner Soldatenzeit vorliegen. Was hat er verloren, was hat er vernichtet?

Im Buch wird übrigens eine Behörden-Quelle genannt, bei der man womöglich nähere Einzelheiten über die Kriegseinsätze der Väter erfahren kann, nämlich die Wehrmachtsauskunftsstelle WASt. Wer will, ziehe Erkundigungen ein.

Sabine Bode, selbst vom Jahrgang 1947, hat sich derart einlässlich in ihre Themen vertieft, dass sie als gute Zuhörerin weit über bloße Betroffenheitsliteratur hinaus gelangt. Hier wird sichtbar, was eine Generation überhaupt ausmacht. Viele Kinder reagierten insgeheim mit schmerzlichen Selbstvorwürfen auf das Geheimleben ihrer Väter, während die Mütter meist wegsahen und sich in Verdrängung oder Beschwichtigung übten. Sie kümmerten sich halt ums Alltägliche.

Welch eine stickige, verlogene, verbogene Zeit – diese 50er Jahre. Und welch unerlöste Lebensläufe zuhauf. Wie überaus harmlos muten hingegen spätere Altersgruppierungen wie etwa die „Generation Golf“ an.

Es mag stimmen, dass im Zuschnitt der Nachkriegsgeneration auch Erklärungsansätze für das Phänomen der fast durchweg links gewendeten Nach-„68er“ liegen.

Allerdings erhebt sich auch die Frage, wie wir damit umgegangen wären, hätten wir von unseren Vätern direkt und unverblümt die volle Wucht der Wahrheit erfahren, hätten wir also konkret von Erschießungen oder Vergewaltigungen gehört. Vielleicht wollten wir – im Vollgefühl moralischer Überlegenheit – nur halbwegs hartnäckig gefragt haben, aber dann lieber doch nicht alles wissen? Hätten wir als Kinder von Mördern Frieden mit unseren Eltern und mit uns selbst schließen können? Die ganze Republik wäre eine andere gewesen…

Es klingt plausibel, dass die Nachkriegskinder oft erst im höheren Alter gleichsam hinterrücks noch einmal von den Lebensdramen ihrer Eltern eingeholt werden. Sie haben sich eingeredet, dass man als Erwachsener irgendwann mit seinen Altvorderen im Reinen zu sein hat. Doch weit gefehlt.

Sabine Bode: „Nachkriegskinder. Die 1950er Jahrgänge und ihre Soldatenväter“. Verlag Klett-Cotta, 302 Seiten. 19,95 Euro.




Das Elend wird seziert – Ingmar Bergmans „Szenen einer Ehe“ im Dortmunder Schauspiel

Szenen einer Ehe

Szene einer Ehe mit (v.l.) Sebastian Kuschmann, Julia Schubert, Uwe Schmieder und Bettina Lieder. (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Es ist so deprimierend. Vermeintlich freie Menschen in einer modernen, selbstbewußten Bürgergesellschaft haben alle Möglichkeiten, ihr Leben zu regeln, und sie schaffen es nicht.

Früher einmal konnte man die Ursachen vieler Probleme in überkommenen Tabus und im verdrucksten Umgang mit der Sexualität finden, lag die Lösung logischerweise in der Überwindung dieser Zwänge. Im schwedischen Mittelstandsmilieu jedoch, das Ingmar Bergman 1973 für einen Fernseh-Sechsteiler portraitierte, ist die Sexualität – oder das Geschwafel über sie – geradezu allgegenwärtig.

Doch der – vermeintlich – freie Umgang mit der Sexualität ist längst schon nicht mehr Teil der Lösung, sondern Teil des Problems. Denn persönliche Freiheit zu haben bedingt ja auch die Fähigkeit, sie sich nehmen zu können. Aber jetzt wird es vielleicht schon zu küchenphilosophisch. Blicken wir lieber zum Dortmunder Schauspielhaus, wo Bergmans „Szenen einer Ehe“ jetzt in einer recht umgangssprachlichen Umsetzung ins Deutsche von Renate Bleibtreu eine Bühnenpremiere erlebten.

Handlungsort ist ein Allerweltswohnzimmer mit eigenen Wänden und seitlichem Flur, eine Bühne auf der Bühne somit, angesiedelt vielleicht in einem Fernsehstudio, das ein Beleuchter ab und zu ausleuchtet (Bühne und Kostüme: Patricia Talacko). Die Mitwirkenden haben keine Rollennamen, was schlüssig ist, da die Rollen im gnadenlosen Partnerschaftsspiel immer wieder wechseln. Zudem zerlegt Regisseurin Claudia Bauer die Reaktionsmuster der Rollen höchst sorgfältig in ihre Bestandteile und ordnet sie verschiedenen Akteuren zu. Die Frau zum Beispiel, die ihr Mann verlassen will, reagiert mit Zorn, mit Klage, mit Flehen, mit dem verzweifelten Versuch, das ganze noch einmal neu auszuhandeln, mit scheinbar cooler Akzeptanz; und mit jedem Stimmungswechsel wechselt auch die Darstellerin. Ähnliches geschieht beispielsweise im Verhältnis von Mann und Frau, die es ebenso wenig miteinander wie ohneeinander aushalten.

Szenen einer Ehe

Ensemble. (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Mal werden Paarbeziehungen in starken, tänzerischen Bildern vervielfacht, mal läßt die Inszenierung die Darsteller pantomimengleich agieren, während Sprecher außerhalb der Szene ihnen Stimmen verleihen, mal ist das Klo der Ort der Selbstbekenntnisse, mal haben alle Eselsköpfe aufgesetzt, mal wird, warum auch immer, das Handlungsentscheidende hinter der Kulisse gespielt und von einer Videokamera übertragen, kurz: das analytische Seziermesser ist gut beschäftigt in dieser Inszenierung.

Doch das macht den Zuschauer, wie gesagt, nicht glücklicher. Denn aus dem Bergmanschen Ehekosmos gibt es kein Entrinnen. Die sprichwörtlichen zehn Prozent Humor, die für den erfolgreichen Verlauf einer Psychotherapie unverzichtbar sind, würden auch hier helfen, aber Bergman gönnt sie uns nicht. Und Regisseurin Claudia Bauer, auch in diesem Punkt sehr auf Linie des Meisters aus Schweden, zeigt eine etwas leichtere, entspanntere Weltsicht lediglich in der Detailzeichnung mancher Paarsituationen, beispielsweise im komischen Geschlechtertausch eines der (rechnerisch) vier Paare.

Szenen einer Ehe

Szene einer Ehe mit Carlos Lobo und Merle Wasmuth. (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Man könnte darüber nachsinnen, ob ein skandinavisch-protestantisches Milieu, das scheinbar nichts tabuisiert, aber alles zur Gewissensentscheidung des Einzelnen macht (und ihn in dieser scheinbar grenzenlosen Freiheit überfordert) zur hier inszenierten Ausweglosigkeit beiträgt. Aber kaputte Ehen gibt es nicht nur im hohen Norden. Nun ja.

Obwohl Erkenntnisgewinn nicht unbedingt das hervorstechende Merkmal dieser Einrichtung ist, besticht sie doch durch einige eindringliche Bilder. Wenn etwa nach der Pause das „Wohnzimmer“ verschwunden ist, die Videokamera dankenswerterweise Pause hat und das Ensemble der „Sprachlosigkeit“ (das Stück hat, wohl in Analogie zum Fernseh-Mehrteiler, Zwischentitel) in einer athletischen Choreographie Ausdruck verleiht, gewinnt sie doch erfreulich an Intensität.

Sehr zu loben sind wiederum Einsatz und Präsenz des Ensembles, das aus Frank Genser, Sebastian Kuschmann, Bettina Lieder, Carlos Lobo, Uwe Schmieder, Julia Schubert, Friederike Tiefenbacher und Merle Wasmuth besteht.

Herzlicher, anhaltender Applaus.

Die nächsten Termine: 4., 21. Dezember 2014, 9., 25. Januar 2015 (Karten 9 bis 23 Euro – Tel. 0231 / 5027 222). www.theaterdo.de




Wie die Welt in den Kopf gekommen ist – Paul Austers „Bericht aus dem Inneren“

U1_XXX.indd„Am Anfang war alles lebendig. Die kleinsten Gegenstände waren mit pochenden Herzen ausgestattet, und selbst die Wolken hatten Namen. Steine konnten denken, und Gott war überall.“

Paul Auster gehört zu den bedeutendsten amerikanischen Gegenwartsautoren. Ob mit seiner „New-York-Trilogie“ oder seiner „Brooklyn-Revue“, mit „Der Mann im Dunkel“ oder „Sunset Park“: Immer wieder hat Auster die Möglichkeiten der postmodernen Literatur neu vermessen, furios mit Erzählweisen jongliert. Das neue Buch des 1947 geborenen und seit vielen Jahren mit der Schriftstellerin Siri Hustvedt verheirateten Autors heißt „Bericht aus dem Inneren“.

Auster spricht von seiner Kindheit und Jugend und davon, wie es war, allmählich erwachsen und Schriftsteller zu werden. Vor einem Jahr, in seinem „Winterjournal“, ging es um eine erste, vorsichtige Lebensbilanz, um wichtige Stationen, um Todes-Erfahrungen, lebensbedrohliche Krankheiten, den allmählichen Verfall, die Nöte des Alters und um den Zufall, der so oft darüber entscheidet, ob und wie wir weiterleben dürfen.

Im „Winterjournal“ erzählte Auster die „Geschichte seines Körpers“, im „Bericht aus dem Inneren“ erzählt er jetzt die „Geschichte seiner Bewusstwerdung“: Er will herausfinden, wie die Welt ihn seinen Kopf gekommen ist und wie er sich seiner selbst und seiner Identität bewusst wurde. Er durchforstet die Gedankenwelt seiner Kindheit, erinnert sich, wie er mit acht Jahren angefangen hat, Romane zu lesen und Biografien über Baseball-Stars und historische Helden.

Immer wieder stellt sich schon beim Kind das Gefühl ein, in ein anderes Raum-Zeit-System zu gleiten, sonderbar benebelt und ausgehöhlt zu sein und das eigene Sterben zu proben. Schmerzlich kommt ihm in Kindertagen zu Bewusstsein, dass er Teil einer kaputten Familie ist, in der es zwar keinen Streit, aber permanentes Schweigen und Gleichgültigkeit gibt. Mit sieben oder acht Jahren kapiert er, dass er Jude ist, was bedeutet, abseits zu stehen und Außenseiter zu sein.

Während er dabei ist, die Bücher und Filme zu beschreiben, die ihn als Kind besonders beschäftigt und sein Bewusstsein geprägt haben, schickt ihm seine Ex-Frau, die Schriftstellerin und Übersetzerin Lydia Davis, einen dicken Packen Papier. Es sind Kopien der Briefe, die er ihr in den 1960er und 70er Jahren geschrieben hat: Sie kommen ihm wie eine Zeitkapsel vor, wie ein kostbares Geschenk und Ersatz für ein Tagebuch, das er nie geführt hat.

Mit den Briefen kann er rekonstruieren, wie er eine Zeitlang in Paris lebte, Drehbücher schrieb und von einer Karriere beim Film träumte, wie er 1968, zurück in New York, Teil der Studentenrevolte war, von der Polizei verprügelt wurde, Angst hatte, zur Armee einberufen und nach Vietnam geschickt zu werden. Und wie er dann irgendwann beschließt, sich ganz darauf zu konzentrieren, Künstler zu werden. Und Romane zu schreiben, die immer auch davon handeln, wie das Denken die Realität verändert und die Fantasie sich eine eigene Welt erschafft. Schon als Kind begreift er: „Die Welt ist in meinem Kopf.“

Paul Auster: „Bericht aus dem Inneren“. Aus dem Englischen von Werner Schmitz. Rowohlt Verlag, Reinbek. 289 Seiten, 19,95 Euro.




Familienfreuden XIV: Eine Lektion Babyschwimmen

Es gibt solche Eltern. Und es gibt solche Kinder. Oder: Wir waren beim Babyschwimmen. Eine Lektion in Demut, Erziehung und dem ganz normalen Wahnsinn.

Ich bin sicher, es gibt sie. Kinder, die nie nölen, schreien oder laut protestierend ihren Willen durchsetzen wollen. Die nie im unpassenden Moment in die Windel machen, für den nächsten Keks fast den Kinderwagen zum Umfallen bringen oder an der Supermarktkasse eine Revolte anfangen, gegen die die Französische Revolution ein Fliegenpups ist. Die allerdings schon mit sieben Monaten das Laufen begonnen haben, mit acht Monaten das Sprechen und ab anderthalb den ersten Kurs an der Uni besuchen. Und es gibt sicher auch die Eltern, die nie die Nerven verlieren, die immer genau wissen, was gerade mit ihrem Kind los ist und die nie auch nur ein gekauftes Gläschen an ihren Nachwuchs verfüttert haben.

Tropische Gefühle beim munteren Babyschwimmen. (Bild: Albach)

Tropische Gefühle beim munteren Babyschwimmen. (Bild: Albach)

Ich gestehe: Wir gehören nicht dazu.

Der Auslöser für diese Zeilen? Wir waren beim Babyschwimmen.

„Was ein Stress“

Normen watete mit Fi ins Wasser, ich stand am Beckenrand. Als ein Vater einen anderen mit leidendem Gesichtsausdruck und den Worten „Oh, was ein Stress! Wir müssen gleich noch zu Babyone!“ begrüßte, versuchte ich, das nicht als böses Omen zu werten.

Und tatsächlich: Fi lachte, planschte, paddelte – das Glück hatte ein Gesicht.

Nur ich hätte es beinahe nicht gesehen, weil mir schwarz vor Augen wurde. Die Schwimmhalle war auf gefühlte 50 Grad aufgeheizt. Die anderen Väter und Mütter am Beckenrand standen in luftigen Sportklamotten da – ich in meiner Winterkleidung drohte gleich, ins Wasser zu kippen.

Als ich einer Mutter sagte, dass mir die Hitze zu schaffen machte und die anderen Eltern ja schlauerweise dünner angezogen seien, schaute sie mich von oben bis unten an und sagte: „Mit gutem Grund!“

Ich schluckte es runter wie Fi das Chlorwasser.

Wickeln im Stehen

Hinterher in der Kabine, neben mir eine Mutter, die ihr Kind anzog, die Oma daneben. Ein eingespieltes Team, das sah man sofort. Fiona hingegen verstand unter Einspielen etwas anderes, als sich ruhig hinzulegen und anziehen zu lassen. Sie blieb zeternd stehen. Wickeln im Stehen gehört mittlerweile zu meinem Standardrepertoire – in normalen Situationen. Eine winzige Umkleide bei tropischer Hitze sprengt allerdings den normalen Rahmen. Wir arbeiteten uns millimeterweise vorwärts, ich beruhigend auf Fi einredend, sie zappelnd.

Blick von links. Missbilligend. Vielsagendes Räuspern. „Schau mal, Arabella“, sagte die Mutter neben mir honigsüß zu ihrer Babytochter, „DA wird noch diskutiert. DIE Phase haben wir ja schon hinter uns. DU wirst einfach hingelegt – und gut ist!“

Kennt Ihr die Folge des Tatortreinigers, bei der er von einem Nazi verbal belagert wird und in Tagträumen überlegt, wie er gern reagieren würde? Ich will keine Details nennen, aber mein Tagtraum hatte mit Fi’s voller Windel zu tun…

Glück zählt

Was soll ich sagen? Wir werden trotzdem wieder hingehen. Fi schließlich hat es glücklich gemacht – das zählt.

Das nächste Mal aber werde ich daran denken, was Normen beim Umziehen in der Männerkabine mitangehört hat. Dass nämlich der eine Vater den anderen fragte, ob er demnächst mal wieder joggen werde. Und der nur resigniert sagte, er habe nun Familie, Job, Haus. Da sei sowas wirklich nicht mehr drin.




Wenn die Idylle in Gefahr gerät – John Cheevers Roman „Ach, dieses Paradies“

Sind es zwei, drei oder vielleicht sogar vier Geschichten, die John Cheever in seinem knapp 120 Seiten umfassenden Roman „Ach dieses Paradies“ miteinander verknüpft? Diese Frage stellt man sich als Leser unweigerlich, will man doch irgendwie die Handlungsstränge verstehen und ordnen.

Aber vollkommen unabhängig davon, auf welche Zahl man sich verständigt: Das Buch, das 1982 (im Todesjahr des Autors) erstmals im amerikanischen Original erschien, besticht durch eine einmalige Erzählkunst. Ihr ist es letztlich zu verdanken, dass die einzelnen Geschehnisse ein Gesamtbild ergeben, mit dem der Autor wohl auch eine Botschaft vermitteln will.

Cheever

Dabei beginnt der Roman eher lapidar, stellt Cheever doch einen älteren Mann vor, der leidenschaftlich gern Schlittschuh läuft. Doch als der Senior eines Tages feststellen muss, dass der Lieblingsort für seinen Lieblingssport, ein idyllisch gelegener Teich, zu einer Mülldeponie verkommen ist, schaltet er sich in die politische Debatte ein. Er holt einen Umweltexperten herbei, der die Gefahren des Vorhabens für Mensch und Umwelt drastisch vor Augen führt, kämpft selbst an vorderster Front, um die Halde wieder verschwinden zu lassen.

Doch dieser Mann namens Lemuel Sears wird nicht nur in seiner Rolle als Umweltaktivist, wie man ihn heute wohl nennen würde, beschrieben, Cheever breitet auch das durchaus verstörende Liebesleben vor dem Leser aus. Dabei überrascht weniger, dass sich der Witwer zu einer jüngeren Frau hingezogen fühlt, die auch gut ohne ihn leben könnte, wie sie offenherzig zu verstehen gibt. Vielmehr ist es die Episode mit einem Fahrstuhlführer, mit dem sich der Naturfreund mir nichts, dir nichts auf ein homosexuelles Abenteuer einlässt.

Sein eigenes Handeln verwirrt Sears derart, dass er einen Psychiater aufsucht, der ihm auf der Suche nach den Beweggründen aber nur wenig weiterhelfen kann. Sears bleibt mit mehr Fragen als Antworten zurück, was sich zunächst auch auf sein Engagement gegen die Deponie übertragen lässt. Das Vorgehen der Behörden findet er befremdlich und unverständlich. Je mehr er sich jedoch in die Entscheidungsprozesse vertieft, umso deutlicher treten die Machenschaften und Intrigen zu Tage, die den Umweltfrevel überhaupt erst entstehen ließen.

Die ohnehin schon komplexe Erzählung erfährt aber noch mehr überraschende Wendungen: ein Barbier, der aus vermeintlicher Geldnot seinen Hund erschießt, die Ehefrau , die mit der Drohung, Lebensmittel zu vergiften, gegen die zu befürchtende Verseuchung des Teiches zu Feld zieht und schließlich das Baby, das auf einem Parkplatz zurückgelassen wird…

Was mag den Schriftsteller wohl motiviert haben, solche vollkommen unterschiedlichen Erzählstränge miteinander zu verknüpfen? Der Titel des Buches bietet dazu durchaus eine Spur an: Das Paradies, das Sears beispielsweise gefunden zu haben glaubt, ist durch die Müllhalde ebenso verschwunden wie die glückliche Zeit, die der Barbier in wirtschaftlich besseren Phasen genießen konnte.

John Cheever: „Ach, dieses Paradies“. Roman. DuMont Verlag. Aus dem amerikanischen Englisch von Thomas Gunkel. Mit einem Nachwort von Peter Handke. 128 Seiten, 17,99 Euro.




Wo das Glück sich zeigen kann

Es hat schon ein wenig genervt, wie die ARD für ihre Themenwoche übers Glück vorab die Trommel gerührt hat. Sogar zum Tagesschau-Nachrichtenstoff wurde der eigene Programmschwerpunkt. Was aber Anke Engelke jetzt unter dem Titel „Sowas wie Glück“ präsentiert hat, war wirklich berührend.

Anke Engelke (vorn rechts) auf Glückssuche - hier bei einer Chorprobe. (© WDR/Tom Trambow)

Anke Engelke (vorn rechts) auf Glückssuche – hier bei einer Chorprobe. (© WDR/Tom Trambow)

Auf der Suche nach dem Glück begab sich die vor allem mit Komik bekannt gewordene Fernsehfrau auf Deutschlandreise. Anfangs konnte man noch argwöhnen, hier stelle ein Promi wohlfeile Betroffenheit zur Schau. Doch das war nicht der Fall. Anke Engelke erwies sich als richtige Besetzung fürs Thema: zuversichtlich, aber nicht bodenlos optimistisch; einfühlsam ohne unnötiges Drumherum; komisch nur dann, wenn der Augenblick es zuließ. Den etwas windschiefen Satz „Ich bin zuständig fürs Emotionale“ wollen wir ihr gern verzeihen.

Bewegende Weisheit der krebskranken Kinder

Vor allem ihre Gespräche mit krebskranken Kindern in einer Essener Klinik waren ungemein bewegend. Auch dort, wo man es nicht vermutet, gibt es große Glücksmomente. Wie früh diese Kinder gereift sind – weit über ihr Lebensalter hinaus. Wie da ein Mädchen, dem gerade der Magen wegoperiert worden ist, sich tapfer vornimmt: „Man muss für seine Eltern stark sein…“ Wie da ein unheilbar kranker Junge, der weiß, dass er sterben wird, seiner Mutter verkündet, er wolle nach seinem Tod ihr Schutzengel werden. Da darf man schon mal ziemlich feuchte Augen bekommen…

Die Fröhlichkeit beim Gesang

Per Zeitungsanzeige suchten Anke Engelke und ihr Team gezielt unglückliche Menschen, die beispielsweise ihre Partner oder die Arbeit verloren hatten. Aus ihren Reihen wurde ein Chor zusammengestellt, der schließlich nach zwölf Wochen Proben in der Kölner Philharmonie auftrat. Und siehe da: Das Singen in der Gemeinschaft schmiedete nicht nur zusammen, sondern setzte nachweislich Glückshormone frei. Wie schön war es, die strahlenden Gesichter beim Auftritt zu sehen – dieselben Gesichter, die Wochen vorher nur von Sorgen zerfurcht waren.

Schließlich jene rund hundertköpfige Dorfgemeinschaft im deutschen Südwesten. Gewiss, da wehte ein leicht esoterischer Hauch. Doch das Glück, das aus solcher Gemeinsamkeit fließen kann, war auch hier mit Händen zu greifen. Leute, die ihren höchst unterschiedlichen Besitz offenlegen, teilen und also niemanden abstürzen lassen, haben eben einiges für sich.

Lebendige Gemeinschaft

Immer wieder leuchteten unterwegs kleine oder größere Glücksanlässe auf: die „geerdete“ Arbeit im Garten, die Geburt eines Zickleins, eine 60 Jahre währende Ehe, wobei der Mann beinahe schon unverschämt glücklich wirkte.

Und das Fazit? Nun, dass Sex und Geld nicht platterdings als allerbeste Glücksquellen gepriesen wurden, durfte man wohl erwarten. Eher ging es in diese Richtung: Man sollte sein ganz persönliches Glücksbedürfnis mit wachen Sinnen wahrnehmen, es gleichsam hegen und pflegen. Man sollte sich mehr zutrauen. Gesundheit und lebendige Gemeinschaft sind hohe Güter, wenn nicht die höchsten. Was außerdem noch entstehen kann, wird sich dann beizeiten zeigen.




Die guten Seiten der schlechten Stimmung

Soll man sich wirklich von allen Hoffnungen und jedwedem Optimismus verabschieden und stattdessen Trauer und Pessimismus Vorschub leisten? So will der Arzt und Psychologe Dr. Arnold Retzer sein Buch „Miese Stimmung“ wohl kaum verstanden wissen, auch wenn er schon nach wenigen Zeilen einen Wertewandel für überfällig hält.

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Vereinfacht könnte man zwar sagen, der Privatdozent an der Universität in Heidelberg möchte die Menschen drängen, statt auf Spaß und Erfolg lieber auf Trauer und Scheitern zu setzen. Der eigentliche Wert dieses Buches liegt aber wohl darin, dass Retzer die Folgen beschreibt, die nach seinem Dafürhalten mit den Idealen heutiger Zeit verbunden sind.

Menschen lassen sich zu Helden hochstilisieren oder werden vom Fernsehpublikum dazu auserkoren, ob im Fußball, im TV oder auch in der Wirtschaft. Doch die Wirklichkeit, die Fehler und Versagen einschließt, holt sie schneller ein, als man meint. Der tiefe Fall ist programmiert und kann, wie es Retzer am Beispiel einiger Wirtschaftsbosse aufzeigt, im Suizid enden. Die Manager stehen nach seiner Ansicht aber auch für eine weitere Absurdität: Es herrsche in unserer Gesellschaft ein Trend, aller Realität zum Trotz die Hoffnung zu bewahren. Für Retzer sind die Finanz- und Wirtschaftskrisen der jüngsten Vergangenheit Paradebeispiele, wie eine irrationale Hoffnung auf bessere Zeiten verhindert hat, frühzeitig die Notbremse zu ziehen.

Ein weiteres Übel, beklagt der Autor, bestehe darin, vermeintlich negative Seiten des Lebens nicht zuzulassen. Sich Fehler einzugestehen, Trauerarbeit zu leisten und Irrtümer als Chance zu begreifen, sei vielen Menschen abhanden gekommen. Der Psychologe wartet mit eindrucksvollen Zahlen über Medikamente und Drogen auf, die nach seiner Darstellung vor allem einem Ziel dienen: das Gehirn zu manipulieren. Die Mittel heiligen, so Retzer, den Zweck. Studenten nehmen sie, um ihre Leistungskurve stetig zu steigern, Führungskräfte kommen nicht ohne aus, weil sie sonst dem Stress nicht standhalten. Zudem werde das Gehirn nicht selten mit chemischen Mitteln eingenebelt, um Depressionen zu verhindern.

Retzer hält all diesem Streben (schneller, höher, weiter) ein Stoppschild entgegen. Sich Wut zuzugestehen, um Misserfolge trauern, aber auch anderen Menschen vergeben können, das seien Beispiele für einen alternativen Umgang mit den Schwierigkeiten unserer Zeit. Anders formuliert: Retzer plädiert sehr stark dafür, sich stärker auf seine eigenen Gefühle einzustellen und die Bereitschaft mitzubringen, gegen den Strom zu schwimmen. Es reiche aber nicht aus, Eckart von Hirschhausen zu folgen, der empfohlen hat, das eigene Zwerchfell öfter zu strapazieren.

Fazit: „Miese Stimmung“ ist ein durchaus aufmunterndes Buch.

Arnold Retzer: „Miese Stimmung, Eine Streitschrift gegen positives Denken“. S. Fischer Verlag, 334 Seiten, 19,99 Euro.




Gerhard Roth und die Gugginger Künstler: Tolle Bilder, empathisch einfühlsame Texte

Rechtzeitig vor dem Geburtstag Gerhard Roths, des bedeutenden österreichischen Schriftstellers, der am 24. Juni 70 Jahre alt wurde, erschien im Mai im Residenz Verlag ein opulenter Text– , Bild– und Foto–Band: Gerhard Roths „Im Irrgarten der Bilder / Die Gugginger Künstler“.

So wichtig Gerhard Roths Texte für diesen Bildband auch sind, sie legen allesamt Wert darauf, die individuelle Besonderheit der Gugginger Künstler vordringlich und in uns Leser…n nachhallend zur Geltung kommen zu lassen. Was in meinem Falle zweifellos gelungen ist.

Also: Legen Sie alle Vorurteile und Vorbehalte, die Sie trotz Hans Prinzhorns Buch von 1922 und trotz Leo Navratils Veröffentlichungen vielleicht immer noch gegen die „Bildnerei“ und Gestaltungskraft von Schizophrenen und „Geisteskranken“ haben, wenigstens versuchsweise ab und lassen Sie sich ein auf die beeindruckenden, individuellen Bilderwelten der Gugginger Maler, Zeichner und Poeten. Hier nämlich werden sie zugänglich; in gewahrter, bewahrter Fremdheit und mitunter überraschender Nähe und Klarheit.

Eines der Buchkapitel (überschrieben mit „Im Haus der schlafenden Vernunft“) spielt schon im Titel auf die Bildunterschrift der bekannten Goya-Radierung an: „Der Schlaf der Vernunft gebiert Träume und Ungeheuer.“ Mir selbst kam sogleich auch noch der folgende, ebenfalls generell gemeinte, mir seit langem ebenfalls wichtige Satz des Philosophen Schelling in den Sinn: „Der Verstand ist der geregelte Wahnsinn.“

Welchen Zugang zum Schöpferischen haben die Künstler unter jenen, die in besonderer Weise auch außerhalb der Träume der Nacht von den Regelungen des eigenen Verstandes, sei’s zeitweise, sei’s dauerhafter, entbunden sind? Solche und ähnliche die Künste und den Menschen betreffende Fragen haben mich in der letzten Woche interessiert, als ich in der selten kurzen Zeit entschieden großer Sommerhitze endlich zu einer genaueren und intensiveren Lektüre dieses Text- und Bildbandes gekommen bin. Da schon schrieb ich:

„Einen kleinen Tisch nehme ich mir, auf dessen obere Fläche das große tolle Buch auch aufgeschlagen gut passt, setze mich in den Schatten auf den Balkon und lese und schaue und lese mich fest.“ –

„Auffällig: die „Irren“ schreiben“ – ob handschriftlich, ob in Blockschrift – „ noch immer in einer Schönschrift, die auch ich in meiner Kindheit in Österreich ganz ähnlich gelernt habe.“ –

„Was denn noch schreiben über dieses im Buch selber schon Geschriebene hinaus? – Anregend ist es allemal. Und die einzelnen Bilder warten darauf, dass man über ihnen ins Sinnieren kommt und nun selber über sie schreibt und denkt, auf eigene Weise und ganz privat.“ –

„Gerhard Roth hatte jeweils Mut zu eigener Subjektivität im geduldigen Anschauen und Wahrnehmen; und fordert so wie von selbst unser Subjektives, Verwandtes Suchendes und auch Findendes, heraus.“ –

„Dieses Buch wird mich weiterbeschäftigen. Ende nicht absehbar.

„Um das Rätsel des Menschseins geht es auch hier: um das Rätsel des Menschseins, das (nur aus moderner Sicht?) unlösbare; in Kunstwerken aller Zeiten und Kunstrichtungen wäre es dann immer wieder in seiner Rätselhaftigkeit sichtbar gemacht und dargestellt worden; das Rätsel wäre so vielleicht zwar immer noch unlösbar, aber doch zugänglicher gemacht.“ –

„Durch diese Bilder und durch Gerhard Roths verfasste Einzelporträts fühle ich mich wieder offener für alte und neue Kunst und bin wohl auch wieder offener für andere Menschen geworden, lerne sie ggf. besser verstehen, schon von der neu gewonnenen Ausgangslage her.“ –

„Erst katalogartig lesend, mir erst nur die naheliegenden Fragen vorlegend: Was ist unter den Künstlern von Gugging zu verstehen? Wie heißen sie? Wie hat sich alles entwickelt?“ –

„Und auf alle diese Fragen im fortlaufenden Lesen ausführlich Antwort bekommend, ziehen mich die hier zusammengestellten Beiträge Gerhard Roths, seine Einzelporträts von Gugginger Malern und Poeten, mehr und mehr hinein
und wirken sich produktiv auf mich selber aus, mich nach meiner etwaigen Eigenproduktion fragend, mich darin ermutigend und bestärkend, mich auf meine ureigene Nuance verweisend.“

Gerhard Roth: „Im Irrgarten der Bilder / Die Gugginger Künstler“, Residenz Verlag, St. Pölten/Salzburg/Wien. 360 Seiten, € 39,90.




Vandalismus unter der Gürtellinie

Ikonoklasmus, Bildersturm: eine der absurdesten Artikulationen unserer Zeit. Passive Kulturgüter, ob aus politischer oder persönlicher Aversion, mit Gewaltakten zu zerstören, ist in aufgeklärt-demokratischen Gesellschaften schlichtweg daneben. Was jedoch heutzutage besonders bemerkenswert erscheint: das avisierte Körperteil.

Hans-Peter Feldmann: "David"

Hans-Peter Feldmann: "David" © Lehmbruck Museum

Michelangelo, dessen Statue des „Auferstandenen Christus“ in der römischen Kirche Santa Maria sopra Minerva bis heute einen pietätsgerechten Lendenschurz zu tragen hat, war gestern. Aber immerhin, diese große Bildhauerei ist ja noch vollendet, wenn auch mit Fremdslip. Unterhalb der Gürtellinie trifft’s derzeit die zeitgenössischen männlichen Figuren brutal. Schlimm steht es jetzt um eine Plastik von Hans-Peter Feldmann im Kantpark in Duisburg. Sein „David“, eine neun Meter hohe, quietschrosa Replik des Michelangelo-Originals, wurde um ihr bestes Stück gebracht. Lehmbruck-Direktor Raimund Stecker konnte noch schmunzeln, als seinem Schutzbefohlenen neulich, gleich dem klerikalen Kollegen aus Rom, ein genitaler Sichtschutz verpasst wurde.

Nun ist da nichts mehr, und das Entmannen ist beileibe kein Einzelfall: Im Mai erwischte es eine metallene Figur von Antony Gormley und Vicky Parsons aus der 100-teiligen Serie „Horizon Fields“ im Vorarlberger Lechquellengebirge, Österreich. Kastration mit dem Winkelschleifer hier, Hammerschläge dort. Nein, wir leben gerade nicht in Zeiten gesetzmäßiger oder klerikaler Schamverordnungen. Am längst ad acta gelegten Nacktheitsverbot kann es nicht liegen, dass die Vandalen unter die Gürtellinie bolzen. Hier offenbart sich die erbärmliche Spießigkeit unserer bigotten Schenkelklopfergesellschaft.




Der Familie entgeht man nicht – Zeruya Shalevs Roman „Für den Rest des Lebens“

Auch wenn man selbst schon Kinder hat und in der Mitte des Lebens steht: Solange die eigenen Eltern leben, bleibt man ein Kind. Ein Kind, das von der Erziehung und den Erwartungen und Enttäuschungen der Eltern geprägt ist, ein Kind, das den Tod der Eltern verkraften muss, während man selbst Kinder erzieht und sie vor dem Tod beschützen will.

Vor allem davon, dass Eltern uns „Für den Rest des Lebens“ prägen und die Familienbande stärker sind als alle Versuche, diese emotionalen Abhängigkeiten aufzulösen, handelt der neue Roman von Zeruya Shalev. Es ist ein meisterlicher und oft versponnener, von Rückblenden und Erinnerungen durchwirkter Roman, ein feinfühliges, psychologisch aufgeladenes Erzählkonstrukt, das niemanden kalt lassen kann. Und ein Buch, mit dem die israelische Autorin ein eigenes Trauma bearbeitet.

Zeruya Shalev, international berühmt geworden mit Romanen wie „Liebesleben“, „Mann und Frau“ und „Späte Familie“, wurde 2004 bei einem Terroranschlag in Jerusalem schwer verletzt. Noch heute leidet sie seelisch und körperlich unter den Folgen. Doch weil sie sich nicht in ihren Schmerz verkriechen, sondern der sinnlosen Gewalt ein Zeichen des Lebens entgegensetzen wollte, entschied sie sich, einen kleinen russischen Jungen zu adoptieren.

Dina, eine der Hauptfiguren des Romans „Für den Rest des Lebens“, ist beileibe nicht identisch und kein schlichtes Abziehbild von Zeruya Shalev, aber auch Dina will ihrem ins Stocken geratenen Leben einen Ruck geben und dem politischen Stillstand in Israel etwas entgegenhalten: Auch wenn ihre Ehe fast daran zerbricht und ihre schon erwachsene Tochter ihre Mutter nicht verstehen kann, wird Dina nach Russland reisen, um einen kleinen Jungen zu adoptieren. Als sie dem Jungen das erste Mal begegnet und in seine traurigen Augen schaut, weiß sie, dass sie den Tod besiegen und vielleicht auch die verschüttete Liebe ihres Mannes zurückgewinnen kann. Da schließt sich der Kreis des Lebens: Denn im selben Moment klingelt ihr Mobiltelefon und Dina erfährt, dass Chemda, ihre seit langem schwer kranke Mutter, soeben gestorben ist.

Die mit dem Tod ringende Chemda ist das erzählerische Zentrum des Romans. Während ihr Bewusstsein sich trübt, lässt sie noch einmal ihr Leben Revue passieren, denkt an ihre Kindheit im Kibbuz, an ihre Ehe und ihre zwei Kinder. An ihren Sohn Avner, den sie viel zu sehr verhätschelte und den die überbordende Liebe der Mutter fast unfähig machte, eigene Beziehungen zu Frauen einzugehen. Chemda denkt auch an Dina, die vernachlässigte Tochter, die nur ein bisschen Liebe und Verständnis bei ihrem lebensfremden und melancholischen Vater finden konnte. Der Roman ist randvoll mit ödipalen Konstellationen und Konflikten der Kindheit, die das weitere Leben bestimmen. Da wundert es auch kaum, dass Dina mit ihrer eigenen erwachsenen Tochter hadert und sich nach einem kleinen Jungen sehnt.

Wer das alles als Variation altbekannter psychologischer Gemeinplätze und Klischees abhaken möchte, wird dem äußert vielschichtig und elegant erzählten Roman nicht gerecht. Immer wieder werden neue Türen aufgestoßen, kämpfen die sich in Erinnerungen verkriechenden Familienmitglieder gegen Wut und Enttäuschung, sehnen sie sich nach ein bisschen Glück und Zufriedenheit. Shalevs breit angelegter, über viele Jahre reichender Erzählhorizont weitet sich zu einer filigranen Topografie seelischer und politischer Landschaften. Wahrlich keine leichte, aber eine lohnende Lektüre.

Zeruya Shalev: „Für den Rest des Lebens“. Roman. Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler. Berlin Verlag, 521 Seiten, 22,90 Euro.




Piccoli als Papst: Man muss wohl etwas katholisch denken

Ein Film, der mit einer Beerdigung beginnt – das ist normalerweise ein „Tatort“. Bei „Habemus Papam“ wird jedoch ein Papst beerdigt, und zwar Johannes Paul II. Die bekannten Dokumentaraufnahmen führen in einen Spielfilm ein, in dem es um einen fiktiven Papst geht, der von den Kardinälen im Konklave gewählt wird, der sich aber vor der Größe der Aufgabe fürchtet und flieht. „Ein Papst büxt aus“ heißt deshalb in Deutschland der (misslungene) Nebentitel.

Michel Piccoli als Papst. (Foto: Prokino)

Michel Piccoli spielt diesen erwählten alten Kardinal Melville, und natürlich spielt er ihn sehr gut. Das jedoch reicht leider nicht, um die etwas eindimensionale Geschichte über mehr als 100 Minuten zu tragen. Liebe und Sex und Kinder und alle daraus möglicherweise resultierenden Spannungen können bei diesem Thema nicht vorkommen. Da hilft auch der ganz und gar ungläubige Psychoanalytiker nicht weiter, den die Kirchenführer hinzuziehen, und entsprechend zieht sich die Handlung in die Länge. Sicher finden sich einige amüsante Szenen in Nanni Morettis Film, aber eben nur einige.

In Entstehungsland Italien war der Streifen ein großer Kinorenner. Vielleicht, weil die Hauptstadt Rom und der Vatikan eine so herausragende Rolle spielen, aber sicher auch, weil man wohl etwas katholisch denken muss, um uneingeschränkt Gefallen an einem Kirchenthema wie diesem zu finden.




Hier daafsse nichma bekloppt werden!

Materialien zur psychotherapeutischen Behandlung des Ruhrgebiets

 

Die Statistik ist wohl nicht mehr taufrisch, doch bemerkenswert: Im Ruhrgebiet warten Klienten im Schnitt 17 Wochen auf psychotherapeutische Hilfe. Im Bundesdurchschnitt sind es 12,5 und im Osten der Republik 16,1 Wochen. Grund für die offenbar eklatante Unterversorgung: In anderen Großstädten werden rund 40 Therapeuten je 100 000 Einwohner zugelassen, im Revier nur ungefähr 10.

Diese Zahlen hat Prof. Rainer Richter, Präsident der Bundespsychotherapeutenkammer, in einem Gastbeitrag für die Süddeutsche Zeitung (Ausgabe vom 6. Oktober) genannt.

Welche Schlussfolgerungen könnten sich daraus ergeben? Ein paar knappe Ansätze:

Die spontane Reaktion: Wieder ein Bereich, in dem das Ruhrgebiet trübe Schlussfunzel ist und pfeilgrade mal wieder die „Süddeutsche“ das Elend aufgreifen kann. Zwischen Duisburg und Dortmund ist man erneut gekniffen. Abgehängt und eingemacht. Ach ja. Wann hört das jemals auf?

„Hier daafsse nichma bekloppt werden!“

Liegt es vielleicht an der hiesigen „Stell-dich-nicht-so-an“-Mentalität? Brauchen wir den ganzen Psycho-Zauber nicht? Hat sich daraus die gelegentlich robuste, ja zuweilen stiernackige Seinsweise regionaler Rathausfürsten entwickelt, die auch kulturelle Feinheiten nicht gelten lassen mögen?

Oder so besehen: Sorgen um die schiere Bezahlbarkeit des Lebens stehen hier oft im Vordergrund. Man darf sich keine feiner gesponnenen Leiden leisten.

Hypothese: In Freiburg, Heidelberg oder Tübingen gibt es signifikant mehr überempfindliche Hysteriker(innen) als in Gelsenkirchen oder Bottrop.

Ohnehin lassen sich Therapeuten lieber in schicken Städten wie Hamburg oder München nieder.

Traue keiner Statistik: Wenn (siehe oben) im Revier so wenige Therapeuten zugelassen werden, müssten dann die Wartezeiten im Verhältnis zu anderen Regionen nicht noch viel länger sein? Oder wird hier im raren Behandlungsfalle auch noch zügiger abgefertigt?

Weitere Vermutung auf traditioneller Basis: Der Gang in die Kneipe ersetzt im Revier nicht selten den Gang zum Psychotherapeuten. Immer noch. Paar Pilsken – und schon scheint es wieder zu laufen. Halbwegs. Gute Wirte sind bekanntlich nebenher Sozialarbeiter, Therapeuten und Beichtväter. Von rustikalen Wirtinnen ganz zu schweigen!

Noch’n Revierklischee: Wenn wenigstens der Fußballverein gewinnt, geht es manchen Leuten schon wieder ein wenig besser. Ein Pokal und erst recht eine Meisterschaft wirken heilsam. Selbst verlorene Spiele erzeugen starke, eindeutige Bilder ohne filigrane Verzweigungen und sonderlichen Hirnschwurbel.

Übrigens: Welche Interessen vertritt eine Organisation mit der monströsen Bezeichnung Bundespsychotherapeutenkammer? Der eingangs erwähnte Prof. Richter behauptet, schon jetzt leide fast jeder dritte Deutsche „innerhalb eines Jahres an einer behandlungsbedürftigen psychischen Krankheit.“ Will die Kammer womöglich die Schwelle für psychotherapeutische Intervention so niedrig setzen, dass fast jede(r) hilfsbedürftig ist und somit unentwegt neue Stellen in diesem Bereich entstehen? Will man die Segnungen der Psychotherapie noch breiter ausstreuen, nunmehr bevorzugt im Wilden Westen und im Wilden Osten?

Dafür danken wir schon jetzt. Auf Knien.

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Illustration: Fürs Bild (Titel „Auf der Couch“ / Foto: Bernd Berke) habe ich mich von der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS) inspirieren lassen, die ihre gewichtigen Themen öfter mal mit Playmobil-Figuren und anderem Spielgerät darstellt.