Als man sich noch für „richtig links“ halten wollte

Kinners, heute erzählt Euch der Boomer-Opa ein klitzekleines bisschen von früher. Keine Angst, es werden nur ein paar Schlaglichter sein. Und nur die fernen Echos wahrer Klassenkämpfe. Wie denn damals im Revier überhaupt nur der Widerhall aus den wirklichen Metropolen zu vernehmen war.

Icke, wa?! Wie man halt „damals“ aussah. (Foto: Norbert Hell)

Als ich studiert habe, hatte man gefälligst „links“ zu sein, was immer das wirklich heißen mochte. Wir waren uns jedenfalls fraglos sicher – und es schien ja in dieser Hinsicht auch noch wesentlich übersichtlicher zu sein als heute. Freilich sinnierte schon damals Botho Strauß in Gestalt seiner Lotte im Stück „Groß und klein“: „In den 70er Jahren finde sich einer zurecht…“

Bevorzugte „Quelle“ bzw. Hilfsmittel für jegliche Interpretation waren jedenfalls damals bei den Bochumer Historikern die blauen Bände der Marx-Engels-Ausgabe. Es herrschte unter den Studierenden (die damals noch Studenten geheißen wurden) weithin die Auffassung, alle geschichtlichen Geschehnisse jedweder Epoche müssten damit abgeglichen werden. Umso pikierter war ich, als ich eines Tages einen Brief von Karl Marx an seine Geliebte zu lesen bekam, der mit dieser Anrede begann: „Viellieb!“ Das wollte mir süßlich-kitschig vorkommen und sich so gar nicht zu seinen politischen Einsichten fügen. Ach, Gottchen!

Ein unerbittlicher „Anarchist“

In jenen seltsamen Zeiten gerierte sich ein Altersgenosse vehement als „Anarchist“. In einer stundenlangen hitzigen Wohnzimmer-Debatte ließ er sich nicht erweichen. Er hätte am liebsten alles in die Luft gesprengt, wie er posaunte. Wir anderen waren hingegen der Ansicht, dass er damit erst recht die volle Staatsgewalt gegen uns alle entfessele. Schließlich suchte ich den Kompromisslosen zu besänftigen, indem ich ihn zum Abschied herzhaft mit „Rot Front!“ grüßte. Er aber dröhnte, vollends unversöhnlich: „Schwarz Front!“ Wüsste gerne, was später aus ihm geworden ist. Vielleicht denn doch noch eine Gestalt auf der allseits abgesicherten Beamtenlaufbahn? Ist aber auch piepegal. Kaum jemand, der sich nicht angepasst hätte.

Den Hass auf die Bourgeoisie fühlen

Unwesentlich später war man schon auf die damals so genannte „Neue Sensibilität“ verfallen, die längst nicht mehr so harsch politisierte, sondern in Sanftmut und Milde daherkam, gleichsam auf Samtpfoten. Dennoch ließ ich mich bei irgend einer obskuren Splittergruppe für ein ganzes Wochenende auf eine „trotzkistische Schulung“ ein. Es blieb beim einmaligen Besuch, wie ich denn überhaupt nie dauerhaft Partei ergreifen mochte. Wer zweimal bei denselben sitzt, bekommt schnell den Verstand stibitzt. Gut, wa? Von mir. Ganz spontan.

Dem unerträglichen Trotzkisten-Präzeptor, der keinen Widerspruch duldete, sondern nur von oben herab dozierte, wagte ich die Frage zu stellen, ob denn bei ihnen alles nur rational vonstatten gehe oder ob man irgendwann auch Gefühle zeigen dürfe. Er, vollends am Sinn der Frage vorbei: „Ja klar, den Hass auf die Bourgeoisie!“ Aha. Zur Erholung vom stundenlangen Gefasel durften wir dann nachmittags Fußball spielen. Immerhin. Man war nicht nur ein Tor, man schoss auch eins. Harr, harr.

Durften die Beatles Mao schmähen?

Man war, so cirka zwischen 16 und 24 Jahren, dermaßen verblendet, dass man die Mao-Bibel reichlich unkritisch memoriert hat. Sogar den vor- und nachmals so verehrten Beatles nahm man die Zeilen aus dem Song „Revolution“ übel: „But if you go carrying pictures of chairman Mao, you ain’t gonna make it with anyone anyhow…“ Wie? Was? Nö, die Stones waren auch nicht viel mutiger, siehe ihren resignativen Text über den „Street Fighting Man“: „But what can a poor boy do except to sing for a Rock’nRoll Band, cause in sleepy London town there’s just no place for a street fighting man, no!…“

Jetzt mal gar nicht zu reden von Bettina Soundso, in die ich mich für einige Monate verguckte, weil sie (die es mit dem MSB Spartacus hielt) mir so heroisch wie eine zweite Rosa Luxemburg vorkam. Hach. Später ward sie wahrhaftig Geschichts-Professorin. Aber wie sie damals ihren Haarvorhang herunterlassen konnte, um dahinter gewichtig zu reflektieren! Überhaupt erwies sich das unentwegte Politisieren gelegentlich als „Liebes“-Beschleuniger, wahrscheinlich aber auf längere Sicht noch öfter als zerstörerisch.

„Deutscher Herbst“: Polizei in der Pizzeria

Zeitsprung: Aus dem „Deutschen Herbst“ um 1977 habe ich unter anderem in Erinnerung, wie die Polizei mit Maschinenpistolen im Anschlag eine Pizzeria enterte, in der wir friedlich beisammen saßen. Wiederum einige Jahre später suchte mich ein Mann vom Verfassungsschutz zu Hause in meiner kurzzeitigen WG auf, um mich nach einem Schulfreund auszufragen, der die Beamtenlaufbahn einschlagen wollte. Aber da waren wir schon in den öden 1980ern gestrandet. Und es gab überhaupt nichts zu beichten.

 




Groteske Sozialkritik im Asia-Restaurant: In Hagen startet eine neue Intendanz mit Peter Eötvös‘ „Der Goldene Drache“

Spielfreudiges Ensemble (von links): Nike Tiecke, Anton Kuzenok, Angela Davis, Kenneth Mattice, Ks. Richard van Gemert. (Foto: Leszek Januszewski)

Abschied und Neubeginn: Mit dem ehrgeizigen Projekt einer Uraufführung hat Intendant Francis Hüsers in Hagen noch einmal für einen Höhepunkt gesorgt. Auch sein Nachfolger Søren Schuhmacher bekennt sich zum Musiktheater der Gegenwart.

„American Mother“, die Oper der amerikanischen Komponistin Charlotte Bray, einfühlsam inszeniert von Travis Preston und vom Orchester unter dem ebenfalls scheidenden GMD Joseph Trafton auf makellosem Niveau gespielt, setzte einen tief bewegenden Schlusspunkt unter Hüsers achtjährige Intendanz.

Schuhmacher wird sich am 4. Oktober mit einem Klassiker, Verdis „La Traviata“, als Regisseur vorstellen. Seine auf fünf Jahre angelegte Intendanz eröffnet er jedoch mit Zeitgenössischem: „Der goldene Drache“ des im letzten Jahr verstorbenen Peter Eötvös stellt zugleich das neue Format „CloseUP!“ vor: Das Publikum darf auf die Bühne, sitzt auf drei Seiten um eine zentrale Spielfläche. Die vierte Seite, zum offenen Bühnenportal und dem leeren Zuschauerraum hin, besetzen die sechzehn Musiker des Orchesters.

Seit der Uraufführung 2014 in Frankfurt wird „Der goldene Drache“ häufig gespielt. Das liegt sicher auch an der perfekten Machart der Vorlage, einem Schauspiel von Roland Schimmelpfennig, das 2010 zum „Stück des Jahres“ gekürt wurde. Die Story dreht sich um einen jungen, illegal in einem Schnellrestaurant arbeitenden Chinesen mit wahnsinnigen Zahnschmerzen. Da er nicht zum Zahnarzt gehen kann, reißen ihm die Kollegen den kariösen Zahn mit einer Rohrzange. Der „Kleine“ verblutet; sein Leichnam wird in einen Fluss geworfen.

Lakonisches Erzählen und surreale Komödiantik

Wie Schimmelpfennig verbindet Eötvös sozialkritischen Realismus mit grotesken Zügen, verwebt in das Drama des „Kleinen“ die alte Fabel von der Grille und der Ameise. Sie wird zum schockierenden Gleichnis ausbeuterischer Abhängigkeit und sexuellen Missbrauchs. Kennzeichnend für die stark gekürzten Textfassung, die Eötvös in Absprache mit Schimmelpfennig für sein Musiktheater erstellt hat, ist das Ineinandergreifen von lakonischem Erzählen und surrealer Komödiantik, die einmünden in eine fantastische Übersteigerung am Ende, wenn der „Kleine“ als Toter übers Meer nach Hause schwimmt.

Der Monolog des toten jungen Chinesen ist das einzige ariose Innehalten in den gut 90 Minuten und sprengt die Erzählebenen. Wenn zuletzt der gezogene Zahn in einen Fluss gespuckt wird, erinnert die absurde Szene nicht nur an den von Eötvös geschätzten Samuel Beckett, sondern reißt einen transzendenten Horizont auf: Der junge Mensch und sein Zahn sind im Fließen des Wassers wieder vereint. „Der Zahn ist weg, als ob er nie dagewesen wäre“, ist der letzte Satz des Stücks.

Zwischen leichtfüßigem Boulevard und verstörender Intensität

In ihrer Inszenierung in Hagen bricht Julia Huebner den Strang des Erzählens auf, gibt den realistisch anmutenden Abschnitten in der beengten Küche des Asia-Restaurants einen verfremdenden Touch von überzogenem Boulevard, setzt die Fabel-Szenen der Grille durch eine Gondel und Live-Videos auf Distanz, lässt sie dadurch gleichzeitig verstörend eindringlich wirken.

Das Spiel der fünf Hagener Ensemblemitglieder, die in achtzehn Rollen schlüpfen, hat Züge des Impro-Theaters und wirkt leichtfüßig und überzogen, als käme es von der Bretterbühne eines Jahrmarkts. Die Kostümwechsel auf offener Szene (punktgenau karg von Iris Holstein) unterstreichen die Distanz vom naturalistischen Spiel und heben die Extreme und Kontraste hervor, auf die Eötvös abgezielt hat.

Mit der Musik von Peter Eötvös demonstrieren die Hagener Musikerinnen und Musiker, wie vertraut sie mittlerweile mit dem Idiom zeitgenössischer Klänge und Strukturen sind. Steffen Müller-Gabriel spornt an, wo es um rhythmische Pointen oder Klangakzente geht, dämpft aber ab, wo untergründiges Flüstern, dünnwandige Tongebilde und verhaltene Akkorde gefragt sind. Eötvös‘ setzt nicht auf Schärfe und Überwältigung, aber auch nicht auf süffiges Illustrieren. Er nimmt Anleihen bei Kabarett- und Operettenmusik, lässt dem Sprachrhythmus und dem verständlichen Wort stets den Vortritt. Wenn sich die Leichtigkeit verdichtet, bilden sich magisch schillernde Blasen luftigen Klangs.

Angela Davis in „Der Goldene Drache“, u.a. als Ameise. (Foto: Leszek Januszewski)

Das Hagener Ensemble mit Angela Davis, Anton Kuzenok, Richard van Gemert, Kenneth Mattice und der leichtstimmigen, ursprünglich aus dem Musical kommenden Sopranistin Nike Tiecke als „Kleinen“ findet die Balance zwischen Disziplin und Momenten grotesker Übertreibung. Ein gelungener Start in die neue Spielzeit, der hoffen lässt, dass Schuhmacher das bisherige Niveau in Hagen hält und durch neue Akzente bereichert.

Info: https://www.theaterhagen.de/veranstaltung/der-goldene-drache-1926/0/show/Play/




Erfolgreiche Spenden-Aktion: Münter-Gemälde kann für Dortmund angekauft werden

Um dieses Bild geht es in Dortmund: Gabriele Münter „Abend vom Fenster (Blick auf Rue Lamblardie, Paris“), 1930 (© VG Bild-Kunst, Bonn 2025)

Weiterer Nachtrag als neuer Vorspann, weil es einen entscheidend anderen, durchaus erfreulichen Sachverhalt gibt: Gabriele Münters Gemälde „Abend vom Fenster (Blick auf Rue Lamblardie, Paris) von 1930 kann fürs Museum Ostwall im Dortmunder U angekauft werden. Das entsprechende Crowdfunding-Projekt hatte – nach zögerlichem Beginn – doch noch Erfolg. Es wurden sogar etwas mehr Mittel als die benötigten 75000 Euro eingeworben, nämlich 77620 Euro = 103% (Stand vom 2. Juni, 14 Uhr).

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Blick zurück ohne Zorn: Anfangs hatte es nicht so rosig ausgesehen. Am 29. März hieß es (eher missmutig) bei den Revierpassagen:

Bleiben wir zunächst einmal trocken sachlich und regen uns (noch) nicht gleich auf. Das Dortmunder Museum Ostwall, für die bildende Kunst bei weitem das erste Haus am Platze, wird in diesem Jahr 75 Jahre alt. Die vereinigten „Freunde des Museums Ostwall“ (Freundinnen sind natürlich auch dabei) wollen dem im „Dortmunder U“ ansässigen Institut zum Jubiläum ein Bild schenken, das sich zum Sammelschwerpunkt Expressionismus fügt und von einer sehr bekannten Künstlerin stammt: „Abend vom Fenster (Blick auf Rue Lamblardie, Paris)“, 1930 von Gabriele Münter gemalt. Ganz bewusst wurde das Bild einer Künstlerin ausgewählt, denn Frauen sind bislang im Museumsbestand stark unterrepräsentiert.

Die „Freunde des Museums Ostwall“ geben für den Ankauf 30000 Euro, hinzu kommt „eine bedeutende Summe“ der Dortmunder Kulturbetriebe und ein Beitrag des Museums selbst. Um weitere 75000 Euro für den Kaufpreis aufzubringen, wurde – mit Unterstützung der örtlichen Volksbank – am 3. März ein Crowdfunding-Projekt gestartet. „Viele schaffen mehr“ heißt die Plattform, auf der sich das Geldsammeln abspielt. Bis zum 1. Juni soll der Betrag beisammen sein. So weit, so gut.

Von 75000 Euro noch ganz weit entfernt

Doch jetzt kommt’s, jetzt wird’s betrüblich bis beschämend: In der eh nicht sonderlich als Heimstatt der Kunst glänzenden Stadt mit ihren rund 600000 Einwohnern haben sich bislang (Stand 29. März mittags, also nach immerhin 26 Tagen) gerade einmal 19 Spenderinnen und Spender gefunden, die insgesamt 1575 Euro aufgebracht haben. Das sind gerade einmal knapp 2 Prozent der angestrebten Summe. Es ist also wahrlich noch ein weiter Weg bis zu den benötigten 75000. Dabei wurden Informationen über  das Sammelprojekt inzwischen an die regionalen Medien gereicht, die auch etwas dazu veröffentlicht haben. Zu vermuten steht, dass einige große Firmen der Stadt (Namen bitte hinzudenken) offenbar lieber – derzeit auch nicht eben fruchtbringende – Sponsoren-Millionen in Richtung Borussia Dortmund werfen, während das kulturelle Leben beiseite steht. Gern ließen wir uns eines Besseren belehren.

Nur der Schatten einer vitalen Stadtgesellschaft

Mehr noch: Unter den bisherigen Spendern finden sich Leute, die anonym bleiben möchten. Andere hingegen sind eindeutig zu identifizieren als Menschen, die dem Museum beruflich eng verbunden sind. Ein Nachname taucht allein dreifach auf, da hat sich offenbar die halbe Familie eingebracht. Aus der oftmals beschworenen „Stadtgesellschaft“ (aka Zivilgesellschaft), die hier eh nicht gerade imponierend breit gefächert ist, ist kein wesentlicher, zählbarer Zuspruch zu vernehmen.

Man stelle sich vor: Nähme man die Dortmunder „19″ zum Maßstab, kämen im ungefähr doppelt so großen München (was die Einwohnerzahl betrifft) dementsprechend nur 38 Spendenbeiträge zusammen, im etwa dreimal so großen Hamburg lediglich 57. Eigentlich undenkbar. Dort würden die privaten Finanzquellen gewiss ungleich reichlicher sprudeln. Das bürgerschaftliche Engagement ist in Dortmund, allem Strukturwandel des Reviers zum Trotz, immer noch vergleichsweise unterbelichtet. Wir haben es ja geahnt, doch jetzt haben wir wohl ein weiteres Indiz.

Hier der Link zur Crowdfunding-Plattform: https://www.viele-schaffen-mehr.de/projekte/expressionistin-fuer-museum-ostwall

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Nachtrag am 1.4.2025: Na, da schau her! Stand 1. April (ca. 11.30 Uhr) sind es nunmehr 25 Spenden mit einem Gesamtbetrag von immerhin 9575 Euro, was rund 12 Prozent der erstrebten 75000 Euro entspricht.

Nachtrag am 10.4.2025, abends: Nun, es läppert sich offenbar doch noch. Jetzt sind es 45 Unterstützerinnen und Unterstützer, die insgesamt 22730 Euro beigesteuert haben, also rund 30 Prozent der angepeilten Summe.

Nachtrag am 7.5.2025, abends: Rund 80 Spenden summieren sich nun zu 49790 Euro, etwa 66% der Zielsumme. Wie heißt es in derlei Fällen so schön: „Da geht noch was“.




Trunk, Zeitreise, Einsamkeit und mehr – ein Stapel mit neuen Büchern

Was die Dichter im Glase hatten

Welch eine Idee, gegenläufig zum oft eher abstinenten Zeitgeist: vorwiegend alkoholische Lieblings-Drinks ruhmreicher Schriftsteller, wie sie in ihren Werken vorkommen, als Rezepte herauszubringen und mit anekdotischen Anmerkungen zu versehen. Das Resultat, übersetzt aus dem amerikanischen Englisch: „Trinken wie ein Dichter. 99 Drinks mit Jane Austen, Ernest Hemingway & Co.“ (Klett-Cotta, 217 Seiten, 24 Euro). Die größten Fraktionen bevorzugen – in allerlei Formen und Kombinationen – entweder Gin oder Whisky, dahinter folgen die Anhänger von Rum und Wodka. Einige Beispiele: Edgar Allan Poe hielt es mit Brandy, Rum und Schlagsahne. Gustave Flaubert bevorzugte Apfelcider mit Calvados und Aprikosenbrand. James Joyce nahm – wenig überraschend – gern Kaffee mit irischem Whisky zu sich. E. T. A. Hoffmann mixte sich sozusagen „Elixiere des Teufels“, z. B. aus Lipari-Wein, Kirschwasser und Champagner. Novalis fand die „Blaue Blume“ mit Hilfe von Bittermandel-Schnaps, Kirschsaft und – Mohnsirup. Pablo Neruda goss vorzugsweise Cognac und Cointreau ins Glas, Sylvia Plath hingegen Wodka und Martini, der notorische Trinker Joseph Roth schlichtweg am liebsten Pernod, während Friedrich Dürrenmatt Bordeaux-Wein mit Rum zusammenbrachte. Und Goethe? Verkostete schon mal das eine oder andere Glas fränkischen Weines. Prosit!

Ein Frauenleben im Rausch

Wir schließen thematisch ans vorherige Buch an: Wohin verschärfter Alkoholkonsum führen kann, schilderte anno 1929 Colette Andris (Pseudonym für Pauline Totey) in ihrem Debütroman „Eine Frau, die trinkt“ (Aus dem Französischen von Jan Rhein, Wagenbach, 156 Seiten, 22 Euro), der als lohnende Wiederentdeckung erschienen ist. Die Autorin führte in den „wilden Zwanzigern“ – also vor rund 100 Jahren – ein bewegtes Leben mit allen Höhen und vor allem Tiefen. Sie war eine der allerersten Nackttänzerinnen, wurde hernach Schauspielerin und eben Autorin. Eine durchaus mögliche Professorinnen-Karriere hatte sie zuvor in den Wind geschlagen. Bereits mit 8 Jahren war sie das erste Mal betrunken, um die Eltern gezielt zu schockieren. Der Suff wurde später ihr täglicher Begleiter. Nur im Rausch glaubte sie, gewisse Männer ertragen zu können. Ein Inferno aus Lebensdurst und Abstürzen, trotz der historischen Distanz ungemein gegenwärtig.

Auf eine Zeitreise geschleudert

Der Schweizer Christian Kracht war vor allem zu Zeiten seines Romans „Faserland“ enorm „angesagt“ und galt als große literarische Hoffnung seiner Generation. Nun hat er mit „Air“ (Kiepenheuer & Witsch, 215 Seiten, 25 Euro) erneut die literarische Szene betreten und sogleich wieder Scharen von Rezensenten auf den Plan gerufen. Erlesen schon die bloßen Orte der weit ausgreifenden Handlung: Paul, ein Schweizer Innenarchitekt, lebt auf den abgelegenen schottischen Orkney-Inseln und erhält einen rätselhaften Auftrag aus Norwegen, er soll den perfekten White Cube erschaffen. Durch eine Sonneneruption wird er freilich auf eine Zeitreise geschleudert, die ihn u. a. in eine mittelalterlich anmutende Welt führt. Wer will, kann nun am großen Motiv-Entschlüsselungs-Wettstreit teilnehmen – zwischen germanischen Mythen, KI-Phantasien, Dichtung und Philosophie. Wahrhaft gehobene Fantasy, zuweilen poliert wie ein Design-Produkt erscheinend, doch staunenswert reichhaltig und nicht nur ästhetisch überzeugend.

Ein allgegenwärtiges Gefühl

In letzter Zeit haben manche Politiker das Thema Einsamkeit als eines entdeckt, das sie mit ihren begrenzten Mitteln bekämpfen wollen. Die Erfolgsaussichten sind freilich fraglich, denn Einsamkeit könnte ja vielleicht als Konstante zur universellen Conditio humana gehören. Allerdings sollte man sich nicht einfach damit abfinden, und man darf auch die jeweiligen Ursachen und Beweggründe nicht verkennen. Der in Kassel lebende Janosch Schobin, studierter Soziologe, Hispanist u n d Mathematiker (!), legt mit „Zeiten der Einsamkeit. Erkundungen eines universellen Gefühls“ (Hanser, 224 Seiten, 24 Euro) ein Standardwerk zum Thema vor, das so ziemlich alle Ausfaltungen des Phänomens in Historie und vor allem Moderne erkundet. Einsamkeit zeigt sich dabei keineswegs nur als individuelles, sondern als kollektives, gesellschaftliches Problem. Für solche Bücher werden am besten feste Plätze im Regal reserviert – zur ständigen „Wiedervorlage“.

Bis in die Bochumer Discos

Maja aus Montenegro wird in Deutschland aufwachsen. Die Geschichte ihres spurlos verschwundenen Vaters Miko und seiner Familie kennt sie noch nicht. Ihre Mutter wird sie ihr erzählen. Es ist eine rasante, ziemlich abenteuerliche Migrations-Geschichte, die in den 1980er Jahren aus einem montenegrinischen Dorf bis nach Bochum und in die dortigen Discos führt. Die 1978 in Gelsenkirchen geborene Ines Habich-Milović, auch als Theatermacherin und Theaterautorin tätig, kündet davon in ihrem Romandebüt „Dein Vater hat die Taschen voller Kirschen“ (Rowohlt Berlin, 302 Seiten, 24 Euro). Der Titel bezieht sich auf einen Kirschenklau in Nachbars Garten, der hier eine treibende Rolle spielt. In mancherlei Facetten geht es darum, wie kulturelle Identitäten überhaupt entstehen. Dieses Buch beweist, dass Unterhaltsamkeit und Anstöße zur Nachdenklichkeit durchaus miteinander einhergehen können.

Neue Rock- und Pop-Geschichten

Wir bleiben in Bochum: Der aus dieser Stadt stammende Ulli Engelbrecht ist ein Kenner und emsiger Sammler von Rock- und Popmusik. Zudem häuft er allerlei Geschichten rund um Songs und Sounds an, die gewiss einen wesentlichen Teil seines Lebens und des Lebensgefühls seiner Altersgenossen ausmachen. Man tritt ihm sicherlich nicht zu nahe, wenn man Leute wie den Mit-Bochumer Frank Goosen und den Briten Nick Hornby zu seinen Anregern zählt. Auch im neuen Buch mit dem zunächst seltsam klingenden Titel „Klaus Nomi war ja eigentlich Konditor“ (BoD / Books on Demand, Paperback, 180 Seiten, 13 Euro) erzählt Engelbrecht wieder amüsante Rock- und Popgeschichten, vornehmlich gespeist aus den 70er- und 80er Jahren. Er scheint auf ein schier unerschöpfliches Reservoir an solchen Stories zurückgreifen zu können. Bisher lagen aus diesem Themenkreis bereits vor: „Mir brennen die Schläfen“, „Klingende Wunder“ und „Runde Dinger“. Wohl dem, der ein dermaßen gut sortiertes Archiv hat und es so launig ausbreiten kann!

Lektüre vorzeitig abgebrochen

Dass der Franken Verlag als ambitioniertes Projekt in Dortmund an den Start geht, hat sich verheißungsvoll angehört. Gleich mit der ersten Publikation wird die Vorfreude etwas gedämpft. Die aufs Jahr 1992 und die Folgezeit bezogene, nacholympische Stadterkundung „Feinschnitt Barcelona“ von Adrià Pujol Cruells (Aus dem Katalanischen von Matthias Friedrich, Franken Verlag, Dortmund, 256 Seiten, 24 Euro) mag im Original ein großer Wurf sein, doch das teilt sich in der deutschen Übertragung nur bedingt mit. Der Franken Verlag will Übersetzerinnen und Übersetzer durch Namensnennung auf dem Cover eigens würdigen. Gut so. Auch gebührt prinzipiell allen Respekt, die sich übersetzend ans Katalanische begeben. Nun kann ich mangels Kenntnis dieser Sprache nicht beurteilen, inwieweit die vorliegende Übersetzung gelungen ist. Ich nehme allerdings wahr, dass das Resultat im Deutschen gewöhnungsbedürftig klingt. Gleich die ersten Sätze lauten so: „Aus den Laternen auf der Plaça del Sortidor rinnsalt kränkliches Licht… Die Stadtreinigung hat die Pflastersteine mit phreatischem Wasser begossen…“ – „Rinnsalt“, „phreatisch“. Das sind einfach hinderliche Lesebremsen. In ähnlichem Duktus geht es vielfach weiter. Ich gestehe freimütig, die Lektüre vorzeitig abgebrochen zu haben. Vielleicht passe ich ja einfach nicht zu diesem Buch.




Erst Rocksängerin, dann Bildhauerin – Pia Bohr: „In der Kultur haben es Frauen immer noch schwerer“

Im Atelier: Pia Bohr mit ihrer Skulptur „Big Engel“. (© Foto: Melanie Hoessel)

Geht’s um Frauen im Kulturbetrieb, so kann Pia Bohr (61) fundierte Auskunft geben. Zuerst hat die Dortmunderin sich über 25 Jahre lang als Sängerin der international gefeierten Kultband „Phillip Boa & the Voodooclub“ verdingt, dann ist sie nach und nach in die Kunstszene gewechselt und hat sich als Bildhauerin etabliert – zuerst mit Holzskulpturen, seit einiger Zeit mit ebenso organischen und biomorphen Schöpfungen in Bronze, weil die Arbeit mit diesem Material körperlich weniger aufreibend ist.

Besuch in ihrer Werkstatt im Dortmunder Klinikviertel, Dudenstraße 4. Hier blüht buntes Leben: Im selben Hinterhof befinden sich eine Kita und das BVB-Fanprojekt. Wir sitzen inmitten einiger ihrer neueren Arbeiten. Ihr Werkstatt-Raum atmet die angenehme Atmosphäre früherer Zeiten, hat gleichsam Patina – bis hin zum nostalgischen Radio aus den 1960er Jahren. Es funktioniert noch einwandfrei. Auch ihre Bronze-Skulpturen, so Pia Bohr, „werden so ziemlich alles überdauern. Sie schmelzen erst bei 1100 Grad.“ Bei dieser Temperatur entstehen sie auch – in einer hochspezialisierten Gießerei im münsterländischen Drensteinfurt. Bundesweit gibt es nur noch ganz wenige vergleichbare Betriebe. Veredeltes Handwerk.

Ja, für Frauen sei es in der Kultur immer schwieriger als für Männer, auch heute noch. Als Sängerin habe sie vielen Fans und Kollegen bloß als „blondes Schätzchen“ gegolten, dabei habe sie selbst etliche Songs für Phillip Boa geschrieben. Gut, dafür fließen (oder rinnen) immer noch ein paar Tantiemen, aber die Anerkennung hielt sich in Grenzen. Überdies gab es abstrusen Rechtsstreit: Als Sängerin hieß sie Pia Lund, doch wurde ihr juristisch untersagt, diesen Namen auch als Bildhauerin zu tragen. Dann halt Pia Bohr. Zur Bandgeschichte gehört schließlich auch, dass ihre damalige Ehe zerbrochen ist. Eine tolle Zeit war es gleichwohl, als die Gruppe beispielsweise mit dem Produzenten von David Bowie arbeiten konnte.

Wie war es dann als Künstlerin? Auch da habe sie kämpfen müssen. Nun nicht mehr in konfliktreicher Gruppendynamik, sondern als Einzelne – mit größeren Freiheiten, aber auch gewachsenen Risiken. Ein männlich dominierter Künstlerbund habe sie partout nicht aufnehmen wollen. Es gab gar Kollegen, die ihr ausreden wollten, Skulpturen mit glatten Oberflächen zu gestalten. Warum? Tja. Einfach mal so. Bestimmen wollen. Herrschaft ausüben. Überdies hatte sie kein Kunststudium vorzuweisen, erst recht nicht bei einem prominenten Professor. Als käme es im Schaffensprozess nicht auf andere Dinge an. Auf Liebe zum Material und Beseelung des Stoffes. Auf Formfindung und Proportionen. Auf innere Wahrhaftigkeit. Und dergleichen mehr. Als Bezugsgrößen für ihr Schaffen nennt Pia Bohr die Oeuvres von Hans Arp, Francis Bacon und Louise Bourgeois.

Vor Relikten des früheren Hoesch-Stahlwerks: Pia Bohrs Arbeit „Die Spionin“. (© Foto: Bruno de Piero)

Und die Zukunft? Scheint, gerade für Frauen, nicht eben rosig zu werden. Pia Bohr beobachtet vielfach eine Wendung rückwärts. Mühsam erstrittene Frauenrechte seien zunehmend bedroht, sagt sie. Im Gefolge des Rechtspopulismus machten sich sogenannte „Trad Wives“ (etwa: Traditionsweibchen) breit, die vorzugsweise mit Trachten oder Schürzen dienende Rollen annähmen, fast wie die „braven Muttis“ in den 1950er Jahren. Dementsprechend erstarke auch der Machismo, keineswegs „nur“ in der kulturellen Sphäre. Wehmütig lächelnd erinnert sich Pia Bohr des Titels ihrer digitalen Graphik: „Das Ende des Patriarchats“. Schön wär’s ja…

Als Ur-Dortmunderin hadert sie, wie so viele, gelegentlich mit dieser Stadt: „Dortmund ist kulturelle Provinz.“ Und nebenan? Nun, schon in der Unistadt Bochum sehe es besser aus. Ungleich lebendiger sei es in Berlin, wie sie kürzlich wieder erleben durfte. Doch da wolle sie nicht dauerhaft hin. „Da gibt es schon so viele Künstlerinnen und Künstler.“

Von Selbstverwirklichung in den Künsten redet sie nicht gern. Noch weniger mag sie die Redensart, jemand mache „das Hobby zum Beruf“. Nein, kulturelles Schaffen sei vor allem harte Arbeit. Es sei freilich wunderbar, wenn sie sehe, wie Leute ihre Skulpturen liebevoll berühren. Dabei werden, neben geglätteten Partien, auch Narben und Verletzungen in Holz oder Bronze spürbar. Schmerzliche Schönheit. Frauen riskierten derlei haptische Annäherung übrigens eher und inniger als Männer. Woran es wohl liegt?

Über all die Jahre hinweg macht Pia Bohr dieselbe Erfahrung: Oft ist unklar, wann der nächste Gig (Auftritt) oder Kunstkauf ansteht. Daraus folgt permanenter Druck. Zwar kann sie inzwischen von der Bildhauerei leben, doch haben ihr die Zeiten der freischaffenden Existenz nur einen kümmerlichen Rentenanspruch eingebracht. Wir nennen den Betrag hier nicht, es könnten einem schier die Tränen kommen. In wilder bewegten Jahren macht man sich ja auch wenig Gedanken über Einkünfte im „Ruhestand“. Auch so ein Wort, das ihr widerstrebt.

„Frauen in der Kunst“ – das Thema findet Pia Bohr wichtig. Aber: „Dass es eigens hervorgehoben wird, zeigt auch, dass es leider immer noch nicht selbstverständlich ist.“ Wo sie recht hat…

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Der Text ist zuerst im Kulturmagazin Westfalenspiegel (Münster) erschienen: www.westfalenspiegel.de

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Vom 10. Mai bis zum 8. Juni 2025 ist unter dem Titel „helle wachträume“ eine gemeinsame Ausstellung von Pia Bohr und Sonia Ruskov zu sehen, und zwar in der Produzentengalerie „Friedrich 7″ (Friedrich-Ebert-Straße 7, 44263 Dortmund). Öffnungszeiten: Mittwoch 16-18 Uhr, Samstag/Sonntag 14-17 Uhr.

Weitere Infos über die Künstlerin: www.bohrskulpturen.de




„Interventionen aus dem Ruhrgebiet“: Gerd Herholz stellt sein Buch „Gespenster GmbH“ in Dortmund vor

Autor Gerd Herholz auf dem Podium einer anderen Veranstaltung. Das Namensschild auf dem Tisch vor ihm enthält leider einen Lapsus. (Foto: © Friedhelm Krischer)

Sonst haben wir’s ja nicht so mit bloßen Termin-Ankündigungen. Diesen kündigen wir aber gern an: Gerd Herholz, bis 2018 langjähriger Literaturvermittler beim Literaturbüro Ruhr (Gladbeck), zudem freier Autor und Journalist, kommt am nächsten Dienstag, 8. April (19.30 Uhr), nach Dortmund, um aus seinem Buch „Gespenster GmbH“ zu lesen, und zwar im Dortmunder Literaturhaus am Neuen Graben 78.

Gerd Herholz zählt dankenswerterweise auch zu den Autoren dieses Revierpassagen-Blogs. Noch besser und passender: Der Band „Gespenster GmbH“ (Untertitel: „Interventionen aus dem Ruhrgebiet“) enthält auch einige Texte, die Herholz ursprünglich just für die Revierpassagen verfasst und fürs Buch überarbeitet hat. Der Einfachheit halber verlinken wir hier noch einmal die Rezension, die an dieser Stelle erschienen ist. Wir haben das Buch empfohlen, also empfehlen wir auch die Lesung. So einfach ist das. Nicht nur pro domo, sondern aus Überzeugung.

Ergänzend sei aus einer Pressemeldung der Stadt Dortmund zitiert: „Neben polemischen Betrachtungen versammelt der Band Begegnungen, engagierte Plädoyers und kritisch würdigende Porträts einzelner Autorinnen und Autoren für eine Literatur, die beharrlich gegen ,Gespenster‘ anschreibt. In seinen Beiträgen und Essays spießt Herholz spöttisch die Blähvokabeln eines Kulturbetriebs auf.“ Nun ja, so gänzlich frei vom üblichen Kulturjargon ist diese städtische Anpreisung auch nicht. Aber sei’s drum, wenn’s doch für die lesens- und hörenswerte Sache ist.

Zur Lesung im Literaturhaus lädt jedenfalls das Dortmunder Fritz-Hüser-Institut für Literatur und Kultur der Arbeitswelt ein. Arnold Maxwill vom Hüser-Institut, auch Herausgeber des Buches, wird den Abend moderieren. Sportliche Ausflüchte gelten übrigens nicht: Das Spiel Barcelona vs. BVB findet erst am folgenden Abend (9. April) statt…

Gerd Herholz: „Gespenster GmbH. Interventionen aus dem Ruhrgebiet“. Aisthesis Verlag, Bielefeld (Reihe Nyland Dokumente), 240 Seiten, 25 Euro. 

 

 




Ein Fest für alle soll es werden: Ruhrtriennale zielt 2025 auf Besucherrekorde

Was verbindet uns? Wie wollen wir morgen leben? Das fragt die Ruhrtriennale 2025. Hier ein Szenenfoto aus der Oper „We are the lucky ones“ des britisch-deutschen Komponisten Philip Venables. (Foto: Koen Broos)

Vorweg kommen die Loblieder, das ist wenig überraschend. Bei der öffentlichen Vorstellung des neuen Programms der Ruhrtriennale preist NRW-Kulturministerin Ina Brandes die im Vorjahr erreichten Resultate. Von 70.000 Besuchern und von einem „gigantischen Erfolg“ für das erste Jahr der Intendanz von Ivo Van Hove spricht sie. Wie praktisch, dass der Glanz zugleich auf den Initiator und größten Geldgeber ausstrahlen dürfte, mithin auf das Land NRW.

Die „Sehnsucht nach Morgen“ (Longing for Tomorrow) ist weiterhin Motto des Festivals. Es soll diesmal um die Frage gehen, wie wir morgen leben wollen und wie wir Verbindungen zueinander herstellen können. Vom 21. August bis 21. September präsentiert die Ruhrtriennale 35 Produktionen und Projekte in vier Städten (Bochum, Duisburg, Essen und Gladbeck). Erneut will sie zeigen, wie sich Kreativität an den Schnittstellen der Künste entzündet. Diesmal turnt sie munter zwischen Theater, Tanz, Performance, Oper, Konzert, Zirkus und Multimediaspektakel. Fünf Uraufführungen, eine europäische Erstaufführung und neun Deutsche Erstaufführungen finden sich im Spielplan, 45.000 Tickets gingen direkt nach der Pressekonferenz (2. April 2025) in den Verkauf.

Ein Fest soll die Ruhrtriennale nach dem Willen des Intendanten werden, und zwar für möglichst viele Menschen. An der Eröffnungsproduktion lässt sich gut ablesen, wie Ivo Van Hove den Erfolg fortschreiben will. Das Strickmuster gleicht demjenigen aus dem Vorjahr auffallend: Ließ der Triennale-Chef damals Sandra Hüller Songs von PJ Harvey singen, konnte er diesmal den phänomenalen Schauspieler Lars Eidinger sowie die Grimme-Preisträgerin Larissa Sirah Herden gewinnen.

Larissa Sirah Herden und Lars Eidinger sind die Stars der von Ivo Van Hove inszenierten Eröffnungsproduktion „I did it my way“. (Fotos: Max Sonnenschein/Ingo Pertramer)

Mit ihnen inszeniert er den Abend „I did it my way“ zur Musik von Frank Sinatra und Nina Simone. Ein kleines Tanzensemble und eine Band sind auch wieder dabei. Ob dieser Abend tatsächlich eine Geschichte von (weißen) Beharrungskräften und (schwarzer) Befreiung erzählt, statt einfach eine Abfolge von Songs zu bebildern, bleibt abzuwarten. Angekündigt ist diese Koproduktion mit der Staatsoper Stuttgart als „interdisziplinäres Musiktheater“.

In die Kategorie Musiktheater fällt auch die Deutsche Erstaufführung einer Oper des britisch-deutschen Komponisten Philip Venables. „We are the lucky ones“, eine Koproduktion mit der Dutch National Opera, zeichnet ein klingendes Porträt der Generation der Babyboomer. Basierend auf Interviews, entwickelten die Dramatikerin Nina Segal und der Regisseur Ted Huffman ein Mosaik, zu dem Venables – laut Programmheft – „überwältigende Orchesterklänge und intime Arien“ komponierte. Die Bochumer Symphoniker spielen unter der Leitung des polnisch-libanesischen Dirigenten Bassem Akiki.

Weißes Pferd und Taubenschwarm: In „Falaise“ (deutsch: Klippe) erzählt die französisch-katalanische Truppe Baro d’evel poetisch von Untergang und Wiedergeburt der Menschheit. (Foto: François Passerini)

Von den großen Schauspiel-Produktionen sind zwei multimedial: Mit „Oracle“, einem Stück von Anka Herbut über das tragische Leben des Computer-Pioniers Alan Turing, kehrt Lukasz Twarkowski zur Ruhrtriennale zurück. Es geht darin um die dunkle Seite der Technik und eine von der KI geprägte Zukunft. Ganz ohne Worte kommt die Bühnenproduktion „Guernica Guernica“ aus, für die das Theaterkollektiv FC Bergman 2023 auf der Biennale von Venedig den Silbernen Löwen erhielt. Inspiriert von Picassos gleichnamigen Gemälde, reflektiert es die Unmöglichkeit, Krieg darzustellen, indem es die Bühne mit zwei Tribünen umrahmt und neben 80 Statistinnen und Statisten auch das Publikum einbezieht. Ein Hauch von Zirkusluft dürfte mit der Deutschen Erstaufführung von „Falaise“ (zu deutsch: Klippe) einziehen. Acht Darstellende, ein weißes Pferd und ein Taubenschwarm werden Bestandteil eines lebendigen Freskos in Schwarz-Weiß. „Falaise“ erzählt poetisch und akrobatisch von Untergang und Wiedergeburt der Menschheit, soll aber auch für Familien mit Kindern ab 10 Jahren geeignet sein.

Für den Tanz hat die Triennale die Zusammenarbeit mit Stefan Hilterhaus gesucht. Der Künstlerische Leiter von PACT Zollverein spricht über die Uraufführung von „Delay the Sadness“, mit dem die S-E-D Dance Company und die vielfach ausgezeichnete Choreographin Sharon Eyal gastieren. Von der Kraft indigenen Wissens und südamerikanischen Mythen erzählt „Último Helecho“, das Nina Laisné gemeinsam mit François Chaignaud und Nadia Larcher in Deutscher Erstaufführung präsentiert.

Um südamerikanische Mythen und die Kraft indigenen Wissens geht es im Tanzabend „Último Helecho“ auf PACT Zollverein. (Foto. Nina Laisné)

Als Choreographie-Rebellin gilt Roby Orlin aus Südafrika: Ihre Show „… how in salts desert is it possible to blossom…“ wird als farbensprühende Performance über die Auswirkungen der Kolonialisierung angekündigt. Und dann ist da noch der als „Upside Down Man“ bekannte belgisch-tunesische Choreograph und Tänzer Mohamed Toukabri, der sich in einem Solo auf die Suche nach seinen eigenen tänzerischen Wurzeln begibt und so zum Archäologen seines eigenen Körpers wird.

Die Konzerte haben mit klassischer Musik fast nichts zu tun. Immerhin wird der 150. Geburtstag von Maurice Ravel mit einer „Rave-L Party“ gewürdigt. Das französische Kollektiv „Les Apaches!“ sorgt dafür, dass sein berühmter „Bolero“ in die Gefilde des Jazz und schließlich des Techno hinübergleitet und die Zeche Zweckel in Gladbeck zum Dancefloor wird. Chorwerk Ruhr feiert sein 25-jähriges Bestehen gemeinsam mit dem New Yorker Instrumentalensemble „Bang on Can All-Stars“. Gemeinsam bringen sie „before and after nature“ von David Lang zur Deutschen Erstaufführung.

Pablo Picasso mit der Make des Minotaurus. Das Theaterkollektiv FC Bergman ließ sich von seinem berühmten Anti-Kriegsgemälde zu dem Abend „Guernica Guernica“ inspirieren. (Foto: Gjon Mili_The LIFE Picture Collection)

Der Radiohead-Gitarrist Jonny Greenwood hat mit „124 Years of Reverb” ein achtstündiges Werk für Orgel komponiert, das Eliza McCarthy und James McVinnie im Essener Bergmannsdom aufführen werden. Das Publikum darf diese Musikmeditation entweder ganz oder in zweistündigen Zeitabschnitten genießen. Eine Pionierin der elektronischen Musik war die Grammy-Gewinnerin Wendy Carlos, die in der Reihe „Erased Music“ gewürdigt wird. Kunstlieder über Themen, die die Realität vieler Schwarzer Menschen in den USA widerspiegeln, schreibt Tyshawn Sorey, der in der Neuen Musik ebenso zu Hause ist wie im Jazz. Er und sein Trio werden in der Turbinenhalle an der Jahrhunderthalle auftreten.

Post-Punk und Rock aus Anatolien vermischt die feministische Sängerin und Gitarristin Gaye Su Akyol, die als eine der aufregendsten Stimmen des Bosporus angekündigt wird. Aus Island kommt die Oscar-prämierte Komponistin und Cellistin Hildur Gudnadóttir, die Dubstep und indonesischen Ethno-Punkt in einer Lichtshow mit dem Namen „OSMIUM“ zusammenbringt. Ein wenig Händel darf es schließlich auch noch sein, vielleicht auch deshalb, weil der venezolanische Sopranist Samuel Mariño sich nicht nur stimmlich einer Frau anverwandelt. Begleitet wird der Künstler vom Originalklangensemble Capella Cracoviensis unter der Leitung von Jan Tomasz Adamus.

Natürlich gibt es noch weit mehr zu entdecken: den internationalen Festivalcampus, das „Wunderland-Wochenende“, die Literaturreihe „Brave new Voices“, die öffentlichen Künstlergespräche mit dem Intendanten (immer dienstags), die Verleihung des Mortier Awards 2025 (am 21. September in der Jahrhunderthalle), das umfangreiche Programm der „Jungen Triennale“, das jungen Menschen vom 3. Lebensjahr bis zum Studienalter viele attraktive Angebote macht. Wer weiter stöbern möchte, schaue einfach nach unter www.ruhrtriennale.de




Subtile Facetten, plakative Momente: Dmitri Schostakowitschs Elfte Sinfonie in Düsseldorf

Alina Ibragimova und Michael Sanderling nach dem Konzert der Düsseldorfer Symphoniker in der Tonhalle Düsseldorf. (Foto: Susanne Diener)

Bei Michael Sanderling, trifft zu, was oft nur als Lobpreis-Rhetorik zu klassifizieren ist: Er ist ein geborener Schostakowitsch-Dirigent. Zu erleben war die konzentrierte Rhetorik, der tiefinnerliche Ernst, den er den Sinfonien mitgibt, jetzt in der Düsseldorfer Tonhalle in einem Konzert mit den Symphonikern.

Michael Sanderling kam 1967 in Ost-Berlin zur Welt, er ist Sohn des Dirigenten Kurt und der Kontrabassistin Barbara Sanderling. Sein Vater hat nicht nur eine Reihe Schostakowitsch-Sinfonien mit dem Berliner Sinfonie-Orchester und anderen aufgenommen, er war auch eng mit dem Komponisten aus der Sowjetunion befreundet. Sanderling erinnert sich in einem Interview an die „sehr eindrückliche Persönlichkeit“ mit der besonderen Stimme und der angespannten, fast angsteinflößenden Mimik. Zum Biographischen – das für sich gestellt ja noch nicht viel aussagt – tritt ein Eintauchen in die Musik von klein an hinzu. Als deren Höhepunkt hat Sanderling mit der Dresdner Philharmonie alle 15 Sinfonien Schostakowitschs aufgenommen: Zeugnisse einer intensiven Beziehung, die aus beharrlichem Studium und aus tief verwurzelter Liebe lebt.

In diesem Jahr begeht die musikalische Welt am 9. August den 50. Todestag des Komponisten. Anlass für eine große Werkschau mit allen Sinfonien und Solokonzerten vom 15. Mai bis 1. Juni im Gewandhaus Leipzig. Da mitzuziehen, fällt schwer, aber auch die Orchester und Konzerthäuser in der Rhein-Ruhr-Region setzen ihre Schwerpunkte. So hielt es die Philharmonie in Essen im Februar mit dem Zweiten Klavierkonzert mit Anna Vinnistkaya und den Streichquartetten Nummer eins und neun mit dem Jerusalem Quartet.

Präsent, aufmerksam, klangpoliert

Die Symphoniker in Düsseldorf würdigten Schostakowitsch mit der Elften Sinfonie mit Sanderling am Pult – ein Konzert, das zum Ereignis geriet. Nicht nur, weil die Düsseldorfer sich präsent, aufmerksam und klangpoliert wie selten dieser expressiven Musik widmen. Michael Sanderling gelingt es, dem Orchester die subtilen Facetten, aber auch die plakativen Momente dieser beschreibenden, manchmal wie Filmmusik wirkenden Komposition zu entlocken. Denn mit der klassischen Form hat Schostakowitsch wenig im Sinn. Nur die vier Sätze erinnern an das früher unabdingbare Gerüst; der Inhalt schildert, statt motivisch-thematische Entwicklungen zu forcieren. Die Themen beruhen auf Arbeiter- und Revolutionsliedern; der letzte Satz zitiert mit typisch ironischem Hintersinn die „Warschawjanka“ aus der Zeit, als die Polen gegen Russland um ihre Selbständigkeit kämpften.

Mit dem Titel „1905“ hat der Komponist der Sinfonie einen historischen Bezugspunkt gegeben: den Volksaufstand des 9. Januar 1905 in Sankt Petersburg, den der Zar mit brutaler Gewalt beenden ließ. Schostakowitsch hatte jedoch eher den niedergeschlagenen ungarischen Aufstand von 1956 im Sinn, als er das Werk ein Jahr später schrieb – eine Konnotation, die damals auf keinen Fall offen zutage treten durfte.

Schostakowitsch wäre jedoch nicht einer der führenden Komponisten des 20. Jahrhunderts, hätte er lediglich sinfonische Filmmusik entworfen. Zwischen allen vier Sätzen gibt es motivische Verzahnungen, erklingen Reminiszenzen an bereits Gehörtes oder Details, die in einem späteren Satz musikalisch bedeutsam werden. Sanderling gestaltet die Balance der Klänge so, dass die strukturierenden Elemente hervortreten, stört aber nicht den „erzählenden“ Fluss der Entwicklung.

Solistische Herrlichkeiten

Große Geste, aber nicht viel zu erzählen: Alina Ibragimova mit den Düsseldorfer Symphonikern in der Tonhalle Düsseldorf. Michael Sanderling und das Orchester überzeugten dagegen mit Schostakowitschs 11. Sinfonie. (Foto: Susanne Diener)

Dabei kann er sich auf die Symphoniker verlassen. Das gespannte Pianissimo der Streicher zu Beginn mit seinen engen Intervallen schafft Atmosphäre, statt Melos oder gar eine Thematik vorzugeben, wird aber im Lauf der Sinfonie zu einem wiederkehrenden Motiv im Geschehen. Trompetensignale, kleine Trommel, Pauken, dann die Holzbläser mit einer ersten Melodie – das sind allmählich aufgebaute, sich intensivierende Bausteine. Mahler grüßt von ferne, und Sanderling erweist sich als Meister des atmosphärischen Spannungsaufbaus. Immer wieder nimmt er auch die Steigerungen der Dynamik zurück, damit er die Reserven an dramatischen Knotenpunkten voll ausspielen kann. Die explodieren im zweiten Satz, der die Hetzjagd und das Massaker an den Arbeitern schildert, mit Trommelgerassel wie MG-Salven, jagenden Streichern, gellenden Bläsern – und dann gespenstischer Ruhe.

Im dritten Satz mit der Überschrift „Ewiges Andenken“ hören wir die tiefen Streicher wie aus einem Guss, einen düster-erhabenen Choral, große, weite Melodielinien und – stets plastisch geschichtet – das Ostinato-Fundament der Musik. Das riesige Aufbäumen des letzten Satzes mündet in Glocken – ob Sieges- oder Totenglocken, das bleibt offen. Das Düsseldorfer Orchester glänzt als Ganzes, aber auch in solistischen Herrlichkeiten wie der Bassklarinette, dem Fagott oder der sensibel den Ton stufenden Blechbläserabteilung.

Strangulierter Lyrismus

Etwas erzählen sollte auch das Violinkonzert Ludwig van Beethovens, das Sanderling vor die Elfte stellte – aus seiner Sicht eine sinnige Wahl, weil er zwischen Schostakowitsch und Beethoven das einigende Band einer gesellschaftlich bewusst agierenden Musik erkennt. Die Solistin Alina Ibragimova beginnt zu den noch etwas metallharsch klingenden Violinen des Orchesters mit einem vorsichtigen, fast zärtlichen Ton, filigran, aber gefestigt. Sie hält den Kontakt mit Konzertmeister Dragos Manza, interagiert mit dem Orchester, bettet ihr Instrument in den Klang ein.

Aber es gelingt ihr nicht, im Laufe des ersten Satzes den Ton zu befreien: Ihr Forte weitet sich nicht strömend, sondern bliebt anämisch, bricht nicht aus stranguliertem Lyrismus aus. Am schönsten fließt noch das Larghetto des zweiten Satzes; im dritten bleiben Schwung und wilde Kadenz-Entschlossenheit unbefreit. Der Charakter der Bekenntnismusik, der das Konzert mit Schostakowitsch verbinden könnte, will sich nicht zeigen.

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Mehr von Schostakowitsch in der Region

Schostakowitsch steht in der Region noch mehrfach auf den Programmen in Oper und Konzert: Die Deutsche Oper am Rhein zeigt am 30. März und an weiteren Terminen im April und Mai die konzentrierte, auf Beiwerk verzichtende Inszenierung Elisabeth Stöpplers von „Lady Macbeth von Mzensk“ mit dem eindrucksvollen Dirigat von Vitali Alekseenok. In Köln spielt das Gürzenich-Orchester am 6., 7. und 8. April unter Eliahu Inbal die 15. Sinfonie. Die Achte steht am 6., 7. und 11. Mai auf dem Programm des Sinfonieorchesters Münster unter Golo Berg. Am 10. Mai spielt Lahav Shani mit Musikern des Israel Philharmonic und der Münchner Philharmoniker das g-Moll-Quintett op. 57 im Konzerthaus Dortmund.

Am 5. Juni ist das Jerusalem Quartet in der Tonhalle Düsseldorf zu Gast mit Schostakowitschs Streichquartett Nr. 12. Am 8. und 9. Juni erklingt in Köln die Fünfte mit dem Gürzenich-Orchester unter dem designierten neuen Kapellmeister Andrés Orozco-Estrada. Joseph Trafton dirigiert am 17. Juni das Philharmonische Orchester Hagen mit der Zehnten. Beim Klavier-Festival Ruhr gibt es dann einen Schostakowitsch-Schwerpunkt mit Evgeny Kissin. Am 2. Juli spielt er in der Tonhalle Düsseldorf die h-Moll-Sonate op. 61 und eine Auswahl aus den Präludien und Fugen; am 7. Juli ist er im Anneliese Brost Musikforum Ruhr Bochum zu Gast. U.a. mit Gidon Kremer (Violine) spielt Kissin dort die letzten Werke, die Schostakowitsch vor seinem Tod 1975 komponiert hat.

Im Kurort Gohrisch in der Sächsischen Schweiz finden von 26. bis 29. Juni die 16. Internationalen Schostakowitsch Tage statt. Info: https://www.schostakowitsch-tage.de/

Weitere Informationen zu Dimitri Schostakowitsch auf der Seite der Deutschen Schostakowitsch-Gesellschaft: https://www.schostakowitsch.de/




Museen geschlossen, Frank Goosen ausverkauft: Ärger und Freude liegen im Kulturbetrieb des Reviers nahe beieinander

Von außen sieht man ihm seine charakteristischen Tütenlampen gar nicht an: das Schauspielhaus Bochum, wo Frank Goosen sein „Silvester Spezial“ zur Aufführung brachte. (Foto: Schauspielhaus Bochum/Martin Steffen)

Frank Goosen, das ist mal klar, Frank Goosen hat uns gerettet. Das „Silvester Spezial“ des Bochumer Kabarettisten, dargebracht im Großen Haus des Bochumer Schauspiels, fügte sich exakt in die Erfordernisse des diesjährigen Besuchsbespaßungsprogramms: Beginn um 20 Uhr und um die zwei Stunden lang, so daß es bis zum Jahreswechsel dann nicht mehr weit war. Die Silvesterparty im Schauspielhaus knickten wir uns und strebten hernach den heimischen Dortmunder Fleischtöpfen zu. Guter Abend, gutes Timing, 2025 konnte kommen.

Ruhrgebietskultur

Warum erzähle ich das eigentlich? Nun, weil die Berliner Verwandtschaft in diesem Jahr bei uns zu Gast war und man dann natürlich einen gewissen Ehrgeiz entwickelt, richtig schöne Ruhrgebietskultur vorzuführen. In vielen Vorjahren war – in Berlin – die Komische Oper ein prominenter verwandtschaftlicher Bespaßungsort, aber die wird ja jetzt umgebaut und Barrie Kosky ist auch nicht mehr da und überhaupt. Also finde mal was, hier im Revier, wenn es nicht traditionelle Operette sein soll. Nun, wir fanden, wie gesagt, ihn, Frank Goosen, den man mit seiner grundsoliden Bochumer Erdung nebst gleichzeitiger, hochgradig anregender intuitiver Beweglichkeit und profundem historischen Spezialwissen auswärtigem Publikum durchaus zumuten kann, ja geradezu: sollte.

Andreas Weißert las in Dortmund

Der Fairneß halber sei ergänzt, daß auch andere Bühnen Jahresausklangsprogramme anboten. So las der geschätzte Schauspieler Andreas Weißert auf der Dortmunder Studiobühne wieder etwas vor, Textpassagen von Fontane, Kästner, Fallada und Bernhard unter dem Titel „Es ist ein hübsches Wort, daß die Kinder ihren Engel haben“ (ein Fontane-Zitat). Nur – um 16 Uhr fing er an und anderthalb Stunden später war er fertig, das ist dann noch verdammt viel Zeit bis Mitternacht.

Volle Hütte

Bei Goosen war das Theater voll, ganz offensichtlich giert das Volk nach Jahresendkultur. Da paßt es – Vorsicht, Ironie! – wunderbar ins Bild, daß die heimischen Museen an den letzten Tagen des Jahres einfach zumachen. Das Dortmunder „U“, zentrale Adresse, blieb zwischen 30. Dezember und 1. Januar, also von Montag bis Mittwoch, drei Tage immerhin, geschlossen, und in etliche anderen Städten hielten kommunale Museen es ebenso. Offensichtlich war hier eine Bürokratie am Werke, die die Welt in Brückentagen denkt und nicht in Publikumsinteresse. Warum sollte man an kalten, nassen Winter-Werktagen „zwischen den Jahren“, die wirklich nicht zu Spaziergängen irgendwelcher Art einladen, Museumsbesuche ermöglichen? Und der Montag ist eh sakrosankt, liege er für das ungeliebte Publikum auch noch so günstig zwischen den Feiertagen. Es macht die Sache übrigens nicht besser, daß wir, wären wir in Berlin gewesen, ebenfalls vor größtenteils geschlossenen Häusern gestanden hätten. Die Ignoranz einer selbstgefälligen kommunalen Bürokratie ist ein bundesweites Phänomen.

Offene Türen beim Schraubenkönig

Private Museen hingegen kennen das Publikumsinteresse und haben ihre Angebote angepaßt. So läßt „Schraubenkönig“ Würth die Tore seiner drei Häuser in und um Künzelsau jeden Tag von 10 bis 18 Uhr öffnen, das Potsdamer Museum Barberini, das SAP-Chef Hasso Plattner gehört, bot am 1. Januar zumindest Führungen durch das Haus an, und ebenso hatte die Duisburger Küppersmühle am 1. Januar geöffnet.

Wenigstens haben wir den Kran gesehen

In Dortmund, wo Tage vor Silvester museal nichts mehr ging, blieb als touristische Aktion schließlich noch eine Stadtrundfahrt mit dem eigenen Auto, Borsigplatz, Westfalenhütte (wo große städtebauliche Veränderungen anstehen), Hoesch-Museum (geschlossen wegen Umbau). Weiter über Malinckrodtstraße und Nordmarkt zum Hafen, wo vis-à-vis vom wilhelminischen Hafenamt der alte Kran zu besichtigen ist, den man weiter unten auf dem Hafengelände abgebaut und hier, auf der Vorzeigemeile, wieder aufgebaut hat. Gut, wenigstens diese Besichtigung hat geklappt, umsonst und draußen, wie es sein soll bei einem Freiluftindustriedenkmal.

Und es ging auch vom Auto aus. Mistwetter, wie gesagt.




Erkundungen im real existierenden Kapitalismus: Der Schriftsteller Ingo Schulze streift durchs Ruhrgebiet

An diesem imposanten Ort beginnen die Ruhrgebiets-Erkundungen von Ingo Schulze: die kruppsche Villa Hügel in Essen. (Foto von Januar 2006: Bernd Berke)

Ein halbes Jahr lang war Ingo Schulze so etwas wie der Stadtschreiber des Ruhrgebiets, Oktober 2022 bis März 2023, Wohnsitz in Mülheim, eingeladen von der Brost-Stiftung. Zwei Dinge hatte er sich für diese Zeit vorgenommen, nämlich erstens an streng durchstrukturierten Arbeitstagen halbtags an seinem neuen Roman zu arbeiten und zweitens jede Einladung anzunehmen, die er in seiner Ruhrgebietszeit erhielt. „Ich weiß nicht, warum ich immer wieder auf mich selbst reinfalle“, schreibt er in der Rückschau, „keine Zeile habe ich an meinem Roman geschrieben.“

Das Ruhrgebiet, so könnte man folgern, erregte des Dichters ganze Aufmerksamkeit. Aber interessante Menschen hat er getroffen, Lehrerinnen, Polizisten, Gewerkschafter, Techniker, Buchhändler und so fort, eine bunte Mischung. „Zu Gast im Westen – Aufzeichnungen aus dem Ruhrgebiet“ heißt das Buch, das Schulzes Begegnungen und Recherchen nun in recht entspannter Form versammelt – keine Skandalliteratur, ganz sicher nicht, auch keine geographische Liebesprosa.

Das Thema wirkt zunächst einmal wie falsch gestellt. Denn gängig sind ja nach wie vor eher die Berichte über den Osten, besonders über die Unzufriedenheit der dortigen Abgehängten und Rechtsradikalen. Hier aber nun: sachliche Berichte aus dem Westen, von Ingo Schulze mit Ernst und Akribie aus kaum wahrnehmbarer „Ost-Optik“ heraus verfaßt.

Die Jahre nach der Wende

Mit seinem opulenten Nach-Wende-Roman „Neue Leben“, schrieb Schulze sich in bleibende, respektvolle Erinnerung. Das knapp 800 Seiten starke Buch, 2005 erschienen, gab einem eingefleischten Westler (wie dem Verfasser dieser Zeilen) etwas mehr als eine Ahnung davon, was der Untergang der DDR mit Menschen in verschiedenen Milieus machte. Es war eine Zeit, wie sie unterschiedlicher in Ost und West ja kaum sein konnte; was „drüben“ Existenzen von Grund auf umkrempelte, reduzierte sich im Westen auf Tagesschaunachrichten. Später hat Schulze auch in, wenn man so will, ostdeutschen „Langzeit-Befindlichkeiten“ gegründelt, hat etwa in „Die rechtschaffenen Mörder“ (2020) den langsamen, unerbittlichen und offenbar ungeheuer kränkenden Bedeutungsverlust eines einstmals schillernden, luziden Buchhändlers und seiner Bücher beschrieben. Ganz leicht war das Verletzende in dieser Geschichte für den Westler nicht zu greifen, doch blieb der Eindruck großer Redlichkeit, der Ingo Schulzes Texten Mal um Mal eigen zu sein scheint.

Bei Krupp in Essen

So. Und nun tut sich der Dichter, 1962 in Dresden geboren und wohnhaft in Berlin, im Ruhrgebiet um, und er fängt dort an, wo es vielleicht immer noch seinen Markenkern hat, bei Krupp in Essen, Villa Hügel. Schulze, dessen Weltbild einst vermutlich vom Hauptwiderspruch zwischen Lohnarbeit und Kapital geprägt wurde, entwickelt großes Interesse am real existierenden Kapitalismus im Westen der Republik; er arbeitet anerkennend heraus, wie die Montan-Mitbestimmung über Jahrzehnte hin funktioniert hat, stellt aber auch fest, daß sie Betriebsschließungen – wie die von Rheinhausen – nicht verhindern konnte. Schulze recherchiert recht journalistisch, doch mitunter kommt am Ende eher Literatur dabei heraus. So, wenn er ähnlich Bert Brechts lesendem Arbeiter fragt, was aus dem flammenden Streikredner nach seiner letzten Rede wurde. (Er machte sich im Recycling selbständig, ging später bankrott.)

Irritierender Namensgeber

Schulze irritiert, daß Alfried Krupp von Bohlen und Halbach immer noch Namensgeber von Essener Einrichtungen wie der Philharmonie ist, obwohl er nach dem Krieg als Kriegsverbrecher eingestuft und interniert wurde. Ebenso aber registriert er auch, daß Berthold Beitz, der legendäre Krupp-Generalbevollmächtigte, in der Nazi-Zeit viele jüdische Mitarbeiter vor der Deportation bewahrte, indem er sie als betrieblich unabkömmlich meldete. Beitz’ Liste war jener Schindlers ähnlich.

Schulzes Krupp-Geschichte hat, wie einige andere Beiträge im Buch auch, in etwa den Umfang und Rechercheaufwand einer profunden schulischen Hausarbeit. Schlußendliche Wertungen bleiben aus, eher fällt dem Autor auf, daß die Menschen einander doch recht ähnlich sind, im Osten und im Westen.

Emscher-Renaturierung in allen Details

Den Duisburger Hafen besichtigt er, er schreibt über schulische Konzepte in schwierigen, durch Migration geprägten Stadtteilen, läßt sich von einem pensionierten Polizeichef spezifische Probleme mit arabischer Clan-Kriminalität erklären, ist schwer beeindruckt von der Emscher-Renaturierung. Bei letzterer hat er aus Schriften der Emschergenossenschaft abgeschrieben (bzw. ausführlich zitiert), und das teilt er auch ausdrücklich mit. Da geht es um die komplexe Technik, die die Reinigung der Emscher möglich macht, und wer so viel Technisches nicht wissen will, mag diesen Abschnitt getrost überblättern. Der Dichter selbst rät dazu.

Leider tut er gleiches nicht, wenn es um unorthodoxe Grundschulpädagogik geht, die weitgehend ohne deutsche Sprache auskommen muß. Da wird der Text ausladend und detailverliebt. Seitenlang beschreibt er fast wie ein Manual das Procedere, ohne nach dem theoretischen Konzept zu fragen, das dem Ganzen doch sicherlich zugrundeliegt. Hier wäre Raffung ein Gewinn – oder à la Kläranlage der technische Hinweis an pädagogisch Desinteressierte, wieviele Seiten man überblättern kann.

Ein Fan von Borussia Dortmund

Der Schriftsteller sitzt im Orchestergraben und besichtigt einen Soldatenfriedhof; die naturgemäß abenteuerliche Geschichte eines DDR-Flüchtlings, der damals über Ungarn ins Revier kam, gelangt zum Vortrag, und dann ist da natürlich der Fußball. Schulze offenbart sich als Fan von Borussia Dortmund, und deshalb gibt es auch die entsprechenden Spielberichte. Die aber sind so anders nicht als jene, die man schon kennt, gelbe Wand und so weiter. Wiederum bleibt festzustellen, daß das tägliche Leben im tiefen Westen so anders nicht zu sein scheint als im Osten der Republik.

Die Liebe zu den Büchern

Ein nostalgischer Schlußakkord schließlich ist dann der Besuch in Helmut Loevens Duisburger „Weltbühne“, einer der letzten dezidiert linken Buchhandlungen. Kommunistische Literatur aus aller Welt, gut behütet und geordnet, unendlich wertvoll und kaum noch nachgefragt. Loeven und Schulze – mehrfach begegnen sich hier zwei Buch-Afficionados, und wenn sie sich ihre Vorlieben eingestehen, ist das fast schon ein intimer Moment, bei dem der Leser stört.

Der junge Dortmunder Bundestagsabgeordnete

Merkwürdig geriet, für Dortmunder zumal, der allerletzte Teil des Buches. Da besucht Ingo Schulze den langjährigen Dortmunder Ex-Bundestagsabgeordneten Marco Bülow und läßt sich von dem – widerstandslos, könnte man fast sagen – in den Block diktieren, wie das alles begann und sich eher unglücklich fortsetzte. Ohne in Details gehen zu wollen sei angemerkt, daß die Geschichte des SPD-Abgeordneten Bülow, der die letzten drei Jahre als Parteiloser (bzw. als Neumitglied von DIE PARTEI) in vielen Punkten auch anders erzählt werden könnte. So war seine Nominierung zumindest nicht nur Folge persönlicher Beliebtheit, sondern auch Resultat einer neuen Rekrutierungsstrategie der Partei, die unbedingt jünger und weiblicher werden wollte und alte Schlachtrösser wie Bülow-Vorgänger Hans Urbaniak dafür gerne in die Wüste schickte. Möglicherweise hat dieser recht senkrechte Start dem jungen Bülow nicht gutgetan, hat ihn überfordert, und möglicherweise wäre Schulze dieser alles in allem doch recht bizarren Politikerkarriere durch kluge Nachfragen näher gekommen als durch unkritisches Protokollieren. Nur so viel zu diesem Teil des Buches.

Wertvolle Fleißarbeit

Nun gut. Um „Aufzeichnungen aus dem Ruhrgebiet“ ging es, und da ist der Dichter in seinen Entscheidungen frei, was er aufzeichnen möchte und was nicht. Natürlich hätte man sich auch Beiträge vorstellen können, etwa zum Straßenverkehr (Schulze ist notorischer ÖPNV-Nutzer oder Mitfahrer) oder zur Kleinkunst, beispielsweise. Trotzdem geriet Schulzes Buch alles in allem zu einer Fleißarbeit, wohltuend in seiner durchgängigen Sachlichkeit – eine wertvolle Ergänzung der Regalabteilung mit den regionalen Schriften.

  • Ingo Schulze: „Zu Gast im Westen – Aufzeichnungen aus dem Ruhrgebiet“, Wallstein Verlag, 344 Seiten, keine Bilder, 24 €.



Neuer Verlag in Dortmund: Romanische Literaturen im Blick

Verleger Lucas Franken (Foto: © Gideon Rothmann)

Wer hätte das gedacht? In Dortmund, das nicht nur keine Kinostadt mehr, sondern (seit dem Hinschwinden so grundverschiedener Häuser wie Harenberg oder Grafit) auch keine Verlagsstadt mehr ist, gründet sich tatsächlich ein neuer Buchverlag. Lasst Vorurteile sprechen: Der Neuling wird doch sicherlich ein halbgares Programm pflegen, vermutlich mit wohlfeiler Ruhri-Anmutung und Touri- oder Fußball-Schwerpunkt?

Nichts da! Weit gefehlt. Der Franken Verlag meint es literarisch richtig ernst und seriös. Am 15. Januar 2025 soll das erste Buch erscheinen: „Feinschnitt Barcelona“ (ca. 250 S., 24 €) von Adrià Pujol Cruells, eine Mischung aus Autobiographie und Essay, aus dem Katalanischen übersetzt von Matthias Friedrich. Wir werden an dieser Stelle beizeiten darauf zurückkommen.

Adrià Pujol Cruells, Autor des Buches „Feinschnitt Barcelona“. (Foto: © Víctor P. de Óbanos)

Generell will man sich bei Franken in den romanischen Literaturen umtun und möglichst hochkarätige Übertragungen publizieren. Deutlich sichtbares Zeichen dafür soll die „Nennung der Übersetzer*innen auf dem Cover“ sein – eine lobenswerte, bislang ziemlich seltene Praxis in der Buchbranche. Mehr noch: Auch die verantwortlichen Lektoratskräfte, samt und sonders Romanistik-Fachleute, sollen die jeweilige Fremdsprache beherrschen. Spontan habe ich mich an den sehr inspirierenden, leider nicht mehr selbstständig existierenden Bremer Manholt Verlag (ab 2004 als edition manholt bei dtv) erinnert gefühlt, der sich der frankophonen Literatur in deutschen Übersetzungen gewidmet hat.

Zitiert sei der Dortmunder Verlagsgründer Lucas Franken, der in Bochum und Paris Romanistik studiert hat und seit 2020 in Dortmund ein Sprach- und Übersetzungsbüro leitet: „Bei uns erscheinen Texte, die woanders vielleicht übersehen werden – etwa, weil literarische Texte aus ,kleineren‘ Sprachen den größeren Verlagshäusern zu nischig sind. Oder weil wir Texte (wieder)entdecken, die im Ausland längst den Status von Klassikern genießen, im deutschsprachigen Raum aber bisher noch nicht veröffentlicht wurden.“ Wie auch immer: Pro Jahr sollen künftig ein bis zwei Titel erscheinen, man beginnt also vernünftig und vorsichtig, gleichsam auf Sparflamme.

Es wird also gewiss kein Verlag für die Massen oder den Mainstream werden, vielleicht aber einer mit unterschwelliger Tiefenwirkung, die sich auch in überregionalen Medien abzeichnen könnte. Warten wir’s gespannt ab.

Franken Verlag, Reinoldistraße 2-4, 44135 Dortmund
https://frankenverlag.de




Sensation! Das Ruhrgebiet heißt wieder Ruhrgebiet

Ein Bildmotiv der neuen Ruhrgebiets-Kampagne: smarte junge Frau mit Laptop auf alter Industrie-Lok. (Foto: RVR)

Welch eine aufregende Mitteilung uns aus Essen bzw. Gelsenkirchen ereilt! Das Ruhrgebiet darf wieder schlichtweg Ruhrgebiet heißen, wenn es um die Werbung für die Region geht. Das Revier (früher auch schon mal von übereifrigen Kreisen „Ruhrstadt“ genannt) muss sich also nicht mehr zur „Metropole Ruhr“ aufplustern und sich als Weltstadt gerieren.

Garrelt Duin, noch relativ neuer Regionaldirektor beim Regionalverband Ruhr (RVR) und vormals NRW-Wirtschaftsminister aus den Reihen der SPD,  mochte das Metropolen-Gerede nicht mehr so gern hören. Diese Regung lässt sich gut nachvollziehen. Wie das selbsternannte Ruhrgebiets-Zentralorgan, die „Westdeutsche Allgemeine Zeitung“ (WAZ), gleichsam hochroten Kopfes berichtet, soll die Gegend künftig mit dem Slogan „Ruhrgebiet – Die grüne Industrieregion“ beworben und vermarktet werden. Tja. Ob das (auf Neudeutsch) ein „Game Changer“ sein wird?

Plakate und Schaukästen in maßgeblichen Städten wie Berlin, Frankfurt und München sollen es den – womöglich ahnungslosen – Bewohnerinnen und Bewohnern beibringen. Laut RVR finden die Auswärts-Auftritte in „Out-of-Home-Flächen“ statt. Man ist eben nicht nur heimatverbunden, sondern auch weltläufig. Und natürlich total digital: Die frohe Botschaft soll in allen wesentlichen sozialen Netzwerken verbreitet werden. Alles andere wäre ja auch fahrlässig. Ohne TikTok und Konsorten geht bekanntlich nicht mehr viel.

Das Kampagnen-Motto borgt man sich derweil bei Herbert Grönemeyer, dessen altes, leicht angegrautes Bochumer Revier-Image sie hierzulande einfach nicht ruhen lassen wollen, obwohl er längst nicht mehr im „Pott“ lebt. „Bleibt alles anders“ hieß 1998 eines seiner Studioalben, „Hier bleibt alles anders“ paradoxt der RVR nun geflissentlich hinterdrein. RVR-Chef Garrelt Duin vergaß bei der Kampagnen-Präsentation in Gelsenkirchen nicht zu erwähnen, dass Grönemeyer die Anleihe gebilligt habe; keine Selbstverständlichkeit, hat „Herbie“ doch jüngst dem grünen Vizekanzler und Kanzlerkandidaten Robert Habeck untersagt, seinen Song „Zeit, dass sich was dreht“ zitierend zu verwenden – und sei’s auch nur leise gesummt. Auch der CDU wurde keine Song-Erlaubnis zuteil.

Wie üblich, haben für die neue Kampagne wieder etliche Köpfe geraucht, gewiss nicht unentgeltlich. Wie ebenfalls üblich, wurde das Resultat nicht im Revier selbst ausgebrütet, sondern bei der Agentur Scholz & Friends in Hamburg. Jetzt aber bitte keine müden Querverweis-Scherze mit dem Namen Scholz! Oder mit friends und Hamburg. Am besten mal gar keine Scherze, woll?!

 




Stolz und Zuversicht: Gewichtiger Bildband „Ruhrgold“ feiert die Schätze des Reviers

Großer Auftritt im besprochenen Buch: Aral-Tankstelle an der Hauptverwaltung der Aral AG in Bochum, um 1958. (Foto: Aral AG)

Welch ein Trumm von einem Buch! Der wahrhaft aufwendig gestaltete Band „Ruhrgold. Die Schätze des Ruhrgebiets“ feiert auf 700 farbig bebilderten Seiten im Kunstkatalog-Format nahezu alles, was das Revier zu bieten hat.

Dieser Wälzer liegt sehr gewichtig in den Händen – mit etwa 2708 Gram, also über 2,7 Kilo, wenn ich richtig gewogen habe. Entschieden zu schwer für ein schmuckes „Coffee Table Book“, das Tischlein könnte schier einknicken… Außerdem reicht die Ambition deutlich übers Dekorative hinaus. Dafür bürgt schon der Herausgeber, Prof. Ferdinand Ullrich, vormals langjähriger Direktor der Kunsthalle Recklinghausen, der auch als Fotograf einiges zu diesem Band beigesteuert hat.

Ein Standardwerk über die Region

„Ruhrgold“ ist jedenfalls ein repräsentatives, umfängliches Standardwerk geworden, das von nun an in jede vernünftige Revier-Bibliothek gehören sollte. Ferdinand Ullrich und der Wienand Verlag haben kundige Autoren für die Kapitel-Einleitungen gewonnen, darunter Johan Simons (Intendant des Bochumer Schauspielhauses), Norbert Lammert (kultursinniger CDU-Politiker), Neven Subotic (Ex-BVB-Abwehrspieler und Stiftungsgründer), Manuel Neukirchner (Direktor des Deutschen Fußballmuseums in Dortmund), Prof. Theodor Grütter (Leiter des Ruhrmuseums, Essen) oder Hilmar Klute (Schriftsteller, Redakteur der Süddeutschen Zeitung). Zusätzlich hätte man sich wünschen können, dass auch noch der eine oder andere kritische Literat aus hiesigen Gefilden (Frauen inbegriffen) sich geäußert hätte. Aber das hätte vielleicht die feierliche Liturgie gestört. Schattenseiten des Reviers fristen hier lediglich ein – Schattendasein.

Landmarken und Entdeckungen

Wo soll man nur anfangen, wo aufhören? Das Motto könnte lauten: „Genug ist nie genug“. 350 Kunstwerke, Objekte und sonstige Phänomene aus nahezu allen Lebensbereichen des Reviers werden in 20 Kapiteln aufgeboten, mit rund 500 Illustrationen großzügig bebildert und in einem Anhang ausführlicher erläutert. Der (via RAG-Stiftung subventionierte) Preis von 60 Euro darf als vergleichsweise moderat gelten.

Natürlich werden markante Gebäude und Bauensembles wie etwa die Welterbe-Zeche Zollverein, die Villa Hügel (beide Essen), der Gasometer (Oberhausen) oder das Dortmunder U vorgezeigt. Die Museen, Theater, Konzertstätten und Unis der Gegend sind ebenso selbstverständlich vertreten, aber auch Verkehrsadern wie die B1 (streckenweise aka A 40 oder Ruhrschnellweg), Kanäle oder just die Flussläufe von Ruhr und Emscher. Auch als langjähriger Revierbewohner kann man hier noch Entdeckungen machen. Mir war beispielsweise die anheimelnde Siedlung Teutoburgia in Herne bislang kein Begriff. Asche auf mein Haupt. Auch der Hindu-Tempel in Hamm harrt noch einer näheren Erkundung. Und so weiter.

Objekte bis hin zur Aldi-Tüte

Dem Buchtitel entsprechend, gibt es hier auch veritable Goldschätze, namentlich die Goldene Madonna aus dem Essener Domschatz oder auch den „Cappenberger Kopf“. Nicht zuletzt werden prägende Persönlichkeiten der Region (z. B. Ostwall-Gründungsdirektorin Leonie Reygers, Jürgen von Manger, Tanja Schanzara, Uta Ranke-Heinemann, Hape Kerkeling, Christoph Schlingensief) gewürdigt. Und natürlich darf auch ein Exkurs zur ruhrdeutschen Mundart nicht fehlen. „Sprechende“ Objekte – vom Schrank im Stile des „Gelsenkirchener Barock“ über die prachtvolle Aral-Tankstelle von 1958 bis hin zur Aldi-Tüte – gehören gleichfalls zum Lieferumfang; ebenso einige wiederkehrende Ereignisse in der Spannweite zwischen Ruhrtriennale und Cranger Kirmes. Und natürlich hat auch die weltbekannte Dortmunder Südtribüne („gelbe Wand“) ihren gebührenden Auftritt – mit jener ebenfalls schon legendären Fotografie von Andreas Gursky.

Auch Großereignisse wie das „Stillleben“ (Vollsperrung des Ruhrschnellwegs über rund 60 Kilometer und Volksfest daselbst am 18. Juli 2010 – im Rahmen der Kulturhauptstadt Ruhr) zieren den neuen Ruhrgold-Band. (Foto: picture alliance/ augenklick / firo Sportphoto)

Allenfalls zaghafte Kritik

Und wie fügt sich all das alles zueinander, welches Konzept steht dahinter? Nun, das allermeiste wirkt ziemlich „revierfromm“, es entspricht spürbar der fraglos positiven Sichtweise der RAG-Stiftung, die hinter dem monumentalen Buchprojekt steht. Und so ist immer wieder die Rede von Tradition, auf die man stolz sein könne und von zukunftsträchtiger Transformation zur „grünsten Industrieregion der Welt“, die bereits eingeleitet sei. Kritik ist nur sehr zaghaft vorhanden, eigentlich nur am kläglichen Zustand des öffentlichen Nahverkehrs (ÖPNV). Diese Einsprüche dürften mehrheitsfähig sein.

Ansonsten ist es wie immer: Sobald man sich mit einer Materie (hier: Stadt) etwas besser auskennt, findet man auch Haare in der Suppe. Wohlan denn: Warum kommt eines der wohl wichtigsten Bauwerke der ganzen Region, die Dortmunder Westfalenhalle, überhaupt nicht vor? Und dann die etwas peinliche Sache mit dem Dortmunder Phoenixsee (Seite 357): Das Gewässer ist n i c h t, wie in der Bildzeile behauptet, auf dem Gelände eines früheren Bergwerks entstanden. Es war, wie wohl jedes Kind an den Gestaden der renaturierten Emscher weiß, ein Stahlwerk.

„Ruhrgold. Die Schätze des Ruhrgebiets.“ (Das Ruhrgebiet in 500 Bildern aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft). 700 Seiten mit lexikalischem Anhang sowie ausführlichem Orts- und Personenregister. Wienand Verlag, Köln. Gebundene Ausgabe 60 Euro, Luxus-Edition im Designschuber 180 Euro.

www.ruhrgold-das-buch.de

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P. S.: Schau’n wir spaßeshalber, wo die regionalpatriotische Publikation gefertigt worden ist: Verlag in Köln. Warum auch nicht? Dann aber: Gestaltung in Berlin. Graphik & Buchgestaltung in Freiburg. Druck in Italien (Vicenza). Waren diese Gewerke im Revier oder wenigstens in NRW nicht greifbar oder zu teuer?




Vom Mysterium des Dirigierens: Klaus Mäkelä stellt sich als Porträtkünstler in Essen vor

Klaus Mäkelä (Foto: Marco Borggreve)

Da ist der Intendantin der Essener Philharmonie ein Coup gelungen. Noch bevor die Vermarktungsmaschinerie den 28jährigen Klaus Mäkelä richtig zwischen die Zahnräder bekam, hatte Babette Nierenz den kommenden Star für ein Künstlerporträt verpflichtet. Drei Mal kommt der gefragte junge Finne also nach Essen.

Das erste Konzert mit dem Concertgebouw Orkest, das er ab 2027 als Chefdirigent leitet, liegt bereits hinter ihm. Das zweite mit den Wiener Philharmonikern und der 1906 in Essen uraufgeführten Sechsten von Mahler findet am 19. Dezember statt. Und das dritte am 1. März 2025 bestreitet Mäkelä mit dem Orchestre de Paris, als dessen Musikdirektor er seit 2021 fungiert.

Es hat in den letzten Jahren keinen jungen Dirigenten gegeben, der so rasch und strahlend aufgestiegen ist wie dieses Wunder am Pult. Was ist sein Geheimnis? Wie fasziniert er die großen Orchester, die er in den letzten fünf Jahren quasi aus dem Stand heraus für sich gewonnen hat?

Mit 21 leitete er das Schwedische Radio-Sinfonieorchester, mit 22 ernannten ihn die Osloer Philharmoniker zu ihrem Chefdirigenten. Seither scheint es, als sammle er Orchester wie Trophäen: Münchner Philharmoniker, Bamberger Symphoniker, London Philharmonic Orchestra, Luzerner Festival Orchestra, Berliner Philharmoniker. In dieser Saison debütiert er mit den Wiener Philharmonikern und ist „Focus Artist“ im Wiener Musikverein. Ab 2027 folgt ein Chefposten bei gleich zweien der besten Orchester der Welt, dem Concertgebouw Amsterdam und dem Cleveland Orchestra. Wie geht das?

Schwindelerregender Terminplan

Ein Blick auf den Terminkalender seiner Webseite macht ebenfalls staunen und schwindlig: Anfang Oktober Mahlers Neunte in Paris, Mitte Oktober Mahlers Dritte in Cleveland. Dann eine Serie von Konzerten mit seinem Osloer Orchester in Brüssel, Stuttgart, Wien, Hamburg und am 3. November mit Strawinskys Violinkonzert und Tschaikowskys Vierter in Dortmund.

Drei Tage später das Orchestre de Paris mit Strauss‘ „Tod und Verklärung“, Messiaens „L’Ascension“, Faurés „Requiem“ und der Uraufführung von „Lux Aeterna“ von Thierry Escaich. Dann Zwischenspiel beim London Symphony Orchestra, bevor es mit dem Concertgebouw auf USA-Tour geht. In New York erklingt dasselbe Programm wie vor kurzem in der Essener Philharmonie: Schönbergs „Verklärte Nacht“ und Mahlers Erste Sinfonie. Man darf davon ausgehen, dass die Carnegie Hall ausverkauft sein wird – im Gegensatz zu Essen, wo erstaunlich viele Plätze frei geblieben sind. Es braucht offenbar mehr als eine Exklusivvertrag bei Decca und hochgerühmte Sibelius- und Schostakowitsch-Aufnahmen, um den Instinkt der Essener Kulturwelt zu animieren.

Jetzt sind wir im Fahrplan wohlgemerkt erst Mitte November. Bis Mäkelä vor Weihnachten nach Essen zurückkehrt, hat er noch seine Orchester in Oslo und Paris mit anspruchsvollen Programmen (Brahms, Berlioz) zu leiten, bevor er sich am 13. Dezember mit Mahlers Sechster im Wiener Musikverein vorstellt. Die Essener Konzerte sind komischerweise in seinem „schedule“ nicht aufgeführt – was man auch immer daraus schließen mag…

Schlichtweg eine Jahrhundert-Begabung 

Ja, wie geht das? Dass in Mäkelä eine Jahrhundert-Begabung schlummerte, die sich nun vehement Bahn bricht, dürfte unbestreitbar sein. Denn er ist ja kein tourender Kapellmeister, der sich überall präsent setzen will. Dazu sind – bei allen Vorbehalten – die künstlerischen Ergebnisse zu bemerkenswert. Liegt das Geheimnis vielleicht in seinem Umgang mit den Orchestern? Pflegt er einen empathischen, partnerschaftlichen Stil, der bei den Musikern Höchstleistungen hervorruft, ohne Druck, ohne Zwang, ohne Beklemmung? Er ermuntere, statt zu fordern, heißt es. Er sehe die Musiker als Individuen, schaffe eine familiäre Atmosphäre, gehe auf die Einzelnen ein. Das klingt ein wenig nach Orchester-Wellness, doch Mäkelä kann nicht bloß der gute Kumpel am Pult sein; er begnügt sich nicht mit beflissener Spiel-Perfektion.

Und sein Alter? Kein Argument: Arturo Toscanini war 31, als er an der Scala debütierte, Hermann Scherchen im gleichen Alter, als er Nachfolger Furtwänglers in Frankfurt wurde. Claudio Abbado dirigierte mit 28 an der Scala. Daniel Barenboim begann seine Dirigentenkarriere mit 25 und war mit 32 Chefdirigent des Orchestre de Paris. Bruno Walter war 25, als er unter Mahler Kapellmeister an der Wiener Hofoper wurde.

Das Charisma der Großen

Vielleicht stimmt es doch, dass Dirigieren ein „Mysterium“ ist. Dass es jenes unbestimmbare, aber deutlich zu spürende Charisma ist, das einen versierten oder sogar perfekten Dirigenten von einem der Großen unterscheidet. Meine bisherigen Live-Erfahrungen mit Klaus Mäkelä waren zwiespältig: Bei Berlioz‘ „Symphonie fantastique“ in Essen stimmte die Dramaturgie zwischen Idylle und Exaltation. Vor zwei Jahren lieferte er mit dem Concertgebouw Orkest in Köln eine Sechste, deren Scharfschnitt und Präzision geradezu unheimlich waren, weckte aber nicht den Eindruck, sich auf die wirklichen Abgründe Mahlers eingelassen zu haben. Die Chance, es mit Hilfe der Mahler-Erfahrung der Wiener Philharmoniker nun überzeugender zu machen, hat Mäkelä im Dezember.

Klaus Mäkelä und das Concertgebouw Orkest in der Essener Philharmonie. (Foto: Volker Wiciok/TuP)

Jetzt in Essen hinterlässt die Erste Symphonie einen gereifteren Eindruck. Brillanz und Streben nach Perfektion wirken nicht so glatt und geheimnislos wie der Kölner Mahler. Und das liegt nicht am Stück, denn Mahler war als 28-Jähriger bereits „fertig“, schrieb eine Musik jenseits des Suchens und Tastens nach dem persönlichen Ausdruck. Emotionale Extreme, das Aufeinanderprallen von Banalität und Transzendenz, musikalische Idiome zwischen Choral und Volksmusik – all das ist in der Ersten schon ausgereift.

Keine Ironie, keine Groteske?

Mäkelä scheint sich dennoch mehr für rein musikalische Vorgänge als für Stimmungen, Rhetorik oder gar Programmatisches zu interessieren (das Mahler, wie den hartnäckig weiterbenutzten Titel „Titan“, ja aus guten Gründen getilgt hat). Darin ist sein Blick klar und unbestechlich: Die Entwicklung von der gestaltlosen Klangfläche des Beginns über fragil gespielte motivische Ansätze bis zum liedhaften Thema ist unter seinen Händen ein wunderbar ausbalancierter Vorgang. Mäkelä achtet darauf, dass strukturell wichtige Momente wie das für die Durchführung bedeutende Motiv der Celli entsprechend hervorgehoben werden. Steigerungen hält er im Zaum, um das Fortissimo-Pulver nicht gleich zu verschießen. Die finale Trompetenfanfare und das Aufzischen der Becken ist minutiös vorbereitet. Der Effekt sitzt nicht als solcher, sondern als Kulminationspunkt einer logischen Entwicklung.

Neue Mahler-Lesart jenseits jeglicher Ironie

So ließe sich von der stampfenden Rhythmik des zweiten Satzes und seinen lockeren Kontrast im Trio über die düster lauernde Atmosphäre des „feierlich und gemessen“ betitelten Trauermarschs mit seiner makabren Ironie bis zur souveränen Strukturierung des Finalsatzes Punkt für Punkt Rechenschaft ablegen über Mäkeläs Scharfsicht. Und man fragt sich so langsam, ob dieser junge Kopf nicht auf blitzgescheite Weise eine Mahler-Lesart einführen will, die sich jeglicher Ironie, jeglicher Uneigentlichkeit, jeglicher Groteske oder Parodie „in Callot’s Manier“ (so Mahlers ursprüngliche Beschreibung des dritten Satzes mit Bezug auf E.T.A. Hoffmann) entziehen will – konzentriert auf die reine Musik, bedeutungslos wie ein Gemälde Gerhard Richters, bei dem man sich nicht fragen darf, was der Rausch der Farben bedeutet und worin die Transzendenz der Form liegen könnte. Die Antwort wird die Zukunft geben, live zu verfolgen im Dezember in der Philharmonie Essen.

Klaus Mäkelä kommt wieder mit dem Oslo Philharmonic Orchestra am Sonntag, 3. November ins Konzerthaus Dortmund und am Donnerstag, 19. Dezember mit den Wiener Philharmonikern in die Philharmonie Essen. Am Samstag, 1. März 2025 ist er hier auch mit dem Orchestre de Paris zu Gast. Info: www.theater-essen.de




Pfuschi, Fritten, Drogen-Dackel – der Sound des Reviers

Gezz ma‘ wacker gucken, wat „inne Fritten“ is‘. Oder sollte es sich nur um so eine Redensart handeln? (Foto: Bernd Berke)

Kurz zu berichten ist von einem ehrbaren Handwerker in Dortmund, der auf seine unverwechselbare Weise etwas von den älteren Revierzeiten lebt und verkörpert. Sein genaues Metier sei nicht genannt, sonst erfährt er am Ende noch, dass er gemeint ist. Muss ja nicht sein.

Ich höre von drei Äußerungen, die er während eines einzigen Kundengesprächs binnen weniger Minuten hervorgebracht habe. Leider lassen sich seine Ruhr(hoch)deutsch klingenden Redensarten nur sehr unzureichend schriftlich wiedergeben. Eigentlich muss man den Mann dabei hören und sehen. Über Wohl und Wehe von Borussia Dortmund kann der glühende BVB-Fan übrigens stundenlang schwadronieren. Könntet ihr das hören, würdet ihr euch gewiss mächtig beömmeln.

Nun aber zu den besagten drei Äußerungen: Treuherzig versichert er, bei ihm gebe es kein „Pfuschi wie bei Uschi“. Das stimmt. Er arbeitet sehr gewissenhaft und nimmt für Reparaturen, die ihm selbst nicht hundertprozentig gelungen zu sein scheinen, freiwillig kein Geld; nicht einmal dann, wenn man ihn beschwört, es anzunehmen, wenn man es ihm geradezu aufdrängt. Ob wir bei „Pfuschi“ an eine bestimmte Uschi denken sollen (doch nicht etwa an Frau Von der Leyen??), ist nicht überliefert. Wahrscheinlich ist es ja nur so ein Schnack.

Den kläglichen Zustand eines zu reparierenden Gegenstandes bezeichnet der brave Handwerksmann so: „Der is‘ inne Fritten.“ Und beim Gespräch über Vorfälle in der Nachbarschaft nennt er einen bedauernswerten Rauschgift-Konsumenten „Drogen-Dackel“. Im Grunde gar nicht lustig. Doch selbst die ernstesten Zustände wirken in dieser sprachlichen Aufbereitung entlastend komisch. Irgendwie.

Man ist versucht, längere Unterhaltungen mit ihm zu führen und selbige exemplarisch für Mit- und Nachwelt aufzuzeichnen. Doch ein solches Arrangement würde die Originalität und den bestens geerdeten Sound des Ruhrgebiets wohl verfälschen. Lassen wir also in diesem Falle alles so, wie es ist. Denn es ist gut so.




Finale um die Currywurst: Berlin vs. Ruhrgebiet

Manches, was immer und immer wieder als reviertypisch hervorgekramt wird, kann einem auf Dauer ein bisschen auf den Geist gehen. Grönemeyers Liedgut beispielsweise. Die ewige Rivalität zwischen Schalke und dem BVB. Die alljährlich abgefeierte Büdchenkultur. Oder die Currywurst. Doch im Grunde ist uns all das ans Herz gewachsen, oder etwa nicht?

Seit Jahrzehnten wird im Ruhrgebiet medial auf Biegen und Brechen darauf hingearbeitet, dass die Currywurst im Revier erfunden worden sei – und nicht in Berlin. Ein neues Buch soll jetzt „endgültig“ Klarheit bringen, ist passenderweise im Klartext-Verlag erschienen und heißt „Alles Currywurst – oder was?“

Da sich der Klartext-Verlag in Essen befindet, ist die Stoßrichtung vorgegeben. Wir wollen ja hier nicht spoilern, aber dreimal darf man raten, ob Berlin oder das Revier im Jahr 1936 die Nase vorn hatte. Auch Bückeburg und Hamburg müssen hintanstehen. Die beiden Autoren (siehe unten) berufen sich auf hartnäckige Recherchen, Gespräche mit Zeitzeugen und aussagekräftige Dokumente. Also so, als ginge es wahrhaftig ums große Ganze. Und es geht ja auch um die Wurst. Bange Frage: Müssen wir jetzt mit einem harten Konter aus Berlin rechnen? Ha, kommt nur ran!

Geschichte und Geschichten dieser kulinarischen Spezialität werden nicht durchgängig erzählt, sondern quasi lexikalisch aufbereitet, was viele, viele Kurzbeiträge nach sich zieht. Als Lesende(r) wird man keineswegs überfordert, sondern mit flockiger Schreibe allzeit bei Laune gehalten. Wir erinnern uns: Der 1983 von Ludger Claßen im anderen Geiste gegründete Klartext-Verlag gehört seit einigen Jahren zur Funke-Mediengruppe (Essener Flaggschiff: WAZ), wo derlei lockere Stilistik ebenfalls vielfach gepflegt wird.

Von A wie Airline bis Z wie Zusatzstoffe oder Zwiebeln reicht das currywurstige Alphabet, in dessen Verlauf eigentlich alles abgegrast (oder besser: verbraten) wird, was irgend mit der Currywurst zu tun hat oder haben könnte. Unterwegs werden auch Fragen angeschnitten, mit denen nicht unbedingt zu rechnen war, etwa: Welcher Wein passt am besten zur Currywurst? Rümpft da jemand das feine Verkostungs-Näschen?

Doch natürlich spielen Phänomene, an die man bei Stichwort Currywurst sogleich denkt, die Hauptrollen. Duisburgs legendärer „Tatort“-Berserker Schimanski beispielsweise. Oder die natürlichen Begleiter der Wurst: Pommes! Wat sons‘? Globale Vielfalt ist auch mit drin: Das garantieren die schier endlos zu variierenden Curry-Mischungen.

Die beiden Autoren grillen nicht ausschließlich auf Revierfeuer. Der erfahrene Gastronom Tim Koch ist gebürtiger Hamburger, trägt jedoch, wie auf dem Cover verraten wird, als Unterarm-Tattoo eine Currywurstschale. Sein Mitstreiter Gregor Lauenburger ist alteingesessener Duisburger und arbeitet hauptberuflich als Seelsorger an einem Essener Gymnasium. Da sieht man mal wieder, wie die Currywurst verschiedene Menschen lukullisch vereint.

Rankt sich nicht gar eine ganze Philosophie um diese volkstümliche Speise? In der Literatur ist sie jedenfalls längst angekommen. Im Verzeichnis der weiterführenden Bücher findet sich selbstverständlich auch Uwe Timms Novelle „Die Entdeckung der Currywurst“ (1993), die 2008 verfilmt wurde und Hamburg als Ursprungsort ausmacht.

Und jetzt? Haben wir wohl ein neues, leichthändiges Standardwerk zum Thema.

Tim Koch & Gregor Lauenburger: „Alles Currywurst – oder was? Die ganze Wahrheit über das Kultobjekt“. Klartext-Verlag, Essen. 176 Seiten. 9,95 Euro.

 




Schluss- und Ausverkauf: Literarische Verlage an der Ruhr – verzweifelt gesucht!

Nicht, dass vom Buchhandel und Verlagswesen künftig nur noch solche Wandbilder übrig bleiben… (Entdeckt nicht im Revier, sondern am 15. Juli 2020 in Waren an der Müritz, Mecklenburg-Vorpommern). (Foto: Bernd Berke)

Erstaunlich lapidar klingt, was die Verleger Ingrid und Ernst Gerlach da so ganz am Rand auf der Homepage ihres Oberhausener assoverlages verlauten lassen:

„Liebe Leserinnen und Leser,
wir möchten Ihnen heute mitteilen, dass wir unseren Verlag zum 31.12.2024 auflösen werden. Diese Entscheidung ist uns nicht leichtgefallen, aber aus Altersgründen und ohne Nachfolger haben wir uns dazu entschlossen. (…) Der Schlussverkauf läuft bis zum 31.12.2024. Besuchen Sie unseren Webshop oder schicken Sie uns eine E-Mail an info@assoverlag.de, um von den Angeboten zu profitieren.“

Revolutionäre Vorläufer

Seit 1970 hatte der assoverlag soziale Bewegungen begleitet, sein Verlagsname leitet sich ab von der Assoziation revolutionärer bildender Künstler, einem 1928 gegründeten Zusammenschluss kommunistischer Künstler. 35 Jahre lang konzentrierten sich die Verlagsgründerinnen Anneliese Althoff und Annemarie Stern beharrlich auf littérature engagée aus dem Ruhrgebiet, auf Regionalgeschichte, auf das politische Lied und die Bergarbeiterdichtung.

In den besseren Zeiten beim Oberhausener assoverlag: Verlagsgründerinnen Annemarie Stern (am Telefon) und Anneliese Althoff (an der Schreibmaschine).

Es war 2005, als der ehemalige Vorstandsvorsitzende der NRW.Bank, Ernst Gerlach, mit gut 60 Jahren den Verlag kaufte; seine Frau Ingrid Gerlach übernahm die Leitung. Literatur abseits der Klischees und mehr Sachbücher sollten verlegt werden, wie etwa David L. R. Litchfields Die Thyssen-Dynastie – Die Wahrheit hinter dem Mythos (2008). Zudem gehörten und gehören zum Autorenbestand des assoverlages so wichtige Schriftsteller wie Michael Klaus, Jürgen Link, Anja Liedtke, Hans Dieter Baroth, Bille Haag, Jürgen Lodemann oder Michael Zeller.

Neustart mit einem bestens vernetzten Mäzen

Mit den Gerlachs sollte der Wind auffrischen, die Segel sollten neu gesetzt werden. Der Verlag gönnte sich Lektorat, Vertrieb, Grafiker und einen Beirat, dem auch Gabriele Behler (Ex-NRW-Kulturministerin) angehörte, wozu auch immer. Der überaus gut vernetzte Ernst Gerlach sah sich als Verlags-Mäzen, ihm fehlte allerdings die Buchmarkt-Expertise, um wirklich Mäzen „zu können“.

Nach einer ambitionierten Startphase wurde bald an Personal und Programm gespart. Der Verlag mutierte Jahr für Jahr zu einer Verlagshülle, Anspruch und Wirklichkeit klafften sichtbar auseinander. Das Programm, mit dem der Verlag einst eine Nische besetzt hatte, wurde konzeptionell kaum weiterentwickelt, stattdessen erschienen über Jahre zahlreiche „Blagen“-Kalender. In Zusammenarbeit mit der Stiftung Ruhr Museum waren da historische Archivfotos zu Kindern aus dem Ruhrgebiet zu sehen, Milieus und Zeitgeist gut eingefangen. Ruhrgebietsfolklore von der besseren Sorte und keine schlechte Geschäftsidee, zumal mit den Erlösen das literarische Programm querfinanziert werden sollte, was aber ökonomisch schlicht nicht gelang.

Texte des großen Satirikers bald ohne Heimat

Man müsste also nicht besonders traurig sein darüber, dass der Verlag jetzt seine überfällige Auflösung bekanntgibt. Wenn es denn andere Verlage an der Ruhr gäbe, die in die Bresche sprängen, die Literatinnen, Literaten förderten und endlich ein überregional bedeutsames Programm dauerhaft aufbauten.

Keine blühende Landschaft

Siebzehn Kleinst- und Kleinverlage findet man auf der Homepage literaturgebiet.ruhr, wo munter behauptet wird: „Es herrscht eine fröhliche Aufbruchstimmung in der Szene. Wir sind literaturgebiet.ruhr – seien Sie auch dabei …“
Eine blühende Verlags-Landschaft aber gab und gibt es im Ruhrgebiet nicht; immer ,nur‘ engagierte Enthusiasten, Literaturliebhaber und (Klein-)Verleger wie z. B. Werner Boschmann in Bottrop, Norbert Wehr in Essen/Köln, Jürgen Brôcan in Dortmund, den Trikont Verlag in Duisburg. Der Krimispezialist Grafit-Verlag ist längst beim Kölner Emons Verlag untergetaucht und der Klartext Verlag (in der Funke Mediengruppe) übt sich lieber in Zweitverwertung, als ein eigenständiges literarisches Programm auf die Beine zu stellen. In der Herbstvorschau 2024 annonciert er nicht einen einzigen genuin literarischen Titel.

Ob der CORRECTIV-Verlag in Essen neben dem Sachbuch- sein Literatursegment ausbauen könnte? Es wäre ein kleiner Hoffnungsschimmer, immerhin.




Personenkult um einen deutschen Star: „I want absolute beauty“ wird durch Sandra Hüller zum Renner der Ruhrtriennale

Die Schauspielerin als Rockstar: Sandra Hüller in der Triennale-Produktion „I want absolute beauty“ in der Jahrhunderthalle Bochum (Foto: Jan Versweyveld)

Sandra Hüller. Muss hier wirklich noch mehr gesagt werden? Jawohl, unbedingt, sofern man nicht einfach sein Gehirn ausschalten und ein geliebtes Idol feiern möchte wie auf einem Rock-Konzert.

Nichts anderes ist die Triennale-Produktion „I want absolute beauty“ in der Jahrhunderthalle Bochum: eine lautstark wummernde, von Lichtgewittern durchzuckte Show um einen Star, ein auf Taschenformat eingedampfter Stadionkracher samt Videoleinwand und einem Tanzkollektiv, das schon an Madonnas „Celebration“-Tour mitgewirkt hat („La Horde“ aus Marseille).

Intendant Ivo van Hove und die britische Singer-Songwriterin PJ Harvey, die höchstpersönlich zur Premiere nach Bochum kam (Foto: Jan Versweyveld)

Aus seiner Liebe zur Musik von PJ Harvey und der Bekanntschaft mit der fabelhaften Schauspielerin, die nur knapp am Oscargewinn vorbei geschrammt ist, hat Regisseur Ivo van Hove ein Event geschmiedet, das starken Publikumszulauf nahezu garantiert – was ihm zum Einstand als neuer Intendant der Ruhrtriennale nicht ungelegen kommen dürfte. Er hat sich intensiv durch alle Alben der britischen Sängerin und Songwriterin gehört und versucht, ihre Songs in eine Reihenfolge zu bringen, die eine Geschichte erzählt.

Die „Hauptrolle“, die er schließlich Sandra Hüller gab, ist keine im herkömmlichen Sinne. „I want absolute beauty“ hat keinen Text und keine Handlung, sondern ist eine Abfolge von Songs, die van Hove in thematische Gruppen sortiert hat. Wer daraus Erkenntnis gewinnen möchte, muss in die Songtexte einsteigen, die bei der Ruhrtriennale als Übertitel eingeblendet werden, sowohl im englischen Original als auch in deutscher Übersetzung. PJ Harvey befasst sich darin, wie sollte es anders sein, mit allgemein menschlichen Themen: mit der Liebe und ihren Enttäuschungen, mit Einsamkeit und Rebellion und Prozessen der Selbstfindung, die ja keineswegs nur die Jugend betreffen.

Jede Menge Dynamik: Das Tanzkollektiv von „La Horde“ aus Marseille (Foto: Jan Versweyveld)

Das hat durchaus Gedankentiefe: Ivo van Hove hat recht, wenn er sagt, dass nicht nur die klassische Musik Sinn und Werte vermittelt. Ein Stück im Sinne einer stringenten Erzählung, einer geschlossenen dramaturgischen Form, wird daraus trotzdem nicht. Es bleibt bei einer guten Show mit Independent Punk-Rock, bei der man vor allem Sandra Hüller bewundert: wie wandlungsfähig sie ihre Stimme einsetzt, wie sie ihre blonde Löwenmähne wirft (es handelt sich dabei natürlich um eine Perücke), wie sie sich mit jedem Kostümwechsel zu einer anderen Figur häutet, wie frei und souverän sie sich mit den hoch professionellen Tänzern bewegt. Wenn sie zu Lichtexplosionen ins Mikrophon röhrt wie eine echte Rock-Lady, mutet es fast seltsam an, dass sie nicht für eine tobende Menschenmasse singt, sondern für ein andächtig stillsitzendes Festival-Publikum.

Wer Hunger nach Schönheit verspürt, wie ihn der Titel dieser Produktion formuliert, wird an der Ästhetik der Szene Nahrung finden. Das mit rötlicher Erde bedeckte Bühnengeviert, seitlich gerahmt von jungen Bäumen, wird durch die Spuren des Tanzes mehr und mehr schraffiert (Bühnenbild: Jan Versweyveld). Die Compagnie wirbelt – im Wortsinne – Staub auf, schlittert, rennt und rollt über diesen Boden, bis die durchtrainierten Körper regelrecht paniert sind. In stillen Momenten breitet sich eine Decke aus Bühnennebel darüber aus, in zauberhaft gemächlichem Fluss.

Gewohnt wandlungsfähig: Sandra Hüller macht sogar als Rockstar eine überzeugende Figur (Foto: Jan Versweyveld)

Videodesigner Christopher Ash hat sich erkennbar von den Plattencovern PJ Harveys inspirieren lassen. Seine Bilder entwickeln hypnotische Sogkraft, zeigen Stadt- und Naturimpressionen, aber auch Bilder einer Live-Kamera, mit der die Darsteller sich gegenseitig aufnehmen. Die Band, weit hinten auf der Bühne sitzend, gibt dem Abend unter der musikalischen Leitung von Liesa van der Aa einen Sound, der mächtig Stimmung schafft. Er mag anders klingt als der, den die Fans von PJ Harvey von ihren Alben kennen, funktioniert für die Show aber perfekt, zumal es Übergänge von einem Song zum nächsten braucht.

Es ist natürlich nicht verwerflich, wenn der Abend auf der Erfolgswelle mit surft, die Sandra Hüller derzeit weiter und weiter trägt. Eine kritische Frage sei gleichwohl erlaubt. Müssen wirklich Landesmittel in Formen der Unterhaltung fließen, die ohnehin schon jeden Winkel in nahezu jedem Lebensbereich durchdrungen haben? Deren Übermacht sich nichts und niemand mehr entgegenstellt, schon gar nicht quotenhypnotisierte Medien? Sollte nicht das gefördert werden, was es schwer hat? Es waren Produktionen wie „Die Soldaten“ von Bernd Alois Zimmermann oder „Saint François d’Assise“ von Olivier Messiaen, die auch Skeptikern verdeutlichten, dass die Ruhrtriennale leisten kann, wozu anderen Bühnen die Ressourcen fehlen. Und weshalb wir sie wirklich, wirklich brauchen.

(www.ruhrtriennale.de)




Start mit hoher Schlagzahl: Ivo van Hove verdichtet die Ruhrtriennale 2024 auf viereinhalb Wochen und drei Städte

Jüdische Prinzessin liebt römischen Kaiser: Isabelle Huppert spielt bei der Ruhrtriennale in der Deutschen Erstaufführung von Jean Racines Tragödie „Bérénice“ (Foto: Jean Michel Blasco)

Konzentration, Verdichtung, Schlagkraft: Unter diesen Vorzeichen legt die Ruhrtriennale 2024 am 16. August los. In seinem ersten Jahr als Intendant will der Belgier Ivo van Hove das Kunstereignis intensivieren, indem er es zeitlich und räumlich begrenzt.

Das Programmangebot ist gewohnt umfangreich, aber das Festival wird nur noch viereinhalb Wochen dauern. Von den Spielorten sind lediglich drei Städte geblieben: Bochum, Essen und Duisburg. Selbst beliebte Aufführungsorte wie die Zeche Zweckel in Gladbeck und die Zeche Zollern in Dortmund sind diesmal nicht dabei.

Ein Festival solle „wie ein Feuerwerk in Zeitlupe explodieren“, sagt der Intendant, der sich bei der Auftakt-Pressekonferenz noch ein wenig an einem Manuskript festhält, obwohl er exzellent deutsch spricht. Bereits am Eröffnungs-Wochenende bringt die Ruhrtriennale vier Premieren in Folge und will bis zum Abschluss am 15. September so kraftvoll durchziehen, dass die Besucher in einen Sog geraten, von einer Veranstaltung zur nächsten.

Sandra Hüller, Isabelle Huppert

Ivo van Hove wirkte bereits unter Gründungsintendant Gerard Mortier bei der Ruhrtriennale mit. Nun startet er in sein erstes Jahr als Festival-Intendant. (Foto: Thomas Berns/Ruhrtriennale)

Van Hoves Startposition sieht gut aus. Drei Viertel von insgesamt 41.000 Karten sind „bereits vergeben“, wie es offiziell heißt, in eleganter Umgehung des Worts „verkauft“. Etliche Produktionen sind ohne Zweifel stark gefragt, allen voran die Eröffnungspremiere mit der Beinahe-Oscarpreisträgerin Sandra Hüller, die in der zwischen Musiktheater und Ballett changierenden Produktion „I want absolute beauty“ in der Regie von Ivo van Hove Songs von PJ Harvey singt.

Ein weiterer weiblicher Gast-Star kommt aus Frankreich: Isabelle Huppert spielt in einer Deutschen Erstaufführung Romeo Castelluccis freie Adaption von Jean Racines „Bérénice“, der Tragödie um die jüdische Prinzessin, die sich in den römischen Kaiser Titus verliebt. Die Uraufführung des Tanzstücks „Y“ von Anne Teresa de Keersmaeker ist bereits an so vielen Tagen ausverkauft gemeldet, dass kaum noch ein Fuß dazwischen passen dürfte.

Wildes Leben in freier Kommune: Szenenfoto aus der Produktion „The Faggots and their friends between Revolutions“, basierend auf dem Kultroman aus den späten 1970er Jahren (Foto: Tristram Kenton)

Etwas skurril sind die Verrenkungen, die das Triennale-Team bei der Ankündigung der Produktion „The Faggots and their friends between Revolutions“ unternimmt. Es ist ein Musikspektakel, das Ted Huffman und Philip Venables nach einem Kultroman von Larry Mitchell geschaffen haben. Weil der Titel ein Schimpfwort für schwule Männer benutzt, veröffentlicht die Triennale vorauseilende Erklärungen und Entschuldigungen (faggot bedeutet so viel wie Schwuchtel, das englische Wort für das Musikinstrument Fagott lautet bassoon). So weit, so verständlich. Aber dass die Produktion als „entschlossenes Musiktheater“ beworben wird, als gäbe es auch ein unentschlossenes oder gar zweifelndes, wirkt, mit Verlaub, ziemlich durchgedreht.

Die neue Nachhaltigkeit

Szenenfoto aus dem Operetten-Slapstick-Musical „Pferd frisst Hut“ mit Musik von Herbert Grönemeyer. (Foto: Thomas Aurin)

Weil jeder selbst durch das Programm blättern oder scrollen kann, sei Weiteres hier nur stichpunktartig skizziert. Schräg und komisch verspricht das Slapstick-Operetten-Musical „Pferd frisst Hut“ von Herbert Grönemeyer in der Regie von Herbert Fritsch zu werden. Edvard Griegs einziger Liederzyklus „Haugtussa“ inspirierte die Regisseurin Eline Arbo zu einer szenischen Fassung. Kirill Serebrennikov setzt dem im Westen kaum bekannten Filmregisseur Sergey Paradjanov in „Legende“ ein Denkmal. Es handelt sich dabei um eine Koproduktion mit dem Thalia Theater und der Kirill & Friends Company. An diesem Beispiel lässt sich eine weitere Neuerung ablesen: Ivo van Hove legt Wert auf Nachhaltigkeit. Alle Produktionen, die bei der Triennale zur Premiere gelangen, werden danach in die Häuser von Kooperationspartnern im In- und Ausland wechseln.

Meldestellen und Vertrauenspersonen

Es könnte alles so schön sein, stünden da nicht die Vorwürfe einer intendantentypischen Willkür im Raum, zu denen van Hove bei der Pressekonferenz natürlich auch befragt wird. Beschuldigungen, es habe am Internationalen Theater Amsterdam unter seiner Leitung Einschüchterung, Machtmissbrauch und verbale Gewalt gegeben, wurden von einer Kommission untersucht, die Ende Juli ihre Ergebnisse veröffentlichte. Van Hove, der die Vorfälle bereits öffentlich bedauert hat und versicherte, an einer Aufklärung mitarbeiten zu wollen, antwortet diesmal beherrscht und knapp, beinahe ein wenig schmallippig. Bei der Ruhrtriennale seien bewährte Strukturen vorhanden, an denen er „nicht rütteln“ wolle, sagt er mit Blick auf Meldestellen und Vertrauenspersonen.

„Lasset die Spiele beginnen!“

„Longing for tomorrow“ ist das Motto der diesjährigen Festival-Ausgabe, womit die Sehnsucht nach einem neuen Morgen gemeint ist. Es soll daran erinnern, dass dem Menschen stets die Kraft zur Neuerfindung, zu Wandel und Verbesserung innewohnt. Mit Blick auf die Kunst gibt es in den kommenden Wochen genug zu entdecken: eine Literaturreihe mit dem Titel „Brave new voices“, außergewöhnliche Konzerte mit dem Chorwerk Ruhr, das zum Beispiel Musik von Björk und Bruckner kombiniert, sowie den Komponisten Julius Eastman, den die Triennale aus dem Schatten seiner berühmten Kollgen Philip Glass und Steve Reich holt. Dazu begehbare Installationen (teils kostenfrei) und Workshops, Vermittlungsangebote, einen Festivalcampus von zehn Hochschulen, Publikumsgespräche und mehr. Nach dem Erlöschen des olympischen Feuers in Paris kann es im Ruhrgebiet erneut heißen: Let the games begin!

www.ruhrtriennale.de




Dies und das in Wuppertal

Da kommt sie ja, die unverzichtbare Schwebebahn. (Foto vom 27. März 2011: Bernd Berke)

Wuppertal denke ich mir immer etwas abseits, im Windschatten des Ruhrgebiets, meinetwegen auch im toten Winkel von Düsseldorf liegend. Das mag ungerecht sein. Es ist halt nur so ein Gefühl. Und so geht’s auch weiter, nämlich vorwiegend assoziativ.

„Zuckerpuppe“ und Blankenese

Wie es mir jetzt wieder in den Sinn kam, hat es mit der Stadt u. a. folgende, durchaus ulkige Bewandtnis: Sie kam in zwei sehr populären Stimmungs-Schlagern vor – 1961 als Schlussgag in Bill Ramseys „Zuckerpuppe (aus der Bauchtanzgruppe)“, wo jene „Suleika“ gar nicht so orientalisch ist, sondern Elfriede heißt und offenbar just aus Wuppertal kommt. Außerdem zählte die Stadt 1981 zum Zielgebiet in Gottlieb Wendehals‘ Brüller „Polonäse Blankenese“, deren frohsinnstrunkener Weg bekanntlich „von Blankenese bis hinter Wuppertaaaal“ führt, wobei der Erwin der Heidi… Aber lassen wir das.

Fast wie eine Metropole

Galt Wuppertal den Schlagertextern etwa als Inbegriff von Provinz, schon namentlich irgendwie zum Schreien komisch? Sah man in Wuppertal einen gewissen Gegensatz zu allen halbwegs weltläufigen oder frivolen Anwandlungen, sozusagen einen Antipoden von Paris? Oder war es ein nahezu nicht existenter Ort, quasi ein Bielefeld mit anderen Mitteln? Gern würden wir diese Fragen als Forschungsauftrag vergeben – in welchem Fachgebiet auch immer. Wer will es – nun ja – wuppen?

Meine persönlichen Wuppertal-Begegnungen waren nur sporadisch. Als Volontär-Frischling für ein paar Monate in einer Lokalredaktion des Ennepe-Ruhr-Kreises stationiert, durfte ich Tag für Tag die Info-Leiste „Wuppertal“ mit Meldungen füllen, also im Dienste der Leser Blicke in die benachbarte Großstadt werfen. Von Gevelsberg aus gesehen, wirkte es tatsächlich wie eine Metropole.

Imposante Arbeit von Tony Cragg in seinem Wuppertaler „Skulpturenpark Waldfrieden“. (Foto vom 19. Juli 2009: Bernd Berke)

Außenposten zur Bewährung

Jahre später, als Jungredakteur im Kulturressort, wurde ich wiederum zunächst vor allem mit Wuppertal betraut. Während der damalige Ressortleiter die Theater in Bochum und Dortmund aufsuchte, durfte ich anfangs die darstellenden Künste in Wuppertal würdigen, wo das Schauspiel nicht gerade zu den ersten Adressen des Landes zählte. Auch waren zumal die winterlichen Fahrten dorthin nicht immer erfreulich. Wuppertal war ein Außenposten, auf dem man sich erst einmal zu bewähren hatte. Nach und nach, eigentlich recht schnell,  weitete sich dann der Horizont. Noch später, als Pina Bausch mit ihrer Wuppertaler Tanztheater-Compagnie immer berühmter wurde, fuhr ich umso lieber dorthin.

Als sich „Tuffi“ aus der Schwebebahn stürzte

Was wäre noch zu erwähnen? Sicherlich die einzigartige, 1901 eröffnete Schwebebahn, aus der sich 1950 ein Zirkus-Elefantenweibchen namens Tuffi zehn Meter tief in die Wupper stürzte und wie durch ein Wunder praktisch unverletzt blieb. Tuffi hatte sich wohl über den Einfall aufgeregt, sie zu Reklamezwecken in die Bahn zu bugsieren. Das Ereignis taucht seither in jeglicher Stadtwerbung auf.

Bemerkenswert auch die Talstraßen, die einem manchmal doch etwas beengt, beklemmend und duster erscheinen mögen. Und dann fällt einem vielleicht noch ein, dass der Cartoonist und Comic-Zeichner Gerhard Seyfried (Klassiker: „Freakadellen und Bulletten“, 1979) Wuppertal auf seiner legendären Deutschlandkarte als „Schnupperqual“ verortete. Wie gemein! Doch andere traf es ebenfalls hart: Dortmund war demnach „Abortmund“, Bochum firmierte als „Malochum“ und Hagen schlichtweg als „Unbehagen“. Was man sich so alles merkt.

„Stütze“ für Karl Marx

Sodann aber die berühmten Töchter und Söhne der Gegend: Ex-Bundespräsident Johannes Rau, der in Wuppertal Geburtsort und Heimstatt hatte. Vor allem aber die Dichterin Else Lasker-Schüler (1869 im späteren Wuppertaler Ortsteil Elberfeld geboren) und der Sozialist Friedrich Engels (1820 im anderen größeren Ortsteil Barmen geboren), ohne den Karl Marx finanziell hätte einpacken können. Von Wuppertal ging also welthistorischer Einfluss aus. Ganz nebenbei: Auch Horst Tappert („Derrick“) und Alice Schwarzer wurden in Wuppertal geboren. Noch nebenbeier: ein gewisser Christian Lindner ebenfalls.

Und ferner? Das oftmals besuchte, mit zahlreichen Meisterwerken gesegnete Von der Heydt-Museum. Der famose Skulpturenpark Waldfrieden. Der Zoo. Gar der Wuppertaler SV, der von 1972 bis 1975 wahrhaftig in der Ersten Bundesliga gespielt hat. Noch erstaunlicher: die rund 4500 (!) Baudenkmäler in Wuppertal, speziell eine enorme Vielzahl an Gründerzeit-Villen. Laut Wikipedia hat Wuppertal zudem die meisten öffentlichen Treppen Deutschlands (469 an der Zahl, mit insgesamt 12383 Stufen).

Verblüffend auch die nicht allgemein bekannte Tatsache, dass Fassbinder „Acht Stunden sind kein Tag“ ebenso in Wuppertal gedreht hat wie Wim Wenders Teile seines Roadmovies „Alice in den Städten“. Dessen eingedenk, tun weniger schmeichelhafte Redewendungen wie „Über die Wupper gehen“ (nahezu bruchlos ersetzbar durch „Über den Jordan gehen“) nicht mehr so weh.

Lassen wir’s gut sein. Eine solche Orts-Skizzierung aus der Distanz setzt sich aus lauter Klischees und Zufallseindrücken zusammen. Wie es sich anfühlt, dort zu leben, sei dahingestellt. Es soll aber auch nicht erprobt werden. Es sei denn, unter Euch wären Freiwillige…




Das Ungeheuer vom Harkortsee lockt die Welt ins Revier

Der Harkortsee mit Blick aufs Revierstädtchen Wetter. Bald könnten sich hier Seeungeheuer tummeln – wenn wir es nur wollten. (Foto: Bernd Berke)

Nun liegt die Fußball-EM auch schon wieder ein Weilchen hinter uns – und im Revier muss man sich wieder nach anderen touristischen Attraktionen umsehen. Es gibt leichtere Aufgaben. Doch guter Rat ist gar nicht so teuer, es gibt ihn hier sogar gratis!

Der Reihe nach. Gestern gingen meine Frau und ich an Ruhr und Harkortsee entlang, zwischen den seitwärts gelegenen, recht idyllischen Revier-Städtchen Herdecke und Wetter. Da wurde eine gemeinsame Erinnerung wach: Vor rund 20 Jahren waren wir im schönen Schottland und dort unter anderem am Loch Ness (aka Lough Ness), dem mutmaßlichen Aufenthaltsort des weltberühmten See-Ungeheuers und seiner etwaigen Nachfahren. So gut wie alle Veranstaltungen und Merchandising-Aktivitäten am Ort ranken sich um diesen Mythos und haben seit etlichen Jahrzehnten einiges Geld eingespielt. Vom glucksenden Spaßfaktor mal ganz abgesehen.

Offensichtlich eine lukrative Sache: vielsagende Hinweistafel am schottischen Loch Ness. (Foto: Bernd Berke)

Und nun aber: Warum entdeckt oder erfindet niemand – gern mit Hilfe allfälliger „Experten“ – ein solches Ungeheuer im Harkortsee, meinethalben auch im Hengstey- oder Baldeneysee? Eindrucksvolle Schummel-Bilder sind doch in Zeiten von KI fix hergestellt und in den sozialen Netzwerke rasch verbreitet. Es lebe die gekonnte Sinnestäuschung! Gängige Erkenntnis: Dinge, die nur innig genug imaginiert werden, manifestieren sich mitunter tatsächlich halbwegs handfest. Wenn es so weit ist, rufen die regionalen Medien ihr Publikum dazu auf, einen Namen für das Monster zu finden. Vorzugsweise im gefürchteten „Sommerloch“.

Dann solltet ihr mal sehen! Zuerst kämen wieder die Holländer, dann nach und nach weitere Europäer. Eine Extra-Einladung ginge an eine Delegation aus dem schottischen Distrikt rund um Loch Ness raus. Das entsprechende Pressefoto ginge flugs um die Welt. Schließlich spräche sich das Phänomen bis in die von Kamala Harris regierten USA und nach Ostasien herum. Was wäre das für ein Jubel und Trubel. Hier, bei uns.

Doch halt! Es träfen vielleicht dermaßen viele Touristen ein, dass die Ruhris alsbald einen „Über-Tourismus“ wie etwa in Venedig oder Barcelona beklagen könnten. Mh. Vielleicht sollten wir es doch lieber bleiben lassen, oder?

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P. S.: Beim Rumgoogeln habe ich doch wahrhaftig den Hinweis auf einen „Loch Ness Monsters e. V.“ in Dortmund entdeckt. Weitere Nachforschungen ergaben freilich schnell, dass dieser Verein seit einiger Zeit „dauerhaft geschlossen“ ist. Schade eigentlich.




Bücher, kurz vorgestellt: Hotel, Proletariat, Apokalypse

Ich leiste Abbitte. Hier sind noch drei Bücher, die wohl eine ausführlichere Besprechung verdient hätten. Doch fehlte mir wegen besonders misslicher Umstände schlicht und einfach die Zeit, die jetzt schon wieder in Richtung Herbst galoppiert. Drum seien die Bände hier immerhin kurz vorgestellt:

Eine veritable Wiederentdeckung ist der Roman von Maria Leitner: „Hotel Amerika“ (Reclam, 256 Seiten, 25 Euro). Das erstmals 1930 erschienene Buch zählt zur Spezies der urbanen Hotelromane, die in den bewegten 1920er Jahren aufblühte. Kein Geringerer als Siegfried Kracauer rezensierte das Buch damals für die legendäre Frankfurter Zeitung und arbeitete die Unterschiede zu thematisch ähnlich gelagerten Schöpfungen von Vicki Baum und Joseph Roth heraus.

Maria Leitner, die selbst in prekärer Stellung in einem New Yorker Hotel gearbeitet hatte, schildert die Verhältnisse von „ganz unten“, aus Sicht des irischen Wäschemädchens Shirley, konzentriert auf Ereignisse eines einzigen Tages. Machart und Stil muten noch heute prickelnd modern an.

Man staunt immer wieder, welche Schätze literarische Scouts aus fast vergessener Vergangenheit heben. In diesem Falle war es die Chemnitzerin Helga W. Schwarz, die sich beharrlich für eine Neuentdeckung eingesetzt hat, nachdem sie in der DDR wiederaufgelegte Bücher gelesen hatte. Eigentlich fast überflüssig zu sagen, dass die NS-Machthaber Maria Leitner ins Exil getrieben haben. Was hätte sie in einer besseren Welt noch bewirken können!

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Seitdem das proletarische Milieu weitgehend geschwunden ist, erscheinen – im Zeichen der biographischen Selbstvergewisserung – umso mehr Erzähltexte, die Bruchstücke jener Vergangenheit bewahren wollen. Hierher gehört, mit eigenen Akzenten, letztlich auch der von Martin Becker verfasste Roman mit dem schlichten Titel „Die Arbeiter“ (Luchterhand, 302 Seiten 22,70 Euro).

Der 1982 geborene, im sauerländischen Plettenberg aufgewachsene Autor erzählt die Geschichte einer Arbeiterfamilie aus dem Ruhrgebiet. Auch er weiß genau, wovon er schreibt: Sein Vater war Bergmann, seine Mutter Schneiderin. Er kennt also die einfachen Verhältnisse, in denen man sich für ein kleines bisschen Wohlstand abrackert. Die Rückschau hat denn auch so gar nichts von nostalgischem Beigeschmack.

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T. C. Boyle muss wirklich nicht mehr großartig gewürdigt werden, er zählt zu den Weltbestsellern von gehöriger Substanz. Mit seinen Short Stories in „I Walk Between the Raindrops“ (Hanser Verlag, 272 Seiten, 25 Euro – Übrigens eine seltsame Marotte im Verlagswesen: englische Titel für ins Deutsche übersetzte Bücher) entwirft er wieder einmal Szenarien des allmählichen, jedoch zunehmend rasanten, offenbar unaufhaltsamen Weltuntergangs. Wie er das fertigbringt, macht ihm das so leicht niemand nach. Wenn ein Schriftsteller auch technisch auf Höhe dieser Zeit ist, dann sicherlich er (na, gut: und ein paar wenige andere). Fragt sich nur, wie man nach solchen Büchern guten Gewissens und frohen Herzens weiterleben soll. Und doch: es geht. Höchstwahrscheinlich.

Ganz nebenbei: Auf dem Cover stört eigentlich nur der obligatorische Spruch des nahezu unvermeidlichen Denis Scheck: „Starke Geschichten für heftige Zeiten.“ Aha. Muss man solche Testimonials wirklich unbedingt auf die Titelseite heben?

 




Vom Blog zum Buch: Gerd Herholz und seine „Interventionen aus dem Ruhrgebiet“

Dies ist eigentlich keine Rezension. Es wäre ja auch ziemlich unredlich, hier eine Kritik zu Gerd Herholz‘ Buch „Gespenster GmbH“ zu veröffentlichen, hat doch die Erstfassung vieler der darin versammelten Blog-Beiträge just in den Revierpassagen gestanden.

Ergo habe ich sie seinerzeit selbst gegengelesen und punktuell redigiert, was freilich bei einem so versierten Autor wie Herholz kaum nötig ist. Er ist einer, der überaus sorgfältig mit seinen (und anderen) Texten umgeht und wohl dennoch nie hundertprozentig zufrieden mit den Resultaten des eigenen Tuns ist. Ein Perfektionist eben. Aber beileibe kein unnachgiebiger Rechthaber.

„Interventionen aus dem Ruhrgebiet“ heißt sein Band im Untertitel, auf dem Cover prangt ein nicht gar so glanzvolles „Dortmunder U“. Für die Buchfassung hat Herholz die Beiträge noch einmal sorgsam überarbeitet. Tatsächlich erhebt sich hier eine gewichtige Stimme aus der Region, die kulturelle Tendenzen ebenso einzuordnen weiß wie politische Zeitläufte und gesellschaftliche Vorgänge; eine Stimme, deren Einsprüche auch in anderen Breiten gehört werden sollten.

Ruhrbarone und Revierpassagen

Nochmals rekapituliert: Die Erstveröffentlichungen standen zwischen 2011 und 2023 in zwei Ruhrgebiets-Blogs: „Ruhrbarone“ (18 Beiträge) und „Revierpassagen“ (25 Beiträge). Hinzu kommt der „Humanistische Pressedienst“ (1 Beitrag). Keine bloße Erbsenzählerei, sondern eine ungefähre Vermessung.

Herholz wagt sich an schwierige, umfassende Themen, freilich pirscht er sich  vorzugsweise von den Rändern her an sie heran – und wird dann doch sehr bald wesentlich. In diversen Beiträgen befasst er sich mit Kultur und vor allem Kulturschwund im Kapitalismus oder beleuchtet flackernd die partielle Finsternis der „Nekropole Ruhr“, mithin einer in mancher Hinsicht sterbenskranken Gegend. Gerade der tastende Gestus des „Versuchs“ bewahrt ihn vor allzu schnellen und harschen Urteilen, doch vertritt er durchaus seine klaren, bestens begründeten Meinungen.

Beklagenswerter Zustand der Kultur

Lesenswert sodann auch die literarischen Erkundungen (oftmals mit Ruhrgebiets-Bezug), beispielsweise zu Nicolas Born, Feridun Zaimoglu, Hilmar Klute, Wilhelm Genazino – und zu Revierbezügen bei Günter Grass. Behutsam und wunderbar differenziert schließlich die Würdigung des Dichters Erich Fried und seiner Widersprüche. Herholz zeigt sich in seiner ureigenen Domäne längst nicht nur als studierter Germanist, sondern eben auch als höchst belesener Mensch, der etliche Protagonisten der Literatur persönlich kennt oder gekannt hat.

Besonders am Herzen liegen dem langjährigen Leiter des Literaturbüros Ruhr (Gladbeck) die – gar seltenen, arg vermissten oder stets bedrohten – Literaturhäuser der Region. Beklagenswert, nicht nur aus Sicht dieses Kenners des Literaturbetriebs, ist überdies der Zustand hiesiger Literaturfestivals und dito Preisvergaben.

Nicht selten schleicht sich Resignation mitsamt einem gewissen Galgenhumor in seine Texte. Es lässt sich allemal nachvollziehen. Zumal seit den Corona-Zeiten klingt ein vordem ungeahnter Ton mit hinein – mit Blicken aufs Leben nach der Lohnarbeit und zu einem Ende hin, das doch bitte noch in weiterer Ferne liegen möge.

Wie eingangs gesagt: Dies ist keine Rezension. Aber eine nachdrückliche Empfehlung.

Gerd Herholz: „Gespenster GmbH. Interventionen aus dem Ruhrgebiet“. Herausgegeben von Arnold Maxwill. Aisthesis Verlag, Bielefeld (Reihe Nyland Dokumente, 27). 240 Seiten, 25 Euro.




Ein Grundklang für Generationen: Bochums Jugendsinfonieorchester feiert sein 50-jähriges Bestehen

Norbert Koop leitet das Jugendsinfonieorchester der Stadt Bochum seit 1999. Seit 2019 ist er zudem Leiter der Musikschule. Er hat einen Lehrauftrag an der Folkwang Universität der Künste und arbeitet als Dozent für Orchesterdirigieren an der Bundesakademie in Trossingen. (Foto: privat)

Lassen wir die Festtags-Floskeln. Verzichten wir einfach mal auf die Rede von der talentierten Jugend, auf das Lob der Nachwuchsförderung, auf das Wortgeklingel von der kulturellen Bildung und vom städtischen Musikleben. Erst hinter solchen Phrasen zeigt sich, weshalb das nunmehr 50 Jahre alte Jugendsinfonieorchester der Stadt Bochum die Kinder so vieler Familien geprägt hat – und das über Generationen. Weshalb die Ehemaligen, die der aktuelle Dirigent Norbert Koop zum gemeinsamen Jubiläumskonzert im Anneliese Brost Musikforum eingeladen hatte, 30 und 40 Jahre später noch von einer Zeit schwärmen, die sie unvergesslich nennen.

Erinnerungen an Auslandsreisen in die Partnerstädte werden wach, an die alljährliche Orchesterwoche in den Herbstferien, die willig geopfert wurden, um acht Stunden am Tag zu proben. In einem kleinen Nest im Sauerland nahmen Ouvertüren, Sinfonien und Solokonzerte langsam Gestalt an. Sie wurden erarbeitet, teils regelrecht erkämpft unter der Leitung des charismatischen Orchestergründers Guido van den Bosch. Der Geiger und Dirigent konnte erschreckend streng sein, ließ heikle Stellen pultweise, ja sogar einzeln vorspielen. War diese Bloßstellung für den Einzelnen beschämend, ging es dem Kollektiv manchmal nicht besser. Wenn van den Bosch fand, dass nicht genug geübt worden sei, konnte es geschehen, dass er Proben rigoros abbrach und das gesamte Orchester nach Hause schickte.

Orchestergründer Guido van den Bosch wirkte nicht nur am Dirigentenpult prägend. Viele Lebensläufe wurden durch seine Arbeit beeinflusst. (Foto: privat)

Gleichwohl kannten nahezu alle Kinder und Jugendlichen, die in Bochum ein Instrument lernten, nur ein Ziel: Mitglied im JSO zu werden, endlich mitspielen zu dürfen in diesem verrückten Haufen, in dem van den Boschs Meisterschülerin Clarissa Forster mit dem Violinkonzert von Felix Mendelssohn Bartholdy brillierte und Jugendliche von unterschiedlicher Begabung zu einer verschworenen Gemeinschaft wuchsen. Unermüdlich unterrichtend und dirigierend, weckte van den Bosch mehr Verständnis für das Genie großer Komponisten, als jeder Schulunterricht vermocht hätte. Wie Chaos sich unter seiner Stabführung zur Kunst fügte, war schiere Magie.

Schon immer war das JSO das „Flaggschiff“ der Musikschule. Seine Leistungsfähigkeit ist bis heute erstaunlich konstant geblieben. Viermal hintereinander konnte das JSO seit 2007 beim Landesorchesterwettbewerb NRW 1. Preise erringen und sich damit jeweils für den Deutschen Orchesterwettbewerb qualifizieren. Auch auf der Bundesebene des alle vier Jahre stattfindenden Wettbewerbs erzielte es sehr gute Ergebnisse.

Manches ist heute aber auch anders als zu Beginn der 1970er Jahre. Bei den Proben der aktuellen JSO-Besetzung geht es deutlich ruhiger zu: Wenn der Dirigent unterbricht, greifen die meisten zum Handy, statt mit dem Pultnachbarn zu schwatzen. Selbstredend hat sich auch die Pädagogik verändert. Appelle zum Üben mag es noch geben, aber Bloßstellung vor dem Rest der Gruppe ist ausgeschlossen. Die aktuellen Mitglieder treten ihrem Dirigenten Norbert Koop nicht respektlos gegenüber, zeigen aber manchmal Selbstbewusstsein. Auch im Repertoire ist ein leichter Wandel zu verzeichnen: Filmmusiken wie „Jurassic Park“ von John Williams hätten es damals vielleicht nicht ins Programm geschafft.

Erst 1994 komponiert wurde der Tanz Nr. 2 („Danzón“) aus der Feder des mexikanischen Komponisten Arturo Marquéz, bekannt geworden durch die Europatourneen des Simón Bolívar Jugendsinfonieorchesters aus Venezuela. Dieses Stück bildet den gut gelaunten Auftakt für das Jubiläumskonzert im Anneliese Brost Musikforum, das an diesem Abend eintrittsfrei zugänglich ist. Das JSO zeigt sich in guter Spiellaune: Das Schlagzeug zaubert mit Klanghölzern und Ratsche karibisches Flair, ein Klaviersolo bringt Anklänge von Barmusik. Blechbläser und Streicher laden die lateinamerikanischen Rhythmen mit Energie und Lebensfreude auf. Die Trompeten schmettern, die Posaunen leisten sich ein übermütiges Glissando.

Benjamin Völkel, einst Schüler an der Musikschule Bochum, hat heute die Soloposition für Englischhorn beim NDR Elbphilharmonie Orchester (Foto: privat)

Mit dem Oboenkonzert des Ungarn Frigyes Hidas tritt der Bochumer Benjamin Völkel auf. Einst Schüler der städtischen Musikschule, konnte er sich 2022 eine Solistenstelle beim NDR Elbphilharmonie Orchester erspielen (Englischhorn). Eine tolle Erfolgsgeschichte, die niemanden wundern kann, der an diesem Abend zuhört. Völkels Oboenton ist schlank und elegant, biegsam und farbenreich. Wie sehr er das Instrument technisch beherrscht, zeigt sich in den Ecksätzen, die er höchst beredt und beweglich gestaltet. Im Andante scheint ein Verwandter von Debussys berühmtem „Faun“ herüber zu grüßen. Zum Flirren der Streicher öffnet sich eine akustische Landschaft, in der Völkel in aller Ruhe Melodien nachsinnt. Sommerlich träge und entspannt klingt das, beinahe wie ein Schattenplatz in der Mittagshitze.

Nach der Pause wird es eng auf der Bühne. Vereint mit etwa 40 Ehemaligen wächst das Kollektiv auf 120 Köpfe. Jetzt ähnelt die Besetzung einem Fall von Größenwahn: neun Klarinetten, zehn Hörner, elf Bratschen, 15 Celli, 38 Geigen. Viele Blicke richten sich an diesem Abend auf die junge Bratschistin Naomi Cichon, die ihre Instrumentengruppe mit dem gleichen Elan anführt, wie es ihr Großvater Teisuke Shiraga lange Jahre bei den Bochumer Symphonikern tat. Ihre Mutter Kazuko sitzt in den zweiten Geigen, Tochter Mika spielt in der ersten Violine mit. Mancher Gedanke geht an diesem Abend auch an Kazukos Schwester Fumiko, der leidenschaftlichen Pianistin, die einst Mozart-und Beethoven-Konzerte mit dem JSO spielte und leider viel zu früh verstarb.

Probenarbeit im Vorfeld des Jubiläumskonzerts. (Foto: privat)

Einige Paradestücke des „alten“ JSO stehen nun auf dem Programm: die Meistersinger-Ouvertüre von Richard Wagner, die „Ungarischen Tänze“ Nr. 1 und 6 von Johannes Brahms liegen manchen Ehemaligen noch in den Fingern. Jetzt spielen 50- und 60-Jährige an einem Pult mit 17- und 18-Jährigen. Die Generationen ziehen am gleichen Strang, die Freude springt auf das Publikum über. Mit Edward Elgars berühmtem „Pomp and circumstance“-Marsch als Zugabe erreicht die Feststimmung stolze Höhen.

Blumen und „Merci“-Schokolade erhält Nobert Koop als Dank vom Orchester. Ihm und seinen nicht minder engagierten Kolleginnen und Kollegen an der Musikschule Bochum – viele von ihnen ehemalige JSOler – ist es zu verdanken, dass es noch immer genug Jugendliche gibt, die in ihrer Freizeit Orchester spielen statt World of Warcraft oder Grand Theft Auto. Um die musikalische Bildung im Land, die durchaus Anlass zur Sorge gibt, wäre es ohne sie noch weit schlimmer bestellt.

https://musikschule-bochum.de/termin/50-jahre-jugendsinfonieorchester/




Seltsame Artikel-Serie über Zwangsversteigerungen

Wie sich schon die Überschriften ähneln – RN-Ausrisse aus dem Dortmunder Süden.

Leute, Leute, was soll das denn bloß wieder werden? Etwa eine Artikel-Serie? Das wäre ein Unding sondergleichen.

Die Rede ist mal wieder vom oftmals dürftigen Dortmunder Lokalteil der Ruhrnachrichten (RN), der einen leider auch als Dreingabe in der WAZ verfolgt. Während aus Innen- und Gesamtstadt zuweilen akzeptabel berichtet wird, franst das Ganze vor allem auf den Stadtteil-Seiten häufig ins Abstruse aus; so jetzt mit der neuen Marotte, anstehende Immobilien-Zwangsversteigerungen zum redaktionellen Erzählstoff umzufrisieren.

Wie bitte? Jawohl. Was sonst nur in den amtlichen Mitteilungen steht, wurde jetzt für den Dortmunder Süden gleich an drei aufeinander folgenden Tagen von einem Mitarbeiter (dessen Name hier gnädig verschwiegen sei) als durchaus verzichtbarer „Lesestoff“ aufbereitet. Mit allem Drum und Dran: Ort und Zeitpunkt der Auktion im Amtsgericht, Verkehrswert, Details zur Bauweise und Ausstattung, zum Zustand des Objekts – und mit konkreter Adresse. Damit die Nachbarschaft auch Bescheid weiß, wer sich eventuell das Haus nicht mehr leisten kann. Wozu sonst eine Zwangsversteigerung?

Bei einem der Objekte erfahren wir gar, es sei „teilweise ohne erforderliche Baugenehmigungen“ errichtet worden. Es beschleicht einen eh das Gefühl, dass eine solche Art des Berichtens aus zweiter Hand in rechtliche Grauzonen führen könnte. Als schwante ihm selbst dergleichen, beruft sich der Autor auch alle paar Zeilen auf den Wortlaut der jeweiligen Gutachten. Sprich: Der journalistische Eigenanteil tendiert gegen Null. Böswillig könnte man von partiellem „Abkupfern“ sprechen.

Sprachlich wirkt das schnellfertige Gebräu ohnehin reichlich unbeholfen. Die Häuser kommen – wie originell – jeweils „unter den Hammer“, der staubtrockene Kanzleistil der Gutachten-Vorlagen blinkt trotz arg bemühter Umformulierungs-Versuche noch durch.

Womöglich billigt sich der RN-Mitarbeiter eine spezielle journalistische Leistung zu. Mehrfach heißt es jedenfalls, das Versteigerungs-Gutachten „enthülle“ gewisse Details, als hätten wir es hier mit investigativer Recherche zu tun. Eine der Immo-Geschichten (der sublokale „Aufmacher“) erscheint mit vollem Autorennamen, ein andermal lässt er (oder die Redaktion) es beim Kürzel bewenden. Beim dritten Anlauf steht er wieder namentlich in ganzer Autorenherrlichkeit da.

Man mag es kaum glauben: Tatsächlich wird die Serie heute mit einem dritten Beitrag fortgesetzt, wiederum als Aufmacher der Stadtteilseite und mit voller Nennung desselben Autors, der auch stets zu den Häusern fährt und sie (mehr schlecht als recht) ablichtet.

Es steht zu vermuten, dass sich Teile des eh nicht verwöhnten Lesepublikums verwundert die Augen reiben. Hat er etwa schon wieder…? Ja, er hat. Vielleicht fragen sie sich in den anderen Stadtteil-Redaktionen ja schon, ob sie sich das tägliche Blattmachen auch auf ähnliche Weise erleichtern sollen.

Wir aber warten schon ausgesprochen ungespannt auf die morgige Ausgabe.

 

 




Fürchterliche Kumpanei – der BVB-Deal mit der Waffenschmiede Rheinmetall

Jetzt Makulatur: meine BVB-Mitgliedskarte.

So! Es ist vollbracht. Heute habe ich meine Mitgliedschaft beim BVB 09 gekündigt. Dreimal darf geraten werden, welchen Grund ich dafür hatte. Oder auch nur einmal. Denn natürlich geht es um den nach (nicht nur) meiner Ansicht verwerflichen Sponsoren-Deal mit dem Rüstungskonzern Rheinmetall, der allzeit prächtig von internationalen Krisen und „Waffengängen“ profitiert.

Für die Düsseldorfer Firma mag es einen Image-Gewinn bedeuten, sich mit ein paar Milliönchen an Borussia Dortmund heranzuwanzen. Für den Verein (nun vollends unglaubwürdiges Motto: „Echte Liebe“) bedeutet es hingegen einen herben Image-Verlust. Zahlreiche Fans melden Protest an – und ich bin sicherlich nicht der einzige Anhänger, der die Konsequenz des Vereinsaustritts zieht. Ich habe auch gleich die Mitglieds-Plakette von meinem Auto abgezogen. Wenn schon, denn schon. Dem Verein, dem ich seit der Kindheit (also seit Gründerzeiten der Bundesliga) anhänge, bleibe ich dennoch treu. Freilich mit Schmerzen.

Wie peinlich wird es sein, wenn die Aufrüster fast überall mit ihrer BVB-Connection werben dürfen. Nur die Trikots sollen ausgespart bleiben. Na, toll. Es geht nicht darum, dass Rheinmetall derzeit auch und vor allem Waffen für die Ukraine herstellt, wo sie tatsächlich dringend benötigt werden. Es geht vielmehr um das allgemeine und sonstige Gebaren dieser Kriegsprofiteure, die fortan wahrscheinlich auch etliche VIP-Logen im Westfalenstadion fluten.

Wie hat man sich in Dortmund und anderswo aufgeregt, als der FC Bayern anrüchige Bande nach Katar knüpfte. Wie hat man die Schalker gescholten, die so lange an einer „Partnerschaft“ mit der russischen Gazprom festgehalten haben. Wie unbeliebt ist – zumal im Revier – RB Leipzig, weil der Club überhaupt erst vom Brausehersteller Red Bull gepäppelt wurde.

Und jetzt diese Dortmunder Kumpanei mit Rheinmetall, ausgerechnet im Vorfeld des Finales der Champions League lanciert. Es gibt so viele Marken, mit denen sich der börsennotierte BVB hätte schmücken oder wenigstens gut hätte arrangieren können. Warum musste es ausgerechnet die rheinische Waffenschmiede sein, die nicht einmal regionalen „Stallgeruch“ hat? Was ist in Hans-Joachim Watzke gefahren, dass er am Vorabend seines Abschieds noch eine solche Entscheidung getroffen hat?

Borussia Dortmund im Londoner Wembley-Stadion gegen Real Madrid. Mehr mythologische Aufgipfelung geht aus hiesiger Sicht kaum. So viele fiebern dem Endspiel am 1. Juni entgegen: Ob der Außenseiter BVB wohl die Sensation schaffen und den größten europäischen Titel erringen kann? Doch nun ist einem selbst dieses Hochamt des Fußballs vergällt.

Ich spare mir an dieser Stelle alle hochlustigen Anspielungen auf Abwehr, Verteidigung und Angriff in Krieg und Fußball. Das entsprechende Wortfeld ist mitsamt Bomben und Granaten schnell abgegrast. Ich gestatte mir aber gehörige Empörung oder – sprachlich noch passender – Entrüstung.




Chinesische Lyrik geht hier „viral“ – aber warum bloß?

Sollte dieses metallische Wesen etwa chinesische Lyrik lesen? (Foto eines regionalen Briefkastens: Bernd Berke)

Leute, dieses Kuriosum muss ich jetzt doch einmal vermelden: Wie aus dem Nichts hat ein länger zurückliegender Beitrag in den Revierpassagen fulminante Zugriffszahlen erzielt, er „geht viral“, wie quotengierige Menschlein so zu labern pflegen.

Wir sprechen von einem Text unseres im März 2023 verstorbenen Gastautors Heinrich Peuckmann, der sich für den 1. Januar 2018 mit chinesischer Lyrik befasst hat. Eher unauffällig, stand der Artikel seither im Hintergrund des Blog-Geschehens. In den letzten Tagen „schoss“ er jedoch urplötzlich an die Spitze aller hier jemals veröffentlichten Beiträge, verzeichnete auf einmal 6555 Aufrufe und verdrängte damit unversehens sämtliche anderen Texte auf die Plätze. Nur noch auf den Rängen landeten zuvor unangefochten an der Spitze stehende Schriftstücke über geprügelte Kinder (immerhin 2491 Zugriffe) und über den Pop- und Rock-Präsentator Alan Bangs (1480). Seltsam genug: Jetzt verharren die Zugriffe auf chinesische Lyrik seit Tagen just bei 6555, als wollte nun niemand mehr Interesse dafür aufbringen. Nanu?

Dass chinesische Poesie gleichsam über Nacht dermaßen viel Interesse wecken soll, kommt einem, kommt mir ohnehin verdächtig vor. Sollte es sich etwa um eine (vielleicht einigermaßen harmlose?) Cyber-Attacke handeln, womöglich mit der Absicht, einen Server zu überfordern und außer Kraft zu setzen? Sollte China etwa auch auf diesem Wege…? Und sollte ein solches Unterfangen jetzt bedrohlich oder auf verquere Weise „schmeichelhaft“ sein? Nicht, dass „man“ sich noch einbildet, ins Visier „der“ Chinesen geraten zu sein – und das als Kulturblog aus dem Ruhrgebiet. Hallo Staatsschutz, aufgepasst! Hihi!

Wie rief doch der einstige CDU-Bundeskanzler Kiesinger schon vor etlichen Jahrzehnten unkend aus: „Ich sage nur: China, China, China!“ Der gelegentlich aus Gründen geohrfeigte Mann hatte offenkundig Visionen und hätte daher (so ein anderer Ex-Kanzler, nämlich Helmut Schmidt) eventuell „zum Arzt gehen“ sollen.

Mag sein, dass es sich empfiehlt, nunmehr ein paar „Testballons“ aufsteigen zu lassen und weitere Äußerungen zur chinesischen Lyrik zu publizieren. Am Ende ergeben sich daraus noch Klickzahlen auf boulevardeskem Level. Ich sag’s Euch, demnächst grüßen wir noch als Influencer sondergleichen. Pardon: Ich meine natürlich Chinfluencer.




Ruhrtriennale will Lust auf Zukunft wecken

Szene aus „Pferd frisst Hut“ nach Eugène Labiche mit Musik von Herbert Grönemeyer. (Foto: © Thomas Aurin / Theater Basel / Ruhrtriennale)

Man muss schon sehr tief in die jeweilige kreative Materie eindringen, um solche Kombinationen und Mischformen zu realisieren, wie es auch bei der kommenden Ausgabe der Ruhrtriennale wieder geschehen soll: Unter dem neuen Dreijahres-Intendanten, dem renommierten belgischen Theatermacher Ivo Van Hove (er amtiert bis 2026 im Revier), sollen beispielsweise Lieder von Edvard Grieg inszenatorisch mit Rock-Energie aufgeladen oder Chorwerke von Anton Bruckner mit Songs der Isländerin Björk in elektrisierende Verbindung gebracht werden. Da horcht man doch jetzt schon auf und wünscht gutes Gelingen!

Ivo Van Hove, der bereits in früheren Triennale-Zyklen als Gastregisseur fünf Inszenierungen beigesteuert hat (davon drei unter der Intendanz von Johan Simons), erinnerte sich zu Beginn der heutigen Programm-Pressekonferenz an seine künstlerischen Anfänge. Damals, in seinen frühen Zwanzigern, habe er fast alles langweilig gefunden, was sich seinerzeit in (belgischen) Theatern begab. Die nachhaltige Inspiration kam dann mit Produktionen in verlassenen Hallen am Hafen von Antwerpen – ein Szenario, wie es dann eben vergleichbar die 2002 begründete Ruhrtriennale in aufgelassenen Fabrikgebäuden erschlossen hat. Insofern fühlt sich die neue Aufgabe für Van Hove wie ein Heimkommen an.

Hauptrolle für Sandra Hüller

Ivo Van Hove, der neue Intendant der Ruhrtriennale. (Foto: © Thomas Berns)

Die Industriebauten sind denn auch bereits der wesentliche Beitrag des Ruhrgebiets zur rund 17 Millionen Euro schweren Triennale, die sich (verdichtet auf die Zeit vom 16. August bis zum 15. September) 2024 auf die Städte Bochum, Duisburg und Essen konzentriert. Ansonsten spricht man liebend gern Englisch und vergibt auch die meisten Produktionstitel in dieser Weltsprache, die eben immer noch nicht allen „Ruhris“ total geläufig sein dürfte. Es beginnt schon mit der Eröffnungs-Inszenierung am 16. August, die Ivo Van Hove selbst übernimmt: „I Want Absolute Beauty“ (Ich will absolute Schönheit) handelt (nicht nur) von weiblicher Selbstverwirklichung und wird durch Songs von PJ Harvey in Bewegung gesetzt. Van Hove stellt eine neue Form von Musiktheater in Aussicht, mit der er auch neues Publikum anlocken möchte. Die Hauptrolle spielt und singt die auch international hochgelobte Sandra Hüller. Schon das ist ein Signal erster Güte.

Auch das Motto des ganzen Veranstaltungsreigens lautet Englisch: „Longing for Tomorrow“ (etwa: Sehnsucht nach Zukunft). Noch ein Beispiel für die vorherrschende Anglophilie: „The Faggots and Their Friends Between Revolutions“, ein Abend über queeres Selbstbewusstsein und die sanfte Kraft der Gewaltlosigkeit. Um etwaige Missverständnisse auszuräumen: „Faggot“ ist ein Slangwort für Schwule und hat nichts mit einem ähnlich geschriebenen Musikinstrument zu tun. Weitere Produktionen, die wir hier nicht weiter auffächern können und wollen, nennen sich „One One One“, „Pump Into the Future Ball“ oder auch – gedacht für unter sechsjährige Menschen – „Little Ears, Tiny Feet“…

Immerhin ein Titel ist französisch: „Bérénice“, 1670 uraufgeführte Tragödie von Jean Racine, kommt als Einpersonendrama zur Triennale. Es spielt ein Weltstar des Theaters und Kinos, nämlich die unvergleichliche Isabelle Huppert.

Isabelle Huppert als Racines Tragödiengestalt „Bérénice“ (Foto: © Alex Majoli)

Ganz ohne waltenden Zeitgeist geht es natürlich auch bei der Triennale nicht. Da wird vielfach schwarze Geschichte aufgerufen, zudem werden queere Identitäten „sichtbar gemacht“. Im breiten Themenspektrum finden überdies Natur und Klima ihre gebührenden Plätze. Schließlich sind einige Künstlerinnen und Künstler aus der Ukraine an diversen Projekten beteiligt.

„Slapstick-Operette“ mit Grönemeyers Musik

Die hauptsächlichen Schwerpunkte liegen auf allerlei Musiktheater-Mischungen mit mehr oder weniger kühnen Grenzüberschreitungen zwischen so genannter „E-Musik“ und Rock. Eine ganz spezielle Darbietung rankt sich um 16 Songs von Herbert Grönemeyer (!). Die Chose wird als „erstes deutsches Slapstick-Operetten-Musical“ angepriesen, wobei „Herbie“ gar in die Nähe eines Rossini gerückt wird. Die turbulente Handlungs-Vorlage stammt jedenfalls vom Komödien- und Farcenschreiber Eugène Labiche und heißt „Ein Florentinerhut“. Der Triennale-Titel des ziemlich schräg anmutenden Projekts lautet „Pferd frisst Hut“. Wohl bekomm’s.

Dermaßen vielfältig kommt die nächste Triennale-Ausgabe daher (u. a. auch mit  Tanzproduktionen, Bildender Kunst, Autorenauftritten und Filmen), dass man sich möglichst die Programmdetails im Internet-Auftritt anschauen oder aber gleich das Programmbuch besorgen sollte. Der Vorverkauf der rund 40.000 Tickets hat unterdessen bereits heute (15. April) begonnen. Wer zuerst kommt…

Ruhrtriennale: 16. August bis 15. September 2024 in Bochum, Essen und Duisburg.

Kartenverkauf:

Ticket-Hotline: 0221/28 02 10 (Mo-Fr 8-20, Sa 9-18, So 10-16 Uhr) www.ruhrtriennale.de/de/tickets




Die Eintrittskarte ist noch da: Vor 50 Jahren wurde das Westfalenstadion eröffnet

Meine Original-Eintrittskarte vom 2. April 1974. (Foto: Bernd Berke)

Irgendwo musste ich sie doch noch verwahrt haben, diese historische Eintrittskarte. Und tatsächlich: In einem Nostalgie-Ordner steckte sie noch. Wie könnte ich sie wegwerfen! Manche mögen sogar sagen, es sei eine Art „Reliquie“.

Heute vor genau 50 Jahren (jaja, man wird nicht jünger) berechtigte das Ticket zum Eintritt ins damals nagelneue Dortmunder Westfalenstadion, wo am 2. April 1974 um 20 Uhr das Eröffnungsspiel des BVB gegen den langjährigen Revier-Rivalen FC Schalke 04 anstand. Die Blauen gewannen 3:0. Es waren andere Zeiten, fürwahr.

Man hätte damals meinen können, das Stadion sei zur Unzeit errichtet worden, war Borussia Dortmund doch 1972 in die Zweite Bundesliga abgestiegen. Doch 1976 gelang der Wiederaufstieg. Welche rasante und vielfach aufregende Entwicklung der BVB seither genommen hat, lässt sich auch hieran ermessen: 1974 war es noch relativ leicht, einen Platz auf der nachmals so legendären Südtribüne zu ergattern. Dabei fasste das Stadion damals „nur“ 54.000 Zuschauer. Heute passen nach diversen Um- und Ausbauten 81.365 hinein – und selbst bei vermeintlich weniger attraktiven Gegnern ist alles bis auf den letzten Platz ausverkauft. Der Dortmunder „Tempel“, wie ihn viele Fans nennen, hat denn auch unter allen Stadien weltweit den höchsten Zuschauerschnitt.

Im Februar 2022 trug der BVB sein 1000. Heimspiel aus. Die Anfänge der Bundesliga (ab 1963) gab’s noch im benachbarten Stadion Rote Erde, das im Juni 1926 eröffnet worden war. Die dortige Atmosphäre, erstmals als Kind persönlich erfahren zur Mitte der 60er Jahre, war auf andere Weise unvergleichlich und unvergesslich. Allein zu erleben, wie viele Menschen seinerzeit auf Bäume geklettert sind, um besser zu sehen… Insgesamt war’s viel mehr Behelf, aber auch mehr Ursprung. Authentisches Ruhrgebiet halt. Hach ja.

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Nachtrag: Und woher hat das Westfalenstadion seinen Namen? Der kristallisierte sich bei einer Leserumfrage zur Bauphase 1971 heraus. Seinerzeit gehörte Günter Hammer, Chefredakteur der Westfälischen Rundschau (den ich dort auch noch als Chef erlebt habe), dem BVB-Wirtschaftsrat an. Er forcierte die Umfrage in der Rundschau, bei der sich die große Mehrheit für den Namen Westfalenstadion entschied.

P. S.: Seit 2005 trägt das Westfalenstadion in geschäftlicher Hinsicht den in Dortmund wenig geliebten Sponsoren-Namen „Signal Iduna Park“ – laut laufendem Vertrag mindestens bis zum Jahr 2031. Aber muss man es deshalb alltäglich so nennen? Nö.




Auch ohne Bundesinstitut: Essen will Maßstäbe in der Fotokultur setzen

Sein Nachlass kommt nach Essen: Fotograf Michael Schmidt (1945-2014), hier in seiner Ausstellung „Waffenruhe“ im Essener Museum Folkwang, aufgenommen am 9. Februar 1988. (© Marga Kingler/Fotoarchiv Ruhr Museum)

Essen als d i e deutsche Fotografie-Stadt? Nun ja, es ist kompliziert. Nach politischem Willen, insbesondere auf Bundesebene, wird das noch zu gründende Deutsche Fotoinstitut eben nicht in der Ruhrstadt, sondern in Düsseldorf angesiedelt. Doch just heute ging man in Essen an die Öffentlichkeit, um kundzutun, dass man auch so gehörige Pflöcke einschlagen kann: Das hochkarätige Archiv Michael Schmidt, Nachlass eines prägenden Fotografen des 20. Jahrhunderts, kommt im Herbst aus Berlin dauerhaft in die Fotografische Sammlung des Museums Folkwang.

Da erhob sich im Verlauf der Pressekonferenz gar die Frage, ob Düsseldorf angesichts solcher Entwicklungen vielleicht nur noch die zweite Geige spielen werde. Nun aber mal halb lang! Folkwang-Museumschef Peter Gorschlüter legt jedenfalls Wert auf die Feststellung, dass die Essener mit dem künftigen Bundesinstitut und anderen fotografischen Einrichtungen einvernehmlich kooperieren wollen – und das in guter föderalistischer Tradition. Gorschlüter gehört zur Gründungskommission des Deutschen Fotoinstituts und vertritt von daher nicht ausschließlich Essener Interessen, sondern nimmt eine übergeordnete Perspektive ein. Er mag sich nicht einmal andeutungsweise zu Äußerungen über den vormaligen Konkurrenten Düsseldorf verleiten lassen.

Neuer Verein bündelt kulturelle Anstrengungen

Essens Oberbürgermeister Thomas Kufen fasste es so: Die Stadt habe sich „redlich und engagiert“ um den Standort des Fotoinstituts bemüht. In der nun einmal gefällten Entscheidung für Düsseldorf sehe er keinen Fehlschlag. Überdies sei kaum eine deutsche Region seit Erfindung der Fotografie gründlicher ins Bild gesetzt worden als das Ruhrgebiet. Man könnte anfügen: Das Revier ist ja auch nicht so furchtbar weit von der NRW-Landeshauptstadt Düsseldorf entfernt.

Unterdessen hat sich in Essen ein Zusammenschluss gewichtiger Institutionen formiert, der hier Anstrengungen zur fotografischen Kultur bündeln soll. Das Ruhr Museum auf Zeche Zollverein zählt ebenso zum erlesenen Kreis wie das Historische Archiv Krupp, die Folkwang Universität der Künste und eben das Museum Folkwang. Neuerdings (genauer: seit 31. Januar) agieren sie zusammen als gemeinnütziger Verein mit Sitz im markanten SANAA-Gebäude auf dem UNESCO-Welterbe Zollverein. Auch dieses „Zentrum für Fotografie Essen“ ist ein Statement.

Bedeutsamer Nachlass kommt von Berlin nach Essen

Vor diesem Hintergrund darf die bevorstehende Überführung des Archivs Michael Schmidt als bedeutsames Signal gelten. Der Fotograf, der von 1945 bis 2014 gelebt hat, hatte schon sehr früh und fortan recht häufig Ausstellungen in Essen, wo er – in der Tradition eines Otto Steinert – zeitweise auch eine Lehrtätigkeit ausgeübt hat. Zentraler Ort seines bildnerischen Schaffens war allerdings Berlin, wo in Kreuzberg nach und nach ein bestens aufgearbeitetes Archiv seiner Werke entstanden ist. Folkwang-Direktor Gorschlüter über den wertvollen Nachlass: „Wir übernehmen also keine Bananenkisten.“

Schon jetzt hat man im Depot eine spezielle Ebene vorbereitet, auf der das Archiv Platz finden wird. Das Schmidt-Konvolut kommt als Dauerleihgabe nach Essen – vorläufig bis zum 31. Dezember 2039, sodann mit Verlängerungs-Option bis 2045, wenn sich Michael Schmidts Geburtstag zum 100. Mal jährt. Auch danach sind Vertrags-Verlängerungen möglich. Zur Bedeutung des Werks nur diese Stichworte: Nach schwierigen Anfängen brachte es Michael Schmidt zu einer internationalen Fotokunst-Laufbahn, die bis hin zu einer großen Retrospektive im Museum of Modern Art (MoMa) in New York führte. Zu seinen bekanntesten Schülern gehört Andreas Gursky.

Kein Ankauf, sondern großzügige Dauerleihgabe

Wie Peter Gorschlüter erläuterte, handelt es sich nicht um einen Ankauf, sondern um eine großzügige Überlassung durch die „Stiftung für Fotografie und Medienkunst mit Archiv Michael Schmidt“, eine Einrichtung des finanzkräftigen Sparkassen- und Giroverbandes. Mit der Übergabe ans Museum Folkwang gelangt der Nachlass in öffentliche Obhut. Weitere Vergünstigung: Das Copyright an den Fotografien geht für die Dauer der Leihgabe ans Essener Museum über, kann also womöglich lukrativ genutzt werden. Außerdem stellt die Stadt Essen in diesem und wohl auch im nächsten Jahr je rund 250000 Euro bereit, um die Übernahme zu begleiten.

Schmidts Nachlass umfasst u. a. 107 Ordner mit Negativen, etwa 2000 Prints mit Werkcharakter sowie rund 20000 Kontakt-, Arbeits- und Testabzüge. Hinzu kommen umfangreiche Fachbibliotheken. Künftig wird all das für Forschungsarbeiten an der Folkwang Universität der Künste zur Verfügung stehen. Gut denkbar, dass der Bestand eine Art Magnetwirkung ausüben und weitere Sammlungen nach sich ziehen wird.




Eher widerwillig mitgemacht – Borussia Dortmund zur NS-Zeit

Wie stand es in der NS-Zeit um den BVB? Hat der Verein am faschistischen Unwesen freiwillig oder eher notgedrungen mitgewirkt? Solchen Fragen, die sich keinesfalls „erledigt“ haben, widmen sich Rolf Fischer und Katharina Wojatzek in ihrem Buch „Borussia Dortmund in der Zeit des Nationalsozialismus 1933-1945″.

Sie haben, so gut es angesichts der schwierigen Quellenlage nur ging, das Thema mit dem Rüstzeug der Geschichtswissenschaft eingehend recherchiert und bislang unbekannte Details zutage gefördert. Der BVB, dessen Präsident Reinhold Lunow ein Vorwort geschrieben hat, hat die Untersuchung nach Kräften unterstützt. Gut so.

Wertvolle Pionierarbeit hatte schon 2002 Gerd Kolbe mit seiner Publikation „Der BVB in der NS-Zeit“ geleistet, für die er noch zahlreiche Zeitzeugen befragen konnte. Im Sinne der zunehmend aufgewerteten „Oral History“ hat er mündlich überlieferte Quellen gesichert, die später nicht mehr zur Verfügung gestanden hätten. Darauf ließ es sich aufbauen. Inzwischen konnten aufschlussreiche Akten und Dokumente (auch Fotografien) gesichtet werden, sofern sie nicht im Zweiten Weltkrieg vernichtet wurden. Erschwerend kam hinzu: Da der BVB in seinen Anfängen ein Arbeiterverein war, haben die Mitglieder weniger Schriftliches hinterlassen, als dies im bürgerlichen Umfeld der Fall gewesen wäre.

Unterschiedlich „nazifizierte“ Vereine

Um ein Fazit des neuen Buches vorwegzunehmen: Die Borussen haben sich gegen eine Vereinnahmung durch die NS-Machthaber nicht wehren können, doch hielt sich diese für längere Zeit in Grenzen. Die meisten anderen Vereine ließen sich bereitwilliger oder in vorauseilender Fügsamkeit gleichschalten. Andernorts gehörten deutlich mehr Vereinsmitglieder zugleich NS-Organisationen an, und zwar oft schon sehr frühzeitig.

Ein nachvollziehbarer Befund lautet so: Es gab Unterschiede, was den Grad der „Nazifizierung“ angeht. Schon der soziologische Hintergrund der jeweiligen Vereine gab eine Richtung vor, wobei man von etwaigen heutigen Sympathien strikt absehen muss. Demnach waren damals bürgerliche Clubs wie etwa der VfB Stuttgart, Werder Bremen (wo anfangs gar höhere Schulbildung Voraussetzung war), Alemannia Aachen oder 1860 München in aller Regel anfälliger für Indienstnahme, desgleichen die größeren Vereine in Nürnberg, Fürth und Kaiserslautern. Sie waren schnell „auf Linie“.

Bürgerliche und proletarische Milieus

Proletarisch grundierte Vereine wie der BVB (Ursprünge in den Stahlwerksvierteln rund um den Borsigplatz) oder auch Hertha BSC Berlin (Wurzeln im „roten Wedding“) waren hingegen zumindest von der Genese und vom Milieu her widerständiger, ihre Mitglieder hatten vor 1933 überwiegend KPD oder SPD gewählt. In Dortmund kam noch ein katholischer Impuls von früheren „Zentrums“-Wählern hinzu – nicht zuletzt durch polnische Zuwanderer. Allerdings konnte aus all dem kein offener Widerstand gegen das NS-Regime erwachsen. Allenfalls insgeheime Sabotage-Akte waren möglich, wenn auch sehr riskant. Eine bewegende und schließlich betrübliche Geschichte solchen Zuschnitts rankt sich um den kommunistisch orientierten BVB-Platzwart Heinrich Czerkus, der lange von Leuten im Verein systematisch gewarnt wurde, wenn die Gestapo sich näherte – bis eigens ein V-Mann auf ihn angesetzt wurde. Czerkus wurde von den Nazis ermordet.

Der BVB galt in den 1930er Jahren noch als Verein, für den man sich nur in seinem engeren Umkreis und nicht in der ganzen Stadt interessierte. Also stand er nicht so sehr im Fokus, auch nicht in dem der NS-Parteigenossen. Ganz anders der FC Schalke 04, der damals die renommierteste Mannschaft des ganzen Reichs stellte. Also ließen sich die NS-Chargen stets gern mit den „Knappen“ ablichten.

Borussia Dortmund hatte seinerzeit keine jüdischen Spieler, so dass man auch nicht gezwungen war oder gedrängt wurde, jemanden auszuschließen, wie dies bei vielen anderen Vereinen geschah – selbst bei solchen, die von jüdischen Bürgern (mit)gegründet worden waren. Kein Dortmunder Verdienst also, sondern eine Folge der Mitgliederstruktur.

Verdruckster Umgang nach dem Krieg

Erhellend auch das Kapitel über den Umgang mit dem Thema in der Nachkriegszeit. Mindestens bis zur Jubiläumsschrift von 1969 (der BVB 09 wurde damals 60 Jahre alt) muss die Haltung dazu als verdrängend, verlogen und verdruckst bezeichnet werden. In der erwähnten Broschüre wurden zwar Bilder aus der NS-Zeit gezeigt, freilich hatte man sie dilettantisch retuschiert (Übermalung von Hakenkreuzfahnen etc.) und damit „entschärft“. Es dauerte noch eine ganze Weile, letztlich bis in die späten 90er Jahre, bevor endlich offen über die NS-Verstrickungen geredet wurde – wenigstens von jüngeren Jahrgängen.

Das Buch dürfte zum Standardwerk über den BVB in jenen finsteren Zeiten werden. Zwar ist man in manchen Fragen auf Spekulationen angewiesen, doch klingen die Mutmaßungen zumeist plausibel und werden transparent ausfbereitet. Vor allem aber hat sich die intensive Quellenarbeit ausgezahlt. Im steten Wechsel zwischen Blicken aufs größere Ganze und biographische Nahansichten zeichnen Fischer und Wojatzek ein vielschichtiges Zeitbild, das auch Widersprüche und Leerstellen umfasst.

Rolf Fischer / Katharina Wojatzek: „Borussia Dortmund in der Zeit des Nationalsozialismus 1933-1945″. Metropol Verlag, Berlin. 256 Seiten mit zahlreiche Schwarzweiß-Abbildungen, 24 Euro.




Zum Tod des Dortmunder Theatermachers Rolf Dennemann

Rolf Dennemann auf der Theaterbühne. (Foto: © Guntram Walter)

Der Dortmunder Theatermacher, Schauspieler und Autor Rolf Dennemann ist gestorben – viel zu früh mit 71 Jahren.

Ein einziges Mal hat Rolf Dennemann an einem Autorentreffen der Revierpassagen teilgenommen, doch kann ich leider nicht behaupten, ihn wirklich näher gekannt zu haben. Umtriebig, ja getrieben schien er an jenem Abend zu sein. Er hat sich denn auch vorzeitig verabschiedet. Rückblickend betrachtet, war es ein geradezu gespenstischer, ungemein betrüblicher Abend, denn auch einen anderen unserer Autoren, den schmerzlich vermissten Kulturkenner Martin Schrahn, habe ich damals zum allerletzten Mal gesehen. Wie nichtsahnend wir geplaudert haben…

Vor Jahren hat Rolf Dennemann hin und wieder für die Revierpassagen geschrieben. Vor allem ist mir seine dreiteilige Serie „Krankenhausreport“ in Erinnerung geblieben, in der er 2014 höchst eindrücklich seine teilweise bizarren Erfahrungen beim Klinik-Aufenthalt beschrieben hat. Daraus und aus weiteren Notizen ist einige Zeit später die Vorlage zu einem seiner Theaterprojekte geworden. Alles wurde ihm zur Szenenfolge.

Nachdem ein anderes Medium kurzerhand nur die Pressemitteilung der Stadt Dortmund als Nachruf auf Rolf Dennemann publiziert hat, erlauben wir uns mit den folgenden Absätzen ausnahmsweise ein ähnliches Verfahren, freilich in transparenter Darbietung. Hier also der (leicht gekürzte) Wortlaut der städtischen Würdigung:

„Rolf Dennemann war ein kreativer Geist in vielen Bereichen der regionalen und überregionalen Kulturszene. Er hat sie durch seine Ideen, Inszenierungen, Inspirationen und sein Engagement für die Kulturschaffenden sehr geprägt.

(…) Dennemann wurde in Gelsenkirchen geboren und lebte seit den 1990ern in Dortmund. Er war freischaffender Regisseur, Autor, Festivalleiter und Schauspieler. Außerdem war er als Gründungsmitglied und geschäftsführender Vorstand prägend für die künstlerischen Produktionen des Vereins „Artscenico“ in Dortmund. Er war langjähriger Leiter des internationalen Theaterfestivals „off limits“ und hat (…) bedeutende internationale Produktionen nach Dortmund geholt. Von 1996 bis 1998 leitete er den „Theaterzwang“ (jetzt „Favoriten“), ein (…) Festival der freien Theaterszene aus NRW in Dortmund (…)

Rolf Dennemann (…) war Spezialist für ortsspezifische Inszenierungen auf ehemaligen Industriegeländen – in Parks, Hotelzimmern, sakralen Räumen, Brachflächen oder Wohnblöcken. Mehr als 50 (…) performative Theaterstücke hat er produziert. Dabei war ihm nicht nur wichtig, sich der besonderen lokalen Bedeutung der Orte im Ruhrgebiet zu nähern, sondern damit auch andere Menschen anzusprechen, die nicht zum Stammpublikum im Theater gehören. (…)

Als Schauspieler war Dennemann nicht nur auf Bühnen präsent. Er arbeitete für Kino- und Fernsehproduktionen unter anderem mit dem Dortmunder Regisseur Adolf Winkelmann in seinen Filmen „Nordkurve“, „Eine einzige Tablette“ und „Junges Licht“. Auch andere deutsche Regisseure setzten auf den Schauspieler: Tom Tykwer („Der Krieger und die Kaiserin“), Fatih Akin („Solino“) und Detlev Buck („LiebesLuder“) zum Beispiel, auch für den „Tatort“ stand er schon als „Ruhrgebietsoriginal“ vor der Kamera. (…)

„Rolf Dennemann hat die Kulturszene auf vielfältige Weise geprägt. In der Region und hier in Dortmund hat er viele Spuren hinterlassen, er wirkte aber auch international auf Festivals und in Projekten und führte die Menschen zusammen. Als Mensch, als Künstler, als kreativer Querdenker wird er sehr fehlen“, so Kulturdezernent Jörg Stüdemann.“

 

 




Wie sich die Arbeitswelten wandeln (und was darüber geschrieben wird) – 50 Jahre Fritz-Hüser-Institut in Dortmund

Es waren andere Zeiten: Fritz Hüsers Büro in der Hauptverwaltung der Stadtbücherei Dortmund (damals Hohe Straße 100), sozusagen eine Keimzelle des Hüser-Instituts. (© Fritz-Hüser-Institut)

Wo soll man anfangen und wo aufhören? Wo beginnt die „Arbeitswelt“, wo endet sie? Solche Fragen drängen sich auf, wenn es um die Entwicklung des „Fritz-Hüser-Instituts für Literatur und Kultur der Arbeitswelt“ in den letzten 50 Jahren geht.

50 Jahre – das ist die Zeitspanne seit Gründung der in Dortmund ansässigen Einrichtung, die aus der Büchersammlung des Bibliothekars und vormaligen Werkzeugmachers Fritz Hüser (1908-1979) hervorgegangen ist und kürzlich Jubiläum feiern konnte. 1973 übergab Hüser seine seit den 1920er Jahren entstandene Sammlung, die bis heute auf rund 50.000 Bände sowie etliche literarisch Vor- und Nachlässe angewachsen ist, offiziell der Stadt Dortmund. Die Bestände sind im deutschsprachigen Raum, aber auch international ohne Beispiel. Doch sie sammeln in Dortmund nicht nur, sie forschen auch, veranstalten Fachtagungen, vergeben Stipendien – und so weiter.

Längst nicht nur industrielle Maloche

Freilich hat es zunächst gedankliche Begrenzungen gegeben: Unter „Arbeitswelt“ verstand man in den Anfangszeiten fast nur die knochenharte industrielle Maloche in Zechen und Stahlwerken. Wesentlich geprägt wurden solche Vorstellungen von der damaligen Realität des Ruhrgebiets, wie sie sich zumal in der Dortmunder „Gruppe 61“ und im 1970 gegründeten Werkkreis Literatur der Arbeitswelt abzeichnete. Doch unter sukzessiver Leitung von Fritz Hüser, Rainer Noltenius (ab 1979), Hanneliese Palm (ab 2005) und jetzt Iuditha Balint (seit 2018) wurde das Betätigungsfeld zusehends ausgedehnt.

Die jetzige Instituts-Leiterin Iuditha Balint. (© Roland Gorecki / Stadt Dortmund)

In all den Jahren hat der Begriff der Arbeitswelt einige Weiterungen erfahren. Iuditha Balint und ihr Team entdecken in der Literaturgeschichte und in Neuerscheinungen zahllose Werke, die den Themenkreis auf vordem ungeahnte Weise vergrößern. So haben z. B. auch Goethe („Wilhelm Meister“) oder Thomas Mann („Buddenbrooks“) recht eigentlich Arbeitswelten geschildert. Und wenn es um Bergbau geht, so war nicht erst Max von der Grün, sondern beispielsweise auch schon der Romantiker Novalis ein lebensweltlicher und literarischer Fachmann.

Prekäre Verhältnisse inbegriffen

Bereits in den 1920er Jahren fand – neben den „klassischen“ Arbeitern – das Leben der Angestellten Eingang in die Literatur. In den späten 70ern führte etwa Wilhelm Genazinos „Abschaffel“-Trilogie solche Ansätze beispielhaft fort. Ganzheitlich verstanden, definiert sich Arbeitswelt längst auch durch gegenläufige Biographien und Beschreibungen. Arbeitslosigkeit und prekäre Verhältnisse spielen denn auch in (auto)fiktionalen Texten eine wesentliche Rolle. Ferner wäre da die traditionsreiche Literatur über Vagabunden und Vaganten, wie denn überhaupt auch die Ablehnung von Arbeit innig mit der Arbeitswelt zu schaffen hat, gleichsam wie ein Negativ-Abdruck. Nebenbei bemerkt: Sprachgeschichtlich war Arbeit lange mit Mühsal und Qual verknüpft, verheißungsvolle Merkmale wie Sinnstiftung und Wohlstand wurden erst relativ spät damit verbunden.

Bis hin zum Workout und zur „Beziehungsarbeit“

Dass sich zuletzt viele Romane, Erzählungen, Stücke oder Gedichte um digitale Jobs (bis hin zu erbärmlich bezahlten „Clickworkerinnen“) drehten, versteht sich von selbst. Auch Selbstoptimierung im Fitness-Bereich („Workout“) darf bei weitherziger Auslegung als spezielle Form von Arbeit gelten, exemplarisch in John von Düffels Buch „Ego“. Spannend überdies, was sich derzeit in der Literatur begibt. Durch Beobachtung des Buchmarkts, Gespräche mit Autorinnen und Autoren sowie Jury-Arbeit bemerken sie beim Hüser-Institut aktuelle Tendenzen recht früh. Instituts-Chefin Iuditha Balint: „Wir bekommen ziemlich genau mit, was gerade entsteht.“ Nämlich?

Nun, es treten lange ignorierte oder zumindest unterschätzte Phänomene wie Hausarbeit, elterliche Arbeit und Pflege (so genannte „Care-Arbeit“) oder auch „Beziehungsarbeit“ in den Vordergrund – und damit zunehmend Frauen als Protagonistinnen. Und außerdem? Balint: „Es wird gerade erstaunlich viel über Solidarität geschrieben, über Widerstand, Streiks und Demonstrationen.“ Sollte sich die Literatur hier abermals als Seismograph erweisen? Sollte etwa eine neue Bewegung entstehen, so etwas wie eine außerparlamentarische Opposition neueren Zuschnitts? Wir werden sehen.

Staunenswerter Lebenslauf 

Staunenswert übrigens auch der Lebenslauf von Iuditha Balint. In Rumänien als Angehörige der ungarischen Minderheit zweisprachig aufgewachsen, kam sie erst ums Jahr 2000 nach Deutschland. Wie sich die einstige Kindergärtnerin seitdem die deutsche Sprache angeeignet, studiert, promoviert und wissenschaftliche Karriere gemacht hat, das macht ihr so schnell niemand nach.

Dortmund mit seiner vielfältigen freien Kulturszene dürfte unterdessen der ideale Standort eines solchen Instituts sein; erst recht in unmittelbarer Nachbarschaft der kathedralenhaften Zeche Zollern, der Zentrale des LWL-Industriemuseums. Hier und im ganzen Revier hat man sich stets als Arbeiter-Gegend verstanden. Wohl kein Zufall, dass ganz in der Nähe auch die an eine Bundesanstalt angegliederte DASA (vielbesuchte Arbeitswelt-Ausstellung) residiert. Ja, selbst im hiesigen, stets ungemein wichtig genommenen Fußball geht die Rede, dass selbiger vor allem „gearbeitet“ und nicht so sehr leichtfüßig gespielt werden solle.

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Fritz-Hüser-Institut für Literatur und Kultur der Arbeitswelt. Grubenweg 5, 44388 Dortmund. Öffnungszeiten Mo-Do 10-16 Uhr, Terminvereinbarung erforderlich. Tel.: 0231 / 50-23135. Mail: fhi@stadtdo.de

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Der Beitrag ist in ähnlicher Form zuerst im Kulturmagazin „Westfalenspiegel“ erschienen.




Lauter schmerzliche Verluste – Dortmund damals und jetzt

Titelseite des Bandes mit der damaligen Brückstraße und der Marienkirche links im Hintergrund, 1920er Jahre. Die Dimension der Verluste wird so recht deutlich, wenn das hier nur eingeklinkte neue Bild in gleicher Größe erscheint wie das alte (im Buch auf der Doppelseite 16/17). Es offenbart sich dann eine städtebauliche Sünde sondergleichen. (Historisches Bild: Sammlung der LWL-Museen für Industriekultur, Westfälisches Landesmuseum / Neue Fotografie: Frauke Kreutzmann, Wartberg Verlag)

Schaut man sich Dortmunder Ansichtskarten aus Vorkriegs- und noch früheren Zeiten an, so könnte man mindestens wehmütig werden. Aller industriellen Verschmutzung zum Trotz, war das alte Dortmund eine vielfach schmucke Stadt mit etlichen repräsentativen oder gar imposanten Bauten und zahlreichen idyllischen Straßen und Plätzen. Daraus bezieht auch der neue Bildband „Dortmund Gestern | Heute“ seinen Reiz – und sozusagen seinen speziellen Horror.

Besagte Wehmut schlägt hier nämlich ins Deprimierende um, werden doch die Bilder von früher direkt heutigen Ansichten gegenübergestellt, die ungefähr aus denselben Blickwinkeln aufgenommen wurden. Was da alles verloren gegangen ist, mag man sich am liebsten gar nicht weiter ausmalen. Es ist ein Jammer.

Pracht der Bahnhöfe, des Theaters, der Synagoge

Man vergleiche nur den alten, 1910 eröffneten Bahnhof mit dem heutigen, seit Jahrzehnten nur halbherzig umgebauten (bzw. hoffnungslos verbauten) Provisorium. Selbst der frühe Vorläufer von 1847 hatte noch entschieden mehr Charme. Man vergleiche die ebenso stolze Oberpostdirektion von einst mit dem jetzt nur noch weit ausladenden Postbank-Gebäude an selbiger Stelle. Ganz zu schweigen vom früheren Theaterbau oder vom gotischen Giebel-Rathaus, ursprünglich aus dem 13. Jahrhundert, aufwendig restauriert zum Kaiserbesuch im Jahr 1899 – und nach Ende des Zweiten Weltkriegs ebenso schwer beschädigt und (vielleicht unnötig) abgerissen wie das alte Theater. Ungleich schlimmer noch, dass die einst so prächtige, mit einer Kuppel gekrönte Synagoge 1938 von Nazi-Horden zerstört wurde. Wobei das Ausmaß dieses Schreckens selbstverständlich weit über den städtebaulichen Schaden hinaus ging.

Schmerzliche Verluste lassen sich bis in einzelne Straßenzüge verfolgen. Dazu zählen auch veritable Amüsier- und Revue-Paläste wie das „Olympia-Theater“ (für 1700 Zuschauer) oder Freizeit-Areale wie Saalbau und Lunapark am Fredenbaum, die auf ein reges Stadtleben hindeuten. So freundlich und sozial anregend das 2001 von der Hannoveraner Expo nach Dortmund geholte Riesenzelt „Big Tipi“ sein mag, ist es doch kein Ersatz, sondern es wäre allenfalls eine nette Ergänzung zum alten Zustand. Dortmund war allerdings auch eine der am schwersten zerstörten deutschen Städte überhaupt. Nach 1945 wurde gar erwogen, die trostlosen Restbestände aufzugeben und an anderer Stelle völlig neu zu beginnen.

In manchen Fällen nur noch Brutalismus

Frauke Kreutzmann, Fotografin der neuen Bilder aus der Stadt, kann natürlich nichts für den allgemeinen atmosphärischen Schwund, der mehr oder weniger für alle Ruhrgebietsstädte gelten dürfte. Sie dokumentiert halt das, was nun vorhanden ist. Und das ist in manchen Fällen ein modernistischer Brutalismus, der wohl auch mit der seit Kriegsende die Stadt regierenden SPD zu tun hat. Bei allem, was man gegen die Konservativen einwenden kann oder auch muss, hätten sie wahrscheinlich mehr Sinn fürs gewachsene Stadtbild gehabt und mutmaßlich hie und da rettend eingegriffen. Um den Unterschied zu ermessen, könnte man beispielsweise Dortmund und Münster gegeneinander halten. In Dortmund sind nur noch vereinzelte Bauten als Solitäre erhalten – und noch immer scheint sich bei vielen Lokalpolitikern kein sonderlicher Sensus für solch historisches Herkommen zu regen.

Rüdiger Wulf, langjähriger pädagogischer Leiter beim Dortmunder Museum für Kunst und Kulturgeschichte (MKK) und danach bis 2018 Direktor des Westfälischen Schulmuseums in Dortmund-Marten, hat knappe, aber kundige Begleittexte geschrieben und dazu in allerlei Archiven und Büchern passende Zitate gefunden, die vom Dortmunder Leben in alten Zeiten künden. Wulff erläutert auch, dass einige der alten Ansichten geschönt daherkommen. Hie und da sei gnädig begradigt, retuschiert, montiert und (zuweilen übertrieben) koloriert worden. Dennoch handelt es sich keineswegs um grobe Verfälschungen. Ergo: Das Erscheinungsbild der damaligen Stadt lässt sich ebenso wenig schlechtreden wie die heutige Anmutung haltlos gepriesen werden kann.

Rüdiger Wulf / Frauke Kreutzmann: „Dortmund. Gestern | Heute“. Wartberg Verlag, 96 Seiten, Format 22 mal 24 cm, zahlreiche Farb- und Schwarzweiß-Fotos, gebunden, 19,90 Euro.

 




Im Land der schönen Stadttheater – Bildband präsentiert Spielstätten des Reviers

„Theaterszene Ruhr“ steht auf dem Buchdeckel, und „Einblicke in die Theaterwelt“. Das Fotobuch im A-4-Querformat zeigt den Zuschauerraum eines Großen Hauses, Festspielhaus Recklinghausen, Ruhrfestspiele. Dieses Foto ist, wenn man einmal so sagen darf, das einzig ehrliche an dieser Titelseite. Denn weder geht es um Theaterszene noch um Theaterwelt (was wäre übrigens der Unterschied?); es geht um die Theater, die real existierenden Bauwerke.

Titel des besprochenen Buches. (Foto: Fabian Linden / Repro rp)

Fabian Linden, Fotodesigner, Jahrgang 1959, hat zwischen Moers und Dortmund Spielorte fotografiert, Innenräume vorwiegend aus der Zentralperspektive, dazu stets ein, zwei Gebäudedetails und einzelne Menschen, die in diesen Theatern arbeiten: Garderobiere, Beleuchter, Dramaturgin, Puppenspielerin, Korrepetitor und so weiter. Ab und an ergänzen gut gesehene Details die Präsentationen der Häuser, Bochumer Schauspielhaus-Tütenlampen zum Beispiel oder Wandflächen im Yves-Klein-Blau im Gelsenkirchener Musiktheater. Lindens Architekturbilder und seine Industriefotografie (von Teilen der Theatertechnik zum Beispiel) sind handwerklich untadelig, die Portraits der Funktionsträger hingegen hätten gerne etwas lebhafter ausfallen können. Oft wähnt man sich im Paßbildstudio.

Kein einziges Inszenierungsfoto

Gleichwohl fragt man sich, wie ein Fotograf, ein Mensch des Sehens und der visuellen Inszenierung doch mithin, sein Bilderbuch „Einblicke in die Theaterwelt“ untertiteln kann, wenn er buchstäblich nicht ein einziges Inszenierungsfoto bringt. Von den Chefs und Intendanten hat es, sieht man von der freien Szene ab, gerade einmal Roberto Ciulli aus Mülheim an der Ruhr, der Dottore, in das Buch geschafft. Natürlich gehört er hier auch hin, das Revier verdankt ihm viel; aber es gäbe doch etliche mehr, die man ebenfalls vorstellen könnte, Männer wie Frauen. Auch wenn man sie persönlich nicht sämtlich in gleicher Weise schätzt.

Und dann wären da ja auch noch die Bühnenkünstler! Einer hat es immerhin geschafft, Martin Zaik, die Rampensau vom Mondpalast (was unbedingt als dickes Kompliment zu verstehen ist!). Auch er verdient es, welche Frage, doch nur er?

In diesen Stuhlreihen hat man oft gesessen

Nun gut, ein unbeackertes Feld. Schauen wir also auf das, was wir mit diesem Buch bekommen, nämlich eine relativ vollständige, professionell fotografierte Versammlung der schönen Stadttheater, der Schauspiel-, Opern- und Festivalhäuser des Reviers. Zunehmend verfestigt sich beim Durchblättern der Eindruck, daß wir hier wirklich viele großartige Spielstätten haben – schwungvoll Wiedererrichtetes aus den 50er Jahren, gestrengen Klassizismus, Beton-Brutalismus, die unbedingte Zweckmäßigkeit der Studiobühnen-Bestuhlung. In etlichen von ihnen hat man schon viel schöne – manchmal natürlich auch weniger schöne – Theaterkunst gesehen, da kann man fast schon sentimental werden.

Deshalb jetzt noch ein paar Nörgelpunkte zum Ende hin: Die Texte, die der pensionierte Gymnasiallehrer Hajo Salmen beisteuert, halten das Niveau der Fotografien und des fotografischen Konzeptes nicht; die thematische Auswahl zeigt auch Schwächen: Während kleine Spielstätten wie die „Volksbühne“ oder das „Rottstr 5 Theater“ in Bochum erstaunlich viel Zuwendung erfahren, fehlen Orte wie das traditionsreiche Dortmunder Fletch Bizzel ganz. Ebenso fehlen Theater ohne eigenes Ensemble, wie etwa Marl oder Lünen, was zumindest aus architektonischer Sicht schade ist. Ärgerlichstes Manko aber ist das Fehlen der Bochumer Jahrhunderthalle; nur Duisburg-Nord wird als Spielort der Ruhrtriennale präsentiert.

  • Fabian Linden, Hajo Salmen: „Theaterszene Ruhr – Einblicke in die Theaterwelt“
  • Eigenverlag. www.fotodesign-linden.de

 

 




Aus dem Leben gerissen: Klavier-Festival-Intendant Franz Xaver Ohnesorg ist tot

Franz Xaver Ohnesorg, + 14. November 2023. (Foto: Mark Wohlrab)

„Mitten wir im Leben sind mit dem Tod umfangen“:  Der alte gregorianische Choral hat sich bitter bewahrheitet, als am Morgen des 15. November die schockierende Nachricht eintraf: Franz Xaver Ohnesorg, Intendant des Klavier-Festivals Ruhr, ist tot.

Man kann es kaum fassen, es dringt erst allmählich vom Verstand ins Herz vor: Der dynamische 75-Jährige, vor zehn Tagen noch brillant plaudernder Moderator einer Benefiz-Jazz-Gala in Duisburg zugunsten der Stiftung Klavier-Festival Ruhr, soll nicht mehr unter uns sein? Kein melodisches „Ohnesorg“ mehr am Telefon, kein charmanter Gastgeber mit der obligatorischen Fliege für sein kommendes, den Abschied vom Klavier-Festival markierendes Benefizkonzert in Essen, zu dem er noch einmal Musiker aus der Elite der Weltkünstler begrüßen wollte, von Martha Argerich bis Anne-Sophie Mutter? Man schaut verstört auf den Stuhl in seinem kleinen Büro und versteht nicht, dass er nie mehr hier sitzen wird, über Unterlagen gebeugt, ein Kännchen Tee an der Seite.

Franz Xaver Ohnesorg war ein Begriff in der Musikwelt, in die er 1979 mit einem Paukenschlag eingetreten ist, als der junge Orchesterdirektor der Münchner Philharmoniker den kapriziösen Sergiu Celibidache als Generalmusikdirektor gewann. Seine 16 Jahre Intendanz der Kölner Philharmonie ab 1983 waren prägend: Noch heute kursieren unter alten Hasen die Geschichten über ihn als Gründungsintendant; noch heute sind die Spuren seines Wirkens sichtbar. Sein phänomenales Händchen für das Knüpfen stabiler Beziehungen, heute zum „Networking“ vertechnisiert, sicherte den Kölnern den Genuss vieler Künstler von Weltrang. Mit Durchschnitt hat sich „FXO“ nie zufrieden gegeben.

Auch sein Intermezzo in New York ging er mit der ihm eigenen Energie und Zielstrebigkeit an. Isaac Stern, der legendäre Geiger, hatte ihn dazu gebracht, als erster nicht-amerikanischer Executive and Artistic Director die Leitung der Carnegie Hall zu übernehmen. Dass diese Zeit nur bis 2002 dauerte, ist den Berliner Philharmonikern zu verdanken. Als deren Intendant gestaltete Ohnesorg die ausklingende Ära von Claudio Abbado und den Beginn der Regentschaft von Sir Simon Rattle mit.

28 Spielzeiten beim Klavier-Festival Ruhr

So kannte man ihn: Am 1. Juli 2023 sprach Franz Xaver Ohnesorg vor dem Konzert mit Evgeny Kissin beim Klavier-Festival Ruhr in Essen. (Foto: Peter Wieler)

Das Klavier-Festival Ruhr hat er sagenhafte 28 Spielzeiten unter seine Fittiche genommen, zunächst 1996 als künstlerischer Leiter, ab 2005 als Intendant. In seinem Fall bedeutete das weit mehr als das Bestimmen einer künstlerischen Linie. Das Klavier-Festival als vollständig privat finanziertes kulturelles Leitprojekt des Initiativkreises Ruhr fordert einen Intendanten, der Jahr für Jahr die Finanzierung sichern muss.

Seine faszinierende Vielseitigkeit im Umgang mit Menschen machte ihn zur Idealbesetzung auf diesem Posten: Sponsoren, Donatoren und Förderer des Festivals können erzählen, wie „Xaver“ seinen bestrickenden Charme einsetzte, um an Ruhr, Rhein und Wupper große Klavierkunst zu ermöglichen, aber auch hoffnungsvollen jungen Pianisten einen Start in eine internationale Karriere zu ebnen. Joseph Moog oder Sergio Tiempo, die am 25. November auf dem Programm des Essener Benefizkonzerts stehen, sind ebenso Beispiele wie Fabian Müller, der fünf Preise beim ARD Musikwettbewerb 2017 abräumte und – inzwischen Professor an der Musikhochschule Köln/Wuppertal – international konzertiert.

Ohnesorg hat das Klavier-Festival zu dem gemacht, was es heute ist: das wohl weltweit größte Pianistentreffen, ein Zentrum großer, vielfältiger Klavierkunst. Ob er stolz darauf war? Wenn ja, ließ er es sich nicht anmerken, rückte immer die Künstler in den Mittelpunkt. Aber in seiner Stimme schwang der Enthusiasmus mit, wenn er berichtete, wie er beim Festival etwa George Antheils „Ballet Mecanique“ ermöglichte, wie viele Uraufführungen von Philip Glass – zuletzt sein Klavierkonzert – im Ruhrgebiet stattfanden, wie er immer wieder Pianisten dazu brachte, beim Klavier-Festival exklusive Programme zu präsentieren. Dass sein Herz besonders an der Musik von Franz Schubert hing, hat er in seiner letzten Saison vor seinem geplanten Abschied als Intendant zum 31.12.2023 immer wieder in bewegenden Worten bekundet.

Erzähler mit leuchtenden Augen

Richtig leuchtende Augen bekam er aber, wenn er von den Education-Programmen des Klavier-Festivals berichten konnte. Die Projekte für Kinder und Jugendliche, denen der Zugang zur Musik nicht in die Wiege gelegt wurde, hielt er für eine „moralische Pflicht“. Wichtig waren ihm dabei Nachhaltigkeit und Qualität. Dafür holte er sich bewährte Mitarbeiter ins Boot. „Glücklich bin ich, wenn ich in die Gesichter der Kinder in Marxloh schaue, wie sie durch unsere ‚Piano School‘ das Zuhören lernen oder bei Tanzprojekten stolz sind auf eigene Erfolge“, sagte er in einem Interview.

Faszinierender Erzähler: Franz Xaver Ohnesorg und Bundestagspräsident a. D. Norbert Lammert bei der Veranstaltung „Ein Gast. Eine Stunde“ am 23. Juni 2023 im Schauspielhaus Bochum. (Foto: Werner Häußner)

Das Erzählen lag ihm. Franz Xaver Ohnesorg hatte ein unbestechliches Gedächtnis, wusste auf Anhieb, wer wann und wo beim Klavier-Festival was gespielt hat. Als er im Juni 2023 an einem Sonntagvormittag im Bochumer Schauspielhaus in der Reihe „Ein Gast – eine Stunde“ auf der Bühne saß, sprudelte er vor Erinnerungen, Anekdoten, Bonmots. Unterhielt man sich mit ihm über Musik, zog er mühelos große Linien, beleuchtete wie selbstverständlich wichtige Details. Und er kannte buchstäblich Gott und die Welt, unter den Pianisten sowieso, aber auch unter Geigern, Cellisten, Bläsern und Dirigenten. Spannend war aber auch, wer bei ihm durchs Raster fiel. Das geschah meist durch beredtes Schweigen.

Perfektion im Dienste der Künstler

Franz Xaver Ohnesorg (links) bedankt sich bei den Künstlern des Galakonzerts des Klavier-Festivals Ruhr am 27. Oktober 2023 in der Historischen Stadthalle Wuppertal. (Foto: Peter Wieler)

Ohnesorg war ein Perfektionist, und was er von sich selbst verlangte, erwartete er auch von seinen Mitarbeitern. Alles musste stimmen, von Details des äußeren Rahmens der Konzerte bis zur hingebungsvollen Betreuung der Musiker. Er wollte „Künstlern helfen, besonders gut zu sein“ und ihnen das Musizieren leicht machen, „von der Abholung vom Flughafen bis zum idealen Saal.“ Sie sollten sich umsorgt fühlen. Große Stars und junge Pianisten dankten es ihm durch ihre Treue. Ein Lieblingsprojekt in seinen letzten Jahren waren die „Lebenslinien“: In seinen Ansprachen und in den Programmen der Konzerte zählte er gerne auf, wie oft die Künstler beim Klavier-Festival aufgetreten sind und wie lange die Verbundenheit schon währt.

Diese freundschaftlichen Beziehungen kamen nicht nur der Programmatik des Festivals zugute, sondern eröffneten dem Publikum die Chance, alle Facetten des Könnens berühmter Pianisten kennenzulernen, die Entwicklung von Künstlerpersönlichkeiten mitzuverfolgen, Legenden der Klaviermusik hautnah zu erleben, musikalische Aufbrüche und junge Talente zu bestaunen. Und wer kann sich schon ans Revers heften, eine Martha Argerich 30 mal, einen Pierre-Laurent Aimard gar 36 mal, einen Grigory Sokolov 25 mal zu Gast gehabt zu haben?

Bei einer Pressekonferenz am 22. Mai 2022 stellte Franz Xaver Ohnesorg Katrin Zagrosek, seine Nachfolgerin ab 1. Januar 2024, vor. (Foto: Peter Wieler)

Zur Ruhe wollte er sich nicht setzen, der unermüdliche Franz Xaver Ohnesorg. Sicher, er wünschte sich mehr Zeit für die Familie und für Freunde, mehr Muße für Bücher und versäumte Filme. Ehrenamtlich hatte er vor, sich um das Kölner Kammerorchester zu kümmern, dessen Trägerverein er bereits als Vorsitzender diente. Der plötzliche Tod hat einen grausamen Strich durch diese Planung gemacht.

Franz Xaver Ohnesorgs Memoiren bleiben ungeschrieben: Sie hätten mit Sicherheit viel Gewinn bei der Lektüre und manche Erkenntnis bereitgehalten. Das letzte der drei Benefizkonzerte – nach einer grandiosen Gala in Wuppertal und einem Fest für Jazz-Freunde in Duisburg – wird nun am 25. November in Essen zum Gedächtniskonzert für einen Menschen, dem nicht nur das Ruhrgebiet unschätzbar viel verdankt, sondern der bei jedem, der die Gunst hatte, ihm zu begegnen, markante Spuren hinterlassen hat. Requiescat in pace, lieber FXO!

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(Transparenzhinweis: Der Autor ist seit 2016 für die Pressearbeit des Klavier-Festivals Ruhr zuständig).




Wie es im Revier gewesen ist – Fotografien von Helmut Orwat

Taubenzüchter im Sonntagsanzug, Castrop-Rauxel, 1967. (Foto: Helmut Orwat)

Helmut Orwat war stets nah dran. Nah am Alltag und den Menschen im Ruhrgebiet, speziell in und um Castrop-Rauxel. Seit 1960 arbeitete er als freier Fotograf für diverse Zeitungen und Zeitschriften, von 1984 bis 2000 war er bei den Ruhrnachrichten festangestellt. Rund 150 ausgewählte Fotografien sind im LWL-Museum Schiffshebewerk Henrichenburg zu sehen.

Der Ausstellungstitel „Täglich Bilder fürs Revier“ lässt etwas von der Eile ahnen, mit der Orwat meist zu Werke ging. Aktuelle Geschehnisse mussten eben sofort festgehalten werden, und zwar unter härteren Bedingungen als heute, wo digitale Kamera- und Nachbearbeitungs-Technik die Sache doch deutlich erleichtert. Dennoch (oder gerade deshalb, weil eben noch viel mehr echte Handarbeit darin steckt) haben seine Bilder die Jahrzehnte überdauert und legen nun gültiges Zeugnis ab vom Ruhrgebiet, wie es einmal gewesen ist. Manche Besucher werden sich wehmütig erinnern.

Kernkraftwerk in Hamm-Uentrop, 1980. (Foto: Helmut Orwat)

Die besten Fotos haben gleichsam eine „Seele“, man merkt ihnen die Freude des Herstellens an. Ganz klar: Solche kontraststarken Ansichten müssen schwarzweiß sein, jede Kolorierung täte ihnen Gewalt an. Vorbilder Orwats waren Fotografie-Größen wie Chargesheimer und Otto Steinert, die sich gleichfalls im Revier umgetan hatten.

Die Auswahl ist in Kapitel gegliedert, zum Beispiel: Industrie und Landschaft, Kanal und Schifffahrt, Beruf und Arbeit, Stadt und Verkehr, Familie und Freizeit. Die Aufnahmen vergegenwärtigen inzwischen verblasste, typische Merkmale des Ruhrgebiets und seiner Menschen, zunächst vor allem im Umkreis des Bergbaus – nicht nur in den Zechen selbst, sondern etwa auch am Straßenrand, wenn haufenweise Kohle geliefert wurde und nun in den Keller geschaufelt werden sollte. Auch sieht man prominente Besucher der Castroper Zeche Erin mit kohleschwarzen Gesichtern als kalkuliertes Signal für „Volksnähe“: den früheren Bundespräsidenten Walter Scheel (1975) oder den damaligen CSU-Chef Franz Josef Strauß (1980).

Feuerlöschübung mit Ordensschwestern des St. Rochus-Hospitals, Castrop-Rauxel, 1972. (Foto: Orwat)

Vor allem aber hat Orwat die „ganz normalen“ Bewohner des Reviers in den Blick genommen. Die Camper am Dortmund-Ems-Kanal, den Taubenzüchter, die Frau von der Trinkhalle, den Klüngelskerl, Frauen in der Bochumer Opel-Montage, die Jury des Kleingartenwettbewerbs – und immer wieder spielende Kinder, ein Motiv-Genre, für das Helmut Orwat einen besonderen Blick hatte. Bemerkenswert auch die Fotos von einer Modenschau bei Hertie in Castrop oder vom Castroper Pferderennen und seinem Publikum. Da zeigt sich überdeutlich: Das einstige Revier war beileibe weder Paris noch Ascot, doch auch hier konnte man die karge Freizeit genießen, wenngleich längst nicht so edel stilisiert. Dafür aber ohne Dünkel.

Montagestraße Opel Kadett, Opel Werk I, Bochum, 1963. (Foto: Helmut Orwat)

Orwat, 1938 als Bergmannssohn in Castrop-Rauxel geboren, erfasste imposante, zuweilen auch beängstigende Industrielandschaften, zeichnete dann aber auch den Niedergang der alten Industrien nach. Die Folgen werden fassbar, wenn Arbeiter gegen Schließungen demonstrieren und Orwat ihre letztlich vergebliche Entschlossenheit zu zeigen vermag. Als schon etliche Zechen dicht waren, bekam er Götz George vor die Linse: 1981 als „Schimanski“ beim Dreh zum Duisburger „Tatort“. Es war ein bedeutsamer zeitlicher Schnittpunkt: Die Industrie war im Schwinden begriffen, eine Figur wie Schimanski trug jetzt zur Legendenbildung bei.

Das nahende Ende des früheren Reviers zeigt sich bereits in Aufnahmen wie jener des sterilen City-Centers Herne (1975) mit seiner ganz und gar nicht mehr regionaltypischen Anmutung. Das war keine wirkliche Alternative zum schmutzigen Hinterhof der alten Zeiten. Überhaupt dokumentierte Orwat einige brutale „Bausünden“ im Ruhrgebiet. Noch betrüblicher: Sein Beruf brachte es mit sich, auch Unglücke ablichten zu müssen. Das Auto, das aus dem Kanal geborgen werden musste, den explodierten Tanklaster, den Trauerzug nach einem Grubenunglück.

Helmut Ornat: Selbstporträt mit Leica-Kamera im Jahr 1965.

Leute wie Helmut Orwat gibt es nicht mehr. Tageszeitungen leisten sich kaum noch ambitionierte Fotografie. Statt dessen zücken häufig die Texter ihre Handys. Mit entsprechend dürftigen Ergebnissen.

„Täglich Bilder fürs Revier“. Pressefotografien von Helmut Orwat 1960-1992. Waltrop, LWL-Museum Schiffshebewerk Henrichenburg (Hafengebäude). Noch bis 4. Februar 2024. Geöffnet Di-So 10-18 Uhr. Begleitender Bildband mit 150 Aufnahmen im Tecklenborg Verlag, 200 Seiten, 19,80 Euro.

Das LWL-Medienzentrum für Westfalen hat das fotografische Lebenswerk von Helmut Ornat übernommen. Eine Auswahl von über 3000 Motiven wurde digitalisiert und kann online recherchiert werden unter:

www.orwat-fotosammlung.lwl.org

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Der Beitrag ist zuerst im Kulturmagazin Westfalenspiegel erschienen: 

www.westfalenspiegel.de




Vom Dosenaufreißer bis zum Propeller – Schau zur Archäologie der Moderne in Herne

In Herne wie ein Kleinod präsentiert: Dosenring vom Woodstock-Festival, 15. bis 18. August 1969. (Leihgeber: The Museum at Bethel Woods, Bethel (USA) / Foto: Bernd Berke)

Was glitzert denn da in der Vitrine? Ein ziemlich kleines Objekt. Wahrscheinlich kostbar. Mal näher rangehen. Nanu? Das ist ja ein ringförmiger Dosenaufzieher der gewöhnlichsten Sorte (mutmaßlich für Coca oder Pepsi); noch dazu angerostet, aber präsentiert wie ein Kleinod oder gar Kronjuwel. Dazu muss man allerdings wissen, dass das alltägliche Stück zu den materiellen Hinterlassenschaften des legendären Woodstock-Festivals (1969) gehört und vielleicht Rückschlüsse auf das Ereignis zulässt, das eine ganze Generation mitgeprägt hat. Und wer zeigt so etwas?

Nun, wir befinden uns im LWL-Museum für Archäologie und Kultur in Herne. Das Haus zählt zu den Vorreitern einer neueren Entwicklung im Ausgrabungs-Wesen. Seit immerhin rund 15 Jahren befasst man sich hier mit Archäologie der Moderne, also nicht mehr ausschließlich mit ur- und frühgeschichtlichen oder antiken Funden, sondern auch mit Dingresten der letzten 200 Jahre.

Ergänzung zu schriftlichen Quellen

Aber ist denn nicht die herkömmliche Geschichtswissenschaft für die letzten Jahrhunderte zuständig? Doch, gewiss. Das wird auch so bleiben. Doch die Archäologen glauben, dass ihre Fundstücke noch einmal andere Befunde erschließen können, die den Umgang der Menschen mit der Dingwelt in den Blick nehmen und das sonstige, schriftlich und visuell reichlich angesammelte Wissen womöglich ergänzen. Georg Lunemann, Direktor des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL), bringt es auf eine Formel: „Auch Schrott, Schutt und Müll können eine Geschichte erzählen.“ Wenn man sie denn mit archäologischem Rüstzeug zu bergen und zu deuten versteht. Hernes Museumsleiterin Doreen Mölders spricht von einem buchstäblich „handfesten Beitrag“ zur Geschichte. Ob alle Historiker diese Hilfestellung zu schätzen wissen oder sie als Einmischung in ihre Belange begreifen? Abwarten.

Viele Exponate aus westfälischen Grabungen

Wie breit das Spektrum ist, das sich da zu eröffnen verspricht, zeigt nun jedenfalls die große, in Deutschland bislang beispiellose Überblicks-Ausstellung mit dem bezeichnenden Titel „Modern Times“. Rund 100 Funde und Fundkomplexe aus der Zeit zwischen 1800 und 1989 sind zu sehen, darunter etwa die Hälfte aus westfälischen Grabungskampagnen. Eine eigens erstellte App und Leih-Tablets im Museum sollen die Geschichte(n) hinter den Objekten so ausführlich darstellen, wie es mit musealen Texten und Schautafeln nun mal nicht geht. Die Ausstellung gliedert sich in sechs Stränge, deren Titel eher willkürlich und assoziativ klingen: Innovation, Gefühl, Zerstörung, Besonderes, Zweck und Erinnerung. Wahrscheinlich könnten die meisten Objekte in mehrere Kategorien eingeordnet werden. Sei’s drum.

Diese Champagnerflasche aus den 1840er Jahren hat es wirklich in sich. (Foto: Bernd Berke)

Champagner vom 1840er Jahrgang

Eines der erstaunlichsten Exponate ist jene noch gefüllte Champagnerflasche von etwa 1840. Gleich 168 solcher Flaschen wurden 2010 in der Ostsee aus einem alten Schiffswrack geborgen. 50 Meter unter dem Meeresspiegel herrschten Temperatur- und Druckverhältnisse, die das edle Getränk konserviert haben. Es soll sogar noch trinkbar sein, versichern Fachleute. Freilich: Der Zuckergehalt, so ergab eine Analyse, sei damals ungefähr zehnmal so hoch gewesen wie bei heutigem „Schampus“. Also doch eher nicht trinkbar, zumindest nicht genussreich für jetzige Geschmäcker. Dennoch ist der Fund wertvoll. Er gibt eben Auskunft über die damalige Wein- und Champagner-Herstellung, über den Stand des Luxus und der Moden sowie über mutmaßliche Verschiffungswege. War die Fracht gar für den russischen Zarenhof bestimmt? Lieferscheine lagen nicht mehr bei…

Was und wie sie wohl im Protestcamp zu Gorleben gegessen haben? Das lassen weitere Vitrinenstücke in der Herner Schau zur Archäologie der Moderne ahnen. (Foto: Bernd Berke)

Was vom Protestcamp übrig blieb

Ganz anderer Themenkreis: Da gibt es beispielsweise – Jahrzehnte später ausgegrabene – Funde vom einstigen Protestcamp „Republik Freies Wendland“ aus Gorleben. Auch hierzu sieht man einige Relikte als Vitrinenstücke. Fast schon zum Schmunzeln, wie sich die Überbleibsel den verschiedenen Seiten zuordnen lassen. Die jeweils kurzfristig dorthin beorderten Polizeikräfte nahmen in Gorleben offenkundig eilige Mahlzeiten von Papptellern ein, während die campierenden Demonstranten sich auf längere Dauer mitsamt Kochstellen eingerichtet hatten und beispielsweise Livio-Speiseöl in Blechdosen mit sich führten. Keine grundlegend neue Erkenntnis zur historischen Sachlage, aber sozusagen doch eine Art zusätzlicher, lebensnaher Farbtupfer.

Erschütternde Relikte aus der NS-Zeit

Bis hierher ging es um Exponate, die relativ harmlos anmuten. Doch man wird in Herne auch durch Fundstücke erschüttert, die von Stätten des NS-Terrors stammen, so etwa von Erschießungsplätzen zwischen Warstein und Meschede oder vom Kriegsgefangenenlager Stalag 326 bei Stukenbrock (Ostwestfalen), wo russische Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter im Zweiten Weltkrieg gepeinigt wurden. Diese schrecklichen Fundstätten werden zu verschiedenen Zeitpunkten Thema flankierender Studio-Ausstellungen sein. Besonders nahe geht einem der Anblick persönlicher Hinterlassenschaften, wie etwa Frauenschuhe oder bunte Perlen. Das Leben hätte schön sein können…

Britischer Kampfflugzeug-Propeller aus dem Zweiten Weltkrieg. (Foto: Bernd Berke)

Probleme mit tonnenschweren Fundstücken

Während übliche archäologische Funde aus weit zurück liegender Zeit meist sehr kleinteilig sind (Gefäß-Fragmente, Schmuckstücke, Knochenreste), hat es die Archäologie der Moderne öfter mit deutlich größeren und manchmal tonnenschweren Kalibern zu tun. So gehören zur Herner Schau beispielsweise eine gußeiserne Säule aus zwischenzeitlich verschütteten Beständen der Firma Krupp, ein kapitaler Heizungs-Ventilator aus dem zerstörten kaiserlichen Berliner Schloss (als Zeugnis zur Technikgeschichte) oder ein in Essen aufgefundener britischer Flugzeug-Propeller aus dem Zweiten Weltkrieg, der ein Einschussloch aufweist. Dieser Umstand lässt wiederum vermuten, dass das Objekt in Deutschland als vermeintlicher Abschuss-Triumph der Wehrmacht öffentlich vorgezeigt worden ist. LWL-Chefarchäologe Prof. Michael Rind betont, dass derlei Dinge ungeahnte Herausforderungen im Hinblick auf Konservierung, Restaurierung und Lagerung bedeuten. Zu fragen wäre wohl auch, ob wirklich alles aufgehoben werden muss oder ob hie und da eine präzise Dokumentation der Funde genügt.

Urzeit des Videospiels

Jetzt noch eine Spezialität für Videospiel-Fans: Aus der Urzeit des Genres, den frühen 1980er Jahren, stammt die Spielkassette für Konsolen, die tatsächlich später ausgegraben wurde. Die vom Kommerz-Flop tief ettäuschte Firma hatte das gesamte Material in der Wüste von New Mexico verscharren lassen, um möglichst nie wieder daran denken zu müssen. Es ist einigermaßen kurios, dass diese einst so unliebsame Erinnerung jetzt in Herne wiederbelebt wird.

Unterwegs zur „klimaneutralen“ Ausstellung

Die Ausstellung hat schließlich noch einen anderen Aspekt. Es soll erkundet werden, wie „nachhaltig und klimaneutral“ eine solche Schau zu bewerkstelligen ist – angefangen bei wiederverwertbaren Stellwänden, Katalog auf Recycling-Papier und so fort. Das zukunftsweisende Projekt wird gefördert – im Rahmen des Programms „Zero – klimaneutrale Kunst- und Kulturprojekte des Bundes“. Hernes Museumsleiterin Doreen Mölders möchte sämtliche Möglichkeiten zur ressourcenschonenden Gestaltung ausloten, stellt aber vorsichtshalber klar, dass das schonendste aller Verfahren nicht in Frage kommt: „Keine Ausstellungen mehr zu machen, das ist keine Option“.

„Modern Times“. Ausstellung zur Archäologie des 19. und 20. Jahrhunderts. LWL-Museum für Archäologie und Kultur, Herne, Europaplatz 1.

Ab 8. September 2023 bis zum 18. August 2024. Di / Mi / Fr 9-17, Do 9-19, Sa / So / Feiertage 11-18 Uhr. Tel.: 02323 / 94628-0. Katalog (632 Seiten) für 34,95 Euro im Museumsshop.

www.lwl-landesmuseum-herne.de
und
https://www.sonderausstellung-herne.lwl.org/de/

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Ähnlich gelagerte Schau im Essener Ruhr Museum

Archäologie der Moderne scheint wirklich im Schwange zu sein. Just in diesen Tagen wirbt das Essener Ruhr Museum auf Zollverein (Gelsenkirchener Straße 181) für seine offenbar ähnlich gelagerte Schau „Jüngste Zeiten. Archäologie der Moderne an Rhein und Ruhr“, die vom 25. September 2023 bis zum 7. April 2024 in der Kohlenwäsche zu sehen sein soll. Öffnungszeiten: Mo-So 10-18 Uhr. Eintritt 5 Euro, Katalog (304 Seiten) 29 Euro. www.ruhrmuseum.de

Herne und Essen geben Eintritts-Rabatte bei Vorlage eines Tickets der jeweils anderen Ausstellung.




60 Jahre Bundesliga – und der zwecklose Versuch, online eine BVB-Karte zu kaufen

Kurz nach 12 Uhr – und noch 55 Minuten Wartezeit bis zum Eintritt in den eigentlichen Ticketshop. (Screenshot von der BVB-Homepage)

Tätäääää! Großer Tusch. Heute ist es auf den Tag genau 60 Jahre her, dass die Bundesliga ihren Spielbetrieb aufgenommen hat. Die Gründung der höchsten deutschen Spielklasse war übrigens vom DFB in Dortmund beschlossen worden. Und das allererste Liga-Tor hat Timo Konietzka vom BVB erzielt – beim Auswärtsspiel gegen Werder Bremen. Die Grünweißen haben dann doch noch 3:2 gewonnen. Naja, Schwamm drüber. Es lässt sich derweil gar nicht ermessen, wie viel gesamtgesellschaftlicher Gesprächsstoff und verbra(u)chte Lebenszeit sich aus der Liga ergeben hat.

Apropos Lebenszeit. Damit zu einem allzeit dringlichen Thema beim BVB. Nein, es geht nicht um weitere Spielertransfers, sondern um dies: Während man sich andernorts schlicht und einfach eine Karte kauft, um ein Spiel zu sehen, ist das in Dortmund anders. Ganz anders. Hier muss man Zeit opfern und großes Glück haben. Selbst im europäischen Vergleich ist der Kartenabsatz beispiellos. Da sage noch jemand, die Bundesliga sei kein Erfolgsmodell. Hier ist sie jedenfalls eins.

In jedem Falle ausverkauft

Bei 81.365 Zuschauern wird im größten deutschen Stadion regelmäßig „ausverkauft“ gemeldet. Egal, gegen wen die Partie bestritten wird. Scherzbolde sagen, das Westfalenstadion sei schon proppenvoll, wenn der Platzwart den Rasen mäht. Satte 55.000 Plätze werden bereits durch Dauerkarteninhaber belegt (abzüglich derer, die am jeweilen Spieltag verhindert sind, ihre Tickets aber anderweitig vergeben). Bleiben rechnerisch also gerade mal 26.365 „freie“ Plätze, von denen wiederum das Gäste-Kontingent abgezogen werden muss – je nach Gegner mal mehr, mal weniger. Von Frei- und Gefälligkeitskarten (für Sponsoren etc.) mal ganz abgesehen.

Beispiel: Am 23. September geht es für die Borussia gegen den VfL Wolfsburg, der – gelinde gesagt – nicht allzu viele Fans zur Fahrt nach Dortmund mobilisiert. Also bleiben ein paar Plätze mehr für heimische Fans übrig. Doch was nützt es?

Habe mich also heute ins Abenteuer der Online-Kartenvergabe gestürzt. Wohlgemerkt: Es geht nicht etwa gegen die ungeliebten Bayern oder dito Leipzig, sondern eben gegen das nicht übermäßig attraktive Wolfsburg. Noch dazu kann ich mich – theoretisch mit zigtausend anderen Leuten – als Vereinsmitglied einloggen. Für uns Auserwählte gibt es den „freien“ Vorverkauf einen Tag vor dem offiziellen. Doch was nützt es?

„Ebenfalls per Zufallsprinzip“

Der Online-Zugang zum Ticketshop ist am entsprechenden Vorverkaufstag aus guten Gründen streng geregelt. Zitat aus der bürokratisch trockenen Erläuterung:

„Erst mit Beginn des Vorverkaufs (um 12 Uhr) wird eine festgelegte Anzahl an Personen per Zufallsprinzip in den Ticketshop gelassen. Alle Fans, die nicht sofort in den Shop geführt werden können (Hahaha! d. Red.), befinden sich dann in einem Warteraum, der transparent die Zeit angibt, bis die jeweilige Person an der Reihe ist. Die Position im Warteraum wird ebenfalls per Zufallsprinzip zugeteilt…“

Und wenn man sich nun schon um 10 Uhr einloggt? Dann bringt das offenbar auch keinen Vorteil: „Der Zeitpunkt, wann der Ticketshop (vor 12 Uhr) aufgerufen wird, ist nicht entscheidend für die spätere Ticketvergabe!“

Viele geben vorzeitig auf

Nun muss man also im virtuellen Warteraum ausharren. Ein kleines Männlein, das durch einen gelben Streifen auf ein Ziel hin schreitet, zeigt den Fortgang an. Wie niedlich. Jedoch ein schwacher Trost. Erste Meldung: 55 Minuten (!) Wartezeit bis zum ersehnten Eintritt in den Ticketshop. Offenbar geben an diesem Punkt manche schon auf, denn die Wartezeit verkürzt sich nun schneller, als die Uhrzeit voranschreitet. Plötzlich sind es „nur“ noch 42 Minuten, dann sprungweise 35, 29, 25, 18, 14, 8, 6, 5, 3… Bereits um 12.14 Uhr plus ein paar Sekunden ist die imaginäre Null-Linie erreicht, ich darf in die heiligen Hallen eintreten. Großes Oh und Ah!

Doch was ist das? Die knappe Viertelstunde hat anscheinend schon ausgereicht, dass andere Fans den gesamten Kartenbestand abräumen konnten. Ich verkneife es mir, sie „gierige Geier“ zu nennen. Ich wäre ja im Erfolgsfalle selbst einer gewesen. Jedenfalls heißt es an dieser Stelle, dass keine Karten mehr zur Verfügung stünden.

Einen anderen Browser benutzen? Längst probiert. Dauerfeuer mit der F5-Aktualisierungstaste? Zwecklos. Da muss man sich wohl ins Schicksal fügen.

 




„Lyriksalven pflügen sich kometenhaft ins Gedächtnis“ oder: Höhenflüge beim Poetry Slam

Nur mal so als Beispiel fürs Genre: Sebastian Rabsahl, deutschsprachiger Meister im Poetry Slam 2008, bei einem Slam-Auftritt in Kiel, 2016. (Foto: Wikimedia Commons, © Ichwarsnur / Marvin Radke) – Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/deed.en

Es ist schon sehr lange her, doch erinnere ich mich gut, wie uns schon in den Einführungs-Veranstaltungen des Germanistikstudiums eingeschärft wurde, doch bitte Worte wie „Dichtung“ und „Dichter“ (vom Gendern war noch keine Rede) nicht weiter zu verwenden. So erhaben und feierlich sollte es nicht mehr zugehen, denn derlei Tremolo-Stimmung war oft genug missbräuchlich verwendet worden.

Daher die im Grunde nachvollziehbare Kehrtwende. Schlicht und einfach „Texte“ sollte es fortan heißen; ganz gleich, ob es nun um Lyrik von Hölderlin und Rilke oder einen Artikel der „Bild“ ging. Mit solch nüchterner Nivellierung ging vielleicht auch eine – einstweilen noch unbeabsichtigte – unterschwellige Einebnung, wenn nicht gar Wertminderung schriftstellerischer Schöpfungen einher. Wenn eh alles eins ist, kann ja auch alles Literatur sein. Und überhaupt: „Jeder Mensch ist ein Künstler“, so lautete ja jene oftmals falsch verstandene Beuys-Parole, die seither im Schwange war.

Es war wohl e i n e der Voraussetzungen für den Aufstieg dessen, was wir seit einiger Zeit als popkulturelle Haupt-Erscheinungsform von Literatur kennen: Poetry Slam. Wörtlich könnte man’s ungefähr mit „Dichtungs-Kracher“ übersetzen. Aber das scheint in Zeiten, in denen sich nahezu alle als perfekt Englisch-Sprechende gerieren (haha!), wohl herzlich überflüssig zu sein.

Poetry Slam also. Gern in Form einer Stand-Up-Comedy-Darbietung (ähnlich wie beim Impro-Theater), in jedem Falle bühnentauglich. Das Publikum muss trampeln und johlen, sonst war es eigentlich nix. Na gut, manchmal darf es auch ein wenig ergriffen sein. Selbst Bewerbungen um Stadtschreib-Posten sollten tunlichst Hinweise auf „Skills“ in Poetry Slam und allfällige Diversität enthalten, sonst sinken die Chancen erheblich.

Die Urheberinnen und Urheber sitzen nicht mehr (oder allenfalls nebenbei) im stillen Poesie- oder Prosa-Kämmerlein und schreiben empfindsam vor sich hin, sondern betreten am liebsten gleich die Bretter und hauen ihre Zeilen beherzt ‚raus. Keine Frage, dass es dabei auch etliche Könnerschaft zu bewundern gilt. Doch es sind inzwischen dermaßen viele Slammer(innen) unterwegs, dass auch viele Dilettierende unter ihnen sind, ja sein müssen. Wie auf jedem anderen Gebiet menschlichen Schaffens auch. Was willst du denn mal werden: Influencender oder Slammerin?

Hehre Kunst der Überleitung: Just heute erreicht uns eine über die Maßen wortmächtige Pressemitteilung aus der Ruhrgebiets-Gemeinde Herne, Absender ist die Organisation WortLautRuhr. Sozusagen mit Pauken und Trompeten wird die Tatsache verkündet, dass mit 16 Veranstaltungen auf acht Bühnen vom 27. bis 30. Oktober 2023 in Bochum die „deutschsprachigen Meisterschaften im Poetry Slam“ stattfinden, und zwar mit dem Einzelfinale in der „prestigereichsten Location des Ruhrgebiets“. Nun ratet! Welche Location könnte das denn sein? Die Weltkulturerbe-Zeche Zollverein in Essen? Das Dortmunder Westfalenstadion? Das Schauspielhaus Bochum?

Weit gefehlt. Nach dieser Lesart ist es das Bochumer Starlight Express-Theater. Das Kriterium muss also viel mit Show und manches mit Remmidemmi zu tun haben. Egal. Die Leute, die bei der Meisterschaft antreten, kämen jedenfalls „aus allen 7 deutschsprachigen Ländern“ – wobei schon zu fragen wäre, ob etwa Bayern, Sachsen und Thüringen jeweils einzeln mitgezählt werden. Nun ja, ebenfalls egal.

Bei der Beschreibung dessen, was Poetry Slam sei, greifen die Macherinnen und Macher des gastgebenden WortLautRuhr jedenfalls mächtig in die Harfe. Drum wollen wir es abschließend in Form lyrischer Hervorbringungen hierher setzen. Poetry Slam erzeuge immer wieder „Internet-Hypes“ (gähn!), es dränge jede Menge „hungriger Nachwuchs“ (puh!) auf die Bühnen. Und dann, alles wörtlich zitiert:

Poetry Slam ist Party,
Poetry Slam ist Emotion.
Hier haut einen die geballte Wortgewalt
und Performance-Ekstase von den Sitzen,
Lyriksalven pflügen sich
kometenhaft ins Gedächtnis,
Lachmuskelkater garantiert.

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Infos:

www.wortlautruhr.de
www.slam23.de