Kaputtlachen in Dortmund

Dortmund hat sich als Metropole des Humors entwickelt, zumindest innerhalb der Metropole Ruhr.

Da können die Essener noch so scherzen, die Herner noch so fröhlich sein oder die Gelsenkirchener den schwarzen Humor noch so hervorfördern, in Dortmund wird das ganze Jahr gelacht, und zwar überwiegend gegen  Bezahlung. Da geben sich die Humorfestivals die Klinke in die bereitwillig winkende Hand.

Von Juni bis Oktober kann man sich alle schlechten Wetter weglachen, wenn man ins Spiegelzelt lustwandert, um das „RuhrHochDeutsch“-Programm zu besuchen. Da wird sich gefreut, dass sich die Balken biegen und die Spiegelbilder verzerren.

Eines von mehreren Dortmunder Comedy-Ereignissen: "Geierabend"-Plakat von 2012 auf einer Tür des Lokals "Tante Amanda". (© Geierabend/Ablichtung Bernd Berke)

Eines von mehreren Dortmunder Comedy-Ereignissen: „Geierabend“-Plakat von 2012 auf einer Tür des Lokals „Tante Amanda“. (© Geierabend/Ablichtung Bernd Berke)

Sind wir so – wie wir es von der Bühne hören? Ist die Comedy nicht der wahre Spiegel der Gesellschaft? Muss wohl so sein, denn der Dortmunder und die Besucher aus dem landwirtschaftlichen Umfeld freuen sich über jeden Spaß, selbst, wenn sie ihn schon zigmal gehört haben. Das muss doch auch die Stimmung in der Stadt spiegeln.

Und weil die Herbstabende dunkler werden, folgt „Watt‘n Hallas“, das nächste Festival , das uns bei der Stange hält, denn ansonsten gibt es ja kaum Lachenswertes im Leben, in der Politik, im Zoo oder zuhause auf der Couch.

Im Schauspielhaus gibt’s auch nicht viel zu lachen. Da wirft man mit Senf. Und die Oper ist nicht für laute Äußerungen aus dem Publikum gedacht. Das Lachen ist in Dortmund eine ernste Sache. Deshalb gibt es auch noch eine dritte Reihe, die uns durch den Winter führt: den „Geierabend“. Es wird also hier im Revier fast ganzjährig durchgegeiert.

In so einer Stadt will man doch wohnen und die Zahlen zeigen es. Es gibt Zuwanderung aus anderen Teilen der Republik, Menschen, die sich am Lachen beteiligen wollen. Aber es gibt auch Gelegenheit, das subtile Lächeln zu pflegen, wenn man durch die Stadt geht. Ich, zum Beispiel, habe auch meine Freude. Jedes Mal, wenn ich das Dortmunder „U“ betrete, kann ich ein Grinsen nicht verhindern, vor allem, wenn wieder so einiges geschlossen oder nicht betretbar ist.

Heute habe ich wieder lachen können, als ich sah, wie die gesamte Innenstadt zu einem Kirmesbetrieb umgestaltet wurde. Das ist doch komisch, wenn der traditonsreiche Fahrbetrieb „Raupe“ sich, zusammen mit dem Kettenkarussell und einem Gauklerwagen mit der Aufschrift „Charlatan“, in die Innenstadt schmiegt und gleichzeitig verschiedene Schlager zu hören sind, bevor der Weihnachtsmarkt die Schlagerbühne übernimmt.

Wenn ich Segelboote auf dem Phoenixsee sehe, muss ich auch lächeln. Allerdings gehöre ich nicht zu den Leuten, die bei Spielen des BVB den Gegner auslachen. Wer nun gar nichts findet, um die Griesgrämigkeit loszuwerden, der beschäftige sich mit kommunaler Bürokratie, wo immer er oder sie auch sein mag. Das ist die beste Quelle fürs Totlachen.




Lizenz zur Wiederbelebung: William Boyds James-Bond-Roman „Solo“

James Bond, und das kommt selten vor, ist ein wenig ratlos. Der Auftrag, den er von M, seinem Pfeife schmauchenden Vorgesetzten, erhalten hat, klingt dem Geheimagenten mit der Lizenz zum Töten allzu vage. Wie er es bewerkstelligen könnte, den im afrikanischen (Fantasie)-Staat Zanzarim ausgebrochenen Bürgerkrieg zu beenden, ist dem britischen Agenten ein völliges Rätsel.

Keinen Schimmer hat er, wie er die gefährlichen Frontverläufe überwinden und in die abtrünnige Region des Landes gelangen soll, um dort den einflussreichen Stammesführer und militärischen Kopf des Aufstandes zu kontaktieren und, wenn nötig, auszuschalten.

Solo

Bond hat weder eine Waffe dabei noch Verbündete, die ihm zur Hilfe eilen könnten. Er besitzt keine Informationen über die Hintergründe des Blutvergießens und weiß nicht, welche Interessen Großbritannien in dem Konflikt vertritt. Aber gerade dann, wenn alles ziemlich verwirrend und aussichtslos erscheint, läuft 007, der Agent, der bekanntlich gern Wodka Martini (geschüttelt, nicht gerührt) trinkt, noch stets zur Hochform auf.

Gut in Form ist auch der Autor William Boyd. Das ist vonnöten. Denn wer, sechzig Jahre nach der Veröffentlichung des ersten James-Bond-Romans, von den Nachlass-Verwaltern des verstorbenen Ian Fleming auserkoren wird, die legendäre Buchreihe um einen weitere offizielle Folge zu erweitern, muss mit allen kriminalistischen Tricks und literarischen Wassern gewaschen sein. Dass William Boyd in „Solo“ mit einer gehörigen Portion Selbstironie an die Machart und die Klischees der Ian-Fleming-Thriller anknüpft und doch einen eigenen, literarisch raffinierten Ton und eine ausgeklügelte, politisch aufgeladene Story findet, ist kein geringes Verdienst.

Bond und Boyd: das passt. Denn Boyd hat einen Hang zum Fintieren. Mit einer Ausstellung und einer Biografie über den frei erfundenen Maler „Nat Tate“ hielt er viele zum Narren; in „Ruhelos“, „Einfache Gewitter“ und „Eine große Zeit“ spielte er furios mit Elementen der Spionageliteratur. Dass der in Ghana geborene Brite, der heute in London und Südfrankreich lebt, für seinen James-Bond-Roman nach Afrika zurückkehrt, liegt auf der Hand: Mit dem permanenten Chaos der postkolonialen Revolutionen kennt er sich bestens aus; auch damit, dass der von Stammesfehden geschundene Kontinent immer wieder für Stellvertreterkriege herhalten muss und zum Spielball wirtschaftlicher Interessen der Großmächte wird.

Wir schreiben das Jahr 1969: Der Mensch hat den Mond betreten, in den westlichen Metropolen rebellieren die Studenten, die Dritte Welt kämpf um ihre Freiheit, in England herrscht der Bombenterror der IRA. Und um den Hunger nach Öl – als Schmiermittel des Fortschritts – zu befriedigen, sind alle Mittel recht. Nicht einfach für den passionierten Frauenhelden und notorischen Zyniker Bond, sich in der politisch aufgeladenen Gemengelage zurechtzufinden. Um in dieser heute fast schon archaisch anmutenden, internetfreien Kampfzone Erfolg zu haben, braucht Bond viel Glück und Verstand, ein paar seltsame Zufälle und natürlich das eine oder andere willige Bond-Girl.

Boyd lacht sich geradezu ins Fäustchen, wenn er die alten Macho-Klischees aufwärmt und Bond durch ein Gewitter aus Sex und Gewalt taumeln lässt. Doch irgendwann verliert der schwer verletzte Agent den Überblick und wirft alle Regeln über Bord: Was ihm in Afrika an Verrat widerfährt, weckt Rachegefühle. Und so macht er sich auf, um – solo – ein paar offene Rechnungen zu begleichen. Einige überraschende Wendungen warten auf ihn – und die Erkenntnis, dass sich hinter schönen Fassaden oft hässliche Menschen verbergen. Das ist wahrlich nicht neu, aber immer wieder spannend.

William Boyd: „Solo“. Ein James-Bond-Roman. Aus dem Englischen von Patrizia Klobusiczky. Berlin Verlag, 365 Seiten, 19,99 Euro.

(Das Hörbuch ist bei Osterwold-Audio erschienen, als ungekürzte Lesung von Dietmar Wunder: 8 CDs, 19,99 Euro)




„Neues aus der Anstalt“: Abschied mit Wehmut

So. Das war’s. Jetzt hat das deutsche Fernsehen vorerst keine Kabarettsendung mehr, die diesen Namen verdient. „Neues aus der Anstalt“ mit Urban Priol und Frank-Markus Barwasser (alias Erwin Pelzig) ist Geschichte.

Wirklich schade. Man wird sie vermissen. Rund sieben Jahre und 62 Sendungen lang haben sie tapfer die Stellung gehalten. Zum Schluss und so kurz nach den Bundestagswahlen haben sie – zwischen gepackten Koffern und Umzugskartons – noch einmal einiges aufgeboten. Beim Abschied kehrte der grandiose Georg Schramm zurück, der allerdings inzwischen weit übers bloße Kabarett hinaus zu sein scheint.

Der Ernst des Georg Schramm

Schramm hat inzwischen leider nicht nur dem Fernsehen, sondern auch Live-Auftritten vor kleinerem Publikum abgeschworen. Er wirkte denn auch ernst und überhaupt nicht „lustig“ im landläufigen Sinne. Aber jeder seiner Sätze über die „Drogendealer“ der Wirtschaft regt zum Nachdenken an. Schramm lässt prägnante Fakten vom Krieg der Reichen gegen die Armen sprechen – und da läuft es einem kalt den Rücken herunter.

Urban Priol (li.) und Frank-Markus Barwasser in "Neues aus der Anstalt" (© ZDF/Tobias Hase)

Urban Priol (li.) und Frank-Markus Barwasser in „Neues aus der Anstalt“ (© ZDF/Tobias Hase)

Auch Volker Pispers zählt auf seine Weise zu den Besten der Zunft. Er zergliederte die deutsche Sehnsucht nach einer Königin-Mutter („Queen Mum(m)“), die von Angela Merkel nahezu perfekt bedient werde. Von Politik hält die Frau eigentlich gar nichts, aber sie ist eben furchtbar gern Kanzlerin…

Den Laden zusammenhalten

Neben solchen Größen muss sich Urban Priol schon ziemlich anstrengen. Wie hat er sich all die Jahre an der Kanzlerin abgearbeitet – und nun dieses Wahlergebnis nahe der absoluten Mehrheit! Da bleibt ihm nur die Freude am Schicksal der FDP. Priol ist ein anderes Kaliber als Schramm und Pispers, doch als allzeit aufgeregter, ja geradezu elektrisierter „Herbergsvater“ (oder eben Anstaltsleiter) auch eine Figur von eigenen Graden. Er hat den Laden zusammengehalten.

Ganz zu schweigen vom feinsinnigen Frank-Markus Barwasser, der diesmal mit Schramm ein geradezu philosophisches Gespräch über den Unterschied zwischen Lügnern und Verlogenen führte. Und Hausmeister Jochen Malmsheimer? Nun gut, der musste immer mal wieder seine etwas erkünstelten sprachlichen Finessen vorführen. Ein knorriger Kerl wie ein Baum, der sich schon mal in sein eigenes Reden vernarrt. Ein Gegensatz in sich. Auch er gehörte dazu.

Ritterschlag von Hildebrandt

Die wirklich großen Zeiten des Fernseh-Kabaretts („Lach- und Schießgesellschaft“, „Stachelschweine“) sind freilich schon lang vorbei. Doch es war bezeichnend, dass der große Altvordere Dieter Hildebrandt den Leuten um Priol die Ehre erwiesen hat und gelegentlich als amüsierter Zuschauer oder gar als Mitwirkender zugegen war. Es war wie ein Ritterschlag.

Man kann nur hoffen, dass im ZDF oder sonstwo etwas Gleichwertiges nachfolgt. Doch ich habe da so meine Zweifel.

(Der Beitrag ist zuerst auf www.seniorbook.de erschienen).




So macht Lernen Freude: Mit Jürgen Becker kreuz und quer durch die Kunstgeschichte

Solch einen Lehrer hätte man sicherlich gern gehabt: Der Kölner Kabarettist Jürgen Becker verabreicht selbst schwierige Lektionen auf eine Weise, dass man unentwegt lacht – und gar nicht merkt, dass man unterwegs eine Menge gelernt hat; so auch in seinem Programm „Der Künstler ist anwesend“, das jetzt noch einmal bei 3Sat zu sehen war.

Es handelt sich um einen höchst unterhaltsamen Streifzug durch die Kunstgeschichte, der von der vorzeitlichen Höhlenmalerei in Lascaux bis zu Joseph Beuys führt. Am allerliebsten hält sich Jürgen Becker bei den Passagen auf, in die das Religiöse hineinspielt, denn da ist er wahrlich Fachmann.

Mal züchtig und mal splitternackt

Es kommt keine Minute Langeweile auf. Das Spektrum der 90-minüten Vortrags ist ungemein breit, es reicht von den Lackaffen, die man bei Galerie-Vernissagen antreffen kann, über Beziehungen zwischen ägyptischer, griechischer und altrömischer Kunst, bis hin zu Gerhard Richters umstrittenen Kirchenfenstern für den Kölner Dom.

Streifzug durch die Kunsthistorie: Kabarettist Jürgen Becker (© WDR/ZDF/Annika Fußwinkel)

Streifzug durch die Kunsthistorie: Kabarettist Jürgen Becker (© WDR/ZDF/Annika Fußwinkel)

Der vergnügliche Parforceritt führt kreuz und quer durch alle weiteren Epochen und Wechselfälle. Eine Leitlinie gibt zum Beispiel die Frage vor, wann sich die Kunst züchtig verhüllte und wann sie in Nacktheit schwelgte. Wie Becker etwas vom Wesenskern der Gotik oder des Barock in wenigen markanten Sätzen skizziert, das ist jedenfalls aller Ehren wert.

Keine Angst vor Kalauern

Ganz wie die großen Künstler oft das Höchste und das Alltäglichste erhellend kontrastiert haben, so lässt auch Becker gern die Luft aus allem allzu Aufgeblasenen und Erhabenen heraus, wobei er den einen oder anderen Kalauer keineswegs scheut. Lassen sich Bezüge zwischen hehrer Hochkultur und – zum Beispiel – den rheinischen Institutionen Karneval, „De Höhner“, Trude Herr oder dem 1. FC Köln herstellen, so wird nicht lange gefackelt. Nicht jeder Wortwitz ist subtil, doch einem wie Becker kann man kleine Fehlgriffe nicht krumm nehmen.

Jürgen Becker zählt als Kabarettist keineswegs zu den „harten Hunden“ der unerbittlichen Fundamentalkritik. Gerne lässt er fünfe gerade sein und auch schon mal menschliche Milde walten. Doch gar manche seiner Spitzen treffen sanft, aber wirksam ins Mark.

Die Wahrheit über die röhrenden Hirsche

Immer wieder schwenkt die Kamera der WDR-Produktion ins Publikum. Da sieht man nicht nur köstlich amüsierte Mienen, sondern auch Leute, die Becker geradezu atemlos wissbegierig folgen. Kein Wunder, erklärt er doch beispielsweise endlich einmal, was die millionenfach reproduzierten Bilder von röhrenden Hirschen wirklich zu bedeuten haben (es hat, ganz vornehm gesprochen, mit Arterhaltung zu tun).

Inzwischen ist die Szene längst höchst unübersichtlich geworden. Wer sagt uns denn, dass der Feuerlöscher an der Museumswand nicht auch wieder ein Kunstwerk sein soll? Doch ganz zum Schluss löst Jürgen Becker auf kölsche Weise sogar die knifflige Frage, was denn eigentlich Kunst sei. In der Stadt mit der weltgrößten Kunstspedition namens Hasenkamp kann die Antwort wohl nur so lauten: „Kunst ist alles, was von Hasenkamp transportiert wird…“

______________________________________________________________

Der Beitrag ist zuerst bei www.seniorbook.de erschienen




Ansichten eines Hörbuchjunkies (6): Willst du boxen, Känguru?

Eines Tages steht ein Känguru vor der Wohnungstür. Artig fistelt es eine Begrüßung und stellt sich vor als neuer Nachbar. Und los geht’s.

Marc-Uwe Kling, der Pickel bekommt, wenn ihn jemand Kai-Uwe (nach: von Hassel, Minister im Kabinett Adenauer) ruft, abenteuert mit dem neuen Gefährten durch eine Umwelt, die wenig bis nichts mit den beiden Anarchisten anfangen kann, die weder Herrn Klings Weltsicht („Mein Vater hatte immer die helle Freude daran, ,Kling Glöckchen, klingelingeling …‘ Weihnachten zu spielen!“) versteht, geschweige denn teilt, die aber ebenso wenig an den schnodderig vorgetragenen Einsichten des namenlosen Kängurus erkennen kann, dass es als Alter Ego von Marc-Uwe selbst aus seinen angeblichen Vietcong-Erfahrungen noch Lehren für die Gegenwart zieht. Marc-Uwe skeptisch: „Kängurus werden doch höchsten 15 Jahre alt.“

Känguru1

Die „Känguru-Chroniken“ des Kreuzberger Kiez-Kenners sind ein Fest, für die Zuhörer, die live mitmachten (es handelt sich um eine mitgeschnittene Lesung) wie für Buchhörer. „Das Känguru-Manifest“ ist ebenfalls ein Fest. Und auch bei dessen Mitschnitt gab es hörbar faszinierte Menschen im Publikum, die den Raum mit Tränen des schallenden Lachens fluteten und teilweise auch schon mehrfach Marc-Uwe Klings skurrilen Begebenheiten zuhörten, denn manche brüllen lachend los, obwohl der Gag erst im letzten Satz der Szene aufgeblättert wird. Kurz: Känguru und Kling rocken jeden Raum.

Der Autor, dessen Beute an überflüssigem Wissen bisher schon enorm ist, studierte Philosophie, gewann nachhaltige Erkenntnisse dadurch, dass er das Studium mehrfach abbrach und wieder aufnahm, legte noch Theaterwissenschaften dazu und sorgte dafür, dass die Freie Universität Berlin sich selbst nicht zu ernst nahm. Die Stories um seine Bekanntschaft mit dem Känguru entstammen einem Podcast, der wöchentlich über „Radio Fritz“ läuft. Man staunt, was dem Mann so alles einfällt, das man lieber dem Beuteltier in den Mund legt, damit es Klartext spricht, während Marc-Uwe selbst noch versucht, gesellschaftfähig zu bleiben.

Je absurder, desto besser; je unwahrscheinlicher, desto lautstärker; je irrealer, desto eindringlicher – Känguru kann sich eben alles leisten, weil es wie „Harvey“ (der weiße Hase in Mary Chase’s Bühnenstück) nur ganz auserlesenen Zeitgenossen leibhaftig werden kann – genauer gesagt: ausschließlich Marc-Uwe Kling. Oder so völlig abgedrehten Zuhörern wie mir, die mitleidig belächelt werden, weil sie mal wieder auf dem Bahnsteig warten und glucksend in sich hinein lachen, ohne dass den Nebenstehenden einsichtig wäre, warum diese Person sich vor Lachen gerade wegwirft.

kaenguru_manifest

Kängurus boxen gern, so der Volksglaube. Marc-Uwe Klings Känguru auch. Die roten Boxhandschuhe findet es blitzschnell, wenn es darum geht, pöbelnden Nazis, gröhlenden Fußballfans in bierseliger Patriotenlaune oder nervigen Vertretern uniformierter Staatsmacht auf die Nasen zu hauen. Wenn es aber gezielt nach einem speziellen Beutelinhalt sucht, dann gärt die Vermutung, dass es sich bei Känguru um ein Weibchen handeln könnte, mindestens aber um ein Tier mit einseitigem Hormon-Überschuss. Dann findet es eine komplette Lkw-Umzugsladung, bis es zum begehrten Kern gelangt. Gerne auch mal Gegenstände, die ihm von Marc-Uwe, mit dem es längst eine Wohnung teilt, geliehen worden waren.

Eigentlich wollte das Känguru ja nur Eierkuchen machen, als es da so überraschend vor der Türe stand und sich als neuer Nachbar vorstellte, doch ihm fehlten die Eier. Wenig später stellte es fest, dass Mangel an Mehl herrsche, klar, gerade erst umgezogen. Dann sollten es noch ein paar Tropfen Milch sein und später etwas Butter oder so. Schließlich öffnet Marc-Uwe die Türe und deutet wortlos in die Küche zum Gasherd. Känguru hat nur ein knappes „Danke“ übrig und beginnt zu braten. Kurze Zeit darauf balgen die beiden schon energisch darum, wer die Lufthoheit über die TV-Fernbedienung hat. Es ist der Beginn einer festen Beziehung, einer andauernden Freundschaft.

Ach ja, hoffentlich geht das noch weiter, denn der dritte Teil, „Die Känguru-Offenbarung“, steht noch an. Sollte dann etwa Schluss sein?

Marc-Uwe Kling (Autor und Vorleser): “Die Känguru-Chroniken” (4 CDs), „Das Känguru-Manifest“ (4 CDs). Hörbucher (erschienen bei Hörbuch Hamburg/Downtwon), je 14,99 €.




„Neues aus der Anstalt“: Wahnwitz mit Methode

Die Tage werden schon wieder kürzer, doch beim Fernsehen machen sie jetzt alle Sommerpause – so auch Urban Priol und Frank-Markus Barwasser mit „Neues aus der Anstalt“ (ZDF). Nun haben sie zum vorerst letzten Mal die Politik aus psychiatrischer Perspektive betrachtet. Und diese Art des Zugangs ist nicht einmal sonderlich absurd…

Nur noch 88 Tage sind es bis zur Bundestagswahl. Da stand zu befürchten, dass Urban Priol sich abermals mit relativ fruchtlosen Parodien an Angela Merkel abarbeiten würde. Doch diesmal hielt er sich in der Hinsicht merklich zurück. Das war eine kluge Entscheidung.

An Themen mangelt es wirklich nicht

Es gibt in diesen Tagen und Wochen ja auch wahrlich noch ein paar andere Themen – von Brasilien bis zur Türkei, vom ach so „selbstlosen“ Karstadt-Investor Nicolas Berggruen (den Priol höchstselbst einseifte) bis hin zum Fall Mollath. Die kaum glaubliche Geschichte des Mannes, der sich – höchstwahrscheinlich zu Unrecht – seit Jahren in der Psychiatrie befindet, ist geradezu ein passgenaues Thema für eben diese Sendung. Wie Frank-Markus Barwasser alias „Pelzig“ das wahnwitzige Geschehen auf einer Schautafel darstellte, das war der absolute Höhepunkt dieser Ausgabe. Manchmal ist die so genannte Realität irrsinniger als jede Satire. Der Wahnsinn hat Methode.

Urban Priol (links) und Frank-Markus Barwasser in "Neues aus der Anstalt" (Foto: © ZDF/Tobias Hase)

Urban Priol (links) und Frank-Markus Barwasser in „Neues aus der Anstalt“ (Foto: © ZDF/Tobias Hase)

Wut als neue „Krankheit“

Leitlinie war diesmal ein neues Psychiatrie-Handbuch, in dem Wut als neue seelische Krankheit definiert wird; ganz im Sinne der Pharmaindustrie. Doch wer wird angesichts gewisser gesellschaftlicher Zustände nicht wütend werden wollen? So viel Valium konnte Priol gar nicht schlucken, um sich über die Verhältnisse zu beruhigen. Diesem öffentlich-rechtlichen Wutbürger stehen ja ohnehin die Haare stets zu Berge. Sein Telefonat als hessischer Landesvater mit dem türkischen Ministerpräsidenten Erdogan (über den Umgang mit aufsässigen Bürgern) war abgründig witzig und lebte natürlich auch von der Mundart, die Priol eben bis ins Feinste beherrscht.

Georg Schramm fehlt schmerzlich

Im Großen und Ganzen hält man sich ans gute alte Nummernkabarett, das freilich hie und da auch ein wenig abgestanden wirkt. Immerhin kommen sehr verschiedene Formen des Humors zum Zuge. Zwischen einem Jochen Malmsheimer und dem Franzosen Alfons liegen Welten.

Allerdings muss man immer wieder feststellen: Der geniale Georg Schramm fehlt nach wie vor. Diesen Verlust kann die Sendung einfach nicht verschmerzen. Eigentlich kein Wunder, dass es (mehr als) Gerüchte gibt, auch Priol und Barwasser könnten gegen Ende des Jahres aussteigen – aus welchen Gründen auch immer. Man kann nur hoffen, dass das ZDF für diesen Fall ebenbürtigen „Ersatz“ findet.

Doch gemach! Erst einmal sehen wir die jetzige Besetzung am 27. August wieder – rechtzeitig vor den Bundestagswahlen.

(Der Beitrag ist zuerst bei www.seniorbook.de erschienen).




„Aller Unfug ist schwer“: Vor 100 Jahren wurde der TV-Unterhalter Peter Frankenfeld geboren

„Schau ich weg von dem Fleck, ist der Übrrrrziehrrrr weg.“ Oder: „Das ist meine Frankenfeld-Jacke!“ (Verstehen nur Menschen, die sich noch übel an Feldjacken der Soldaten im 2. Weltkrieg erinnern). Heute vor 100 Jahren, am 31. Mai 1913, wurde Peter Frankenfeld in Berlin-Kreuzberg geboren.

Er hörte in der Familie Frankenfeldt (mit „t“) zunächst auf die hübschen Vornamen Willi Julius August. Und dieser Mensch hielt wenig später noch weniger von Uniformen, überhaupt nichts von den dahinter steckenden Inhalten und konnte nach Nazi-Herrschaft und deren Terror-Kriegen selbstbewusst sagen, dass er nie Mitglied weder dieser Partei noch irgendeiner ihrer Organisationen gewesen sei: „Das ging!“

Auf DVDs und CDs noch präsent: Peter Frankenfeld

Auf DVDs und CDs noch präsent: Peter Frankenfeld

Was Peter Frankenfeld aber wurde, das war des verkleinerten Deutschlands erster Fernsehentertainer, das war der Quotenmagnet, als es solche Betrachtungen von TV-Attraktivität noch gar nicht gab, das war der Entwickler und darstellende Schöpfer von Sendungen, deren soziale Folgen noch heute nachwirken: Dass es eine Fernsehlotterie gibt, ist dem urkomischen Mann in der großkarierten Jacke (der Frankenfeldjacke) zu verdanken. Zwischen ihr und seiner „Vergissmeinnicht-Sendung“ gibt es eine gerade Linie.

„Aller Unfug ist schwer“ – so lautete ein Wortspiel, das er zu seinem Lebensmotto erkor. Es beschreibt auf seine Weise, dass Clown sein, professionell komisch sein eine harte und kunstvolle Arbeit ist. Und schwer bzw. schwierig war auch sein Weg. Er rückte aus der Schule und dem Elternhaus aus und ging als Zauberer zu einem Wanderzirkus, buckelte dann als Hotelpage vor unbekannten Gästen, tourte als Vertreter, wirkte als Schaufensterdekorateur, war Stepptänzer und auch mal Bildermaler, bevor er seine Bühnenlaufbahn in den 1930er Jahren beim legendären „Kabarett der Komiker“ von Willi Schaeffers in Berlin begann.

Nachdem er Nazi-Herrschaft trotz vorlauten Widerstands und den Krieg als vorlauter Funker überstanden hatte, war er sofort wieder vorlaut – bei den Soldaten der US-Armee, die er königlich unterhielt. Bei der Einstellung zum Truppenbetreuer war er besonders vorlaut. Die Frage, ob er denn des Englischen mächtig sei, quittierte er mit einem knappen „Ja“, obwohl er eigentlich gerade erst wirklich begonnen hatte, dieses zu erlernen.

Aber er lernte schnell und viel und vieles, was seine spätere Unterhaltungskunst bereichern sollte. Und auch die heranwachsende Unterhaltungsindustrielandschaft, bestehend aus zwei Sendeanstalten: ARD und (ab 1963) ZDF. Da lagen ihm die großen Unterhaltungsformate alsbald zu Füßen, obwohl er mit seinen Sketches und unvergleichlichen Mundart-Dialogen (auch mal Monologen) stets zu dem zurückkehrte, wo seine Wurzeln lagen – heute würde mensch „Standup-Comedy“ dazu sagen.

1956 heiratete er Lonny Kellner. Sie war so etwas wie die Helene Fischer ihrer Zeit, nur noch erfolgreicher, denn Lonny hatte sogar Ruhm in den USA mit ihren Hits. Da fanden zwei Unterhaltungskünstler einen 23 Jahre währenden gemeinsamen Lebensweg, die sich eigentlich von Herzen nicht mochten. Er sie nicht, weil sie so ein seichtes Zeug sang und sie ihn nicht, weil er nicht mochte, was sie machte. Und es wurde eine Traumpaarehe, die doch auch für die frühe Zeit der neuen Stars ungemein diskret ablief.

Dann ein urplötzlicher Knick in Peter Frankenfelds Karriere. Sein Kind, die „Vergissmeinnicht“-Sendung (damals noch mit „ß“ geschrieben) kam ihm abhanden, weil neue Macher beim ZDF einzogen und ihn, den Entwickler dieses Formats, für zu verstaubt, zu alt hielten. Ja, Jugendwahn ist keine Erfindung von heute. Frankenfeld zog sich zurück ins Private nach Hamburg, wo er und seine Frau ein üppiges Anwesen bewohnten, bis – ja bis beim ZDF wieder ein paar neue Macher einzogen und die Entscheidung der Vorgänger für dämlich hielten. Sie arbeiteten ein Format aus, das Peter Frankenfeld sich auch selbst hätte auf den Leib schneidern können und wollten es mit niemand anderem als ihm besetzen. „Ich betrete Ihr Haus nicht mehr!“ so schallte es dem Anrufer durchs Telefon entgegen, als er seinen auserwählten Star informieren wollte. Gescheit antwortete der ZDF-Mann: „Macht nichts, ich komme bei Ihnen vorbei!“ Und so wurde 1975 „Musik ist Trumpf“ gestartet, sammelte Quoten ein, von denen man bisher nur geträumt hätte, es geriet zu Peter Frankenfelds Triumph.

Leider nur gut drei Jahre lang, denn überraschend starb der bienenfleißige Peter Frankenfeld am 4. Januar 1979 an den Folgen einer Infektionserkrankung. Die deutschsprachige Fernsehunterhaltung wurde auf einen Schlag um 50 Prozent ihrer Qualität beraubt, denn von den „guten Alten“ blieb nur Hans-Joachim Kulenkampff. Viele Zeitgenossen Peter Frankenfelds hegten warme Erinnerungen an ihren Wegbegleiter und Freund. Ich finde eine besonders erwähnenswert. „Er hat meinem Leben einen Sinn gegeben. Ohne ihn wäre ich heute ein Pensionär wie alle …“ Das sagte Walter Spahrbier, Postbeamter a.D., der nach dem Ende einer jeden „Vergissmeinnicht“-Sendung auf den laut schallenden Ruf: „Herr Spaaaaahrbier“! die Bühne betrat, damit Peter Frankenfeld zur Gewinnerkür schreiten konnte.




Ödnis im Zeichen der Löschblattwiege: Walter E. Richartz’ „Büroroman“ – wiedergelesen

„Zu jedem Schreibtisch gehört die Schreibgarnitur aus Bakelit. Sie besteht aus Schale, Notizzettelkästchen und Löschblattwiege.“

Das klingt ja allerliebst nostalgisch. Tatsächlich entstammt die knappe Schilderung dem „Büroroman“ von Walter E. Richartz (1927-1980), der 1976 herauskam und heute noch als Taschenbuch greifbar ist.

Welch ein zeitlicher Abstand! Damals wurden gerade die ersten Versuche mit EDV (Elektonische Datenverarbeitung) unternommen. Sie scheinen zunächst nur nebulös am Horizont dieses Romans auf. Doch gegen Schluss kosten sie die ersten Arbeitsplätze. Von Fax, Handys oder gar Internet ganz zu schweigen. Gerade deshalb ist es interessant, dieses Buch wieder einmal hervorzuholen. Welche Signaturen sind seither für immer verschwunden und was zählt womöglich zum Langzeitbestand des bundesdeutschen Bürolebens?

Richartz

Wir lernen vor allem Herrn Kuhlwein, Frau Klatt und Fräulein Mauler (so sagten manche damals noch) kennen, die sich in Frankfurt am Main ein Büro im zehnten Stockwerk teilen. Wir lernen sie genauer kennen, als uns lieb ist. In ihrer Kostenkontroll-Abteilung vollzieht sich höllisch das Immergleiche, ein monotones, erbärmlich reduziertes, quasi kästchenförmiges Leben, ein oft biestiges Schweigen zum Terror der kleinen Geräusche, allenfalls lau gewürzt von kleinen gegenseitigen Bosheiten.

Absoluter Stillstand um 15.10 Uhr

Durch einen mikroskopischen Blick auf die (kaum) verstreichende Zeit – um 15.10 Uhr ist absoluter Stillstand erreicht, der Feierabend scheint ferner denn je – lässt uns Richartz am ungemein zähflüssigen Alltag des Büros teilnehmen. Hin und wieder muss man grinsen, doch wohl ziemlich müde und gequält. Allein zu lesen, wie überaus penibel Herr Kuhlwein eine Orange schält, um sie hernach umständlich zu verzehren, könnte einen schier rasend machen. Wer jemals regelmäßig in einem Büro gearbeitet hat, kennt solche marternden Szenen wahrscheinlich zur Genüge.

Was in der Produktionsabteilungen des Unternehmens namens DRAMAG (soll der Name etwa auf Dramen hindeuten?) überhaupt hergestellt wird, wissen die Büro-Angestellten gar nicht so genau. Sie schmoren, teilweise seit Jahrzehnten, im eigenen Saft.

Willkommener Unglücksfall

Immerhin wird die Ödnis manchmal unterbrochen: Der freilich immergleiche Kantinengang sorgt für scheinbare Bewegung, Hitzewellen oder Regenfluten liefern kurzzeitig Gesprächsstoff, Rituale vor und nach dem Urlaub bringen sogar für Minuten einen Schuss Übermut ins ewiggleiche Getriebe.

Vor solchem Hintergrund wird bereits der Besuch einer Ex-Kollegin, die offenbar glücklich geheiratet hat (soll man’s ihr denn glauben und gönnen?), zum mittelgroßen Ereignis. Und als bei Sturm beinahe ein Fensterputzer von der Hochhausfassade abstürzt, erfasst die ganze Firma endlich ein Hauch von Dramatik, die gleichsam der seelischen Hygiene zugute kommt. Denn nach der kleinen Katastrophe herrscht für kurze Zeit eine ungeahnte Aufgeräumtheit.

In der Äbbelwoi-Hölle

Durch die erwähnte Frau Klatt kommt punktuell jene hessische Mundart ins Spiel, deren Äbbelwoi-Abgründe einen schon seit den Zeiten von „Babba Hesselbach“ oder dem „Blauen Bock“ schaudern lassen. Damals, auf einem ersten Gipfel der RAF-Terrorfahndungen, hörte sich das dann schon mal so an: „Dene geheert der Kopp ab, geheert dene.“

Kurzum: Bis hierhin haben wir einen Roman gelesen, der seine armseligen Gestalten vor allem mit parodistischen Mitteln kenntlich macht. Weder die dynamischen Chefs noch der Gewerkschafter auf der Betriebsversammlung entgehen dem satirisch überzeichnenden Zugriff.

Doch dann vollzieht sich mittendrin ein unerfindlicher Umschwung. Auf einmal wird besonders den drei Figuren im zehnten Stock Verständnis entgegen gebracht. Plötzlich werden sie nicht nur von außen, sondern von innen her betrachtet. Ihre Beweggründe werden nunmehr ernst genommen. Ihre kleinen Träume, ihre legitimen Sehnsüchte, ihre Verletzungen, ihre bestürzende Einsamkeit und ihre Tragik finden Beachtung.

Hatte es vorher den Anschein, als mache sich der Autor durchweg lustig, so werden nun die Lebensgeschichten sorgsam abgewogen und gewürdigt. Nun gut. Menschlicher ist das allemal. Aber wie verträgt es sich mit dem Duktus der ersten Hälfte des Romans? Gar nicht. Das Ganze wirkt leider ziemlich zwittrig.

Bis zur letzten Büroklammer

Den Schluss, der wiederum im nüchternen Gewande daherkommt, bildet eine „Inventur“, in deren Verlauf alle Gegenstände im Büro verzeichnet werden – bis hin zur letzten Büroklammer. Mit all den Dingen und ihren Tücken sind auch so manche Worte verschwunden. Die Akten von damals sind eh längst geschreddert worden. Die letzten Gedankenblitze erhellen auf schwer übertreffliche Art die Phänomenologie der Neonlampe.

Trotz gewisser Schwächen in der Konstruktion kann Richartz’ Roman als markanter Vorläufer gelten. Bis dahin war das Alltagsleben der Angestellten allenfalls ein Nebenthema der Literatur gewesen. Der wunderbare Kritiker Georg Hensel schrieb damals sehr richtig in der FAZ: „Kühn pflanzt Richartz die Fahne des Erstbesteigers in einem Büro-Hochhaus auf.“

Es war sicherlich kein Zufall, sondern ein Zeichen der Zeitreife, dass in den folgenden Jahren 1977, 1978 und 1979 Wilhelm Genazinos „Abschaffel“-Trilogie erschien, die das Dasein der Angestellten vollends zum Stoff erhob und in allen Facetten ausleuchtete. Genazino, der die Romanhandlung übrigens ebenfalls in Frankfurt ansiedelte, zählt heute zu den ganz Großen unserer Literatur. Ob er vielleicht anfangs die eine oder andere Anregung aus dem „Büroroman“ des leider so früh verstorbenen Richartz empfangen hat?

Walter E. Richartz: „Büroroman“. Diogenes Taschenbuch. 274 Seiten. 9,90 Euro.




Heute Außenseiter, morgen Hoffnungsträger: Tuomas Kyrös Roman „Bettler und Hase“

Wenn eine Geschichte von einem rumänischen Roma als Hauptfigur handelt, der sein Land verlässt, um in der Ferne sein Glück zu versuchen, dann scheint der Ablauf schon irgendwie programmiert zu sein. Der Emigrant wird sich schwer tun, womöglich scheitern und am Ende auf der Verliererstraße landen.

Doch Vatanescu ist da doch von ganz anderem Schlag, was natürlich daran liegt, dass sein Erschaffer, der finnische Autor Tuomas Kyrö, hintersinnig, ironisch und zugleich humorvoll zu erzählen weiß.

40374_1_kyroe_bb_web1

Schon das Motiv, das den Roma bewegt, sich außer Landes zu begeben, scheint recht schräg zu sein, will er doch Geld verdienen, um seinem Sohn Stollenschuhe kaufen zu können. Ob es denn da wohl nichts Wichtigeres gibt, als ausgerechnet einen solchen Sportartikel, mag man sich als Leser fragen. Zumal der Preis, den Vatanescu schon zu Beginn des Abenteuers zu bezahlen hat, äußerst hoch ist, begibt er sich doch in die Fänge der russischen Mafia. Nur die verspricht ihm, in ein gelobtes Land des Westens zu gelangen.

Der Roma findet sich schließlich in der finnischen Hauptstadt Helsinki wieder und zwar in einer Behausung, die ihm ein Drogen- und Menschenhändler zuweist. Doch Vatanescu wäre nicht Vatanescu, wenn er sich mit seinem Schicksal einfach abfinden würde. Ihm gelingt es auszubüxen. Damit aber noch nicht genug: Jener Igor, der ihn in einem Wohnwagen eingepfercht hatte, soll seines Lebens nicht mehr froh werden, war doch die Flucht eines gewissen Roma aus Rumänien ein Fanal für viele andere, die unter Igors Knute standen, dem Beispiel zu folgen.

Für Vatanescu beginnt eine Zeit des Vagabundierens, in der er Finnland von ganz anderen Seiten kennenlernen soll. Er trifft auf vietnamesische Einwanderer, die ein Restaurant eröffnet haben, auf einen glücklosen Magier und auf einen echten Haudegen, der ihn zum Saunieren einlädt. Doch wie sich Vatanescu auch drehen und wenden mag, seine neue Heimat will ihm doch fremd bleiben – bis er irgendwann zu spüren meint, was den gemeinen Finnen wohl am ehesten antreibt, nämlich die eigene Schaffenskraft, die tägliche Arbeit.

Mit dieser Erkenntnis im Hinterkopf gewinnt er erst das Vertrauen eines Vertrauten des Ministerpräsidenten und schließlich das des Politikers selbst, der längst amtsmüde geworden ist. Und urplötzlich ist dem Einwanderer Vatanescu der Durchmarsch gelungen, gilt er doch fortan als „Thronfolger“ in einer politischen Gruppierung, die den schönen Namen trägt „Partei der gewöhnlichen Menschen“. Einen politischen Hoffnungsträger zeichnet vor allem aus, dass er neu ist und Schläue mit sich bringt, von Wissen oder Sachverstand spricht Autor Tuomas Kyrö eher nicht.

Das Buch lebt von kuriosen Szenen. Zu ihnen gehört der Moment, als der Rumäne seinen Begleiter findet. Er rettet einem Hasen, der von mehreren Jungen gejagt wird, das Leben, indem er ihn in seine Jacke springen lässt. Vatanescu weiß zu dem Zeitpunkt schon, was es heißt, auf der Flucht zu sein. Von brillanter Situationskomik geprägt ist die Passage, als er einem Arbeitsvermittler gegenübersitzt und plötzlich sein Hase, den er versteckt hält, loshoppeln will. Einem Büromenschen können da schon mal mehr als nur die Gesichtszüge entgleiten.

Gerade in der Debatte um Sinti und Roma kann das Buch von Tuomas Kyrö zu neuen Denkansätzen beitragen, werden doch Klischees und gesellschaftliche Normen amüsant und erfrischend hinterfragt.

Tuomas Kyrö: „Bettler und Hase“. Roman. Verlag Hoffmann und Campe, 320 Seiten, 19,99 Euro.




Querdenker in einem komischen Land – Harald Marteinsteins gesammelte Kolumnen

Martenstein.CoverWas bitte ist am „Bauhaus“ schön und warum wohnten die Architekten nicht selbst darin? Worin besteht der Unterschied zwischen Berliner, Hamburger und Münchner Star-Friseuren?

Und weiter: Ist der „Kleine Prinz“ nicht doch nur der kleinste gemeinsame Nenner für Diktatoren und Kirchen-Austrittswillige und kann man romantische Nächte wirklich nur noch im Zoo verbringen? Gemeinsam ist diesen Fragen die Antwort: Deutschland ist ein komisches Land. Zwischen Gerstengrund und Osnabrück wohnt nicht nur das Glück, sondern auch die Real-Satire.

Harald Martenstein, bekannter Journalist, Autor und Kolumnist, nimmt sich unbeirrt dieser Fragen an. 34 Betrachtungen und Geschichten aus den Jahren 1999-2012 hat er ausgewählt, überarbeitet und zu einer erstaunlich zeitlos aktuellen Betrachtung unseres Landes zusammengefasst. Alle Artikel aus seiner Sammlung „Romantische Nächte im Zoo“ waren bereits publiziert, einige davon (allen voran der über die Entzauberung des Suhrkamp Verlags) preisgekrönt.

Seine Themen sind breit gefächert und haben auf den ersten Blick nicht sehr viel miteinander zu tun. Da geht es um Milch und die Kuh als Leistungsträger, da werden Kirchentage genau wie die in den Städten um sich greifende Gentrifizierung seziert, Bildungspolitik als letztes Reservat für Ideologen entlarvt und die echten Freuden oder wirklichen Schrecken des deutschen Kleingärtners aufgedröselt.

Auf den zweiten Blick aber erkennt man die Gemeinsamkeit: Martensteins unverdrossenes Plädoyer für Meinungsfreiheit als grundlegendes Recht und für Toleranz – auch für diejenigen, die man nicht sympathisch findet.

Martenstein trifft den Nerv der Zeit und traut sich dafür auf ein sehr dünnes Drahtseil. Er scheut den Populismus nicht, ohne wirklich populistisch zu sein. In Summe und Buchform gelesen wird klar, warum er auf der einen Seite als einer der populärsten, anregendsten Kolumnisten des Landes gilt, auf der anderen Seite aber auch, warum er gleichzeitig auch einer der polarisierendsten Kolumnisten unserer Zeit ist. Kaum ein Kollege, der sich nicht an ihm abarbeitet. Die Lektüre der Beiträge anderer Blogger und Kolumnisten, die sich mit ihm beschäftigen, ist derzeit mindestens so unterhaltsam wie die der Martenstein-Kolumnen selber.

Mich wundert das nicht. Es hat ja auch etwas Frustrierendes, wenn man seine Kolumnen liest. Viele wirken zunächst wie charmant geplauderte Essays, doch in jeder kommt irgendwann der Punkt, an dem Martenstein zielsicher den Finger in die Wunde legt und ihn oft genug auch noch genüsslich umdreht. Was er nicht tut – er zeigt nicht auch noch mit dem Zeigefinder auf die, die er als Verursacher ausmacht. Da nimmt er sich zurück.

Ansonsten ist er unbestritten ein selbsternannter Besserwisser. Natürlich sind da Bescheidwisser aller Couleur genervt. Vor allem, weil man nach jeder Kolumne – gelegentlich zähneknirschend – zugeben muss, dass er recht hat. Und wenn auch manchmal nur mit dem Denkanstoss, den er gibt.

Lustvoll stellt Harald Martenstein gängige Verhaltensweisen und Meinungen auf den Prüfstand und in Frage. Auch wenn er dazu eine Position einnehmen muss, die eigentlich gar nicht die Seine ist – nur um zu sehen, wohin sie ihn führt. Das ist schon ein sehr spezieller Mut zum Vor- und Querdenken, der so manchem, der sich nicht einmal das Nachdenken traut, bitter aufstößt. Es erfüllt aber seinen Zweck. Der Denkanstoß, die Diskussionsgrundlage ist gegeben.

Martensteins erkennbare Allergie gegen Selbstzufriedenheit, Betroffenheitsgeseiere, sowie gegen ausufernden Kontroll-und Vorschriftswahn führt ihn immer wieder zum ganz normalen Surrealismus des Alltags. Man kann ihm natürlich ankreiden, dass es alles Luxusprobleme sind, die er behandelt, noch dazu aus der Sicht eines Menschen, der im weitestgehend katastrophenlosen Deutschland lebt. Man kann sich aber auch die Frage stellen, ob nicht auch der sich schleichend vollziehende bedenkliche gesellschaftliche Wandel unserer Zeit eine Katastrophe ist.

Die Texte der Sammlung sind nicht chronologisch und zeigen gerade dadurch, wie sehr Martenstein seinem Stil über die Jahre treu geblieben ist. Seine Schreibe hat sich nicht geändert, sie war schon vor zwölf Jahren so gezielt pointiert, manchmal provokant, manchmal zurückgenommen lakonisch. Auffällig ist, dass seine Sprache umso schnörkelloser wird, je mehr er sich aufregt.

So ist eine lesenswerte, gleichermaßen unterhaltsame wie kritische Biographie unseres Landes entstanden. „Ein Land, das sich schleichend radikal gewandelt hat.“ Die Quintessenz der Kolumnen findet sich in meiner Lieblingskolumne über die „Tugendrepublik Deutschland“. Eine Kolumne, in der Martenstein ersichtlich immer wütender gegen diese unsere Gesellschaft wettert. Eine Gesellschaft, die wie keine vor und neben ihr so sehr unter Kontrolle steht und trotzdem keine Diktatur ist. Eins weiß man nach der Lektüre auf jeden Fall: Nämlich, wo in Deutschland man auf gar keinen Fall tot überm Zaun hängen möchte.

Harald Martenstein: „Romantische Nächte im Zoo – Betrachtungen und Geschichten aus einem komischen Land“. Aufbau Verlag, Berlin, 285 Seiten, € 18,99.




Am liebsten schön schräg und schrill: „Fast alles über 50 Jahre Bundesliga“

Wer etwas auf sich hält, bereitet Fußballhistorie längst nicht mehr bierernst mit Ergebnislisten und Tabellen auf. Die bloße Nacherzählung und die kreuzbrave 1:0-Berichterstattung sind mausetot. Erst recht ist der feierliche oder gar pathetische Tonfall passé; selbst dann, wenn bedeutsame Jubiläen anstehen.

9783462045000_10

Die (inzwischen etablierte) Avantgarde packt den Fußball ironisch, popkulturell und liebend gern aus schrägen Blickwinkeln an, ohne deshalb die Leidenschaft für diesen Sport aufzugeben. Im Gegenteil: Hier kommt oft erst der wahre Kult zum Vorschein, der eben auch etliche schrille Seiten hat. Den Takt geben in dieser Hinsicht derzeit das Fußballmagazin „11 Freunde“ und eine TV-Sendung wie „Zeiglers wunderbare Welt des Fußballs“ vor. Sie beweisen, dass man auch intellektuelles Vergnügen am Kicken und all seinen Begleitumständen haben kann.

Im Fernsehen kredenzen uns manche Fußball-Kommentatoren, die den Schnabel nicht ein Minute lang halten können, zwischendurch als Füllmasse die absurdesten Statistik-Ergüsse – ohne jedes Gespür für die Komik solcher Mitteilungen. Christoph Biermann und Philipp Köster (beide aus der besagten „11 Freunde“-Chefredaktion) wissen hingegen genau, welche abenteuerlichen Kuriosa sie uns in ihrem Band „Fast alles über 50 Jahre Bundesliga“ mitunter vorsetzen.

Wer dieses halbe Jahrhundert allen Ernstes aufarbeiten wollte, müsste einen enzyklopädischen Vielbänder herausbringen. Im vorliegenden Buch werden zwar Dekaden und Liga-Jahrgänge kurz einordnend skizziert, doch die Autoren gehen davon aus, dass die Leser(innen) in groben Grundzügen orientiert sind und beweisen Mut zur Lücke. Deshalb picken sie unscheinbare, gleichwohl prägnante Einzelheiten auf und präsentieren sie vorwiegend in staunenswerten Listen, Grafiken, knackigen Kurztexten und Foto-Fundstücken – weit abseits jeder fanatischen „Helden“-Verehrung. Es ist eine kleinteilige, durchweg kurzweilige Lektüre, die man zwischendurch jederzeit beiseite legen kann. Doch man wird sie rasch wieder hervorholen.

Da werden beherzt so grundlegende Fragen beantwortet wie die, welche Farbe in allen bisherigen Liga-Trikots am häufigsten vorkam (Rot vor Blau), ob man mit satten 76 Punkten die Meisterschaft verfehlen kann (Ja! Schalke in der Saison 1971/72), aus welcher weitesten Distanz ein Tor direkt erzielt wurde (73 Meter) oder in welchen Bundesländern noch nie ein Erstliga-Spiel angepfiffen worden ist (Schleswig-Holstein, Thüringen, Sachsen-Anhalt).

An einigen Stellen wird es auf herrlich alberne Weise beinahe magisch: Ein gewiss mühevoll erstelltes Diagramm verzeichnet getreulich, wie viele Schnauzbartträger im Lauf der Jahre 1977 bis 2000 in der Liga aufgelaufen sind. Mit einer Art Windrose wird graphisch exakt dargestellt, in welche Himmelsrichtungen die einzelnen Stadien ausgerichtet sind; ein anatomisches Schema zeigt punktgenau und unmissverständlich an, welche Spielernamen (Gansauge, Maul, Kastrati, Woodcock) notfalls an Körperteile denken lassen.

Und natürlich purzeln Zahlen über Zahlen: Torhüter mit den meisten Gegentreffern (Eike Immel, 829), größte Stadt ohne Erstligateam (Bonn, 325000 Einwohner), effektivster Torschütze (immer noch Gerd Müller mit 0,85 Treffern pro Spiel).

Wer will die schrillsten Frisuren oder Wohnungseinrichtungen der Liga-Historie sehen? Wer will wissen, wie die größten Exzentriker, die originellsten Sponsoren und legendäre Spielerfrauen hießen? Wer mag unfreiwillig lustige Mannschaftsfotos, wer will sich bizarre Zitate von Brehme oder Matthäus und die dollsten Spieler-Doppelnamen (Jan-Ingwer Callsen-Bracker) auf der Zunge zergehen lassen?

Ja, ja und nochmals ja? Alle rufen „Hier, ich!“? Na, dann schaut doch mal in dieses Buch!

Christoph Biermann / Philipp Köster: „Fast alles über 50 Jahre Bundesliga“. Kiepenheuer & Witsch (Kiwi-Paperback), 224 Seiten, viele Illustrationen. 12,99 Euro.




„Der Minister“: Ein Taugenichts will ganz nach oben

Schon als Lausbub bedient sich Franz Ferdinand von und zu Donnersberg der Fähigkeiten seines schlauen Freundes Max Drexel. In der Schule darf er von ihm abschreiben. Später lässt er sich von ihm durchs Abitur hieven. Und als der smarte Frauenliebling Franz Ferdinand in die Politik gegangen ist, schreibt ihm Max noch die schludrige Doktorarbeit.

Große Pose in New York: Kai Schumann als Minister Franz Ferdinand von und zu Donnersberg (Bild: SAT.1)

Große Pose in New York: Kai Schumann als Minister Franz Ferdinand von und zu Donnersberg (Bild: SAT.1)

Das kommt einem doch irgendwie bekannt vor? Richtig. Die Geschichte des Freiherrn von und zu Guttenberg hat hier ganz offensichtlich über weite Strecken Pate gestanden. So eng ist die Story um den allzeit eitlen Selbstdarsteller Donnersberg (Kai Schumann) gelegentlich an wirkliche Begebenheiten angelehnt, dass man sich fragt, ob es hier nicht juristisch heikel werden könnte. Aber solche Fragen wollen wir gern den Anwaltskanzleien überlassen.

Fachwissen ist nur hinderlich

„Der Minister“ (SAT.1) gehört zu den großen Eigenproduktionen, die die deutschen Privatsender hin und wieder stemmen. Wir erleben die rasante Verwandlung eines Taugenichts und Schaumschlägers zum ministrablen Politiker, der zwischenzeitlich gar die Umfragewerte der Kanzlerin übertrifft. Ein bisschen Gel ins Haar, dann noch die richtige Brille, Ahnung von der politischen Materie ist hingegen nicht nötig, ja sogar hinderlich. Erst recht braucht man keine festen Überzeugungen. Lieber noch eine attraktive Blondine (Alexandra Neldel) geheiratet und den Chefredakteur (Thomas Heinze) der größten Boulevardzeitung, hier „Blitz-Kurier“ genannt, kennen gelernt – und fertig ist der Erfolgstyp. Als der erst einmal an der Macht geschnuppert hat, will er auch ganz nach oben, also ins Kanzleramt.

Die schier unglaubliche Handlung, die sich in einigen Grundlinien aber tatsächlich zugetragen hat, wird vorwiegend aus Sicht des zunehmend nachdenklichen Max Drexel (Johann von Bülow) erzählt, der als persönlicher Berater mit in die Ministerien einzieht und zunächst gleichfalls vom Aufstieg berauscht ist, jedoch irgendwann die ganze Posse (auch weil seine Ehe daran zu scheitern droht) leid ist und von Donnersberg („Mensch Donni, alte Kaschmirsocke!“) schließlich auffliegen lässt. Doch schon bald hat der Ex-Minister sein Comeback im Sinn; ganz wie im richtigen Leben.

Sprüche aus der Polit-Historie

Früher hat ein Helmut Dietl („Kir Royal“, „Schtonk!“, „Rossini“) solche Stoffe verfilmt. An dessen Prägekraft kommt Uwe Jansons Film beileibe nicht heran. Vor allem am Anfang stehen Drehbuch und Darsteller unter ständiger Anspannung, es herrscht haltloser Lustigkeitszwang. Fast jeder Satz muss einen schnell zündenden Gag enthalten. Sprüche aus der bundesdeutschen Polithistorie werden nahezu im Dutzend losgelassen, beispielsweise: „Wer Visonen hat, soll zum Arzt gehen.“ (Helmut Schmidt), „Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort…“ (Uwe Barschel), „Was schert mich mein Geschwätz von gestern“ (Konrad Adenauer). Und noch einige andere.

Immerhin gibt’s ein paar wirklich witzige Einfälle mit parodistischen Qualitäten und überwiegend passable Schauspielerleistungen. Allen voran: Katharina Thalbach liefert als Kanzlerin Angela Murkel (!) die treffliche Skizze einer souveränen Frau, die den ganzen Betrieb durchschaut und stets klug abwartend taktiert. So übersteht sie jeden Spuk.

Freilich gibt’s auch etliche alberne Szenen, in denen das Ganze zu Slapstick und Muppet-Show tendiert, wobei auch die landläufige Politikverdrossenheit bedient wird. Richtig gute Satiren werden wohl doch mit etwas feineren Fäden gesponnen.

Seitenhiebe gegen den Konkurrenzsender

Bemerkenswert übrigens die kaum verhüllten Seitenhiebe gegen die SAT.1-Konkurrenz RTL. Mehrfach ist da von einem offenbar dümmlichen Sender „RTO 5“ die Rede. Dessen Reporterin schildert beim Afghanistan-Trip des Verteidigungsministers von und zu Donnersberg vor allem das todschicke Kostüm der Gattin, während gleich darauf ein Mann von SAT.1 auftaucht und knallhart-investigative Fragen zu Kriegsopfern stellt. Aha. So haben wir das noch nie betrachtet.

________________________________________

Der Beitrag ist zuerst bei www.seniorbook.de erschienen




Vom Varieté bis zur Vorhölle: Die Comics und Trickfilme des Winsor McCay in Dortmund

Wer hätte das gedacht: Da präsentiert Dortmund die bislang wohl weltweit umfangreichste Retrospektive zum Werk von Winsor McCay.

Winsor Who? – McCay! Der US-Amerikaner, der von 1869 bis 1934 gelebt hat, gilt als eigentlicher Erfinder des Zeichentrickfilms, dessen frühe Standards er lange vor Walt Disney gesetzt hat. So geht die zeitsparende Folientechnik für Bildhintergründe auf ihn zurück. Überdies war er einer der genialen Pioniere des Comics.

Das Tor zum Schlummerland - Detail aus Winsor McCays "Little Nemo in Slumberland", 1906 (Bild: Katalog)

Das Tor zum Schlummerland – Detail aus Winsor McCays „Little Nemo in Slumberland“, 1906 (Bild: Katalog)

Diese besonders in Deutschland (NS-Zeit, Schundkampagne der 50er Jahre) lange unterdrückte bzw. gering geschätzte Kunstform entschied seinerzeit in den USA über Wohl und Wehe der Zeitungen. Nur wer die besten Comic-Zeichner hatte, konnte die Auflage nachhaltig steigern. Nachrichten aus Politik, Sport und Kultur waren demgegenüber fast zweitrangig. Die hatte ja, salopp gesagt, jeder. Der „New York Herald“ und später zahlreiche andere Blätter aber hatten Winsor McCay.

Die berühmtesten Serien McCays hießen „Dream oft the Rarebit Fiend“ (etwa: „Traum eines Käsetoast-Liebhabers“, ab 1904) und vor allem „Little Nemo in Slumberland“ („Der kleine Nemo im Schlummerland“, ab 1905). Vorbild dieser Kinderfigur war McCays Sohn Robert, der an Schlafstörungen litt und oft wüstes Zeug träumte. Während die irrwitzigen Käse-Episoden für ein erwachsenes Publikum gedacht waren, richtete sich Nemo in farbig gedruckten Wochenendbeilagen an ganze Familien und kam deshalb etwas entschärft daher.

Alptraumszene aus "Little Nemo in Slumberland", 1909 (Bild: Katalog)

Alptraumszene aus „Little Nemo in Slumberland“, 1909 (Bild: Katalog)

Das Kerngeschehen beider Langzeitserien, die sich über Hunderte von Folgen erstreckten, wird von phantastischen Träumen und Alpträumen bestimmt, die freilich stets unterhaltsam ausfabuliert werden. Tatsächlich findet McCay dabei zu einer fulminanten Bildsprache, die Elemente des Surrealismus vorwegnimmt und manche Fährte der Freudschen Traumdeutung kongenial vor Augen führt.

Derart tief und manchmal verstörend ist McCay ins irrlichternde, flackernde Traumreich vorgedrungen, dass es im Grunde kaum verwundert, wer sein Werk in den späten 1960er Jahren der Vergessenheit entrissen hat. Es waren Underground-Zeichner wie Robert Crumb, die in ihm gleichsam einen Vorläufer ihrer wilden und windungsreichen Trips gesehen haben. Die Ausstellung dokumentiert auch Ausläufer solcher Nachwirkungen.

Im Dortmunder Museum für Kunst und Kulturgeschichte (MKK) sind nun annähernd 200 Exponate aus allen Schaffensphasen zu sehen – zumeist ursprüngliche Entwürfe oder originale Zeitungsseiten, für die auf dem Sammlermarkt zuweilen zigtausend Dollar bezahlt werden. Schräg gegenüber im Foyer des RWE-Towers ergänzen einige zusätzliche Filme die Schau, die den Abschluss einer stark beachteten Tournee (u.a. Hannovers Wilhelm Busch Museum und Basels Cartoonmuseum) bildet – mit deutlich mehr Ausstellungsstücken als an den vorherigen Stationen.

Bildfolge aus "Dream of the Rarebit Fiend", 1913: Der Mann sagt, die Frau sei ihm ein Rätsel ("puzzle") - und schon löst sie sich in lauter Puzzleteile auf. (Bild: Katalog)

Bildfolge aus „Dream of the Rarebit Fiend“, 1913: Der Mann sagt, die Frau sei ihm ein Rätsel („puzzle“) – und schon löst sie sich in lauter Puzzleteile auf. (Bild: Katalog)

Der wahrhaft kundige Kurator der Schau, der gebürtige Dortmunder Alexander Braun, der notfalls stundenlang inspiriert und inspirierend über McCay sprechen kann, ist froh, dass just ein honoriges kulturgeschichtliches Museum den Schlusspunkt setzt, denn die anderen Stätten der Rundreise sind auf humorige Darstellungsformen spezialisiert. Hier aber erfahren die Comics nun die Nobilitierung, die solchen Künstlern und ihren Hervorbringungen gebührt. Heute nennen die Feuilletons bessere Comics ja auch ganz vornehm „Graphic Novels“.

Gewiss: Die Ursprünge McCays lagen im Varieté, im Vaudeville und in damals grassierenden Freak Shows. Mit seinen Filmen und sonstigen Vorführungen (z. B. als Schnellzeichner) hat der Workaholic, der bei Tag und Nacht in Schöpferlaune war, auch Jahrmarkts-Gelüste bedient, wie denn überhaupt das Kino anfangs eine Art Kirmesvergnügen gewesen ist und keine sonderlichen Hochkultur-Ambitionen gehabt hat.

Doch sowohl seine Filme als auch die Comics überwinden sehr rasch, ja quasi von Anfang an das starre Schema anderer Zeichner. Man sieht es schon am stets dynamisch wechselnden Zuschnitt der Bildformate, die – im Dienste der jeweiligen Geschichte – bis ins Extreme gehen können. Da werden beispielsweise ganze Bildfolgen mittels Zerrspiegel-Ästhetik in groteske Längenmaße gedehnt, andere verwirren durch endlose Treppenlabyrinthe. Und was der tausend Ideen mehr sind.

Zeichnung zum Trickfilm "Gertie, der Dinosaurier", 1914 (Bild: Katalog)

Zeichnung zum Trickfilm „Gertie, der Dinosaurier“, 1914 (Bild: Katalog)

Virtuos jongliert McCay mit den Zeichen- und Druck-Techniken des noch neuen Mediums, spannt weite, geradezu literarische Erzählbögen über viele Folgen hinweg und begibt sich alsbald immer mal wieder auf hintersinnige Meta-Ebenen, indem er etwa Dialoge mit seinen eigenen Figuren führt, die sich über schlampige Ausführung beschweren oder gleich in Tuscheflecken ertränkt werden. Höchst subtil sind Linienführung und Farbgebung, die durchaus an die Größen des Jugendstils heranreichen.

Und welche Visionen hatte dieser Selfmademan, der es übrigens zu einigem Wohlstand brachte! Zum US-Feiertag Thanksgiving denkt er sich einen Riesen-Truthahn aus, der ganze Häuser vertilgt – lange vor solchen Kinomonstern wie King Kong oder Godzilla. Seine immense Vorstellungskraft stellt er gelegentlich auch in den Dienst politischer Propaganda, so mit einem famosen Trickfilm über den Untergang der „Lusitania“ am 7. Mai 1915, die von einem deutschen U-Boot vor der irischen Küste versenkt worden war.

Fotografie von Winsor McCay, 1906 (Bild: Katalog)

Fotografie von Winsor McCay, 1906 (Bild: Katalog)

Dieser schreckliche Vorfall bewog die öffentliche Meinung in den USA, im Ersten Weltkrieg gegen Deutschland Stellung zu beziehen. Die Kriegserklärung folgte allerdings erst rund zwei Jahre später. Fürs Zeitungs-Imperium des Verleger-Tycoons Randolph Hearst, der ebenfalls in diesem Sinne gegen Deutschland agitierte, illustrierte McCay in jenen Jahren zahlreiche Leitartikel.

McCays Lusitania-Film nimmt Sequenzen vorweg, wie sie später die großen Katastrophenfilme geprägt haben. Und man traut seinen Augen nicht, wenn die Menschen (sich) en masse vom Schiff stürzen. Hat da einer etwa schon Schrecknisse wie die des 11. September 2001 vorausgesehen? Sagen wir so: Wie viele andere Künstler, so hatte auch McCay einen geheimen Zugang zur Vorhölle, er war in der Lage, überzeitliche Formen des Urbösen zu imaginieren.

Zweierlei sollte man als Besucher jedenfalls mitbringen: Erstens viel Zeit, um sich auf die Bildfolgen einzulassen. Zweitens einigermaßen belastbare Englisch-Kenntnisse, sonst hat man von all dem leider ziemlich wenig.

Winsor McCay – Comics, Filme, Träume. 23. Februar bis zum 9. Juni 2013. Museum für Kunst und Kulturgeschichte, Dortmund (Hansastraße 3). Eintritt 6 Euro, ermäßigt 3 Euro. Katalog 49 Euro. Geöffnet Di, Mi, Fr, So 10-17, Do 10-20, Sa 12-17 Uhr. Mo geschlossen. Infos über Führungen 0231/50-26028. Internet: www.museendortmund.de
Ergänzende Filmschau im RWE-Tower, Freistuhl 7. Vom 25. Februar bis zum 12. April 2013, werktags 9-18 Uhr (von außen durchs Schaufenster 24 Stunden lang zu sehen), Eintritt frei.




Wagner als Schenkelklopfer: „Mnozil Brass“ im Konzerthaus Dortmund

Kinderüberraschung: "Mnozil Brass" feiert den 200. Geburtstag von Richard Wagner mit dem humoristischen Programm "Hojotoho!" (Foto: Mnozil Brass/Cartsten Bunnemann)

Kinder Überraschung: „Mnozil Brass“ feiert den 200. Geburtstag von Richard Wagner mit dem humoristischen Programm „Hojotoho!“ (Foto: Mnozil Brass/Carsten Bunnemann)

Wagalaweia, wer schnappt sich die Wurst? Das Waldvögelein wird flugs zur diebischen Elster. Auch andere Tiere entwickeln mächtig Appetit ob der Leckerbissen, die Siegfried aus seinem Wanderrucksack kramt. Zum Glück braucht es nicht viel, um den tumben Trottel abzulenken.

So wild Siegfried auch mit dem Holzschwert fuchtelt: Eine Wurst nach der anderen wird ihm gemopst. Viermal staunt er hierüber Bauklötze, dann kratzt er sich vor Verlegenheit mit dem Schwert den Rücken. Aber ach, er gerät dabei an das Eichenblatt, das Wotan ihm zuvor aufs Schulterblatt gepappt hat. Da liegt er denn tot, der traute Tor. Und das Publikum johlt vor Vergnügen, während die Musiker des Blechbläser-Ensembles „Mnozil Brass“ einen Trauermarsch anstimmen.

Der humoristische Beitrag zum 200. Geburtstag von Richard Wagner, den die sieben Österreicher nach der Uraufführung in Bayreuth nun auch im Konzerthaus Dortmund vorstellten, bietet zwei Stunden lang Nonsens zum Schenkelklopfen. Unter dem Titel „Hojotoho!“, bekannt als Schlachtruf der Walküre, ist Wagner zum Totlachen angesagt. Um Leitmotive effektvoll durch den Stilmixer zu jagen, hampeln sich die Gralsritter des virtuosen Blechs durch eine dramaturgisch sinnfreie Abfolge von Szenen, die fern an die Hanswurstiaden des Alt-Wiener Volkstheaters aus dem 18. Jahrhundert erinnert. Dem Oberhanswurst Thomas Gansch (Trompete), mit Backenbart und Baskenmütze unschwer als Widergänger des Meisters zu erkennen, machen freilich sechs Nebenhanswürste Konkurrenz, die auch alle zeigen wollen, was sie drauf haben.

Das führt zu Clownerien wie aus der Roncalli-Manege. Regisseur Philippe Arlaud, der in Bayreuth einst einen quietschbunten „Tannhäuser“ inszenierte, macht aus dem tollen Treiben einen musikalischen Kindergeburtstag. Gefeiert wird mit Partytröten und spitzen Papier-Hütchen. König Ludwig streut Schwanenfedern (Roman Rindberger, Trompete), Siegfried träumt unter dem „holden Abendstern“ von Amerika (Robert Rother, Trompete), Wotan versucht mit dem Dirigentenstab einen Teddybären mit Augenklappe zu erstechen (Leonhard Paul, Posaune). Das Spiel mit solchen Symbolen bleibt indes oft unverständlich. Im Publikum, das sich ansonsten wie Bolle amüsiert, ist immer wieder auch Verunsicherung zu spüren. War das jetzt eine Pointe? Dürfen wir lachen? Dass die äußerst aufwändige Licht-Regie von Philippe Arlaud an diesem Abend nicht ohne Patzer funktioniert, trägt mit zur Verwirrung bei.

In der virtuosen Beherrschung ihrer Instrumente zeigen sich „Mnozil Brass“ aber über jeden Zweifel erhaben. Kein Ton ist den Musikern zu hoch, kein Arrangement zu schwer. Mühelos gleiten sie vom deutschen Leitmotiv-Dschungel in den Big-Band-Sound amerikanischer Großstädte, vom Meistersinger-Vorspiel in eine Tschaikowsky-Sinfonie und vom Tannhäuser zum Tango. Ihr komisches Talent und ihre Entertainer-Qualitäten verjuxen sie indes auf niederem Niveau. Es braucht einfach mehr als Blödelei und Stepptanz-Einlagen, um einem Genie wie Richard Wagner mit Humor beizukommen. Vicco von Bülow alias Loriot hat das gewusst, als er mit wenigen Worten den gesamten „Ring des Nibelungen“ aufspießte. Wo er auf feingeistigen Spott und Hintersinn setzte, macht sich heute breit, was als „Comedy“ über TV-Kanäle flimmert. Lustig? Billig? Ach, egal. Es ist eh’ alles Wurst.

__________________________________________________

Informationen zu Mnozil Brass: www.mnozilbrass.at

(Der Bericht ist zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen).




„Kultgarage“: Was Kabarett mit Brandschutz zu tun hat

Seit drei Jahren gibt es das ungewöhnliche Experiment der „Kultgarage“ in Ennepetal: Die örtliche Sparkasse lädt junge Nachwuchs-Kabarettisten in ihr Haus ein und lässt sie frei schalten und walten. Kultgarage heißt die Reihe, weil sie ursprünglich in der ausgeräumten Tiefgarage der Bank stattfand – bis die örtlichen Brandschutzmeister einschritten. Seitdem findet die Unterhaltung im Veranstaltungssaal der Sparkasse statt.

Thilo Seibel

Thilo Seibel

Fünf Abende sind für 2013 bereits gesichert. Die Kurzbeschreibung der Künstler stammt vom Veranstalter:

Stefan Waghubinger – 10. Mai 2013

Von Benjamin Blümchen im Schlafzimmer über die ultimative Lösung der Klimakatastrophe bis zur Nahtoderfahrung beim Zahnarzt – niemand scheitert schöner am Leben. Stefan Waghubinger jammert auf höchstem (Bildungs-)Niveau.

Thilo Seibel – 14. Juni 2013

Ein Polit-Handwerker greift durch: Egal ob Griechenland-Krise, Wasserschaden oder Krankenhausnotaufnahme wegen verhakter Intimpiercings beim Seitensprung – der Fachmann weiß: Das wird teuer!

Barbara Ruscher – 12. Juli 2013

Warum schweigt der Mann am Grill? Weil er sich schämt, dass er die Wurst nicht selbst gejagt hat? Warum werden zigtausend Legehennen notgeschlachtet, nur Ursula von der Leyen nicht? Panierfehler! Ein Fischstäbchen packt aus…

Mia Pittroff – 9. August 2013

Humor, trocken wie Heizungsluft, gute Beobachtungen und wunderbar groteske Bilder, das sind die Markenzeichen von Mia Pittroff. Ein Fan: „Wie der frühe Polt. Nur weiblich halt …und hübscher!“

Hans Gerzlich – 13. September 2013

Wenn Sie reich sind, werden Sie erfahren, woher Ihr Geld kommt. Wenn Sie nicht reich sind, werden Sie erfahren, warum Sie es auch nicht mehr werden. Alles hängt zusammen: Sie können sich am Hintern ein Haar ausreißen, dann tränt vorne Ihr Auge.

Immer freitags, Einlass immer 19:30 Uhr, Kultstart immer 20:00 Uhr In Ennepetal-Milspe, Sparkassen-Souterrain, Eingang Südstraße.

Karten unter Telefon(0 23 33) 97 93 00.

 

 




Ansichten eines Hörbuch-Junkies (3): „Er ist wieder da“

Schwarz auf Weiß, ein Seitenscheitel, der die Strähne von rechts nach links über die Stirn schwenkt, da, wo man das albern-kurze Bärtchen vermutet, steht der Titel geschrieben: „Er ist wieder da“.

Das weltbekannteste Piktogramm, gleichauf mit dem des Comandante Che Guevara, gibt Timur Vermes‘ Erstling den Titel und dem darauf folgenden Hörbuch die Covergrafik. Das weckt eine gewaltige Spannung auf unmittelbar bevorstehende Inhalte, die im Falle des Hörbuches nur von einer mit dem Grimme-Preis gekrönten Stimme eingelöst werden können: der von Christoph Maria Herbst. Und sie tut es brillant.

Wenn ein Text das Hörbuch geradezu herbeiruft, dann ist es der von Timur Vermes. Gleichzeitig stellt er den Sprecher, also in diesem Falle den Ich-Erzähler, vor eine besondere Herausforderung: Einerseits das Hitlerorgan so zu intonieren, dass der komödiantische Aspekt hörbar bleibt und gleichzeitig die Überzeichnung nicht so weit ins Skurrile zu treiben, dass die Parodie ins Alberne abgleitet. Herbst kann das, hält die sicher extrem anstrengende Bemühung während des gesamten Textes aufrecht und kriegt ein Kunststück hin, dass mein Magen ganz flau wird.

Adolf Hitlers Stimme trieb mich seit ich denken kann entweder in innere Wut, hassähnliche Gefühle oder Ekel. Vermes/Herbst schaffen es, nahezu sympathische Anwandlungen zu vermitteln, denn was dem schlimmsten Täter aller Zeiten im Hier und Jetzt geschieht und wie es ihm geschieht, das ist nicht mehr lustig, sondern kommt der Menschen- und Medienwirklichkeit so erbärmlich nahe, dass die Erschaffer beider Wirklichkeiten sich in Grund und Boden schämen müssten.

Adolf Hitler wird eines Tages wach, im Berlin der heutigen Zeit, übel nach Waschbenzin riechend und als erste Lektüre einen Elektromarkt-Katalog studierend – und natürlich stumm staunend, wie das Berlin sich verändert hat, das er aus bekannten Gründen freiwillig und zum Schluss Benzin getränkt nebst Gattin quasi als Lichtgestalt (so sieht er sich nach wie vor) verlassen hat. Erste Zuflucht findet er bei einem Kiosk-Inhaber, der ihm die ersten Schritte weist, ihn einkleidet und ihn überredet, seine müffelnde Uniform säubern zu lassen – bei einer migrationshintergründig geführten Reinigung.

Nach ersten kleinen „Volksreden“ und vergeblichen Versuchen, die Umgebung davon zu überzeugen, dass er wirklich Adolf Hitler sei, gilt er als kauziger Amateur-Komödiant, der seine Rolle so überzeugend spielt, dass schon bald mediales Interesse unvermeidlich wird. Vertreter einer TV-Produktionsfirma nehmen ihn unter ihre Fittiche, feilen mit ihm an seinen „Auftritten“ und dienen ihn alsbald einer Standup-Comedy-Show an, deren Frontmann, migrationshintergründig wie es sich versteht, er, der falsch-echte Adolf Hitler flugs die Schau stiehlt.

Langsam die Propaganda-Mechanismen von heute verstehend („Was Goebbels wohl daraus gemacht hätte?“) und sich listig ihrer bedienend, lässt er sich auf Kämpfe mit dem Boulevard ein, lässt vor laufender Kamera den NPD-Bundesvorsitzenden stramm stehen und bedeutet ihm wortreich, dass dieser sein Haufen auf den Müll gehöre, steckt handgreifliche Prügel von düsteren Neonazis ein und erhält nach Ausstrahlung des Filmes über seine NPD-Schelte den Grimme-Preis. Immer zwischen Grinsen und Grauen hört mensch sich das an und stellt nüchtern fest, dass es sich wohl so abspielen könnte, wenn er „wieder da“ wäre.

Weder d a s Boulevard noch Funk und Fernsehen, weder die etablierten Parteien, die samt und sonders um seinen Beitritt buhlen, noch Werbung oder die Menschen auf der Straße können sich anscheinend der ebenso simplen wie eingängig verkündbaren Botschaften entziehen, die das „R“-rollende Männlein ausstreut. Und was sie missverstehen wollen, das deuten sie um in phänomenale Satire. Das gibt gruselige Gefühle.

Gnadenlos gut, ungemein boshaft – kaum jemand, der im vermeintlich großen Spiel mitspielt, bleibt davon verschont – und entlarvend gesellschaftsspiegelnd ist Timur Vermes‘ erstes Buch. Ich bin echt mal gespannt, wie er das noch toppen will.

Timur Vermes: „Er ist wieder da“, Hörbuch, gelesen von Christoph Maria Herbst, Lübbe Audio, 6 CDs, 411 Minuten. 19,33 (!) Euro (als gedruckter Roman, gebundene Ausgabe, bei Eichborn zum selben Preis).




Albus und Debus lassen nicht locker: Das Ruhrgebiet muss endlich Hauptstadt werden !

Ein einflussreiches US-Magazin schmäht Berlin – und schon wird dort im vorauseilenden Gehorsam fieberhaft überlegt, ob man nicht eine neue Hauptstadt braucht. Zur Auswahl stehen München, Hamburg, Köln – und das Ruhrgebiet. Hossa!

Auf geht’s. Kanzlerin Merkel beauftragt den Berliner Sozialwissenschaftler John Fettersen mit der heiklen Angelegenheit. Dessen Gewährsfrau fürs Revier ist die zungenfertige (vulgo: geschwätzige) Mia Mittelkötter, mit je einem Bein im Sauerland und in Dortmund daheim. Fettersen muss die Dame brieflich intensiv nach etwaigen Vorzügen des Ruhrgebiets befragen.

Daraus entspinnt sich – wenn auch anders als jüngst bei Martin Walser („Das dreizehnte Kapitel“) – das Hin und Her eines Briefromans. Der heißt wortspielneckisch „In der Ruhr liegt die Kraft“ und ist eine gemeinsame Schöpfung der Kabarettistin Lioba Albus und des Journalisten Lutz Debus. Beide streuen auch ein paar autobiographisch inspirierte Prisen ins Geschehen ein.

Im Lauf der brieflichen Erörterungen werden jedenfalls Liebesbande geknüpft. Einmal entflammt, geht die mit einem Ex-Kartenkontrolleur frustig verheiratete Mia verbal dermaßen ran, dass selbst der erotisch heftig verklemmte Fettersen mählich auftaut. Ob sie sich wohl kriegen? Wir verraten nix. Allerdings wird der verkorkste Fettersen für seine Verhältnisse ziemlich gesprächig und flüstert Mia was von Jugendschwänken, beispielsweise mit Theodora und der Hure „Luna“, die er seinerzeit in Dortmund rund um Mallinckrodtstraße und Fredenbaumpark – nun ja. Je nun. War da was?

Ob das Ruhrgebiet wenigstens hier echte Chancen hat, neue deutsche Hauptstadt zu werden? Wenn’s nach Mia ginge, dann unbedingt. Hier, wo die Gefühle nur auf angenehmer Sparflamme köcheln („Ein Ruhri, der freut sich mehr so nach innen“), sind ohnehin alle Nationen beisammen, eine Mauer könnte man auch errichten, etwa rund um das Elendsmuseum Gelsenkirchen. Die regional ansässigen Bordellbetriebe bieten genug Entspannung für abgeordnete Biederleute aus CSU und anderen Fraktionen, die fern der Heimat kräftig was erleben wollen. Vom mitunter exquisiten Fußball und anderen dicken Pluspunkten gar nicht erst zu reden.

Kurzum: Warum sollte ein US-Präsident nicht eines Tages vor aller Welt ausrufen „Ich bin ein Dortmunder!“

Klingt unterhaltsam, nicht wahr? Ja. Da sind etliche Ansätze vorhanden. Auch gibt’s einige hübsche Portionen Lokalkolorit.

Aber: Auf einer nicht gerade geschickt layouteten 140-Seiten-Strecke, die einen schlankeren Satzspiegel verdient hätte, wirkt die eine oder andere Ausführung denn doch ein wenig umständlich.

Nicht alle Ideen und Gags sind vollends zur Güte gereift; zuweilen wird beherzt der nächstliegende Lachstoff versprüht, statt mehr aus dem Hinterhalt zu agieren.

Sieht ganz so aus, als hätte dieses allererste Buch im neuen Dortmunder FönNixe Verlag (Inhaber: just Albus und Debus) partout vor der Buchmesse fertig sein sollen. Hat ja auch geklappt. Ein gewisses regionales Interesse (wohl mit baldigem Verfallsdatum) dürfte dem Buch beschieden sein.

Nun gut. Die Geschichte, die gegen Schluss geheimdienstlich gefährlich zu werden droht, kulminiert (wo sonst?) im Dortmunder Stadion beim Match gegen Bayern München. Auch das erfreuliche Resultat auf dem Platz wird hier nicht verraten.

Lioba Albus/Lutz Debus: „In der Ruhr liegt die Kraft“. FönNixe Buchverlag, Dortmund. 140 Seiten. 11 Euro.

P.S.: Der Transparenz wegen sei’s gesagt, dass ich mit beiden Buchautoren via Facebook befreundet bin. Aber wie lange noch?




Der Spießer von heute sagt „ätzend“ und „geil“

Da bin ich ganz voreingenommen: Es gibt nicht allzu viele Autoren, auf deren Bücher ich mich im voraus so freue, wie auf die jeweils neuesten Hervorbringungen von Max Goldt.

Ahhhh, da ist er also endlich eingetroffen, der neue Goldt. Mal sehen. Mal anblättern. Und sogleich möchte man jubilieren: „Ja, ja, ja. So ist es.“ Wenn Goldt nämlich zu Beginn von „Die Chefin verzichtet“ den allwöchentlich republikweit exerzierten, neudeutsch strotzenden Feuerwerkswahn geißelt: „…vielmehr glauben manche mittlerweile, sie hätten ein Recht darauf, enthemmt durch Suff und Gruppenzwang, Explosionen zu verursachen.“ Über pyromanische Fußball-Randalos mäandert der Text sodann in bester goldtscher Manier bis hin zu absurden Seilbahn-Szenen mit US-Christen der dumpf fundamentalistischen Sorte. Herrlich! Wer sonst kommt so produktiv von Holz auf Stock?

Nun gut. Nicht alle Texte des Bandes sind dermaßen stark. Doch es ist zumeist eine Lust, wie dieser begnadete Kolumnist (diese Bezeichnung ist eigentlich eine Untertreibung) gängige Meinungsschemata aller Arten unterläuft, und zwar vollkommen unabhängig von etwaigen politischen Tönungen. Goldt erwischt beinahe alle, die es verdienen, so auch „die Stänkereien reaktionärer Giftknilche, die in jeder Frauenbeauftragten den Leibhaftigen sehen. Und sich bei ihrem Herumgepeste im Internet vorkommen wie Widerstandskämpfer…“ Kann man’s trefflicher sagen? Schwerlich.

Unfähige junge Hotel-Rezeptionistinnen ereilt ebenso der Bannstrahl wie das Elend der heutigen Buchgestaltung, die immergleiche Mimik eines gewissen Günter Grass („grantig und selbstgerecht“) oder die Machwerke des „spirituellen Volksverhetzers Paulo Coelho“. Sagt selbst: Hat jemand diesen Säusel-Schreiberling schon genauer charakterisiert?

Goldts Vortrag über den Wandel der Begriffe „Spießer“ und „Kleinbürger“ erspart wohl so manches sozialwissenschaftliche Seminar, auch ist er den meisten Kabarettisten im beherzten Zugriff voraus. Nur mal stichwortartig hingeworfen: „Sexy“ ist demnach das neue „spießig“. Der Kleinbürger von heute dünstet längst nicht mehr nach Rosenkohl, sondern mampft Pizza, sagt „geil“ und „ätzend“, „sexy“ und „lecker“. Richtig, diese Leute kennt man doch zur Genüge!

Doch Vorsicht: Manchmal könnte man auch selbst gemeint sein. Goldt arbeitet sich zur Hypothese vor, die von einer allgegenwärtigen Diktatur des Pop und des kommerziellen Sports ausgeht und verdammt plausibel klingt. Wir sollten uns das mal zu Herzen nehmen.

Mag sein, dass das eine oder andere verbliebene Qualitäts-Feuilleton schon in ähnliche Richtungen gezielt hat, doch Goldt setzt meist noch einen bis fünfe drauf. Seine Abhandlungen z. B. über kaum noch unterscheidbare TV-Talkshows, das unheimliche Faszinosum namens Sahra Wagenknecht, die Selbstdegradierung durch fade imitierten „Glamour“ bei heute gängigen Abi-Bällen, den fernsehüblichen Sprachmüll (auch bei Phoenix und 3Sat) oder das kennerhafte Getue beim Weintrinken sind einfach exquisit.

Am Schluss möge ein Zitat stehen, das die derzeit arg ins Stocken geratene Evolution der Spezies Mann aufgreift: „Besteht denn gar kein Wunsch, nach all den Jahren, die hinter uns liegen, mal wieder etwas anderes zu sehen als kahlrasierte, tätowierte Freizeitgrobis?“ Und jetzt alle im Chor: Doch, doch, der dringliche Wunsch besteht!

Max Goldt: „Die Chefin verzichtet“. Texte 2009-2012. Rowohlt Berlin. 159 Seiten. 17,95 Euro.




Zum Tod von Dirk Bach: Nun sind viele Bühnen ärmer

Sein adipöses Äußeres – 110 Kilogramm auf 168 Zentimeter Körperhöhe verteilt – nährte schon lange die Befürchtung, dass es um die Gesundheit des Dirk Bach ergänzungsbedürftig bestellt sein muss. Im Laufe der Jahre mehrte sich die Zahl seiner Doppelkinne bedenklich, hätte er eine Halskette getragen, wäre ein Lesezeichen praktisch gewesen, um diese wiederzufinden. Er nahm fröhlich jede sich anbahnende Anspielung auf sein umspannendes Gewicht vorweg („Ich bin dick im Geschäft“) und verkörperte im wahren Wortsinne die verschmitzt hintersinnige gute Laune eines wahrhaft knuddeligen Typen. Dirk Bach starb mit nur 51 Jahren, sein Tod macht die Gilde der deutschen Komiker ärmer und nimmt der Schauspielerei einen außergewöhnlichen Künstler.

Dirk Bach begann seinen Berufsweg, den er leidenschaftlich angriff, 1980 mit einer Rolle im „Prometheus“ von Heiner Müller, die er in verklärender Erinnerung als „erhaben“ gefühlt hat. Klar, und das war Dirk Bach, er musste unter anderem auf einem zwei Meter hohen Stahlstuhl sitzen. Er, der nie Schauspielerei an Instituten gelernt hatte, spielte in London, Amsterdam, Brüssel und sogar in New York. Dirk Bach nahm den Max Ophüls-Preis entgegen und wurde 1992 festes Ensemble-Mitglied am Kölner Schauspielhaus. Er sprach Kafka ebenso grandios wie „Urmel aus dem Eis“ und konnte mit seiner „Dirk Bach-Show“ selbst Gottschalks Late-Night-Quoten übertreffen. Er genoss die ungeteilte Förderung durch Alfred Biolek, wurde von Franz Xaver Kroetz als Darsteller gewünscht und für den bereits zitierten „Prometheus“ hatte ihn Hansgünther Heyme erkoren.

Was indes in Erinnerung bleibt, sozusagen der assoziative Schnellschuss zur Namensnennung, das ist die künstliche Hochebene über dem australischen Dschungel, auf der das grellbunte Würfelchen (assistiert von Sonja Zietlow) kongenial aufgeschriebene Läster-Dialoge über C-Promis mit dahinscheidendem Ruhm kübelt und liebenswert-hämisch den finalen Rettungsruf „Ich bin ein Star, holt mich hier raus!“ skandiert. Nur diese beiden und ihre teils ätzenden Gespräche über die Schar würdearmer Selbstdarsteller/innen im grünen Basement machte die merkwürdige Show so attraktiv. Vermutlich wird sie nun „dermaßen an Bach“ verloren haben, dass sie als wahres TV-Leichtgewicht verkümmern dürfte.

Seine privaten Engagements bei „Amnesty international“, im Tierschutz oder sein hartnäckiges Ringen um die gleichberechtigte Anerkennung homosexueller Paare gehören ebenso zu dieser kleinen, aber wesentlich (ge)wichtigeren Person als gemeinhin angenommen wird. Dirk Bach – daheim im Millowitsch-Theater ebenso wie im Dschungelcamp – hat alle seine Bühnen zu früh verlassen. Und er war auf jeder (wie es das Fachorgan „Die Deutsche Bühne“ schrieb) „mit sich selbst identisch“.

Heute morgen schlug ein WDR5-Hörer vor, Dirk Bach möge posthum mit dem diesjährigen Fernsehpreis geehrt werden, dessen Gala heute Abend stattfindet. Ich schließe mich diesem Hörerwunsch an.




Alles mehrt sich mehr und mehr

Es nervt seit geraumer Zeit und sicherlich haben schon Leute darüber geschrieben. Doch sei’s drum. „Wiederholung schafft Verständnis“, wie es unter scherzbereiten Journalisten heißt, wenn sie drauf und dran sind, eine Doublette zu verzapfen.

In den Zeitungen grassiert seit jeher, doch selbstredend zunehmend, also immer mehr das „Immermehr“ (etwa so: „Immer mehr Blondinen unter 25 gehen zum Schönheitschirurgen“, „Immer mehr Päpste wohnen im Vatikan“ o. ä.), auch wenn es nur um erstunkene Bruchteile von Steigerungsprozentsätzen geht. Der Herr gebe ihnen ihre tägliche Trendgeschichte. Mega. Turbo. Jumbo. Hechel. Lechz.

(Foto: Bernd Berke)

(Foto: Bernd Berke)

Das erbarmungswürdig schlichte Mehr (gern auch in schenkelklopfträchtigen Wortspielen mit „Meer“ verballhornt, so wie Leere und Lehre allzeit miteinander als Flachwitze krepieren) ist also immerzu – aaargh! – „angesagt“.

Folglich benennen Hinz und Kunz ihre Projekte nach dem Muster „Kneipe und mehr“, „Haarschnitt und mehr“ oder dergleichen. An jeder zweiten Ecke begegnet einem diese Mehrerei. Es ist zum Haareraufen.

Eins bis fünf und mehr... (Foto: Bernd Berke)

Eins bis fünf und mehr... (Foto: Bernd Berke)

Gibt man die Wortfolge „und mehr“ in die Suchmaschine seines Vertrauens ein, so wird man beispielsweise vorfinden: „Leonardo – Wissenschaft und mehr“ (WDR-Sendung), „Tiergesundheit und mehr“, „Arbeit und mehr“ (Personalvermittlung), „Schilddrüse und mehr“, „Afrika und mehr“ (Reiseangebote) oder „Hefe und mehr“ (Backtipps). Die Zahl der Beispiele ließe sich nahezu beliebig steigern. Wer findet noch absurdere?

Es ist nur eine Frage der Zeit, wann der erste Arzt „Heilen und mehr“ offeriert, Anwaltskanzleien „Klagen und mehr“ verheißen oder ein Bordell mit „Vö**** und mehr“ lockt.

Da wird einem rundum etwas vorgegaukelt. Der so genannten Phantasie wird ein so genannter Spielraum gelassen. „Kneipe und mehr“, das heißt doch eventuell: …und Seelentrost …und Wohlfahrtsinstitut …und Drogenberatung …und Partnerbörse …und Alltagskulturstätte. Und. Und. Und. Kneipe und alles. Oder halt nix.

Stöbert man öfter in Feuilletons, so fällt einem jetzt vielleicht einer der dämlichsten aller Rezensionssätze ein, nämlich dieser hier: „Weniger wäre mehr gewesen.“ Auch malt man sich womöglich den ultimativen Titel einer Kunstschau aus: „Vermeer und mehr“.

Was denn, was denn? Sie lassen gerade den Blick nach oben links auf dieser Seite schweifen? Und Sie finden dort als Untertitel der Revierpassagen die nichtswürdige Floskel „Kultur und mehr…“?

Das kann doch wohl nicht wahr sein. Das wäre ja peinlich. Da lassen Sie sich mal schleunigst etwas Besseres einfallen!

________________________________________________

Nachtrag am 29. September:

Der Untertitel dieses Blogs lautet jetzt nicht mehr „Kultur & mehr…“, sondern „Kultur & weiteres…“ Auch keine Offenbarung, aber immerhin.




Über Amateurfilmchen, Massenmedien und Pawlowsche Reflexe

Nun melde ich mich auch noch zu diesem Thema, eine Person, deren Stimme kaum Gehör findet, eine Person, die niemals über die  Medienkompetenz einer Alice Schwarzer verfügen wird, eine Person, die noch als Quark im Schaufenster stand, als Peter Scholl-Latour bereits die ungeteilte Islam-Fachmannschaft erworben hatte. Warum also melde ich mich zu Wort und gebe meinen Senf dazu, wo sich seit Tagen jede Menge Sach- und Fachkundige in die (wäre es nicht so traurig, würde ich sagen Lachgeschichten, aber ich nenne es: Debatte) überwürzend eingemischt haben?

Ich unternehme es, weil ich als Agnostiker weder bei der Darstellung eines inkontinenten Papstes noch bei wie auch immer gearteten Zerrbildern eines orientalischen Propheten, dem islamische Festgläubige gottgleiche Unantastbarkeit attestieren, in protestierende Leidenschaft verfalle. Vielmehr beurteile ich nach meinem, meinem eigenem Geschmack, ob Darstellungen dieser oder anderer Personen mit geschichtlich überlieferter Gottesnähe gut oder schlecht gemacht sind, ob sie gekonnt oder nicht einmal bemüht satirisch sind, eben ob sie was taugen oder einfach blöd sind.

Nun ist der inkontinente Papst ziemlich blöd – nach meinem, meinem eigenen Geschmack, weil diese Darstellung eines Menschen (ja, das ist der heutige Benedikt für mich, ein Mensch) respektlos daherkommt. Und Menschen haben nun einmal meinen Respekt so lange, bis sie hartnäckig und ausdauernd nachgewiesen haben, dass sie ihn nicht verdienen. Ratzinger, der heutige Benedikt, ist noch nicht so weit.

Ebenso blöd soll ja das Amateurfilmchen sein, das von wem auch immer ins Netz gestellt und nun von wilden Horden weltweit bekannt gemacht wurde, weil sie Menschen töten und Botschaften anzünden. Warum, wenn das nicht geschehen wäre, hätte mensch sich so einen Blödsinn anschauen sollen, wenn nicht aufgrund der Neugierde, was denn da so einen schlimmen Auslöser darstellt für den kompletten Irrsinn. Ich habe es mir bis heute verkniffen, werde es auch weiterhin tun, rege mich aber dennoch nachhaltig auf, weil die vom Amateurfilmchen ausgelösten Mechanismen so ungemein berechenbar sind: Ich drücke auf den Klingelknopf, und, Pawlowsche Reaktion, der Sturm bricht los, weil Zeitgenossen, die ohnehin jede Gelegenheit zur Gewalt im Schutze einer Masse suchen, mal wieder losgelassen sein wollen. Hier ein Fußballmatch, da ein unkontrolliertes Balzverhalten, dort ein Amateurfilmchen.

Zweite Pawlowsche Reaktion: Sämtliche Medien, jede Zeitung, jede Talkshow beginnt mit Exegese-Versuchen und erklärt den ungläubigen Lesern, Zuschauern, Zuhörern, was warum geschehen ist, bedient sich dabei mehr oder minder exponierter Fachleute und gibt denen wieder einmal Gelegenheit, sich selbst darzustellen. Hier sind es die Weisen und um jede erdenkliche Sachlichkeit Bemühten, dort sind es diejenigen, die ebenso weise dreinschauen, aber an Sachlichkeit eher minderes Interesse haben.

Dritte Pawlowsche Reaktion: Machthaber und solche, die um Macht fürchten, sorgen erfolgreich dafür, dass ihre Mitmenschen auf jeden Fall zu Gesicht bekommen, worüber sie sich furchtbar aufregen sollen, damit sie ordentlich die Straße aufrühren und die Öffentlichkeit davon ablenken, was eigentlich viel aufregender wäre – unmenschliche Behandlung durch die Machthaber.

Ich räume ein, dass ich arg holzschnittartig beschrieben habe, was mir durch den Kopf geht, ich räume ebenfalls ein, dass noch viel vielschichtiger über das Phänomen debattiert werden kann. Aber so gern ich das tue, ich bin zu ärgerlich dazu, weil diese Automatismen mir auf den Nerv gehen. Ich habe sie wohl einfach zu häufig erlebt, wenn auch in unterschiedlicher Verkleidung.

Bleibt noch die Frage, ob man Amateurfilmchen welcher Herkunft auch immer die Aufführung gesetzlich verweigern sollte. Verweigern sollte man sie, die Aufführung, gesetzlich: nein! Sie und vieles andere sind nicht satirisch, eher dämlich. Daher stellen sie meiner Ansicht nach weder eine Kunstform noch einen schützenswerten Ausdruck der freien Meinung dar. Dennoch, sie gesetzlich zu verbieten, verbietet sich schon deshalb, weil Verbotenes – namentlich über das Internet Verbreitbares – Anlass zu hemmungsloser Neugierde bietet und es damit nur interessant macht. Am aktuellen Beispiel: Sofern denn Dummheit verboten gehörte, dürfte Mitt Romney nicht mehr über Talkshows verbreitet werden. Das will keiner, denn selbst Romney darf jeden Blödsinn öffentlich erzählen, der ihm in den Sinn kommt.

Was lehrt uns das? Viel schlimmer als jeder dämliche Amateurfilm ist der Bericht über ihn, oder der chronistische Hinweis auf seine extrem dämlichen Inhalte und abschließend die Debatte über ein mögliches Verbot seiner Aufführung, denn das alles macht blöde Amateurfilmchen für Massenprotest oder Massenapplaus erst richtig bekannt.




50 Jahre danach: „Pardon“ vor der Wiederwi(e)dergründung

Wenn das mal nicht reale Satire ist, die einst eben jene alte „Pardon“ vollends durch jeden Kakao gezogen hätte und den realen Satirikern auch noch angeboten hätte, ihn auszutrinken. „Pardon“ soll zum zweiten Male wiederbelebt werden.

Medial sachkundige Titel rühmen, dass „renommierte Autoren“ sich an der Beatmung einer Erstausgabe anlässlich der 50. Wiederkehr des Ersterscheinens (27. August 1962 nach Nullnummer 1961) beteiligen werden: Harald Schmidt, Eckart von Hirschhausen unter anderen, auch Hellmuth Karasek sei mit dabei. Das Ganze in Planung durch einen Ex-Chef der „Welt“ und Ex-Chef des „Focus“ mit Namen Wolfram Weiner, der den Titel „Pardon“ kaufte und, weil er ja im Hauptberuf so intensiv Finanztitel verlegt, nun auch damit lachend Geld verdienen will.

Hallo? „Pardon“ meinten in den Sechzigern Robert Gernhardt, Friedrich Karl Waechter, Kurt Halbritter, Hans Traxler, Chlodwig Poth, ein gewisser Vicco von Bülow, der auch das erste Titelbild zeichnete (Knollennasenmännlein mit Blumenstrauß in der erhobenen Hand, in dem die Zündschnur einer Bombe glimmt). Ach ja, und dann gehörte auch noch Erich Kästner zum ersten Redaktionsstamm, dem sich später Alice Schwarzer, Günter Wallraff, Robert Jungk, Freimut Duve oder Hans Magnus Enzensberger anschlossen. Oder es schrieben Günter Grass und Martin Walser für das Produkt der Gründer Erich Bärmeier und Hans A. Nikel, das in Auflage von 320 000 Stück verschlungen wurde, in besten Zeiten von 1,5 Millionen Leserinnen und Lesern – und einer davon war ich.

Hohe Schule des parodistischen Humors und legendärer Bestandteil der ursprünglichen "Pardon": die Beilage "Welt im Spiegel" (WimS), hier vereint in einem Zweitausendeins-Sammelband von 1979. (Foto: Bernd Berke)

Hohe Schule des parodistischen Humors und legendärer Bestandteil der ursprünglichen "Pardon": die Beilage "Welt im Spiegel" (WimS), hier vereint in einem Zweitausendeins-Sammelband von 1979. (Foto: Bernd Berke)

Und eine neue „Pardon“ soll uns nun von Witzeerzählern wie Hirschhausen und Schmidt nahe gebracht werden, vielleicht noch literarisch aufgehübscht durch Karasek, verlegt von einem einst führenden „Welt“-Mann? Das wird ja was werden.

„Pardon“ wurde einst von „Titanic“ abgelöst, die „Titanic“-Redaktion sog einen Teil ihres frühen Lebens aus den „Pardon“-Mitarbeitern und –innen. Sie bewegt sich bis auf den heutigen Tag in echter Tradition ihrer Vorgängerin und wenn die neuen Antreiber von „Pardon“ damit prahlen, dass es bei ihnen nicht vorkommen werde, mit einem nässenden Papst eigene Titel zu schmücken und anderen Titeln Schlagzeilen zu servieren, dann haben diese neuen Herren wenig verstanden von dem, was vor 50 Jahren angeschoben wurde.

Sicher war das Waechter-Teufelchen (F.K.Waechter zeichnete das pfiffig-freche Symbol fürs Titelblatt) nicht so krass, wie heutige „Titaniker“. Aber vor 50 Jahren wurden die Frechheiten des Blattes ebenso empört aufgenommen wie die aktueller Satiriker. Franz Josef Strauß versuchte allein 18 Mal, sich in Rechtsstreitigkeiten mit „Pardon“ zu messen, mochte vorauseilende Entschuldigungen im Namen des Blattes nicht akzeptieren. Er verlor 18 Mal, was ihn aber nie wirklich entmutigte, ebenso wenig wie die Redakteure.

Nun, offenbar hatte „Pardon“ seine begrenzte Zeit. Erst sagte Bärmeier ade, dann widmete sich Hans A. Nikel yogischen Flugversuchen, was zwar eine Titelstory brachte („Kein Witz. Ich kann fliegen!“) aber auflagenschädlich wurde. Die treuen Leserinnen und Leser kamen einfach nicht damit klar, dass ihr Blatt mal etwas todernst zu meinen schien, was niemand ernst nehmen konnte. Hennig Venske stieg dann zum Chefredakteur unter „Konkret“-Herausgeber Hermann L. Gremliza auf, „Pardon“ stieg stetig weiter ab, um dann 1984 gänzlich eingestellt zu werden.

2004 noch mal Beatmungsversuche durch Bernd Zeller aus Jena, der von Nikel die Namensrechte erworben hatte. Doris Dörrie, Wiglaf Droste und Roger Willemsen texteten. Und Harald Schmidt schrieb das Vorwort, einen Absagebrief. Schmidt ahnte wohl, dass dem Versuch seines Gagschreibers Bernd Zeller keine längere Lebenszeit beschieden sein würde.

Vielleicht aber war es auch die Tatsache, dass Zeller zu wenig zahlte und vielleicht ist es heute der Umstand, dass Wiederwi(e)derbegründer Weimer prima Kohle auf den Tisch legt, die Harald Schmidt bewegt, Bewegendes von sich geben zu wollen. Motto: Wir sind jung und brauchen Geld, Pardon!




Familienfreuden II: Zur Selbstfürsorge ins Schwimmbad – oder doch nicht?

Wasserglas

Die Welt im Wasser(glas). Foto: Nadine Albach

Ob ein schlechtes Gewissen dann und wann wohl dazugehört zum Elternsein? Täglich genehmigen sich bohrende Fragen eine lustige Karussellfahrt durch mein Gedankenzentrum und die übergewichtigste von ihnen ist die nach dem „Genug oder zu wenig?“ Zumal bei all der Zuneigung dem Nachwuchs gegenüber auch ab und zu mal ein wenig Selbstfürsorge wichtig ist.

Also: Ich wollte schwimmen. Mit jeder Faser meines Seins stellte ich mir den Sprung ins kühle Nass vor. Und meine Schwiegermutter war gern bereit, mir dieses Rendezvous durch einen Spaziergang mit unserer Tochter zu ermöglichen. „Nimm doch mein Fahrrad“ war ihr zwitschernder, wie sich herausstellte verhängnisvoller Vorschlag.

Ein Rad mit Rücktritt war ich spätestens seit meinem zwölften Lebensjahr nicht mehr gefahren. Als ich vor dem Schwimmbad ankam und nur noch in Pudding trat, glaubte ich an einen Bedienungsfehler. Stattdessen hatte sich die Kette verabschiedet. Zwei patente Fensterputzer eilten zur Hilfe – und scheiterten nach einer Viertelstunde mit schmierigen Fingern und traurigen Blicken. Als ich schließlich zwischen den Werkzeugen der Radstation am Hauptbahnhof stand und der Werkstattleiter von einem wieder neu aufzuhängenden Hinterrad erzählte, wusste ich, dass sich die ölverschmierte Kette eifersüchtig zwischen das Wasser und mich geschoben hatte. Ich seufzte innerlich ein leises Ade.

Abends allerdings bekam ich eine zweite Chance. Mein Mann passte auf, ich brauste – diesmal mit meinem Rad – zum Schwimmbad, voll sprudelnder Gedanken, mit schnellem Trittt

– bis ich ein kleines Schild am Eingang im Wind flattern sah. „Das Schwimmbad ist aus technischen Gründen geschlossen.“

Ach! Duschen, dachte ich, duschen ist ja fast wie schwimmen…




„Kindheiten“ oder: Die untröstliche Heiterkeit des Jean-Jacques Sempé

Nein, eine schöne Kindheit hat er nicht gehabt: Vor den allzeit lautstarken Streits der Eltern flüchtete er, wenn er konnte, zum Radio und wob sich eine Phantasiewelt aus dem Gehörten. Wurden Mutter und Stiefvater zwischendurch auf ihn aufmerksam, dann hagelte es meistens Ohrfeigen. Mindestens.

Wir reden von Sempé. Jean-Jacques Sempé. Wer seine wunderbaren Zeichnungen kennt, weiß, dass wohl kaum jemand sich den Duft und Hauch der trotz allem unbeschwerten, stets zu Streichen aufgelegten Kindheitstage so bewahrt hat und wachzurufen weiß wie dieser aus Bordeaux stammende Mann, der morgen (17. August) 80 Jahre alt wird und immer noch als besessen arbeitsam gilt. Er selbst findet es verstörend, dass und wie er dermaßen der Kindheit verhaftet geblieben ist. Nebenbei bemerkt, war damals das Radio so kultiviert, dass man sich dort bestes Französisch aneignen konnte.

Es gibt jedenfalls genügend Anlass, mit spürbar liebevollem Aufwand einen Bildband wie „Kindheiten“ herauszubringen, der sich als thematisch gewichtete, veritable Werkschau erweist und dabei ohne seine wohl berühmteste Figur, den „Kleinen Nick“ (Petit Nicolas) auskommt, die Sempé einst gemeinsam mit René Goscinny schuf.

Angesichts seiner frühen Jahre, die das Buch in einem langen Sempé-Gespräch mit Marc Lecarpentier in Erinnerung ruft, ist die milde Heiterkeit des Oeuvres überaus erstaunlich. Sempé sagt es mit den Worten eines Schriftstellers, an dessen Namen er sich nicht erinnert: „Der Mensch ist ein Wesen von untröstlicher Heiterkeit.“ (Hausaufgabe: Wer findet den Urheber heraus?)

In diesem Band kann man beispielsweise verfolgen, wie die durchaus wohlgesetzen Worte zu den Zeichnungen nach und nach schwinden, wie also das rein Bildnerische überwiegt. Immer eigener, feingliedriger und feinsinniger wird die Linienführung, sie übermittelt in seismographischer Weise seelische Zustände. Da bedarf der Worte nicht mehr. Es scheinen ganze Existenzen und Charaktere in knappen, meisterlichen Skizzen auf. Oder auch dies: Dauer, Trägheit und Hitze eines Hochsommertags werden atmosphärisch greifbar. Manche Blätter wiederum erfassen haarfein, was Provinz ausmacht. Man schaue nur, wie die Dorfjugend einer Radfahrerin nachstarrt. Auch für Freud und Leid, Groteske und Grazie des Fußballs abseits der großen Stadien hat Sempé ein untrügliches Gespür. In all diesen Zeichnungen schwingt so vieles mit…

Auch wenn Sempé erwachsene Menschen zeichnet, sind sie oft unverkennbar von Kindheit geprägt. Mal sieht man sie in selten schönen Momenten des Leichtsinns, wenn sie sich unbeobachtet glauben und auf einmal wieder sind wie von klein auf. Andererseits sieht man aschfahl ergraute und erstarrte Herrschaften, in denen jegliche Kindheitsahnung erloschen ist. Zuweilen rücken die Lebensalter in komischen Kontrast: Der Schnitt durch ein Haus offenbart, wie die „Großen“ bei Regen ihre Zeit in Zimmern totschlagen, während oben auf der Dachterrasse eine Kinderschar tobend jeden Augenblick der Nässe mit Haut und Haaren genießt.

Schließlich gibt es in dieser vielfältigen Bildwelt auch jene stocksteif ungelenken, früh verzogenen Bürgersöhnchen oder jene Kinder, denen das Kindsein früh ausgetrieben werden soll, etwa mit strengem Klavier- oder Ballettunterricht. Doch siehe da, sie wehren sich mit Phantasie oder auch ganz handgreiflich: Selbst wenn sie mit Heiligenschein aus Pappe zur Weihnachtsaufführung eilen, knuffen und hauen sie sich unterwegs noch mit heißem Herzen. So kann Kalberei ein Hoffnungszeichen sein.

Sempé: „Kindheiten“. Bildband, Hardcover Leinen, 272 Seiten. Mit einem Gespräch zwischen Sempé und Marc Lecarpentier (übersetzt von Patrick Süskind). 39,90 Euro.




Die schwebende Komik des Bernd Pfarr

Der leider so früh verstorbene Bernd Pfarr (1958-2004) war ein unvergleichlicher Cartoonist, Zeichner und Maler. Kaum auszudenken, welche Figuren und Szenen er noch hätte erschaffen können, wenn ihm mehr Jahre geblieben wären.

Seine Bilder führen in ungeahnte Vorstellungsräume, sie sind nicht einfach nur hochkomisch, sondern heben mit allem Inventar gleichsam sachte ab vom Boden der Verhältnisse, öffnen unversehens Türen in eine andere Wirklichkeit. Ach, es ist verteufelt schwer, diese wunderbar schrägen, immer auch geheimnisvoll schwebenden Bilder mit Worten zu erfassen. Pfarrs zutiefst merkwürdige Figur „Sondermann“ zählt jedenfalls zu den grotesken Legenden neuerer Zeitrechnung.

Wer, wenn nicht solche erhabenen Könner wie Pfarr, der überdies auch ein höchst feinsinniger Texter gewesen ist, gehörte in eine Buchreihe mit dem Obertitel „Meister der komischen Kunst“? Der Band über Bernd Pfarr erscheint hier neben ähnlich aufgemachten Einblicken ins Oeuvre von Robert Gernhardt, F. K. Waechter, Chlodwig Poth, Marie Marcks und anderen Großkalibern. Die Namen lassen es ahnen: Die „Neue Frankfurter Schule“ des parodistischen Humors, welche sich vornehmlich um die Zeitschriften „Pardon“ und „Titanic“ gruppierte, macht längst einen bildnerischen Kernbestand der Komik im deutschsprachigen Raum aus, der sicherlich auch den internationalen Vergleich nicht scheuen muss. Die „Frankfurter“ und ihr Umfeld prägen somit auch diese Reihe des Münchner Kunstmann-Verlags.

Das 2010 begonnene verlegerische Projekt (Herausgeber ist der Kunsthistoriker und Ausstellungsmacher WP Fahrenberg) hat durchaus verdienstvolle Ansätze, sucht es doch die Erinnerung an Künstler wachzuhalten, die sonst womöglich verblassen könnte. Auswahl und Präsentation sind jeweils ordentlich, wenn auch nicht berauschend. Denn viele Cartoons würden durch größere Formate erheblich gewinnen, ja, manche verlangen gar gebieterisch nach mehr Platz, als ihnen hier zugestanden wird.

Handelsübliche Cartoonbände sind nun mal nicht von ungefähr deutlich größer als die Titel dieser Reihe. Mit knapp über 100 Seiten lassen sich zudem manche Lebenswerke nur recht knapp skizzieren. Auch im Falle Bernd Pfarrs langt es – neben Kostproben aus dem Schaffen – nur für ein paar kleine Beigaben: einen kurzen, klugen Aufsatz von Patrick Bahners (der „Mäuerchen“ als zentrales Motiv in Pfarrs Werk benennt), ein paar biographische und bibliographische Daten sowie eine Handvoll Fotos aus Pfarrs Leben. Das weckt Appetit, stillt ihn aber nicht.

Es ist anzunehmen, dass man bei Kunstmann einigermaßen vorsichtig kalkulieren musste und sich eben nicht getraut hat, mit voluminösen Großformaten auf den Markt zu gehen. Man kann das nachvollziehen, es ist sicher vernünftig. Schade ist es trotzdem.

Meister der komischen Kunst: Bernd Pfarr. Kunstmann Verlag, München. 112 Seiten im Format 23,4 x 18 cm. 16 Euro.




Ansichten eines Hörbuch-Junkies (2): „Schmitz‘ Katze“

Gut, dass ich ein großartiges Wochenende verlebt habe, das Unsommerliche an diesem Sommer in meist familiärem Kreis abwettern konnte und ich nicht die Regionalbahn entern musste, mit der ich zum Arbeitsplatz gelange. Denn für den Fall, dass ich dies hätte tun müssen und dabei wie stets meiner Hörbuchabhängigkeit hemmungslosen Freilauf hätte gewähren müssen, dann hätte unweigerlich irgendein Mitreisender die Zugaufsicht, das Sicherheitspersonal oder per cellular (bei uns denglisch Handy genannt) den Polizeiposten des nächst gelegenen Bahnhofes in Alarmstufe Rot versetzt, weil in seinem Waggon ein vermutlich Schwachsinner säße, der sich alle erdenkliche Mühe zu geben schiene, den Zug mittels Flutung durch Tränenflüssigkeit an der Weiterfahrt zu hindern. Stattdessen hockte ich von konvulsivischen Zuckungen geplagt auf einem Küchenstuhl und setzte selbigen unter Wasser, während ich meiner geliebten Frau bei der Herstellung köstlichen Kartoffelsalates beiwohnte und wir dabei „Schmitz‘ Katze“ hörlasen.

Ralf Schmitz persönlich erzählte uns von seiner greisen, 23 Jahre alten (in Worten dreiundzwanzig), daher seiner festen Überzeugung nach alzheimernden Lebensabschnittsgefährtin „Minka“ – und mit jedem Wort führte der Komödiant (ihn jetzt noch Comedian zu nennen, verbietet sich mir) mir und ganz sicher vielen tausend gleichgesinnten Katzen-Mitbewohnern und –innen das Handeln der eigenen Herrin des jeweiligen Hauses derart plastisch vor Augen, dass diese unweigerlich in Tränen ausbrachen – vor glucksendem Lachen, um das brüllende zu vermeiden.

Ralf Schmitz, das ist der hibbelige „Ich-will-auch-was-sagen-Rufer“, den mensch aus der Glotze kennt, zum Beispiel aus „Die dreisten Drei“. Ach der, mag nun die eine, der andere denken und innerlich zu einer abfälligen Handbewegung neigen, aber da mir solches zuvor auch gern geschehen wäre, warne ich Voreilige. Der Mann ist genial, kann derartig sprachsicher über Katzen und deren Personal (das sind wir Menschen, die wir in der festen Annahme, sich Katzen zu halten, diesen jedoch hoffnungslos untergeben sind) schreiben, dass ein jedes Haushaltsmitglied sich wiedererkennt, weil seine Katze sich ebenso verhält wie „Minka“. Kaum eine urkätzische Eigenart, die er ausließe, kaum eine solche, die er unzutreffend skizzierte, kaum eine, die er geringer einschätzen würde als ein ihm nicht näher bekannter Katzenabhängiger.

Während die Freudentränen meine Brillengläser von der Innenseite immer undurchsichtiger machten, ich mein Gelächter allenfalls durch gurgelndes „Ja, Ja …“ unterbrechen konnte, Ralf Schmitz mir allerlei Katzen näher brachte – beispielsweise den alkoholabhängigen, mehrfach körperbehinderten Kater (taub, so gut wie blind, dreibeinig), der abrupt an einer Glastüre endete, die sein Personal überraschend hatte einbauen lassen, ohne ihn davon zu informieren und folglich seine Vierkant-Bruchlandung zu hart für ein versoffenes Katerleben war. Da verging die Zubereitung des köstlichen Kartoffelsalates wie im Fluge. Ralf Schmitz beantwortete der Hörerschaft und auch sich selbst die unerlässliche Frage, die mensch angesichts der 23 Lebensjahre dieser offenbar unverwüstlichen „Minka“ beinahe automatisch stellen würde, mit für ihn geradezu saharesker Trockenheit: Ob er sich denn nach dem Ableben der Lebensgefährtin sofort wieder eine Katz „anschaffen“ werde? Ja klar, so wie man nach dem Tod der Oma gleich ins Altenheim gehe und sich eine neue Oma „besorge“, das mache doch jeder so.

Natürlich werde er sich keine neue Katze „besorgen“, aber er schlösse nicht aus, dass eine neue Katze ihn zukünftige einmal zu sich nehmen werde.

Gut, dass ich so viele Tränen gelacht hatte, dass niemand in der Lage war zu unterscheiden, ob das, was meine Wangen abwärts rann, gelachte Tränen oder solche der Rührung waren.

Demnächst werde ich an dieser Stelle ganz sicher beschreiben, wie mir „Schmitz‘ Mama“ gefallen hat. Wenn es ähnlich treffend ist wie die Geschichten von „Minka“, werde ich meine intellektuelle Urteilsfindung über den Comedian Ralf Schmitz vollends überdenken.




Eine Herzmanovsky-Verführung

Kaum dass der vor kurzem im Residenz Verlag erschienene Bild- und Textband „Forscher im Zwischenreich / Der Zeichner Fritz von Herzmanovsky-Orlando“ uns in den Blick gerät, schon nehmen wir ihn in die Hand und ahnen sofort, welch schönes, welch interessantes Buch wir da in Händen halten.

Die Bildreproduktionen sind einladend, eröffnen einen Blick in eine ganz eigene, durch mangelnde große Bekanntheit noch recht unverbrauchte Welt. Druckbild, Farbgebung, etc. alles einwandfrei, ja hervorragend.

Es mag dabei ein beträchtlicher Vorteil sein, dass FHO (= Fritz von Herzmanovsky-Orlando) zum Beispiel in Deutschland noch nicht allzu bekannt ist, aber auch in Österreich dürfte der beeindruckende Zeichner FHO weit weniger bekannt sein als der Schriftsteller. Zwar kamen auch in Deutschland FHOs sämtliche schriftstellerischen Werke erst in der originären Ausgabe des Residenz Verlages heraus, dann vor allem jedoch (allerdings mit mir unbekanntem Erfolg) in der dreibändigen Lizenzausgabe bei Zweitausendundeins. Aber richtig bekannt ist der Schriftsteller in Deutschland nicht geworden, sicher am wenigsten noch nördlich des Mains, also auch nicht im Ruhrgebiet.

Gewiss: In der Reihe des Heyne-Verlags „Das besondere Taschenbuch“ erschien einst in den 80er-Jahren Herzmanovskys wegen seiner Skurrilität wohl berühmtester Roman „Der Gaulschreck im Rosennetz“ mit den vom Autor selber stammenden Illustrationen. In einer Kultsendung wie der vom Hessischen Rundfunk (HR2) ausgestrahlten Ratesendung Peter Härtlings, „Literatur im Kreuzverhör“, kamen mindestens zweimal schon Texte FHOs vor, bei denen nach anonymer Textverlesung der Autor erraten oder gewusst, jedenfalls gefunden werden musste und durch Telephonanrufer auch erraten wurde. Auf den Literaturreisen von „Begegnung mit Böhmen“, eines Reiseunternehmens aus Regensburg, lässt sich u. a. der literaturkundige Reiseleiter Arthur Schnabl wirkungsvoll vorlesbare Texte von FHO wie z. B. den „Wassertrompeter“ wohlweislich auch nicht entgehen.

Aber nach wie vor gilt: So richtig im Bewusstsein durchgesickert und bleibend angekommen ist Fritz von Herzmanovsky-Orlando als Schriftsteller und als Eigenillustrator, gar als eigenartiger und beeindruckend eigenständiger Zeichner zumindest in Deutschland noch nicht.

Das neue Buch des Residenz Verlages kann dem nun durchaus verführerisch Abhilfe schaffen, so es denn wahrgenommen wird. Und das darf man ihm vorbehaltlos wünschen. In diesem wunderbar ausgestatteten Band kann man den großartigen Zeichner FHO entdecken und sich zugleich indirekt einen Zugang zu seinem Werk als Schriftsteller verschaffen; oder umgekehrt, wenn man von FHO schon etwas gelesen hat, kann man in seinen Zeichnungen eine andere, womöglich die originäre Seite von ihm in unverklemmter Offenheit präsentiert bekommen. Und wirklich: Von der chronologischen Abfolge her scheint das reife zeichnerische Werk (das jedoch zeitlebens bei FHO, also auch in seiner stärker schriftstellerisch geprägten Lebensphase) nie ganz aufhört, dem schriftstellerischen voran- bzw. vorauszugehen. Im Haupttext des Buches, im vielgliedrigen Essay von Arnulf Meifert, wird jedenfalls u. a. aufgezeigt, wie sehr auch noch das schriftstellerische Werk FHOs von dem zeichnerischen her gespeist wird, ja sich geradezu aus ihm heraus entwickelt, mental, thematisch, figural.

Fürwahr, eine Herzmanovsky-Verführung ist dieser Band, eine gelungene Verführung zu ihm als Zeichner und von da her alsbald wohl auch zu ihm als Schriftsteller. Meine Anspielung auf Rolf Vollmanns im Dezember des letzten Jahres im Albrecht Knaus Verlag erschienenen Doppelband „DER DÜRER VERFÜHRER oder die Kunst, sich zu vertiefen“ ist dabei ganz bewusst. Zudem: eine klare Überschneidung gibt es auch.

Auf der Seite 31 des FHO-Bandes finden wir eine Wiedergabe von Albrecht Dürers Radierung „Der Spaziergang“ – ein auch bei Vollmann eingehend betrachtetes Bild (vgl. dort die Seiten 33 – 35 des 1. Bandes) – konfrontiert mit FHOs Dürer-Adaption in Form einer Zeichnung.

Gerade der direkte Vergleich verrät sehr viel von der Herzmanovskyschen Eigenart, die weder vor Verknappung und Leichtigkeit noch vor satirisch grotesker Zuspitzung bzw. ironisch-humorvoller Scheinverniedlichung (hier des Todes) zurückschreckt. Wie überhaupt der Bezug auf schon vorhandene Kunstwerke, an denen er sich bewusst schulte und abarbeitete, indem er sich bewusst dagegen abhob, Fritz von Herzmanovsky-Orlando zu seinem Eigenen mitverholfen haben mag.

Arnulf Meifert tut zusätzlich das Seine zur Verdeutlichung von FHOs Eigenständigkeit, indem er ihn wiederholt gezielt und durchaus abweichend von eingeschliffenen Mustern mit Alfred Kubin, vor allem aber mit Paul Klee zusammensieht, mit dem FHO u. a. den Begriff „Zwischenreich“ teilt, wiewohl ganz anders akzentuiert.

Das fast unbekannte, recht liebevoll und höchst ansprechend präsentierte Bildmaterial alleine schon lohnt die Anschaffung dieses Bandes: Freizügig und dezent tabulos sind diese Bilder – und faszinierend merkwürdig, wenn man in ihnen immer wieder eine Verschränkung von weiblich-feenhafter Dominanz mit bis zur Karikatur submissen männlichen Ungestalten wahrnimmt, eine Verschränkung eines paradiesähnlich gemeinten Zustandes also – mag man diesen nun als eine bildgewordene Utopie oder als konzentrierte Privatmythologie auffassen – mit einer das Männliche immer wieder herabstufenden realsatirischen Konkretion.

Der große Essay von Arnulf Meifert vor allem, aber auch die kleineren Beiträge von Peter Assmann, Franziska Meifert und Siegfried de Rachwitz nebst einer den Band abschließenden Übersicht der Werke im Museumsbesitz, vermitteln uns auf wichtig erhellende, durchaus ideologiekritische Weise Zusammenhänge und Hintergründe. Politisch Schlimmes, sehr Schlimmes und in künstlerischer Form weniger Schlimmes, da künstlerisch Gebanntes, so lernen wir, entstammen ein und denselben geistigen bzw. gelegentlich abstrusen Strömungen nach 1900, an denen insbesondere auch FHOs Frau Carmen, ihn stark beeinflussend und zugleich seiner sexuellen Veranlagung maßgeblich entgegenkommend, regsten Anteil nahm.

Es fällt auf, dass Arnulf Meinert Fritz von Herzmanovsky-Orlandos phantasievoller Zeichenkunst vordringlich eine gewisse „Bannbildfunktion“ (S.62) zuzuerkennen bereit ist, ihn im Übrigen gelegentlich auch als Vorwegnehmer der Surrealisten feiert.

Als besondere Bereicherung des Bandes habe ich empfunden, dass Arnulf Meifert an den Beginn eines jeden der sieben Kapitel seines Hauptessays je eine ganze Drittelseite sehr gut ausgesuchter thematischer Aphorismen gestellt hat. Diese (von sehr verschiedenartigen Autoren stammend) sind fast durchweg kaum bekannt, wiewohl von meist hoher bis sehr hoher Qualität.

Arnulf Meifert / Manfred Kopriva (Herausgeber): „Forscher im Zwischenreich. Der Zeichner Fritz von Herzmanovsky-Orlando“. Residenz Verlag. 256 Seiten, 36 €.




Virtuoses Stammeln durch deutsche Zeitgeschichte: Dieter Hildebrandt ist 85

Sie waren meine ersten Serienhelden: Dieter Hildebrandt (inzwischen 85-jähriger Altersjubilar), Klaus Havenstein, Jürgen Scheller, Hans-Jürgen Diedrich, Ursula Noack – die Münchner Lach- und Schießgesellschaft.

Brannten sie und ihr listiger Mann im Hintergrund, der unvergleichliche (auch als Sportreporter) Sammy Drechsel, ihr bissiges Feuerwerk in alle Richtungen des damaligen Polit-Establishments ab, ließ ich meinen Tränen des Lachens freien Lauf, verzieh Wiederholungen der Ausstrahlungen den öffentlich-rechtlichen Anstalten ohne Murren und wäre so gern einer von ihnen gewesen, wäre mein Talent nur ausreichend gewesen.
Meine uneingeschränkte Zuneigung verdankten die im „Laden“ – wie das Ensemble seinen Arbeitsplatz nannte – diesem Dieter Hildebrandt, der durch sein anscheinend plan- und hilfloses Gestammel die boshafte Verbindlichkeit ins kabarettistische Gemenge brachte, der durch Auslassen von Sätzen raus lassen konnte, was ihm stank und der frohgemut improvisieren konnte, ohne je nachlässig zu sein mit der akribischen Vorbereitung seiner Nummern. Er ist nun 85 Jahre alt, fragt sich erstaunt, ob er schon alt sei oder es noch werde und repräsentiert ikonesk stets moderne Urformen des deutschen Kabaretts. Sozusagen ist er nach wie vor das Maß aller Stimmen, die sich mit ihm, nach ihm und um ihn herum bewegten. Auch wenn Richling noch heute grummelt, weil er „Scheibenwischer“ nicht inhaltlich mit Comedians durchsuppen durfte und folglich dieses Programm aus dem öffentlich-rechtlichen TV-Bild verschwand.
Der gebürtige Schlesier und adoptierte Münchner Dieter Hildebrandt bohrte seinen fröhlich-bissigen Humor durch jedes sich nach dem Kriege anbietende Polit-Segment und tat seinen Repräsentanten jeglicher Couleur damit weh, was Politiker und Wirtschaftsführer am meisten peinigen kann – er sprach ihnen öffentlich ab, dass sie ernst genommen werden müssen. So rein als Menschen, die Spätfolgen ihres Jobs schon. Auch wenn ihm bisweilen ein Bannstrahl nach dem anderen um die Ohren flog, er überstand sie alle. Und stammelte sich weiter durch die real existierenden Gesellschaftsformen deutscher Provenienz, ganz im Stile eines Werner Finck, der ihm anscheinend Vorbild war, im Einlassen auf Auslassungen und Wortspielen, die so aus ihm fielen als ob sie ihm mal einfielen. Der legendäre Finck trat übrigens im Theater „Die kleine Freiheit“ in München auf, Erich Kästner schrieb an den Programmen und Dieter Hildebrandt war wesentlich dafür verantwortlich, dass das Publikum es bequem hatte – als Platzanweiser.
85 Jahre alt, wachen Hirns und kritischer Einstellung gegenüber allem, was ihm entgegentritt, sich ihm in den Weg stellt und sich der Gefahr seiner Pointen aussetzt – Dieter Hildebrandt möge so bleiben. Mein erster Serienheld – und nicht in Dr. Murkes gesammeltes Schweigen verfallen (Kurzgeschichte von Heinrich Böll, die vom Hessischen Rundfunk als Fernsehspiel verfilmt wurde mit Dieter Hildebrandt in der Hauptrolle).




Wie sich Pflegedienste nennen

Wer zählt noch die putzmunteren Glossen über Friseurläden und deren abgrundtief pfiffige Namen? Nein, damit hat man längst aufgehört. So wohlfeil ließ es sich stets über haarige (!!!) Wortspielchen witzeln, dass einem die – na? na? – Haare (!!!) zu Berge standen. Harr, harr, harr.

Immer mit Herz... (Foto: Bernd Berke)

Immer mit Herz… (Foto: Bernd Berke)

An dieser Stelle also nichts mehr über Coiffeure als Wortjongleure. Im Rahmen unseres Forschungsbereichs „Sondersprachen“ (bisherige Projekte: Maklerdeutsch und Weinverkostungsjargon) wenden wir uns hingegen umso lieber den Pflegediensten zu, die in der Seniorenrepublik vielfach florieren, jedoch füglich auf sich aufmerksam machen sollten, denn die Konkurrenz schläft nicht.

Stockseriös, wie wir sind, verlassen wir uns auf eine einzige Quelle, nämlich auf das bundesweite Verzeichnis http://www.pflegedienst.de
Dort lassen sich die Namen wohl aller relevanten Einrichtungen des Gewerbes aufrufen. Das wollen wir jedenfalls stark hoffen. Falls nicht, so haben wir eben Pech gehabt.

Gewiss. Das Gros der Pflegedienste benennt sich ausgesprochen nüchtern und sachlich. Wir wollen annehmen, dass dort just so und trotzdem nicht herzlos gearbeitet wird, wie wir überhaupt nur das Allerbeste vermuten möchten. Dass sich hinter Pfleko GmbH ein dezenter Hinweis auf Pflege-Kosten verbirgt, das halten wir unter allen Umständen für ausgeschlossen.

Manche Marktteilnehmer treiben sprachliche Blüten, dass einem Tränen der Rührung kommen. Idiom der Wahl ist vor allem das Lateinische, gelegentlich auch das Griechische, es klingt so gediegen, gebildet, vertrauenswürdig, so wissenschaftlich und human(istisch). Beispiele fürs antikisch gewandete Allzumenschliche:

Humanitas, Humanika, HU-MA, Harmonica, Angelus, Domus, Visita, Sanitas, Prosano, pro sana, Procura, Curatio, Manus, Sensorium, Philantrop (sic! Es fehlt das zweite „H“, als sei man in traurigen Tropen gelandet).

Ach, wer da mitmenscheln könnte! Mitunter wird auch auf Deutsch gesäuselt und geraspelt, das hört sich dann so herzerwärmend an:

Die Hausgeister GmbH, Hausengel, Engel, Sonnenblume, Die Sonne, Regenbogen, Sorgsam GmbH, Pflege mit Herz.

Englisch gilt hingegen als zu jugendlich und genießt daher in diesen Kreisen keine Dignität, es waren nur drei Beispiele zu finden:

Home Care, Home Instead, CarePlus.

Auf medizinische Fertigkeiten pocht man hingegen gern, etwa so:

MedKontor, medicur, medi top, Medi Vario, Medilux, Medicura, MOBImed, Vita Med, Aeskulap.

Mehr noch. Gerade hier, wo es sich bisweilen dem Ende zuneigt, wird das Leben inbrünstig beschworen:

pro vita, Mediavita, Samavita, Vital, Vivus, Coravita, movita.

Und wo manche Klienten vielleicht nur noch dahindämmern, wird das aktive Dasein im Versicherungs-Sound (Standardausführung) gepriesen:

Aktiv, Aktiva, Futura, Inova.

Schließlich jene Fügungen, die etwas origineller wirken sollen:

Hallo Schwester, OMA, doppel.herz, LichtBlick, Polonia, Camelot, Theseus, Pflegemanufaktur 24, Quo Vadis…

Ja, wohin nur, wohin? In einem Fall könnte übrigens eine Marken-Kollision vorliegen. Wir verraten aber nicht, in welchem.

Zur wissenschaftlichen Abrundung folgt nun noch ein

statistischer Nachspann:

Die Anzahl der verzeichneten Pflegedienste korreliert, von den ersten beiden Plätzen abgesehen, keineswegs mit den Einwohnerzahlen. Hannover und Düsseldorf fallen weit ab, Stuttgart und Essen hingegen erweisen sich geradezu als Pflege-Metropolen. Woran liegt’s? Mit der schonungslosen Recherche werden wir unser Forschungsteam „Städte mit und ohne Herz“ betrauen. Hier schon einmal die schockierende Liste:

Berlin 203
Hamburg 98
Stuttgart 65
Essen 49
München 46
Köln 42
Wuppertal 29
Bremen 26
Dresden 20
Frankfurt 20
Duisburg 18
Rostock 17
Nürnberg 16
Leipzig 16
Dortmund 16
Kiel 15
Wiesbaden 15
Düsseldorf 11
Hannover 11

P. S.: Ironiemodus aus. Bitte von sauertöpfischen, sozialpolitisch korrekten Kommentaren Abstand nehmen, so schwer es auch fällt. Dem Verfasser ist bewusst, dass viele Pflegekräfte aufopfernd tätig sind – und das zumeist für sehr bescheidenes Salär.




Aprilscherz ohne Gnade

Die Milchstraße wird in Schmidtstraße umbenannt, um den Altbundeskanzler zu ehren. Heinrich und nicht Thomas Mann hat den Löwenanteil der „Buddenbrooks“ verfasst. Galileis Erben fordern  Entschädigungszahlungen vom Vatikan. Maschmeyer kandidiert für die FPD. Bundesligatrainer müssen künftig über 65 Jahre alt sein, wobei vielleicht für Jürgen Klopp eine Aussnahme gemacht wird.

Haha. Hahaha. Aber Achtung, Achtung: Das stimmt ja alles gar nicht. Haha. Reingefallen.

Worum geht’s? Nun, die FAZ-Sonntagszeitung gibt sich heute ganz puppenlustig. Die Redaktion hat die gesamte Seite 1 (abgesehen von Anreißern fürs Blattinnere, Wetter und Lottozahlen) mit allerlei Aprilscherzen dicht gemacht, vulgo abgefüllt, noch mehr vulgo: zugeschissen, wie man zuweilen unter hemdsärmeligen Journalisten zu sagen pflegt. Hoho.

Offenbar ist sonst in der Welt nichts los. Da kann man ja mal…

Dass ich es nur gestehe: Aprilscherze in Zeitungen fand ich schon immer reichlich fad und öd. Meistens knirscht es vernehmlich im logischen und humoristischen Gebälk, wenn die schmalen Einfälle länglich ausgeführt werden. Die Lektüre erweist sich oft genug als Zeitverschwendung. Noch erbarmungswürdiger sind anderntags die „Auflösungen“ der Scherze. Dann werden die Witze auch noch gnadenlos erklärt.




Preis für grotesken Humor: Ulrich Holbein ausgezeichnet

Loriot hat ihn erhalten. Ernst Jandl, Robert Gernhardt, Hanns Dieter Hüsch, Ingomar von Kieseritzky, Ror Wolf, Katja Lange-Müller, Gerhard Polt, F. W. Bernstein, Peter Rühmkorf, Herbert Achternbusch und fünfzehn weitere um ihre Vertrautheit mit dem Grotesken oft beneidete Persönlichkeiten ebenfalls. An diesem Wochenende geht der Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor an Ulrich Holbein. Sollte Ihnen der Name unbekannt sein? Verwechseln Sie ihn gar mit einem anderen Herrn Holbein? Das wäre betrüblich.

Seit seiner Kindheit trägt der 1953 geborene Ulrich Holbein zur Weltverschönerung bei. Davon kann man sich beispielsweise in dem wundervollen Buch Bitte umblättern! überzeugen, das 2010 im Elfenbein Verlag erschienen ist. In diese Reihung verheißungsvoller Textanfänge gehört auch ein netter Kinderbrief an den Uropa, säuberlich auf Linienpapier geschrieben und mit Buntstiftzeichnungen am Blattrand. Leider erfahren wir nichts über die Uroma, denn der Brief bricht wie jedes Dokument dieser „Einhundertelf Appetithäppchen“ nach der ersten Seite ab – oftmals mitten im Satz oder Wort. Beim Umblättern tut sich ein neuer Text auf, oder eine Zeichnung oder eine Collage. In einem anderen Text des Bandes wird Satz für Satz die persönliche Entwicklungsgeschichte des Autors der Entwicklung der Menschheit gegenüberstellt. Überzeugend.

Im gleichen Verlag war zuvor Isis entschleiert erschienen, eine Geschichte, die sich ausschließlich aus Zitaten zusammensetzt. Das liest sich etwa so:

Ekkehard Wiederholz: Wenngleich es auch für den Angler appetitlicher sein mag, nur mit sauber gewaschenen Därmen zu arbeiten, würden sie jedoch mit einer gründlichen Säuberung im Wasser ihrer gesamten Duftstoffe und damit ihrer ganzen Anziehungskraft als guter Köder beraubt. Jegliche Därme dürfen daher nur leicht ausgedrückt, das heißt zwischen zwei zusammengepreßten Fingern hindurchgestreift, nicht aber gewaschen werden.
Leonardo da Vinci: Viele werden sich ein Haus aus Därmen bauen und sogar in ihren eigenen Därmen wohnen.
Ulrich Holbein (seinem Vater die Wurst wegreißend): Vorsicht! Du fügst ihr lebensgefährliche Bißwunden zu!
Walter Holbein (die Wurst sofort zurückerobernd): Gib das Ding her!
Ulrich Holbein: Die Wurst war damals schon mein Opa – spürst du das nicht beim Reinbeißen, wie er »Aua!« ruft?
Herta Müller: Der Fuchs war damals schon der Jäger.
Wilhelm Busch: Die Strafe bleibt nicht aus. Jeder Jäger wird mal ein Hase, früher oder später, denn die Ewigkeit ist lang.
Bishma: Geschöpfe, deren Fleisch ich in dieser Welt esse, essen das meinige in der nächsten Welt.
Elias Canetti: Das Tier, das man gegessen hat, merkt sich, wer es war. Seine Seele lebt weiter und wird im Jenseits zu einem Menschen. Dieser wartet geduldig auf den Tod seines Verzehrers. Sobald er im Jenseits ankommt, findet das Opfer ihn, packt ihn, zerschneidet ihn und ißt ihn auf.“
Und so weiter.

Aus lauter Zitaten besteht auch eine „Love Story“ in Ulrich Holbeins Weltverschönerung (2008). Die Textmontage aus Werken von 162 Autoren beschreibt der Menschheit liebste Beschäftigung, die – so dargestellt – in ihrer Austauschbarkeit ziemlich lächerlich erscheint. Aber ob die im gleichen Band veröffentlichten zwölf Thesen und elf praxisorientierten Tipps zum Thema „Wer raffiniert onaniert, rettet die Welt“ den Leser aus dem Dilemma befreien?

In der 13. Ausgabe der Zeitschrift Oya (anders denken. anders leben) erscheint im März/April 2012 der Anfang von Holbeins neuestem „Liebesroman“ Traumpaar ohne Notbremse – wieder nur eine einzige Seite. Klingt ein Liebesroman so? „Sie knallte mir alles mögliche vor Latz und Kopf. Sie ging mir auf den Geist, auf Keks und Wecker und Sack und Gemüt. Es hagelte Blöff und Jux und Sex und Peng und Tschüs.“ Bei Ulrich Holbein schon – neben zarteren Tönen des vorerst letzten Romantikers.

Ein ausgeprägter Individualist ist der an diesem Wochenende geehrte Ulrich Holbein allemal – in seiner literarischen Stilvielfalt, in seiner extravaganten Selbstgestaltung, der Eremitage im Knüllgebirge, den Lektüre- und intellektuellen Präferenzen. 23 Bücher und 892 Einzelpublikationen hatte der Autor bereits bis zum Abbruch seines Netztagebuchs „ulyversum“ im Jahr 2008 vorzuweisen. Einer breiteren Leserschaft ist er durch die Kolumnen „Sprachlupe“ in Die Zeit und „Standardsituationen“ in der Süddeutschen Zeitung bekannt geworden. Als einen Vielschreiber kann man ihn jedoch allenfalls in quantitativer Hinsicht bezeichnen. Holbein ist, wie er selbst sagt, „anders als alle, die anders als andere sind.“

Subjektiv zusammengefasste Lebensläufe von 255 Exzentrikern, Eigenbrötlern, komischen Käuzen und Aposteln aller Art hat Ulrich Holbein in seinem dickleibigen Lexikon Narratorium (2008) vereint, von denen insgesamt 48 in diesem Jahr in den beiden Bänden Heilige Narren und Heilige Närrinnen im Marixverlag neu herausgebracht werden. Doch umfasste das Narratorium bei weitem nicht nur Gurus und Glückssucher, vermeintliche oder echte Heilige im engeren religiösen Sinne, sondern auch von Holbein verehrte Großliteraten wie Jean Paul oder Arno Schmidt.

Ulrich Holbein würde perfekt in sein eigenes Narratorium passen und wird zu Recht mit dem Literaturpreis für grotesken Humor ausgezeichnet, den die Stiftung Brückner-Kühner alljährlich in Kassel vergibt. Die Lobworte am Samstagabend im Kasseler Rathaus sprachen Harry Rowohlt (für den Förderpreisträger Tino Hanekamp) und Bazon Brock (für Ulrich Holbein). Holbeins langjährige Partnerin, die Komponistin Viera Janárčeková, komponierte für den Abend “Tangomutanten für Quetschkommode und kleine Bassgeige”.

Daneben wurde im Kasseler Rathaus die Ausstellung “Lieber eine falsche Weltsicht als gar keine Flügel! Seufzer, Statements, Appelle” mit emblematischen Fotocollagen von Ulrich Holbein eröffnet. Denn Holbein ist nicht nur ein Wortkünstler. Auf Buchmessen trifft man ihn meistens mit einer handlichen Kamera an. Er knipst, er montiert, er collagiert und textet Sprechblasen.

Der Glückwunsch aus dem Ruhrrevier erscheint im Netz mit einem Tag Verspätung. Der Gratulant hat sich gestern einmal mehr in Ulrich Holbeins Büchern festgelesen und fand die Lektüre vergnüglicher, als seinerseits einen Artikel zu schreiben.

Letzte Buchveröffentlichungen von Ulrich Holbein u.a.:

Heilige Narren. 22 Lebensbilder. Wiesbaden: Marixverlag 2012.
Heilige Närrinnen. 22 + 4 Lebensbilder. Wiesbaden: Marixverlag 2012.
Bitte umblättern! Einhundertelf Appetithäppchen. Berlin: Elfenbein 2010
Narratorium. Zürich: Ammann 2008.
Ulrich Holbeins Weltverschönerung. Frankfurt am Main: Zweitausendeins 2008.
Januskopfweh. Glossen, Quickes und Grotesken. Berlin: Elfenbein 2003.
Isis entschleiert. Heidelberg: Elfenbein 2000.

Ulrich Holbein auf der Frankfurter Buchmesse im Oktober 2011 / Aufnahme: W. Cz.




Franziska Becker – die Bilderbuch-Emanze

Franziska Becker

Wenn eine Künstlerin, eine Zeichnerin, einen bedeutenden Preis für ihr Lebenswerk erhält, und wenn ein nicht unbeträchtlicher Teil dieses Lebenswerkes sich mit dem Verhalten und dem Verhältnis der Geschlechter beschäftigt – dann hat man ein Problem. Einerseits will man Kunst und Künstlerin nicht auf dieses Thema reduzieren. Andererseits geht es immerhin um die Frau, die seit 1977, also seít Erscheinen der „Emma“, in jeder Ausgabe des Frauenmagazins vertreten ist. Franziska Becker, die in diesem Jahr Deutschlands einzigen Satirepreis, den „Göttinger Elch“, verliehen bekommt, verbindet man einfach mit Emma. Ist sie auch eine Emanze? Darf man „Emanze“ sagen? Und darf man fragen, ob man das sagen darf?

Der Krampf im Kopf löst sich durch körperliche Anstrengung: Franziska Becker hat für das Interview in ihre Dachgeschosswohnung in der Kölner Südstadt eingeladen. Im Hausflur der vierten Etage wird man immerhin mit einem ersten Bild der Karikaturistin belohnt, aber oben ist man deshalb noch lange nicht. Als Becker vor einigen Jahren Besuch von einem amerikanischen Journalisten hatte, der sie für seine internationale Kunst-Kolumne interviewen wollte, konnte der es gar nicht fassen: Fünf Stockwerke ohne Fahrstuhl, das gebe es in den Staaten seit seiner Geburt nicht mehr.

Franziska Becker scheint die tägliche Treppenlauferei gut zu bekommen – sie wirkt bedeutend jünger als 62. Das liegt wohl vor allem an ihren großen, dunklen, perfekt fallenden Locken, die sie häufig kunstvoll mit ihrer Hand zerstrubbelt. Sie trägt Schwarz, etwas raffiniert Geschnittenes, das irgendeine Mischung aus Kleid, Overall und Hosenanzug ist. Halt – würde man bei einem männlichen Künstler auch sehr ins Kleidungsdetail gehen? Da ist er schon wieder, der Krampf.

Lieber erst einmal mit einer unkomplizierten Frage beginnen. Findet sie es nicht frustrierend, mit Anfang 60 einen Preis fürs Lebenswerk zu bekommen – so, als sei von ihr nichts mehr zu erwarten? „Es klingt zwar so, als würde man bald abnippeln“, sagt Franziska Becker, „aber ich habe ihn lieber jetzt, als wenn ich schon tatterig bin. Und ich arbeite ja auch schon 35 Jahre, da hat man das meiste vom Arbeitsleben hinter sich.“

"Born to be wild" - Franziska Becker

"Born to be wild" - Franziska Becker

Tatsächlich waren die Elch-Preisträger der vergangenen Jahre – Olli Dittrich, Josef Hader, Helge Schneider – noch jünger. Bei den Entscheidungen der Jury steht, so heißt es, „nicht der Zeitgeist Pate; nicht der Massengeschmack und nicht momentaner Erfolg“, sondern „Können, Charakter und Wirkung“. Ausgezeichnet werden sollen Künstler, die Spuren hinterlassen. Dies galt in der Vergangenheit offenbar vor allem für Männer: Franziska Becker ist erst die zweite Frau, die den seit 1997 vergebenen Preis bekommt. Die erste war Marie Marcks, ebenfalls Karikaturistin.

Dass Franziska Becker Spuren hinterlassen hat, zeigt sich bereits heute. Tausende Frauen hatten oder haben ihre Bücher in den Regalen stehen, und ihre Kinder holen sie gern hervor, um sich darüber kaputtzulachen, wie es so war, früher: als der „neue Mann“ geboren wurde, der über seine Identität als Vater gleich ein „total authentisches Video“ drehte. Als die Frauen vom Heilkristall-Workshop zum Bauchtanz-Marathon fuhren. Als Gläserrücken und Schamanismus schwer in Mode waren und sich die Frauen in Frauencafés gegenseitig beharkten. In solchen Arbeiten illustriert Becker treffend die Verhältnisse, die skurril genug waren. Am stärksten ist sie aber, wenn sie in typischer Becker-Manier die Verhältnisse umkehrt. Ein simpler Kunstgriff, der ohne viel Worte, dafür umso bildgewaltiger zeigt, wie die Welt auch ganz anders sein könnte. Dann starren aufgeregt weibliche Augenpaare durch Seh-Schlitze einer Peep-Show, in der sich ein schlecht rasierter Mann mit Hundehalsband, ein Finger lasziv in den Mund gesteckt, selbst befriedigt. Dann stopfen Gänse den Käfig-Menschen mit Trichtern Brei in den Schlund, und modebewusste Zobel tragen Mäntel aus Menschenhaut, mit vielen Händchen vom Jungmensch. Und dann bedecken auch islamische Männer ihre Reize – mit einem extralangen Bart, der bis zum Gemächt reicht.

Menschenfreund - Franziska Becker

Menschenfreund - Franziska Becker

„Ich möchte für meine Arbeit und nicht als Frau honoriert werden“, sagt Becker dazu, „es gibt halt sehr wenige Karikaturistinnen, und wenige, die so lange durchhalten.“ Franziska Becker hält durch, seit 35 Jahren, ohne sich, wie sie sagt, „verbiegen zu lassen“, ohne sich verkauft zu haben. Darauf, sagt sie, sei sie schon ein bisschen stolz.
Gelegenheiten hat es durchaus gegeben – etwa eine Anfrage, ob sie nicht von der Emma zur Brigitte wechseln wollte. Doch Emma und Brigitte – das waren in den späten 70ern und frühen 80ern nicht einfach zwei Magazine für unterschiedliche Zielgruppen, das waren unvereinbare Welten. Und Becker, gerade in der einen Welt heimisch geworden, dachte nicht daran, sie wieder zu verlassen: „Ich fühle mich bis heute bei der Emma zu Hause, ich habe ja auch ein politisches Anliegen“, sagt sie. Inzwischen haben sich alle geändert: Emma, Brigitte, Franziska Becker selbst. Könnte sie sich inzwischen vorstellen, für beide Magazine zu arbeiten? Moralische Bedenken hätte sie heute keine mehr, sagt sie, aber: „Ich weiß nicht, ob die Alice das so prickelnd fände.“

Traumbaum - Franziska Becker

Traumbaum - Franziska Becker

Alice Schwarzer: Franziska Becker lernte sie 1975 in Heidelberg kennen. Zwei Jahre später hörte sie, dass Schwarzer für ihr neues Magazin eine Karikaturistin suchte, und bewarb sich mit einer Kugelschreiber-Zeichnung – ausgerechnet einer Parodie auf die „Vorher – Nachher“-Serie aus der Brigitte. Als Becker auf die sieben Jahre ältere Schwarzer traf, war „Der kleine Unterschied und seine großen Folgen“ gerade erschienen; Schwarzer kam aus Paris zurück, wo sie sich mit Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre angefreundet hatte. Den Respekt, den Franziska Becker als Kunststudentin damals vor der Journalistin und Feministin empfand, hat sie sich bis heute bewahrt.

Die Geschichte ihrer Politisierung hat Franziska Becker schonungslos in einer ihrer Zwölf-Bilder-Geschichten nachgezeichnet. „Meine 68er in Heidelberg“ erzählt von einem etwas orientierungslosen Mädchen, das sich nach einem Semester Ägyptologie in einer „kleinmütigen Anwandlung“ doch für eine Ausbildung am Hygiene-Institut entscheidet. „So, halten Sie meine Pipette, Fräulein Becker“, sagt in der Bild-Geschichte ein unappetitlich distanzloser Ausbilder zu dem jungen Mädchen. Doch bevor sie dagegen auf die Barrikaden gehen wird, muss sie erst noch lernen, dass genau das – der Kampf um Gleichberechtigung – ihr Lebensthema ist, und nicht etwa der gegen den Monokapitalismus und das Schweinesystem, den ihr Freund und seine Kommilitonen ausfechten, während sie ihre Freundinnen Flugblätter tippen lassen. Erst, als Franziska Becker mit anderen Frauen ihr Ding machte, fühlte sich alles richtig an. Eine Emanzipationsgeschichte in Bildern, eine Bilderbuch-Emanzipation.

Noch richtiger wurde es, als Franziska Becker, ihrem Job bei Emma sei Dank, der Kunstakademie den Rücken kehren konnte. „Ich war unglücklich dort. Es gab viel Konkurrenz unter Männern – Frauen wurden nicht recht ernst genommen. Es gab keine einzige Professorin oder Assistentin, und es war alles andere als der Hort geistigen Austausches, den ich mir erhofft hatte“, sagt sie. Immerhin erwarb Becker unter dem Jung-Professor Markus Lüpertz brauchbare Kenntnisse im Aktzeichnen und Anatomie. Bereut hat sie ihre Entscheidung nie. Von nun an kümmerte sie sich selbst um ihre künstlerische Entwicklung – und das ausgesprochen erfolgreich. Aus dem anfangs noch kindlichen, ungeübten Strich wurde eine eigene Handschrift, erkennbar durch große Liebe auch zum kleinsten Mode-Detail.

Urzeitcomic - Franziska Becker

Urzeitcomic - Franziska Becker

Kaum zu glauben, dass sie ihre Zeichnungen nie nach der Natur, sondern stets aus der Erinnerung macht: Franziska Becker saugt Bilder in sich auf, speichert sie – und vertraut ihren Blick auf die Welt dann dem Papier an. Aus dem Job wurde ein Beruf. Franziska-Becker-Figuren findet man inzwischen in „Psychologie heute“ oder „Stern“, in der „Titanic“ oder in Tageszeitungen. Sie illustriert Bücher und malt, gerne auf großer Leinwand und unter Verarbeitung überraschender Materialien: alte Landkarten, Federn, Wolle, Papierschiffchen. Die Galerie Jöllenbeck vertritt ihre Bilder. Sie veröffentlichte mehr als 20 Bücher, darunter die Klassiker „Mein feministischer Alltag“, „Männer“, „Weiber“ oder „Hin und Her“, letzteres gemeinsam mit ihrem langjährigen Lebensgefährten, dem Zeichner Manfred von Papen (papan). Die Ausstellung, die der Elch-Preisträgerin derzeit im Alten Rathaus Göttingen ausgerichtet wird, ist bereits ihre 21. Einzelschau. Franziska Beckers Kulleraugen-Figuren mit ihren Langnasen waren bereits im Von der Heydt Museum Wuppertal, im Caricatura Museum Frankfurt, im Wilhelm Busch Museum Hannover oder im Kölnischen Stadtmuseum zu sehen.

Treu geblieben ist Franziska Becker nicht nur der Emma und ihrem zeichnerischen Einsatz für gleiche Rechte, treu blieb sie auch einem unkonventionellen Lebensstil: Die Künstlerin wohnt mal in ihrer Kölner Südstadtwohnung, mal in ihrem abgeschiedenen Atelier im Bergischen Land – und vier Monate im Jahr in Philadelphia. Dorther kommt ihr Freund, ein ehemaliger Soziologie-Professor. Becker hat ihn vor 15 Jahren kennengelernt: Er hatte ihr „New York Tagebuch“ in die Finger bekommen und ihr daraufhin einen Brief geschrieben.

Party - Franziska Becker

Party - Franziska Becker

Die USA, überhaupt das Reisen, verschaffen Franziska Becker noch einmal neue Themen und Pläne. In diesem Jahr, das hat sie sich fest vorgenommen, will sie mit ausgewählten Arbeiten unterm Arm beim „New Yorker“ vorsprechen, dem berühmten, kunstsinnig- intellektuellen Stadtmagazin. Außerdem will sie ein Kinderbuch schreiben und illustrieren, will sie viel mehr große Bilder malen und dabei neue Techniken ausprobieren. Neue Themen kommen ihr mit Anfang 60 sowieso: In „Der Fall Mutti“ versucht Tochter Franziska erfolgreich, den Kränkungen und Unverschämtheiten einer altersdementen Frau Humor abzuringen – mit Erfolg. Für diese Bildgeschichte wurde Franziska Becker – wie für viele andere vermeintlich politisch unkorrekte auch – von einem Teil ihres zumeist weiblichen Publikums angefeindet. Doch davon hat sie sich, wie von so manch anderem auch, längst emanzipiert.

(Der Text erschien zuerst in der Februar-Ausgabe des Magazins K.WEST)




Der Geierabend: Klamauk in Ruhrdistan

Geierabend - Screenshot der Homepage www.geierabend.de

Geierabend - Screenshot der Homepage www.geierabend.de

Erdig, ungestüm, ein bisschen verrückt – wer sich mit dem „Geierabend“ in der Regie von Günter Rückert auf einen Ritt „Durch das wilde Ruhrdistan“ aufmacht, kann sich auf humoreske Abenteuer gefasst machen.

Von der bissigen Dortmunder Lokalsatire bis zu bundespolitischen Ausrutschern fegen die Geier in der 21. Session ihres alternativen Ruhrgebiets-Karnevals auf Zeche Zollern hinweg. Die Tour d’humour bietet echte Höhen – aber auch tiefe Tiefen.

Karneval im Ruhrgebiet ist anders, vor allem beim Geierabend. Kaum jemand ist verkleidet, außer den Gestalten auf der Bühne, es wird wenig bis gar nicht geschunkelt und Gefühlsausbrüche drücken die Zuschauer durch Trampeln und Geiern aus.

Und doch: Ob im Rheinland oder im Ruhrgebiet, die Giftpfeile schießen auf diejenigen, die über das Jahr die peinlichsten Vorlagen geliefert haben. Und das tagesaktuell, fragt doch der „Steiger“ (Martin Kaysh) den Präsidenten (Roman Henri Marczewski) aus, ob er standesgemäß Urlaub auf Kosten von Freunden gemacht habe.

Bissig ohne Scheu

In seinen besten Momenten ist das eingespielte Ensemble bissig ohne Scheu: „Wissen macht aua“ wird da zum Motto der Mitglieder der Piratenpartei, deren Ehrenvorsitzender ein kopfloser Klaus Störtebeker ist, während der Migrationsexperte gerade seinen Ausstand bei der NPD gibt. Die Geier erlauben sich, auch bei den ernstesten Themen herrlich rumzuspinnen – und bieten zum Beispiel bei „Kuh-VC“ den ultimativen Euro-Rettungsschirm feil, Modell „Titanic“ mit patentierter EZB-Schutzschicht.

Eine der besten Nummern nimmt das Phänomen „Facebook“ aufs Korn: Während zwei schüchterne Jugendliche sich zum „privaten Weichteil-Flashmob“ verabreden, tanzen „Gefällt mir Buttons“ über die Bühne und eine Dietrich-Diva sind „Frag nicht wo die Daten sind“.

Strukturwandel als Klischee

Auch viele Dortmunder Spezialitäten nehmen die Geier aufs Korn. Gut, dass den Panneköppen dank des Steigers, dem „Julian Assange des Geierabends“, schon die ersten Drehbücher für den Dortmunder Tatort vorliegen. Die aber erweisen sich bei näherem Hinschauen als höchst komplex. Schließlich gilt es, Klischees zu vermeiden – da gilt es eine Leiche auf der Lore dringend zu vermeiden. „Ja, soll ich die jetzt in den Technologiepark ziehen, oder watt?“, fragt ein verzweifelter Ermittler. „Bloß nicht. Das wäre Strukturwandel und auch ein Klischee“ ist die niederschmetternde Antwort. Ohne Klischees also keine Leiche, kein Mörder, keine Geschichte – das könnte auch das Motto des Geierabends in diesem Jahr sein.

Ulli Durau

Stark ist, wenn das Ensemble das lokale Geschehen zu aberwitzig bösen Geschichten strickt: Für das Dortmunder U, das selbst trotz „Skandalmarketings“ mit der Kunstwerke wegschrubbenden Putzfrau an zweistelligen Besucherzahlen „arbeitet“, hat Tourismus 21 eine simple Idee. Warum nicht einfach die Dortmunder Nazis dort unterbringen, wo sie unter sich sind? „Da könnt ihr euch ein bisschen fühlen wie in Albert Speers Germania-Halle“ säuselt die Tourismusleiterin (Sandra Schmitz) dem Nazi-Kevin (Benedikt Hahn) zu. Da muss man bei dem Werbespruch schon ein bisschen schlucken: „Dortmund – wo Faschos zu Hause sind“.

Andere Szenen wie „Der Schatz im Phoenixsee“ klingen und beginnen zwar vielversprechend, werden aber nicht konsequent durchgezogen und versanden.

Verve zeigt allerdings der Steiger: Auch wenn er bei der Premiere noch nicht ganz ‘witzwarm’ wirkte, ließ er sich von der anwesenden Lokalprominenz nicht irritieren – baute OB Ullrich Sierau („Wir duzen uns, ich darf Ulli Durau sagen“) ein Fahrrad zum Telefonieren auf der Bühne auf und spottete über die umstrittenen Spenden von Kölbl und Kruse. Und auch einen treffenden Vorschlag für einen Ortszusatz hatte er parat: „Dortmund – die immer-wieder-Wahl-Stadt“…

Ab und zu daneben gegriffen

Und doch greifen die Geier auch manches Mal daneben: Ob nun Kakerlaken einen wenig erhellenden Choral zum Weltuntergang singen, allein der Name des Kfz-Mechanikers Boskop („Keine Äpfel!“) als Witz tragen soll oder Spielerfrauen angesichts von homosexuellen Fußballern plötzlich Spielermänner neben sich stehen haben – all das könnte man sich sparen und so das fast vierstündige Programm kürzen.

Da feiert das Publikum schon lieber die albernen, grellen Kostüme, die starke Musik der Geierabend-Band und die Kultfiguren wie die Bandscheibe (Franziska Mense-Moritz) oder die Zwei vonne Südtribüne (Mense-Moritz und Hans Martin Eickmann). Bei Joachim Schlendersack (Martin F. Risse) wird sogar ein Schweinetransport nach Brasilien zur Gaudi – was den Geierabend eben auch ausmacht, ist die Lust am reinen Klamauk.




Weihnachtsgeschichte eines Familienmenschen

Heute ist schon der 22. Dezember. Es wird eng. Auf, glückliche Fügung, ich geb dir noch 48 Stunden. Mach hinne.

Wie jedes Jahr, wenn Weihnachten in die Zielgrade geht, beginne ich mein vorweihnachtliches Telefon-Anstarren. Durch regelmäßige eindringliche Blicke versuche ich es in Gang zu setzen: Klingeln sollst du. KLINGELN! Schweigen. Wann immer ich die Wohnung betrete, frage ich meinen Anrufbeantworter, ob er mir nichts zu sagen hat. Hat er nicht – zumindest nicht das, was ich hören will.

Die hartnäckige Maulfäule der Telefone, die den Rest des Jahres fast unausgesetzt irgendwelche Töne absondern, gibt mir immerhin Gelegenheit zum Träumen. Ich stelle mir den ersehnten Anruf einfach schon mal vor. Er geht ungefähr so: Liebes Kind. Du musst jetzt ganz stark sein. Es tut mir schrecklich leid, aber ihr könnt mich dieses Jahr leider nicht besuchen. Sei nicht böse, aber es ist was dazwischengekommen …“ An dieser Stelle bricht mein Traum ab, weil es mir nämlich piepegal ist, was es genau ist, das meine Eltern vom jährlichen GAU abhalten könnte. Hauptsache der Satz mit dem „leider nicht besuchen“ ist in dem zusammengeträumten Anruf enthalten. Nein, das liebe Kind wäre nicht böse. Böse ist es hingegen, dass der Countdown läuft und sich sämtliche Telefone tot stellen.

Jinkee Choi "Toothed Cell", 08 (Foto JC)

Jinkee Choi "Toothed Cell", 08 (Foto JC)

Ich nehme an, bis hierher kann ich eurerseits mit heimlichen Verständnis rechnen. So ein plötzlich und unerwartet entfallendes Familienfest wär wie Weihnachten, oder?

Meine zugegeben aberwitziger Optimismus beruht auf der Tatsache, dass eben dieser Fall irgendwann einmal eingetreten ist. Ich erinnere mich nicht mehr an den Grund, jedenfalls kam just in dem Moment, da an Heiligabend „jedermann ging, dass er sich nerven ließe, ein jeder in seine Stadt“ ein Anruf, infolge irgendwelcher Umstände falle der weihnachtliche Menschenauflauf aus.

Was? Zwei Tage so ganz mit ohne reizende Menschen? Glückseligkeit brach über mich herein und ein paar wonnevolle Tage aus. Frieden auf Erden und mir ein Wohlgefallen.

Faceabookeachday-Tree (Foto Weißnichmehr)

Faceabookeachday-Tree (Foto Weißnichmehr)

Naja und seitdem hoffe ich auf eine Wiederholung jenes Weihnachtswunders. Die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eintretende Variante hingegen sieht so aus: Das Telefon verkündiget mir keine große Freude, und so versammelt sich an Heiligabend bei meiner Mutter eine (gefühlte) Unzahl von Menschen, am Folgetag („Gell, ihr bleibt doch über Nacht?“) bei meinem Vater (geschiedene Eltern erhöhen die Weihnachtsfeier-Rate um 100%!), wo sich das Peronenaufkommen infolge dessen Facebook-Dimensionen erreichenden Geselligkeitssinns zusätzlich verschärft. Den genauen Ablauf dieser Stammesriten erspar ich euch – ihr kennt das.

In freudiger Erwartung des drohenden sozialen Overkills verlier ich in der Regel am 24. nachmittags, wenn ich noch zuhause bin, die Nerven und versuche Schicksal zu spielen. Man weiß ja nie – vielleicht hab ich ja ein Klingeln überhört oder so. Jedenfalls rufe ich erst Mutter, dann Vater an mit der scheinheiligen Erkundigung: „Äh, wollt nur ma fragen, ob … ob’s dabei bleibt … ich mein: Sollen wir dann wirklich … also ich dachte … äh, es sei vielleicht irgendwas dazwischen …oder so … wollt nur nochma sicherheitshalber und so … weiß ja nich …“ Nach kurzem Erstaunen über die eigenwillige Syntax erinnern sich meine Eltern dann in der Regel an einen ähnlich lautenden Verzweiflungsanruf 365 Tage vorher und reagieren mit milder Nachsicht: „Aber nein, liebes Kind, ganz im Gegenteil: ich freu mich schon auf euch. Wo sei ihr denn? WAAAS? ZUHAUSE? NOCH IMMER?“ WIR WARTEN.“

Ausdruck innerer Befindlichkeit (Foto CL)

Ausdruck innerer Befindlichkeit (Foto CL)

Ja, nee, klar, bin schon unterwegs. Und während ich leise wimmernd einsehe, dass das Weihnachtswunder auch dieses Jahr ausbleibt, such ich mir jemand, um meine weihnachtliche Vorfreude an ihm auszulassen. Wen nehmen wir denn da mal … Au ja: mein bewährtes Lieblingsopfer. Also nächster Anruf: „UUUwe, sachma wo bleibst du? Wir müssen los, wir kommen zu spät – ich mein: Du kommst zu spät. Wie immer. Wo bist du denn?“

Ich sitze im Auto vor deinem Haus und warte auf dich. Aber erst seit ’ner halben Stunde – also lass dir Zeit und bring dich noch’n bisschen in Weihnachtsstimmung.“ „ICH BIN IN WEIHNACHTSSTIMMUNG.“

Des Hughes "Angry-Pins", 11 (Foto CL)

Des Hughes "Angry-Pins", 11 (Foto CL)

 




Treffsicher: Valentin-Preis an Helge Schneider

Wenn jemand einen Preis dieses Namens verdient, dann er: Helge Schneider. Er wird im Januar mit dem „Großen Karl-Valentin-Preis“ ausgezeichnet, darf sich der höchst treffsicheren Worte des Laudatoren Alexander Kluge ausgesetzt sehen und wird vermutlich mit Karl Valentin insgeheim einer Meinung sein: „Der nimmt das viel zu ernst!“ Gemeint ist mutmaßlicherweise der Kluge, dessen Name ihm als zu programmatisch erscheinen dürfte.

Eine von vielen: Helge Schneiders CD "I brake together" (2007, Century Media EMI)

Eine von vielen: Helge Schneiders CD "I brake together" (2007, Century Media EMI)

Er ist Helge Schneider aus Mülheim an der Ruhr, ein überzeugter Anarchist, ein Jongleur mit Wörtern, deren Sinn manche niemals, viele erst später und wenige sofort und gern durchschauen. Er ist Helge Schneider, einzig wahrer Bruder in der Gesinnung des großen Karl Valentin, der enormen Wert darauf legte, mit scharfem „V“ prononciert zu werden, schließlich sage man zu seinem Vater auch nicht „Water“. Er ist Helge Schneider, dessen Kunst es immer war, sein für jedermensch sofort verständliches „Können“ nur dann zu zeigen, wenn er wen völlig überraschend aus der Fassung bringen wollte; der Helge Schneider, dessen skurrile Satzgebilde gern mal Ratlose unter irgendeiner Kuppel zurückließen.

Ich bin so was von gespannt auf Helges Kommentar zu der ganzen Ehrerei. Indes, mein Kompliment an diejenigen, die erst seit 2007 diesen Preis an werthaltige deutsche Komik vergeben: Sie zeichnen den „Valentin“ unserer Zeit aus und haben den ultimativ Richtigen mit einer Ehrung getroffen, die den Vorzug hat, aus eben nichts zu bestehen.




Winkelmanns Theaterreise ins Dortmunder U

Sebastian Graf, Luise Heyer und Axel Holst in Winkelmanns Reise ins U. Foto: Birgit HupfeldDie Geschichte des Dortmunder U als Kreativzentrum ist bislang keine ruhmreiche: Erst das ewige Hin und Her um das Konzept, bevor die Fördergelder überhaupt flossen, dann zahlreiche Teileröffnungen, steigende Baukosten, Verzögerungen und das Gefühl, es noch immer mit einer Baustelle zu tun zu haben.

Regisseur Adolf Winkelmann („Contergan“) steckte dank seiner „Fliegenden Bilder“, die nun direkt unter dem goldenen U leuchten, mittendrin im Chaos – und hat seine schrägen Erfahrungen nicht nur in ein Buch, sondern auch in sein erstes Theaterstück gegossen. „Winkelmanns Reise ins U“ feierte im Dortmunder Schauspiel Uraufführung.

Nach den vielen Skandalen um das Dortmunder U wäre vieles möglich gewesen: Ein trockener Einblick in die Wirklichkeit, eine bitterböse Abrechnung, auch eine Selbststilisierung. Es spricht für Adolf Winkelmanns Humor, dass er selbst von einem „erfundenen Tatsachenbericht“ spricht, der sich irgendwo zwischen realen und fiktiven Absurditäten aufhält.

Die Satire tropft nur so aus jeder Szene, als der Künstler Winkelmann (großartig naiv gespielt von Axel Holst) und sein Filmteam ihrer Heimatstadt für den neuen Kreativturm ein filmisches Kunstwerk schenken wollen, das über den Dächern der Stadt leuchten soll. So viel arbeitsame Kreativität ist der Stadtverwaltung und ihrem Senator (Andreas Beck) unheimlich, die vor allem eines will: Finanzkräftige Investoren mit inhaltsleeren Wortwolken („Europäischer Kreativwirtschaftspott“) ködern und den Ruhm dafür einstreichen. Während also Winkelmann ein immer fantastischer werdendes Abenteuer erlebt, mit goldenen Filmstreifen und einer Unterstadt, in der Dortmund gegen seinen Untergang kämpft, baut die Stadt seine Kunst mit einem Krankenkassengebäude zu.

Regisseur Winkelmann macht nicht den Fehler, nur schwarz-weiß zu (über)zeichnen: Den grauen Stadtverwaltern, die jeden Vorgang genehmigt wissen wollen und ihren Lieblingssatz („Das kommt jetzt nicht ins Protokoll“) vor sich hertragen, steht ein chaotisches, überfordertes, konzeptloses Filmteam gegenüber. Seiner Sozialisation trägt Winkelmann durch starke Bilder, die gelungene Verschränkung von Video und Spiel und die filmisch kurzen Szenen Rechnung.

„Winkelmanns Reise ins U“ funktioniert auf mehreren Ebenen: Für jene, die die Protagonisten rund um den U-Turm kennen, sind ihre Bühnenkarikaturen ein herrlich amüsantes Fressen (vor allem, weil einige im Publikum sitzen) – auch deutlich zugespitzter als in seinem Buch. Das Stück aber ist auch eine liebevoll-kritische Bespiegelung des Ruhrgebiets und seiner Selbstzweifel. Und es bietet sich an als satirische Parabel auf das Gipfeltreffen von Kultur und Verwaltung, Kreativität und Bürokratie, wie es sich überall ereignen könnte.

Die Vision für das U ist am Ende grausig: Wegen zu hoher Betriebskosten wird es für die Öffentlichkeit gesperrt und von dem sich mit klugen Dienstplänen befassenden „Amt für Angelegenheiten des Dortmunder U“ besetzt.

(Dieser Text ist zuerst in der Westfälischen Rundschau erschienen).

Foto: Birgit Hupfeld




Worüber wir inzwischen nicht geschrieben haben

Holla! Als dieses Blog jetzt zwangsläufig für einige Tage offline gewesen ist, hat man erst einmal so richtig gemerkt, wie die Zeit verfliegt und wie die Ereignisse sich türmen.

Was hätte man nicht alles schreiben können, sollen, müssen!

Vom tödlich aggressiven Rechtsextremismus hätte man wohl auch hier nicht schweigen dürfen. Obwohl schon einem Karl Kraus zu Hitler nichts mehr eingefallen ist (ein Ohnmachtsgefühl, das er freilich höchst wortgewaltig zu entladen wusste).

Man hätte dem sauberen Signore Silvio B. einige Worte nachwerfen können.

Man hätte dem am Rande des Reviers (Schwelm) geborenen Franz Josef Degenhardt einen Nachruf widmen müssen. In anderen Atemzügen hätte man Wolf Biermann zum 75. Geburtstag gratulieren sollen. In beiden Fällen hätte es sich dringlich empfohlen, Worte wie „Bänkelsänger“ und „Barde“ zu meiden. Und es wäre gar zu schön gewesen, hätte man nicht den einen gegen den anderen ausgespielt.

Man hätte wohl auch das Gruselkabinett der neuesten „Dortmunder Peinlichkeiten“ (bald ein geschütztes Warenzeichen?) bebend, zornig oder lachend durchschreiten müssen. Angefangen mit dem inzwischen aufgegebenen, nichtsdestoweniger unsäglichen Vorhaben, dem „größten Weihnachtsbaum der Welt“ (ohnehin ein monströser Bastel-Fake aus ca. 1700 Rotfichten) einen Fußball statt eines Engels aufzusetzen. Der leider siegreiche Entwurf fürs künftige Deutsche Fußballmuseum gegenüber vom gleichfalls peinlichen Hauptbahnhof wäre auch zu bereden gewesen.

Ferner gab’s Absurditäten wie die „Hamster-Affäre“ (bitte selbst in die Suchmaschine des Vertrauens eingeben), in deren Verlauf eine Lehrerin eine Schülerin übelst gemobbt haben soll. Sodann hätten wir noch das bislang recht renommierte Dortmunder Institut für Kinderernährung, das sich Empfehlungen (etwa für „Fruchtzwerge“) offenbar mit Hersteller-Honoraren hat vergüten lassen. Und schließlich noch eine Zoo-Farce, in der mit angeblicher Billigung und tätiger Unterstützung des Direktors Männerakt-Aufnahmen in den Gehegen entstanden sein sollen. Sodom und Gomorrha?

Sagt selbst: Gibt es eine Stadt in Deutschland, die mehr unfreiwillige Komik zu bieten hat?

Mal ganz abgesehen davon, dass inzwischen die eine oder andere Ausstellung, diese und jene Aufführung ins Land gegangen sind. Aber mit unsinnigen Ansprüchen auf Vollständigkeit plagen wir uns ja eh nicht.

Trotzdem kommt man sich fast vor wie bei jener Baumarktkette, die dröhnend kundtut: „Es gibt immer was zu tun.“

Na gut. Packen wir’s an!




Endlich im Museum: Blaubär, Arschloch und der Föhrer

Käpt’n Blaubär, dieser behäbig-gutmütige Lügenbär aus der „Sendung mit der Maus“?

Ist von ihm, Walter Moers.

Dann das Kleine Arschloch, diese respektlose Comic-Figur, ein Elfjähriger mit großer Nase und baumelndem Schniedelwutz?

Von ihm, Moers.

„Adolf, die kleine Nazi-Sau“, die scheiternde Witzfigur aus dem Clip „Der Bonker“?

Moers’ Idee.

Der Kontinent Zamonien, ein düster-sagenhafter Schauplatz einer ganzen Roman-Reihe – von Käpt’n Blaubärs Abenteuern für Erwachsene über Rumo bis zu einäugigen Buchlingen, die tief unter der Erde leben?

Eine grafische und wortgewaltige Schöpfung von: Moers.

Endlich darf Moers ins Museum

„7 ½ Leben“ hat Walter Moers schon hinter sich gebraucht – zumindest legt die gleichnamige Ausstellung in der Ludwig Galerie Schloss Oberhausen das nahe.

Zum ersten Mal darf das Gesamtwerk des Zeichners, Grafikers, Autors ins Museum. Skizzen und Vorab-Collagen sind zu sehen, Storyboards und fertige Clips, Tuschezeichnungen, Objekte und Bücher.

Richtig: Bücher. An den Bänken sind Moers’ Romane befestigt. Wer viel Zeit mitbringt, kann so auch in der zamonischen Welt versinken, die Moers seit 1999 erschafft. Aus Text, besonderer Typografie und eingefügten Zeichnungen.

Bedrückend. Und heiter

Für seine Romane schafft Moers mit Tusche Szenen, die beides sind: bedrückend und heiter. Viele Figuren wirken lächerlich und verbreiten doch Angst und Schrecken. Das ist die Kunst seiner Fantasie: Alles kann jederzeit ins Gegenteil umschlagen – in die schrecklichsten Höllenqualen oder in ein rauschendes Fest.

Viele der Original-Zeichnungen sind auch in Oberhausen zu sehen. Und stellen den Betrachter vor eben dieses Rätsel: Sind das nun Endzeit-Visionen wie bei Pieter Bruegel? Angsteinflößende Kreaturen im Stil eines Gustave Doré? Oder spielt Moers nur wieder mit den Vorlagen?

Respektlosigkeit gegenüber da Vinci? Gerne doch!

Moers liebt die Persiflage. Ein paar Respektlosigkeiten gegenüber da Vinci, Rembrandt, Picasso, Munch und Miró? Sind immer drin. Moers imitiert die Werke, kopiert sich durch all die Stile der Kunstgeschichte und setzt immer sein Kleines Arschloch in die Mitte.

Auf die vermeintlich antike Vase, als goldverzierte Ikone, als Mona Lisa, als Schrei, als Warhol’sche Campbell-Dose – selbst als Snoopy-Ersatz auf der Hundehütte. Über dem letzten Bild schwebt die Denkblase: „Hier sollte eine heiter-besinnliche Schlusspointe stehen, aber mir fällt keine ein.“ Treffender und gemeiner kann man Charles M. Schulz’ Comics nicht entlarven.

Ein kotzender „Bürger von Calais“

Andererseits: Selbst bei Werken, die ihrerseits Tabus brachen, dreht Moers die Schraube noch etwas weiter. Bei Jeff Koons „Made in Heaven“ hockt das Kleine Arschloch in eindeutiger Pose vor der Frau, die sich auf dem Gras räkelt. Wenige Meter weiter würgt eine großnasige Steinfigur ihren Magen-Inhalt heraus, Moers‘ Version von Auguste Rodins „Bürger von Calais“.

Nicht umsonst warnt ein Schild: Dieser Teil der Ausstellung ist nur für Besucher ab 16 geeignet.

Harmlose Blaubär- und Hein-Blöd-Puppen

Harmlos dagegen geht es in einem anderen Gebäudeteil zu. Die Puppen von Käpt’n Blaubär und Hein Blöd sind ausgestellt. Ein Film zeigt, wie die Puppenspieler arbeiten, wie es hinter den Kulissen aussieht. So wird ganz nebenbei deutlich, wie Moers’ Ideen eben auch funktionieren: mit dem Kern erfolgreich sein, dann vermarkten – vom Musical bis zur Kuschelpuppe.

Es wäre allerdings unfair, Walter Moers auf den breiten Merchandising-Aspekt zu reduzieren. Zumal der personenscheue Künstler eher das neue Ufer sucht, als am alten Ausverkauf zu betreiben.

Was Moers in den 80ern schon konnte

Die „7 ½ Leben“ zeigen seine Entwicklung. Moers hatte zwar schon immer Talent im Zeichnen, im detaillieren Umsetzen und im textlichen Verdichten. Viele Ideen aus den späteren Romanen hatte Moers schon in den 80ern. Es brauchte allerdings Jahre, bis er den exakten Einsatz von Illustrationen und pseudo-wissenschaftlichen Grafiken dosieren konnte.

Harte Arbeit war das, davon zeugt das Tipp-Ex auf einigen Entwürfen, die in Oberhausen zu sehen sind. Am Ende jedoch kommt so etwas heraus wie das „Tratschwellen-Alphabet“. Das dem Betrachter einfach ein Lächeln abverlangen muss.
Mindestens.

Walter Moers‘ 7 1/2 Leben sind noch bis zum 15. Januar 2012 zu sehen. Ludwiggalerie Schloss Oberhausen, Konrad-Adenauer-Allee 46, geöffnet Di-So 11-18 Uhr. Katalog 29 Euro.

 

(Eine ähnliche Version dieses Textes ist im Westfälischen Anzeiger erschienen).




Drei Meldungen – drei Erkenntnisse

Ich war mir nicht so sicher, ob diese Zeilen in ein kulturgeneigtes Medium wie dieses gehören, doch dann fiel mir ein, dass auch Kabarett als Kultur angesehen wird, dass auch Satire eine Kunstform darstellt, und so fragte ich mich, warum solle dann nicht auch Realsatire künstlerischen und kulturellen Beobachtungen unterworfen werden.
So seien sie denn genannt, die meiner Ansicht nach verwirrendsten Nachrichten des Tages:

Kanzlerin und Kabinett sind völlig perplex, weil die Herren Putin und Medwejew planen, wieder ihre Rollen zu tauschen.

Ein Herr Dirk Pfeil, hauptberuflich Insolvenzverwalter, ehrenamtlich FDP-Lenkungsfunktionär, hat das Rätsel gelöst: Nicht seine Partei ist zu dumm, die richtige Politik zu machen, die Wählerinnen und Wähler werden bewusst zu blöd gehalten (vermutlich von den politischen Konkurrenten), um die Politik der FDP zu verstehen.

Und dann noch Standard & Poor’s – ja, das ist eine von den drei mächtigen Rating-Agenturen in den USA, die ganze Länder in den freien finanziellen Fall herabstufen können. Also, Standard & Poor’s droht Strafverfolgung, weil sie während der Finanzkrise 2007 ein Hypothekenpapier falsch bewertet haben, und zwar so, dass sie offenbar gegen amerikanische Wertpapiergesetze verstießen.

Was lehrt uns das alles?
1. Es darf getrost deutsche Regierungen geben, die einerseits ganze Währungssysteme retten wollen, aber beim nächstliegenden Vorgang in der Außenpolitik ins Staunen geraten. Genauer: Naiv zu sein, ist kein Kabinetts-Ausschlussgrund.

2. Man kann durchaus mit Fingerspitzengefühl (siehe Opel) ein großes Unternehmen treuhänderisch durch eine schwere Situation lenken wie Herr Pfeil, und dennoch so dämliches Zeug erzählen, wie er das als führender Liberaler tut. Genauer: Es ist derzeit anscheinend Eintrittsvoraussetzung in die FDP, dass man nachweislich dazu in der Lage ist, quasi im Handumdrehen Quatsch von sich geben zu können.

3. Finanzexperten der höchsten Qualität zeichnen sich gegenüber denen, deren Geld sie waschen, aus, dass sie einem Schlüssel besitzen, der sie wieder ins Freie treten lässt, wenn sie die Kunden besucht haben. Genauer: Kriminelle Energie gehört anscheinend zum Erfolg mancher, die als Banker vor Seriosität beinahe platzen.

Das waren sie, die drei Top-Meldungen des Tages – und ich bin sicher, ich fände noch mehr, wenn ich mich nur bemühen würde.




Das Sexmonster greift an

Ob eine Dreiecksbeziehung mit Leiche, Blutorgien oder das kampfbereite Hirn von Hitler – der als Trash-Papst gefeierte Arthouse-Horrorfilmregisseur Jörg Buttgereit hat eine Vorliebe für Themen, die unsere Gesellschaft lieber verdrängen würde. Der Dortmunder Schauspieldirektor Kay Voges hat diesen Grenzgänger engagiert, mit dem Double-Feature „Green Frankenstein“ und „Sexmonster“ die Studio-Saison zu eröffnen. Mut, der sich gelohnt hat.

Haltet die Moral hoch! Foto: Birgit Hupfeld

Haltet die Moral hoch! Foto: Birgit Hupfeld

Jörg Buttgereit hat eigentlich Unmögliches möglich gemacht: Trash-Kultur im Theater, Film auf der Bühne, japanischer Monsterfilm ohne Monster, schmieriges Zitat der Sexploitation-Filme aus den 70ern ohne Nacktheit – der Regisseur bricht in jeder Hinsicht mit Erwartungen und Konventionen. Und hat stattdessen ein Konzept entwickelt, das so folgerichtig wie unterhaltsam ist, dass es sich auf weitere Theaterabende übertragen ließe:

Ausgangspunkt für die beiden Stücke „Green Frankenstein“ und „Sexmonster“ sind von Buttgereit geschriebene Hörspiele. Die Idee des „Kopfkinos“ setzt er konsequent um, indem er die Schauspieler in einem schmuddeligen Bahnhofskino agieren lässt, ständig wechselnd zwischen Zuschauer und Figur, mit Mikrofonen in der Hand und Text, der auf der Leinwand mitläuft.

So spiegelt Buttgereit nicht nur Zuschauer mit Zuschauern. Er sorgt auch dafür, dass das, was wir sehen, hauptsächlich aus uns selbst kommt.

Und das ist bei den verhandelten Themen eine starke Grundsituation: „Green Frankenstein“ erzählt von einem wütenden Monster in Hiroshima, das die Menschen vernichten will, weil sie das ökologische Gleichgewicht gefährden. „Sexmonster“ entführt in das zwielichtige New York, wo der Außenseiter Adam seine Chance wittert, als ihm der riesige Penis seines verstorbenen Freundes transplantiert wird. Doch anstelle eines erfolgreichen Liebhabers wird er zum triebgesteuerten Sexmonster.

Köstlich, wie die Schauspieler – Sebastian Graf, Bettina Lieder, Uwe Schmieder und Annika Meier, Christoph Jöde– sich in diese Abenteuer stürzen, die schrägsten mimischen Varianten testend, musikalisch brillierend, zur Beatbox mutierend, jede Situationskomik auskostend. Der Clou ist die Live-Performance des Geräuschemachers Dieter Hebben: Als er bei der Penistransplantation eine Porreestange ansägt, winden sich die männlichen Zuschauer.

So schräg, witzig, ungewöhnlich ist dieses dennoch cineastische Erlebnis, dass sich das Publikum schier ausschüttet vor Lachen. Unter all dem Trash und der Komik aber versteckt Buttgereit einen überraschend moralischen Subtext: Der Mensch, der sich gegen die Natur stellt und als Gott aufspielt, ist schließlich ein altes (Film)-Thema.

(Der Artikel stand zuerst in der Westfälischen Rundschau)

Teaserfoto: Birgit Hupfeld