Ein Stoff von ungebrochener Aktualität – Ibsens „Nora“ im Westfälischen Landestheater

Nora (Pia Seiferth) (Foto: Westfälisches Landestheater/Volker Beushausen)

Von Noras Puppenheim ist nicht viel übrig geblieben. Lediglich eine Spielfläche aus Eichenparkett in Fischgrätmuster, hüfthoch errichtet, füllt den Bühnenraum, erinnert entfernt an einen Boxring. Selbst dieser Rest ist für die Handelnden kein sicherer Ort. Im Verlauf des Abends werden zackenförmige Stücke aus dem Boden verschwinden, sich Abgründe auftun. Das Westfälische Landestheater (WLT) zeigt Henrik Ibsens skandalöses Erfolgsstück „Nora“ energiegeladen, laut, sportiv – und kommt dem Kern der Sache auf diese Weise erstaunlich nahe.

Jung und energisch

Im Laufe ihres langen Bühnenlebens hat „Nora“ etliche mehr oder weniger behutsame Um- und Neudeutungen erfahren. Gleichwohl ist die Frau den meisten Theatergängern als selbstverleugnendes, stets verzeihendes Gefühlswesen geläufig, der Liebe gänzlich hingegeben. Erst am Ende der Geschichte geht ihr auf, dass ihre grenzenlose Liebe kein Geschäft auf Gegenseitigkeit ist, dass sie, die Bilder sind wohlfeil, die Puppe im nämlichen Puppenhaus ist.

Die spontane Entscheidung der Bankiersgattin aus betuchtem bürgerlichen Milieu, nach abgrundtiefer Enttäuschung Mann und Kinder zu verlassen, war nicht nur im Jahr der Uraufführung, 1879, eine Ungeheuerlichkeit, sondern ist es für viele Menschen bis in unsere Tage, allen gesellschaftlichen Fortschritten zum Trotz.

Szene mit Nora (Pia Seiferth, rechts) und Frau Linde (Vesna Buljevic) (Foto: Westfälisches Landestheater/Volker Beushausen)

Von einem liebenden, passiven Puppenhauspüppchen hat die Nora in Markus Kopfs WLT-Inszenierung nichts. Pia Seiferth gibt sie als energische Immer-gut-drauf-Erscheinung, als Mitglied gleichsam der Generation Smartphone (natürlich ohne Smartphone), das sich sein Leben an der Seite seines Mannes Helmer (Maximilian von Ulardt) so und genau so ausgesucht hat. So aktiv passt sie eigentlich nicht so recht zu ihrem Gatten mit seinen steten, latent aggressiven Sprüchen und Unterwerfungsgesten. Aber wo die Liebe hinfällt ist es dann eben, wie es ist.

Erpressung

Auch zwischen diesen beiden Charakteren könnte es ja noch geschehen, „das Wunderbare“ (O-Ton Nora), diese grenzenlose Bestätigung ihrer Liebe. Die Bestätigung, dass sie wichtiger ist als jede gesellschaftliche Konvention, wichtiger auch als Helmers neuer gut dotierter Job, der vielleicht gefährdet wäre, wüsste man um den Betrug seiner Gattin. Sie hatte, um es kurz zu erwähnen, die Unterschrift ihres sterbenden Vaters auf einem Schuldschein gefälscht, um sich Geld leihen zu können. Das Geld brauchte sie, um sich und ihrem Mann einen langen, lebenserhaltenden Italienaufenthalt zu ermöglichen. Und nun wird sie erpresst, und fast kommt alles raus.

Nora (Pia Seiferth) am Boden. (Foto: Westfälisches Landestheater/Volker Beushausen)

Der Konflikt ist relativ zeitlos, egal ob Nora schließlich mit dem berühmten Türenschlagen abgeht oder nicht. In Castrop-Rauxel entfällt das Türenschlagen sowieso, mangels Tür. Hier entschied sich der Regisseur, auch lange noch, nachdem das Licht erloschen ist, den verlassenen Helmer auf der Bühne jammern zu lassen.

Tourneetheater

Sparsame Ausstattungen – diese stammt von Manfred Kaderk – sind sozusagen eine Spezialität des Westfälischen Landestheaters und dem Tourneebetrieb geschuldet. An allen vier Seiten der „Boxring-Bühne“ finden deshalb die Auftritte und Abgänge statt, meistens unspektakulär und zweckmäßig. Der Konzentration auf das Geschehen tut dieser uneitle Inszenierungsstil gut. Weil er überdies Zeit spart, trägt er sicherlich auch dazu bei, das Stück in gerade einmal zwei Stunden (plus eine Pause) mit großer Konzentration und Vollständigkeit auf die Bühne des Studios stellen zu können.

Nora (Pia Seiferth, links) und Doktor Rank (Bülent Özdil), der sich auf der Neujahrsparty amüsiert hat und nicht mehr lange leben wird. (Foto: Westfälisches Landestheater/Volker Beushausen)

Auf charakterliche Ambivalenzen lässt sich diese Inszenierung nur begrenzt ein. Bülent Özdil gibt den lebenslustigen, gleichwohl, wie sich erweisen wird, todgeweihten Doktor Rank vorwiegend laut und lustig. Vesna Buljevic – etwas verhärmt, etwas vorgealtert – ist auf überzeugende Art die mittellose, arbeitsuchende Witwe Linde, eine Art mahnender Gegenentwurf zum freiheitsuchenden, unvernünftigen, skandalösen finalen Frauenbild Noras. Guido Thurk schließlich raunt sich als verzweifelt-verschlagener Rechtsanwalt Krogstad durch das Geschehen, und sie alle tragen mit streckenweise bewunderungswürdigem Körpereinsatz zum Gelingen dieser Inszenierung bei.

Das Publikum applaudierte beigeistert.

  • Termine:
  • 12.2., 25.2., 26.2., 28.2. Castrop-Rauxel, Studio
  • 1.3. Radevormwald, Bürgerhaus
  • 7.4. Versmold, Aula der Hauptschule
  • 2.10. Recklinghausen Ruhrfestspielhaus
  • 29.11. Castrop-Rauxel, Studio
  • www.westfaelisches-landestheater.de
  • Ticket Hotline Tel. 02305 9780 – 20



Das Elend hat ein Ende: Ab 16. Dezember 2017 spielt das Dortmunder Theater wieder im Schauspielhaus

Kein sehr einladender Ort: Der „Megastore“, bevor die Theaterleute kamen. (Foto: Theater Dortmund)

Am 16. Dezember 2017, einem Samstag, spielt das Theater Dortmund nach fast zweijähriger Umbauzeit erstmalig wieder im Schauspielhaus.

Der Umzug aus der Ausweichspielstätte „Megastore“ in Dortmund-Hörde beginnt am 1. August 2017.

Im „Megastore“ spielt das Theater am 22. Oktober 2017 zum letzten Mal. Das Gebäude bleibt bis 18. Februar 2018 angemietet, damit ein zeitlicher Puffer nach hinten bleibt und der Auszug ohne zusätzlichen Streß erfolgen kann.

Dortmunds Schauspiel-Intendant Kay Voges kann jetzt planen. (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Büro- und Funktionsräume im Theater werden aufgehübscht und instand gesetzt, so daß die geschundene Schauspieltruppe um Intendant Kay Voges in ein wirklich voll funktionsfähiges Schauspielhaus einziehen kann.

So weit die wichtigsten Fakten, die Kulturdezernent Jörg Stüdemann heute (Freitag) Nachmittag in einem kleinen Konferenzraum des „Megastore“ der zahlreich erschienenen Fachöffentlichkeit mitteilte.

Es tat schon ziemlich weh

Mit diesem Zeitplan ist sozusagen das Damoklesschwert verschwunden, das in den letzten Tagen über dem Dortmunder Theater drohend hing: Wegen diverser Verzögerungen bei Renovierung bzw. Neubau des Werkstattkomplexes war, wie im Lokalteil einer Dortmunder Zeitung zu lesen stand, erwogen worden, die gesamte kommende Spielzeit im „Megastore“ zu bleiben.

Dann wären aus dem ursprünglich geplanten halben Jahr Bauzeit zweieinhalb Jahre geworden, was die Theaterleute zu Recht als Zumutung empfanden. „Als es anderthalb Jahre wurden, fing es an, weh zu tun“, sagt Kay Voges. „Improvisieren ist für kurze Zeit ja ganz schön, aber als Dauerzustand…“

Zwei Millionen für ein Provisorium

Gleichwohl hat das Theater, als die Verlängerungsdrohung im Raum stand, mal nachgerechnet und die erforderlichen „Megastore“-Investitionen in Heizung, Magazin, Sanitäranlagen und Technik auf mindestens zwei Millionen Euro beziffert. Zwei Millionen für wenige Monate in einem auch dann noch schlechten Provisorium? Die Rechnung aber war wohl nicht ganz falsch, und sie mag ihren Anteil daran gehabt haben, daß sich das Verwaltungshandeln aufs Erfreulichste beschleunigte und schließlich der von Stüdemann vorgetragene Zeitplan stand. Zudem hatten die Besitzer des „Megastore“-Gebäudekomplexes in Verhandlungen keine Bereitschaft signalisiert, baulichen Veränderungen zuzustimmen. Sie haben für das Gebäude andere Pläne.

Dem Dortmunder Schauspiel sind im „Megastore“ immer wieder eindrucksvolle Produktionen gelungen; Szene aus „Disgraced“ mit (von links) Merle Wasmuth, Merlin Sandmeyer, Carlos Lobo, Bettina Lieder und Frank Genser (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

„Differente Auffassungen“

Doch wie kam es zu dieser wundersamen Beschleunigung des Verwaltungshandelns? „Imponderabilien haben sich aufgelöst. Wir konnten konkret planen“, sagt Theater-Verwaltungschefin Bettina Pesch, und wenn man fragt, was da gemeint sei, wird es schnell sehr kleinteilig. Jedoch so viel: Es gab „differente Auffassungen zur Standstatik“, so Stüdemann. „Diese Sorge hat sich aufgelöst.“ Gute Nachrichten gab es auch hinsichtlich des rechtzeitigen Einbaus der Aufzüge, das Brandschutzprogramm wurde planmäßig abgearbeitet, und neue Probleme sind jetzt einfach nicht mehr vorgesehen.

Voges hat Pläne, verrät aber noch nichts

Wenngleich, Frau Pesch ist Realistin genug, dies anzumerken, man eben im Bestand arbeite, da gebe es immer das Risiko des Unvorhergesehenen. Sehr groß ist es aber nun, da man die Rohbauphase hinter sich hat, wohl nicht mehr. Zur Erinnerung: Die Bauarbeiten gerieten in heftigen Verzug, weil man bei der Gründung des neuen Bauwerks auf nirgendwo verzeichnete Fundamentreste im zweiten Kelleruntergschoß stieß, außerdem auf unbekannte Rohre, die überdies noch asbestisoliert waren.

„Heute ist ein guter Tag“, sagt Kay Voges, „Ab heute kann wieder zuverlässig geplant werden.“ Und hat er schon Pläne für den Eröffnungstag, den 16. Dezember? „Ja“, sagt er, „aber die verrate ich nicht.“

Hals- und Beinbruch! Und nicht pfeifen.




Boulevard am Abgrund: „Biedermann und die Brandstifter“ zeigen in Bochum freundliche Gesichter

Die Kulisse lässt an anspruchsloses Tourneetheater denken, eine Art Wohnzimmerwand mit Türen darin, Sofa, Tisch, Sessel. Und wenn sich Herr Biedermann bei der Zeitungslektüre über die Brandstifter aufregt, die in der Stadt ihr Unwesen treiben, dann wirkt das immer noch wie Boulevardkomödie.

Herr Biedermann (Martin Horn, Mitte) mit dem Ringer Schmitz (Jürgen Hartmann, li.) und dem Kellner Eisenring (Matthias Eberle, re.). (Foto: © Thomas Aurin / Schauspielhaus Bochum)

Herr Biedermann (Martin Horn, Mitte) mit dem Ringer Schmitz (Jürgen Hartmann, li.) und dem Kellner Eisenring (Matthias Eberle, re.). (Foto: © Thomas Aurin / Schauspielhaus Bochum)

Doch spätestens mit dem Auftreten des dreiköpfigen Chores kommt Hintersinn ins Spiel. Regisseur Hasko Weber inszeniert auf der großen Bühne des Bochumer Schauspielhauses Max Frischs „Biedermann und die Brandstifter“, und dies ist angeblich eben keine Komödie, sondern, in den Worten des Dichters, „ein Lehrstück ohne Lehre“.

Zudem war dieses Lehrstück eins der erfolgreichsten Stücke der Nachkriegszeit. 1958 in Zürich uraufgeführt, erlebte es in der Folge über 250 deutschsprachige Inszenierungen. Damals, 13 Jahre nach Ende des Krieges, muss es genau den richtigen Ton getroffen haben, der trotz humoristischer Elemente fraglos ein hoch moralischer war.

Damals standen Verbrecher in Uniform im Mittelpunkt der Kritik, denen, kleiner Scherz gegen Ende des Frisch-Textes, die Qualen der Hölle erlassen werden, wenn sie ihre Verbrechen in Uniform begangen haben. Doch reicht dieses Stück mit seinen absurden inhaltlichen Elementen weit über die Begrenztheit einer Moralpredigt hinaus, ist ganz im Gegenteil ein schonungsloses Ausloten menschlichen Verhaltens in diffus bedrohlicher Situation und damit hoch aktuell.

Des Hausherrn rätselhafte Motive

Ob das Stück auf der Bühne funktioniert, hängt natürlich maßgeblich an der Interpretation des Biedermanns, der nahezu unspielbar ist. Ein aufrechter Bürger soll er sein, der völlig zu Recht die Unfähigkeit der Behörden beklagt, ein brutaler Chef aber auch, der seinen Mitarbeiter Knechtling in den Selbstmord getrieben hat und dessen Witwe die Hilfe verweigert; einer, der sich bei „armen Leuten“, eben den Brandstiftern, anbiedert und von deren Brandstiftungsabsicht selbst dann noch nichts wissen will, wenn diese auf dem Dachboden letzte Vorbereitungen für das große Zündeln treffen. Sie haben ja nicht mal Streichhölzer dabei, wie könnte Gefahr von ihnen ausgehen?

Martin Horn gibt diesen Herrn Biedermann nach anfänglicher Ambivalenz bald schon sorglos und entspannt. Die Motive seiner ungebetenen Gäste verleugnet er hartnäckig, und die Frage, warum er das tut, hätte durchaus etwas mehr Beachtung innerhalb dieser Inszenierung verdient. Ist es Naivität, Verleugnung aus schlechtem Gewissen, opportunistische Anbiederei?

Die Stadt in Flammen

Stattdessen nimmt das Bühnengeschehen seinen boulevardesken Fortgang. Anna, das Dienstmädchen (Kristina Peters) fällt wiederholt gekonnt in Bühnenohnmacht und muss dann wieder aufgerichtet werden, durchaus erheiternd gerät die stilgerechte Inszenierung eines „proletarischen“ Gänsebratenessens durch den absichtsvoll leger gekleideten Hausherren.

Bis zur Pause geht das so, auch die Gespräche zwischen bunten Benzinfässern auf dem Dachboden sind getragen von Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft. Nur die hübsche projizierte Stadtkulisse im Hintergrund (Bühne und Kostüme: Thilo Reuther) scheint irgendwann Feuer gefangen zu haben.

Nach der Pause denn also, nachdem die Stadt in Schutt und Asche liegt, treffen wir Herrn Biedermann und seine Frau Babette (Veronika Nickl) in der Hölle wieder, wo eine veritable Riesenflamme aus dem Boden schießt und ab und zu grelles Scheinwerferlicht die Zuschauer blendet. Im Hintergrund verbrennen Höllenmitarbeiter in einem Feuerkorb Blatt für Blatt den Grundrechteteil des Grundgesetzes, jeden Paragraph zitierend und mit Nummer 1 („Die Würde des Menschen ist unantastbar“) endend – ein ärgerlicher interpretatorischer Eingriff, der der breiten Gültigkeit des Stücks nicht gerecht wird. Kurz darauf ist das Spiel dann zu Ende, und auf die Pause hätte man gut verzichten können.

Der Chor kann nichts machen

In lebhafter Erinnerung bleiben Jürgen Hartmann und Matthias Eberle als die Brandstifter Schmitz und Eisenring, beide eher bedrohlich als bedürftig, trotz der rührenden Geschichten, die sie aus ihrem harten Leben erzählen.

Daniel Stock, Klaus Weiss und Luana Velis bilden den Chor nach dem Vorbild der klassischen griechischen Tragödie. Sie sind Beobachter des Geschehens, paraphrasieren und kommentieren es in gemessenen Versen. Und würde man sie rufen, dann würden sie auch helfen. Doch zunächst ist es an den Menschen selbst, zu handeln. Auch das „Lehrstück ohne Lehre“ kommt ohne Lehre nicht aus.

Herzlicher Applaus für die aufgeräumt aufspielende Darstellerriege.

  • www.schauspielhausbochum.de
  • Termine: 26., 28. Januar, 2., 7., 15., 25. Februar 2017,
  • 19.30 Uhr, Schauspielhaus
  • Karten Tel.  0234 3333 5555

 




Warum ich Premieren so liebe…

Große Gefühle auf der Bühne: Rigoletto (Luca Gratis), Maddalena (Bettina Ranch), der Herzog von Mantua (Carlos Cardoso) und Gilda (Cristina Pasaroiu). (Foto: Matthias Jung/Aalto-Theater)

„Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne…“ – deswegen gehören Premieren in Oper oder Schauspiel zu den aufregendsten Vorstellungen. Im Gegensatz zum Repertoire-Abend ist die Atmosphäre einfach unvergleichlich: Es liegt so eine Spannung in der Luft, ein „Wie wird es heute bloß werden?“ oder, von Künstlerseite, ein „Werde ich auch gut (genug) sein? Lampenfieber hinter der Bühne, Neugierde im Zuschauerraum. Es soll Regisseure geben, die es nicht ertragen, die Premiere zu verfolgen und sich in die Garderobe verkriechen und erst beim Applaus wieder heraus trauen…

Für Kritiker sind Premieren dagegen der übliche Termin: Man muss ja meist über die Produktion schreiben, wenn sie brandneu ist. Manche sind jede Woche in einem anderen Haus. Und doch: Fast drei Monate hatte ich Weihnachts- und Erkältungspause und inzwischen richtiggehend Entzugserscheinungen.

Deswegen war Rigoletto im Aalto-Theater in Essen meine erste Premiere im neuen Jahr. Was auf der Bühne geschah, hat meine Kollegin Anke Demirsoy geschrieben: https://www.revierpassagen.de/39768/die-rache-show-des-rigoletto-frank-hilbrich-inszeniert-giuseppe-verdis-oper-am-aalto-theater/20170123_1727 – Warum die Premiere aber auch als gute Party taugt, lesen Sie hier.

Neuer Trend: Fliege statt Krawatte

Wen man nicht alles trifft: Ehemalige Kollegen, Künstler von anderen Häusern, Nachbarn, Freunde! Und alle sind top angezogen! Kleine Fliegen statt Krawatten kommen wieder, Frauen tragen diesen Winter gerne silberne High Heels. Nun schnell noch einen kleinen Sekt oder Champagner auf Ex, da gongt es auch schon. Rasch hinein!

Die Reihen füllen sich, das Aalto-Theater ist bis auf den letzten Platz besetzt, die Zuschauer wispern und flüstern, das Licht geht aus. Verdis Ouvertüre braust los, danach betritt ein Horror-Clown vor einem lila-Glitzervorhang die Bühne: Rigoletto, der Narr. Ob das jetzt stimmig ist oder nicht, ist mir heute wurscht, ich beschließe, einfach alles toll zu finden…

Dieser herrliche Pausentratsch

Nicht so schwierig bei Verdi, dessen Melodien man tausendfach gehört hat, im Zweifel in der Pizza-Werbung, die aber live auf der Opernbühne gesungen alle Konserven mühelos überbieten. Gilda in Jeans sieht aus wie ein Mädchen von heute, doch wenn sie singt, bekomme ich Gänsehaut. Und Cristina Pasaroiu Szenenapplaus. Das Essener Publikum ist an diesem Abend überhaupt klatschfreudig und begeisterungsfähig.

Klatschfreudig sind auch die Menschen in der Pause: „Weißt du schon, dass M. geheiratet hat?“ – „Nein, wirklich? Wen denn?“ Ohne Opernpremiere hätte ich diese brandheiße Nachricht längst nicht so schnell erfahren…

Noch bevor wir alle Einzelheiten zur neuesten Hochzeit im Bekanntenkreis austauschen können, gongt es schon wieder. Dann müssen wir wohl zur Premierenfeier bleiben, hilft ja nix.

Auf der Bühne schwört Rigoletto Rache, der Herzog entpuppt sich endgültig als treulose Tomate, die er von Anfang an war und Gilda opfert sich aus Liebe. Große Gefühle, die wir uns im Alltag kaum noch erlauben. Deswegen ist es ja so schön, sie auf der Opernbühne mitzuerleben – seufz…

…und dann auch noch Freibier vom Fass

Nach dem tragischen Finale gibt es nochmal großen Applaus – auch Klatschen macht bei Premieren mehr Spaß, ebenso wie Buhrufe (habe ich aber diesmal keine gehört), denn es steht etwas auf dem Spiel: Wie wird die Inszenierung angenommen? Mag das Publikum das Stück? Oder münden wochenlange Probenarbeiten in einem Reinfall? Außerdem hat man die einmalige Gelegenheit, das Regieteam zu sehen, das sich nur am Premierenabend verbeugt.

Das Beste folgt allerdings nach dem Schlussapplaus: Schöne Tradition im Aalto ist das Freibier vom Fass bei der Premierenfeier. Nichts macht ja durstiger als ein zwanzigminütiger Bühnentod. Wer Hunger hat, findet ebenfalls einen kleinen Happen zu essen und der Intendant stellt die Künstler des Abends vor. Einmalige Gelegenheit, sie nicht im Kostüm, sondern ganz privat zu erleben, wie sie sich unter die Gäste mischen…

Wer dabei sein möchte, muss sich nur eine Premierenkarte kaufen. Im Ruhrgebiet kommt mindestens jede Woche ein neues Schauspiel oder eine neue Oper heraus, wenn nicht öfter.

Die nächste Opern-Premiere im Aalto: „Le Prophète“ von Giacomo Meyerbeer am 9. April 2017. Vorher gibt es noch einen Ballettabend: „3 BY EKMAN“ am 4. März. Sehen wir uns da?

Weitere Infos:
www.aalto-musiktheater.de




„Kopf über Welt unter“: Ruhrfestspiele 2017 blicken auf den Menschen in seiner krisenhaften Verunsicherung

The Park Avenue Armory presents FLEXN WORLD PREMIERE A Collaboration of Reggie (Regg Roc ) Gray, Peter Sellars , and Members of the Flex Community in the Drill Hall, Park Avenue Armory on March 24, 2015. Light Sculpture & Lighting Design: BEN ZAMORA Sound Design: GARTH MACALEAVEY MUSIC: EPIC B THE COMPANY: ACE: Franklin Dawes Android : Martina Lauture Banks : James Davis Brixx : Sean Douglas Cal: Calvin Hunt Deidra : Deirdra Braz Dre Don: Andre Redman Droid: Rafael Burgos Droopz: Jerrod Ulysse Karnage: Quamaine Daniels Klassic: Joseph Carella Nicc Fatal: Nicholas Barbot Nyte: Ayinde Hart Pumpkin: Sabrina Rivera Regg Roc: Reggie Gray Sam I Am: Sam Estavien Scorp: Dwight Waugh Shellz: Shelby Felton Slicc: Derick Murreld Tyme: Glendon Charles Vypa: Khio Duncan YG: Richared Hudson Commissioned and produced by Park Avenue Armory Credit: Stephanie Berger

Park Avenue Armory kommt mit „Flexn“ zu den Ruhrfestspielen (Foto: Ruhrfestspiele Recklinghausen/ Stephanie Berger)

Donald Trump ante portas, der harte Brexit in brutalem Anmarsch, außerdem Putin, Erdogan, Islamisten und Populisten auf der tagespolitischen Besetzungsliste. Es ist alles ganz schrecklich. Und wenn die Welt so schrecklich ist, kann das Theater nicht abseits stehen, wenngleich es immer schwerer fällt, die Krisenhaftigkeit der Welt mit den Mitteln der Bühne, moralischen Gewinn erstrebend, zu bearbeiten.

Aufgeklärt im Sinne der stets zu preisenden Aufklärung sind wir nämlich allemal, und trotzdem fällt uns zu den Aktualitäten kaum noch etwas ein. Und den Theaterleuten möglicherweise auch nicht.

Folgerichtig wähnt Ruhrfestspiele-Intendant Frank Hoffmann „das Theater in der Themenkrise“. Und macht natürlich trotzdem weiter. Nur ist das Motto des anstehenden Festivals anders als in den Vorjahren keine europäisch-regionale Verortung des Veranstaltungsschwerpunktes à la „Frankreich“ oder „Mittelmeer“, sondern, wenn man so will, ein Seeelenzustand: „Kopf über Welt unter“ sind die Ruhrfestspiele 2017 übertitelt, und unter diese Zeile paßt Tieftrauriges ebenso wie Krachkomisches. Entsprechend ist das Programm ein bunter Strauß aus Themen und Produktionen geworden, recht europäisch alles in allem, mit einigen amerikanischen, arabischen oder auch chinesischen Einsprengseln.

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„Der Sandmann“ von E.T.A. Hoffmann eröffnet die Ruhrfestspiele (Foto: Ruhrfestspiele Recklinghausen/Annick Lavallee Benny)

Robert Wilson

Wie jedes Jahr gibt es viele prominent besetzte Lesungen, Kabarettisten und Comedians in reicher Fülle, Spaßacts im jugendlichen Fringe-Festival; doch am interessantesten sind sicherlich die großen Veranstaltungen im Festspielhaus, in der Halle König Ludwig 1/2 oder im Theater Marl.

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Horror mit Musik: Matthias Brandt (links) und Jens Thomas in „Angst“ (Foto: Ruhrfestspiele Recklinghausen/Mathias Bothor)

Auf der großen Bühne geht es am 2. Mai los mit E.T.A. Hoffmanns „Sandmann“ in der Regie (plus Bühne und Licht) vom „Theaterzauberer“ Robert Wilson, eine Koproduktion von Ruhrfestspielen und Düsseldorfer Schauspielhaus – das wohl fulminanteste Projekt in diesem Jahr.

Ein dramatisches Schwergesicht ist ohne Frage auch August Strindbergs „Rausch“ als Koproduktion von Recklinghausen, Luxemburger Nationaltheater, Schauspiel Hannover und Deutschem Theater Berlin, bei der Hausherr Frank Hoffmann Regie führt. Bekannte Namen – Robert Stadtlober, Wolfram Koch, Jacqueline Macaulay und andere schmücken die Besetzungsliste des Stücks – das Strindberg „dreist“ (Hoffmann) eine Komödie nannte und das gnadenlos mit den Gefühlen und der Angst seiner Protagonisten spielt. „Die Ungewißheit des Menschen in einer sich radikal verändernden Welt“ sieht der Regisseur in „Rausch“ exemplarisch fokussiert: „Lassen Sie sich berauschen!“ (O-Ton Programmheft).

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Robert Stadlober in „Rausch“ von August Strindberg. Intendant Frank Hoffmann führt Regie (Foto: Ruhrfestspiele Recklinghausen/Stephan Pabst)

Nur zwei Personen

Manchmal aber, und das ist eher ernüchternd, ist es reichlich leer auf der Bühne des großen Hauses. So wird am 7. Mai Matthias Brand zusammen mit dem Musiker Jens Thomas gleich zweimal nacheinander einen je anderthalbstündigen „gruselig-spannenden literarisch-musikalischen Abend“ mit dem Titel „Angst“ vorführen, die Intendanz garantiert dem Publikum „einen wohligen Schauer“.

Eher leer ist es auf der Bühne auch, wenn Sebastian Koch und Kerstin Avemo zusammen mit dem Orchester Wiener Akademie Mitte Mai ihr „Egmont/Prometheus“-Projekt zur Aufführung bringen. Der englische Autor Christopher Hampton hat für seinen Blick auf die dunklen Seiten der Romantik Material von Goethe, Shelley, Lord Byron und Beethoven verarbeitet, Regie führt Alexander Wiegold.

Zweimal wird „Berlin Alexanderplatz“ nach dem Roman von Alfred Döblin in der Regie von Sebastian Hartmann gegeben, eine Produktion des Deutschen Theaters Berlin. Langjährige Freunde der Ruhrfestspiele werden sich mit gemischten Gefühlen an Hartmanns Einrichtung von Sean O’Caseys „Purpurstaub“ vor einigen Jahren erinnern, einen Bühnenkoloß von etlichen Stunden ohne Pause, bei dem das Publikum ausdrücklich dazu ermuntert wurde, den Zuschauerraum nach Belieben zu verlassen und wieder zu betreten. „Berlin Alexanderplatz“ nun wird mit „4 Stunden, 30 Minuten, zwei Pausen“ angekündigt, was vor diesem Hintergrund eindeutig ein Fortschritt ist.

Katharina Lorenz (Emily), Fabian Krüger (Amir), Nicholas Ofczarek (Isaac), Isabelle Redfern (Jory)

„Geächtet“ von Ayad Akhtar in der Inszenierung des Wiener Burgtheaters; Szene mit Katharina Lorenz (Emily), Fabian Krüger (Amir), Nicholas Ofczarek (Isaac), Isabelle Redfern (Jory) (Foto: Ruhrfestspiele Recklinghausen/Georg Soulek)

Häßliche Dinge

Erwähnt sei im Bereich des Schauspiels noch „Geächtet“, das vielgespielte, aktuelle Stück von Ayad Akhtar, das davon erzählt, wie Antisemitismus, Islamismus oder auch opportunistische Überangepaßtheit scheinbar plötzlich die Beziehungen fortschrittlicher amerikanischer Großstädter bestimmen, die so sicher waren, über all diesen häßlichen Dingen zu stehen. Das Stück kam in einer recht eigenwilligen Ausstattung (die Handelnden waren als Albinos geschminkt, somit frei von Hautfarbe oder „Rasse“) auch in Dortmund auf die Bühne der Ausweichspielstätte „Megastore“; bei den Ruhrfestspielen ist die Einrichtung des Wiener Burgtheaters in der Regie von Tina Lanik zu sehen.

Street Dance

Abschließend seien drei Gastspiele erwähnt: Dreimal wird das Deutsche Theater Berlin Elias Canettis „Hochzeit“ in der Regie von Andreas Kriegenburg zur Aufführung bringen. „Park Avenue Armory, New York“ zeigt in der Regie von Reggie (Regg Roc) Gray und Peter Sellars „Flexn“, ein Stück mit viel extremem Street Dance, neben dem Altbekanntes gleichen Namens wie gesitteter Gesellschaftstanz wirken soll. Behauptet jedenfalls die Ankündigung.

Schließlich haben wir noch „Wut“ von Elfriede Jelinek, in einer Produktion des Thalia Theaters Hamburg. Und damit soll es jetzt genug sein, obwohl natürlich noch sehr viel mehr zu berichten wäre. Im Internet ist das Programm vollständig abrufbar, an vielen Orten liegen Programmhefte zum Mitnehmen aus.

Ach ja, die Kunsthalle: 1947 gründete sich in Recklinghausen die Künstlergruppe „Junger Westen“, 70 Jahre ist das her. Unter dem Titel „Zwischen Krieg und Frieden – der schwierige Weg zur Avantgarde“ wird jetzt darauf Rückschau gehalten.

Der Kartenvorverkauf beginnt am Donnerstag, 19. Januar, ab 9 Uhr, Näheres dazu hier: https://www.ruhrfestspiele.de/de/tickets/bestellmoeglichkeiten.php




Von bedrückender Aktualität – Brechts „Furcht und Elend des Dritten Reiches“ in Dortmund

Fiederike Tiefenbacher Bettina Lieder Frank Genser

Eine einsame Frau (Friederike Tiefenbacher) packt die Koffer für Amsterdam. Im Hintergrund, heftig verliebt und sportlich: SS-Mann Theo (Frank Genser) und seine Anna (Bettina Lieder). (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Gerade ist jemand abgeholt worden, und das Ehepaar in der Nachbarwohnung hat es mitgekriegt. Das Treppengeländer hätten sie nicht kaputtmachen sollen, befinden sie, der Mann war ja schon bewußtlos. Und seine Jacke hätten sie nicht zerreißen sollen, „so dicke hat’s unsereiner nämlich auch nicht“.

Die gruselige Szene aus Bertolt Brechts „Furcht und Elend des Dritten Reiches“, ist jetzt im Dortmunder Theater zu sehen, in der Ausweichspielstätte „Megastore“, wo Sascha Hawemann die Alltagsbilder aus Nazi-Deutschland in lockerer Reihung inszeniert hat. Die 24 Szenen, von denen 11 in Dortmund zur Aufführung gelangen, schrieb Brecht zwischen 1935 und 1938, im selben Jahr wurden sie in Paris uraufgeführt.

Episches Theater

Seinen Brecht hat der Regisseur, Jahrgang 1967 und in der DDR aufgewachsen, fleißig studiert, weiß um episches Theater und V-Effekt: Verfremdung schafft Verständnis, und ein besonderer Kunstgriff von Sascha Hawemann besteht darin, Bert Brecht als den Inszenierer seiner Szenen auf der Bühne selbst auftreten zu lassen.

Uwe Schmieder, ein zierlicher Mensch mit Hornbrille und staubgrauer Jacke, gibt dem klarsichtigen Dichter Gestalt, doch wenn er manche Szenen wiederholen läßt, wenn er sein Schauspielpersonal zu höchster Perfektion antreibt und erst nach dem dritten, wütenden Durchgang halbwegs zufrieden ist, dann ähnelt er mehr als Brecht fast Woody Allen, einem ganz anderen und doch erstaunlich ähnlichen großen Dramatiker.

Carlos Lobo Frank Genser Bettina Lieder Uwe Schmieder Alexander Xell Dafov

Man übt sich im Schlange stehen. Von links: Carlos Lobo, Frank Genser, Bettina Lieder, Uwe Schmieder und Alexander Xell Dafov (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Moralverlust

Ein an Aktualität kaum zu überbietender Stoff: Was für die einen Furcht und Elend bedeutet, ist für die anderen nationalistische Verheißung, Genugtuung nach historischer Schmach, allfälliges Herrenmenschentum.

SS-Mann Theo mit seinen blitzblank polierten Stiefeln ist so ein Verblendeter, ihm ähnlich seine Verlobte Anna, hörig aus Liebe und blind für alles andere. Vielleicht kann man jungen Menschen wie ihnen noch ihre intellektuelle Unbedarftheit zugutehalten. Bei anderen, Älteren jedoch erodieren Werte, Recht, Haltungen ins Bodenlose, sie sind es schon längst.

Auf gespenstische Weise gemahnt dieser kollektive Moralverlust an heutige Zeiten mit erfolgreichen „Populisten“, mit Pegida, Doppelpaßverbot und „Das wird man ja wohl noch sagen dürfen“.

Uwe Schmieder

Uwe Schmieder, Bert Brecht (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Wortloser Abschied

Mutige Helden gibt es bei Brecht nicht, eher durchschnittliche Menschen, die glauben, mit etwas Wegducken und Weggucken durchzukommen. Die Jüdin Judith Gold, die die Flucht nach Amsterdam vorbereitet und sich telefonisch von einigen Freunden verabschiedet, ahnt, daß sie keinem dieser „arischen“ Deutschen fehlen wird. Ist sie auch ihrem Mann nur Last? Ihrer beider Abschied jedoch, wortlos, schmerzlich, wissend, gehört zu den stärksten Momenten dieses Theaterabends. Andreas Beck und Friederike Tiefenbacher geben das bürgerliche Ehepaar, dessen letzte 60 Trennungssekunden von „Brecht“ Uwe Schmieder qualvoll langsam abgezählt werden.

Merle Wasmuth Andreas Beck Uwe Schmieder

Szene im Amtsgericht mit Merle Wasmuth und Andreas Beck (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Hilfloser Richter

Beck brilliert auch in der Rolle des Amtsrichters, der über drei Nazis urteilen soll, die ein jüdisches Schmuckgeschäft verwüstet haben. Skrupel oder gar Handlungsethik sind diesem mißratenen Nachfahren des Richters Adam fremd, fachlich angezeigtes Ermitteln und Bewerten sowieso. Und trotzdem reitet er sich in die Grütze, weil er seinen Opportunismus nicht zu kanalisieren weiß.

Hat der Jude die Nazis vielleicht provoziert, oder ist es besser für dessen „arischen“ Kompagnon, wenn es anders war? Welche Rolle spielt der mächtige Hausbesitzer, und wie soll man das Abhandenkommen von Schmuck erklären? Wenn er was falsch macht, wird er nach Hinterpommern strafversetzt, aber nichts falsch zu machen scheint unmöglich, trotz aller charakterlichen Geschmeidigkeit. Uwe Schmieder macht sich als Zuträger von verstörenden Gerüchten aller Art wiederum verdient, eine herrliche Posse, bestens gegeben – und erschütternd wegen ihres vermutlich nicht geringen Wahrheitsgehalts.

Angst vor den eigenen Kindern

Carlos Lobo und Merle Wasmuth sind – unter anderem – das ängstliche Elternpaar eines in der Hitlerjugend radikalisierten Sohnes (Raafat Daboul), dem sie zutrauen, daß er sie wegen unvorsichtiger Äußerungen denunziert. Es sei „nicht ganz sauber im braunen Haus“ hat der Vater unvorsichtigerweise gesagt, so oder ähnlich, und nun wissen sie nicht, wohin sich der Sohn im Regen wortlos verabschiedet hat. Schließlich Erleichterung, er hat nur etwas eingekauft.

Fiederike Tiefenbacher Uwe Schmieder Bettina Lieder Frank Genser

„Brecht“ (Uwe Schmieder) legt Judith Gold Friederike Tiefenbacher) einen Mantel um. Im Hintergrund Bettina Lieder und Frank Genser (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Frank Genser und Bettina Lieder schließlich, der SS-Mann Theo und das Dienstmädchen Anna, heiraten gegen Ende des Theaterabends. Was dann kommt, ist nicht mehr von Brecht: Ein Bericht über Massenermordungen von Juden in der Schlucht von Babyn Jar in der Ukraine im Jahr 1941. 33.000 Menschen wurden hier erschossen. Theo und Anna erinnern sich (angeregt durch eine Schmalfilmvorführung am Tag der Hochzeit?) im heiter palavernden Dialog, und was sie da ohne jegliches Bewußtsein für die Ungeheuerlichkeit des Geschehens erzählen, ist schrecklich und bedrückend.

Bettina Lieder Frank Genser

Heitere Erinnerungen an den Massenmord: Szene mit Bettina Lieder und Frank Genser (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Kroetz folgt Brecht

Ob dieser Theaterabend indes die Abrundung mit Geschehnissen jenseits der Brechtschen Vorlage braucht – auch die Andeutung eines nahöstlichen Luftangriffs gelangt audiovisuell noch zur Vorführung, bevor das Stück zu Ende ist – sei dahingestellt.

Als Nächstes folgt in einer Woche im Megastore sinnfälligerweise „Furcht und Hoffnung der BRD“ von Franz-Xaver Kroetz, das 1984 seine Uraufführung im Bochumer Schauspielhaus erlebte und die Methode der Szenencollage aufgreift. Fast muß man befürchten, daß Bert Brechts düster-klarsichtige Vorahnungen der 30er Jahre aktueller sein könnten als Kroetz’ bundesrepublikanische Bestandsaufnahme.

  • Termine: 16.21.12.2016, 14., 19.1., 5., 19., 24.2., 4., 15.3., 2.4.2017
  • Karten Tel. 0231 50 27 222
  • www.theaterdo.de



Wenn der Neonazi einen Apfelkuchen backt – „Adams Äpfel“ am Schauspiel Köln

Foto: Tommy Hetzel/Schauspiel Köln

Foto: Tommy Hetzel/Schauspiel Köln

Kann man noch an das Gute im Menschen glauben? Pfarrer Ivan (Jörg Ratjen) tut das: In seiner Kirche nimmt er Straftäter auf, um sie zu resozialisieren. Khalid (Mohamed Achour), den Räuber, Gunnar (Nikolaus Benda), den Alkoholiker und Vergewaltiger und Poul (Horst Sommerfeld), den ehemaligen KZ-Wärter, den die alte Schuld immer noch umtreibt. Bis plötzlich ein neuer Delinquent in Ivans Kirche auftaucht und sein Weltbild ins Wanken bringt: Adam, der Neonazi (Robert Dölle).

Das Schauspiel Köln zeigt mit „Adams Äpfel“ eine abgründige Farce rund um das Theodizee-Problem. Wie kann Gott das Böse in der Welt zulassen? Und wie kann Ivan, der Pfarrer, deswegen nicht an ihm zweifeln? Wie kann er hoffen, all diese „bösen“ Menschen zu „guten“ Bürgern umzuerziehen?

Das Stück des dänischen Drehbuchautors und Regisseurs Anders Thomas Jensen hat den gleichnamigen Film zur Vorlage, Regie führte Therese Willstedt. Es handelt sich aber keineswegs um ein moralisches Thesenstück, sondern hier wird zielsicher mit den Methoden des schwarzen Humors operiert.

Glänzend spielt Jörg Ratjen diesen sendungsbewussten Pfarrer, dessen Nettigkeiten immer auch extrem süßlich wirken. Dazu gehört, dass alle in dieser Kirche in Pantoffeln herumlaufen müssen, langweilige Predigten zur Tagesordnung gehören und die schweren Jungs mitnichten ihre verbrecherischen Machenschaften aufgegeben haben – Khalid überfällt immer noch Tankstellen und Gunnar greift nicht nur Mädchen in die Tasche, sondern organisiert sich auch seinen Schnaps. All das will der Pfarrer nur nicht wahrhaben…obwohl selbst Jesus am Kreuz in der Kirche schon der Arm angebrochen ist.

Als Nazi Adam kommt, wird die scheinheilige Harmonie zunächst gestört. Schonungslos hält er dem Pfarrer seine Lebenslügen vor: Mitnichten hat dieser eine heile Familie. Seine Frau hat sich umgebracht, sein Sohn ist schwerbehindert, er selbst wurde als Kind missbraucht. Doch der Pfarrer will die heile Welt nicht aufgeben und schlägt Adam vor, einen Apfelkuchen zu backen, weil dieser ein Ziel im Leben brauche. Der Neonazi würde am liebsten Amok laufen, doch in den Knast zurück will er auch nicht – also Apfelkuchen.

Die Schauspieler sind gut, der schwarze Humor zündet, oft überschreitet die Inszenierung bewusst die Schmerzgrenze und erzeugt damit einen starken theatralischen Effekt. Indes: Die Auflösung am Schluss überzeugt nicht ganz. Nachdem er den armen Pfarrer fast totgeschlagen hat, wird Adam plötzlich geläutert und überreicht Ivan einen frischgebackenen Apfelkuchen. So schnell ist selten jemand vom Saulus zum Paulus geworden wie an diesem Abend in Köln…

Karten und Termine: www.schauspiel.koeln




„Der Idiot“ nach Dostojewskij: Glücksfall einer Roman-Adaption im Düsseldorfer Schauspiel

Foto: Matthias Horn/Schauspielhaus Düsseldorf

Foto: Matthias Horn/Schauspielhaus Düsseldorf

Eigentlich kann ich ja mehr mit Tolstoi anfangen: Krieg und Frieden, Anna Karenina – hier blühen die russischen Leidenschaften, hier lernt man die Familienmitglieder mit der Zeit so gut kennen, als gehörten sie zur eigenen Verwandtschaft. Dostojewskijs Romane schienen mir immer ungleich düsterer, zerquälter.

Da geht es um Schuld, Verbrechen, moralische Abgründe. „Die Brüder Karamasow“ sind zwar außerdem ein packender Krimi, doch im „Idioten“ bin ich steckengeblieben. Bei der Bahnfahrt des Fürsten Myschkin von der Schweiz zurück nach St. Petersburg saß ich noch neben ihm, begleitete ihn auch in das Haus der Familie Jepantschin zum ersten Besuch, doch danach habe ich ihn irgendwie aus den Augen verloren…

Deswegen ist Matthias Hartmanns Inszenierung von „Der Idiot“ am Düsseldorfer Schauspielhaus ein absoluter Glücksfall: So packend, witzig, unterhaltsam und dramatisch habe ich lange keine Roman-Adaption auf der Bühne gesehen – und davon gibt es ja inzwischen viele.

Vielleicht liegt es daran, dass Matthias Hartmann, ehemaliger Intendant der Theater in Bochum und Zürich sowie des Wiener Burgtheaters, die Bühnenfassung gemeinsam mit der Dramaturgin Janine Ortiz und dem Ensemble beim Lesen des Romans auf der Bühne entwickelt hat. Die Schauspieler erzählen dem Zuschauer die Geschichte wie einen Erlebnisbericht. Zugleich spielen sie ihre Figuren absolut großartig.

André Kaczmarczyk gibt den Fürsten Myschkin als ein derart gutherziges, kindliches und engelhaftes Wesen, das in seiner verstrubbelten Sensibilität sofort den Beschützerinstinkt in allen weckt. Jeder möchte nach seiner Begegnung mit ihm ebenso gut sein wie er – doch die meisten schaffen das leider nicht. Deswegen lassen sie sich mitunter dazu hinreißen, den armen Epileptiker einen „Idioten“ zu nennen. Doch auch das nimmt ihnen Myschkin keineswegs übel: Im Gegenteil, er strengt sich nur noch mehr an, die Fehler seiner Mitmenschen zu verstehen, zu verzeihen, auszubügeln – bis dies zum Schluss seine gesundheitlichen Kräfte übersteigt.

Das ebenso flexible wie schlichte Bühnenbild von Johannes Schütz lässt sich in verschiedene Wohnungen und Zimmer verwandeln, ebenso wie das restliche Ensemble immer wieder in verschiedene Rollen schlüpft. Besonders prägnant dabei ist Rosa Enskat als Generalin Jepantschina und Iwolgina, die ihre Töchter schnippisch im Griff hat, im Grunde eine Zicke hoch drei, doch beim Fürsten Myschkin schmilzt auch sie dahin.

Eine bleibt allerdings immer sie selbst, obwohl sie sich nie findet: Yohanna Schwertfeger als die vulgäre Mätresse Nastassja Filippowna, als Kind missbraucht und nun nicht mehr fähig, der Selbstzerstörung zu entgehen. Die Liebe des Fürsten kann sie nicht annehmen, sie ist ihr zu rein. Statt dessen verstrickt sie sich in eine Hassliebe mit dem neureichen Kaufmann Rogoschin (Christian Erdmann), die sie mit dem Leben bezahlt.

Der vierstündige Abend vergeht wie im Flug, die Koproduktion mit dem Staatsschauspiel Dresden sollten sich Liebhaber der russischen Literatur, aber auch Neulinge auf diesem Gebiet nicht entgehen lassen. Auch in völliger Unkenntnis des Romans begreift man die Essenz dieses abgründigen und zugleich idealistischen Werkes gut – und wird dabei noch bestens unterhalten.

Karten und Termine: www.dhaus.de




Kaputte Theater, alte Säcke – eine betrübliche Wanderung durch die NRW-Theaterlandschaft

Um die nordrhein-westfälische Theaterlandschaft steht es nicht gut. In Köln und Dortmund werden die Gebäude saniert, und in beiden Städten dauert das länger als geplant. Doch wenigstens stellt hier noch keiner die Häuser als solche in Frage. In Düsseldorf hingegen, der Landeshauptstadt, ist nichts mehr sicher. Ebenfalls wird hier das Haus saniert, die Kosten der Sanierung laufen davon, und ein „kunstsinniger“ Oberbürgermeister stellt sich und seinen Genossen laut die Frage, ob das denn wirklich alles sein müsse.

Ab 2018 für die RuhrTriennale verantwortlich: Stefanie Carp und Christoph Marthaler beim Pressetermin in der Bochumer Jahrhunderthalle. (Foto: Bernd Berke)

Auch nicht mehr die Allerjüngsten, doch ab 2018 für die RuhrTriennale verantwortlich: Stefanie Carp und Christoph Marthaler. (Foto: Bernd Berke)

Man könne das Filetgrundstück, auf dem das Theater derzeit noch die Stirn zu stehen hat, doch viel besser vermarkten. Und wenn man die alte Bude aus der Nachkriegszeit wegen Denkmalschutz schon stehenlassen müsse, könne man dort doch wenigstens etwas Interessanteres machen als ausgerechnet Theater. Kongresse abhalten zum Beispiel. „Eventbude“ wäre der passende Kampfbegriff, auf den, wie bekannt, Claus Peymann das Copyright hat.

Düsseldorfer Misere

Immerhin würden Abriß oder Umwidmung des Theaters in der Stadt, in der einst Gustaf Gründgens wirkte, keinen Intendanten arbeitslos machen, denn Wilfried Schulz, der aus Dresden an den Rhein kam, ist Jahrgang 1952 und könnte wahrscheinlich mit geringen Abzügen vorzeitig in Rente gehen (bitterer Scherz!). Allerdings hatte er wohl andere Vorstellungen von Theaterarbeit, als er aus Dresden in den tiefen Westen wechselte, hatte Ideen, wie er in Düsseldorf die Karre aus dem Dreck ziehen würde, die dort seit dem Abgang Amélie Niermeyers 2011 und dem „Burnout“ ihres Nachfolgers Staffan Valdemar Holm steckt.

Ein tapferer Senior hatte zwischenzeitlich die Stellung gehalten: Günther Beelitz (75), der das Haus schon einmal von 1974 bis 1986 geleitet hatte. Doch nun? Nun befindet OB Thomas Geisel (und mit ihm fraglos etliche weitere kunstsinnige Lokalpolitiker), daß das Schauspiel im „Central“, der Ausweichspielstätte in Bahnhofsnähe, sehr gut aufgehoben sei.

Das Land schweigt

Irgendwie fragt man sich da schon, welche Vorstellung die Düsseldorfer Lokalpatrioten von Urbanität haben, von städtischem Leben und städtischer Kultur. In der Antwort, fürchte ich, wäre viel weißes Rauschen. Und eine zweite Frage drängt sich auf: Würden kulturlose Lokalpolitiker wie die in Düsseldorf auch so dreist auftreten, wenn sie es mit selbstbewußten, erfolgreichen Theaterleuten zu tun hätten statt mit personellen Notnägeln? Wilfried Schulz ist damit ausdrücklich nicht gemeint. Zwischen Niermeyers Abgang und Schulz‘ Dienstantritt sind fünf Jahre verstrichen, in denen das Düsseldorfer Schauspielhaus langsam aber sicher in den Bedeutungsverlust trieb.

Hat in diesem Zusammenhang übrigens jemand etwas von der Landesregierung gehört? Das Theater der Landeshauptstadt wird nämlich von Land NRW mitfinanziert, ist somit auch ein Staatstheater, und eigentlich müßte das Land ein vehementes Interesse an diesem kulturellen Aushängeschild haben. Hat es aber wohl nicht. Kulturelle Präferenzen dieser Landesregierung sind ja eh kaum auszumachen, und wenn doch, dann liegen sie eher im pädagogischen Bereich, dann hat man es in der Kunst lieber breit als hoch. Mit etwas Wehmut denkt man da an alte Zeiten, in denen ein Ministerpräsident Jürgen Rüttgers die Verdoppelung der Kulturausgaben verkündete und ein Kulturstaatssekretär mit Namen Hans-Heinrich Grosse-Brockhoff in den Spielstätten des Landes fast allgegenwärtig war.

Den Namen der amtierenden Kultusministerin mußte ich googeln: Christina Kampmann heißt sie, Jahrgang 1980, seit 2015 im Amt und außer für Kultur auch für Familie, Kinder, Jugend und Sport zuständig. Ihre Vorgängerin (wieder gegoogelt) war Ute Schäfer, Jahrgang 1954, die jetzt ihren (Vor-) Ruhestand genießt. Beide keine politischen Schwergewichte. Ob von Frau Kampmann noch was kommt? (Detaillierte Bemerkungen über eine glanzlose Landesregierung, ihre skandalösen Kunst-Verkäufe und ihre Neigung zum Wegducken bei ungeliebten Themen spare ich mir an dieser Stelle.)

Intendantin und „Chef-Regisseur“

Falsche Personalentscheidungen standen am Anfang der Düsseldorfer Schauspielkrise, und nachher ist man immer klüger. Blicken wir nun auf die Ruhrtriennale, die ebenfalls zu einem wesentlichen Teil vom Land finanziert wird und alle drei Jahre einen neuen Intendanten bekommt. Offensichtlich wollte und will man hier in Fragen der Intendanz kein Risiko eingehen. Hier sollen es die alten Männer richten. Dem Niederländer Johan Simons (70) folgt 2018 Christoph Marthaler (Jahrgang 1951) nach, der dann also, wir rechnen mal kurz, 67 Jahre alt sein wird.

Doch halt, in Wirklichkeit ist es ja ganz anders! Intendant wird eine Intendantin, eine Frau im Amt war überfällig! Stefanie Carp, fünf Jahre jünger als Marthaler und, nebenbei bemerkt, Schwester des Oberhausener Theaterleiters Peter Carp. Schaut man sich ihren beruflichen Werdegang an, könnte man sie, und das ist nicht despektierlich gemeint, eine „ewige Dramaturgin“ nennen, war sie doch in Sonderheit für Christoph Marthaler viele Jahre lang das, was beispielsweise Hermann Beil für Claus Peymann ist. Auch hat sie wiederholt die Wiener Festwochen geleitet.

Nun ist sie also Intendantin der Ruhrtriennale; Marthaler ist ihr „Chef-Regisseur“, fraglos eine interessante Position, die man am Theaterbetrieb bisher kaum kannte. Da sich die beiden von der Berliner Volksbühne her gut kennen, mag das das Werk wohl gelingen. Besonders gespannt muß man auf das Musikprogramm dieses traditionell musikorientierten Festivals sein, bei so viel Sprechtheater-Kompetenz. Aber in Marthalers Inszenierungen wird ja meistens sehr schön gesungen.

Wo sind die Jungen?

Simons ist Holländer, Marthaler Schweizer, Frank Hoffmann, der Intendant der Ruhrfestspiele, ist Luxemburger, der designierte neue Chef im Dortmunder Kulturzentrum „U“, Edwin Jacobs, wiederum Holländer. Zum gelassenen Ruhrgebiets-Internationalismus paßt das durchaus. Doch stimmt es auch nachdenklich, daß große Teile des kulturellen Spitzenpersonals a.) im Land nicht zu finden waren und b.) selten unter 60 Jahre alt sind, oft deutlich älter.

Bitte nicht mißverstehen: Nichts spricht dagegen, Leitungspositionen in Theatern und Museen mit Ausländern zu besetzen, das ist weltweit gang und gäbe. Hartwig Fischer beispielsweise, der so gut mit Berthold Beitz konnte und durchaus seinen Anteil an der Verwirklichung des neuen Folkwang-Museums in Essen hat, leitet jetzt (als erster Ausländer) das British Museum in London. Zum British Museum gehört die Tate Gallery of Modern Art, deren Chef Chris Dercon wiederum Nachfolger Frank Castorfs als Intendant der Berliner Volksbühne wird, was indes von vielen als Skandalon empfunden wird… (Vielleicht kein so gutes Beispiel.).

Besorgniserregend aber ist, wenn wir auf NRW blicken, daß nirgendwo im ganzen großen Kulturbetrieb jemand zu entdecken ist, Mann oder Frau und idealerweise noch nicht kurz vor der Rente, den oder die man als kulturellen Hoffnungsträger bezeichnen könnte. Sicherlich kann niemand einen Künstler vom Range des verstorbenen Christoph Schlingensief aus dem Zylinder ziehen, auch kleinere Talente schon stimmten ermutigend. Doch wenn Anselm Weber, noch Intendant in Bochum, in der nächsten Spielzeit nach Frankfurt wechselt, räumt er seinen Platz für den, wie schon erwähnt, 70jährigen Johan Simons. Aufbruch sieht anders aus.

Vielleicht ist es ja so, daß kleinmütige Findungskommissionen es Mal um Mal vermieden haben, mit Jüngeren ein experimentelles Tänzchen zu wagen. Man hat ja nicht dabeigesessen. Das Resultät bleibt das gleiche, und die Parole lautet „Alte Säcke an die Macht“.

Dortmunder Spezialisten

Hat da jemand „Aber Dortmund!“ gerufen? Nun gut: Auch die Dortmunder haben Streß mit ihrer Theatersanierung. Wie bekannt spielt man im „Megastore“, einem Lagerhallenkomplex im Gewerbegebiet, die Sanierung des Schauspielhauses verzögert sich, wird überdies teurer als geplant. Aber wer hätte auch anderes erwartet? Die Tatkraft und die Kreativität, mit denen sich das Dortmunder Theater diese (Anti-) Spielstätte erobert hat, sind auf jeden Fall beeindruckend.

Hier können zukünftige Ruhrtriennale-Intendanten noch etwas lernen, wenn sie wieder eine alte Industriehalle bespielen sollen, die anscheinend für alles besser geeignet ist als für Theater. Doch muß man Zweifel haben, ob dieses sehr sportliche, sehr dem theatralischen Jugendbereich zugewandte und in diesem Sinne hochspezialisierte Dortmunder Theater wegweisend für die Entwicklung in der Region ist. Trotzdem bin ich jetzt schon sehr gespannt auf das, was Kay Voges und die Seinen demnächst im renovierten Schauspielhaus zustande bringen werden.




So viel Komödie wie nur möglich – Molières „Tartuffe“ im Bochumer Schauspielhaus

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Orgon (Michael Schütz, links) und Tartuffe (Jürgen Hartmann) (Foto: Diana Küster/Schauspielhaus Bochum)

Gegen solche Verblendung ist kein Kraut gewachsen. Nur für das Wohlbefinden seines bewunderten Gastes Tartuffe interessiert sich der Hausherr, die lebensbedrohlichen Fieberschübe seiner Gattin aber sind ihm egal.

Gleich in der ersten Szene führt Regisseur Hermann Schmidt-Rahmer in unüberbietbarer Deutlichkeit vor, wie es zugeht im Hause Orgon. Das kann ja heiter werden. Bochums Schauspielhaus zeigt Molières „Tartuffe“, ein großes Vergnügen und nicht gänzlich frei von Hintersinn.

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Töchterlein Marina (Kristina Peters, vorn) ist in Ohnmacht gefallen, Zofe Dorine (Xenia Snagowski) herzt Hausherrn Orgon (Michael Schütz). (Foto: Diana Küster/Schauspielhaus Bochum)

Damals skandalös

Wenngleich: In unserer Gegenwart, in der gröbste Beleidigungen im Internet und „Shitstorms“ das gesellschaftliche Erregungsniveau bestimmen, wirkt eine Figur wie Tartuffe auf den ersten Blick vergleichsweise unauffällig. Ein Schleimer ist er, ein Verführer und Betrüger, und Heiratsschwindler könnte er wohl auch, na und?

Zu Molières Zeiten jedoch, im absolutistischen regierten Frankreich mit seiner ausgeprägten Günstlingswirtschaft, wirkte die ausführliche Zeichnung seiner Untugenden wegen ihres ausgeprägten Wiedererkennungswertes offenbar skandalös. Nach einer „Privatvorführung“ am Hof von Versailles, 1664, verbot der König die öffentliche Aufführung. Erst 1667 durfte das Volks eine entschärfte Fassung sehen, und das Aufregungspotential soll immer noch erheblich gewesen sein.

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Tartuffe (Jürgen Hartmann, links), Elmire (Raphaela Möst) (Foto: Diana Küster/Schauspielhaus Bochum)

Ein Finsterling eben

Glücklicherweise macht Regisseur Hermann Schmidt-Rahmer nicht den Versuch, Tartuffe zu einer Gegenwartsperson mit aktuellen, schändlichen Verhaltensweisen umzuformen. Tartuffe (Jürgen Hartmann), der ja erst spät die Bühne betritt, ist ein ebenso verlotterter wie gescheiter Finsterling und bleibt es auch. Natürlich ist seine kriminelle Energie erheblich, er bringt Orgon (Michael Schütz) und die Seinen um Hab’ und Gut, baggert Orgons Gattin Elmire (Raphaela Möst) an und würde auch das Töchterlein Mariane (Kristina Peters) nicht verschmähen, wenn dieses sich mit tatkräftiger Hilfe des Zimmermädchens Dorine (Xenia Snagowski) nicht zur Wehr setzte.

Das passt alles ins Bild eines schlechten Menschen und bedarf hier deshalb keiner weiteren Klärung. Das Bühnenbild versucht sie dennoch, Worte wie Ordnung, Anstand, Moral, Jungfräulichkeit oder Pünktlichkeit hängen in Großbuchstaben von der Decke (Bühnenbild: Thilo Reuther) und bemühen sich um eine Bezüglichkeit, die der Inszenierung ansonsten abgeht. Auch Orgons Motive und Gefühle stehen nicht eben im Mittelpunkt des Spiels. Hier reicht es, dass der Verführte seinen Fehler, wenn auch spät, erkennt.

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Herren in wechselnden Gewändern, von links: Orgon (Michael Schütz), Cléante (Daniel Christensen), Tartuffe (Jürgen Hartmann). (Foto: Diana Küster/Schauspielhaus Bochum)

Schenkelklopfer

Statt also in den Charakteren zu gründeln, testet diese Inszenierung lustvoll aus, was in einer gut geölten, burlesk überzeichnenden, nie um einen Gag verlegenen Komödie möglich ist. Grotesk und übertrieben bewegen sich die Personen, sprechen in getragenen Versen (deutsche Fassung von Wolfgang Wiens), um im nächsten Augenblick den Handlungsgang mit banaler Umgangssprache zu unterbrechen oder das Publikum direkt anzusprechen. Schnell wird es laut in den hitzigen Dialogen; wenn Worte fehlen, wird grimassiert und gestikuliert, und all das mit hohem Tempo. Screwball, Sitcom, Comedy: Alles drin, ein großes, schenkelklopfendes Amüsement.

Babydolls und klotzige Pumps

Michael Sieberock-Serafimowitsch, den man auch als Bühnenbildner kennt, der hier jedoch „nur“ für die Kostüme verantwortlich zeichnet, hat die Personen in hinreißend überdrehte grellbunte, die barocke Mode parodierende Kostüme gesteckt, einige Damen überdies in unförmige „Babydolls“ und klotzige hohe Pumps. Später jedoch, wenn die Wahrheit und der materielle Totalverlust ihr grausiges Haupt erheben und der Gerichtsvollzieher (Bernd Rademacher) in putzig durchgereimter Amtsspache den Pfändungsbeschluss verkündet, kauern sie sinnfällig entblößt am Bühnenrand.

An zwei Stöcken, doch überaus selbstbewusst stakt Anke Zillich als des Hausherrn verständnisvolle Mutter Madame Pernelle durch das Geschehen, Daniel Christensen gibt als Cléante einen erfrischend respektlosen Schwager, Matthias Eberle den Sohn, Roland Riebeling den Verlobten. Und wenn dieser Theaterabend so glänzend funktioniert, ist das natürlich nicht zuletzt das Verdienst dieses trefflich zusammenarbeitenden Ensembles.

Frenetischer, lang anhaltender Schlussapplaus.




„Theater hassen“ – eine ziemlich ziellose Reise in die Zukunft der Bühnenkunst

Dieser Autor bemüht sich emsig um Zeitgeist-Sprech. Jan Küveler (Jahrgang 1979), seines Zeichens Feuilletonist und Theaterkritiker der „Welt“, beliebt über Shakespeare und dessen Zeit so zu extemporieren: „Draußen auf den Weltmeeren wurde die Globalisierung erfunden, das ´Globe Theatre‘ war ihr Social-Media-Hub.“ Ahoi!

Doch wir wollen nicht schon gleich zu Beginn polemisch werden und nur noch schnell erwähnen, dass Jan Küveler laut Klappentext mit einer Arbeit über jugendliche Romanhelden promovierte, die sich der Reife verweigern.

9783608501605-cover-lKüveler also umkreist in seinem Buch mit dem finster entschlossenen Titel „Theater hassen“ den nach seiner Ansicht vielfach beklagenswerten Zustand der Bühnenkunst; ein Thema also, über das sich im Prinzip schon die antiken Griechen echauffiert haben.

Im Geisterhaus toter Avantgarden

Der Verfasser wähnt sich in einem Geisterhaus toter Avantgarden, auf nachrichtlicher Ebene sei allein schon das ewige Intendanten-Karussell furchtbar öde. Beim Berliner Theatertreffen kreise alles um immer ähnlich gelagerte Positionen, Projekte und Performer.

So manchen Unmut kann man nur zu gut nachvollziehen. Der Mann schreibt sich in einen solchen Zorn hinein, dass ihm auch die hoch gehandelte, sorgsam an den Texten arbeitende Regisseurin Andrea Breth nur mehr als einfältig arrogant gilt. Gleichzeitig preist er die Verrisse seines (heute arg vermissten) Ex-Kollegen Gerhard Stadelmaier von der FAZ, der freilich den hier leichthin abgetanen Luc Bondy und just Andrea Breth am allerhöchsten geschätzt hat.

Vorbild „Monaco Franze“

Als man sich schon bang fragt, ob Küveler irgendwann einmal halbwegs abgekühlt argumentieren wird, empfiehlt er eine distanzierte, unprätentiöse und uneitle Haltung zum Theater, wie sie einst der legendäre „Monaco Franze“ vorgemacht hat, als der in Helmut Dietls famoser Fernsehreihe die versammelten Opern-Schnösel von München düpierte.

Nun, das mag erst einmal angehen, doch wird es gewiss nicht alle Gebrechen des Theaters kurieren, von dem Küveler (immer noch) meint, es sei zu feierlich und werde oft für Träger von Zylinderhüten gemacht. Nanu? Das mag gelegentlich noch im Wiener Burgtheater der Fall (gewesen) sein, aber sonst doch wohl gar nicht mehr.

Dabei kennt Küveler doch seine brachialen Pappenheimer, jene Regisseure, die stets auf schrankenlose Selbstverwirklichung und „Skandale“ aus sind, welche sich aber längst erledigt haben.

Die Freuden der Langeweile

Er erregt sich noch königlich über Elfriede Jelineks unaufhörliches Besserwisserinnen-Theater (bis hin zu „Die Schutzbefohlenen“), das keinerlei Überraschungen mehr bereithalte, sowie über Elaborate der „Gießener Schule“ um Michael Thalheimer und René Pollesch, die auch nur noch nerve.

Aufgeregten Projekten, die nur zum Schein die Zuschauer einbezögen, in Wahrheit aber auf deren Passivität setzten, sei allemal Langeweile vorzuziehen, die wenigstens stille Kontemplation ermögliche. Also, Leute, beschwert euch bloß  nicht mehr über endlos erscheinende Theaterabende, sondern sitzt eure Kultur gefälligst ab und nutzt die unverhoffte Chance zur Trance.

Damit hätten wir also schon einige, in sehr verschiedene Richtungen zielende  Ablehnungen beisammen. Ja, was aber dann? Was dürfen wir hoffen? Was sollen wir ersehnen? Selbstverständlich läuft auch dieses Buch in seinem vermeintlichen Theaterhass darauf hinaus, dass es letztlich nur auf ein anderes Theater erpicht ist. Dieser Topos einer fortwährenden Hassliebe ist gleichfalls altbekannt. Doch wohin geht die Reise?

Kronzeuge Ersan Mondtag

Zum Kronzeugen bestellt Küveler den Theatermacher Ersan Mondtag, der ausgiebig als Prophet einer Art Meta-Theater – gern mit Laiendarstellern und zeichenhaften Masken – zu Wort kommt und sich dabei reichlich autoritär gebärdet. Da erklingt so manche Hohlformel (Dekonstruktion war gestern, jetzt muss wieder konstruiert werden), wobei am Horizont ein Theater aufscheinen möge, in dem wieder „alles möglich“ sein solle. Schauspielkunst herkömmlicher Prägung ist dabei übrigens überhaupt nicht gefragt, sie stört eher.

Sodann benennt Küveler drei angeblich allesamt erhellende Provokationen der neueren Theatergeschichte – ins Werk gesetzt von Hans Neuenfels (1966 in Trier, ach Gottchen!), von Rainer Werner Fassbinder („Der Müll, die Stadt und der Tod“) und vom fast nur dadurch bekannt gewordenen Schauspieler Thomas Lawinky, der den schon erwähnten Rezensenten Stadelmaier auf offener Szene verhöhnte und ihm den Notizblock entriss. Wer hätte gedacht, dass eine solche Handlungsweise noch einmal als vorbildlich durchgeht?

Bloß nicht feige sein…

Das ist also mal eine hübsche Ahnengalerie fürs kommende Theater. Küvelers Zwischenfazit lautet, Theater dürfe nicht feige sein und solle Tabus brechen. Moment mal. Hatten wir das nicht schon seit ein paar Jahrzehnten? Immer mal wieder, immer wüster und verzweifelter?

Vermeintlich rasant und doch nur halbstark geht’s in die Schlusskurven. Gepriesen werden die „Akzelerationisten“ der Bühne, die quasi gehörig aufdrehen und es den „Spaßbremsen“ im Gefolge der Frankfurter Schule mal so richtig zeigen. Wow, dann müssten die Bühnen wohl schleunigst tiefergelegt werden. Angewidert von den gängigen Moden, wendet sich Küveler nunmehr dem nächsten Hype zu.

Die Heilsbringer kommen

Der gute alte Textzerbröseler Frank Castorf darf dabei gleichfalls Pate stehen, außerdem vor allem Leute wie der Norweger Vegard Vinge und Ina Müller, die an Castorfs Volksbühne derart hirnmarternd, radikal und monströs zugange sind, dass es selbst dem von Chaos gestählten Chef manchmal zu viel wird.

Die Zumutung ist dabei offenbar zentrales Programm. Hört sich nicht so an, als könnte dies dem deutschen Stadttheater aufhelfen. Im Gegenteil: Endlose Proben, oft ohne bühnenreifes Resultat, sind dort nicht so gern gesehen. Derlei Kleinigkeiten erwähnt Küveler in seinem Buch kaum, er beschwört nur raunend die Namen der Heilsbringer Vinge oder Antú Romero Nunes, ohne die Verheißungen zu konkretisieren. Und ums gewöhnliche Stadttheater ist es Küveler wohl gar nicht zu tun.

Natürlich gibt es, zumal in der Hauptstadt, eine eventgeile Theater-Schickeria, die auch Hervorbringungen à la Vinge noch kritiklos goutiert. Mal abgesehen von diversen Fäkal-Aktionen, ließen Vinge und Müller einst vor Publikum ungerührt bis 5000 zählen und haben damit laut Küveler (produktive?) Wut erzeugt. Die Zukunft des Theaters käme somit aus der Weißglut, womit Theaterhass endlich, endlich sinnerfüllt wäre. Ja, Donnerschlag und Sakrament…!

Jan Küveler: „Theater hassen. Eine dramatische Beziehung“. Tropen Verlag (Klett-Cotta). 160 Seiten. 12 €.

 




Geheimnis des Dampfers: „Passagier 23“ im Westfälischen Landestheater

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Unter Druck: Kriminalist Martin Schwartz  (Guido Thurk) (Foto: Volker Beushausen/WLT)

Martin Schwartz ist ein tragischer Held. Frau und Kind hat er auf einer Kreuzfahrt verloren und voll der Seelenpein beschlossen, nie wieder ein Kreuzfahrtschiff zu betreten. Vor allem nicht die „Sultan of the Seas“, denn auf ihr spielte sich das schreckliche Geschehen ab, dessen genauer Hergang indes im Dunklen liegt. Doch dann erreicht den verbitterten Polizeipsychologen ein Hilferuf, dem er sich nicht verweigern kann. Und bald schon spürt er auf tiefen Decks und in dunklen Winkeln dem bösen Geheimnis des Dampfers nach. Denn weitere Kinder und Mütter sind verschwunden. Mehr oder weniger jedenfalls.

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Detektiv Martin Schwartz mit Teddybär und neugierige Rentnerin mit Rollator (Vesna Buljevic) bringen die Handlung voran. (Foto: Volker Beushausen/WLT)

„Passagier 23“ heißt das Krimistück, das das Westfälische Landestheater nun in sparsam-stimmiger Kulisse (Anna Kirschstein) und in der Regie von Lothar Maninger zur Aufführung bringt. Vorlage ist der Kriminalroman „Passagier 23“ von Sebastian Fitzek, aus dem Christian Scholze die Bühnenfassung machte.

Ihren Titel verdanken Buch und Stück dem denkwürdigen Umstand, dass in der weltweiten Kreuzschifffahrt jährlich 23 Menschen mehr oder minder spurlos verschwinden. „Passagier 23“, verrät uns das Stück, ist deshalb ein stehender Begriff für die Schiffsbesatzungen geworden, der stets auch Stress und Ärger bedeutet. Außerdem kostet es viel Geld, einen Dampfer für Stunden anzuhalten und den Passagier zu suchen, der möglicherweise über Bord gegangen ist.

Skrupellose Reedereien

Noch größer aber wird der Ärger, wenn so ein verlorengegangener Passagier plötzlich wieder auftaucht. Da weiß man nicht, wie lange die Polizei das Schiff im nächsten Hafen festhalten wird, und der Papierkram ist lästig. Am besten lässt man so einen Widergänger wieder verschwinden. Die Story von „Passagier 23“, die natürlich, wie sich das für einen Krimi gehört, vieles lange im Dunklen oder Halbdunklen belässt, lenkt des Publikums Vermutungen zunächst in diese Richtung: Lassen skrupellose Kreuzfahrtreedereien und ihre Kapitäne Passagiere verschwinden, um sich Ärger vom Hals zu halten?

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Szene mit Kapitän Bonhoeffer, den Bülent Özdil gibt (Foto: Volker Beushausen/WLT)

Schlüsselbegriffe wie Schiff, Schiffbrüchige, Meer und so weiter hatten in der Ankündigung des Westfälischen Landestheaters natürlich sofort auch an Bootsflüchtlinge, Migration „Massengrab Mittelmeer“ und so weiter denken lassen. Doch erstaunlicherweise kommt das alles hier nicht vor. „Passagier 23“ ist tatsächlich ein von vorn bis hinten durcherzählter Kriminalstoff, mit Tätern, Opfern, Geretteten und Überlebenden. Man kann sich ganz entspannt zurücklehnen und auf gute Unterhaltung hoffen.

Racheengel

Ein bisschen Problemstoff wurde allerdings schon verwoben, und die Lösung der Geschichte ist schließlich auf dem großen Themenfeld „sexueller Missbrauch“ zu finden. Doch sind hier ausnahmsweise nicht vergewaltigende Männer die Bösen, sondern…

Die Geschichte, die man uns hier erzählt, hat jedenfalls reiches Trash-Potential und bittet geradezu um ein wenig parodistische Überhöhung.

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Verdammt, ein Elektroschocker! Detektiv Schwartz muß in seinem Beruf schwer leiden. (Foto: Volker Beushausen/WLT)

Doch nichts davon in Castrop-Rauxel, in einer knapp zweistündigen Produktion samt Pause. Das dramatische Konzept, wenn man es so nennen will, ist einem Kinofilm nachempfunden. Besondere inszenatorische Möglichkeiten des Theaters, das ja immerhin eine Live-Veranstaltung ist, werden praktisch nicht genutzt.

Trotz intensiven Gebrauchs von Notebooks und Mobiltelefonen wirkt das ganze wie ein Relikt aus Opas Krimi-Boulevard, einem „Whodunnit“ Agatha Christies nicht gänzlich unähnlich und ganz kräftig aus der Zeit gefallen.

Von vorne bis hinten spannend

Wer andererseits konzentriertes, kammerspielhaftes Theater mag, das vor allem von den Dialogen lebt, kommt hier durchaus auf seine Kosten. Der Gang der Handlung gliedert sich schlüssig in viele kleine Szenen, die durch kurze Dunkelphasen voneinander getrennt werden, was der filmischen Erzählweise mit wechselnden Spielorten recht nahe kommt.

Wohltuend ist zudem der Verzicht auf Videoeinsatz sowie eine sparsame, effektive Lichtersetzung. Durchaus bemerkenswert schließlich die wenigen, aber treffsicheren Kunstgriffe, mit denen durch wechselnde Hintergrundprojektionen und sparsame Requisiten unterschiedliche Handlungsorte (Schiffsinneres, Kapitänskajüte, Reling usw.) entstehen. Und im wesentlichsten Punkt funktioniert Sebastian Fitzeks „Passagier 23“ ganz tadellos: Die Geschichte ist von vorne bis hinten spannend, man langweilt sich keine Minute.

Als unerschrockene Amateurdetektivin mit rotem Rollator hinterlässt Vesna Buljevic einen starken Eindruck. Mayke Dähn und Pia Seiferth als Mutter und Tochter Lamar sind Fleisch gewordenes Zerwürfnis. Neben den Gästen Mike Kühne und Franziska Ferrari sorgen Bülent Özdil, Samira Hempel und Maximilian von Ulardt aus dem WLT-Ensemble für einen alles in allem doch sehr erfrischenden Theaterabend. Das Publikum in der Stadthalle applaudierte frenetisch.

  • Termine 2016:
  • 24.10. Bottrop, Josef-Albers-Gymnasium
  •  3.11. Bocholt, Städtisches Bühnenhaus
  •  4.11. Witten, Saalbau
  •  8.11. Heinsberg, Stadthalle
  • 12.11. Hamm, Kurhaus
  • 16.11. Solingen, Theater
  • 24.11. Lünen, Heinz-Hilpert-Theater
  • 20.12. Castrop-Rauxel, Studio
  • www.westfaelisches-landestheater.de



Dschungel der Freien Szene – Entdeckungen beim Dortmunder Festival „Favoriten“

Festivalzentrum

Autoscooter-Fahrgeschäft als Festivalzentrum

Gestern ging es zu Ende: „Favoriten“, das nach eigenen Angaben „beste Theaterfestival der Welt“. Eine starke Behauptung der Festival-Organisatoren, ein klares Zeichen für wunderbare Übertreibung und der positive Slogan fürs erhellende Lügen im Bereich der Kunst.

War das Publikum bei den letzten Ausgaben überwiegend eher mit Experimenten und post-dramatischen Theatererscheinungen konfrontiert, so hatte man dieses Mal – rund ums Unionviertel mit der Dependance „Depot“ im Dortmunder Norden – die Vielfalt heutiger Formen und Inhalte ins Programm gerückt. Das war erkenntnisgewinnend und vom künstlerischen Leiter Holger Bergmann klug zusammengestellt, der sich nun ganz seiner neuen Aufgabe als Geschäftsführer des Fonds Darstellende Künste in Berlin widmen wird.

Die Kreativität der Produzenten ist schier grenzenlos. Auch, wenn nicht jedem alles gefällt, was mindestens zu kreativen Diskussionen veranlasst, so waren süße und bittere Pillen zu schlucken zwischen kleinstem Angebot (eine Dance-Box für je eine Person) und großer Geste (Ben J. Riepe).

Das Festivalzentrum, ein historisches Autoscooter-Fahrgeschäft, verlockte Junge und Alte zu einer engen Rumsfahrt auf der Fläche, auf der z.B. auch ein Klavierkonzert (Kai Schumacher) stattfand. Die Zuhörer lauschten in ihren Autoscootern, ein wahrlich ungewöhnliches Bild.

Das Publikum hatte die Wahl aus über 50 Angeboten. Manches war eng getaktet und man hastete von einem Bilderwerk zum anderen. Eine Stadt wie Dortmund – so ein Besucher – müsste solch ein Programm das ganze Jahr über anbieten. Das sei Lebensqualität.

Die Veranstalter, das Kulturbüro der Stadt Dortmund und der Landesverband Freie Darstellende Künste NRW, seit Jahrzehnten enge Partner bei der Ausrichtung des Festivals, das früher „Theaterzwang“ hieß, können zufrieden sein, blicken aber schon bald auf die Planung für 2018. Das Festival bleibt in Bewegung und man kann gespannt sein, wie und wo sich die nordrheinwestfälische freie Theaterszene dann positioniert. Man sollte den Gedanken eines freien Produktionshauses wieder aufnehmen, der in den 1990ern viel diskutiert wurde.

dorisdean

„Hochzeit mit Hindernissen“ – Szenenbild der Theatergruppe dorisdean (© dorisdean)

Am Sonntagabend fand innerhalb des Projektes „COOP3000“ von „matthaei und konsorten“ die Preisverleihung statt. Es wurde ein Kindergeburtstag für Große mit Tanzanimationen, einer „utopischen Konzerngründung“, einer grenzwertigen Tanz-Mucke und viel Beteiligung von allerlei Initiativen und Gruppen – volle Kanne Partizipation.

Die Preise erhielten Johannes Müller und Philine Rinnert für „Reading Salomé“, die Compagnie Ben J. Riepe für „Livebox: Persona“, dorisdean mit „Hypergamie – Hochzeit mit Hindernissen“ und „Made for love“, eine Performance von Monster Truck.

Der Publikumspreis ging kurioserweise an die kleine Festivalküche „Refugees‘ kitchen“. Juryentscheidungen sind immer umstritten, so auch hier, aber damit muss man gelassen leben.




Gilgamesh muss erwachsen werden: Eröffnung der Theatersaison in Düsseldorf

Das Schauspielhaus Düsseldorf im Zelt Foto: Eva Schmidt

Das Schauspielhaus Düsseldorf im Zelt
Foto: Eva Schmidt

Der Mann in Unterhose rennt über die Kö. Er ist mit verkrustetem Schlamm bedeckt und schreit.

Es handelt sich aber nicht um ein Shopping-Victim, sondern um Gilgamesh (Christian Erdmann), dem Theaterzelt entsprungen, das am Anfang der Düsseldorfer Königsallee aufgebaut ist. Hier eröffnete das Schauspielhaus unter der neuen Intendanz von Wilfried Schulz die Saison und öffnete sich gleichzeitig zur Stadt hin – mit einer sehr lebendigen, witzigen, aber nicht unbedingt tiefschürfenden Inszenierung des archaischen Gilgamesh-Mythos (übertragen von Raoul Schrott) von Roger Vontobel.

Uruk hieß diese erste City, 5000 vor Christus. Sie lag im Zweistromland. Bei Vontobel liegt Uruk in der Zirkusmanege , die großen Leuchtlettern, die einem Hollywood-Schriftzug nacheifern, sind zerbrochen, der Grund ist sandig, der Herrscher Gilgamesh verkommen, grausam, egomanisch. Er hurt herum, plustert sich auf, ein eitler Nichtsnutz.

Aus Sorge um die Stadt erflehen die Bürger Hilfe und diese kommt in Gestalt von Enkidu, dem Naturmenschen. Sehr tänzerisch ist die Schöpfung dieses Wesens aus Lehm umgesetzt, das zunächst wie ein Tier unter Tierherden lebt und nach und nach zu einem Menschen, sogar einem besseren Menschen wird. Eine kraftvolle und körperbetonte Performance liefert dabei der Tänzer Takao Baba, später übernimmt André Kaczmarczyk den Sprechpart der Rolle und erinnert eher an Jesus, den Propheten. Er findet den Weg unter die Menschen, in die Stadt und liefert sich mit Gilgamesh einen Zweikampf, der zum Glück in Freundschaft endet.

Als Freunde, die niemand trennen kann, wollen beide nun die Welt erobern und haben es zunächst auf den Beherrscher des Waldes Humbaba abgesehen. Ein Abenteuertrip für Halbwüchsige, es fehlt eigentlich nur noch der Campingkocher. Klar, dass sie den Waldkönig besiegen und erfolgreich wie nie zuvor nach Uruk zurückkehren.

Doch die Story wäre nicht stimmig, würde nicht doch noch das Schicksal zuschlagen: Enkidu wird krank und kränker, schließlich stirbt er und lässt einen fassungslosen, fast traumatisierten Gilgamesh zurück. Die neue Aufgabe lautet nun: Werde erwachsen! Ganz unmissverständlich macht seine Mutter Ninsun (Michaela Steiger) ihm das klar. Die blonde Diva im Glitzerkleid ist schon etwas länger Königin und weiß, wo die Reise hingeht: heiraten, Kinder kriegen, ordentlich regieren. Das soll der nichtsnutzige Spross jetzt mal endlich lernen und nun sieht er es auch selber ein. Über die Kö kann er dann ja immer noch laufen, vielleicht in gemäßigterem Tempo: Am Samstag, zum Shoppen.

Karten und Termine: www.dhaus.de

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Grußwort des Intendanten Wilfried Schulz zur Situation des Theaters in Düsseldorf:
http://www.dhaus.de/home/willkommen/




Schrilles Styling, graue Würste – „Kasimir und Karoline“ im Dortmunder Megastore

Ekkehard Freye Christoph Jšde Bettina Lieder

Schrilles Outfit, graue Würste (von links): Ekkehard Freye, Christoph Jšöde, Bettina Lieder (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Die Bühne groß, die Musik laut, das Licht grell und die Figuren so unwirklich bunt und künstlich, als seien sie einem Videospiel entsprungen. Gordon Kämmerer inszeniert im Megastore „Kasimir und Karoline“ von Ödön von Horváth – oder das, was er noch davon übrigläßt. Doch das ist gar nicht wenig, man lasse sich durch den furiosen Anfang nicht täuschen, in dem die brave Exposition, wer mit wem und warum und so weiter ersetzt worden ist durch wütend in Richtung Publikum geschleuderte Statements.

Diese Jugend, die älter aussieht als sie ist, ist hart, weil man hart sein muß in schweren Zeiten. Und der Rummelplatz ist das Vergnügen über dem Abgrund, ganz nahe am wirtschaftlichen Absturz in die Arbeitslosigkeit. Der große inszenatorische Aufschlag, den Kämmerer hier macht und den er eindreiviertel Stunden durchhält, ist also durchaus schlüssig, weil sich so die Aktualität des Stoffs einem jüngeren Publikum auf Augenhöhe unverkrampft vermittelt.

Julia Schubert Ekkehard Freye

Julia Schubert und Ekkehard Freye sind Karoline und Kasimir (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Damals im Opernhaus

Mit leichtem Grausen denkt man an die Düsseldorfer „Kasimir und Karoline“-Einrichtung Nurkan Erpulats, die 2013 bei den NRW-Theatertagen in Dortmund zu sehen war, übrigens wegen umfänglicher Kulisse und Drehbühnenerfordernis im Opernhaus. Ein ziemlich unerquickliches Moraltheater war das damals, das darin gipfelte, daß die Darsteller durch die Zuschauerreihen gingen und Menschen im Publikum provozierende Fragen stellten, die sich, so jedenfalls meine Erinnerung (aber was auch sonst?) um Recht und Gerechtigkeit in der Welt drehten.

Um wie vieles angenehmer ist da Kämmerers Ansatz, bei dem die trübe Moral von der Geschicht’ doch fraglos auch rüberkommt. Es wundert einen sowieso, wie wenig Denkfähigkeit viele Regisseure ihrem Publikum zutrauen, um dann finale Botschaften mit dem Bühnenholzhammer herauszuhauen. Hier gilt dies – wie gesagt – ausdrücklich nicht. Aber ich schweife ab.

Ekkehard Freye BŸhnentechniker Fanfaren-Corps 1974 Dortmund-Wickede

Ekkehard Freye – er hat wohl wirklich was am Fuß und geht an Krücken -, BüŸhnentechniker (links), Mitglieder des Fanfaren-Corps 1974 Dortmund-Wickede und das aufblasbare Festzelt (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Groteske Figuren

Figuren also in Plastik-Outfits und mit grotesken Frisuren, die dem Theater-Kosmos eines Robert Wilson entstammen könnten (Kostüme: Josa Marx), zeigen uns die Geschichte vom arbeitslosen Chauffeur Kasimir (Ekkehard Freye) und seiner Freundin Karoline (Julia Schubert), deren zarte Beziehung den drohenden wirtschaftlichen Absturz nicht überleben wird; vom Zuschneider Schürzinger (Frank Genser), der seinem ehemaligen Chef Karoline als „leichtes Mädchen“ zuführt, um seinen Job wiederzubekommen; vom gewalttätigen Kleinkriminellen Merkl Franz (Christoph Jöde), der bei einem Einbruch geschnappt wird und von „Dem Merkl Franz seine Erna“ (Bettina Lieder), die illusionslos feststellt, daß diese Verhaftung das Ende ihrer Beziehung darstellt. Denn als Wiederholungstäter bekommt der Franz bestimmt fünf Jahre, eine Ewigkeit.

Carlos Lobo Christoph Jšde Julia Schubert Frank Genser

Spaßgesellschaft (von links): Carlos Lobo, Christoph Jöšde, Julia Schubert und Frank Genser (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Extrem sportlich

Die fünf jungen Leute spielen extrem sportlich, tanzen, vergnügen sich im Planschbecken, sind überhaupt fast immer in Bewegung. Spaßige Elektro-Carts, mit denen sie auf der sparsam möblierten Bühne (Jana Wassong) ihre Achterbahnfahrt vorspielen (wo gibt es die eigentlich zu kaufen?), sorgen außerdem für putzige Bewegung.

Einzige größere Ausstattungsstücke sind eine Art Festzelt, das auf aufgeblasenen Beinen steht und, was man erwarten konnte, irgendwann in sich zusammenfällt, sowie etliche gleichermaßen aufgeblasene graue Riesenwürste, die im Laufe der Handlung als Spielobjekte, Liebesbetten, Verstecke und so weiter herhalten müssen und überdies natürlich an sich schon eine Art Rummelplatzsymbol sind, was in diesem Stück dann sozusagen die Würstchenbude ersetzt.

Ebenso dick aufgeblasen wie die Würste treten der Kommerzienrat Rauch (Carlos Lobo) und der Landgerichtsdirektor Speer (Max Thommes) auf, Charakterlumpen alle beide, aber durch Amt und Reichtum vor den schlechten Zeiten gut geschützt. Vielleicht sind sie ein wenig zu einseitig als Slapstick-Typen in Slapstick-Nummern abgebildet, doch haftet typischen Vertretern des Establishments ja wirklich oft etwas Groteskes an, das ist nicht zuletzt eine Frage der Perspektive.

Gute Klänge

Max Thommes zeichnet übrigens auch verantwortlich für „Komposition und Live-Musik“, und man muß sagen, daß die Verbindung von Theater, Sound und Musik recht gut gelungen ist. Wenn beispielsweise Bettina Lieder – einer der Höhepunkte des Abends – ihren wütenden Monolog über die „Wiesenbraut“ hält, dann grollt darunter ein elektronisches, waberndes Crescendo, das, wie man heute gern und meistens gedankenlos sagt, Gänsehaut erzeugt.

Bettina Lieder Frank Genser Julia Schubert Christoph Jšde Max Thommes

Es geht um die Wurst, wie man vielleicht sagen könnte. Von links: Bettina Lieder, Frank Genser, Julia Schubert, Christoph Jšöde, Max Thommes (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Nicht unerwähnt bleiben darf natürlich das Fanfaren-Corps 1974 Dortmund-Wickede, das seinen vergnüglichen Rummelplatzauftritt hat und mit Tschingderassabum auf die Bühne marschiert. Sie dürfen sogar ein bißchen mitspielen, jedenfalls einige von ihnen. Der Auftritt des Corps wurde mit Fingerspitzengefühl implementiert, er ist heiter und stimmig, ohne peinlich zu sein (was schnell passieren kann). Und vielleicht hat das Dortmunder Theater zukünftig noch mehr Besucher aus Wickede, wäre doch schön.

Ehrgeiz entwickeln

Übrigens, kleine Randbemerkung, scheinen nicht nur Hausherr Kay Voges, sondern eben auch Regisseure wie Gordon Kämmerer immer besser mit der Raumsituation des Megastore zurechtzukommen und Ehrgeiz zu entwickeln, etwas Besonderes daraus zu machen. Nachher wollen die da gar nicht mehr weg!

Gewiß hat der sehr laute, plakative Zugriff auf den Stoff einige Schwächen dort, wo für Gespräche und Vertrautheiten Kammerspielton vorgesehen ist. Doch sei’s drum; der stringente, zupackende Stil dieser Inszenierung sorgt auch an einstmals leisen Stellen für das nötige Verständnis. Schrill und respektvoll ist dieser Horváth geraten. So etwas läßt sich nicht oft über Theaterproduktionen sagen.

  • Termine, 1., 15., 26. Oktober, 3., 11., 18. November, 26. Dezember 2016
  • Januar, 26. Februar, 5. Mai 2017
  • www.theaterdo.de



Erstarrte Last verdrängter Tat: „Von Dingen, die vorübergehen“ nach einem Roman von Louis Couperus bei der Ruhrtriennale

Gijs Scholten van Aschat (Takma) und Frieda Pittoors (Grootmama Ottilie), erstarrt in Schuld und Schweigen. Foto: Jan Versweyveld

Gijs Scholten van Aschat (Takma) und Frieda Pittoors (Grootmama Ottilie), erstarrt in Schuld und Schweigen. Foto: Jan Versweyveld

Es gibt Dinge, die vorübergehen. Leidenschaften zum Beispiel, oder Begierden. Für einen Moment des blinden und wilden Habenwollens gab es zwanzig Jahre Gezänke und Geschrei, zieht der hart und kalt gewordene Mann mit dem bezeichnenden Namen Steyn de Weert (Robert de Hoog) die Bilanz seiner Ehe. Seine Frau Ottilie gehört zu einer Familie, in der ein „Ding“ nicht vorübergeht, sondern bedrohlich präsent bleibt: ein Mord aus Leidenschaft, begangen vor Jahrzehnten im fernen Niederländisch-Indien. Großmutter Ottilie hat mit ihrem Geliebten Takma ihren Mann umgebracht. Doktor Roelofsz hat die Untat gedeckt.

Ein Geheimnis, das die drei – inzwischen uralt geworden – nicht in Ruhe lässt; ein Geheimnis, das keines ist: Am Ende der zweieinviertel Stunden bedrückenden Spiels wissen wir, dass es (fast) alle gekannt haben. Nur die Alten, die sterben in der Illusion, mit dem „Ding“ alleine gewesen zu sein.

„Van oude mensen, de dingen die voorbij gaan“ heißt der Roman von 1904, den Koen Tachelet für die Bühne bearbeitet und den der renommierte belgische Regisseur Ivo van Hove für die Ruhrtriennale inszeniert hat.

Schon im letzten Jahr hat Johan Simons, Intendant der Triennale bis 2017, von dem Team um van Hove einen Roman des Niederländers Louis Couperus auf die Bühne bringen lassen: „De stille kracht“ („Die stille Kraft“), eine Studie über das Unergründliche im Menschen, das sich in der Konfrontation von unvereinbaren Kulturen und in dunklen Verbrechen offenbart.

„Von alten Menschen, den Dingen, die vorübergehen“ ist ein Schlüsselwerk Couperus‘, der zu den wichtigsten Schriftstellern der Niederlande gehört. Leider ist das Werk auf Deutsch nicht mehr erhältlich; die letzte Ausgabe erschien 1985. Und es ist bedauerlich und ein wenig verwunderlich, dass kein Verlag den Impuls der letztjährigen Triennale aufgegriffen und sich dem Schaffen von Couperus zugewandt hat – zumal die Buchmesse dieses Jahres Flandern und die Niederlande zu Gast haben wird.

Die Maschinenhalle der ehemaligen Zeche Zweckel in Gladbeck, Spielort der Ruhrtriennale für Louis Couperus' "Die Dinge, die vorübergehen". Foto: Werner Häußner

Die Maschinenhalle der ehemaligen Zeche Zweckel in Gladbeck, Spielort der Ruhrtriennale für Louis Couperus‘ „Die Dinge, die vorübergehen“. Foto: Werner Häußner

Nachlesen lässt sich also nur auf Niederländisch, und das ist schade. Denn Ivo van Hoves Arbeit in der Maschinenhalle der ehemaligen Zeche Zweckel in Gladbeck stellt Couperus als einen Autor mit aktuellem Potenzial und zeitlos relevanten Themen vor. Sicher geht es um das Altwerden, um das Ersterben der Leidenschaft, um die unbändige Kraft nicht zu bezwingender Triebe, um eine schonungslose Analyse der Familie als Ort des Verschweigens, der Sprachlosigkeit, der Selbsttäuschung. Es geht um die verdrängte und gerade deshalb machtvolle Sexualität, die van Hove in zugespitzten Bildern vor Augen führt: Die Umarmungen, die Küsse von Mutter Ottilie (Katelijne Damen) und Sohn Lot haben etwas ungeniert Sinnliches und Gieriges; die Kälte statuenhafter Dialoge sind so fröstelnd unheimlich wie die unverhohlene Pädophilie von Ottilies Bruder Anton, von Hugo Kolschijn mit der verzehrenden Unruhe, aber auch der eisigen Egozentrik des finsteren Begehrens verkörpert.

Ivo van Hoves konzentrierter Inszenierungsstil schafft auf der Bühne von Jan Versweyveld dichte, atmosphärisch faszinierende Bilder. Foto: Jan Versweyveld

Ivo van Hoves konzentrierter Inszenierungsstil schafft auf der Bühne von Jan Versweyveld dichte, atmosphärisch faszinierende Bilder. Foto: Jan Versweyveld

Aber es geht auch um die Folgen einer Tat, die sich mit biblischer Wucht bis in die Enkelgeneration auswirkt. Couperus ist kein Moralist, er stellt – wie das alttestamentliche Wort von den Wirkungen der Sünden der Väter – den Zusammenhang fest. Aber der erstickt das Leben, nimmt die Freude und die Leichtigkeit des Seins. Eine Last, der die jungen Leute auch durch Flucht in den Süden nicht entkommen. Und die Momente entfesselten sexuellen Begehrens wirken weder frei noch beglückend – sie schnaufen unter Zwang und Druck.

Jan Versweyfeld schafft das Paradoxe, die weite Spielfläche der riesigen, denkmalgeschützten elektrischen Kraftzentrale in ein bedrückendes Gefängnis zu verwandeln: Figuren in hochgeschlossenem, calvinistischem Schwarz (Kostüme: An D’Huys) sitzen auf Stühlen an den Rändern einer hell-ockerfarbenen Fläche, die sich nach hinten in einer Spiegelwand verliert. Dort gehen Uhren ihrem gleichförmig mechanischem Tagwerk nach: Ihr unerschütterliches Ticken – Harry de Wit greift es in seiner unheimlich ausdrucksstarken Musik auf – endet erst mit dem Tod der Großmutter. Auch wenn das „Ding“ dann vorüber ist: die Menschen, die immer wieder wie ein Leichenzug die Fläche beschreiten, wirken nicht entlastet; die Protagonisten des Epilogs bilden stehend ein Kreuz. Und Lot, der den Namen des Überlebenden des Infernos von Sodom und Gomorrha trägt, bleibt alleine zurück, in Angst vor Alter und Endlichkeit. Unfähig, das Neue zu „umarmen“, das sich ankündigt, versinkt er in undurchdringlich weißem Nebel.

Kein Fünkchen Hoffnung? Doch – und die formuliert Couperus religiös: Die Alten räsonieren in ihren quälenden Dialogen über Schuld und Strafe, über Gott und Vergebung. Eine Ahnung von Barmherzigkeit haben sie nicht. Aber die Großmutter Ottilie bittet am Ende ihre Tochter Thérèse (Celia Nufaar), ihr zu zeigen, wie man betet. „Ich habe es vergessen“, sagt sie. Und die Tochter, die, als sie dreißig Jahre vorher von dem Mord erfahren hatte, alle sexuelle Sinnlichkeit mit Hass belegt und sich ins stellvertretende Gebet vergraben hat, stellt mit Genugtuung fest: Ihre Mutter ist mit gefalteten Händen gestorben. Hoffnung auf Heilung, auf Versöhnung bei Gott? Sie klingt zumindest an.

Dass dieses Plädoyer für die Aktualität und die Gedankentiefe von Louis Couperus erneut so grandios gelingt, ist Ivo van Hoves mätzchenfreier, konzentrierter Regie zu verdanken, den bedachtsamen choreografierten Ensembles (Koen Augustijnen), vor allem aber der großen Klasse der Darsteller der Toneelgroep Amsterdam: Schon der Klang der Rede – das Niederländische wird in Übertiteln übersetzt – ist ein Erlebnis. Momente höchster emotionaler Anspannung werden ohne Druck entwickelt. Die klare Artikulation, der ungezwungene Sprachfluss, die differenzierte Dramaturgie von Tempo und Dynamik machen schmerzhaft bewusst, wie viele Schlampereien sich in die am deutschen Schauspiel üblich gewordene verschliffene Sprache eingeschlichen haben.

Van Hove lässt seinen Menschen auf der Bühne viel Raum, entlässt sie aber nicht aus der Disziplin einer auch in der Zuspitzung kontrollierten Aktion. Gijs Scholten van Aschat ist der unter der quälenden Last der verdrängten Tat erstarrte Emile Takma; Frieda Pittoors als Großmutter Ottilie erzeugt Gänsehaut-Momente, wenn das „Ding“ im Zimmereck vor ihrem geistige Auge aufsteigt. Sie zeigt ihre Klasse aber nicht nur in den spitzen Staccati ihrer Schreie, sondern mehr noch, wenn ihre bitteren Monologe von Schuld und Strafe in den Griff knöcherner Angst geraten.

Aus Greidanus (Lot) und Abke Haring (Elly) spielen mit Passion das junge Paar, dessen Beziehung keine Zukunft hat. Hans Kesting (Harold) und Bart Slegers (Daan), Jip van den Dool (Hugh), Janni Goslinga (Anna) und Maria Kraakman (Ina) entwickeln in unprätentiösem Spiel scharf gezeichnete Charaktere; Fred Goessens macht aus Doktor Roelofsz einen Menschen, den sechzig Jahre verbissenes Schweigen ruiniert haben, der aber, als er sich einen Augenblick lang entdeckt fühlt, noch einmal den Habitus eines gefährlichen Gewalttäters aufblitzen lässt. Der wiederentdeckte Louis Couperus hat nicht nur dank der konturscharfen Handschrift von Ivo van Hove zu einem Höhepunkt der am 24. September zu Ende gehenden Ruhrtriennale geführt. Der letzte Teil der Couperus-Trilogie im nächsten Jahr darf mit Spannung erwartet werden.

Weitere Vorstellungen am 23. und 24. September. www.ruhrtriennale.de




Deklamationen am Rande der Kohlenhalle – Johan Simons inszeniert in Marl „Die Fremden“

Kamel Daoud, György Ligeti, Mauricio Kagel, Reinbert de Leeuw, Johan Simons, Aernout Mik: Die Fremden/ Ruhrtriennale 2016

Sandra Hüller (rechts), weitere Mitwirkende (Foto: JU/Ruhrtriennale)

In seinem Roman „Der Fremde“ läßt Albert Camus den Franzosen Meursault in Algerien einen einheimischen Mann ermorden, der namenlos bleibt. Für den Gang der Geschichte ist das sinnvoll, aber etwas kränkend für die arabische Seele war es offenbar auch. Vor wenigen Jahren – auf Deutsch erschien das Buch im Februar – hat der algerische Schriftsteller Kamel Daoud seine Version der Camus-Geschichte verfaßt: „Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung“.

Daoud erzählt den Plot aus der Perspektive der Familie des Opfers, das hier den Namen Moussa trägt. Sein Bruder, ein alter Mann mittlerweile, erinnert sich, und Camus’ Geschichte über einen vorgeblich zufälligen Mord wird zu einem Lehrstück über Kolonialismus, Rassismus, Identität, über Verhältnisse kurzum, deren logische Folge geradezu dieser Mord war. Nun gut.

Steiniger Untergrund

Jetzt hat sich Johan Simons, Ruhrtriennale-Intendant, des Buchs von Daoud bedient, um daraus eine Bühnenproduktion zu machen. Spielort von „Die Fremden“ (!) – Bühne kann man es nicht nennen – ist die Kohlenmischhalle der kürzlich stillgelegten Zeche Auguste Victoria in Marl, ein steiniger, staubiger Untergrund, auf dem zu agieren sicher keine Freude ist.

Das Orchester Asko/Schönberg hat auf dem Spielfeld seinen Platz bezogen und intoniert während der rund 100 Minuten Spielzeit Kompositionen von Mauricio Kagel, Claude Vivier und György Ligeti. Dominiert wird die Szene von einer riesigen Maschine auf Schienen, der Kohlenmischmaschine wohl, die sich irgendwann im Mittelteil sinnfällig in Bewegung setzt und langsam und lautlos nach hinten wegfährt.

Kamel Daoud, György Ligeti, Mauricio Kagel, Reinbert de Leeuw, Johan Simons, Aernout Mik: Die Fremden/ Ruhrtriennale 2016

Im Hintergrund ist die Videoarbeit von Aernout Mik zu sehen (Foto: JU/Ruhrtriennale)

Bedeutungsschwer

Die Maschine ist aber auch das Originellste an dieser Inszenierung, deren Ende man nach einiger Zeit doch sehr herbeisehnt. Wie im letzten Jahr schon in Simons’ Einrichtung von „Accattone“ nach Pasolini – in einer großen Kohlenhalle in Gladbeck – besteht der gesprochene Text fast nur aus bedeutungsschweren Deklamationen, deren akustische Verständlichkeit zudem dadurch erschwert ist, daß die Mimen vorwiegend niederländische Muttersprachler zu sein scheinen. Mit dem Deutschen und seiner richtigen Betonung tun sie sich schwer. Gerade einmal Sandra Hüller, die jüngst im Film „Toni Erdmann“ neben Peter Simonischek brillierte und die man offenbar als Star eingekauft hat, gibt manchmal eine Ahnung von dem, was Schauspielkunst (auch hier) sein könnte.

Kamel Daoud, György Ligeti, Mauricio Kagel, Reinbert de Leeuw, Johan Simons, Aernout Mik: Die Fremden/ Ruhrtriennale 2016

Szenenfoto (Foto: JU/Ruhrtriennale)

Flachbild

Mit dem Spielort, ein weiteres Ärgernis, weiß Simons wenig anzufangen, sieht man einmal von der erwähnten Kohlenmischmaschine ab. Der größte Teil des riesigen, tiefen Raums bleibt für die Inszenierung praktisch ungenutzt, alles spielt sich an einem Kopfende der Halle ab, vor dem die Zuschauerränge aufgebaut sind.

Hier offenbaren sich die Grenzen eines „freien“, improvisationsfreudigen Theaters nach Simons’ Art, das fast überall Spielräume zu schaffen weiß, sich mit vorgegebenen Räumen aber schwertut. Mit einer gewissen Wehmut denkt man da an bombastische Produktionen der Ära Heiner Goebbels, die lustvoll mit der Tiefe spielten, an ausschwenkende Lichtkräne über nächtlicher Jahrhunderthalle und an bedrohliche, in das Publikum hineinrollende Dampflokomotiven. Tempi passati.

Flüchtlingslager im Video

Natürlich wurde auch das Migrationsthema nicht ausgelassen. Eine Videoinstallation von Aernout Mik zeigt die Kohlenmischhalle als Flüchtlingslager, erschöpfte Menschen, Kinder, Verwaltungsbeamte, Polizisten. Natürlich gibt da Zusammenhänge; trotzdem wirkt das Video wie der etwas ungelenke Versuch, möglichst viel Aktualität in einen Stoff zu pressen, der auch aus sich heraus bestünde.

Erwähnt sei noch, daß auch der Bundespräsident im Publikum saß. Sein Auftritt mit Gefolge und ein bißchen Händeschütteln vollzog sich glücklicherweise in wenigen Minuten, und die erhöhten Sicherheitsmaßnahmen blieben erträglich. Leider konnte man ihn nicht nach seiner Meinung fragen. Wie immer sie auch ausgefallen sein mag – gewiß hätte er sie in die richtigen Worte gekleidet.




Mahler und Migranten – Alain Platels Stück „nicht schlafen“ bei der Ruhrtriennale

Alain Platel, Steven Prengels, Berlinde De Bruyckere, les ballets C de la B: nicht schlafen/ Ruhrtriennale 2016

Sie gehen sich an die Wäsche. Szene aus „nicht schlafen“ von Alain Platel, Steven Prengels und Berlinde De Bruyckere. (Foto: Chris van de Burght/Ruhrtriennale)

An die Belle Époque erinnern sie eher nicht, die Tänzer und die Tänzerin auf der Bühne. Eher wirken sie migrantisch. Fallschirmseide, Trainingsanzüge. Nach einer langen Phase statuarischen Wartens werden sie gewalttätig, kämpfen miteinander, reißen sich die Kleider vom Leib. Körperliche Jungmännerrituale, ist man geneigt zu denken.

Doch was haben diese Personen, vorwiegend womöglich arabischer und afrikanischer Herkunft, mit dem Komponisten Gustav Mahler zu tun, der von 1860 bis 1911 lebte und dem das Projekt den Arbeitstitel „Mahler Projekt“ verdankt? Und was hat der Altar auf der Bühne zu bedeuten, auf dem zwei Pferdekadaver (nicht echt) liegen? Alain Platels Tanzabend in der Bochumer Jahrhunderthalle, dargeboten im Rahmen der Ruhrtriennale, verlangt nach Interpretation.

Seele auf Achterbahnfahrt

Nun, zunächst einmal ist „nicht schlafen“ eine Choreographie auf Mahlers Musik, auf sein dramatisches Seelenleben, das sich in ihr ausdrückt. Wiederholt, beispielhaft in seiner 5. Symphonie, wechseln manische Aufwallungen sich mit trostlos depressiver Trübnis ab, entwickeln die gegenläufigen Stimmungen in ihrem Kontrast geradezu eine eigene Dynamik.

Um solche Achternbahnfahrten durch die eigene Seelenlandschaft verstehen zu können, muß man sich (fast ganz) nackt machen, ungeschützt und angreifbar, womit sich die ersten Szenen der Choreographie erklären ließen. Im Tanz der jungen Männer zum dritten Satz der Fünften spiegelt sich des Komponisten Seelenpein geradezu mustergültig, mal kraftvoll und athletisch, mal verzweifelt und erschöpft.

Die Musikliste dieses Abends übrigens – dem 3. Satz aus der Fünften folgt ein 4. Satz der Dritten, hernach intensives Tieratmen unter dem Titel „Breathing – Mahler“, und so fort – listet neben den Mahler-Zitaten auch afrikanische Klänge sowie etliche zum Teil recht freie Bearbeitungen und Arrangements von Steven Prengels auf, der die musikalische Leitung hat.

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„nicht schlafen“ – Probenfoto (Foto: Chris van der Burght/Ruhrtriennale)

Vor dem Ersten Weltkrieg

Alain Platel, ist im Programmheft zu lesen, will Mahler auch verstanden wissen als eine Art Seismograph seiner Zeit, in der es, meint der Regisseur, ziemlich drunter und drüber ging, drei Jahre vor dem Ersten Weltkrieg. Technischer Fortschritt, Bevölkerungsexplosion und Psychoanalyse, um nur mal drei Schlagworte zu nennen, revolutionierten Gesellschaften und Staaten mit vielfach veralteten, autoritären, reformunwilligen Machtstrukturen. Das männliche Selbstbild wankte, und das alles konnte nicht gutgehen, da baute sich zu viel Druck im Kessel auf.

Feinnervige Künstler wie eben Mahler, so die These, gaben diesen atmosphärischen Veränderungen in ihrem Schaffen Ausdruck. Die Choreographie wäre somit ein getanztes Sitten- oder Gesellschaftsbild, das Gefühle von Verunsicherung, Gefahr, diffuser Gewalt oder Verlustangst (von Männern) aufnimmt. Das tut sie in engen Grenzen gewiß, doch bietet sie kaum zusätzlichen Erkenntnisgewinn.

Alain Platel, Steven Prengels, Berlinde De Bruyckere, les ballets C de la B: nicht schlafen/ Ruhrtriennale 2016

Herren von „Les ballets C de la B“ in „nicht schlafen“ (Foto: Chris van de Burght/Ruhrtriennale)

Wer sind die Opfer?

Eher schon drängt die migrantische Anmutung dieses Auftritts von „Les ballets C de la B“ aus Gent in Belgien ins Blickfeld. Leben wir wieder in Zeiten des Umbruchs? Welche Opfer müssen gebracht werden, wer sind die Opfer? Eine größere Sequenz des Getanzten bearbeitet dieses Thema, zeigt die Ausgrenzung eines Mannes, der sich auffällig juvenil und tuntig gibt und wohl deshalb ausgeguckt wird, zeigt seine Isolierung von der Gruppe, sein Leiden und Sterben. Schließlich liegt er neben den Tieropfern auf dem Opferaltar. Und den anderen geht es wieder gut; so ein Opfer besänftigt die Seele und gibt den Menschen neue Kraft. Oder? Wenn der Opfergang auf seinem Höhepunkt angelangt ist, vermeint man im dichten Klangrausch auch die hämmernden Klänge aus Stravinskys „Frühlingsopfer“ zu vernehmen, doch nennt die Musikliste diesen Komponisten nicht.

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„nicht schlafen“ – Probenfoto (Foto: Chris van de Burght/Ruhrtriennale)

Immer wachsam sein

Der Titel des Tanzabends, das entnehmen wir einem Aufsatz von Hildegard de Vuyst im Programmheft, ist durchaus appellativ gemeint („Wir sind dazu verurteilt, immer auf der Hut zu sein“) und rekurriert seinerseits auf Zeilen des Philosophen Friedrich Nietzsche, die Mahler für Zarathustras Nachtwandlerlied verwendete („O Mensch! Gib acht!…). Von Nietzsche wiederum wissen wir, daß er dem Wahnsinn anheimfiel, nachdem er auf der Straße ein Pferd geherzt hatte. Taugt dies für eine assoziative Kaskade bis zu den (künstlichen) Pferden auf dem Opferaltar im Tanzstück? Oder setzt man damit auf das falsche Pferd?

In Wiederholungsschleifen

Die umfangreiche theoretisch-historisch-philosophische Grundierung findet im Tanz der Männer leider nur zum Teil ihre Entsprechung. Da ist ein selten unterbrochenes, in seiner Gleichförmigkeit ermüdendes Agieren aller auf der Bühne, Bilder im Sinne einer dramatischen Strukturierung bleibt diese Einrichtung schuldig. Nach etwa der Hälfte der Zeit wirkt der gestische Vorrat endgültig verbraucht, man wähnt sich in Wiederholungsschleifen.

Eindrucksvoll aber bleibt, wie die jungen Männer (und die eine Frau) mit großem Körpereinsatz in stickig-heißer Jahrhunderthallenluft rund zwei Stunden fast permanenter, bewegter Bühnenpräsenz ohne Erschöpfungszeichen meisterten. Ein bißchen mehr Präzision im Tanz hätte hie und da gutgetan, aber bei einer solchen frei konstruierten Choreographie soll man nicht zu streng sein.

Manche applaudierten heftig, manche gingen etwas früher – wie das eben so ist.

Weitere Termine: 3., 8., 9., 10. September
www.ruhrtriennale.de




Projekt „Ruhr Bühnen“: Elf Theater „unter einem Dach“ – leider nur die Etablierten

Von unserem Gastautor Werner Streletz (Schriftsteller und Journalist in Bochum):

„Nachhaltigkeit“ hatten sich die Macher des Kulturhauptstadtjahres 2010 auf die Fahnen geschrieben. „Ruhr 2010“ sollte nicht nur ein zwölfmonatiges Feuerwerk abbrennen, sondern auch langfristig Wirkung zeigen. Die Kunstmuseen an der Ruhr arbeiten schon geraume Zeit zusammen, jetzt folgen die Theater.

Am Kooperations-Projekt beteiligt: das Schauspielhaus Bochum (Innenansicht). (Foto: Bernd Berke)

Am Kooperations-Projekt beteiligt: das Schauspielhaus Bochum (Innenansicht). (Foto: Bernd Berke)

„Ruhr Bühnen“ ist das Zusammenwirken von nicht weniger als elf Bühnen des Ruhrgebiets betitelt – vom kleinen Schlosstheater in Moers bis zum Schauspielhaus Bochum. Den ersten Schwerpunkt dieses neuen Kulturnetzwerkes, das finanziell gut ausgestattet ist (fast zwei Mio. Euro in drei Jahren) und das jetzt im Theater Oberhausen vorgestellt wurde, bildet das gemeinsame Marketing, also die vereinigte Werbetrommel. Inhaltlich wird anschließend ein erster Versuch im Herbst 2017 gestartet, wenn bei einer Theaterreise durchs Ruhrgebiet jeweils Inszenierungen der beteiligten Bühnen besucht werden können.

Durch „Ruhr Bühnen“ soll das eigenständige Profil des jeweiligen Theaters allerdings nicht im Geringsten angekratzt werden. Deren Autonomie bleibt ungeschmälert erhalten.

Derzeit sind im Übrigen nur die etablierten kommunalen Bühnen des Reviers unter dem neuen Dach versammelt. Und wie sieht es mit der freien Szene aus, in Bochum zum Beispiel mit dem Prinz Regent Theater oder dem Rottstr5-Theater? Eine einzelne Off-Bühne hätte wohl keine Chance, bei den „Ruhr Bühnen“ mitzumachen und damit vom Geldregen zu profitieren, so ist während der Pressekonferenz zum Projekt „Ruhr Bühnen“ zu erfahren. Nur bei einem Zusammenschluss von mehreren freien Theatern bestünde die Möglichkeit einer Mitgliedschaft. Kurzum: Freie Fahrt (bisher leider nur) für die Etablierten!

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Info

Zu den „Ruhr Bühnen“ gehören folgende Häuser:
Schauspielhaus Bochum, Theater Dortmund, Deutsche Oper am Rhein im Theater Duisburg, PACT Zollverein in Essen, Theater und Philharmonie (Tup) Essen, Musiktheater im Revier (Gelsenkirchen), Theater Hagen, Schlosstheater Moers, Ringlokschuppen Mülheim, Theater an der Ruhr in Mülheim, Theater Oberhausen.





Theater zwischen Mais und Sonnenblumen – „Sumpfland“ erfreut bei der Ruhrtriennale

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Die Waschmaschine muß raus, das Haus wird zu schwer – Szene aus „Sumpfland“. (Foto: Stephan Glagla/Ruhrtriennale)

„Sumpfland“ sollte das Stück nicht heißen, Sandland träfe es besser. Denn durch Sandland muss man stapfen, wenn man zur Inszenierung will. Mais und trockene Sonnenblumen säumen den beschwerlichen Weg, von dem man nicht weiß, wohin er führt, und der schon Teil der Inszenierung ist. Die Ruhrtriennale zeigt „Sumpfland“ als „Outdoor-Familienstück“ in der Bottroper Bauernschaft Sensenfeld.

Alles hängt

Hinter einer leichten Kurve taucht die Szenerie dann auf, ein heruntergekommenes, schiefes Backsteingebäude und gegenüber die Zuschauertribüne. Vor dem Haus und drumherum: Wasser, Matsche, Hausrat, Möbel, Kühlschrank. Das Besondere an vielen Dingen ist, dass sie an Masten hängen: Ein pittoreskes Bühnenbild im Maisfeld, dessen Sinnhaftigkeit sich indes erst erschließt, wenn wir eine junge Frau beobachten, die aufgeregt herumläuft, immer wieder einen Namen ruft und schließlich eine veritable Waschmaschine aus dem Haus wuchtet. Denn das Haus, erklärt sie uns, muss leichter werden. Sonst versinkt es im Sumpfland. Und die Dinge, die ringsherum an Stangen hängen, sind so etwas wie Flaschenzüge, die das Haus festhalten. Jedenfalls für den Moment.

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Der Weg ist nicht das Ziel, doch stimmungsvoll führt er zur Inszenierung (Foto: Stephan Glagla/Ruhrtriennale)

Starke Figuren

„Sumpfland“, daran ließ schon die Ankündigung keinen Zweifel, ist ein Stück auch für ein junges Publikum, „für Menschen von 8 bis 108 Jahren“, wie zu lesen war. Deshalb zeichnet das Studio Orka aus Gent, das hier auf dem flachen Land gastiert, die Figuren mit dickem Strich – die Geschwister, die das ehemals berühmte Café am ehemaligen Zielort eines gleichermaßen berühmten Radrennens nicht aufgeben wollen, den Lehrer, der öfter vorbeikommt, der seine Schüler und ihre Aufsätze liebt und trotzdem gemobbt wird, die Radfahrerin (und Tochter eines berühmten Radfahrers), die in Erinnerung an große alte Zeiten einen Blumenstrauß vorbeibringt, die Musiker, die mit ihrem Auto neben dem Haus im Sumpfland eingesunken sind und auf den Abschleppwagen warten.

Wildschweine jagen

Mal wird im Mais ein Wildschwein erlegt, mal hat die Radfahrerin einen Unfall und blutige Knie, das alles ist ebenso absurd wie in sich schlüssig, nicht zuletzt aber auch höchst unterhaltsam. Und plötzlich sinkt das Haus zu aufpeitschenden Elektrogitarrenklängen tatsächlich ein bisschen tiefer, und Schlimmeres kann erst in letzter Sekunde durch das Aufhängen der Waschmaschine – als Gegengewicht, sozusagen – verhindert werden. Das hat schon was. Auf so etwas muss man erstmal kommen.

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Vorn der Bruder, hinter ihm das Gebäude im Sumpfloch (Foto: Stephan Glagla/Ruhrtriennale)

Pommes zum Trost

Dieses Stück ist pädagogisch, gewiss, vor allem jedoch sehr menschlich. Es preist den Wert eines jeden Einzelnen, die Solidarität, die geschwisterliche Liebe, den Mut zu träumen. Wer schwach ist, bekommt Schutz, wer leidet, Trost. Tröstlich sind des Öfteren auch Pommes Schranke bis zum Abwinken, außerdem Fleischbällchen in Tomatensoße, falls noch welche da sind. (Es sind noch welche da.) Nur die Bratwurst ist leider ausgegangen.

Ehrlich und wahr

Einen Regisseur nennt der Besetzungszettel interessanterweise nicht. „Sumpfland“ ist von und mit Philippe Van de Velde, Martine Decroos, Dominique Van Malder, Julie Delrue, Eline Kuppens, Titus Devoogdt und Janne Desmet. Mit kräftiger Mimik und eindrucksvollem Körpereinsatz arbeiten sich die belgischen Akteure durch ihren deutschen Text, der ihnen erkennbar einiges abverlangt.

Für das Stück hat der holländische – besser vielleicht: flämische – Zungenschlag geradezu die Nebenwirkung eines epischen Verfremdungseffekts, der alles noch ein bisschen märchenhafter, unwirklicher, absurder und damit auf anrührende Weise ehrlicher und wahrer macht. Und all das auf freiem Feld und unter blauem Himmel.

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Um das Haus zu retten, muß man einander helfen: „Sumpfland“ ist durchaus pädagogisch, aber es nervt nicht damit. (Foto. Stephan Glagla/Ruhrtriennale)

Am Samstag blieb der Himmel leider nicht blau. Regen fiel, ein Gewitter deutete sich an, und nach einer Stunde musste das auf anderthalb Stunden angesetzte Stück vorzeitig beendet werden. Zurück ging der Weg aus dem Sumpfland zu den Parkplätzen. Irgendwo im Nirgendwo blieb das versinkende Radrennfahrercafé zurück. Sinnlicher kann Theater kaum sein.




Mit einem Fest im „Megastore“ startet das Dortmunder Theater in die neue Spielzeit

Sie geht zu Ende, die theaterlose Zeit. In den Häusern regt sich wieder künstlerisches Leben. Überall kündigen sich die Spielzeiteröffnungsfeste an, mit denen die Schauspielhäuser sich und ihr buntes Schaffen in Erinnerung bringen wollen. Dortmund ist ziemlich weit vorne mit dabei, jedenfalls kalendarisch. Am Samstag, 3. September, wird das Fest gefeiert, rund um den „Megastore“, die Ausweichspielstätte an der Nortkirchenstraße.

Julia Schubert Frank Genser

„Die Show“ hat Chancen auf einen Publikumspreis und ist weiter im Programm. Szene mit Julia Schubert und Frank Genser. (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Das Grillo-Theater Essen, zum Vergleich, feiert am 10. September, das Bochumer Schauspielhaus am 22. September.

Gutes Wetter

Das gute Wetter, alter Veranstalterscherz, ist bestellt und war ziemlich teuer. Start des „Kulturprogramms“, wenn man in Unterscheidung zu einigen anderen Belustigungen einmal so sagen darf, ist um 16.15 Uhr mit der Vorführung des Films „Das verlorene Paradies“, später folgen öffentliche Proben zu „La Révolution“ und „Kasimir und Karoline“. Die Ensemblemitglieder Bettina Lieder und Carlos Lobo werden Märchen vorlesen, und selbstverständlich wird der Spielplan für 2016/2017 vorgestellt.

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Ebenfalls beliebt bei den Zuschauern, ebenfalls unter den Wiederaufnahmen: „Die Borderline Prozession“. (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Achtung, sagt Frau Homayoun von der Pressestelle: Für Veranstaltungen, die im Saal stattfinden, muß man sich vorher Eintrittkarten am Infostand abholen. Die kosten zwar nichts, sind aber limitiert, wg. begrenzter Raumkapazitäten. Und ungefragt will ich gerne noch hinzufügen, daß Leuten, die kostenlose Eintrittskarten zusammenraffen, ohne nachher in die Veranstaltungen zu gehen, ausgesprochen unsympathische Zeitgenossen sind, ja, schlechte Menschen geradezu! Aber dies nur am Rande.

Dortmunder Sprechchor

Dritte Nominierung, ebenfalls weiter im Spielplan: „Das Bildnis des Dorian Gray“ mit dem beliebten Dortmunder Sprechchor. (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Drei Bands Open Air

Zweiter Schwerpunkt im Kulturellen sind die Open-Air-Auftritte von drei Bands. Thomas Truax, den Chefdramaturg Michael Eickhoff als „Anti-Folk-Musiker“ bezeichnet, was in der kleinen Presserunde zunächst aber keiner versteht, eröffnet das musikalische Geschehen um 17 Uhr. Für seine eigenen Songs baut sich dieser Musiker die Instrumente selber, die Namen wie „Hornicator“, „Mother Superior“ oder Sister Spinster“ tragen. Ihm folgt um 19 Uhr Hausmusikus von Finckenstein, der in der Ankündigung allerdings bescheiden als „Tommy Finke & Band“ firmiert. Bekanntlich switcht er gerne einmal zwischen lockerer Form und Adelstitel.

Schluß- wie Höhepunkt ist dann ab 21 Uhr Käptn Peng, hinter dem sich Robert Gwisdek verbirgt, welcher der Sohn der doch recht prominenten Schauspieler Michael Gwisdek und Corinna Harfouch ist. Er macht, wie zu hören ist, ganz besonders intelligenten HipHop, hat eine Begleitband dabei und präsentiert überdies noch einen Überraschungsgast.

Bettina Lieder

Bettina Lieder (hier in der Rolle der Kassandra) liest beim Spielzeiteröffnungsfest Märchen vor (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Schnippeldisco

Womit das Kulturelle im Groben abzuhaken wäre. Wenngleich natürlich auch Essen und Trinken kulturelle Taten sind. Oder doch sein könnten. Am Megastore jedenfalls wird am 3. September kulinarische Ambition spürbar, wenn das „Dortmunder Food-Festival Delinale“ ab 16 Uhr zur Schnippeldisco lädt. Geboten wird die Mitgliedschaft in der Eintopf-Community, mitzubringen sind Gemüse von zu Hause (gerne auch „einsames“ Gemüse, das einfach keine Freunde findet und häufig einen stillen, langsamen Tod in der Null-Grad-Zone des Kühlschranks stirbt), Hümmelchen (vulgo: kleines Küchenmesser), Brettchen und Suppenteller.

Zwei große, große Eintöpfe, die Rede ist von fast einem Meter Durchmesser, warten auf Füllung, ein Profikoch wird die Kelle schwingen. Beim Gemüsekleinschneiden kann man gut den Bands lauschen oder dem, was DJ FloMrzdk auflegt. Außerdem und unter anderem sind noch Kettcar-Parcours und Basketballkorb im Kinderprogramm. Und Schminken, unter Beteiligung der Maskenbildnerinnen des Theaters.

Carlos Lobo  Frank Genser Bettina Lieder Merle Wasmuth

Auch Carlos Lobo liest Märchen vor. Hier ist er in „Geächtet“ zu sehen. In Wirklichkeit sieht er entschieden sympathischer aus. (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Preise für die Besten

Publikumspreise werden um 20 Uhr verliehen. Kandidaten sind die Stücke „Die Show“, „Die Borderline Prozession“ und „Das Bildnis des Dorian Gray“. Nominierte der Schauspieler(innen): Dortmunder Sprechchor, Julia Schubert und Merle Wasmuth. Wer in den Abteilungen „Schauspieler/in des Jahres“, „Inszenierung des Jahres“ und „Kritikerpreis“ die mit jeweils 500 Euro dotierten Auszeichnungen einer Kritikerjury erhält, soll erst am Abend bekanntgegeben werden. Der Sonderpreisträger allerdings steht schon fest: Die Theaterpartisanen für ihre Inszenierung „Watch me!“ auf der Studiobühne.

Ja, das alles ist geplant für den 3. September rund um den Megastore. Eickhoff rechnet mit insgesamt rund 2000 Gästen im Tagesverlauf und Besucherspitzen von 500 bis 600 Personen. Wer alles mitbekommen will, sollte beizeiten kommen.

Theater bleibt im Megastore

Es ist dies die erste Spielzeitparty in der Ausweichspielstätte; ob es auch die letzte sein wird, ist aber gar nicht mehr so sicher, denn die Modernisierung des Schauspielhauses und der dazugehörigen Werkstätten in der Innenstadt verzögert sich. Eine Rückkehr im Lauf der Saison 2016/2017, die vor Beginn der Bauarbeiten einmal angeträumt war, erscheint unwahrscheinlich. Die Dramaturgie richtet sich darauf ein, alle geplanten Produktionen werden hier, im Gewerbegebiet mit Hochofenblick, herausgebracht – ohne Drehbühne, Ober- und Untermaschinerie, dafür mit Lagerhallenakustik. Und selbst hier könnte das Theater nicht ewig bleiben (will es ja auch gar nicht), denn die Expansionspläne des Heizungspumpenherstellers Wilo in allernächster Nachbarschaft reichen weit. Nüchtern betrachtet hat man noch nicht mal einen gültigen Mietvertrag für die ganze kommende Spielzeit.

Aber wir wollen nicht unken. Sondern lieber feiern. Glück auf!

  • Einige Termine im Tagesverlauf – ohne Gewähr der Vollständigkeit und der Richtigkeit:
  • Drinnen
  • 16.15 Uhr Film „Das verlorene Paradies“
  • 18.00 Uhr Öffentliche Probe „La Révolution“
  • 18.20 Uhr Öffentliche Probe „“Kasimir und Karoline“
  • 17.00 Uhr Märchen-Lesungen
  • Noch ohne Zeitangabe: Spielplanvorstellung
  • Draußen
  • Ab 16.00 Uhr Schnippel-Disco, Hüpfburg, Kinder-Schminken, Basketball, Kettcar-Parcours
  • Musik
  • 17.00 Uhr Open Air-Bühne Thomas Truax
  • 19.00 Uhr Open Air-Bühne Tommy Finke & Band
  • 21.00 Uhr Open Air-Bühne Käptn Peng und Überraschungsgast

www.theaterdo.de




Mit Glucks „Alceste“ und Theater in der Moschee: Ruhrtriennale startet am 12. August

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Pressegespräch in karger Halle. Intendant Johan Simons sitzt in der Mitte. (Foto: Pfeiffer)

„Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ hat Johan Simons auf seine Programmhefte geschrieben, „Alle Menschen werden Brüder“ zitiert er Schiller in seiner Ansprache an das (Abonnenten)-Volk, und auch die Zeile „Seid umschlungen, Millionen“ aus desselben Dichters Feder findet Eingang in seinen Zitatenschatz.

Wenn unsereiner bei diesen Worten möglicherweise eher an die Panzerknackerbande aus den Mickymausheften der 60er Jahre und deren geniale Texterin Dr. Erika Fuchs denkt, die Disneys Mäusen und (mehr noch) Enten deutsche Klassik in die Sprechblasen schrieb, so ist dies ein anderes Thema.

Aufklärung und Humanismus

Johan Simons jedenfalls, nunmehr im zweiten Jahr Intendant der Ruhrtriennale, wähnt sich in seiner Programmgestaltung der Aufklärung und dem Humanismus verpflichtet, aber kritisch natürlich, zweifelnd und hinterfragend. Die „Brüderlichkeit“ auf der gut gestalteten Programmübersicht ziert deshalb ein Fragezeichen, was eine Pressekonferenzteilnehmerin im Genderwahn nicht davon abhielt, „Schwesterlichkeit“ einzufordern oder, besser noch, „Menschlichkeit“. Die aber gibt es schon, und sie hat in der deutschen Sprache eine etwas andere Bedeutung als die intendierte. Das Dilemma ist auf die Schnelle wohl nicht zu lösen, und etwas Respekt vor des Dichters Wort wäre sicher auch nicht schlecht. Glücklicherweise blieb die längere Diskussion aus.

Carolin Emcke hält Eröffnungsrede

Also denn: Am 12. August startet die Ruhrtriennale 2016, und als Festrednerin wurde Carolin Emcke engagiert, Publizistin und diesjährige Preisträgerin des Friedenspreises des deutschen Buchhandels. Ihr neues Buch „Gegen den Hass“ soll im Oktober erscheinen, „Vom Übersetzen“ ist ihr Vortrag überschrieben, in dem es laut Ankündigung um den „Wert der Gleichheit“ geht (Jahrhunderthalle Bochum, 18 Uhr).

Strenge Opernfassung

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René Jacobs dirigiert „Alceste“. (Foto: Molina Visuals/Ruhrtriennale)

Am selben Tag auch hat die erste Großproduktion des Festivals Premiere, die Oper „Alceste“ von Christoph Willibald Gluck in der frühen, strengen Wiener Fassung. Hier, erläutert Dirigent René Jacobs, spielt der Chor gerade so wie in der antiken griechischen Vorlage Euripides’ eine tragende Rolle – was das Premierenpublikum des Jahres 1767 gar nicht recht goutierte. Im Spätbarock war man auf gute Show und Kurzweil abonniert, verlangte nach virtuosen Kastraten und Publikumslieblingen. Doch ein gestrenger Chor, so ganz im Dienst des Dramas? Oder gar einer neuen künstlerischen Freiheit? Johan Simons ist sicher, mit dieser Regiearbeit seinem Aufklärungsthema ganz nahe zu sein (Premiere 12. August, 20 Uhr, Jahrhunderthalle Bochum).

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Johan Simons inszeniert auch in der Moschee (Foto: Edi Szekely/Ruhrtriennale)

Zwischen den Religionen

Auch die zweite Regiearbeit des Intendanten ist bereits am ersten Wochenende zu sehen, allerdings nicht in der Jahrhunderthalle, sondern in der DITIB-Merkez-Moschee in Duisburg-Marxloh. Hier gelangt das Stück „Urban Prayers Ruhr“ von Björn Bicker zur Aufführung.

Chorwerk Ruhr sowie fünf Darstellerinnen und Darsteller geben sich, wenn ich es recht verstanden habe, an eine Glaubensdiskussion, die jedoch daran leidet, daß zunächst keiner richtig ausreden kann, weil es so vieles zu sagen, zu diskutieren gibt. Trotzdem konturieren sich bald Positionen, Haltungen und Ansichten.

Bickers Stück ist flexibel, die jeweilige Glaubensgemeinschaft, in deren Räumen „Urban Prayers Ruhr“ aufgeführt wird, liefert eigene Beiträge zum Text. Das Stück ist also immer wieder anders, wenn es bei den verschiedenen Religionsgemeinschaften gespielt wird – im Hindu Shankarar Sri Kamadchi Ampal Tempel in Hamm, in der Lutherkirche in Dinslaken-Lohberg, in der serbisch-orthodoxen Kirche in Dortmund-Kley, in der Synagoge Bochum, im (freikirchlichen) House of Solution in Mülheim an der Ruhr und, eben, in der Moschee in Marxloh.

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Schlurp! Teil der Installation „The Good, The Bad and the Ugly“ vom Atelier Van Lieshout (Foto:Pfeiffer)

Andere Mentalität

Autor Björn Bicker hat ein ähnliches Projekt schon einmal in München realisiert und zeigte sich im Pressegespräch immer noch erstaunt über die großen Versammlungsräume der Religionen im Revier. In München seien die alle viel kleiner, was sicherlich auch an den horrenden Mieten und Immobilienpreisen liege.

Das Stück mal eben so ins Ruhrgebiet umzusetzen (wie er sich das zunächst zugegebenermaßen vorgestellt hatte), sei unmöglich gewesen. Ein zweiter Grund stand dem entgegen: Die Mentalität im Ruhrgebiet sei anders, in jeder Gemeinde sei man sehr schnell beim Thema Jugend gelandet, bei Ängsten und Befürchtungen in Bezug auf die Zukunft der Kinder. In München hingegen habe „eine gewisse Sattheit“ geherrscht, ein gelassener Optimismus, den es im Ruhrgebiet in gleicher Weise offenbar nicht gebe.

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Die rostigen Klos gehören auch zur Installation „The Good, the Bad and the Ugly“ vor der Jahrhunderthalle (Foto: Pfeiffer)

Tempeltänzerinnen

Doch allzu trist wird es auch im Revier nicht werden. Bei den Hammer Hindus gibt es Tempeltänzerinnen, in Marxloh dreht sich der Derwisch, in der Synagoge tritt (neben Kantor Tsah) das Nodelman-Duo auf. Und so fort.

Die „städtischen Gebete“ versprechen muntere Veranstaltungen zu werden, Ausdruck eines fröhlich-friedliches Nebeneinanders der Religionen, bei denen Haß und Intoleranz sich, wenn überhaupt, an den radikalen Rändern finden. Seit dieses Programm geplant wurde, gab es islamistischen Terror auch in Deutschland, hat sich die tolerante Grundstimmung im Land eher eingetrübt. Doch wäre das ein Grund, auf dieses Religionen-Projekt zu verzichten? Ganz gewiß nicht, im Gegenteil.

Der namenlose Araber

Simons’ dritte Regiearbeit wird ihre Aufführung am 2. September erleben, in der Kohlenmischhalle der Zeche Auguste-Victoria in Marl, wo bis 2015 tatsächlich noch richtige Kohle gemischt wurde. Das Stück „Die Fremden“ erzählt, ausgehend von Kamel Daouds Buch „Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung“, die Geschichte des in Albert Camus’ Roman namenlos gebliebenen ermordeten Arabers weiter, dessen Nachfahren fremd bleiben in einer gottverlassenen Welt. Fremdheit auch in der Musik von György Ligeti und Mauricio Kagel, die dazu erklingt: Das wird kein lauschiger Spätsommerabend werden.

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Das ist – in der Simulation – der subversive rosa Kanalcontainer im Dortmunder Hafen. (Foto: osa – office-for-subversive-architecture/Ruhrtriennale)

Container im Dortmunder Hafen

Doch zurück zum ersten Wochenende: Am Samstag wird in Dortmund, im Hafen, ein Schwebecontainer für das breite Publikum in Betrieb genommen. Entwickelt hat ihn „osa“, das „office for subversive architecture“, und stationiert ist er bei der Firma SAZ Stahlanarbeitungszentrum Dortmund GmbH & Co. KG.

Für Ortskundige: Der schmucklose Industriebau ragt über das Kanalbecken und ist vom alten Hafenamt und der Hafenbrücke davor gut zu sehen. Hier nun, an diesem klassischen Kultur-Unort, hängt der knallig pink gestrichene Container an einem Hallenkran und wird von diesem über das Wasser transportiert, wo er einige Minuten verharrt, bevor es zurück in die Halle geht. 20 Minuten dauert die Ausfahrt in zehn Metern Höhe über dem Hafenbecken, maximal 15 Personen dürfen an Bord sein.

Oliver Langbein, der die Installation zusammen mit Karsten Huneck und Bernd Trümpler schuf und der einen Lehrauftrag an der Dortmunder Fachhochschule hat, stellt Mitreisenden einen kleinen Adrenalinstoß in Aussicht. „Well, come“ heißt die Arbeit übrigens, will natürlich als Kunstwerk verstanden sein und verweist schon im Titel auf die migrantische Konnotation. Wie willkommen sind die, die auf unübliche Weise über das Wasser reisen?

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Neues Van-Lieshout-Objekt vor der Jahrhunderthalle (Foto: Pfeiffer)

Cate Blanchett in 13 Rollen

Während der ganzen Triennale-Zeit ist die Videoarbeit „Manifesto“ im Landschaftspark Duisburg-Nord zu sehen, in der die australische Schauspielerin Cate Blanchett in 13 unterschiedlichen Rollen künstlerische und politische Manifeste zum Besten gibt; ab 16 Uhr läuft wieder der große Rock-/Pop-/Techno-Zauber „Ritournelle“ in der Jahrhunderthalle, und während des gesamten Festivals werden Teile des Hallenvorplatzes (der wieder mit der brachialen Skulpturenlandschaft „The Good, the Bad and the Ugly“ aus dem Atelier Van Lieshout bestückt ist) als Teenager-Machtgebiet ausgewiesen, wo die Jugend das Sagen hat. „Mit und von: Mit Ohne Alles und Mammalian Diving Reflex“, entnehmen wir der Pressemitteilung, „Teentalitarismus“ heißt das Ganze. Und wer mehr wissen möchte, sei auf das Netz verwiesen.

Musik auf Zeche Zollern

Zwei (nach allem, was wir wissen können:) wunderbare Musikproduktionen kündigen sich für die folgende Woche an, „Spem in alium“ in der Dortmunder Zeche Zollern (Maschinenhalle) am Mittwoch, „Carré“ in der Jahrhunderthalle am Donnerstag. In Dortmund wird Musik von Thomas Tallis, Henry Purcell, Alfred Schnittke und György Ligeti zu hören sein, singt der Chor MusicAeterna, dirigiert Vitaly Polonsky; in Bochum nähern Bochumer Symphoniker und Chorwerk Ruhr sich Karlheinz Stockhausen mit vier Chören, vier Orchestern und „gewaltiger Klangwanderung“ an. Über beide Musikereignisse wird zu gegebener Zeit zu berichten sein.

Über 50000 Tickets standen zum Verkauf, zwei Drittel davon, so Kultur-Ruhr-Geschäftsführer Lukas Crepaz, sind schon weg. Doch gebe es für praktisch alles auch noch Karten, zumal dann, wenn man terminlich flexibel sei.

Also dann: Viel Glück mit Gluck, Glückauf!




Zum Tod von Götz George: Was für ein Kerl mit welch einem Herzen! – Wiedersehen mit „Schimanskis“ erstem Fall

Und schon wieder so eine zutiefst betrübliche Nachricht: Der Menschendarsteller Götz George ist, wie jetzt bekannt wird, bereits am 19. Juni mit 77 Jahren gestorben. Gewiss: Er hat auf der Theaterbühne, im Kino und im Fernsehen viele, viele Rollen eindrucksvoll verkörpert. Doch nicht nur uns im Revier bleibt er naturgemäß vor allem als „Schimanski“ in Erinnerung. Daher hier noch einmal der Rückblick auf seinen allerersten „Tatort“-Fall, wie er in den Revierpassagen am 22. Juli 2013 geschildert wurde:

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Von Zeit zu Zeit liebe ich ein Wiedersehen solcher Art. Darum habe ich mir jetzt den allerersten Schimanski-„Tatort“ noch einmal angeschaut. Untertitel: „Duisburg-Ruhrort“. Erstausstrahlung: 28. Juni 1981. Damalige Zuschauerzahl: 15,38 Millionen.

Wenn ich mich recht entsinne, durfte ich den Film schon damals zur Erstausstrahlung rezensieren. Ich lese lieber nicht nach, was ich da geschrieben habe. So viel Wiedersehen muss denn doch nicht unbedingt sein.

Anlass der erneuten (leider nächtlichen) Sendung im WDR-Programm war natürlich der 75. Geburtstag von Götz George (23. Juli). Der Darsteller, der mit den Jahren zusehends die Statur eines – auch ohne viele Worte – allseits Respekt gebietenden Titanen angenommen hat, taucht dieser Tage häufiger auf; vor allem in der Rolle seines Vaters, des in die NS-Zeit verstrickten Schauspielers Heinrich George (arte, 22. Juli 2013, 20.15 Uhr und ARD, 24. Juli, 21.45 Uhr).

Handreichung: Götz George als Schimanski (rechts) und Eberhard Feik als Thanner. (© WDR)

Handreichung: Götz George als Schimanski (rechts) und Eberhard Feik als Thanner. (© WDR)

Als Kommissar Horst Schimanski dürfte Götz George das Ruhrgebiets-Image mindestens ebenso geprägt haben wie etliche Jahre zuvor Jürgen von Manger; und wahrscheinlich nachhaltiger, als selbst Herbert Grönemeyer, Herbert Knebel (alias Uwe Lyko) oder auch Frank Goosen dies vermocht haben. Da darf man also entschiedene Prägekraft konstatieren – und allein das ist schon eine Leistung für sich.

Der damalige Auftakt-Fall, der sich um Binnenschiffer und Waffenschmuggel drehte, soll hier nicht noch einmal aufgerollt werden. Doch die – seinerzeit ungewohnte – Machart des Krimis kann sich heute noch sehen lassen. Wie da gleich in der ersten Sequenz der Charakter der Hauptfigur zwischen Flüchen, Suff, Hafenmilieu und Pferdewetten anklingt, das ist schon verdammt gut und punktgenau gemacht. Von wegen „Dienst ist Dienst und Schnaps ist Schnaps“. Hier ist Dienst auch Schnaps. Und Bier. Und die eine oder andere Bettbekanntschaft. Im Verlauf einer solchen erfuhren wir auch, dass Schimi schon damals tätowiert war. Heute würde er damit einen faden Durchschnitt repräsentieren.

Regisseur Hajo Gies zeigte in fahlen, gleichsam längst abgeblätterten Farben ein wahrlich tristes Ruhrgebiet, stets Grau in Grau und nieselig. Und hinter jeder Straßenecke lauerte das Verbrechen. Das Bürgertum lebte sozusagen auf einem anderen Stern. Dafür war „Derrick“ zuständig. Schon „Normalos“ waren in den Schimanski-Filmen eine eher exotische Seltenheit.

In einem weiteren Punkt waren die Schimanski-Folgen geradezu Avantgarde: Lange vor dem Aufkommen von Begriffen wie „Prekariat“ und „Migration“ konnte man in diesen Filmen entsprechende sozialen Verhältnisse besichtigen. Wobei wir beides nicht miteinander vermengen wollen.

Herrlich übrigens die schon in der ersten Folge angerissene Kontrastzeichnung zwischen dem durchaus prügelfreudigen Weiberhelden Schimanski und dem eher feinsinnig veranlagten Thanner (Eberhard Feik), der gleich in einer der frühesten Szenen mit distinguierten Französisch-Kenntnissen glänzte.

Bei aller polternden „Raubeinigkeit“ (ein Wort, das seither quasi für ihn reserviert zu sein scheint) ist Schimanski freilich auch praktizierender Melancholiker. Und am Ende steht ohnehin immer die Erkenntnis: Was für ein Kerl mit welch einem Herzen!




Gespräche mit einem Vatermörder – „Theben-Park“ bei den Ruhrfestspielen

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Vatermörder Martin Santos (Nicolai Despot, links), Dramatiker S. (Maik Solbach) (Foto: Bohumil Kostohryz / Ruhrfestspiele)

Vatermord gleich Ödipus, oder? Der namenlos bleibende Autor S. in Sergio Blancos Zweipersonenstück „Theben-Park“ hat da eine ganz feste Meinung, die er in einem Theaterprojekt mit einem ganz realen Vatermörder realisieren möchte – im Auftrag, kleiner inszenatorischer Scherz, der Ruhrfestspiele.

Die Absicht, den jungen Vatermörder sich selbst spielen zu lassen, scheitert am Einspruch der Behörden, und so wird aus dem Zweipersonen- flugs ein Dreipersonenstück, in dem ein Schauspieler nun abwechselnd den richtigen Vatermörder und den Schauspieler, der den Vatermörder geben soll, spielt, es somit summa bei zwei Darstellern bleibt. Autor und Delinquent/Schauspieler nähern sich aneinander an, entwickeln Szenen, das Geschehen ist längere Zeit absehbar.

Kaum Parallelen zu Ödipus

Natürlich hat der Stoff seinen Konflikt, der in den anderthalb Stunden, die die Inszenierung dauert, deutlich wird: Ödipus und Vatermörder Martin Santos haben kaum Gemeinsamkeiten. Die schuldhafte Verstrickung des Königssohns Ödipus, der um die Wirklichkeit nicht wissend seinen Vater umbringt, ist ein Konflikt für die gymnasiale Oberstufe; der Vater indes, den der junge Martin Santos mit einer Gabel abstach, war ein Arschloch, ein Sadist und Kinderschänder, der es nicht besser verdiente. Der Mörder wußte ganz genau, in wessen Leib er seine Waffe rammte, das steigerte seinen Furor in der Grenzsituation eher noch. Wenn er die Mordtat erst in Nachgang realisierte, so bringt ihn das dem unwissenden Ödipus doch nicht wirklich näher; netter Bastelversuch des Dramatikers S.

In der Folge dieser Tat könnte man natürlich nach ihrer moralischen, ethischen Bewertung in unseren Tagen fragen, was die überaus schlüssige, intensive Inszenierung Frank Hoffmanns indes unterläßt. Sie verortet (wortwörtlich) den Täter im Gefängnis, wo er wohl schon länger und für lange noch einsitzt und deutliche Symptome von Hospitalismus zeigt. Die Gesellschaft hat ihn ausgestoßen und weggeschlossen. Für immer? Und zu Recht?

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Vatermörder Martin Santos (Nicolai Despot, rechts), Dramatiker S. (Maik Solbach) (Foto: Bohumil Kostohryz / Ruhrfestspiele)

Heißes Wasser in den Duschen

Der Dramatiker S. denn also bekommt vom Täter seine (vermeintliche) Ödipus-Geschichte, schmückt sie mit einigen frei erfundenen, eher geschmacklosen Details aus und sieht zu, daß die Beziehung zu Martin dann zügig ihr Ende findet. Der nämlich hatte sich dem Autor nach anfänglicher aggressiver Scheu doch sehr geöffnet, ihm auch homosexuelle Avancen gemacht und überhaupt wenig Interesse an den Begrenzungen des Settings gezeigt. Wozu auch? Im Gefängnis bemißt sich Lebensqualität nicht nach publizistischen Konventionen, sondern nach der Besuchsregelung und der Zeit, zu der das heiße Wasser in den Duschen abgedreht wird. Und an Kontakten zu Menschen von draußen, auch wenn sie hemmungslose Ausbeuter von Zwangssituationen sind wie der Dramatiker S.

Maik Solbach gibt S., Nicolai Despot den Vatermörder Santos wie auch den Schauspieler Federico, und beide machen ihre Sache sehr gut. Vielleicht sollten sie in den weniger dramatischen Passagen der Inszenierung mehr Gelassenheit zeigen – das Stück ist ja eher naturalistisch angelegt. Vielleicht aber auch ist das Geschmackssache.

Was Klassik heute noch bedeutet

In jedem Fall könnte dieses kurze Stück eines bei uns nahezu noch unbekannten uruguayanischen Autors (Wikipedia, kleiner Schwank am Rande, bietet für den Namen Sergio Blanco lediglich einen Fußballer an oder aber die Möglichkeit, selber etwas über ihn zu verfassen) der Einstieg in eine Diskussion darüber sein, wie bedeutsam die dramatischen Motive der Klassik für uns Heutige noch sind; vielleicht auch der Einstieg in eine Diskussion über den zeitgemäßen Umgang mit Morden, Mördern und anderen traumatischen Ereignissen.

Mit seiner Inszenierung von „Theben-Park“ hat Frank Hoffmann ein Stück Theater geschaffen, das das Publikum zum Nachdenken auffordert, ohne ihm sogleich die finale Weltsicht des Regisseurs aufzudrängen.

Freundlicher, anhaltender Applaus in der Recklinghäuser Halle König Ludwig 1/2 für einen kleinen Höhepunkt in der Schlußphase der Ruhrfestspiele.

Termin: Samstag, 18.Juni www.ruhrfestspiele.de

 




Wer will mal zum Film? RuhrTriennale und ARD suchen fast 1400 Komparsen im Revier

Darüber nachgedacht, wie es wohl ist, wenn man in Paris, London oder New York lebt. Dann ist man sicherlich schon in mindestens 130 Filmen aufgetaucht, zumeist wohl unfreiwillig. Und wenn man nur ganz hinten zufällig durchs Bild gehuscht ist. Jaja, schon gut. In Berlin hätten sich im gleichen Zeitraum auch ca. 42 Gelegenheiten geboten.

Wie ich darauf komme? Nun, im Ruhrgebiet geht’s jetzt auch gaaanz langsam los damit. An zwei aufeinander folgenden Tagen wurden hier jetzt Komparsinnen und Komparsen für Dreharbeiten gesucht. Natürlich gibt es jeweils ein Auswahlverfahren (neudeutsch „Casting“), was wohl auch einige Möchtegerns anlocken dürfte.

Kulturelles Schwergewicht

Hochkulturell mutmaßlich viel gewichtiger ist dieser Aufruf: Die RuhrTriennale sucht 80 „StatistInnen“ (Originalschreibweise des Festivals) für ein filmisches Szenenbild zur Theaterproduktion „Die Fremden“. Triennale-Chef Johan Simons höchstselbst inszeniert die musiktheatralische Adaption des Romans „Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung“ von Kamel Daoud, der sich bemüht hat, Albert Camus’ „Der Fremde“ zu konterkarieren.

Der Filmdreh begibt sich dann am 1. und 2. Juli, jeweils ab 8 Uhr in der Kohlenmischhalle der Zeche Auguste Victoria in Marl. Notorische Spätaufsteher müssten sich also sputen…

Polizisten, Journalisten und Gaffer

Okay, 80 Plätze sind schnell vergeben. Aber gemach. Es gibt noch eine weitere, wahrscheinlich ungleich größere Chance, im Film aufzutauchen. Für den TV-Zweiteiler „Gladbeck“ (ARD / Produktion Ziegler Film) über das Gladbecker Geiseldrama im August 1988 werden etwa 1300 (!) weibliche und männliche Darsteller gesucht. Man scheint also mächtig auftrumpfen zu wollen. Zu besetzen sind u. a. die Rollen von Augenzeugen, Polizisten, Journalisten und Schaulustigen – die Letzteren anno 1988 noch ohne allzeit knipsbereites Handy. Werden sich wohl echte Gaffer melden, um Gaffer darzustellen?

Das entsprechende Casting der Agentur Eick ist bereits für Samstag, 28. Mai (11 bis 15 Uhr), in der Stadtbücherei Gladbeck vorgesehen. Nana, ob die Kapazitäten der Bibliothek und bloße vier Stunden dafür reichen? Kaum vorstellbar.

Schnauzbärte gern gesehen

Gesucht werden Leute „zwischen vier und 70 Jahren“ für (kleine) Sprech- und Komparsenrollen. Besonderheit, so die Casting-Agentur wörtlich: „Wer sich für eine Rolle interessiert, sollte sich nicht mehr die Haare schneiden lassen, damit authentische 80er Jahre-Frisuren gestylt werden können.“ Auch Schnauzbärte sind erwünscht. Richtig: Den Begriff Styling hätte man in dem Zusammenhang nicht so unbedarft verwenden müssen.

Die meisten Auserwählten werden übrigens mit ein bis drei Drehtagen auskommen. Doch je nach Rolle (rund 80 Mitwirkende müssen ein paar Worte sprechen) sind von einzelnen Leuten bis zu 17 Drehtage zu absolvieren. Das könnte also richtig in Arbeit ausarten. Ob dafür auch Mindestlöhne gezahlt werden?

Daten/Termine

RuhrTriennale, „Die Fremden“: Am 18. Juni Casting bei der Kultur Ruhr GmbH (Leithestr. 35, 45886 Gelsenkirchen). Voranmeldungen bis zum 15. Juni unter www.ruhr3.com/komparsen (Rückfragen unter 0209/60507143).

ARD-TV-Drama „Gladbeck“: Casting schon am Samstag, 28. Mai (11 bis 15 Uhr) in der Stadtbücherei Gladbeck, Friedrich-Ebert-Straße 8.




Ab 2018: Stefanie Carp und Christoph Marthaler sollen die RuhrTriennale leiten

Ab 2018 für die RuhrTriennale verantwortlich: Stefanie Carp und Christoph Marthaler beim Pressetermin in der Bochumer Jahrhunderthalle. (Foto: Bernd Berke)

Ab 2018 für die RuhrTriennale verantwortlich: Stefanie Carp und Christoph Marthaler beim Pressetermin in der Bochumer Jahrhunderthalle. (Foto: Bernd Berke)

Für die Kulturszene, zumal im Ruhrgebiet, ist dies eine Nachricht von größerem Kaliber: Von 2018 bis 2020 werden die Dramaturgin Stefanie Carp (Jahrgang 1956) und der Schweizer Theatermacher Christoph Marthaler (64) an der Spitze der RuhrTriennale stehen. Zwei hochkarätige Namen, fürwahr.

Die Entscheidung war gestern noch ziemlich frisch. Man hatte sie, so gut es eben ging, geheim gehalten. Und so konnte NRW-Kulturministerin Christina Kampmann in der Bochumer Jahrhunderthalle tatsächlich den allermeisten Medien eine Neuigkeit verkünden. Der zum Scherzen aufgelegte Christoph Marthaler flunkerte gar, ihm selbst sei das alles auch neu. Die Einladung nach Bochum hätte er demnach einfach mal so als schicksalhaft hingenommen…

„Das schönste aller Festivals“

Gleichfalls anwesend war der jetzige Triennale-Intendant Johan Simons, der hier – beim „schönsten aller Festivals“ (Simons) – noch zwei Spielzeiten vor sich hat. Der Niederländer versicherte glaubhaft, dass er die Entscheidung für Carp und Marthaler sehr begrüße („Eine richtig gute Wahl“), denn gerade die Mischformen zwischen Theater, Musik (und anderen Künsten), die die RuhrTriennale prägen, lägen den beiden „Neuen“ am Herzen.

Kennzeichnend für die Triennale sind auch die teilweise monumentalen Spielstätten mit industrieller Vergangenheit. „Das ist meine Welt“, rief Christoph Marthaler aus. Er habe als Künstler in Garagen und Fabriken begonnen.

Geschichte der monumentalen Räume

Marthaler schwärmt noch heute von unvergesslichen Revier-Ortsbesichtigungen im Gefolge des Triennale-Gründungsintendanten Gerard Mortier und leidet offenbar am herkömmlichen Guckkasten-Theater: „Auf Bühnen verkümmere ich.“ Neue, ungeahnte Räume erfassen und entwerfen, darum ist es ihm zu tun. Es gelte, auch die Geschichte dieser Räume aufzunehmen und fortzuführen, die nicht zuletzt eine Geschichte der Arbeit sei.

Natürlich verrät das künftige Führungs-Duo (Carp fungiert als Intendantin bzw. Direktorin, Marthaler sozusagen als „Chefregisseur“) noch nichts Konkretes über Planungen und weitere Personalien; erst recht nicht, weil Johan Simons ja noch in seiner Festivalarbeit steht, bevor er 2018 die Leitung des Bochumer Schauspielhauses übernimmt. Carp und Marthaler betonten, sie hätten bislang nicht einmal ihre engste berufliche Weggefährtin, die Regisseurin und Bühnenbildnerin Anna Viebrock, eingeweiht. Man darf aber – bei aller Vorsicht – wohl davon ausgehen, dass sie auch bei der Triennale zum engeren Kreis zählen wird.

„Zwischenzeiten“ als Leitmotiv

Stefanie Carp, die vor allem in Hamburg, Zürich, Wien (Festwochen) sowie Berlin (Castorfs Volksbühne) gewirkt hat und mehrfach als Dramaturgin des Jahres ausgezeichnet wurde, blieb also notgedrungen eher allgemein und vage, als sie „grenzgängerische und hybride“ Produktionen als Mischformen zwischen den Künsten in Aussicht stellte. Dazu gebe es schon etliche Ideen, die aber noch reifen müssten.

Jedenfalls, so Carp, vertrage gerade die RuhrTriennale kein Verharren im Konventionellen. Gefragt seien Experimente, und zwar „im großen Format“. Ein übergreifendes Motto für die Spielzeiten 2018-2020 schwebt ihr und Marthaler auch schon vor: „Zwischenzeiten“. Das Dazwischen sei nicht nur zeitlich zu verstehen, sondern beispielsweise auch kulturell. Allerdings könne sich die Leitidee in den nächsten Jahren noch wandeln.

Große Erwartungen geweckt

In einem unscheinbaren, aber vielleicht bezeichnenden Nebensatz erklärte sich Stefanie Carp vorwiegend fürs Pragmatische zuständig, während Marthaler offenbar vor allem als künstlerischer Anreger wirken soll; was aber sicherlich nicht heißt, dass sie das Kreative allein ihm überlässt. Als Leitungsteam haben sie schon gemeinsam in Zürich bewiesen, welch reiche Früchte ihre Zusammenarbeit tragen kann. Sie sind bestens aufeinander eingespielt. Und wir wagen mal die beherzte Prognose, das vom neuen Duo tatsächlich einige Großtaten zu erwarten sind.

Kurz zurück in die Niederungen. Über die finanzielle Ausstattung der RuhrTriennale und die Dotierung der Leitungsposten mochte man im Überschwang nicht reden. Kulturministerin Kampmann sagte, das sei noch kein Thema gewesen. Christoph Marthaler gab sich unterdessen zuversichtlich: „Wir werden uns schon einigen.“

Sie freue sich besonders, dass erstmals eine Frau das renommierte Festival leiten werde, befand die Direktorin des Regionalverbands Ruhr (RVR), Karola Geiß-Netthöfel. Schmerzliche Einschränkung: 2006 war Marie Zimmermann bereits als Triennale-Chefin für 2008 bis 2010 vorgestellt worden. Sie starb im Jahr 2007. Man hat also nie erfahren dürfen, was sie bewirkt hätte.




Mindestens ein Manuel Harder – in Carsten Brandaus Stück „Die Anmaßung“

Manuel Harder in "Die Anmaßung". (Quelle: Theater Dortmund)

Manuel Harder in „Die Anmaßung“. (Quelle: Theater Dortmund)

Die titelgebende „Anmaßung“ in dem Stück von Carsten Brandau beginnt schon mit der Regieanweisung: Es brauche „mindestens einen Manuel Harder“. Ein Stück, nur für einen Schauspieler geschrieben, versetzt mit biographischen Versatzstücken: Es ist ein Vexierspiel zwischen Wahrheit, Wahrhaftigkeit und Illusion, dem der Zuschauer ausgesetzt wird – zu sehen als Gastspiel im Bochumer Zeitmaultheater.

Schon einmal gab es im Ruhrgebiet ein denkwürdiges Zusammentreffen von Manuel Harder mit Carsten Brandau: Der Schauspieler hatte „Wir sind nicht das Ende“ in Dortmund inszeniert – ein Stück über die Frau eines der Terrorpiloten von 9/11, aufgeführt in einem klaustrophobisch kleinen Container.

Ähnlich dicht auf die Pelle rückt einem Manuel Harder auch in „Die Anmaßung“ – so scheinbar tief geht der Blick in den Menschen, der da vor einem steht. Oder doch nicht?

Wer spricht mit wem?

„Manuel Harder“ ist in großen Lettern auf die Bühne projiziert: Doch so, wie eine Projektion ja auch ein Spiel mit Licht ist, spielt auch dieser Abend mit Wirklichkeit und Illusion. Am Anfang führt Harder ein Zweigespräch, fordert von sich, alles zu zeigen, auf die Bühne zu gehen, aufrecht zu stehen.

Doch wer spricht hier mit wem? Der Manuel mit dem Harder, wie der den Namen trennende Vorhang nahelegt (Bühne: Julian Marbach) – der Autor, der dem Schauspieler die Worte in den Mund legt oder der Regisseur, der Anweisungen erteilt? „Ich war nie dabei, es war immer nur eine Möglichkeit“, sagt Manuel Harder selbst. Und kurzerhand macht Regisseur Florian von Hoermann „Die Anmaßung“ zu einer Reflexion über die Wechselwirkungen von Bühne und Kunst, Mensch und Leben: Wieviel von dem, was wir sehen, ist echt – und gibt es das überhaupt, die Echtheit? Was ist der Schauspieler bereit, von sich selbst zu geben? Und wie sehr kitzelt uns dieser voyeuristische Moment?

Geteert und gefedert

Nach dieser eher intellektuellen Kitzelei ändert „Die Anmaßung“ ihren Ton: Manuel Harder lässt wortwörtlich die Hosen runter, reißt sich bildlich das Herz aus dem Leib und teert und federt sich selbst. Dafür, dass er eine Entscheidung gefällt hat: Er hat einen Menschen verlassen, den er womöglich noch geliebt hat. Tiefe Verzweiflung, zerreißender Schmerz über eine Trennung, einen Verlust – womöglich auch eines Teils von sich selbst.

Carsten Brandau hat absolut recht, wenn er für ein Stück wie dieses einen Manuel Harder fordert: zynisch, dämonisch, herausfordernd, verzweifelt, verletzlich – mit atemberaubender Wahrhaftigkeit geht er von einem ins andere über. Manuel Harder lebt das Stück und das Stück lebt ihn.




In Pier Paolo Pasolinis Welt: „Das Leben ein Traum. Calderón“ bei den Ruhrfestspielen

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Nicht einer Meinung: Basilio (Dominique Horwitz), Dona Lupe (Anne Moll) (Foto: Birgit Hupfeld/Ruhrfestspiele)

Wo sind sie, die lebenswerten Lebenswelten? Und wie gelangt man zu ihnen? Wer hat eine Chance, wer nicht? Oder sind sie nur frommer Wunschtraum, nicht zu verwirklichen in einer Welt aus Repression und Kapitalinteressen? Pier Paolo Pasolini, der Linksintellektuelle, Autor und Filmregisseur, den man einen Großen nennen muß, hat Fragen wie diese in seinem Werk gern und wiederholt gestellt und damit einen politischen Nerv getroffen, der immer noch vital ist.

Johan Simons startete mit Pasolini 

Zum Auftakt seiner dreijährigen Intendanz als Ruhrtriennale-Chef bediente sich Johan Simons im vergangenen Jahr bei Pasolini und stellte dessen Film „Accattone“ als eine Art Passionsschauspiel mit Musikbegleitung auf die Bühne (bzw. in eine gleichermaßen zugige wie riesige Kohlenmischhalle in Dinslaken).

Nicolai Despot RenŽ Nuss Annette Schlechter Konstantin Rommelfangen Roger Seimetz Wolfram Koch Alexander Schmidt (Videokamera)

Von links nach rechts: Nicolai Despot, RenŽ Nuss, Annette Schlechter, Konstantin Rommelfangen, Roger Seimetz, Wolfram Koch und Alexander Schmidt mit seiner (unsichtbaren) Videokamera (Foto: Birgit Hupfeld/Ruhrfestspiele)

Brutale Lebenswelten

Nun fand auch Ruhrfestspielechef Frank Hoffmann seinen Stoff beim italienischen Meister. Die Verunsicherungen unserer Zeit, deren sichtbarster wiewohl gewiß nicht einziger Ausdruck Flüchtlingselend und politischer Rechtsruck in vielen Ländern ist, sieht er bei Pasolini anscheinend schon beschrieben; wenn nicht in konkreten Prognosen, so doch in Stimmungsbildern und in Deutungen sozialer Mechanismen.

Hoffmann hat sich Pasolinis Stück „Calderón“ vorgenommen, in dem ein Mensch, das Mädchen Rosaura, aus dem (süßen?) Nirgendwo des Schlafs in jedes Mal ziemlich brutale (meint auch: realistische) Lebenswelten geschleudert wird. Im Palast eines sadistischen Despoten der spanischen Franco-Ära findet sie sich wieder, in einer trostlosen Hurenexistenz, in einem Konzentrationslager schließlich, und das ist alles eher ein Albtraum, und die Befreiung aus dem Lager bleibt ein Wunschtraum.

Schreckensregiment

Mit Pedro Calderón de la Barcas Stück „Das Leben ein Traum“ (uraufgeführt 1635 in Madrid) hat Pasolinis Geschichte nur noch sehr rudimentär zu tun. Bei Calderón geht es um den Königssohn Sigismund, den man wegen übler Prognosen in einem Turm gefangen hielt, der dann aber befreit wird und ein Schreckensregiment errichtet, weshalb man ihn schließlich wieder wegsperrt. Und zwar für immer (Kurzversion). Übrigens hat Johan Simons das auch schon einmal bei der Ruhrtriennale inszeniert, im Jahre 2006.

Rosaura der Flüchtling

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Dominique Horwitz auf der Leinwand, Wolfram Koch auf dem Stuhl (Foto: Birgit Hupfeld/ Ruhrfestspiele)

Zurück zu den Vorlagen und Pasolinis Kunstgriff, den Fokus radikal zu verändern. Nicht blickt die Welt auf den gleichsam unprogrammierten Menschen, sondern der Suchende – bzw. die Suchende, die gezwungenermaßen suchende Rosaura, die ja eigentlich gar nicht suchen, sondern nur zurück will – blickt auf die Welt und ihre Verhältnisse. Auf ihre Art ist sie ein Flüchtling und eine aktuelle Figur – und Intendant Frank Hoffmann hat sich durchaus den richtigen Stoff für seine erste große Regiearbeit in diesem Jahr der Krisen ausgesucht.

Feinschliff fehlt

Das Star-Aufgebot ist mit Wolfram Koch, Dominique Horwitz und Hanna Schygulla (die die zuvor angekündigte Hannelore Elsner ersetzte) bemerkenswert, die Ausstattung opulent (Bühne: Ben Willikens, Kostüme: Susann Bieling). Doch bleiben die rund zweieinhalb Stunden ohne Pause trotzdem ein schwerer Theaterklotz, in dem hemmungslos überspielt und kräftig deklamiert wird und (nicht nur) die Stars kaum Gelegenheit erhalten, wirklich originell zu sein. Die zahlreichen Sexszenen wirken bemüht, moppig und unerotisch, und überhaupt fehlt Feinschliff, um mit Pointen und Parolen das Publikum zu erreichen. Vielleicht gar zu erschüttern.

DAS LEBEN EIN TRAUM. CALDƒRON

Familienszene mit (von links) Anne Moll, Konstantin Rommelfangen, Jacqueline Macaulay, Nicolai Despot (unten), Dominique Horwitz, Annette Schlechter, Roger Seimetz (Foto: Birgit Hupfeld/Ruhrfestspiele)

Pasolinis früher Tod

Weil es irgendwie auch dazugehört, ist zumindest als Andeutung noch der Tod Pasolinis szenisch eingearbeitet. Mit 53 Jahren, wie mancher vielleicht noch weiß, wurde Pier Paolo Pasolini 1975 Opfer einer „Beziehungstat“ durch einen käuflichen Liebhaber. Das Entsetzliche spielte sich in Italien in Strandnähe ab, weshalb wiederholt und bei Dunkelheit ein italienischer Kleinwagen um die (Bühnen-) Ecke biegt. Nun gut, alles hängt mit allem zusammen, aber trotz des hübschen kleinen Autos ist die raunende Erinnerung an Pasolinis Gewalttod eigentlich entbehrlich.

Das Haus war voll, der Beifall kräftig. Und das Träumen sollte man sich auf gar keinen Fall verbieten lassen. Es warb sogar mal eine Bank damit: „Träume sind der Anfang von allem“. Oder war es Vertrauen? Beides wichtig.

Termine: 12., 13., 14. Mai

www.ruhrfestspiele.de




Flüchtlingsthema ungeahnt lustig – Mülheimer Stücketage suchen besten Theatertext

Foto: Ute Langkafel/Maifoto/Stücke2016

Szene aus „Situation“ (Foto: Ute Langkafel/Maifoto/Stücke2016)

Dass das Gegenwartstheater unpolitisch sei, kann man eigentlich nicht behaupten. Vor allem nicht, wenn es um das Thema Flüchtlinge oder Migration geht.

In der letzten Zeit habe ich einige Inszenierungen gesehen, die sich künstlerisch mit der Einwanderung nach Europa auseinandergesetzt haben. Nun eröffneten auch die Mülheimer Theatertage „Stücke“, die bereits zum 41. Mal auf der Suche nach dem besten Theatertext des Jahres sind, mit Yael Ronens „Situation“ vom Maxim-Gorki-Theater in Berlin.

Was soll ich sagen? Das war mit Abstand das lustigste Stück zum Thema Einwanderung, das mir bisher untergekommen ist. Politisch, natürlich, aber dazu noch witzig, ironisch, leicht und ein wenig anarchistisch. Ohne oberflächlich zu sein, nimmt die israelische Regisseuren Ronen die kulturellen Kuriositäten, Vorurteile und Marotten der verschiedenen Nationalitäten auf die Schippe – einschließlich der deutschen. Dabei bedient sich die Inszenierung vielfältiger Sprachen, wovon Deutsch nur eine ist.

Die Teilnehmer eines Deutschkurses sprechen hebräisch, arabisch und ganz viel englisch und kommen aus Palästina, Israel, Syrien und Kasachstan. Sie alle sollen deutsche Kultur und Sprache lernen, dafür kämpft zumindest Stefan, der Lehrer. Und verstrickt sich gleich zu Beginn in eine heillose Diskussion um deutsche Schuld, die Nazizeit, die israelische Politik und die Gemengelage im Nahen Osten.

Nun sind sie aber alle in Berlin-Neukölln und genießen neue Freiheiten. Auch wenn Karim nicht ganz einsehen kann, warum in seinem Rap die Textzeile „Die Zionisten sollen brennen“ nicht vorkommen darf. Deutschlehrer Stefan schlägt stattdessen etwas über Analsex vor, das kann Karim wiederum nicht fassen. Ist das nicht tausendmal schlimmer? Auch Amir, der israelische Araber, freut sich, endlich in Berlin in der Falafel-Bude mal locker arabisch sprechen zu können, was in seinem Heimatland nicht so entspannt funktioniert. Doch wehe, sein kleiner Sohn bedankt sich auf Hebräisch…

Bis zum 26. Mai sind sieben hochkarätige Inszenierungen zeitgenössischer Stücke in Mülheim an der Ruhr zu sehen, dazu kommen fünf Texte für Kinder. Eine Jury wählt alljährlich in einer öffentlichen, manchmal bis tief in die Nacht dauernden Diskussion den besten Text aus und dessen Autor gewinnt einen Preis. Das hat inzwischen Kultstatus und führt Theatermacher aus der ganzen Republik an die Ruhr.

In diesem Jahr gehen Fritz Kater, Sibylle Berg, Wolfram Höll, Felicia Zeller, Ferdinand Schmalz und Thomas Melle ins Rennen. Es lohnt sich also, mal in Mülheim vorbeizuschauen, wenn man sehen will, was im Theater der Republik gerade so angesagt ist. Unter www.kultiversum.de findet sich außerdem ein Blog von Studenten, die das Festival medial begleiten.

Karten und Termine: www.stuecke.de

 




Was aus dem Arabischen Frühling wurde – „Zawaya“ aus Kairo bei den Ruhrfestspielen

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Der Stuhl des Sprechers ist noch leer. (Foto: Tamer Eissa/Ruhrfestspiele)

Richtig, die Ruhrfestspiele haben ja ein Motto! „Mare nostrum“ lautet es, lateinisch für „unser Meer“, und den Aktualitäten Tribut zollend noch mit einem Fragezeichen versehen. Die meisten Produktionen allerdings, die während des Festivals zur Vorführung gelangen, haben keinen Bezug zu den Ereignissen an eben jenem Meer, die man vor wenigen Jahren euphorisch als Arabischen Frühling bezeichnete und die vielerorts zu Krieg und Chaos führten. Natürlich handeln sie von Konflikten, auch von blutigen, doch sind sie auf die eine oder andere Weise mediterran, was dem Unterhaltungswert der Ruhrfestspiele sicherlich guttut.

Berichte „von der Straße“

Ein Stück wie „Zawaya. Zeugnisse der Revolution“ nun, das am Wochenende im Kleinen Haus gezeigt wurde, ist illusionslos aktuell und wirkt hier deshalb fast ein wenig fremd. Die knapp anderthalbstündige Produktion der Compagnie El Warsha Kairo läßt Zeugen und Teilnehmer der Arabellion zu Wort kommen, die von ihren schlimmen Erlebnissen berichten, von Gewalt, Tod und Leichen. Gesucht wird nichts Geringeres als die Wahrheit. Das Arbeitsprinzip der Gruppe, so ist zu lesen, besteht darin, sich authentische Originaltöne „auf der Straße“ zu holen und sie zu Texten zu formen, die von Schauspielerinnen und Schauspielern gesprochen werden.

Gewaltbereiter Fußballfan

Mit dieser Vorgabe formte sich auf der Bühne ein originelles Personal. Neben der Mutter eines getöteten Sohnes, deren Teilnahme nicht verwundert, treten berichtend auch ein gewaltbereiter Fußball-Ultra und ein Spitzel des Regimes auf. Alle fünf (ein Offizier und eine Krankenschwester sind noch zu nennen) berichten sie von ihren traumatisierenden Erlebnissen, die damals auf dem Tahrir-Platz ihren Ausgang nahmen. Nacheinander treten sie auf, zwischen ihren Monologen singt der Musiker Yasser El Magrabi Lieder, die das Vaterland preisen und die Umstände beklagen. Wir entnehmen dies der Videoübertextung, denn alles an diesem Abend läuft in arabischer Sprache. Und wahrscheinlich wäre ein Vortrag in Deutsch besser gewesen.

Nichts geht ohne Übertitelung

Der Verständnis-Umweg über das Textelesen nämlich schafft eine erhebliche Distanz zum Bühnengeschehen, zumal dort außer Reden reinweg gar nichts geschieht, was man ohne Sprachkenntnis verstehen könnte. Alle sitzen brav auf ihren Stühlen, bis sie an die Reihe kommen. Und dann sitzen sie auf dem Erzählerstuhl vorn an der Rampe. So registrieren wir natürlich Aufgewühltheit, Erschütterung und Trauer der Darsteller, doch erreicht das alles kaum die Intensität alltäglicher Tagesthemen-Features aus den betroffenen Ländern. Des öfteren schaut man auf die Uhr.

Oral History

Wir sind, kleiner Gedanke am Rande, im Strom der niemals endenden Horrornachrichten abgestumpft, uns bringt so schnell nichts aus der Fassung. Deshalb mag der Ansatz des Regisseurs Hassan El Geretly als Oral-History-Projekt funktionieren, für ein Theaterstück ist er jedoch arg mager. Doch möge sich das Publikum auf weitere „migrantische“ Stoffe freuen, die in diesem Jahr vorwiegend im Kleinen Haus behandelt werden. Nächste Premiere ist hier als Koproduktion von Ruhrfestspielen und Schauspiel Frankfurt eine „Odyssee“ (Regie: Therese Willstedt), in der selbstverständlich auch wieder Flüchtlingsströme strömen werden.

Übrigens:

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Die Kunstausstellung ist traditionsreicher Bestandteil der Ruhrfestspiele. In der Kunsthalle Recklinghausen zeigt jetzt Fabrizio Plessi Arbeiten unter dem Titel „Feuer und Wasser“. Plessi stellte 1970 erstmals bei der Biennale von Venedig und 1987 auf der Documenta 8 aus. Mitte der 70er Jahre entstanden erste raumgreifende Video-Installationen, in denen er Monitore in skulpturale Bildträger verwandelte. – Kunsthalle Recklinghausen, Große Perdekamp-Str. 25-27. Di bis So 11-18 Uhr Eintritt: 5,00 € / 2,50 € (ermäßigt). (Foto: Ruhrfestspiele)




Konventioneller Auftakt – Ruhrfestspiele mit Goldonis „Der Diener zweier Herren“

„Burgtheater“, „Goldoni“, „Peter Simonischek“ – Suchbegriffe, Schlagworte, Tags, die gute Unterhaltung versprechen. Mit Carlo Goldonis Komödienklassiker „Der Diener zweier Herren“ starteten die Ruhrfestspiele in die Saison 2016, doch ach: Viele Erwartungen – nicht alle – blieben unerfüllt.

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Immer Ärger mit dem Personal: Truffaldino (Markus Meyer, links) und Patalone (Peter Simonischek). (Foto: Ruhrfestspiele/Reinhard Werner)

Machen wir’s kurz, zumal die Produktion auch schon so gut wie abgespielt ist. Christian Stückl (Regie) nähert sich dem Stoff zu unentschlossen, macht mal daraus krachkomisches Bauerntheater mit stilistischen Anleihen bei der italienischen Commedia dell’arte, um im nächsten Moment sichere Pointen und humorvolle Verdichtungen in der Weite des Raums verfliegen zu lassen.

Bleiben Exposition und halsbrecherische Verwicklungen zunächst halbwegs spannend, gerinnt das eigentlich amüsante Spiel der Liebespärchenbildung nach der Pause zur zähen, nicht enden wollenden, enervierenden Daueraufgeregtheit, der eine zielstrebige, straffende Regie gutgetan hätte.

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Bild v.l.n.r: Andrea Wenzl (Beatrice), Markus Meyer (Truffaldino), Peter Simonischek (Pantalone de´Bisognosi) (Foto: Ruhrfestspiele/Reinhard Werner/Burgtheater

Doch ist manches auch zu preisen. Stefan Hageneier (Bühne und Kostüme) hat eine Art Doppelkneipe auf die Drehbühne gestellt, die sinnfällig für die Sphären beider Herren steht, denen Truffaldino dient. Schließlich speisen (und saufen) Pantalone und Beatrice auf der einen Seite, Beatrices Galan Florindo auf der anderen; die Bühne dreht sich dabei wie wild, und Truffaldino rast in halsbrecherischer Manier durch Szenen und Kulissen, um alle zu bedienen.

Die Schauspieler sind durchweg zu loben

Das ist nicht schlecht ausgedacht und wird durch den hochpräsent aufspielenden, sich athletisch hemmungslos verausgabenden, schweißgebadeten Markus Meyer in der Titelrolle ein grandioses, auf die gesamte Produktion bezogen durchaus auch versöhnliches Stück Schauspielertheater.

Und: Diese (durchweg zu lobenden) Schauspielerinnen und Schauspieler spielen noch. Und zwar miteinander. Unterhalten sich, streiten sich, vertragen sich, lieben sich. Einen Stoff so konventionell anzugehen ist natürlich nicht Pflicht; Regisseure und Regisseurinnen sind frei in ihrer Arbeit, das macht das Wesen von Inszenierungen aus. Doch gebe ich gern zu, daß es Freude bereitet hat, diesen Künstlern bei dieser Art von Arbeit zuzusehen.

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Jetzt wird es voll. Von links: Irina Sulaver (Clarice), Sebastian Wendelin (Florindo), Christoph Radakovits (Silvio), Peter Simonischek (Pantalone de´Bisognosi), Johann Adam Oest (Dottore Lombardi), Andrea Wenzl (Beatrice), Mavie Hörbiger (Smeraldina), Hans Dieter Knebel (Brighella), Stefan Wieland (Ein Kellner) (Foto: Ruhrfestspiele/Reinhard Werner/Burgtheater)

Trotz großer Bühnensportlichkeit hatten die vorwiegend jungen Darsteller am Schluß noch genug Energie, sich mit eleganten Sprüngen über Kneipentische an die Rampe zu begeben, um sich ihren Applaus abzuholen.

Die beiden Alten im Spiel – Peter Simonischek als Pantalone und Johann Adam Oest als Dottore Lombardi – erwiesen den Jungen auf ihre Art Reverenz, indem sie sich doch recht mühsam über die Tische quälten, um schließlich ebenfalls lachend an der Rampe zu stehen. Was für ein Theater!

Als nächster zeigt im Großen Haus der Intendant seine erste Regiearbeit. Vom 10. bis 14. Mai läuft hier Pedro Calderón de la Barcas „Das Leben ein Traum“ in der Regie von Frank Hoffmann. Mit Starbesetzung, u. a. mit Dominique Horwitz, Hannelore Elsner, Jacqueline Macaulay und Wolfram Koch.

Termine: 6. und 7. Mai

www.ruhrfestspiele.de




Elend so nah: Jelineks „Die Schutzbefohlenen“ mit Epilog im Bochumer Schauspiel

Foto: Diana Küster/Schauspielhaus Bochum

Foto: Diana Küster/Schauspielhaus Bochum

Es regnet Menschen: Klein, rosa, nackt prasseln die Püppchen auf die Bühne hernieder und bleiben den Wohlstandsmenschen in den Haaren hängen. Sie häufen sich auf dem Boden, so dass die Bühnenarbeiter sie zum Schluss wegfegen müssen. Hilft ja nichts, es sind zu viele.

Wortkaskaden strömen in den Zuschauerraum, es sind viele Wörter, Textflächen, sie kreisen um die Themen Flucht, Migration, das Eigene und das Fremde und sie sind von Elfriede Jelinek. Hermann Schmidt-Rahmer inszenierte für das Bochumer Schauspielhaus „Die Schutzbefohlenen/Appendix/Coda/Epilog auf dem Boden“, wobei „Die Schutzbefohlenen“ bereits 2014 uraufgeführt wurde. Das Stück nimmt Bezug auf die antike Tragödie „Die Schutzflehenden“ von Aischylos. Parallel zur Entwicklung der „Flüchtlingskrise“ in Europa hat Jelinek den Text seitdem fortgeschrieben und erweitert. Der letzte Teil „Epilog auf dem Boden“ war nun in Bochum erstmalig zu sehen.

Die Perücken und Kostüme der Schauspieler erinnern an Marie Antoinette und Luis XVI, aber als seien sie von Karl Lagerfeld verfremdet und zum letzten Schrei von Paris erklärt. Die dekadente Gesellschaft trägt dunkle Datenbrillen, durch die sie in sicherem Abstand die Tragödie auf dem Mittelmeer medial verfolgt.

Nein, die Europäer sind nicht am eigenen Leibe betroffen, sie schauen nur zu. Natürlich ist das schrecklich, da muss man Mitleid haben. Wirklich beängstigend wird es aber für sie erst, als plötzlich die realen Menschen in ihr Land strömen und man diesen und ihrem Unglück von Angesicht zu Angesicht begegnen kann. Da wird’s dann doch ein bisschen viel. So genau wollte man das Elend lieber doch nicht sehen.

Foto: Diana Küster/Schauspielhaus Bochum

Foto: Diana Küster/Schauspielhaus Bochum

In Jelineks Text prallen die Absurditäten der Politik und Gesellschaft mit einer ganz eigenen Ironie aufeinander. Sie hat dem Gerede gelauscht und reiht die wahnsinnigen Worthülsen dieser Tage so aneinander, dass man nicht zu fassen glaubt, was man da alles hört.

Doch wie funktioniert das auf der Bühne? Schmidt-Rahmer hat mit seinem Bühnenbildner Thilo Reuther und den Kostümen von Michael Sieberock-Serafimowitsch eine ästhetische Plattform gefunden, in der sich das Thema sinnfällig entfalten kann: Die große Landkarte von Nordafrika ist wie ein Trichter aufgehängt, durch den die eingangs beschriebenen Püppchen in die Szene purzeln. Die großartigen Schauspieler bringen den Text zum Schweben und helfen bei der Materialisierung – inklusive Püppchenköpfen (für das Video im Netz).

Allerdings ist Jelineks Perspektive immer nur die unsere: Auch wenn Schicksale von Flüchtlingen referiert werden, geschieht das durch unsere Augen und nicht aus deren eigener Sicht. Hier gerät der Text an seine Grenzen, das ist dramatisch nicht leicht zu überwinden. In Nicolas Stemanns Inszenierung für das Thalia Theater waren Flüchtlinge selbst als Chor einbezogen, Schmidt-Rahmer überlässt es in Bochum den Schauspielern, auch in die Rollen der Flüchtlinge zu schlüpfen. Das klappt nicht immer. Aber warum sollte es auch? Jelinek schreibt über uns, weil sie von uns am meisten weiß. Und wir im Publikum schauen dabei zu – die anderen stauen sich an den Grenzen…

Karten und Termine: www.schauspielhausbochum.de




Vieles von allem: Das Theater Dortmund präsentiert sein Programm für 2016/2017

Schauspielhaus Dortmund

Hier wird derzeit renoviert – und alle hoffen, daß es pünktlich sein Ende hat: Das Theater Dortmund (Foto: Laura Sander/Theater Dortmund)

Die längste Theaterveranstaltung in der kommenden Spielzeit ist ein „54 Stunden Night Club“ im Megastore. Beginnend Freitag, 21. Oktober, und endend am Sonntag, 23. Oktober, will das Dortmunder Schauspiel – hoffentlich! hoffentlich! – Abschied nehmen von seiner provisorischen Spielstätte im Gewerbegebiet an der Nortkirchenstraße.

Das setzt natürlich voraus, daß dann die Renovierungsarbeiten im Großen Haus beendet sind. Dort, im Großen Haus, soll sich erstmalig wieder am 10. Dezember der Vorhang für Bert Brechts „Furcht und Elend des Dritten Reiches“ heben, Regie führt der 1967 geborene Sascha Hawemann, von dem in Dortmund bereits als Regiearbeit das Familiendrama „Eine Familie (August: Osage County)“ zu sehen war.

Fünf Sparten machen Betrieb

Das Theater Dortmund, mit seinen fünf Sparten Ballett, Philharmoniker, Oper, Schauspiel und Kinder- und Jugendtheater doch ein recht machtvoller Kulturbetrieb, hat seine Pläne für 2016/2017 vorgestellt. Ein aufwendig gestaltetes Spielzeitheft (eigentlich eher ein Buch) faßt all die Pläne und Termine faktenreich zusammen, und Bettina Pesch, die Geschäftsführende Direktorin, weist nicht ohne Stolz darauf hin, daß dieses Buch den Etat nicht belastet hat, sondern ausschließlich aus Mitteln von Kulturstiftern bezahlt werden konnte. Das ändert allerdings, kleiner Schmäh am Rande, nichts daran, daß der optische Auftritt des Theaters Dortmund, seine, wie man heute gern sagt, „Corporate Identity“, dringend einer Auffrischung, besser noch einer ziemlich grundlegende Modernisierung bedarf.

Der optische Auftritt ist reichlich angestaubt

Die Grundfarbe Orange war in den 80er Jahren modern (zusammen mit Braun und Olivgrün, in wild wogenden Tapetenmustern), erbaut heutzutage aber bestenfalls noch patriotisch gestimmte Holländer; die fette Schrift von Typ Helvetica sowie die vor allem im Konzertbereich immer noch gepflegte Kleinschreibung von Hauptwörtern sind Moden der 60er Jahre, die andernorts längst überwunden wurden und keine Nostalgiegefühle hervorrufen. Für ein fortschrittliches Haus ist dieser Auftritt schlicht kontraproduktiv.

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Im Schauspielhaus. (Foto: Sascha Rutzen/Theater Dortmund)

Revolutionär und globalisierungskritisch

Wenden wir unseren Blick nun auf das Schauspiel, das sich, je nach dem, mal revolutionär, mal doch zumindest globalisierungskritisch gibt. Revolutionär startet es in die Spielzeit, wenn man den Stücktitel wörtlich nimmt. Doch auch wenn Joël Pommerats „La Révolution #1 – Wir schaffen das schon“ mit der französischen Revolution mehr zu tun hat als vor einigen Jahren sein Erfolgsstück „Die Wiedervereinigung der beiden Koreas“ mit Korea, bleibt noch Platz für Menschliches, Privates, was diesen Abend in der Regie von Ed Hauswirth hoffentlich vor der Tristesse des freudlosen Historiendramas bewahren wird. Um die französische Revolution geht es aber wirklich: „Schloß Versailles, 1787. König Louis XVI hat die wichtigsten Adeligen seines Landes zusammengerufen…“ beginnt der Ankündigungstext. Also schau’n wir mal – auch, was die Ereignisse von einst den Heutigen noch sagen können. Übrigens ist auch „Die Wiedervereinigung der beiden Koreas“ im Programm, Premiere am 8. April 2017 im Schauspielhaus, Regie Paolo Magelli.

Der lange Schatten Michael Gruners

An Horváth, sagt Schauspielchef Kay Voges, habe man sich in seiner Intendanz für Jahre nicht herangewagt, weil die Horváth-Kompetenz seines Vorgängers Michael Gruner so übermächtig gewesen wäre. Oder zumindest diesen Ruf hatte. Nun aber gibt es doch einen: „Kasimir und Karoline“, ab 18. September im Megastore und in der Regie von Gordon Kämmerer.

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Markant: Das Opernhaus (Foto: Philip Lethen/Theater Dortmund)

Zu Gast bei den Ruhrfestspielen

„Die Simulanten“, die Philippe Heule erstmalig ab dem 23. September im Megstore auftreten läßt, können vorher schon bei den Ruhrfestspielen besichtigt werden, nämlich am 7., 8. und 9. Juni. Nach gefühlten 150 Jahren gibt es tatsächlich eine Kooperation von Recklinghausens Grünem Hügel und dem Theater Dortmund, was trotz der räumlichen Nähe doch eine Win-Win-Situation zu sein scheint. Die Dortmunder können sich einem anderen Publikum präsentieren, das Festival sichert sich eine Produktion von größter Aktualität. Denn Philippe Heudes Simulanten sind mit ihren Fernbeziehungsneurosen, ihrer Therapiegläubigkeit und ihrer Angst vor dem Konkreten wohl recht typisch für die Jetztzeit. Auch ihr Unbehagen in der Welt ist es, also am besten schnell einen UN-Weltklimagipfel abhalten. Nur als Simulation natürlich.

Rimini Protokoll kurvt durch das Ruhrgebiet

Was haben wir noch? Das Künstlerkollektiv Rimini Protokoll verlegt seine Truck Track Ruhr Nummer 4 ins Dortmunder Stadtgebiet („Album Dortmund“) und tüftelt zusammen mit Dortmunder Theaterleuten aus, wo genau es langgehen soll. Übrigens begegnet man den Truck Tracks Ruhr auch bei den Ruhrfestspielen und bei der Ruhrtriennale, sie kommen halt viel rum und sind, wie man sieht, überaus kontaktfreudig. Was dort konkret passiert? Den Beschreibungen nach – ich war noch nicht dabei – werden maximal 49 Zuschauer auf einem überdachten Lkw zu markanten Punkten gefahren, die sie mit Musik und künstlerischer Intervention intensiv erleben. Gute Reise!

Häßliche Internationalisierung

Interessant in des Wortes höchst ursprünglicher & positiver Bedeutung klingt, was uns in „Die schwarze Flotte“ erwartet. Dieser „große Monolog“ (Voges) „von Mike Daisey nach einer Recherche von Correct!v“ blickt sozusagen in die Abgründe der internationalen Seeschiffahrt, die mit beängstigendem Gleichmut Rohstoffe, Öl und Handelswaren, Waffen, Drogen, Flüchtlinge und Arbeitsmigranten über den Globus transportiert. Zu wessen Nutzen? Das Stück verspricht Antworten, Regie führt Hausherr Kay Voges.

Von Franz Xaver Kroetz gibt es „Furcht und Hoffnung in Deutschland: Ich bin das Volk“, entstanden in den 80er und 90er Jahren (Regie: Wiebke Rüter), von Kay Voges einen Film zum Flüchtlingselend dieser Welt und Europas Abwehrhaltung dazu („Furcht und Ekel in Europa“, Premiere im Dezember 2016).

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Manchmal kommen sie wieder: „Die Kassierer“ mit ihrem Frontmann Wolfgang Wendland, hier noch bei „Häuptling Abendwind“ zu sehen, sind demnächst „Die Drei von der Punkstelle“ (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

„Die Kassierer“ kommen wieder

Bevor die Punk-Greise „Die Kassierer“ (wieder im Unten-ohne-Look?) mit der Punkoperette „Die Drei von der Punkstelle“ der Spielzeit 2016/2017 ihren krönend-krachenden Abschluß verleihen werden, wartet das Programm noch mit einer besonderen „Faust“-Adaption auf („Faust At The Crossroads“, Regie Kay Voges), einem neuen Stück der Theaterpartisanen („Übt das Unerwartete“), einem Stück über die islamistische Radikalisierung junger Männer („Flammende Köpfe“ von Arne Vogelsang) und einem „Live-Animationsfilm von sputnic nach dem gleichnamigen Roman von Paul Auster“: „Mr. Vertigo“. Und was der Hausherr in der Oper veranstaltet, wird ein paar Absätze später erzählt.

Internetreinigung

Zuvor jedoch einige Worte über „Nach Manila – Ein Passionsspiel nach Ermittlungen auf den Philippinen von Laokoon“. Hier bekommt Globalisierungskritik ein Gesicht, genauer ihrer viele, Millionen, täglich. Es geht um die 350 Millionen Fotos, die täglich auf Facebook hochgeladen werden, die 80 Millionen auf Instagram, die 400.000 täglichen Videostunden bei Youtube. Auf den Philippinen ist es der Job vieler vorwiegend junge Menschen, diese Material auf unzumutbare Pornographie, Brutalität, Grausamkeit und so fort zu sichten und alles zu löschen, was der Kundschaft im reichen Norden des Planeten nicht zuzumuten ist.

Warum Philippinos? Weil sie, so wird behauptet, überwiegend katholisch sind und nordwestliche Moralvorstellungen sich weitgehend mit den ihren decken. Vielleicht aber auch nur, weil ihre Arbeit spottbillig ist. Jedenfalls interessiert es die weltweit agierenden Internetkonzerne nicht sonderlich, wie die Menschen in derart belastenden Jobs zurechtkommen. Schlecht, behauptet das Stück in der Regie von Moritz Riesewieck. Ich bin gespannt.

Kay Voges inszeniert Wilson-Oper

Ein kurzer Blick nun auf das Programm der Oper, wo wiederum Schauspielchef Kay Voges gesichtet wird. Er führt Regie in „Einstein on the Beach“ von Robert Wilson und dem weltberühmten Musikminimalisten Philip Glass. Es ist die erste Bühnenfassung, die nicht Großmeister Wilson selbst gestaltet. „Nein“, bestätigt Opernintendant Jens-Daniel Herzog, es gibt keine Inszenierungsvorschriften, keine Auflagen, das Stück à la Robert Wilson auf die Bühne zu stellen. Florian Helgath hat die musikalische Leitung, das Chorwerk Ruhr wirkt mit und man hat den Eindruck, daß dies ein schöner Abend werden kann (erstmalig am 23. April 2017).

Der Opernball fällt aus, dafür gibt es am 9. Januar eine konzertante „Fledermaus“. Nicht fehlt „Die Zauberflöte“, nicht „Otello“ doch sind auch Andrew Lloyd Webber und Paul Abraham zugegen, mit dem Musical „Sunset Boulevard“ der eine, mit der Jazz-Operette „Die Blume von Hawaii“ der andere. Und jetzt höre ich auf, Opern-Facts zu reihen und gebe der Hoffnung Ausdruck, daß mein geschätzter Kollege S. sich dieser Aufgabe hingebungsvoll hingibt.

Lüner Solistin Mirijam Contzen im philharmonischen Konzert

Gleiches gilt für die Konzertreihen, an denen stark beeindruckt, daß sie alle schon bei der ersten Präsentation des Programms bis zur Zugabe (Scherz!) durchgeplant sind. Träume und Phantasien, so Generalmusikdirektor Gabriel Feltz, seien so etwas wie das Leitmotiv der kommenden Saison, die seine vierte in Dortmund sein wird. Übrigens wird beim 8. Konzert am 9.und 10. Mai 2017 die Geigerin Mirijam Contzen zu hören sein, die in Lünen aufwuchs und seit etlichen Jahren das Musikfestival auf Schloß Cappenberg leitet (das in diesem Jahr wegen Renovierung des Schlosses ausfällt). Mittlerweile zählt sie zu den Großen der internationalen Solistenszene. In Dortmund wird sie in Tschaikowskys Violinkonzert D-Dur op. 35 zu hören sein.

Open Air auf dem Friedensplatz

Und endlich gibt es Open Air Klassik auf dem Dortmunder Friedensplatz! Der Cityring macht’s möglich (und verkauft die Eintrittskarten). Am Freitag, 26. August, startet die vierteilige Reihe mit einer Sommernacht der Oper, mit La Traviata und Zigeunerchor (heißt nun mal so). Am darauffolgenden Samstag ist unter dem Titel „Groove Symphony“ „ein perfekter Mix aus Soul, Elektro, Klassik und Hip Hop“ zu hören, die Gruppe Moonbootica und Philharmoniker spielen gemeinsam auf.

Sonntag ist dann um 11 Uhr Familienkonzert unter dem Titel „Orchesterolympiade“ Musiker im Trainingsanzug treten an zum Höher, Schneller, Weiter der Instrumente, und am Pult steht Gabriel Feltz höchstselbst. Na, das wird was werden. Abends dann schließlich die Musicalgala „A Night full of Stars“. Es dirigiert Philipp Armbruster, es singen Alexander Klaws, Patricia Meeden und Morgan Moody.

NRW Theatertreffen Juni 2014

Schauspielhaus (Foto: Laura Sander/Theater Dortmund)

Schwanensee ist wieder da

Und jetzt gucken wir noch kurz, was Ballettdirektor Xin Peng Wang anzubieten hat. Bei seinen Premieren gibt es einen „Faust II – Erlösung“, und bei den Wiederaufnahmen „Faust I – Gewissen!“. „Schwanensee“ kommt wieder, und von besonderer Delikatesse ist sicherlich die Präsentation dreier Choreographien von Johan Inger, Richard Siegal und Edward Clug unter dem Titel „Kontraste“. An zwei Wochenenden (24./25.9.2016, 24./25.6.2017) spenden die Ballettgalas XXIV und XXV (also 24 und 25) Glanz. Und wie immer gilt besonders für das Ballett der Rat: Man mühe rechtzeitig sich um Karten, denn allzu schnell sind sie vergriffen.

Weihnachten wird es eng im Kinder- und Jugendtheater

Zu guter Letzt das Kinder- und Jugendtheater (KJT), das sich tapfer und mit Erfolg bemüht, alle Kinder zu erreichen, auch die benachteiligten, und dessen Produktionen sich immer auch um Solidarität, Fairneß und Gerechtigkeit drehen. In „Rico, Oskar und die Tieferschatten“ von Andreas Steinhöfel gehen „ein Hoch- und ein Tiefbegabter“ (KJT-Chef Andreas Gruhn) auf erfolgreiche Verbrecherjagd, ein bißchen so wie weiland Kästners „Emil und die Detektive“. Jörg Menke-Peitzmeyers „Strafraumszenen“ drehen sich um Fußball und Rassismus, es gibt ein Flüchtlingsprojekt („Say it loud II – Stories from the brave new world“) und im Sckelly etwas für Kinder ab 4 Jahren („Dreier steht Kopf“ von Carsten Brandau).

Das Weihnachtsstück heißt „Der falsche Prinz“, Andreas Gruhn schrieb es nach der Vorlage von Wilhelm Hauff. Uraufführung ist am 11. November, und dann wird gespielt und gespielt und gespielt. Leider aber nicht im Großen Haus, denn das wird ja renoviert. An der Sckellstraße aber sind die Plätze knapp, nur zwei Drittel der sonstigen Menge stehen zur Verfügung.

Auslastung lag bei 73,1 Prozent

Viel Theater. Viel Oper, viel Ballett und viel Konzert. Und in Essen, Bochum, Gelsenkirchen, Hagen, um nur die nächstliegenden städtischen Bühnen der Umgebung zu nennen, gibt es auch attraktive Angebote. Da muß man sich strecken, wenn man mithalten will. 73,1 Prozent durchschnittliche Auslastung aller Veranstaltungen hat Bettina Pesch ausgerechnet, Gabriel Feltz hält eine Zielmarke von 80 Prozent für realistisch. Und dann wäre statistisch gesehen ja immer noch Luft nach oben. Jedenfalls lasten im Moment keine lähmenden Sparzwänge auf dem Dortmunder Theater. Und das ist auch gut so.

Wer jetzt noch mehr wissen möchte, sei auf die Internetseite des Dortmunder Theaters verwiesen: www.theaterdo.de

Die neuen Programmbücher, in denen alles steht, liegen an der Theaterkasse im Opernhaus aus und können kostenlos mitgenommen werden.

 




Bewegender Abend der Bewegung: Das Gehen im Tanztheater Cordula Nolte

„Gehweg“ heißt die jüngste Produktion aus dem Dortmunder Tanztheater Cordula Nolte – das inzwischen neunte Stück der freien Bühne im Unionviertel, die Jahr für Jahr gesellschaftliche Entwicklungen tanz-theatralisch verarbeitet und kommentiert. Diesmal geht’s ums Gehen – eine nur scheinbar profane Angelegenheit, wie die gefeierte Premiere am Samstagabend bewies.

Alles Leben – also auch alle Bewegung – kommt aus dem Wasser.  Zu Beginn liegt das Ensemble auf dem Boden, schwimmt, windet sich. Nach und nach streben die Körper aufwärts, entdecken ihre Beine, rollen langsam ihre Füße ab, ertasten den Boden und erproben die Höhe – die Evolution in wenigen Minuten. Und kaum stehen sie auf eigenen Beinen, beginnt der Stress: Die Menschheit hastet vorwärts, immer weiter, an- und voreinander vorbei, dem Zusammenprall oft nur haarscharf entgehend. Ist der Fort-Schritt wirklich ein Fortschritt?

Foto: Jochen Riese

Foto: Jochen Riese

Die Musik dazu und für das ganze Stück stammt von Ensemble-Mitglied Olaf Nowodworski, der die Stimmungen und Rhythmen der Szenen in seinen Synthie-Klängen aufnimmt, sie unterstützt und verstärkt – ein Glücksfall. Zum Beispiel in der folgenden kleinen, feinen Studie der Gangarten. Von links nach rechts, von rechts nach links laufen die Tänzerinnen und Tänzer zu treibenden Klängen über die Bühne und zeigen dabei ein skurriles Panoptikum der Laufstile von Zweibeinern.

Da gibt es den eilig Hastenden, das Telefon in der einen Hand, mit der anderen gestikulierend und wahllos in der Hosentasche wühlend. Den Kleinen, der sich mit seinem Gang umso breiter und wichtiger macht. Den Vorsichtigen, der dem Boden nicht zu trauen scheint. Es gibt jene, die das Becken beim Gehen weit vorschieben – und jene, bei denen der Kopf immer zuerst anzukommen scheint. Es gibt den Gang, der nach oben strebt und den, der sich nach unten orientiert.

Bartisch

Foto: Jochen Riese

Was es dagegen bedeutet, über-gangen zu werden, erfährt das Publikum fast schmerzvoll, als eine Tänzerin (Sabine Siegmund) lustvoll über einen menschlichen Steg stolziert: Wie selbstverständlich balanciert sie über die Rücken der Tänzer, die den Weg immer wieder nach vorn verlängern und bei jedem Übergangen-Werden qualvoll aufstöhnen.

Doch nicht nur als Fußabtreter werden Menschen mitunter missbraucht, sondern auch, um sich mal „auszukotzen“, zu entleeren – überdeutlich in der Darstellung eines Toilettengangs mit vier menschlichen Klosetts, die sich für diverse körperliche Vorgänge öffnen. Ein reinigender Akt, der andere beschmutzt zurücklässt.

Der erste Teil, komplett barfuß getanzt, endet mit einem riesigen Schuh-Berg: Die Ensemble-Mitglieder schleudern nach und nach Dutzende Schuhe in die Bühnenmitte, auf den sich ein Tänzer gierig stürzt. Im zweiten Teil geht es dann auch um das Laufen auf Schuhen, und es folgt eine zweite Bewegungsstudie: Wie unterschiedlich läuft es sich auf Gummistiefeln, auf Turnschuhen, auf Spitzenschuhen, auf Garten-Clogs, auf Pumps.

Foto: Jochen Riese

Foto: Jochen Riese

Es gibt kaum je Stillstand auf der Bühne. Beeindruckend die Szene, in der ein Tänzer (Pao Nowodworski) über ein imaginäres Seil stolpert und dann, geschmeidig und behend wie ein Tier auf der Flucht, auf allen Vieren kriechend, rollend und springend, einen Ausweg aus der Gefahrenzone sucht.

Wunderbar, wenn eine Tänzerin (Birgit Sirocic) wie ein tollender Hund von vier auf Stehtischen stehenden Tänzern hin- und hergelockt und geärgert wird – und sie die nervenden Menschen einfach wegpustet, erst die einzelnen Glieder mit ihrem Atem in Bewegung versetzt, dann die ganzen Menschen. „Gehweg“, nur wenig anders geschrieben, heißt „geh weg“ – ein typisches Beispiel dafür, wie das Tanztheater Cordula Nolte hintersinnig nicht nur mit Bewegung, sondern auch mit Worten experimentiert.

Witzig und nachdenklich machend, wenn die Tänzer wie ferngesteuert und blind für die Umgebung ihre Schritte setzen, einen Plan vor der Nase, offenbar vollständig abhängig davon, was die Navigation ihnen vorgibt. Einfach schön anzusehen, wie beim Tanz im Dunkeln Taschenlampen-Spots einzelne Körperpartien und Schritt-Kombinationen erhellen.

In Erinnerung bleibt: ein bewegter und bewegender Abend.

Nächste Termine im Tanztheater Cordula Nolte: samstags 30.04., 21.05., 11.06. und 25.06., jeweils 20 Uhr.




Start mit Gluck – Intendant Johan Simons stellt das Programm der RuhrTriennale 2016 vor

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Auf Zeche Zollern erklingt zumindest an einem Abend Triennale-Musik – allerdings nicht im abgebildeten Verwaltungsgebäude, sondern in der (unsichtbar) dahinter liegenden berühmten und frisch renovierten Jugendstil-Maschinenhalle (Foto: Ruhrtriennale/LWL Hudemann)

Christoph Willibald Gluck macht den Anfang, es folgen Albert Camus, Emile Zola und viele andere. Johan Simons hat das Programm seiner zweiten Ruhrtriennale (12. August bis 24. September 2016) vorgestellt, die an etlichen ehemaligen (oder noch aktiven) Industriestandorten des Ruhrgebiets stattfinden soll. Nach langer Pause ist auch Dortmund wieder mit Spielstätten vertreten, dem Hafen und (endlich!) der renovierten Maschinenhalle von Zeche Zollern in Bövinghausen. Hier ein paar Fakten:

Beginn in der Jahrhunderthalle

Große Auftakt-Produktion ist Glucks Reformoper „Alceste“ in der Bochumer Jahrhunderthalle. Simons hat sie, wie wir den sorgfältig zusammengestellten Presseunterlagen entnehmen können, „neu inszeniert und stellt Fragen nach Opferbereitschaft, Mut und Demut“. Der belgische Dirigent René Jacobs steht am Pult, leitet das B’Rock Orchestra und den MusicAeterna-Chor aus Perm.

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René Jacobs dirigiert die Eröffnungsproduktion „Alceste“ (Foto: Ruhrtriennale/ Molina-Visuals)

Drei Wochen später startet die zweite große Musikproduktion, wiederum unter Simons’ Leitung. Das Werk heißt „Die Fremden“ und ist eine musikalische Bühnenadaption des Romans „Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung“ von Kamel Daoud. Daouds Roman wiederum ist eine (etwas späte) Antwort auf den Roman „Der Fremde“ von Albert Camus, in dem der scheinbar grundlose Mord an einem namenlos bleibenden Araber eine zentrale Rolle spielt. Der Mord, ist zu erfahren, war nicht nur tödlich, sondern seine Beschreibung auch rassistisch, was Daoud zur Gegendarstellung bewegte.

Jetzt auch Auguste Victoria

Die Inszenierung hinterfragt menschliches Dasein in einer gottverlassenen Welt, fragt nach den Werten, die unsere Kulturen bestimmen, und läßt bei alledem Musik von György Ligeti und Mauricio Kagel hören. Da wage ich die Prognose, daß dies kein leichter Abend wird – aber ein spannender. Ein hoffentlich auch bereichernder. Spielort übrigens ist erstmalig die Kohlenmischhalle der Zeche Auguste Victoria in Marl, die erst vor kurzem stillgelegt wurde. Reinbert de Leeuw leitet das Asko/Schönberg Ensemble.

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Ein Bau von einschüchternder Größe: Die Marler Kohlenmischanlage, wo „Der Fremde“ gespielt wird (Foto: Ruhrtriennale/RAG Montan Immobilien GmbH)

In der Abteilung „Musik“ sticht das Projekt „Carré“ ins Auge, bei dem Bochumer Symphoniker und ChorWerk Ruhr, auf jeweils vier Gruppen verteilt, Musik von Karlheinz Stockhausen sozusagen dezentral zum Klingen bringen. Eigentlich geht das nirgendwo, aber in der Jahrhunderthalle eben doch.

Ebenfalls bemerkenswert: „Répons“, das „Raummusik-Meisterwerk“ des Komponisten Pierre Boulez, das im Landschaftspark Duisburg Nord vom Ensemble Inter-Contemporain unter der Leitung von Matthias Pintscher gegeben wird.

Fortsetzungen: Zola und Couperus

Im Bereich „Schauspiel“ werden Fortsetzungen angekündigt. Luc Perceval wandelt weiterhin auf Emile Zolas Spuren und bringt „Geld. Trilogie meiner Familie 2“ auf die Bühne. Ivo van Hove inszeniert „Die Dinge, die vorübergehen“ von Louis Couperus, eine Art Familienthriller. Wie auch im letzten Jahr, als das Couperus-Stück „Die stille Kraft“ im steten Tropenregen das Scheitern des Kolonialismus am Beispiel eines Verwaltungsbeamten und seiner Familie schilderte, umkreist Couperus das, was falsch ist an der Besitznahme ferner Länder durch sein Land.

Liebe. Trilogie meiner Familie 2 nach Émile Zola Regie Luk Perceval Bühne Annette Kurz Kostüme Ilse Vandenbussche Musik Lothar Müller Licht Mark Van Denesse Dramaturgie Susanne Meister Jeroen Versteele Darsteller Patrick Bartsch (Goujet) Stephan Bissmeier (Dr. Pascal) Pascal Houdus (Dr. Ramond) Marie Jung (Clotilde) Barbara Nüsse (Felicité; Frau Lorillieux; Leichenbesorger; Mme Goujet) Sebastian Rudolph (Lantier) Gabriela Maria Schmeide (Gervaise) Maja Schöne (Nana) Rafael Stachowiak (Jacques Lantier) Oda Thormeyer (Martine) Tilo Werner (Coupeau) Patrycia Ziolkowska (Clémence) Copyright by Armin Smailovic Gravelottestrasse 3                               D- 81667 Muenchen         Commerzbank Muenchen   Kto. 682038400 Blz. 70080000   Veröffentlichung honorarpflichtig! Umsatzsteuersatz 7% Steuernummer 146/198/60102  FA München

Das ist jetzt ein Symbolfoto zu „Geld. Trilogie meiner Familie 2“ (Foto: Ruhrtriennale/ Armin-Smailovic)

Es gäbe der Projekte viele, viele mehr zu nennen, doch soll dies ja nur ein erster Eindruck sein.

Im Dortmunder Hafen, um darauf zurückzukommen, ist die neue Arbeit von „osa_office for subversive architecture“ zu bestaunen und auch zu benutzen. Konkret handelt es sich um einen zehn Tonnen schweren Container in der Farbe Pink, der in eine real existierende Bearbeitungshalle für Stahlprodukte gekrant wird. Dabei dürfen um die 20 Besucher „an Bord“ („an Container“?) sein, bestimmt ein unvergeßliches Erlebnis.

Endlich in der Maschinenhalle von Zeche Zollern

Die Maschinenhalle der Zeche Zollern in Dortmund schließlich ist am 17. August Ort des Konzerts „Spem in alium“, benannt nach einer Motette Thomas Tallis’. An diesem Abend wird es experimentell, mit Musik von Henry Purcell, Alfred Schnittke, György Ligeti und eben Tallis. Vitaly Polonsky dirigiert den Chor MusicAeterna, der aus dem russichen Perm zur Ruhrtriennale gestoßen ist.

So, hier soll es einstweilen sein Bewenden haben. Natürlich könnte man über das Ruhrtriennale-Programm noch unendlich viel mehr schreiben, doch würde es bald unübersichtlich und sicherlich auch langweilig. Auf den Internet-Seiten des Festivals können Interessierte sich orientieren und Karten kaufen. Noch gibt es 15 Prozent Frühbucherrabatt.

www. ruhrtriennale.de




Auf der Suche nach den lustigen Momenten – „Faust“ am Westfälischen Landestheater

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Ein leidender Faust, ein lauernder Mephisto: Bülent Özdil (links) und Guido Thurk bei den Proben (Foto: Volker Beushausen/Westfälisches Landestheater)

Bunt, wie Andy Warhol es einst malte, beherrscht ein riesiges Portrait das Bühnenbild: Johann Wolfgang von Goethe, Schöpfer des „Faust“, deutsche Dichterikone. Auch die Figuren des Stücks, bunt gekleidet in farbenfroher Kulisse, haben optisch ihre Individualität verloren und somit einen gewissen Ikonencharakter angenommen. Und im Spiegel sieht Gretchen späterhin statt ihres Gesichts eine Warhol-Marilyn, Inbegriff der Pop-Ikone.

Wir sollen, ahnt man früh, bar allen Beiwerks so etwas wie die Essenz des Stoffs erleben. Knappe zwei Stunden braucht Gert Becker (Regie) für seine „Faust“-Inszenierung am Westfälischen Landestheater. Das ist knapp bemessen, da darf nicht gebummelt werden. Positiver Effekt für das Publikum, das sei schon hier verraten: Langweilig wird diese Inszenierung zu keiner Minute.

Spruchweisheiten

In Castrop-Rauxel redet das faustische Personal noch getreulich in des Dichters Versen, nur hier und da wird mal ein aktuelles Halbsätzchen eingestreut. Doch da der Text passagenweise rigoros zusammengestrichen wurde, klingt das häufig wie die plumpe Reihung abgenutzter Spruchweisheiten. Goethe wurde halt gern zitiert. Einige Szenen fehlen ganz, etwa die in Auerbachs Keller. Doch Becker, ist zu lesen, wollte sich ganz auf Teufelspakt und Gretchen-Tragödie fokussieren und „die komischen Momente“ auf die Bühne bringen, die er im Stück in reicher Zahl erkennt. Das ist ein ehrgeiziges Unterfangen, das dem Stoff möglicherweise nicht ganz gerecht wird.

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Proben, Ensembleszene (Foto: Volker Beushausen/Westfälisches Landestheater)

Zum Teil aber schon: Mephisto, stets auf der Suche nach waidwunder Seelen-Beute, verführt den unglücklichen Intellektuellen Faust nach Strich und Faden, und es ist ein großes Vergnügen, ihm bei der Arbeit zuzusehen. Guido Thurk, im roten Anzug, brilliert in der Rolle des Teuflischen, verwirrt mit Schmeicheleien und entwaffnender Ehrlichkeit, ist heimliche Hauptfigur dieses Theaterabends, auch wenn er der Versuchung widersteht, die ebenfalls untadelig aufspielenden Bülent Özdil (Faust) und Samira Hempel (Gretchen) „an die Wand zu spielen“. Der Mephisto ist eben eine sehr dankbare Rolle, wie es seit Gustaf Gründgens viele weitere Schauspielkünstler gezeigt haben.

Gretchens Schicksal ist nicht komisch

Etwas problematischer, um auf die „komischen Momente des Stücks“ zurückzukommen, ist sicher das Schicksal Gretchens. Faust verführt sie, schwängert sie, lässt sie dann sitzen und bestätigt so, Mephisto hin oder her, das Motto „Männer sind Schweine“. Dass Gretchen, deren ehrliche Schlichtheit Faust zunächst betörte und die er gern „mein Kind“ nannte, in der Folge zur verzweifelten Kindsmörderin wird, ist nachvollziehbar und beim besten Willen kein komischer Moment. Auch wenn man, was Becker hier offenbar versucht, den „Faust“ als so etwas wie eine Abfolge von Ereignis-Ikonen liest, wird dieser tragische Handlungsstrang nicht lustiger. Doch mag das Publikum dies diskutieren; die klare Erzählstruktur der Inszenierung lädt dazu ein.

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Vom Teufel geritten – Faust (Bülent Özdil) und Mephisto (Guido Thurk) (Foto: Volker Beushausen/Westfälisches Landestheater)

Elke Königs schnörkellose Bühne, deren gedämpfter Apricot-Farbton die bunten Kostüme der Mitwirkenden sehr schön hervortreten lässt, ist erkennbar eine für das Tourneetheater, schnell auf Lastwagen verpackt und schnell aufgebaut. Die häufigen Auf- und Abtritte der Personen erfolgen durch zwei große, elektrisch angetriebene Schiebetüren in der Kulissenhinterwand, und wie dort mit geringstem Aufwand, mit farbigem Licht und etwas Nebel im besten Sinne Stimmung geschaffen wird, beeindruckt; vielleicht allerdings hätte es dem Fluss des Spiels zumal nach der Pause gutgetan, die Zahl der Personenwechsel etwas zu reduzieren.

Großartiges Komödiantentum

An den wohl heitersten Teilen dieses Abends hat Vesna Buljevic in der Rolle der Marte ihren nicht geringen Anteil; wie sie, die rüstige Witwe, sich Mephisto an den Hals wirft, dass diesem Angst und bange wird, um im nächsten Moment recht tugendsam die Augen zu senken, das ist großartiges Komödiantentum. Doch auch die anderen gefallen: Thomas Zimmer, Pia Seifert, Thomas Tiberius Meikl und Felix Sommer liefern eine homogene Ensembleleistung ab, mit der sich das Westfälische Landestheater allemal sehen lassen kann.

Reicher, begeisterter Schlussapplaus.

www.westfaelisches-landestheater.de

Weitere Termine:

  • 12.05.2016 19.00h Meinerzhagen Stadthalle
  • 25.10.2016 19.30h Hamm Kurhaus
  • 28.10.2016 11.00h Hattingen Gebläsehalle des Industriemuseums
  • 15.11.2016 20.00h Ratingen Stadttheater
  • 17.11.2016 19.30h Lüdenscheid Kulturhaus
  • 22.11.2016 9.00h Castrop-Rauxel Stadthalle
  • 22.11.2016 13.30h Castrop-Rauxel Stadthalle
  • 25.11.2016 20.00h Wetzlar Stadthalle
  • 13.12.2016 19.00h Iserlohn Parktheater
  • 15.12.2016 19.30h Rheine Stadthalle
  • 26.01.2017 20.00h Recklinghausen Ruhrfestspielhaus
  • 08.02.2017 19.30h Solingen Theater und Konzerthaus
  • 22.05.2017 10.00h Castrop-Rauxel Studio
  • 22.05.2017 14.00h Castrop-Rauxel Studio



Ein wenig Theater mit jungen Migranten – „Grubengold“ im Bochumer Prinzregenttheater

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„Grubengold“ – das Ensemble. (Foto: Sandra Schuck/Prinzregenttheater)

„Grubengold“: Das Wort lässt an die Kohle denken und an die Menschen, die sie aus der Grube holten. Im gleichnamigen Projekt des Theaterpädagogen Holger Werner indes, dessen Ergebnis nun im Bochumer Prinzregenttheater zu sehen war, ist nichts davon. Sein „Gold“ sind geflüchtete Menschen, die das Revier sozusagen in der Kohle-Nachfolge bereichern werden. Neun junge Leute aus Guinea, Irak, Syrien und Deutschland, zwischen 18 und 31 Jahre alt, haben das Stück erarbeitet, und nach einer Stunde ist schon alles vorbei.

Ein langes Gedicht

Die ersten etwa 20 Minuten gehören dem Vortrag eines dramatischen Gedichtes in arabischer Sprache, in dem, wenn das gleichzeitig stattfindende sparsame Bühnenspiel nicht täuscht, der Tod eines jungen Mannes eine zentrale Rolle spielt. Das Gedicht stammt von Yousef Ahmad Zaghmout, der es auch vorträgt. Auf dem Besetzungszettel findet sich eine deutsche Übersetzung. Mit großem Pathos geht es um den Schmerz, den Tod und vor allem um „das Lager“, das im Lager Yarmouk bei Damaskus sein reales Vorbild hat. Hier ist das Leben offenbar unerträglich, und so sehen wir im zweiten Bild ein qualliges, waberndes Gebilde aus Plastikfolie und Menschenleibern, das offenbar in (Fort-) Bewegung ist. Diese sehr beeindruckende Visualisierung von Flucht, Meer und Gefahr hat mit sparsamsten Mitteln Sylvia Fadenhaft geschaffen, die überaus kreative Bühnenbildnerin des Prinzregenttheaters.

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„Grubengold“ – wiederum das Ensemble. (Foto: Sandra Schuck/Prinzregenttheater)

Gepriesen sei Sylvia Fadenhaft

Auch die sich anschließende dritte Visualisierung trägt Sylvia Fadenhafts Handschrift: Da nämlich gilt es, die nach der turbulenten Überfahrt krumm und schief herabhängenden Stoffbahnen zu ordnen. Willkommen in Deutschland: Hier herrscht Ordnung, und das hat die jungen Migranten offenbar so sehr beeindruckt, dass sie mit der Beschreibung dieses oft doch recht sinnfreien Ordnungswahns eine putzige Dreierreihe von szenischen Deutschland-Wahrnehmungen beginnen.

Im nächsten Bild geht eine junge Frau von einem zum anderen und richtet an jeden und jede den Satz „Sprechen Sie Deutsch“, wobei nicht klar auszumachen ist, ob es sich um eine Frage oder um eine Anweisung handelt. Jedenfalls spricht keiner Deutsch, unübersehbar ist die spitzbübische Freude an Dilemma und Verweigerung. „Dodge“ vielleicht, die alte amerikanische Automarke? Aber Deutsch? No, sorry.

Fingerabdrücke

Im dritten dieser amüsanten Bilder geht es um Fingerabdrücke, die ein Kontrolleur gnadenlos von allen fordert und die zu geben offenbar als große Zumutung empfunden wird. Nachdem die Prozedur einige Male durchgeführt wurde, dreht das Ensemble den Spieß um und verlangt nun Fingerabdrücke vom Publikum, wohl, um den Zumutungscharakter herauszustreichen. Schließlich reiht es sich auf der Bühne und intoniert „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Und dann ist der Abend auch schon vorbei.

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„Grubengold“ – das Flatterband markiert die Grenze. (Foto: Sandra Schuck/Prinzregenttheater)

Seit September 2015, ist zu erfahren, wurde dieses Stück erarbeitet. Daran gemessen ist das Ergebnis dürftig. Wer im Themenfeld Migration, „Flüchtlingskrise“ usw. auf persönliche Antworten gehofft hatte, die über das immer Ähnliche der täglichen Nachrichten hinausgehen, hoffte vergebens.

Wie aus einem Förderantrag

Dabei wüsste man schon gerne, wie sich diese jungen Leute, beispielsweise in Bochum, ihre Zukunft vorstellen. Das Projekt hatte sich so etwas wohl auch vorgenommen, nämlich „die Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben in Bochum zu erlangen, Kontakte zur Bevölkerung herzustellen und zu fördern und ein Teil dieser Gesellschaft zu werden“. So jedenfalls ist es im Begleittext nachzulesen, der seinerseits klingt wie aus einem Förderantrag zitiert. Gefördert wurde das Projekt gleich aus mehreren Töpfen, unter anderem vom Familienministerium des Landes.

Nun, vielleicht erfüllt sich der eigene Anspruch in Zukunft ja noch, „Grubengold“ ist als Langzeitprojekt ausgeflaggt. In guter Erinnerung bleiben die Tanzeinlagen von zwei, drei Mitwirkenden, deren Ambitionen sicherlich über dieses Projekt hinausreichen dürften.




Flüchtlingsdrama in Düsseldorf: „Wir sind keine Barbaren“ von Philipp Löhle

Foto: Sebastian Hoppe/Düsseldorfer Schauspielhaus

Foto: Sebastian Hoppe/Düsseldorfer Schauspielhaus

Zunächst fühlt man sich an Yasmina Rezas „Gott des Gemetzels“ erinnert: Zwei Ehepaare, eine Yuppie-Wohnung, ein Konflikt. Doch spätestens als der Chor beginnt, die Nationalhymne zu summen, wird klar, dass es sich hier um eine deutsche Angelegenheit handelt.

„Wir sind das vollkommene Volk, wir müssen uns schützen“, skandieren die wohlgekleideten Menschen aller Altersgruppen und sehen dabei so harmlos aus wie in der Vorabendwerbung im ZDF. Und das Problem, das Barbara und Mario sowie Linda und Paul umtreibt, ist ein hochaktuelles: Bringen sie sich in Gefahr, wenn sie einen Flüchtling in der Wohnung aufnehmen oder handelt es sich um ein Gebot der Menschlichkeit?

Mona Kraushaar hat Philipp Löhles „Wir sind keine Barbaren“ am Düsseldorfer Schauspielhaus inszeniert und damit die Balance zwischen Boulevard und politischem Theater gefunden.

„Wir sind nicht zufrieden, mit dem, was wir haben“, deklamiert der Chor, „wir rufen nach 22 Uhr nicht mehr an, wir sind stolz auf uns.“ Auf diese Weise dargeboten, reizen deutsche Sitten und Gebräuche regelrecht zum Lachen. Wäre die Situation nicht so ernst: Zwischen Barbara (Stefanie Rösner) und Mario (Jonas Gruber) kommt es zu Meinungsverschiedenheiten, weil Barbara den Flüchtling Bobo (oder heißt er Klint?) eingeladen hat, bei ihnen zu leben, während ihr Ehemann lieber mit ihr und seinem riesengroßen Flachbildschirm alleine wäre.

Auch die neuen Nachbarn Linda (Bettina Kerl) und Paul (Dirk Ossig) können mit Barbaras Altruismus überhaupt nichts anfangen. Linda bezichtigt ihre Nachbarin, eine Sozialromantikerin zu sein, und Paul beginnt mit dem Bau eines Schutzraumes in seiner Wohnung, denn man wisse ja nie, was diese Afrikaner so im Schilde führten.

Foto: Sebastian Hoppe/Düsseldorfer Schauspielhaus

Foto: Sebastian Hoppe/Düsseldorfer Schauspielhaus

Wie es der Boulevard so will, spitzt sich der Konflikt natürlich zu: Barbara wird ermordet und nur der Flüchtling kann es gewesen sein, wer sonst? Das nette Vorstadtleben schliddert in die schwärzeste Abgründigkeit aus Rassismus, Vorurteilen und Scheinheiligkeit.

Der Dramatiker Philipp Löhle, geboren 1978, findet trotzdem noch einen überraschenden Dreh am Schluss, der hier aber nicht verraten werden soll…

Karten und Termine: www.duesseldorfer-schauspielhaus.de

 




Dreimal Ina – „Bilder deiner großen Liebe“ von Wolfgang Herrndorf im Prinzregenttheater

Bilder deiner grossen Liebe 3 (c) Sandra Schuck

Von links: Miriam Berger, Johanna Wieking, Linda Bockholt (Foto: Sandra Schuck/Prinzregenttheater)

Als sich die Chance bot, ist sie entwischt: Isa, die es hinter vier Meter hohe Backsteinmauern verschlagen hat. Gründe dafür werden nur angedeutet, „Ich bin verrückt, aber nicht bescheuert“, sagt sie selbstbewusst. Isa ist die Hauptfigur des Stücks „Bilder deiner großen Liebe“, das jetzt seine Premiere im Bochumer Prinzregenttheater erlebte. Gleich drei Schauspielerinnen geben der jungen Frau Stimme und Gestalt, wenn sie auszieht, die Welt jenseits der Anstalt zu ergründen.

Der Autor von „Tschick“

Der Stoff des Stücks stammt von dem 2013 mit 48 Jahren viel zu früh verstorbenen Wolfgang Herrndorf. Robert Koall hat daraus eine Bühnenfassung gemacht, die jetzt zur Aufführung gelangte. Zum Werk Herrndorfs zählen einige unverstellte, klarsichtige, dabei jedoch auch launige Beschreibungen der Lebenswelten jüngerer Erwachsener wie „In Plüschgewittern“. Vor allem jedoch wurde er durch das vielgespielte Außenseiterstück „Tschick“ bekannt, dessen weibliche Hauptfigur Isa wir nun wiederbegegnen.

Bilder deiner grossen Liebe 4 (c) Sandra Schuck

Von links: Linda Bockholt, Miriam Berger, Johanna Wieking (Foto: Sandra Schuck/Prinzregenttheater)

Wenn Isa in dieser Inszenierung (Regie: Frank Weiß) mit Miriam Berger, Linda Bockholt und Johanna Wieking gleich dreifach besetzt ist, dann wohl nicht, um eine psychische Störung („multiple Persönlichkeit“) anzudeuten. Eher wirkt es wie der durchaus gelungen zu nennende Versuch, eine vielschichtige, reflektierte, reiche Persönlichkeit in empathischen Dialogen angemessen zu zeichnen.

Bestimmte charakterliche Eigenschaften sind den drei Darstellerinnen folgerichtig auch nicht zugeordnet, eher wirken sie wie Kinder im heiteren Spiel; nun gut, vielleicht ist Johanna Wieking ein kleines bisschen mehr Isa als die anderen, weil sie auch Isa in der „Tschick“-Produktion des Prinzregenttheaters war und weil sie mit ihrem häufigen großen Lächeln noch etwas mehr Erleben spiegelt als die beiden anderen. Aber alle erzählen sich die Erlebnisse in der Ich-Person.

Alle Drei sind sie auch respektable Musikerinnen, gleich der Opener des Abends ist ein munteres Rock-Geschrammel mit Schlagzeug, Bass und Gitarre. Auch Keyboard und Xylophon erklingen im Laufe des Abends, und außerdem singen sie sehr schön.

Bilder deiner grossen Liebe 5 (c) Sandra Schuck

Von links: Linda Bockholt, Johanna Wieking, Miriam Berger (Foto: Sandra Schuck/Prinzregenttheater)

Auf der Flucht

Die Handlung des Stücks – also das, was Isa in der Freiheit erlebt – bleibt indes Erzählung. Wir erfahren, dass Isa die Scheibe eines Geschäfts einschlug, um an Essen zu kommen, dass sie sich pfiffig und im wahrsten Sinne des Wortes in die Büsche schlug, um nicht eingefangen zu werden, dass sie auf einen Fußballplatz pinkelte, plötzlich das Flutlicht anging, feixende Spieler vor ihr standen, und last not least, dass sie die Psychopillen, die sie heimlich unter der Zunge hielt und nicht herunterschluckte, aufbewahrt hat, weil sie sie manchmal wirklich braucht. Auch wenn der Kopf dann leer und löchrig wird wie ein Sieb.

Schiffer und Räuber

Voller Übermut ist sie auf ein Binnenschiff gesprungen, dessen Steuermann sich Kapitän nannte, obwohl er gar keine Uniform anhatte, der über ihren Besuch in keinster Weise erfreut war, sie an der nächsten Schleuse auf jeden Fall wieder aussetzen wollte. Dann jedoch ließ er sich ausführlich über „Verdränger“ und „Gleiter“ unter den Binnenschiffen aus und erzählte schließlich von einem Bankraub, dessen Täter mit einem „Verdränger“ flüchteten, welcher sank, was den einen der beiden das Leben kostete. Ist der Schiffer der zweite Räuber? Jedenfalls behauptete er es.

Die Welt ist verrückt

Mit einem Schweinelaster ist Isa mitgefahren, hat den Schweinen Wasser gegeben, währen der Fahrer Pinkelpause machte und ihren süßen Arsch lautstark bewunderte, ein toter Förster kreuzte ihren Weg, und überhaupt ist Isas Trip voll von Zumutungen, Ungeheuerlichkeiten und Abgründen, dabei oft banal und geheimnisvoll zugleich. Gewiss ist sie nicht verrückter als die Welt um sie herum, Wolfgang Herrndorfs furioses Roadmovie lässt da keine Zweifel.

Doch mag die Welt auch irre sein – auf der Bühne des Prinzregent-Theaters sind diese anderthalb Stunden mit der verdreifachten Hauptdarstellerin ein großes Vergnügen. Das Publikum zeigte sich erwartungsgemäß begeistert.

 




„Die Wupper“: Roberto Ciulli inszeniert und spielt Else Lasker-Schüler in Düsseldorf

v.l.n.r. Luce Hoeltzener, Roberto Ciulli, Manon Charrier. Foto: Sebastian Hpppe/Düsseldorfer Schauspielhaus/Theater an der Ruhr

Luce Hoeltzener (li.), Roberto Ciulli, Manon Charrier.
Foto: Sebastian Hoppe/Düsseldorfer Schauspielhaus/Theater an der Ruhr

Roberto Ciulli wohnt auf der Bühne. Wenn das Licht ausgeht, wird er sich irgendwo dort schlafen legen, stelle ich mir vor. Bestimmt trinkt er auch morgens hier seinen Espresso. Auf jeden Fall sitzt er schon da, wenn die Zuschauer bei der Premiere „Die Wupper“ den Zuschauerraum des Düsseldorfer Central betreten, der Ausweichspielstätte des renovierungsbedürftigen Schauspielhauses.

Zwei junge Mädchen sitzen zu seinen Füßen. Ciulli erzählt wie ein Märchenonkel aus dem Leben von Else Lasker-Schüler. Aus ihrem Schauspiel von 1909 haben Ciulli und sein Dramaturg Helmut Schäfer vom Theater an der Ruhr in Mülheim eine biographische Collage entwickelt, die jetzt in Koproduktion mit dem Düsseldorfer Schauspielhaus herauskam.

„Eine Performance“ heißt der Abend im Untertitel und er ist raffiniert gebaut. Denn wir hören das Stück als Hörspiel vom Band (Regie der Hörspielfassung: Jörg Schlüter) während die Schauspieler eine Art Pantomime dazu geben. Diese ist aber in vielen Szenen bewusst statisch gehalten, so als blickte man auf alte Familienfotos aus der Zeit um die Jahrhundertwende: Wie die Industriellenfamilie Sonntag beim Tee sitzt, im Stuhlkreis wie in einer Therapiegruppe. Einzelne Ausbrüche sind wohlkalkuliert eingesetzt, zum Beispiel die Kopulation im Kontor, die der Zuschauer aber nur als orgiastisches Gebrüll von Dr. von Simon (Peter Kapusta) wahrnehmen kann: Die berühmte Szene aus dem Film „Harry&Sally“, nur mit umgekehrten Vorzeichen, lässt grüßen.

Nur die drei Narren des Stücks, der Pendelfrederech (Steffen Reuber), die Lange Anna (Klaus Herzog) und der gläserne Amadeus (Simone Thoma), also Exhibitionisten, Transvestiten und Krüppel dürfen sein, wie sie wollen: Irre lachen, Unsinn reden, auf dem Vogelkäfig Geige spielen. Wie ein Chor kommentieren sie das Geschehen in der Fabrikanten-Familie. Heinrich (Achim Buch/Thiemo Schwarz), der Älteste, kann die Finger nicht von kleinen Mädchen lassen – das treibt ihn später in den Selbstmord. Eduard (Albert Bork) hat Tuberkulose, seine Schwester Marta (Katrin Hauptmann) liebt den Arbeitersohn Carl mit Hang zur Theologie (Fabio Menéndez), heiratet aber den Geschäftsführer der Fabrik, der eigentlich hinter dem Dienstmädchen Berta (Bettina Kerl) her ist. Das wird von Madame Sonntag (Rosemarie Brücher) verprügelt, die so den Frust über missratene Söhne und die nichtsnutzige Tochter abreagiert. Und währenddessen hört man das melodische Klappern der Webstühle wie fernes Grillenzirpen.

Foto: Sebastian Hoppe/Düsseldorfer Schauspielhaus/Theater an der Ruhr

Foto: Sebastian Hoppe/Düsseldorfer Schauspielhaus/Theater an der Ruhr

Roberto Ciulli spaziert indes als Else Lasker-Schüler (ELS) im Glitzer-Abendkleid mit Hütchen und altmodischem Kinderwagen durch die Szenerie. ELS erinnert das Schicksal der Familie Sonntag wie ihre eigene Kindheit in Wuppertal; denn hier wuchs die Bankierstochter auf, hier beobachtete sie Bürger und Proleten. Vor dem Faschismus floh die Lyrikerin in die Schweiz, dann nach Israel. Ihre Bücher wurden in Nazi-Deutschland verbrannt, sie starb verarmt am Ende des Krieges in Jerusalem. Ciulli flötet und zwitschert, spricht mit den Vögeln und streut Körner für sie auf die Bühne. In ihren letzten Jahren soll die Dichterin auf der Straße in Phantasiesprachen geredet haben, darauf spielt die Szene an.

Überhaupt ist die Inszenierung sehr poetisch; sie setzt Längen gezielt ein, verlangsamt manches Mal den Rhythmus, um Emotionen, Sehnsucht, aber auch Schmerz schweben und wirken zu lassen. Das hält nicht jeder Zuschauer aus; in unserer kommunikationsbeschleunigten Zeit ist man diese Art dramatische Achtsamkeit kaum mehr gewohnt. Zugleich lässt sich der unverwechselbare Stil des Theaters an der Ruhr, der immer avantgardistische Sprengkraft besaß und leider von zahlreichen Moden überholt wurde, hier nochmals erleben. Fast ein Anachronismus, aber ein sehr charmanter.

Weitere Vorstellungen 29. Februar, 2. März und 20. März (jeweils 19.30 Uhr). Infos:
www.duesseldorfer-schauspielhaus.de