Wenn die Dinge immer schlechter werden: „Die Verkrempelung der Welt“

Der Titel dieses silbrig glitzernden Buches aus der ehrwürdigen edition suhrkamp ist ein Coup. Hätte der Band „Kritik der überflüssigen Dinge“ oder ähnlich betulich geheißen, hätte wohl kaum ein Hahn danach gekräht. So aber nennt er sich „Die Verkrempelung der Welt“. Da horcht man auf, da will man Näheres wissen.

Nicht alle Befunde des Autors Gabriel Yoran (umtriebiger, mehrfacher Startup-Gründer mit eher „links“ anmutendem geistigen Rüstzeug) sind brandneu, aber schon der Einstieg ist hübsch: Er dreht sich um einstmals bewährte Dinge wie Herdknebel (früher übliche Bedienknöpfe) und konventionell sinnreiche Duschschläuche. Heute muss oft für einfachste Verrichtungen ein komplizierter Touchscreen mit allerlei irrwitzig verzweigten Optionen herhalten.

Erstes Zwischenfazit: Um noch mehr Gewinn zu generieren, nehmen Konzerne ihren jeweils neuesten Produkten gute und vernünftige Eigenschaften weg, um diese hernach als Premium-Features deutlich zu teurer zu verkaufen. Anders gesagt: Statt vormals guter oder wenigstens passabler Sachen erhalten wir vielfach „Krempel“; es sei denn, wir bezahlen enorme Aufpreise.

Die früher prägende „Fortschritts-Erzählung“ des Immer-besser-Werdens, so Yoran weiter, sei kurzatmig geworden, überhaupt sei der bis dahin im Westen recht unerschütterliche Fortschrittsglaube mit dem 11. September 2001 (für Jüngere: Terroranschlag aufs World Trade Center) kollabiert. In diesem Zeitklima falle es gar nicht mehr so sehr auf, wenn Produkte sich permanent verschlechtern. Sollten wir uns etwa an all den Krempel gewöhnt haben?

In der verqueren kapitalistischen „Logik“ liegen zudem immer kürzere Verfallszeiten der Produkte. Früher hielten bessere Waschmaschinen 30 Jahre lang, heute sind es allenfalls 10 Jahre. Dieser mäßige Wert reicht inzwischen schon als erfülltes Kriterium fürs Warentest-Urteil „Sehr gut“. Nachhaltiges Wirtschaften sähe wahrlich anders aus. Als Gegenbeispiel wird das legendäre DDR-Handrührgerät RG 28 aus Suhl aufgeführt, das über Jahrzehnte hinweg unverändert zuverlässig blieb. Tempi passati.

Das Buch scheint nun den anfangs gesponnenen Faden etwas zu verlieren, es gerät mehr und mehr zum Grundkurs in Warenkunde, ohne die wir Konsumenten ziemlich aufgeschmissen seien. Vom kostspieligen und in rechtsextremen Ruch geratenen Sonderweg von Manufactum ist die Rede. Ein solcher Satz lockt ein Grinsen hervor: „Die Manufactum-Katalogprosa wimmelt nur so vor letzten sorbischen Muhmen, die dank des Versandhändlers wieder Bierdeckel handfilzen.“ Inzwischen ist die Edel-Klitsche an Otto verkauft worden – und der Manufactum-Gründer hat Zeit genug, höchst zweifelhafte Bücher auf den Markt zu werfen.

Der geschichtliche Rückgriff führt bis zum Deutschen Werkbund, in dem auch Künstler eine „Moral der Dinge“ etablieren wollten, und zu den Ursprüngen des zunehmend autoritären Funktionalismus, der sich in Gestalt von Adolf Loos zum Lehrsatz verstieg, jedes Ornament sei ein Verbrechen. In der Gegenwart wird die krempelhafte, unnötig Aufmerksamkeit fressende Computer- und Online-Kommunikation gegeißelt.

Schließlich verbeißt sich der Autor geradezu in ein Thema, das ihm wohl speziell am Herzen liegt: die Entwicklung der Kaffee-Zubereitung im Spannungsfeld zwischen Vollautomaten und Siebträger-Maschinen. Auch aus persönlichen Gründen fand ich ein Kapitel interessant, das davon handelt, welche Dinge in anderen Ländern womöglich besser sind als bei uns. Ein Beispiel: Türen und Fenster in Dänemark, die sich nach außen hin öffnen. Warum haben wir nicht die Wahl?

Eine aufs große Ganze zielende Schlussfolgerung steht in den letzten Sätzen, die bedeutsam, ja beinahe gravitätisch ausschwingen, als hätte ein Adorno das Wort:

„Wir werden nicht herumkommen um die gemeinsame Suche nach dem guten Leben miteinander, nach den legitimen Bedürfnissen.

Noch die progressivste Warenkunde wäre nur der Schein der Laterne – der Schlüssel liegt anderswo. Es ist nur sehr unbequem, dort zu suchen“. 

Gabriel Yoran: „Die Verkrempelung der Welt. Zum Stand der Dinge (des Alltags)“. edition suhrkamp. 186 Seiten, 22 Euro.

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P. S.: Im werblichen Anhang des vorliegenden Bandes habe ich eine unverhoffte Wiederentdeckung gemacht. Dort wird eine Fortschreibung von Wolfgang Fritz Haugs „Kritik der Warenästhetik“ (1971) angepriesen, die wir zu Studentenzeiten in den 1970er Jahren zustimmend goutiert haben. Angefügt sind neue Erkenntnisse zur „Warenästhetik im High-Tech-Kapitalismus“. Das Buch erscheint für 19 Euro als Print on demand-Ausgabe. So ändern sich die Zeiten.




Peppa Pig, die KI und der Rest

Familienaufstellung der kunterbunten Schweinchenfamilie, wie sie von der Firma Simba Toys hergestellt wird (von links): Mama Pig, Peppa Pig, George, Papa Pig. Mittlerweile ist noch das Baby Evie hinzu gekommen. (Foto: Bernd Berke)

Alle Welt schreibt und/oder podcastet über Künstliche Intelligenz (KI, anglophon bekanntlich AI abgekürzt). Jetzt hatte ich auch so ein kleines, aber bezeichnendes Erlebnis damit. Wie auf diesem Felde üblich, war es gleichermaßen faszinierend und erschreckend.

Es ging mir darum, eine bestimmte Szene (fröhliches Mädchen auf der Waage bei der Kinderärztin) mit dem berühmten Comic-Schweinchen Peppa Pig („Peppa Wutz“) darzustellen. Meines Wissens existierte eine solche Szene im Peppa-Kosmos noch nicht. Also habe ich mal bei ChatGPT angefragt, ob sich da was machen ließe…

Frau Mümmel als Kinderärztin

Und siehe da: Die wohl bekannteste aller KI-Apps ließ sich nicht lange lumpen. Zwar bat sie um ein paar Minuten „Bedenkzeit“, weil es gerade eben so viele Bildanfragen gebe. Doch nach ca. 3 Minuten hatte sie es und legte eine Zeichnung vor, die man kaum oder gar nicht von anderen, originalen Peppa-Kreationen unterscheiden konnte. Tatsächlich stand Peppa frohgemut auf der Waage – und neben ihr die zünftig mit Stethoskop und anderen Insignien ausgerüstete Kinderärztin, verkörpert von „Frau Mümmel“, der stets in mancherlei Rollen schlüpfenden Häsin.

Was würde Boris Johnson sagen?

Selbstverständlich werde ich das erstaunliche Resultat hier nicht ausbreiten, denn ich möchte – anders als offenbar die KI-Betreiber – partout nicht mit dem bislang üblichen Urheberrecht in Konflikt geraten. Täuschend ähnlich das Personal, täuschend ähnlich (oder vielmehr: frappierend gleich) der Stil. Selbst für kleine und große Fachleute absolut verwechselbar. Keine nennenswerte Distanz oder eigene „Schöpfungshöhe“, wie die Juristen sagen. Was wohl der erklärte Peppa-Fan Boris Johnson, Ex-Premierminister von Großbritannien, dazu sagen würde? Vermutlich ließe sich der Politclown etwas immens Schnoddriges, halbwegs Witziges einfallen. Doch was hülfe es?

Urheberrecht? Muhahaha!

In ähnlicher Weise, wenn auch jeweils mit etwas anderem Drall, hätte sich die besagte Szene nach Art anderer Figuren nachbilden lassen, beispielsweise mit Loriotschen Knollennasenmenschen, nach Asterix-Art, nach „Peanuts“-Vorbild oder im Stile eines US-Undergroundzeichners wie Robert Crumb oder Gilbert Shelton. In allen Fällen wären Urheberrechte eklatant verletzt worden.

Es scheint so, als hätte sich schon der bloße Gedanke des Urheberrechts weitgehend erledigt; ganz gleich, ob Text, Bild oder Video betreffend. Wie will man das jemals wieder einfangen und zurückholen? Überdies ist vermutlich auch die einstmals bedeutsame Unterscheidung zwischen echt und unecht, zwischen wahr und falsch obsolet. Längst schon eine Binse, ich weiß. Aber wenn jetzt schon die niedlichen Schweinchen gefälscht werden…




Fünfmal glimpflich ausgegangen – und jetzt?

Aus der allzeit beliebten Reihe „Bebilderte Redensarten“: nur nicht gleich „auf die Palme bringen“ lassen, vieles erledigt sich wie von selbst. (Foto: Bernd Berke)

Seltsam: In den letzten Tagen hat sich manches „in Wohlgefallen aufgelöst“, wie man einst zu sagen pflegte. Dies und jenes ist glimpflich ausgegangen, keine Befürchtung hat sich bewahrheitet. Sollte es sich um eine Glückssträhne handeln? Oder soll man sich in Sicherheit wiegen, während hinter all den Kleinigkeiten insgeheim etwas weitaus Größeres lauert? Auch kommt einem vielleicht Goethes berühmtes Diktum in den Sinn, nichts sei schwerer zu ertragen, als eine Reihe von guten Tagen.

Doch der Reihe nach: Auf einer ohnehin schon elend langen Autofahrt (ca. 1300 km) drohte ganz am Schluss noch eine Straßensperrung in Richtung Dortmund, die weitere Verzögerung bedeutet hätte. Überall war sie bedrohlich ausgeschildert. Dennoch der kühne Entschluss, nicht die empfohlene Umleitung zu nehmen (wie es Tausende taten), sondern auf der angeblich im weiteren Verlauf gesperrten Strecke zu bleiben. Und siehe da: Die Sperrung existierte gar nicht. Offenbar hatten sie nur versäumt, die Warnschilder abzubauen. Ha!

Sodann funktionierte die Übertragung der Navigation via CarPlay plötzlich nicht mehr. Nur noch dürre Ansagen mit teilweise fürchterlicher Aussprache, jedoch keine Kartenanzeige mehr. Viele Versuche, aber nichts zu machen. Anderntags die unscheinbare, aber rettende Idee: nur einmal kurz die Enden der Kabelverbindung durchpusten. Ffffft! Ffffft! Und schon ging alles wie gewohnt. Offenbar hatte es an ein paar Staubkörnchen oder einer winzigen „Wollmaus“ gelegen.

Drittens: Für auch nicht gerade geringfügige 96,52 Euro in südfranzösischer Gottseinsamkeit getankt, an einer unbemannten („unbemenschten“) Zapfsäule. Auf dem Kontoauszug wurden jedoch anschließend saftige 200 Euro Abbuchung angekündigt. Ein gewisser Schock. Sollte etwa Kriminelle Zugriff gehabt haben? Zuerst ließ es sich gar nicht zuordnen, auf den Tankvorgang musste man erst einmal kommen. Was mir zuvor nicht bekannt war: Beim vollautomatischen Tanken werden zunächst oft Quasi-Beträge aufgerufen, die hernach – bei der wirklichen Abbuchung – nach unten korrigiert werden. So war es dann auch in diesem Falle. Alles korrekt. Also abermals „davongekommen“.

Fehleranzeige der Waschmaschine: Auch hier trog der Schein. (Foto: BB)

Auch nach der Rückkehr aus Frankreich hörte es noch nicht auf: Angesichts der aufgetürmten Urlaubswäsche streikte die Waschmaschine, zeigte die kryptische Fehlermeldung „F9″ und dazu einen rot leuchtenden Schraubenschlüssel, als müssten nun ganze Kohorten von Handwerkern anrücken. Auch hier verliefest freilich harmlos. Es musste lediglich ein Flusensieb gereinigt werden – und schon war wieder alles in Ordnung.

Habe ich noch etwas vergessen? Richtig, eine Petitesse: Habe nach längerer Abstinenz versucht, mich zur Entspannung bei einem Streamingdienst einzuloggen. Nix ging. Zwecklos. Später zeigte sich: Der Druck auf eine einzige Fernbedienungstaste beseitigte das Malheur.

Gibt es etwas zu lernen? Vielleicht von Anfang an gelassener an die Dinge heranzugehen und nicht gleich in panische Zustände zu verfallen? Aber nicht, dass wir hier noch in einen Psycho-Jargon abrutschen oder die üblichen Ratgeber-Formeln der „Lebenshilfe“ nachstottern! Drum Schluss jetzt.




„Panik wäre angebrachter“ – Essays und Reden von Daniel Kehlmann

Im Juli 2024 hält Daniel Kehlmann im Berliner Bundeskanzleramt bei einem Kultur-Festakt eine Rede, mit der er den Zuhörern gründlich die gute Laune verdirbt. Denn statt die Kunst zu rühmen und ihr in der Ära der digitalen Moderne eine glorreiche Zukunft zu prophezeien, hält er eine Totenmesse und warnt vor den Gefahren der Künstlichen Intelligenz, die nicht nur die kreativen Berufe, sondern die ganze Demokratie bedrohe.

Da kommt etwas „auf uns zu, für das wir keinen angemessenen Instinkt haben“, das „nicht wirklich unser Gemüt erfasst“. Wir müssten aber endlich begreifen, dass die KI mit ihren Datenbanken und Algorithmen uns nicht nur Arbeit abnimmt, sondern auch unser Bewusstsein beherrscht und unsere Bedürfnisse ausbeutet, politische Meinungen herstellen, Gesellschaften zerstören und einen neuen Kunstbegriff begründen kann: „Panik wäre angebrachter als die entspannte Ruhe, mit der wir dem Tsunami entgegenblicken, der sich bereits am Horizont abzeichnet.“

Enzyklopädisch gebildeter Intellektueller

Der 1975 in München geborene, in Wien aufgewachsene und inzwischen in Berlin und New York lebende Daniel Kehlmann gilt als bedeutende Stimme der zeitgenössischen Literatur. In seinen Romanen („Die Vermessung der Welt“, „Tyll“, „Lichtspiel“), verwebt er Fakten und Fiktionen, Realität und Fantasie zu einem literarischen Teppich und schwebt durch Zeit und Raum. Kehlmann gehört zur seltenen Spezies des enzyklopädisch gebildeten Intellektuellen, der das Wissen der Welt speichert, sich für politische und wirtschaftliche Entwicklungen genauso interessiert wie für literarische Debatten, für historische Fundstücke und die Abgründe der digitalen Kapitalismus. In einem Band mit Essays und Reden gibt er darüber Auskunft. Den Titel hat er sich bei Friedrich Schiller ausgeliehen, der seinen zu Tode erschöpften Feldherrn Wallenstein sagen lässt: „Sorgt, dass sie nicht zu zeitig mich erwecken“: Schreibt nicht zu bald über mich, lasst ein wenig Zeit vergehen, Abstand ist nötig, damit der erfinderische Autor sein Werk beginnen kann.

Die Wahrheit kennen und die Verblendung wählen

Die nötige Distanz und das richtige Maß finden will auch Kehlmann, wenn er Donald Trump als „Monster“ beschreibt, das mit einem Knopfruck den Atomkrieg auslösen und das Ende der Welt heraufbeschwören kann. Den Film „Happy End“ (Michael Haneke) sieht er als „prophetisches Werk über uns, die wir die Wahrheit kennen und die Verblendung wählen“, indem wir den Planeten mit unserer Misswirtschaft zugrunde richten, es uns aber noch „gut in unseren schönen Häusern“ gehen lassen und fröhlich feiern, „auch wenn die Ausgebeuteten bereits bei unserem Fest auftauchen“ und „der Meeresspiegel unterdessen immerzu steigt.“

„Menschen helfen, die Hilfe brauchen“

Über Salman Rushdie, der trotz aller Anfeindungen nie den Mut verliert und für seine irrlichternden Romane längst den Literaturnobelpreis verdient hätte, spricht Keilmann ebenfalls. Und über seinen Vater, der sich mit gefälschten Dokumenten vom Juden zum Halbjuden wandelte, dann aber doch von den Nazis verhaftet und in ein KZ gesperrt wurde, nur durch Zufall wieder frei kam und überlebte. „Niemals vergessen!“ bedeutet für ihn: „Menschen helfen, die Hilfe brauchen, auch wenn sie eine andere Religion haben, eine andere Kultur, andere Sprache, andere Hautfarbe, und zwar im Angedenken an die Vertriebenen und die Toten unseres eigenen Landes vor noch nicht langer Zeit.“

Daniel Kehlmann: „Sorgt, dass sie nicht zu zeitig mich erwecken.“ Essays und Reden. Rowohlt Verlag, 306 Seiten, 25 Euro.

 

 




Die vielen Lügen entlarven – Europas Faktencheck-Teams schließen sich zusammen

Seit 23. Februar online: Screenshot der neuen GADMO-Faktencheck-Homepage.

Eigentlich zutiefst betrüblich, dass so etwas nötig ist, aber: Faktenchecks werden in diesen Zeiten dringend gebraucht. Spätestens seit Corona ist es bekannt, erst recht seit Russlands Kriegsüberfall auf die Ukraine.

Es sind viel zu viele Lügen und Fälschungen auf dem medialen Markt und in den „sozialen Netzwerken“ unterwegs, die nicht so ohne weiteres entlarvt werden können, sondern nach journalistischer und sonstiger Expertise sowie hartnäckiger Recherche verlangen. Nun gibt es einen professionellen Zusammenschluss auf europäischer Ebene, der sich genau dies zur Aufgabe gemacht hat. Gegenwärtig sind in diesem Rahmen rund 100 spezialisierte Journalistinnen und Journalisten vorzugsweise in Sachen Faktenchecks tätig. Das Projekt, das wissenschaftlich begleitet („evaluiert“) werden soll, wurde jetzt auf einer von der Dortmunder Uni (TU) eingerichteten Online-Pressekonferenz vorgestellt.

Zertifizierung nach strengen Regeln

Beteiligt sind im deutschsprachigen Raum (ohne Schweiz) die Deutsche Presseagentur (dpa), deren österreichisches Pendant APA, das in Essen angesiedelte Recherche-Netzwerk Correctiv, das Institut für Journalistik sowie Statistiker der TU Dortmund und – als Verbindungsglied zu Europa – die französische Nachrichtenagentur Agence France Presse (AFP). Auch IT-Fachleute sind mit an Bord. Der deutsch-österreichische Zweig des kontinentalen Projekts nennt sich abgekürzt GADMO (German-Austrian Digital Media Observatory), informiert über eine nagelneue Homepage (gadmo.eu) und geht mit je eigenen Ressourcen, aber auch namhaften EU-Mitteln an den Start. Alle Beteiligten sind nach den strengen Faktencheck-Kriterien des IFCN zertifiziert.

Über 14 sogenannte Hubs (Knotenpunkte) werden sämtliche EU-Mitgliedsländer einbezogen, sogar (man muss es leider eigens betonen) Ungarn, wo gesteigerter Bedarf wahrlich gegeben ist. Als Nicht-EU-Länder bleiben Großbritannien und die Schweiz allerdings außen vor. Man kann nur hoffen, dass sie auf andere Weise Anschluss finden und sich zu helfen wissen.

Angesichts der vielen Beteiligten kann es passieren, dass dieselben Themen mitunter mehrfach untersucht werden. Kein Problem, wie es heißt. Vielleicht erhellt die Betrachtung aus verschiedenen Perspektiven die Dinge sogar noch gründlicher. Und falls dabei Widersprüche auftauchen? Das wird sich finden.

Unterwegs zu einem „Frühwarnsystem“

Da Fakes und Desinformationen dermaßen weit verbreitet sind, ist es nicht mit einzelnen Überprüfungen getan. Ein mittelfristiges Ziel ist es, wiederkehrende Muster falscher Faktenbehauptungen zu sammeln und auf dieser Basis künftig möglichst im Voraus zu erkennen. So ließe sich eine Art „Frühwarnsystem“ errichten, etwa im Vorfeld von Wahlen. Auch Künstliche Intelligenz (KI) soll dabei helfen – ein Mittel, das freilich auch von den Gegenseiten genutzt werden dürfte. Es ist ein Informations-„Krieg“, in dem beide Lager nach Kräften aufrüsten. Und gewiss sind die Probleme nicht auf Europa beschränkt, sondern globaler Art.

Die folgende Erkenntnis gehört zu den gar häufig zitierten Standards, die man kaum noch hören mag, aber es stimmt ja immer wieder: Das erste Kriegsopfer ist die Wahrheit. Also haben die in GADMO zusammengeschlossenen Faktencheck-Teams derzeit vor allem mit Russland und der Ukraine zu schaffen. Da wurden und werden etwa Fotos aus dem Zusammenhang gerissen und/oder neu montiert, so dass sich deren Aussagen grundlegend ändern. Auf einmal werden beispielsweise irgendwo stationierte Panzer zu finnischen Gerätschaften umdeklariert, die vermeintlich Russland bedrohen. Wer so etwas glaubt, könnte schrecklich falsche Konsequenzen ziehen.

Zwischen Wolfsrudeln und Schokoladensorten

Ein weiterer Evergreen lautet ungefähr so: „Glaube keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast.“ Auch das rührt an ein dauerhaftes Problem: Häufig werden obskure Studien und Zahlenkolonnen angeführt, die nur mit viel Aufwand zu widerlegen oder wenigstens einigermaßen zu klären sind. Es gibt so viele Unwahrheiten, aber letztlich nur eine Wahrheit – wenn sie sich denn überhaupt dingfest machen lässt. Manchmal scheint es, als sei es ein Kampf gegen Windmühlenflügel. Aber aufgeben wäre fatal. Schließlich zielen zahllose Fakes auf die Substanz demokratischer Gesellschaften.

Wie ein kurzer Probelauf über die neue Homepage zeigt, geht man auch etwas harmloseren Gerüchten über bedrohliche Wolfsrudel (angeblich in Österreich, in Wahrheit in Kanada) nach oder recherchiert der eher absurden Behauptung hinterher, demnächst werde es die „Ritter Sport“-Schokolade auch in der Geschmacksrichtung „Ganze Grille“ geben – im Zuge der EU-Erlaubnis, bestimmte Insekten als Nahrungsmittel zuzulassen. Stimmt natürlich nicht. Aber auch das will erst einmal bewiesen werden; wobei andere Handlungsfelder ungleich wichtiger sind.

Hilfestellungen zur Medienkompetenz

Auf der besagten Homepage sollen Monat für Monat etwa 100 Faktenchecks hinzukommen. Auf diese Weise soll und dürfte sich auch das komplett durchsuchbare Archiv rasch füllen. Beim „Durchblättern“ (vulgo: Scrollen) wird man sich wohl für allerlei Falschmeldungen sensibilisieren können. Auf der Homepage finden sich Kontaktwege für alle User, über die Fachwelt hinaus – via WhatsApp. Apropos Breitenwirkung: Weitere Aufgabe der Faktenchecker sind Angebote zur Steigerung der „Medienkompetenz“, sprich: Wir alle sollen besser gegen Lug und Trug gewappnet werden und im Idealfalle irgendwann selbst in der Lage sein, Falschnachrichten gleichsam zu „wittern“. Dazu wird es hin und wieder spezielle Workshops geben. Wie wär’s außerdem mit gezielten Aktionen an den Schulen?

Ein österreichischer Fachpublizist („Ich habe 15 Bücher veröffentlicht“) gab in der Pressekonferenz zu bedenken, dass man strikt unterscheiden müssen zwischen der Überprüfung von Fakten und von Meinungen. Manchmal sei das kaum zu trennen. Die online anwesenden Faktencheck-Leute wiesen etwaige Meinungs-Kontrollen weit von sich. Überdies gebe es jederzeit Beschwerde-Möglichkeiten. Zur guten Recherche gehöre es außerdem, eigene Fehler öffentlich zu machen.

Übrigens: Wie einigen Statements nebenher zu entnehmen war, kooperieren die Faktencheck-Teams punktuell auch mit machtvollen Online-Akteuren wie Google und Meta (Facebook). Diese Verbindungen sollten unbedingt aufrecht erhalten werden – ohne die eigene Unabhängigkeit und Transparenz auch nur im Mindesten einzuschränken.

Deutschsprachige Homepage: gadmo.eu
Europaweites Projekt: edmo.eu

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Hier noch einige Namen aus der Leitungs- und Organisations-Ebene des Projekts:

  • Stephan Mündges, Institut für Journalistik, TU Dortmund,
    GADMO-Koordinator
  • Prof. Christina Elmer, GADMO-Koordinatorin, Institut für Journalistik der TU Dortmund
  • Uschi Jonas, Team-Leiterin CORRECTIV.Faktencheck und Florian Löffler, Projektleiter EFCSN & GADMO bei CORRECTIV
  • Teresa Dapp, Leiterin der Faktencheck-Redaktion der dpa, Tobias Schormann, Faktencheck-Koordinator für Ausschreibungen & Projekte der dpa, und Kian Badrnejad, Faktencheck-Redakteur der dpa
  • Christian Kneil, Head of Content Business und Mitglied der APA-Chefredaktion, und Florian Schmidt, Verification Officer und Leiter von APA-Faktencheck
  • Yacine Le Forestier, AFP, stellvertretender Direktor für Europa, und Isabelle Wirth, Projektleiterin GADMO bei der AFP.



Gehört meine Stimme wirklich noch mir?

Ist da noch jemand, der zurück möchte in die gute alte Zeit der Stimmübermittlung, vulgo des Telefonierens? (Aufnahme von 2019 aus London: Bernd Berke)

Jetzt wird’s intim. Oder wenigstens persönlich: Mit meiner Stimme habe ich eigentlich keine weiteren Probleme. Hie und da ereilten mich gar aus der holden Damenwelt vereinzelte Komplimente ob des sonoren Timbres. Oder so ähnlich. *Räusper, hüstel*.

Hätte ich also zum Hörfunk gehen sollen? Nein. Da reden sie ganz anders drauflos, wie ich es nicht vermag. Lieber äußere ich mich schriftlich. Deshalb musste es halt etwas Gedrucktes oder „irgendwas mit sichtbaren Buchstaben“ sein. Zeitung. Buch. Oder eben Blog. Ohne sonstiges Gedöns.

Wozu die weitschweifige Vorrede? Ich hatte dieser Tage ein befremdlich-gespenstisches Erlebnis, das mit meiner Stimme zu tun hat. Zwischen verwickelten Verhandlungen mit mehreren Telekom-Hotline-Mitarbeitern (drei Männer, da gibt’s nix zu gendern) wurde mir von einem Chatbot die Möglichkeit (um nicht zu sagen: die Okkasion) angeboten, mich künftig mit meiner bloßen Stimme zu identifizieren. Dann, so hieß es salbungs- und verheißungsvoll, bräuchte ich nicht mehr meine Kundennummer und derlei Kram bereitzuhalten, sondern müsste einfach nur ein paar Worte sprechen. Zu diesem Behufe möge ich, um das Ganze anzustoßen, dreimal den vorgegebenen, nicht allzu magischen Testsatz sprechen, der da ungefähr lautete: „Bei der Telekom ist meine Stimme mein Passwort.“ Was tut man nicht alles, wenn man seine Ruhe haben will? Also nach dem Piepton gesprochen, getreulich Wort für Wort. Und noch einmal. Und ein letztes Mal. Gut dressiert. Danach haben „sie“ mich tatsächlich schon an der Stimme erkannt, als wären wir seit Jahrzehnten befreundet. Auch musste ich nicht mehr den grenzdebilen Testsatz sprechen, sondern durfte herumtexten, wie mir der Schnabel gewachsen ist. Nein, ich habe keine Juxsätze oder Obszönitäten ausprobiert.

Als ich die schiere Tatsache der Stimmprobe im bekannten Netzwerk gepostet habe, wurde klar, dass sich die Sache noch nicht so herumgesprochen hat; nicht einmal bei manchen Internet-Freaks. Deswegen noch einmal diese Zeilen hier. Wenn man weiß, wie die rigiden deutschen Datenschutzbestimmungen so manche Innovation verhindern, wundert man sich, dass diese Entwicklung überhaupt möglich gewesen ist. Aber sei’s drum. Mir fiel jedenfalls ein, dass mit dieser Neuerung das Zeitalter der anonymen Anrufe sich wohl dem Ende zuneigt. Ob nun in Echtzeit oder im Nachhinein, kann bald jeder Anruf stimmlich und namentlich zugeordnet werden, sofern ein Muster vorliegt (daran wird’s nicht lange mangeln).

Welch eine – behördlicherseits wohl willkommene – Ergänzung zur personengenauen Bilderkennung! Bald verlieren Krimis dieser altbackenen Art endgültig jeden Sinn, in denen ein sinistrer Herr anonym anruft und mit hinterhältiger Stimme knödelt: „Hier ist einer, der es gut mit Ihnen meint…“




Impressionismus und Fotografie – zwei Wege in die Moderne

Fotografie im Geiste des Impressionismus – Peter Henry Emerson: „Seerosenpflücken“, 1886 (Platindruck, 19,5 x 29 cm). Staatsgalerie Stuttgart, Graphische Sammlung, erworben 1989, Sammlung Rolf Mayer. (© Foto: bpk / Staatsgalerie Stuttgart / Peter Henry Emerson)

Es gab nicht viele deutsche Museen, die impressionistische Kunst lange vor dem Ersten Weltkrieg gesammelt haben, als sie noch nicht kanonisiert war. In Berlin, Hamburg, München und Bremen waren sie immerhin frühzeitig dabei – und wohlgemerkt in Wuppertal, wo das örtliche Kunsthaus vor 120 Jahren (genau: am 25. Oktober 1902) bürgerschaftlich gegründet wurde.

Mit dem Pfund der frühen Ankäufe (u. a. Werke von Sisley, Signac, Cézanne, Monet) lässt sich noch heute wuchern, und so bestreitet man jetzt abermals überwiegend aus Eigenbesitz eine Ausstellung zum Themenkreis. Es geht um Beziehungen zwischen impressionistischer Malerei und der seinerzeit noch jungen, anno 1839 erfundenen Fotografie, die sich erst nach und nach als neue Kunstform etablierte. Auch der Impressionismus wurde noch längst nicht allseits goutiert, bedeutete er doch damals ebenfalls eine grundlegende Erneuerung der bildenden Kunst.

Es waren zwei Wege in die Moderne: Die Fotografie war auf mehrfache Weise mit der Malerei verwoben. Sie fungierte als Anregung und belebender Einfluss, erwies sich zudem als taugliches Hilfsmittel zur Erfassung der Realität, doch auch als konkurrierendes Medium. Paul Cézanne postulierte gar, der Maler solle sein wie eine fotografische Platte – getreulich die Wirklichkeit wahrnehmend und wiedergebend. Andererseits galt die Fotografie in ihren ersten Jahrzehnten als mindere Kunst, die zunächst nicht gemeinsam mit Malerei ausgestellt wurde. Erst 1861 drang sie in den Pariser Salon vor, freilich noch mit separatem Eingang.

Die Wuppertaler Schau „Eine neue Kunst. Fotografie und Impressionismus“ setzt mit vorimpressionistischen Bildern von Camille Corot und Gustave Courbet (jeweils um 1870) ein, die mit einer wuchtigen Original-Plattenkamera aus jener Zeit konfrontiert werden. Es sollen also – auch im weiteren Rundgang – möglichst direkte „Dialoge“ zwischen den Künsten gestiftet werden. Die Fotografie der Pionierzeit ist vor allem mit herausragenden Beispielen aus dem Besitz des Münchner Stadtmuseums vertreten. Ulrich Pohlmann, Leiter der dortigen fotografischen Sammlung, steht als Gastkurator der Wuppertaler Kuratorin Anna Baumberger zur Seite. Weiterer Kooperationspartner ist das Museum Barberini in Potsdam.

Bemerkenswerter Befund: Anfangs waren die Maler, zumal nach Erfindung der Farbtube, mit bedeutend leichterem Gepäck unterwegs als die Fotografen, welche schwere Platten und gar Zelte mit sich führen mussten. Erst mit der Zeit gab sich das und die Fotografie ging schneller und bequemer vonstatten.

Claude Monet: „Blick auf das Meer“, 1888 (Leinwand, 65 x 82 cm). Von der Heydt-Museum, Wuppertal.

Die Wuppertaler Raumfolge greift verschiedene Aspekte zwischen Malerei und Fotografie auf. Da geht es eingangs um den Vergleich von Bildern „majestätischer Weite“ (Himmel und Meer), wobei etwa Wellen-Darstellungen von Gustave Le Gray (raffinierte Kombination mehrerer Negative) und Claude Monet („Blick auf das Meer“, 1888) aufeinander bezogen werden. Während die Fotografie für damalige Begriffe ungemein detailreich erscheint, tendiert der malerische Zugriff zur Auflösung der Formen; ganz so, als wolle er sich von der Fotografie nachdrücklich distanzieren und eigene Stärken ausspielen.

Ein anderer Raum konzentriert sich auf Bilder der rasant gewachsenen Metropole Paris im Zeichen der Haussmannschen Boulevards. Hier findet sich beispielsweise Paul Signacs Ansicht von Notre-Dame (1885) in der Nachbarschaft einer um 1860 verfertigten Fotografie von Edouard Baldus, die zahlreiche Passanten auf einer Seine-Brücke zeigt. Durch die damals erforderliche lange Belichtung wirken die vielen Menschen leicht verwischt, geradezu ein wenig geisterhaft. Dies war eine häufige Erscheinung auf damaligen Fotografien.

Auch die andere große Erfindung jener Zeit wirkt hinein: Als die Eisenbahn nach Fontainebleau fuhr, brachen Künstler zuhauf in die waldreiche Gegend auf. Der Sehnsuchtsort war endlich ohne große Mühen erreichbar. Hochinteressant sind jene Fotografien, die just Maler bei der Arbeit unter freiem Himmel zeigen, so etwa Henry Peach Robinsons ländliches Motiv „Der Maler“ (um 1890 bis 1901, zusammengesetzt aus vier bis fünf Negativen), das neben Camille Pissarros Gemälde „Bäuerin mit Kuh“ (1883) gesetzt, welches einer ganz ähnlichen Situation zu entstammen scheint.

Es entwickelten sich folglich die Frühformen der Landschaftsfotografie. Diese wiederum trägt Spuren der impressionistischen Bildauffassung, indem Spiegelungen und Reflexionen am Wasser zum Bildthema werden – unter Verzicht auf die technisch durchaus mögliche Bildschärfe. Herausragendes Beispiel ist Peter Henry Emersons Fotografie „Seerosenpflücken“ (1886), die motivisch auf Monet zurückgeht.

Frühe Farbfotografie („Autochrome“): Antonin Personnaz‘ Bild „Armand Guillaumin beim Malen von ,Badende bei Crozant'“, um 1907. Autochrome, Faksimile, 9 x 12 cm (© Societé française de photographie, Paris)

Ein weiteres Kapitel ist der Bewegung des „Piktorialismus“ gewidmet, dessen Vertreter eine eigene Ästhetik der Fotografie im Sinn hatten. Diese innovative Strömung war alsbald international vernetzt und war auch auf lukrative Vermarktung aus. Ein Merkmal war eben gezielt herbeigeführte, quasi-impressionistische Unschärfe, mit der sich auch die Grenzen zwischen den Kunstgattungen verwischten. Man vergleiche Seurats Kreidezeichnung „Waldrand“ (um 1883) mit Heinrich Kühns Fotografie „Pappeln am Bach“ (um 1900). Das Foto wirkt wie eine Zeichnung und umgekehrt.

Nebenher werden auch technische Besonderheiten wie die Stereo-Fotografie (Stereoskopien), die das dreidimensionale menschliche Sehen imitierte, oder auch Geheimkameras streift, die sozusagen durchs Knopfloch blicken konnten. Auch das Aufkommen des Rollfilms in den 1880er Jahren kommt – wie andere Vereinfachungen und Beschleunigungen des Metiers – in Betracht.

Schließlich geht es noch um die Anfänge der Farbfotografie, die eine nochmalige Annäherung an malerische Verfahren bedeutete. Die vormalige „mathematische“ Genauigkeit der Fotografie war vollends passé, gerade im Gefolge des Impressionismus war die Auflösung fester Strukturen zu beobachten. Staunenswert, wie die vermeintlich so verschiedenen und doch verwandten Künste einander voranbrachten.

„Eine neue Kunst. Fotografie und Impressionismus“. Bis 8. Januar 2023. Di-So 11-18, Do 11-20 Uhr, Mo geschlossen. Von der Heydt-Museum, Wuppertal, Turmhof 8. Eintritt: Erwachsene 12 Euro, ermäßigt 10 Euro. Katalog 34 Euro.

www.von-der-heydt-museum.de




Genie für jede Gelegenheit: Erfinder Daniel Düsentrieb wird 70 Jahre alt

Daniel Düsentrieb gewidmet: Titelseite des neuen Heftes „Micky Maus präsentiert“, Nr. 39. (@ 2022 Egmont Ehapa Media / Disney)

Als Gastautorin schreibt die 12-jährige Stella Berke über einen berühmten Einwohner von Entenhausen:

Der geniale Erfinder hilft den Mitbewohnern der kleinen Stadt oft beim Lösen ihrer Probleme: Daniel Düsentrieb selbst wurde 1952 erfunden und ist jetzt 70 Jahre alt.

Zum Beispiel ist er Phantomias, dem Superhelden Entenhausens, schon oft zur Hand gegangen. Daniel Düsentrieb hat einige neue, brauchbare Funktionen in den Wagen des Helden eingebaut, unter anderem einen Hebel zum Fliegen. Auch Daisy Duck käme ohne Düsentriebs Erfindungen nicht aus. Sie lässt ihn oft ihre Haushaltsgeräte verbessern. Sogar für den so geizigen Dagobert Duck erfindet er gerne. Leider zahlt dieser meistens nicht, allerdings bleibt das Genie treu und verlangt keinen Lohn.

Das Problem an seinem ständigen Erfindungsdrang ist, dass er meist an nichts anderes mehr denken kann. Zum Beispiel macht er in einer Geschichte zusammen mit Donald Duck Urlaub. Er versucht zwar, sich zu entspannen, allerdings erfindet er auch dort wieder etwas für die Touristen, während Donald nichts merkt.

Ohne seinen kleinen elektronischen Freund ,,Helferlein“ wäre Daniel Düsentrieb vermutlich nur halb so genial. Natürlich hat er Helferlein ebenfalls selbst erfunden – ein Gerüst aus Metall mit einer Glühbirne als Kopf. Oft hat die kleine Kreation hilfreiche Ideen oder räumt im Labor auf. Man muss regelmäßig seine Glühbirnen wechseln, sonst funktioniert er nicht.

In den neuen Heften kann man unter anderem nachlesen, wie Daniel Düsentrieb einst überhaupt nach Entenhausen kam und in sein Labor gezogen ist. Außerdem ist eine ganze Seite mit vielen Informationen über ihn enthalten.

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Neuerscheinungen, in denen Daniel Düsentrieb vorkommt:

Micky Maus 09/2022 (3,99 €), „Micky Maus präsentiert“ No. 39 (3,50 €) und „Lustiges Taschenbuch LTB 558 „Das Zeitportal“ (kommt am 26. April heraus, 7,99 €)

Einen Erfinde-Wettbewerb gibt’s auch. Bis zum 15. Juni können Ideen an erfinder@micky-maus.de geschickt werden.




Künstliche Intelligenz gibt es nicht – Ausstellung im Dortmunder „U“ geißelt grenzenlose Computergläubigkeit

Wenn Biometrie die Menschen bewertet, kann auch Unsinn dabei herauskommen. „Decisive Mirror“ von Sebastian Schmieg, 2019 (Bild: Franz Warnhof/HMKV)

Die „Künstliche Intelligenz“, abgekürzt KI, über die Computer neuester Bauart angeblich verfügen sollen, gibt es nicht. Der Begriff ist schlicht falsch. Computer sind genauso intelligent wie, sagen wir mal, ein Gurkenhobel.

Eigentlich haben wir das ja immer gewußt, obwohl die elektronische Datenverarbeitung, bleiben wir für einen Moment bei diesem altehrwürdigen Begriff, heute in Gestalt attraktiver junger Damen wie Alexa daherkommt, die uns richtig gut zu kennen scheinen und ohne bösen Hintersinn bemüht sind, uns jeden Wunsch zu erfüllen. Da kann man natürlich schon ins Grübeln kommen, ob nicht vielleicht doch mehr dahintersteckt als die systematische Anwendung zugegebenermaßen hochkomplexer Algorithmen. Oder?

Vermessenes aus „Hypernormalisation“ von Aram Bartholl von 2021 (Bild: HMKV)

Neue Perspektive

Erstaunlicher als die (eben nicht) erstaunliche Einsicht, daß Computer dumm wie Brot, jedoch keineswegs harmlos sind, ist vielleicht noch der Ort, an dem Erkenntnis dem Publikum zuteil wird. Der Dortmunder Hartware Medienkunstverein, der mit seiner Ausstellungsfläche im dritten Stock des Dortmunder „U“ residiert, ausgerechnet der, hat sich die computerkritische Perspektive zu eigen gemacht und präsentiert nun „künstliche Intelligenz als Phantasma“ in seiner neuen Ausstellung „House of Mirrors“, was sinnvoll mit „Spiegelkabinett“ übersetzt werden kann. Daß die Ausstellung ausgerechnet hier stattfindet ist deshalb erstaunlich, weil der Medienkunstverein bisher doch ein eher positives Verhältnis zur Computerei zu haben schien, zu den Ergänzungen und Weitungen, die der Einsatz elektronisch betriebener Medien letztlich eben auch der Kunst bringen könnte. Ein wirklich Widerspruch ist dies indes nicht, wir wollen fair bleiben. Eher könnte man vielleicht von einem Perspektivwechsel sprechen, der im ganzen großen Themenkontext sicherlich Sinn macht. Außerdem scheint auch ein wenig „Wokeness“ im Spiel zu sein.

Ein Gestell, viele Smartphones: die Arbeit „– human-driven condition“ von Conrad Weise thematisiert die Situation der vielen (menschlichen) Mikroarbeiter, die in stark fragmentierten Arbeitsprozessen für das Funktionieren der „KI“ sorgen (Foto: HMKV)

Alte Datenmuster

Große Spiegel strukturieren den Raum in dieser hübsch aufgebauten Ausstellung; die meisten werfen lediglich das Bild zurück, manche sind aber auch von einer Seite zu durchschauen, wieder andere sind Teile von Kunstobjekten. Warum die Spiegel? Inke Arns, seit etlichen Jahren die rührige Chefin des Medienkunstvereins, erläutert es. Der Prozeß der Spiegelung, wir formulieren frei, verdeutliche den beschränkten Nutzen des Computereinsatzes in vielen Anwendungsbereichen, bei der Erkennung von Personen zum Beispiel (Zollkontrollen, Fahndung) oder von Situationen („autonomes Fahren“ etc.). Gespiegelt wird, was man dem Spiegel zeigt, algorithmische Raster, biometrische Daten, situative Schemata, Statistik.

Was man nicht zeigt, kann auch nicht gespiegelt werden, heißt für den Computerbetrieb: er reagiert nur beim Wiedererkennen hinterlegter Datensätze. Erkennt er das Geschehen nicht, reagiert er nicht oder falsch. Auch mit allergrößten Datenmengen ist die Computerintelligenz also ein menschengemachtes Bewertungskonstrukt, dem ein gerüttelt Maß Subjektivität eigen sein dürfte und das zwangsläufig „computeraufbereitete Realität mit vergangenen Datenmustern erkennen“ (Arns) soll. Wenn aber heutiges Geschehen an den Mustern von gestern abgeglichen wird, hat das normierenden, mitunter gar disziplinierenden Charakter. Von „automatisierter Statistik“ spricht in diesem Zusammenhang Francis Hunger, der die Ausstellung zusammen mit Marie Lechner kuratiert hat.

Hier geht es um die Wahrnehmungen „autonomer“ Fahrzeuge: „VO“ von Nicolas Gourault (2022) (Bild: Courtesy of Le Fresnoy, Studio national des arts contemporains/HMKV)

Viele Bildschirme, viele Projektionsflächen

So viel zunächst einmal zum Ansatz dieser Schau. Wie aber nun macht man aus technischen, soziologischen, politischen, psychologischen Einsichten Kunst? So ganz einfach ist das nicht, denn anders als alles Mechanische ist Elektronisches zunächst einmal sehr unsinnlich. Letztlich, und so auch hier, läuft es darauf hinaus, daß viel Botschaft über Bildschirme und Projektionsflächen läuft, denen (so gut es eben ging) ein paar Requisiten beigegeben wurden. Einige schöne Raumsituationen gibt es gleichwohl, wie das von einem gemütlichen Sofa beherrschte Zimmer Lauren Lee McCarthys, in dem diese eine Woche lang die Funktion von Amazons virtueller Assistentin Alexa übernahm. Das war 2017 und streckenweise recht lustig, wie die Dokumentation zeigt, die auf dem Bildschirm läuft.

Sinnfrei

Ein Großteil der Arbeiten thematisiert Teilaspekte der „KI“. Gleich am Eingang scannt Sebastian Schmiegs „Decisive Mirror“ (2019) Gesichter der Besucher und berechnet dann Sinnfreies: „Zu 42 Prozent noch am Leben“, „zu 65 Prozent imaginär“, „zu 17 Prozent einer von ihnen“ und so weiter. Projiziert werden die Daten auf einen Spiegel, und schon in dieser ersten Installation erahnt man die Respektlosigkeit dessen, was folgen wird.

Neues Gesicht aus dem Computer: „The Zizi Show, Deepfake drag Artist close up“ (2020) von Jake Elwes (Bild: Courtesy of the artist, VG Bild-Kunst/HMKV)

Wunsch und Wirklichkeit

Doch wir beginnen nachdenklich. In der zentral gelegenen Rotunde vergleichen Pierre Cassou-Noguès, Stéphane Degoutin und Gwenola Wagon in ihrer üppigen Videoarbeit „Welcome to Erewhon“ (2019) Wunsch und Wirklichkeit des technischen Fortschritts über Jahrhunderte hinweg. Ausgangspunkt ihrer Betrachtungen ist das Buch „Erewhon; Or, Over the Range“, das ein gewisser Samuel Butler 1872 veröffentlichte und das die Übernahme der Macht durch die Maschinen thematisierte, die sich schneller und effektiver weiterentwickelt hatten als die Menschen. Schließlich zerstörten die Menschen die Maschinen und bauten keine neuen mehr. „Erewhon“ ist übrigens ein Anagramm von nowhere, nirgendwo. Weiterhin gibt es hier auf den Bildschirmen computergesteuerte Haushaltsmaschinen des 21. Jahrhunderts zu sehen, Saug- und Wischroboter etwa, von denen noch keine große Bedrohung auszugehen scheint. Auch eine Performance ist hier dokumentiert, die zeigt, zu welchen Albernheiten eine Bürogemeinschaft fähig ist, wenn die Computer all ihre Arbeit übernommen haben. Es gibt der Aspekte etliche mehr. Eingestimmt und neugierig wandern wir weiter.

Kuh oder Sofa

Simone C Niquilles raumgreifend angelegte Videoinstallation „Sorting Song“ (2021) führt auf großer Leinwand bildmächtig das Dilemma eines überforderten Erkennungsprogramms vor, das den zu bestimmenden Gegenstand mal als Kuh, mal als Sofa identifiziert und abbildet. Anna Ridlers „Laws Of Ordered Form“ (seit 2020) befaßt sich mit elektronischem Bilderkennen und –benennen in enzyklopädischen Dimensionen und vergleicht dies mit traditionellen, nach Stichworten strukturierten Formen der Archivierung. Die „Mikroarbeiter“, Männer wie Frauen natürlich, haben ihren Platz in der Ausstellung, jene vielen tausend Menschen, die isoliert zu Hause und unter oft miserablen Konditionen in der ganzen Welt als „Datenreiniger“ oder „Klickarbeiter“ händisch all das machen, was die „KI“ nicht hinbekommt. Die Italienerin Elisa Giardina Papa, die selber als Datenreinigerin für Unternehmen arbeitete, und der Kölner Conrad Weise erinnern in ihren Arbeiten an sie.

Kein Alter Meister, sondern ein Bild aus der Arbeit „Laws of Ordered Form“ von Anna Ridler (2020), in der es um Bilderkennung geht. (Bild: HMKV)

Diskriminierung

Überhaupt: die Zukurzgekommenen, die Diskriminierten, die rassistisch Ausgegrenzten. Etliche Arbeiten beleuchten diskriminierende Aspekte der Algorithmen – die Diskriminierung dunkler Hautfarbe beispielsweise in Gesichtserkennungs-programmen, die Diskriminierung von ausländischen Akzenten oder „Unterschichtsprache“ in Spracherkennungsprogrammen. „KI“ ist nicht woke, im Gegenteil. Unübersehbar ist es das Anliegen wenn schon nicht dieser Ausstellung, so doch sicherlich etlicher Arbeiten, die diskriminierenden Eigenschaften von „KI“ vor allen im Überwachungswesen herauszuarbeiten. Und dagegen ist auch nichts zu sagen.

Ein weit gefaßter Kunstbegriff

Eher schon könnte man in Nachdenklichkeit verfallen über den hier doch sehr, sehr weit gefaßten Kunstbegriff. In vielen Arbeiten ist schwerlich mehr zu erkennen als das Zitat eines „KI“-typischen Problemfelds. Ein gewisses Unwohlsein hinsichtlich der künstlerischen Valeurs scheinen auch etliche der 21 Teilnehmer zu empfinden, die als Berufsbezeichnung in ihre Biographien zusätzlich „Forscher“ hineingeschrieben haben. Auf jeden Fall jedoch funktioniert diese insgesamt sehr schöne, kompakte, schlüssige Ausstellung durch die Summe der Exponate. Anders ausgedrückt: Wer sich für das Themenfeld interessiert, sollte hingehen. Gut geeignet auch für technikaffine Besucher.

    • „House of Mirrors: Künstliche Intelligenz als Phantasma“
    • HMKV Hartware Medienkunstverein
    • im Dortmunder U, Ebene 3
    • Leonie-Reygers-Terrasse
    • Bis 31 Juli.
    • Geöffnet Di-Mi 11-18 Uhr, Do-Fr 11-20 Uhr, Sa-So 11-18 Uhr
    • Eintritt frei
    • www.hmkv.de

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Eine teilweise ähnlich gelagerte Ausstellung zur „KI“ läuft seit November 2021 und noch bis zum 9. August 2022 in der Dortmunder DASA (Deutsche Arbeitswelt Ausstellung). Hier ein Link zu unserem DASA-Bericht.

 




Kein richtiger Rückblick, aber die besten Wünsche für 2022!

Kater Freddy wirft einen Blick zurück. (Symbolbild: Bernd Berke)

Zum Ende eines vielfach so ernsten Jahres darf es auch mal halbwegs albern sein. Keine Angst also, hier gibt es keinen der landesüblichen Jahresrückblicke mit obligatorischem C-Schwerpunkt und blinkender Ampel. Alles, was wir vorrätig haben, ist ein über die Schulter zurückblickender Kater namens Freddy. Na, immerhin!

Übrigens geht es Freddy zur Zeit nicht so gold. Er bekommt ein Antibiotikum, damit sich bei ihm nicht noch eine Lungenentzündung entwickelt. Erste Besserung hat sich schon eingestellt. Aber stopp! Jetzt reden wir schon wieder über Krankheit und Genesung.

Wie ist im Vorfeld spekuliert worden, ob wir ab 2020 noch einmal „Roaring Twenties“ oder dergleichen erleben würden; wilde, entfesselte Zeiten, eine Dekade wie damals in den 1920ern. Es ist bislang ein wenig anders gekommen.

Nun doch noch etwas gaaaaaaaanz weit Rückblickendes: Höchst spannend finde ich alles, was sich aus dem kürzlich erfolgten Start und dem künftig hoffentlich erfolgreichen Einsatz des Weltraumteleskops „James Webb“ ergeben könnte. Gleich 13 Milliarden Jahre soll die phantastische Apparatur zurückschauen – „fast“ bis zum Urknall. Ob wir dann wohl erfahren werden, was die Welt im Innersten zusammenhält?




Ausstellung in der Dortmunder DASA: „Künstliche Intelligenz“ – Wer sie steuert und wer sie erleidet

Eine solche Bildschirmwand, wie sie jetzt in der DASA steht, kann das ungreifbare Phänomen „Künstliche Intelligenz“ nur sehr unzureichend illustrieren. Das Thema entzieht sich vielfach einer leicht fassbaren Bebilderung. (Foto: Bernd Berke)

Nanu? Da steht man in einer Art Spiegelkabinett und glaubt, es ginge nun auch noch durch ein Labyrinth hindurch. Leichte Irritationen im Eingangsbereich der neuen Schau in der Dortmunder DASA (Arbeitswelt-Ausstellung). Sie entsprechen dem Thema, geht es doch ums Für und Wider der „Künstlichen Intelligenz“ (KI); ein vielfältiges Phänomen, das für Verunsicherung sorgt.

Der Rundgang führt durch allerlei Anwendungsgebiete der Künstlichen Intelligenz. Es gibt keine Ruhrzonen: Überall flackern Videos, an vielen Stellen locken Mitmach-Gelegenheiten und stiften zur Aktivität an. Die Spannweite reicht vom mittlerweile schon recht gewöhnlichen Staubsaug-Roboter bis zur „mitdenkenden“ Zahnbürste, vom virtuell hochgerüsteten Spiegel bis zum (hundeförmigen) Möbelstück, das auch schon mal gestresste Menschen zum Hinsetzen auffordert; vom maschinell überprüften Müllsortieren (testen Sie doch spaßeshalber mal die Anzahl Ihrer „Fehlwürfe“) bis zur Apparatur, die den Inhalt von Zeichnungen erkennen und benennen soll, damit aber schnell überfordert ist.

Derlei Unvollkommenheit ist beinahe schon tröstlich. Doch die Technik wird immer ausgefeilter, sie lernt sozusagen hinzu und wird sich vielleicht eines Tages vollends über die Menschen erheben. Vor allem dann, wenn wir sie immer weiter mit schier endlos vielen Daten füttern. Just davon lebt die Künstliche Intelligenz, die noch dazu Unmengen an Energie verbraucht und für deren Chips Rohstoffvorkommen rabiat ausgebeutet werden.

Wenn das „autonome“ Auto über Leben und Tod entscheidet

Wollen wir wirklich in rundum vernetzten Häusern leben, in denen die Gegenstände irgendwann alles besser wissen als wir? Wollen wir mit „autonomen“ Autos fahren, die in brenzligen Fällen für uns Blitz-Entscheidungen auf Leben und Tod treffen? Wollen wir diesen gruseligen Mischwesen aus Mensch und Maschine begegnen, mit deren Vorläufern wir hier schon mal erste Bekanntschaft machen können? Soll es so weit kommen wie in der DASA, wo in einer Ecke die Horch- und Sprech-Systeme Siri und Alexa miteinander streiten, wer denn nun wem überlegen sei? Oder sollten wir die Dinger einmotten, bevor sie uns Befehle erteilen?

Weder gerecht noch inklusiv

In der DASA herrscht Skepsis. Künstliche Intelligenz, so argwöhnt das vielköpfige Ausstellungs-Team (und legt solches Misstrauen auch uns nahe), diene bislang vorwiegend privatwirtschaftlichen Interessen. Sie schwebt nicht etwa aus dem Nirgendwo herbei, sondern ist allemal menschengemacht, programmiert und gesteuert. Dabei, so eine weitere, nicht nur zeitgeistgemäße These, gehe es weder geschlechtergerecht noch anderweitig egalitär oder inklusiv zu, sprich: KI sei überwiegend eine von weißen Männern für ihresgleichen betriebene Angelegenheit.

Nach keinesfalls transparenten Kriterien werden per KI Wohnungen, Jobs oder Kredite vergeben bzw. verweigert, werden Menschen einsortiert und kontrolliert. Auch kostet die Technologie höchstwahrscheinlich etliche Arbeitsplätze. In der DASA kann man an einer Station seinen Beruf eingeben – und sogleich ablesen, wieviel Prozent der Stellen im jeweiligen Tätigkeitsfeld künftig wohl verloren gehen. Probe aufs Exempel mit einer Mitarbeiterin der Ausstellung: In ihrem Beruf werden durch KI angeblich 22 Prozent der Stellen entfallen. Das hört sich noch vergleichsweise glimpflich an. Kurz darauf erfasst einen eine Kamera und gibt per Bildschirm Rückmeldung über den „Schönheits-Index“, den sie einem zubilligt. Bloß nicht persönlich nehmen! Wer weiß, wer da welche Maßstäbe vorgegeben hat.

Hoffnung auf Veränderbarkeit

Zurück zur Erkenntnis, die Künstliche Intelligenz sei menschengemacht. Daraus lässt sich Hoffnung schöpfen, ebnet es doch eventuell Wege zur Veränderbarkeit. Oder sind nur noch kleine Fluchten aus einer Zukunftswelt möglich, die in den Grundzügen längst vorgezeichnet ist? Immerhin lernen wir die eine oder andere Strategie kennen, mit der sich gleichsam „Sand ins Getriebe“ der Künstlichen Intelligenz streuen ließe. Amüsiert, ja schadenfroh vermerken wir’s: Da gibt es beispielsweise spezielle Masken oder ablenkende T-Shirt-Aufdrucke, mit denen man die auf KI basierende Gesichtserkennung überlisten kann. Mit einem speziellen Hütchen, flugs über Alexa-Lautsprecher gestülpt, lässt sich „weißes Rauschen“ erzeugen und somit verhindern, dass das Gerät einen abhört. Findig auch der Künstler, der Dutzende von eingeschalteten Handys auf einem „Bollerwagen“ hinter sich her zog und damit den Navi-Programmen einen Autostau auf seiner Strecke vorgaukelte.

Jetzt aber doch noch das Positive, das utopische Potential! Als Ahnung zeigt sich auch dies: Anders als bisher gehandhabt, könnte Künstliche Intelligenz die Städte lebenswerter machen, indem sie hilft, z. B. Verkehrs- und Energieströme sinnreicher zu lenken oder soziale Projekte zu flankieren. Es ließen sich Modelle entwerfen, mit denen man Mechanismen des Klimawandels noch besser versteht und gezielter darauf reagieren kann. Auch sind KI-gestützte Erfolge im Kampf gegen den Krebs und andere Krankheiten vorstellbar. Sollten wir etwa doch noch auf bessere Zeiten zusteuern?                                       

DASA, Dortmund, Friedrich-Henkel-Weg 1. Bis 9. August 2022. Geöffnet Mo-Fr 9-17, Sa/So 10-18 Uhr.

dasa-dortmund.de

(Anschließend wandert die Schau nach Wien, Stockholm und Granada).




Reisen durch ein fantastisches Universum: Vor 100 Jahren wurde Stanislaw Lem geboren

Als Science-Fiction-Autor wollte er sich nicht gerne bezeichnen lassen, aber auf diesem Feld hat sich Stanislaw Lem einen unsterblichen Namen gemacht. Vor 100 Jahren, am 12. September 1921, im damals noch polnischen Lemberg geboren, hat er originelle Werke voll Humor und visionärer Kraft geschrieben, die laut Wikipedia in 57 Sprachen übersetzt und über 45 Millionen Mal verkauft wurden.

Die Werke von Stanislaw Lem erscheinen im Suhrkamp-Verlag, so auch der Roman „Die Stimme des Herrn“. (Cover: Suhrkamp Verlag)

Zu seinen bekanntesten Büchern zählt der Roman „Solaris“, der drei Mal verfilmt und von Michael Obst, Detlev Glanert und Dai Fujikura auch zum Opernstoff erkoren wurde. Stanislaw Lem hatte gerade begonnen, Medizin zu studieren, als die Deutschen in Lemberg einmarschierten. Während des Krieges gelingt es ihm, seine jüdische Herkunft zu verschleiern; er arbeitet als Mechaniker und Schweißer für eine deutsche Firma. Bis auf Vater und Mutter wurde seine Familie Opfer des Holocausts. Wehrmacht und Rote Armee, Sowjets und Deutsche: Die Erfahrung willkürlicher Gewalt und der zerstörerischen Katastrophe der Besatzungszeit in Polen prägten ihn.

1946 zieht er aus seiner nun sowjetisch besetzten Heimat nach Krakau und studiert weiter. Da er sich weigert, im Abschlussexamen Antworten im Sinne der stalinistischen Ideologie zu geben, fällt er durch und geht, da er nicht als Arzt arbeiten kann, in die Forschung.

In dieser Zeit beginnt seine schriftstellerische Arbeit. 1946 erscheint in einer Zeitschrift „Der Mensch vom Mars“. Lem spricht darin bereits Themen an, die in späteren Werken bedeutsam werden sollten: Das Wesen vom Mars ist eine Kombination aus einem organischen Gehirn und einer atomgetriebenen Maschine, ungeheuer fremdartig, ohne Gefühl und Empathie, aber nicht bösartig. Die Menschen, die es untersuchen, haben jedoch kein Interesse an der Persönlichkeit des Außerirdischen; es gelingt ihnen keine dauerhafte Kontaktaufnahme.

Unbegreiflich andersartige Intelligenz

Diese Unfähigkeit, mit unbegreiflich andersartigem Leben, mit unverständlicher Intelligenz umzugehen, ist auch in „Solaris“ ein bestimmendes Thema. Dort umfließt ein riesiges Wesen wie ein Ozean einen ganzen Planeten. Ewig alleine, versucht es, mit den Menschen in Kontakt zu treten, die es entdeckt haben und die seit Generationen versuchen, das offenbar denkende Plasmameer zu erforschen. Lem verweigert sich in diesem wie in anderen Romanen einfachen Lösungen, aber die offen bleibende, dennoch sehr bewegende Begegnung des Psychologen Kelvin mit dem Wesen deutet den utopischen Moment eines Kontakts an.

Mit dem in viele Sprachen übersetzten Roman „Die Astronauten“ gelingt Lem 1951 ein Erfolg, der es ihm ermöglicht, als freischaffender Autor zu leben. Das Buch erschien drei Jahre später in der DDR auf Deutsch als „Der Planet des Todes“. Eine Expedition zur Venus entdeckt dort die Reste einer aggressiven Zivilisation, die sich selbst vernichtet hat, bevor sie ihren Plan, alles Leben auf der Erde auszulöschen, in die Tat umsetzen konnte. „Wesen […], die sich die Vernichtung anderer zum Ziel setzten, tragen den Keim des eigenen Verderbens in sich – und wenn sie noch so mächtig sind“, schreibt Lem über sein Buch, das er später selbst als „naiv“ bezeichnet hat.

Nachdenken über technologischen Fortschritt

Aber die gesellschaftlichen Probleme und Visionen, die Lem auch in Romanen wie „Eden“ (1959) oder dem Zukunfts-Szenario „Fiasko“ (1986) in fantastische Welten überträgt, fesseln den Leser und lassen über die Folgen unseres zivilisatorischen und technischen Fortschritts nachdenken. Lem nimmt schon früh etwa mögliche Folgen neuer Kommunikationstechnologien in den Blick. Über die Epoche der Neuro- und Gentechnologie und die Verbindung von Mensch und Maschine sagt er in einem Interview kurz vor seinem Tod 2006: „Wir stehen am Anfang einer Epoche, vor der mir ein bisschen graut.“

Stanislaw Lem hat es virtuos verstanden, ungewöhnliche philosophische Fragen, Probleme der technologischen Entwicklung und kühne Gedankenexperimente in seine Art von „Science Fiction“ einzubeziehen. Doch er ist auch Autor von geradezu prophetischer Sachliteratur wie der „Dialoge“ (1957) oder der „Summa technologiae“ von 1964, in der er sich bereits mit „virtual reality“ und Nanotechnik beschäftigt.

Zwischen 1982 und 1988 lebt Lem nicht im krisengeschüttelten Polen, sondern als hochgeachteter Autor in Berlin und Wien. Seine Kurzgeschichten, Anthologien und Romane finden in den siebziger und achtziger Jahren in beiden Teilen Deutschlands breite Resonanz, so etwa die „Robotermärchen“, der „Futurologische Kongress“ oder „Der Unbesiegbare“. Figuren wie der Raumfahrer Ijon Tichy, der Pilot Pirx oder die beiden skurrilen Robot-Konstrukteure Trurl und Klapaucius bevölkern sein Universum, in dem Humor und Satire nicht zu kurz kommen, aber auch – wie in der Erzählung „Terminus“ – bisweilen eine kaum zu fassende, unheimliche Atmosphäre entsteht, die Lem selbst so beschreibt: „Obwohl in dieser Erzählung keine Gespenster vorkommen, sind sie dennoch da.“

Persönliche Empfehlungen? Unheimlich und faszinierend zugleich, wie in „Der Unbesiegbare“ unscheinbare, harmlose Maschinenteilchen zu einer unüberwindlichen Macht zusammenwachsen. Höchst amüsant und geistreich, wie in den „Robotermärchen“ ein Elektrodrachen besiegt wird. Wen heute bei „Alexa“ oder „Siri“ im smart durchdigitalisierten Home leises Unbehagen befällt, sollte unbedingt mit der dümmsten vernunftbegabten Waschmaschine der Welt Bekanntschaft schließen. Immer wieder ins Nachdenken führend, wie fremdartig Lem außerirdisches (intelligentes) Leben erfindet und beschreibt, etwa in „Solaris“. Und eine bittere Abrechnung mit der menschlichen Fähigkeit zum Guten wie zum Bösen ist „Die Stimme des Herrn“, spröde zu lesen, aber ein Buch, das den Verstand fliegen lässt.




„Heilen und Pflegen“: Neue DASA-Dauerschau zielt auf Wertschätzung fürs Gesundheitswesen ab

Mit 3D-Brille, Bildschirmen und hochsensitiven OP-Sticks: Ein DASA-Mitarbeiter führt eine virtuelle Operation am rund 120.000 Euro teuren Übungsgerät vor. (Foto: Bernd Berke)

Ich hab’s nicht durchgehalten. Habe keine Standfestigkeit bewiesen, als diese vermaledeite Bodenplatte heftig zu wackeln begann. Wer macht’s besser, einbeinig stehend und dann ganz plötzlich durchgerüttelt?

Wo ich gewesen bin? Auf einer der bei Ausstellungsmachern und beim Publikum so beliebten Mitmach-Stationen, konkret: in der DASA (Dortmunder Arbeitswelt-Ausstellung), die jetzt ihre völlig neu gestaltete Abteilung zum Thema „Heilen und Pflegen“ eröffnet hat – nach rund drei Jahren Planung und Umbau; gerade recht zu einem Zeitpunkt, wo man das Haus jetzt wieder ohne Zeitfenster-Termin und Test besuchen kann.

Kuratorin hospitierte eigens im Dortmunder Klinikum

An vielen Details merkt man, dass die technischen Möglichkeiten sich seit der vorherigen Themen-Aufbereitung (aus dem Jahr 2000) schon wieder gründlich gewandelt haben. Ko-Kuratorin Katrin Petersen (mit Sarah-Louise Rehahn) und ihr Team wollten keine halben Sachen machen. Frau Petersen, von Haus aus Kulturwissenschaftlerin, hat eigens eine Woche im Dortmunder Klinikum (Intensivstation, Notaufnahme) hospitiert und ist auch beim Rettungseinsatz mitgefahren. Gespräche mit vielen Praktikern sollten das Ausstellungs-Konzept realistisch unterfüttern. Dabei hat sich wohl die Zielsetzung konkretisiert, die Heil- und Pflegeberufe im günstigen Licht darzustellen. Die Ausstellung ist denn auch – wie es sozusagen im Kleingedruckten heißt – Bestandteil der „Konzertierten Aktion Pflege“ der Bundesregierung („Handlungsfeld VIII: Wertschätzung und Anerkennung“).

Kuratorin Katrin Petersen im angeregten Dialog mit dem Roboter „Pepper“, der hie und da als unterhaltsame Aushilfskraft in der Pflege eingesetzt wird. (Foto: DASA)

Das Gesundheitswesen steht bekanntlich auf der Tagesordnung, es ist im Laufe der Pandemie oft genug beredet worden, vom berühmt-berüchtigten, weil wohlfeilen „Balkonklatschen“ für Heil- und Pflegekräfte bis hin zu deren Arbeitsbedingungen und der (oft mangelnden) Wertschätzung. Letztere, so das erklärte Ziel der DASA-Schau, soll nachdrücklich befördert werden. Überdies will man reges Interesse am Berufsfeld wecken, dem in Deutschland insgesamt rund 5,7 Millionen Menschen angehören. Da ist dann aber auch so ziemlich alles dabei, mitsamt Verwaltungen, Krankenkassen und Pharma-Industrie, jedoch ohne die bloßen Wellness-Branchen. Lust auf Gesundheitsberufe? Nun ja: Auch hier bestimmt wesentlich das Sein (u. a. in Form fairer Entlohnung) das Bewusstsein.

Einmal selbst die Diagnose stellen

Nun aber auf die Strecke! Gleich eingangs begrüßt einen ein innerlich allseits verdrahteter, gläserner Mensch, Nachbau eines Dresdner Exemplars fürs Hygienemuseum von 1930. Wie das Original, so hebt auch diese Glasfigur ihre Hände in geradezu heilsverkündender Pose. Ursprünge in der Lebensreform-Bewegung der 1920er Jahre sind noch zu erahnen.

Der allseits transparent gestaltete Rundgang folgt sodann einem typischen Verlauf von Krankheit und Genesung: Es beginnt mit der Diagnose und führt über Rettung und Heilung hin zur nachfolgenden Therapie und zur Pflege. Inmitten all dieser Themenbereiche befindet sich eine Ruhezone, die nicht zuletzt daran erinnern soll, dass die Beschäftigten im wahrhaft „systemrelevanten“ Gesundheitswesen meist kaum Zeit für erholsame Pausen haben.

Nicht nur auf der anfangs erwähnten Schüttel-Station (ein Gerätetypus, mit dem auch schon zahllose verletzte Fußballer Teilübungen ihrer Reha absolviert haben) kann man seine Fähigkeiten erproben. Mehrfach gibt es solche Haltepunkte, an denen man selbst aktiv werden darf. In der ersten Abteilung gilt es (mit einer an der Berliner Charité entwickelten Simulation), ein virtuelles Kind z. B. auf eine Masern-Erkrankung zu untersuchen und sich einer schlüssigen Diagnose zu nähern. Zusätzlicher Clou: Fachbesucher-Gruppen können sich auf einem höheren Level zuschalten lassen, auf echtem Expertenniveau.

Was ist was? Diverse Krankheitserreger im Modell. (© DASA)

Vorbei geht’s an buchstäblich griffigen Modellen von Krankheits-Erregern (hier mal ohne Covid, aber mit etlichen anderen Bedrohungen), die auch wirklich zum Anfassen gedacht sind. Vielleicht werden Leute vom „Team Vorsicht“ damit noch bis zu den gaaaanz niedrigen Inzidenzen warten, die hoffentlich bald anliegen.

Hinein ins Rettungsfahrzeug

In der Nähe der Erreger-Modelle findet sich auch das vielleicht bizarrste Ausstellungsstück, der sogenannte „Blaue Heinrich“, ein transportabler, halbwegs diskreter Spucknapf für die Handtasche, seinerzeit gedacht für etwaigen Tuberkulose-Auswurf…

Im folgenden Rettungsbereich erwartet einen das größte Exponat, ein weitgehend originalgetreues Einsatzfahrzeug für den Notfall, das freilich keine Räder hat. Allerdings kann man sich in aller Ruhe das komplette Innenleben ansehen, ohne Angst und Stress, weil es ja eben kein Ernstfall ist. Der wiederum wird in einem dreidimensionalen „Wimmelbild“ mit Spielzeug nachgestellt. Knapp erwähnt werden dabei auch Attacken auf Unfallhelfer, aber da alles möglichst positiv sein soll, wird das unfassbare Phänomen nicht weiter verfolgt. Ebenso ausgespart bleiben etwa die Auswüchse diverser Sparwellen im Gesundheitswesen. Und auch der Tod, der nun einmal hinzu gehört, ist höchstens indirekt gegenwärtig. Hier wird er gleichsam überwunden und des Hauses verwiesen.

Hochmodernes Trainingsgerät für Operationen

Zurück auf den Parcours: Im OP-Bereich lassen sich Geschicklichkeitsübungen vollführen. Entweder versucht man mit einem Gestänge Fäden durch Ösen zu ziehen (gar nicht so leicht), oder man begibt sich gleich zu einem im wirklichen Medizinerleben verwendeten, virtuellen Trainingsgerät mit allem kostspieligen Komfort. Durch die Apparatur wird sogar die Haptik der menschlichen Organe übermittelt. Hier sollte man aber nicht selbst auf gut Glück loslegen, sondern auf eine Vorführung oder wenigstens Anleitung warten. Als Kontrast zur hypermodernen Technik sind in einer Vitrine historische Gerätschaften wie etwa chirurgische Handbohrer (um 1900) zu besichtigen. Ganz schön gruselig.

In den letzten Abteilungen geht’s ums Therapieren und Pflegen, wobei „Pepper“ seinen Auftritt hat, ein putziges Roboter-Kerlchen, das freilich das Pflegepersonal allenfalls mit kleinen Handreichungen zu entlasten, aber bislang keineswegs zu ersetzen vermag. Für (Quiz)-Spielchen mit Senioren oder Rekonvaleszenten steht Pepper allerdings bereit. Auf die Standard-Frage, ob er wirklich helfen könne, gibt er mit seiner niedlichen Stimme lieber gleich zu: „Wenn ich Kaffee bringe, geht die Hälfte daneben.“ Ein Schelm, der das programmiert hat.

DASA-Leute erproben Geräte in der Therapie- und Pflegeabteilung, ganz vorn der Fahrrad-Simulator mit Weltreise-Funktion. (Foto: Andreas Wahlbrink)

Weltreise mit dem Fahrrad

Neben Hi-Tech-Rollstühlen, Prothesen und ähnlichen Hilfsmitteln gibt es in diesem Bereich noch eine Station, an der man per Trainingsfahrrad in aller Welt unterwegs sein kann; ganz gleich, ob am Dortmunder Friedensplatz, in Brasilien oder Tasmanien – virtuell, versteht sich, aber ziemlich realistisch. Man strampelt tüchtig, sieht was von der weiten Welt und wird allmählich wieder fit.

Vertiefende Informationen zu all dem kann man sich an einigen Medienstationen verschaffen. Die Reihe der hierzu bereitgestellten Therapie-Liegestühle erinnert von fern her fast an eine Kur-Terrasse à la Thomas Manns „Zauberberg“. Sie ist aber deutlich nüchterner geraten als etwaige historische Vorbilder.

Dauerausstellung „Heilen und Pflegen“ auf knapp 800 Quadratmetern im Obergeschoss der DASA Arbeitswelt Ausstellung (angegliedert an die Bundesanstalt für Arbeitsschutz), Friedrich-Henkel-Weg 1-25, 44149 Dortmund.

Öffnungszeiten Mo-Fr 9-17, Sa/So 10-18 Uhr. Tel. Besucherservice: 0231 / 9071-2645. Eintritt wegen dauerhafter Inzidenz unter 50 jetzt ohne Test möglich, noch bis 13. Juni mit Termin-Anmeldung, danach ohne Zeitfenster.

www.dasa-dortmund.de

 




Wie die Kunst auf die Industrialisierung reagierte – „Vision und Schrecken der Moderne“ in Wuppertal

Conrad Felixmüller: „Hochöfen, Klöckner-Werke, Haspe, nachts“ (1927). Von der Heydt-Museum, Wuppertal. © VG Bild-Kunst, Bonn 2021

Mit einem Stipendium ausgestattet, hätte der Künstler Conrad Felixmüller nach Rom reisen können, doch er hat sich fürs Ruhrgebiet entschieden und dort – beispielsweise – das Ölbild „Hochöfen, Klöckner-Werke, Haspe, nachts“ (1927) gemalt. Felixmüller war sichtlich fasziniert vom gigantischen Industriebetrieb, dessen stählerne Kolosse geradezu erhaben aufragen. Sein Bild kündet visionär vom Werden einer neuen Zeit.

Ganz anders zeigt Hans Baluschek die Folgen der Industrialisierung im Revier, so etwa mit seinem Bild „Arbeiterinnen (Proletarierinnen)“ von 1900. Viele, viele Frauen verlassen bei Schichtende das Werksgelände, sie kommen auf die Betrachtenden zu. Die elend gleichmacherischen Lebensumstände haben ihnen einen Großteil ihrer Individualität geraubt, nur noch bei näherem Hinsehen nimmt man kleine Unterscheidungs-Merkmale wahr. Ansonsten sind sie zur gesichtslosen Masse geworden. Ebenfalls ärmlich, aber schon selbstbewusster wirken einige Jahre später Baluscheks „Zechenarbeiterinnen auf einer Hängebrücke“ (1913).

Hans Baluschek: „Zechenarbeiterinnen auf einer Hängebrücke“, Aquarell, 1913 (Deutsches Bergbau-Museum, Bochum)

Zwischen solchen Gegensatz-Polen und etlichen Nuancen mehr bewegt sich die Wuppertaler Ausstellung „Vision und Schrecken der Moderne“, die vor allem mit Eigenbesitz des Von der Heydt-Museums (aber auch prägnanten Leihgaben, z. B. aus dem Dortmunder LWL-Industriemuseum) aufwartet, künstlerische Antworten auf die Industrialisierung in den Blick fasst und mit wenigen Ausläufern bis in die Gegenwart reicht.

Die Öffnungszeiten der Schau stehen unter Corona-Vorbehalt. Derzeit (Stand 26. März) bleibt das Museum vorerst weiter geöffnet – siehe auch den Nachspann dieses Beitrags. Auf jeden Fall gilt: vorher informieren!

Zurück zur Ausstellung, die sich durch acht Räume im ersten Obergeschoss zieht und im Rahmen einer Zoom-Videokonferenz von Beate Eickhoff (im Kuratorinnen-Team mit Antje Birthälmer und Anna Storm) vorgestellt wurde. Also kann ich leider noch nicht aus unmittelbarer Anschauung berichten.

Carl Wilhelm Hübner: „Die schlesischen Weber“, 1844 (Kunstpalast Düsseldorf)

Der einstweilen virtuelle Rundgang beginnt u. a. mit Carl Wilhelm Hübners Gemälde „Die schlesischen Weber“ von 1844, das eine Szene am Vorabend des berühmten Weberaufstands vergegenwärtigt. Fabrikant Zwanziger und sein Sohn mäkeln über die angeblich schlechte Qualität der angelieferten Heimarbeits-Tuchware, werfen sie achtlos zu Boden oder aschen gar verächtlich mit der Zigarre darauf ab. Verzweifelte Heimarbeiter und ihre Familien sind zu sehen, aber auch zwei Männer rechts im Hintergrund, die offenbar schon den Aufstand im Sinn haben. Ein historisch bedeutsamer Moment, der auf die Entstehung des Proletariats und des Sozialismus vorausweist. Aus derselben Zeit stammt Wilhelm Kleinenbroichs Bildnis „Kölnische Zeitung (Der Proletarier)“ von 1845. Dem Arbeiter kommen nach der Lektüre eines Artikels über die Gesindeordnung die Tränen. Es sieht aus, als könnte er alsbald einen Entschluss zur Gegenwehr fassen.

Kein Geringerer als Friedrich Engels (am 28. November 1820 im späteren Wuppertaler Ortsteil Barmen geboren), sonst eher der Literatur als den bildenden Künsten zugeneigt, hat übrigens just Hübners Weber-Bild gekannt und sehr geschätzt. Die ganze Ausstellung hätte ja auch im November des „Engels-Jahres“ 2020 beginnen sollen, woraus aber wegen Corona nichts wurde. Immerhin kann die Dauer der Schau nun bis zum 11. Juli 2021 verlängert werden. Die Leihgeber zeigen sich geduldig.

Einleitende Akzente setzen auch einige Arbeiter-Skulpturen, deren Urheber sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch an antiken Vorbildern ausrichten und traditionelle „Helden der Arbeit“ (bevorzugt Schmiede) darstellen. Bisweilen werden auch kräftige Arbeitsmänner nach dem Vorbild eines Adonis gestaltet. Zu nennen wären etwa Bernhard Hoetgers „Tauzieher“ (1902) oder Wilhelm Lehmbrucks „Steinwälzer (Die Arbeit)“ (1904). Hier waltet ein ganz anderer Geist als etwa in den Schriften von Marx und Engels, die den ausgebeuteten Proletarier nicht als Heros, sondern eher als zerlumpte, verzweifelte und nicht selten dem Alkoholismus verfallene Figur gesehen haben.

Bemerkenswert die schon von ziemlich zahlreichen Schloten durchsetzten Industrie-Landschaftspanoramen von Elberfeld und Barmen (Wuppertals Vorläufer als „Das deutsche Manchester“), die allerdings noch als herkömmliche Idyllen aufgefasst sind. Gesellschaftsporträts des regionalen Großbürgertums zeigen zudem, dass die höheren Herrschaften hierzulande zwar wahrlich im Wohlstand lebten, aber noch längst nicht so mit ihrer Habe prunken konnten wie die Pendants im industriell avancierten England.

Und so geht es weiter durch die Jahrzehnte, mit sehenswerten Arbeiten etwa von Marianne von Werefkin oder Max Beckmann („Die Bettler“, 1922); mit Bildern der furchtbaren Not von Käthe Kollwitz, Max Klinger und Heinrich Zille; mit bissig-aggressiven Anklagen von Georg Scholz („Industriebauern“, 1920) und Otto Dix (Blätter aus der Mappe „Der Krieg“), der die Industrialisierung des Krieges in aller Drastik ins Bild setzt, beispielsweise mit gespenstischen Gasmasken.

Carl Grossberg: „Der gelbe Kessel“, 1933 (Von der Heydt-Museum, Wuppertal)

Ganz anders dann ein neusachliches Bild wie „Der gelbe Kessel“ (1933). Der Künstler Carl Grossberg hat es keineswegs auf soziale Verwerfungen abgesehen, sondern offenkundig Auftragskunst im Sinne einer Ästhetisierung industrieller Apparaturen verfertigt. Noch einmal mit gänzlich verschiedenem Ansatz gingen die „Kölner Progressiven“ zu Werke. Die bekennenden Marxisten gaben sich im Dienst der sozialistischen Utopie ausgesprochen abgeklärt, emotionslos und unsentimental. Sie arbeiteten an einer stark vereinfachten, allgemein verständlichen Bildsprache des neuen Industrie-Zeitalters, die bei Gerd Arntz in flugschriftentauglichen Piktogrammen gipfelt (z. B. „Fabrikhof“, 1926). Doch wirken diese gewollt modernen Menschen nicht auch reichlich steril und gar zu „bereinigt“?

Berühmte Positionen der Industrie-Fotografie (Albert Renger-Patzsch, Bernd und Hilla Becher) dürfen in diesem Kontext nicht fehlen, sie setzen die industriellen Bauwerke geradezu skulptural in Szene, allerdings auf ganz unterschiedliche, mal monumental imposante, mal nüchterne Weise.

Schließlich die nur spärlich vertretene Gegenwartskunst. Hier knüpft Andreas Siekmann an die erwähnten Piktogramme von Gerd Arntz an. Einfach ist zwar die Bildsprache, einigermaßen kompliziert sind jedoch die konstruierten Zusammenhänge und Hintergedanken. Im Spätkapitalismus sind die Verhältnisse eben nicht einfacher geworden.

„Vision und Schrecken der Moderne“. Industrie und künstlerischer Aufbruch. Von der Heydt-Museum, Wuppertal, Turmhof 8. Bis 11. Juli 2021.

Vorerst weiter geöffnet

Update: Nach jetzigem Stand (26. März) bleibt das Museum vorerst geöffnet. Die Stadt Wuppertal will die „Notbremse“ – trotz einer Corona-Inzidenz von rund 170  – (noch) nicht ziehen und stützt sich auf eine Test-Strategie, sprich: Zutritt zu Geschäften („Click & Meet“) und Museen ist mit negativem Schnelltest vom selben Tag möglich.

Im Falle der weiteren Öffnung (Online-Tickets mit Zeitfenster, bitte unbedingt erkundigen): Di-So 11-18, Do 11-20 Uhr. Eintritt 12 Euro. Katalog 24,50 Euro.

Telefon: 0202/563-6231

www.von-der-heydt-museum.de

 




Es steht ’ne Waschmaschine vor der Tür – und: Der Ein-Mann-Schwertransport. Zwei kurze Geräte-Geschichten

Kultur is‘ ja leider auf Schwundstufe, also lasst uns mal eben über andere Sachen reden. Beispielsweise über Waschmaschinen. Vor einigen Tagen wurde eine bestellt, just am 16. Dezember sollte sie geliefert werden. Die bisherige war schlichtweg „hinüber“. Warum, das erfahrt ihr nachher.

Ein Gerät dieses Typs… (Foto: BB)

Prima: Die Neue sollte nicht nur zum Bestimmungsort getragen, sondern auch angeschlossen und eingerichtet werden. Der Rundum-sorglos-Service eines deutschen Versandhauses.

Das galt bis gestern.

Jetzt aber! 16. Dezember! Erster Tag im gehärteten Lockdown! Und schon soll auch auf diesem Gebiet so gut wie nichts mehr gehen. Kurz vor der Lieferung kommt die Mail, dass sie die über 75 Kilogramm schwere Maschine mitsamt der Verpackung lediglich v o r die Tür stellen werden (vielleicht bei schönstem Regenwetter). Anschluss? Nix da! Nicht in diesen Zeiten. Vielleicht nach dem 10. Januar. Oder 20. Februar. Oder 30. März. Oder 40. April.

„Alles muss man selber machen.“

Ansonsten wär’s halt vorerst nichts mit den heimischen Waschgängen, auch nicht mit dem 60-Grad-Programm, in dem beispielsweise die Stoffmasken mitlaufen. Wie bitte? Die Waschsalons hätten doch geöffnet? Ja, herrlich: „Mein wunderbarer Waschsalon“. Da kann man sich ja gleich in eine dichtbesetzte U-Bahn stellen und Aerosole einpfeifen. Immerhin: Die Masken lassen sich ja auch bügeln.

„Notfalls“ (es geht hier ja gar nicht um „Not“, das Wort wird viel zu oft missbraucht) müsste man die gute alte Handwäsche wiederentdecken – womöglich mit Waschbrett. Auf den Dingern kann man bekanntlich auch leidlich musikalische Rhythmen erzeugen. Womit wir denn doch wieder bei kulturellen Angelegenheiten wären. Irgendwie jedenfalls.

P. S. für zwischendurch: Es gibt natürlich weitaus Schlimmeres als solche Problemchen. Und der Lockdown ist offenkundig bitter nötig. Das musste gesagt werden.

Nun aber noch eine schlimmere Waschmaschinen-Story, die erklärt, warum die vorherige Maschine (brandneue „Testsiegerin“) bereits „hinüber“ war und die denn doch ein größeres Problem offenbart. Jener Online-Riese, den ich wohl nicht eigens nennen muss, lieferte sie mit einem einzigen Mitarbeiter (!) aus. Sonst kommen für derart schwere Gerätschaften immer zwei Leute, dieser arme Kerl musste jedoch allein ran. Zwar hatte er ein akkubetriebenes Stemmgerät, aber auch damit war es furchtbar schwer, die Maschine in den Waschkeller zu wuchten.

So ruckelte und titschte sie denn auf jeder einzelnen Treppenstufe derart auf, dass die Trommel danach offenbar eine extreme Unwucht hatte. Die Maschine „wanderte“ beim Schleudern heftig, stürzte schließlich „kopfüber“ vom Betonsockel und riss ihre Anschlüsse aus der Wand. Geradezu suizidal. Da nützte es auch nichts, dass eine Fachfirma den Schaden kostspielig beseitigte und die Maschine mit Hilfe einer Wasserwaage neu aufstellte. Resultat: nächste Wäsche, nächste „Wanderung“ – bis knapp vorm erneuten Absturz. Also abermals Retoure, also abermals Verdruss. Keinerlei Vorwürfe an den Mitarbeiter, aber an die frühkapitalistisch anmutende Personalplanung. Auch fragt man sich, was wohl mit diesem beschädigten Teil geschehen wird. Einfach auf den Sperr- oder Sondermüll damit? Bei diesem Anbieter keineswegs auszuschließen.

Nie wieder ein Großgerät über diese Firma, die einen einzigen Mann Waschmaschinen schleppen lässt, um Transportkosten zu sparen. Auch sonst wäre an Boykott zu denken. Nein, es wäre zu handeln.

 




Digitalisierung, Anfangszeiten, Distanzunterricht – die Mühen der Ebenen in der lokalen Schulpolitik

Hier wissen Schüler und Eltern (hoffentlich) Bescheid: die schulspezifischen Apps Google Classrooom und Untis auf einem iPad-Bildschirm. (Screenshot: BB)

Wenn die Dortmunder Stadtelternschaft (d. h. vor allem: die Schulpflegschaftsvorsitzenden) mit der Schuldezernentin Daniela Schneckenburger (Grüne) eine Videokonferenz abhält, dann kann man schon mal interessiert kiebitzen. Und was soll ich euch sagen: Da lernt man ein wenig die oft zitierten Mühen der Ebenen kennen.

Beim Online-Treff mit rund 40 Leuten ging’s heute Abend wahrlich nicht um den „großen Wurf“, sondern um recht kleinteilige, teilweise ziemlich knifflige Fragen, etwa zur Bildungsgerechtigkeit und zur Digitalisierung der Schulen.

Auf den immer dringlicheren Ruf nach Klassenteilungen, Wechsel- und Distanz-Unterricht in Corona-Zeiten konnte die Schuldezernentin nur ansatzweise eingehen, denn diese Themenbereiche fallen hauptsächlich in die Verantwortung des Landes NRW. Die Gemengelage scheint sehr unübersichtlich zu sein. Da gab es zwar kürzlich einen Landeserlass, der es örtlichen Schulen bzw. Gesundheitsämtern bei entsprechender Infektionslage freistellte, für Distanzunterricht zu sorgen. Dieser Erlass aber wurde wieder zurückgerufen. Daniela Schneckenburger musste bekennen, sich mit der „Distanzlernverordnung“ (man lasse sich das Wort auf der Zunge zergehen) des Landes nicht sonderlich gut auszukennen. Sowohl politisch als auch juristisch ist die Angelegenheit offenbar kompliziert. Wer wollte sich anmaßen, hierin Expertise zu besitzen?

Man sollte doch, man müsste mal…

Anke Staar, Vorsitzende der Stadteltern Dortmund (und auch der Landeselternschaft), sagte, sie habe den Eindruck, auf diesem Felde gehe es oft nicht um die Sache, sondern vielfach um  „parteipolitisches Geplänkel“. NRW-Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP) mache sich dabei schon mal „einen schlanken Fuß“.

Geradezu quälend war sodann das Gespräch über Fragen der Information und Transparenz in der Schulpolitik, sprich: Erreichen die Botschaften aus der Landes- und Kommunalpolitik die Schul- und Klassen-Pflegschaftsvorsitzenden überhaupt in ausreichendem Maße? Als säße man in dieser Frage erst jetzt endlich einmal beisammen, machte Daniela Schneckenburger schwierige Datenschutz-Regelungen geltend. Immerhin einigte man sich darauf, dass es möglich sein müsse, die Elternvertretungen nicht unter privaten Mailadressen, sondern unter neutralen Schuladressen anzuschreiben. Man sollte doch, man müsste mal…

Ein ganzer Schwall von Zahlen

Noch so ein leidiges Thema: die Digitalisierung der Schulen und die Ausstattung mit entsprechenden Geräten – sowohl für (bedürftige) Schüler(innen) als auch fürs Lehrpersonal. Hier zeigte sich Schuldezernentin Schneckenburger präpariert, um jeder etwaigen Kritik am angeblich langsamen Vorgehen der Stadt zu begegnen. Sie wartete mit einem wahren Schwall von Zahlen auf. Wie viele Millionen Euro für diese Zwecke bereitstünden, was davon bereits abgerufen sei, wie viele Tausend Geräte jetzt und demnächst ausgeliefert werden könnten. Und so weiter, und so fort. Wie schnell die Geräte jetzt zur Verfügung stünden, hänge allerdings nicht zuletzt davon ab, „wie schnell die Menschen in China arbeiten.“ Sprach’s – und musste dann flugs erst einmal ihr eigenes iPad ans Stromnetz anschließen, damit der Akku nicht leerlief.

Apropos iPad: Die Stadt Dortmund, finanziell bekanntlich nicht gerade auf Rosen gebettet, gönnt sich und ihren Schulen die vergleichsweise teuren Apple-Apparaturen, also vor allem iPads. Familien, die daheim mit Android-Geräten arbeiten, müssen diese folglich selbst einrichten und warten. Ob immer alles kompatibel ist, wird sich zeigen. Unklar zudem, ob in weniger begüterten Haushalten überall flächendeckendes WLAN bereitsteht.

Kostspielige iPads per Leihvertrag

Fragen über Fragen: Was geschieht im Falle von Diebstahl oder Beschädigung? Da die Geräte sonst nicht zu vernünftigen Preisen versicherbar sind, werden sie per Leihvertrag ausgegeben. Einrichtung und Wartung übernimmt – bei jedem einzelnen der vielen Tausend iPads – das „Dortmunder Systemhaus“. Ein gar mühseliges und langwieriges Unterfangen. Kein Wunder, dass die meisten Geräte nicht morgen oder übermorgen nutzbar sein werden. Aber die Digitalisierung ist eben nicht erst mit Corona, sondern schon lange vorher verschlafen worden; in ganz Deutschland, beileibe nicht nur in Dortmund.

Schließlich noch die Frage nach einer Entzerrung des Unterrichtsbeginns, um auch die Verkehrsströme zu entlasten. Derzeit wäre es möglich, die Schule zwischen 7.30 und 8.30 beginnen zu lassen. Die Stadt, so Daniela Schneckenburger, habe die Schulen gebeten, entsprechende Möglichkeiten zu sondieren. Eine Weisungsbefugnis habe man indes nicht. Ein neuer Erlass sieht vor, dass der Unterricht künftig sogar zwischen 7 und 9 Uhr anfangen kann. Das mag vernünftig und flexibel klingen, aber Daniela Schneckenburger ließ schon mal etwas Luft heraus: Es könne passieren, dass Familien mit mehreren Kindern und diversen elterlichen Arbeitszeiten sich plötzlich auf drei oder vier verschiedene Anfänge einrichten müssten. So hat eben alles seine Licht- und Schattenseiten.

Wir aber blicken gleichermaßen froh und bang den Weihnachtsferien entgegen – und dem, was danach kommen mag.




Lob des Online-Treffens

Gestern auf dem Schreibtisch im Homeoffice: keine virtuelle, sondern eine sehr körperliche Begegnung mit Schriftgut. (Foto: Bernd Berke)

Ich will keinesfalls sagen, dass Corona „auch Vorteile hat“, das wäre zynisch. Doch der abgestufte Lockdown bringt Möglichkeiten mit sich, die – anfänglich zaghaft, nun schon entschiedener – erst jetzt so richtig genutzt werden und hoffentlich auch in Zukunft nicht klanglos verschwinden.

Ich rede nicht zuletzt pro domo: von virtuellen Pressekonferenzen und sonstigen Online-Treffen der Branche. Sicher, auch mit der Teilnahme an einem Videomeeting hinterlässt man einen „ökologischen Fußabdruck“, doch vermutlich einen weitaus geringeren, als wenn man leibhaftig zum Veranstaltungsort fahren würde.

Keine Strecke, keinen Stress

Und so weiß ich es zu schätzen, dass derzeit – eben auch im Sinne des Klimas – etliche Veranstaltungen ins Netz verlegt werden. Man spart Strecke um Strecke, Liter um Liter Kraftstoff, Fahrstress und Zeitaufwand. Und was die öffentlichen Verkehrsmittel betrifft, so wahrt man in heimischen Büro weitaus besser den gesundheitsdienlichen Abstand.

Ist es nicht wunderbar? Hier gibt es einen virtuellen Ausstellungsrundgang, dort eine netzbasierte Gesprächsrunde oder eine dito wissenschaftliche Tagung. Konkretes Beispiel: Schwerlich hätte ich mich eigens von Dortmund nach Berlin bewegt, um an der Jahrespressekonferenz des Goethe-Instituts teilzunehmen. Just heute kam per Mail eine Einladung zur digitalen Teilnahme. Aber sicher, das lässt sich machen. Es lebe das Homeoffice – zumindest als Ergänzung! Und mal ehrlich: Wie viele Dienstreisen waren und sind herzlich überflüssig; es sei denn, die allzeit Umtriebigen hätten mit ihren Terminen angeben wollen…

Bloß nicht wieder in die Versenkung

Wenn jetzt auch noch meine Webcam ein besseres Bild übermitteln würde, wäre es nahezu perfekt. Um aber in derlei Fällen übliche Sprüchlein zu verknüpfen: Man kann nicht alles haben und irgendwas ist immer, denn das Leben kein Ponyhof und es gibt Schlimmeres.

Natürlich wünschen wir uns alle, dass die Corona-Zeit ein Ende nehmen und es wieder mehr persönliche Begegnungen geben möge. Das Virtuelle, wir wissen’s, ist auf Dauer kein kompletter Ersatz. Aber bitte! Ob im Kulturbetrieb, im Pressewesen, in Schulen und Unis oder sonstwo: Lasst dann nicht alles Digitale gleich wieder in der Versenkung verschwinden! Abgemacht?




Technik der Gesichtserkennung – trotz Masken ziemlich treffsicher

Aufsetzen? Zum Schutz vor Corona sicherlich! Aber gegen avancierte Gesichtserkennung hilft die Maske wenig. (Foto: BB)

Von Zeit zu Zeit lade ich Fotos in eine Cloud hoch. Die Betreiber dieser Cloud setzen – je nachdem, ob man diese Einstellung wählt – eine Gesichtserkennung ins Werk. Daran knüpfen sich Fragen und Bedenken, zumindest nach hiesigem Datenschutz-Verständnis.

Es werden im Fall des Falles also Hunderte, Tausende oder Zigtausende von Fotos nach abgebildeten Personen vorsortiert, die man sodann mit Namen versehen kann. Schon dabei beschleicht einen ein mulmiges Gefühl, denn wer weiß, wo solche (und sei’s nur mit Vornamen) zugeordneten Dateien dann anlanden und wozu sie verwendet werden können. Fehlt nur noch der Fingerabdruck. Aber den liefern viele Leute bei Anmeldevorgängen auf ihren Smartphones, wenn sie sich nicht auch dort per Gesichtserkennung einloggen. Wenn dies alles nun zusammengeführt würde? Gespenstisch.

Das Programm kennt deine Freundschaften am besten

Zuweilen „vertut“ sich die Gesichtserkennung der Cloud noch und registriert ein und dieselbe Person als verschiedene Menschen. In solchen Fällen könnte man dem Programm auf die Sprünge helfen und diverse „Bilderstapel“ miteinander kombinieren – damit quasi zusammenwächst, was zusammen gehört. Auch das ist nicht unproblematisch, hilft man auf diese Weise doch, das Programm immer mehr zu verbessern und zu präzisieren, bis es „deine“ Leute fast so gut erkennt wie du selbst.

Eines Tages wirst du überflüssig sein und sie werden dir sagen, wer deine guten Freundschaften und wer die weniger guten sind. Zuerst vielleicht noch wohlmeinend, später zunehmend harsch und herrisch? Wer weiß. Bereits jetzt werden die Personen in einer Art Hitliste nach Bilderhäufigkeit geordnet. Sind diejenigen, die da ganz obenan stehen, also wirklich die wichtigsten Menschen? Oder haben sie sich nur besonders oft und penetrant vor die Kamera gedrängt?

Vollends stupend finde ich eine Fähigkeit der Cloud, die jetzt erst so recht zum Tragen kommt: Die Gesichtserkennung, einmal auf bestimmte Menschen „geeicht“, lässt sich auch durch Masken kaum in die Irre führen. Offenbar reichen mitunter schon Frisur bzw. Haaransatz, die Form der Stirn, vor allem die Augen und möglicherweise auch der Kleidungsstil oder wiederkehrende Kleidungsstücke aus, um jemanden recht eindeutig zu kennzeichnen. Hierin ist das Programm vielleicht sogar schon genauer als man selbst, der man jetzt bei Begegnungen gelegentlich ein paar Sekunden lang rätselt, welches bekannte Gesicht sich hinter einer Schutzmaske verbirgt.

Speziell in Asien vorangetrieben

Höchstwahrscheinlich ist dieses Feature in Asien vorangetrieben worden, wo viele Menschen seit jeher Alltagsmasken tragen. Ob die Sache in den USA in weitaus besseren Händen ist, steht dahin. In China freilich wird soziales Verhalten ungleich mehr unter Kontrolle gebracht und in erwünschte Richtungen gelenkt. Ungezählte Kameras, versehen mit avancierten Möglichkeiten der Gesichts- und Bewegungserkennung, erfassen weite Teile des (halb)öffentlichen Lebens, mit anderen digitalen Techniken regieren Autokraten jeder Couleur bis ins Private hinein. Virale Ausbreitungen mag sie verhindern oder mindern, doch gegen derlei Kontrollmechanismen hilft auch keine Maske mehr.

Und noch eins: Neuerdings sparen sich viele Medien die früher übliche Verpixelung, sofern die Abgebildeten Masken tragen. Sie haben ihre rechtliche Rechnung anscheinend ohne Rücksicht auf die fortgeschrittenen Fähigkeiten der Gesichtserkennung gemacht.




Die Rettung des Planeten kann auch aus Poesie erwachsen: Andri Snær Magnasons aufrüttelndes Buch „Wasser und Zeit“

Wenn ein Thema dieser Zeit global und entsetzlich entgrenzt genannt werden kann, dann das wohl dringlichste überhaupt: der Klimawandel. Es ist denn auch viel mehr als ein „Thema“ unter anderen, es geht ja um die ganze Existenz des Planeten und unseres Daseins.

So darf es auch nicht verwundern, dass der isländische Autor Andri Snær Magnason für sein streckenweise aufrüttelndes Buch eine geradezu verwegene Mixtur anrührt, indem er beispielsweise vorzeitlichen und immer noch nachwirkenden Bezügen zwischen seiner karstigen Heimat und dem Himalaya nachspürt. Dermaßen auffällig erscheinen ihm landschaftliche, spirituelle und mystische Querverweise, dass es kein Zufall mehr sein könne, sondern höherer und tieferer Sinn darin liegen müsse, der jede dürre Schulweisheit übersteigt oder jedenfalls überhöht. Nicht nur mit Daten, sondern auch und vor allem mit Dichtung lasse sich vor Augen führen, wie schön das Verlorene war und wie ernst die jetzige Situation ist.

„Mit Gottes stillegeschwängerter Kosmosweite“

Der ungemein vielseitige Schriftsteller Magnason (Kinderbücher, Theaterstücke, Lyrik, Romane, Sachbücher), der auch schon mal bei der Präsidentschaftswahl seines Landes kandidiert hat, findet, dass wir noch gar keine adäquate Sprache gefunden haben für die drohenden Katastrophen, die ihn wiederum an die altisländischen Vorstellungen vom Ragnarök (Weltuntergang) gemahnen. Elemente der geistesgeschichtlich überlieferten „Romantik“, Naturanbetung und beseeltes Erzählen scheinen nach seiner Ansicht hierbei entschieden weiter zu führen als nur rationale Betrachtungen oder prognostische Berechnungen. In poetischer Diktion wird ein Gletscher-Erlebnis vollends überwältigend, so heißt es etwa in einem Text des Romantikers Helgi Valtysson: „Und dein Selbst verschmilzt wie eine bebend erklingende Saite mit Gottes stillegeschwängerter Kosmosweite…“ Für Magnason ist es keine Frage mehr, dass dieses Gefühl und seine natürliche Grundlage bewahrenswert sind. Freilich ließe sich das alles auch als Esoterik denunzieren, aber es gibt ungleich Wichtigeres zu tun.

Nach einer passenden Sprache suchen

Traditionelle isländische Sprechgesänge, noch von den Großeltern des Autors überliefert, korrespondieren mit einer damals noch recht intakten Natur, vor allem mit den mächtigen Gletschern, die nun längst dahinschmelzen; ein höchst beunruhigendes Phänomen, das abermals auf die Himalaya-Region bezogen wird, wo das Leben vieler Millionen Menschen vom alljährlichen Zyklus des Gletscherwassers abhängt. Wasser und Zeit…

An einem etwas anders gelagerten Beispiel sucht Magnason zu erläutern, wie Menschen ihre Lage gar nicht begreifen können, wenn sie keine passenden Worte für akute Zustände haben. So habe schon um 1809 der dänische Abenteurer Jørgen Jørgensen den Isländern erzdemokratische Freiheitswerte und Unabhängigkeit gepredigt, doch das Volk habe überhaupt nicht gewusst, wovon er da redete – und sei der dänischen Fremdherrschaft hörig geblieben.

„Jedes Leben ist eine Lebensaufgabe“

Das Buch führt in die Frühzeit der isländischen Gletscherforschung in den 1930er Jahren, die wiederum verwoben wird mit der Familiengeschichte des Autors, welche auch in andere Bereiche ausgreift. Wer kann schon von sich sagen, dass ein Großvater in die USA ausgewandert ist und dort als Arzt sowohl den Schah von Persien als auch Andy Warhol operiert hat? Wer kann mit Fug behaupten, ein Onkel sei weltweit ein Pionier bei der Rettung nahezu ausgerotteter Krokodile gewesen? Wie heißt es doch auf Seite 139 so allgemeingültig: „Jedes Leben ist eine Lebensaufgabe…“

Was einem zwischendurch wie bloße Abschweifung erscheinen mag, markiert in Wahrheit wohl die Spannweite der möglichen und (prinzipiell jedem zugänglichen) Lebenserfahrung, die eben potentiell auch rückwärts bis zu den Vorfahren und vorwärts bis zu Kindern und Enkeln reicht. Auch schon vor ergänzender Lektüre begründet dies eine Verantwortlichkeit für den Zustand der Welt. Die fassbare Dimension der Zeit umgreift mehr als das eigene Leben. Diese Einsicht bewirkt, dass man über sich und seine Generation hinausdenkt; dass man gewahr wird, wie sehr die Erde sich seit den Ahnen geändert hat, welche Verluste bereits eingetreten sind. Das Schicksal der Erde dreht sich derweil nicht mehr um zigtausend Jahre, es steht – so der glaubhaft erschreckende Befund – Jahr um Jahr mehr auf dem Spiel, ist vielleicht schon bald unwiderruflich besiegelt.

Welch eine Bürde für die Nachgeborenen!

Von immer neuen Seiten beleuchtet der Autor die gigantische Bedrohung. Gelegentlich scheint das Buch thematisch etwas auszufransen, doch nimmt es auch immer wieder die Hauptspur auf. Der Zufall (oder die Fügung?) wollte es, dass Magnason mehrfach Gespräche mit dem Dalai Lama führen durfte, dessen Weisheit in allen Dingen mit staunenswerter Zuversicht einhergeht, wie denn überhaupt gegen Schluss des Bandes einige Entwicklungen und Forschungen anklingen, in denen Lösungsansätze stecken könnten. Doch es geht eben nicht nur um Forschung, sondern zuallererst um Haltung und Entschlusskraft. Und Magnason ist überzeugt: Die jetzt heranwachsende ist die letzte Generation, die die Erde retten kann. Welch eine Bürde!

Andri Snær Magnason: „Wasser und Zeit. Eine Geschichte unserer Zukunft“. Aus dem Isländischen von Tina Flecken. Insel Verlag, 304 Seiten, 24 Euro.

 




Im Bergbau war von Arbeitsschutz lange nicht die Rede

Teilansicht vom weitläufigen Gelände des LWL-Industriemuseums in Dortmund. (Foto: Bernd Berke)

Nicht nur zum Tag der Arbeit am 1. Mai sollte man sich daran erinnern, wie wesentliche Teile der Arbeitswelt im Revier ehedem ausgesehen haben.

Ein kurzer Film des LWL gibt dazu einen Anstoß. Der ehemalige Bergmann Hans Georg Zimoch (heute 83), der über 40 Jahre als Kumpel unter Tage malocht hat (anders kann man es kaum ausdrücken), erzählt darin vom knochenharten und gefährlichen Leben der Bergleute. Zimoch selbst hat neun Kollegen durch Bergunglücke verloren. Allein auf der 1955 geschlossenen Dortmunder Zeche Zollern sind im Laufe der Jahrzehnte 161 Bergleute ums Leben gekommen.

Insgesamt haben zigtausend Menschen im Steinkohlebergbau ihr Leben verloren. Und dabei hat man noch gar nicht die Langzeitfolgen bei jenen mitbedacht, die zwar mit dem Leben davongekommen sind, aber unter Silikose litten und leiden. Staublunge, so sagt auch Hans Georg Zimoch, wird man nie wieder los, diese Krankheit ist unheilbar.

Erzählt im LWL-Video vom schweren Arbeitsleben der Bergbau-Kumpel: Hans Georg Zimoch (83). (Foto: LWL)

Noch bis in die 1920er Jahre hinein wurde in den Bergwerken vollkommen ungeschützt gearbeitet. Auch gab es bis dahin weder Kranken- noch Unfallversicherung für die Bergleute.

Von Arbeitsschutz, der den Namen verdiente, konnte bis in die 1950er Jahre hinein so gut wie gar nicht die Rede sein. Die ersten Ansätze waren dann immerhin konkrete Warnhinweise und Plakate, alsbald kamen Sicherheitskleidung (Gummistiefel mit Stahlkappen, feste Handschuhe, Kunststoffhelme) und ortsfeste Beleuchtung unter Tage hinzu. Erst seit Anfang der 1960er Jahre trugen die Bergleute Stirnlampen. Nicht von ungefähr hieß es „Vor der Hacke is‘ duster.“ Manchmal zappenduster.

Und der Maifeiertag? Vor rund 130 Jahren legten rund 100.000 Männer und Frauen in Deutschland am 1. Mai die Arbeit nieder. Von Anfang an waren solche Streiks nicht nur mit Forderungen zur Verkürzung der Arbeitszeit und nach besserer Entlohnung verknüpft, sondern galten eben auch auch den desolaten Arbeitsbedingungen, zu denen der fehlende Arbeitsschutz zählte. 1919 wurde der 1. Mai ein einziges Mal als proletarischer Tag der Arbeit begangen, ehe ihn später das Nazi-Regime für seine Zwecke missbrauchte. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg lebte die freiheitliche Tradition des Maifeiertages wieder auf.

Für Nicht-Revierkundige sei’s angefügt: Mit der Zeche Zollern hat es eine besondere Bewandtnis. Dem 1955 geschlossenen Bergwerk mit seinen imposanten Jugendstilbauten drohte der Abriss, der Ende 1969 – nach Protesten aus Bevölkerung und Fachwelt – verhindert wurde. Es war sozusagen der bundesweite Beginn des Denkmalschutzes auch für Industriebauten und zeugte von den Anfängen eines grundlegenden Bewusstseinswandels – nicht nur, aber speziell im Ruhrgebiet. 1979 wurde das Industriemuseum in der Zeche Zollern II/IV gegründet, seit 1999 fungiert es offiziell als Zentrale des LWL-Industriemuseums mit seinen acht Standorten. In der hoffentlich bald wieder besuchbaren Dauerausstellung des (derzeit noch wg. Corona geschlossenen) Museums erfährt man viel über die Sozial- und Kulturgeschichte des Bergbaus im Ruhrgebiet.




Die Geburt des Kinos in Europa: Vor 125 Jahren markierte das Patent der Brüder Lumière den Beginn einer neuen Epoche

Zunächst sieht man nur ein Tor. Dann quellen Damen mit langen Röcken und Hüten daraus hervor. Ein Hund springt einem Radfahrer aus dem Weg. Schließlich, nach einer Dreiviertelminute, nähert sich ein Pferdegespann. Der erste öffentlich projizierte Film der Weltgeschichte hält eine scheinbare Alltagsszene fest, aufgenommen mit einem „Kinematographen“ am Tor der Fabrik seiner Erfinder, der Gebrüder Lumière in Lyon.

Historische Aufnahme der Brüder Auguste und Louis Lumière. (Wikimedia Commons / public domain / Institut Lumière)

Der Name der beiden erfolgreichen Unternehmer ist geradezu sinnbildlich, denn das Licht war ein entscheidendes Medium in ihrer Arbeit. Auguste und Louis Lumière stellten ab 1882 in der Firma ihres Vaters, eines Malers und Porträtfotografen, Fotoplatten her. Im Jahre 1894, ein Jahr vor ihrer epochemachenden Entwicklung, ließen die Lumières von 300 Arbeitern 15 Millionen dieser Platten produzieren.

Im Februar 1895 meldeten sie ihren neu entwickelten „Cinématographe“ als Patent an. Das Gerät war in der Lage, einen Streifen eines Bromsilbergelatine-Negativfilms zu belichten, zu entwickeln und das Positiv zu projizieren. Vor 125 Jahren, am 22. März 1895, zeigten die Unternehmer-Brüder erstmals vor den Mitgliedern der „Gesellschaft für die Förderung der nationalen Industrie“ in Paris zehn ihrer Kurzfilme: die „Geburt“ des Kinos in Europa.

Erträumt: Projektion bewegter Bilder

Das Lumière-Verfahren war neu im Vergleich zu den Versuchen anderer Pioniere des bewegten Bildes. Vorgänger waren etwa die drehenden Bildscheiben des Belgiers Joseph Plateau und des Österreichers Simon von Stampfer um 1830, das „Kinetoskop“ Thomas Alva Edisons und das „Bioskop“ der Gebrüder Max und Emil Skladanowsky, die am 1. Dezember 1895 im Berliner „Wintergarten“ erstmals öffentlich bewegte Filmbilder gegen Eintritt vorführten.

Ein paar Wochen später, am 28. Dezember 1895, ließen die Gebrüder Lumière im Salon „Indien“ im Keller des Grand-Café in Paris eine Reihe kurzer Filme vor einer kleinen Schar von rund 30 zahlenden Gästen vorführen. Erstmals wurde ein praktikables System der Filmprojektion kommerziell eingesetzt: Der Tag darf als die Geburtsstunde des kommerziellen Kinos in Europa gelten. Der 35-Millimeter-Film mit den perforierten Transportstreifen an beiden Rändern jedoch, wie wir ihn bis zur Digitalisierung des Kinos kannten, feierte seine Premiere bereits 1893 auf der Weltausstellung in Chicago, wo Edison den Prototyp vorführte.

Allerdings war Edison noch nicht von der Möglichkeit überzeugt, den Film zu projizieren. Diesen Traum erfüllten sich Louis und Auguste Lumière. Sie wollten einem größeren Publikum auf einer Leinwand bewegte Objekte und Personen wirklichkeitsgetreu zeigen. Auguste Lumière erinnerte sich später: Eines Morgens Ende 1894 sei er zu seinem Bruder ins Zimmer gegangen und habe das Bett verwaist vorgefunden. „Mein Bruder hatte über Nacht den Kinematographen erfunden.“ Entscheidend war der Mechanismus des Filmtransports, den sich Louis Lumière von der Nähmaschine abgeschaut hatte.

Erschreckend: Bilder jenseits der Foto-Realität

Von dem kurzen Film „Arbeiter verlassen die Lumière-Werke in Lyon“ existieren mehrere Versionen; eine davon zeigten die Unternehmer-Brüder  erstmals vor den Mitgliedern der „Gesellschaft für die Förderung der nationalen Industrie“. Bei der Pariser Premiere im Grand-Café war unter den zehn von den Lumières selbst gedrehten Kurzfilmen „Abbruch einer Mauer“, der auch rückwärts gezeigt wurde und den verblüfften Zuschauern schon damals die Möglichkeiten des Kinos jenseits der Foto-Realität veranschaulichte.

Der Kurzfilm „Die Ankunft eines Zuges auf dem Bahnhof in La Ciotat“ soll der Überlieferung zufolge einen Teil der Besucher in Panik versetzt haben: Die frontal auf die Zuschauer zurollende Lokomotive ließ die einen hinter den Bänken Zuflucht suchen, die anderen sollen den Salon fluchtartig verlassen haben. Der Schweizer Medienwissenschaftler Johannes Binotto nimmt allerdings an, nicht die Furcht vor dem Zug habe die Menschen erschreckt, sondern dessen offensichtlich irreales und zugleich doch erstaunlich realistisches Abbild.

Das Interesse an den Vorführungen wuchs rasant: Schon im Januar 1896 nahmen die Lumières mit 20 Aufführungen pro Tag 2500 Francs ein. Am 20. April 1896 ließ der Unternehmer Ludwig Stollwerck in Köln den „Cinématographe“ zum ersten Mal in Deutschland vorführen. Die „perfekte Illusion des wahren Lebens“ (so ein Pressebericht) wurde zur Attraktion des Tages. Allerdings steht am Beginn des modernen Films und des Kinos bereits die Inszenierung. Die Arbeiterinnen und Arbeiter, die auf der Minute Zelluloid das Lyoner Werktor verlassen, sind nicht etwa auf dem spontanen Weg in die Mittagspause aufgenommen. Sondern sie hatten sich auf ein Zeichen von Auguste Lumière in Bewegung gesetzt, während sein Bruder Louis an seinem Apparat zu „kurbeln“ begann.




Jonathan Franzen: Der Kampf ums Klima ist bereits verloren

Beim Weltwirtschaftsforums in Davos hatte jeder seine eigene Wahrheit. Während Klima-Aktivistin Greta Thunberg davon sprach, dass die Welt in Flammen stehe und sie eine sofortige, radikale Reduktion aller Emissionen anmahnte, verbreite US-Präsident Donald Trump heiteren Optimismus, lobte seine eigene Politik und wies die Propheten des Untergangs aufs Schärfste zurück. Schade, dass der Schriftsteller und Vogelkundler Jonathan Franzen nicht nach Davos eingeladen war.

Der Autor, der seit dem Erfolg von „Die Korrekturen“ in der ersten Liga der Weltliteratur spielt, hat sich immer wieder in die Umwelt-, Klima- und Artenschutz-Debatte eingemischt: Sein Essay „Wann hören wir auf, uns etwas vorzumachen?“ hat erhebliche Sprengkraft.

Franzen möchte, dass wir der schmerzlichen Wahrheit ins Auge sehen: Das Spiel ist aus, wir haben den „Point of No Return“ erreicht, wir werden den Klimawandel nicht mehr verhindern. Auch wenn sich die Politiker noch heute aufraffen, die Emissionen mit sofortiger Wirkung radikal zu reduzieren und die Weltwirtschaft umzubauen: Es ist zu spät. Bis nachhaltige Effekte eintreten, würde es Jahre dauern, die wir nicht mehr haben.

Die Katastrophe wird kommen und wird fürchterlich sein: Dürre, Brände, Hunger, gigantische Flüchtlingsströme, gegen die alles bisherige nur ein harmloses Vorspiel war. Trump und alle Klimaleugner oder „Umweltsünder“ tun Franzen nur noch leid. Genauso alle Klima-Aktivisten, die ihre Kraft verschleudern und ihre Hoffnungen auf unrealistische Ziele richten, um dann in zehn Jahren, wenn immer noch nichts Grundlegendes passiert ist, zu resignieren.

Möglichst lange hinauszögern und halbwegs erträglich machen

Franzen aber will – trotz allem – Hoffnung verbreiten, er möchte, und das ist seine eigentliche Botschaft, dass Klimaaktivisten und Umweltschützer ihr Handeln darauf richten, das Inferno möglichst lange hinauszuzögern, es erträglich zu machen, sich auch wieder anderen, erreichbaren Themen zuwenden: dem Artenschutz, der Aufforstung, dem Umweltprojekt vor der Haustür, das man überschauen und begleiten kann, das die Gemeinschaft und letztlich die Demokratie stärkt.

Im Sommer 2019 war Franzen, der als junger Autor eine Zeitlang in Berlin gelebt hat, wieder in der Gegend, um in Ruhe zu schreiben, Vögel zu beobachten, in den Wäldern nach seltenen Wildtieren Ausschau zu halten. Es war heiß und trocken, und bei einer Radtour von Berlin nach Jüterbog ist er mitten ins Feuer-Inferno geraten, das plötzlich vor ihm ausbrach und dann tagelang in den Wäldern wütete. Franzen hat direkt vor Ort miterlebt, wie schnell sich die Feuerwalze ausbreitete, wie wehrlos die Feuerwehr den Naturkräften gegenüberstand und das Feuer nicht löschen, sondern nur begleiten, abwarten und auf Regen hoffen konnte.

Brände um Jüterbog stehen für die globale Katastrophe

Die Brände um Jüterbog sind für Franzen eine Metapher für die unaufhaltbare Katastrophe auf dem ganzen Planeten. Sie waren auch der Anlass, um für den „New Yorker“ den jetzt in deutscher Übersetzung vorliegenden Essay zu schreiben, der dem Autor einen gigantischen Shit-Storm eingebracht hat: vor allem von Klimaaktivisten. Denn es regt sie auf, dass Franzen behauptet, die Klimakatastrophe sei nicht mehr aufzuhalten, es nütze nichts, jeden Tag in einer liberal-demokratischen Zeitung zu betonen, man müsse jetzt die Ärmel aufzukrempeln und anpacken, damit wir in zehn Jahre Zeit die Klimaziele erreichen.

Nein, wir haben keine Zeit mehr, sagt Franzen, die Uhr ist abgelaufen, alle Warnungen und Prognosen, die der Club Of Rome im Buch über die „Grenzen des Wachstums“ schon vor über 45 Jahren formuliert hat, sind eingetroffen.

Die große Wut der Aktivisten 

Es nervt die Klimaaktivisten, wenn Franzen darauf hinweist, dass selbst bei Erreichen einiger Klimaziele, z. B. der Begrenzung auf zwei Grad Erwärmung, die Katastrophe laut Klimaforschern allenfalls „theoretisch“ noch abzuwenden ist, aber „praktisch“ eher nicht. Wenn Franzen einzelnen Klima- und Umwelt-Projekten attestiert, kompletter Blödsinn zu sein, Geld und Ressourcen zu verschwenden (wie bei der Bio-Dieselverordnung der EU, die zur Entwaldung von Indonesien zugunsten von öden Palmöl-Plantagen geführt hat), rasten sie aus. Es ist wunderbar, New York in ein grünes Utopia zu verwandeln, aber was nützt es, wenn die Texaner weiterhin Öl fördern und Pick-ups fahren?

Franzens Fazit: Wir sollten uns nicht länger belügen, sondern die bittere Wahrheit akzeptieren. Jeder muss für sich eine Entscheidung treffen: Was kann ich tun, um durch Konsumverhalten, Energieverbrauch usw. die Katastrophe ein wenig hinauszuzögern, das Überleben ein bisschen erträglicher zu machen.

Stärkung der Demokratie dringend nötig

Weil Katastrophen einher gehen mit brutaler Waffengewalt und Auflösung aller staatlichen und rechtlichen Verbindlichkeiten, ist für Franzen die Stärkung der Demokratie das oberste Ziel: Überall faire Wahlen garantieren, Vermögensunterschiede abschaffen, Hassmaschinen abschalten, Gleichberechtigung aller Rassen und Geschlechter herstellen, Pressefreiheit, humane Einwanderungspolitik, Respekt vor den Gesetzen: all das ist gesellschaftliche Klimapolitik, nur so können wir die Katastrophe meistern und abfedern – und nur dann hätte Franzen die „Hoffnung, dass die Zukunft, selbst wenn sie zweifellos schlechter sein wird als die Gegenwart, in mancher Hinsicht auch besser sein könnte.“

Jonathan Franzen: „Wann hören wir auf, uns etwas vorzumachen? –Gestehen wir uns ein, dass wir die Klimakatastrophe nicht verhindern können.“ Ein Essay. Aus dem Englischen von Bettina Abarbanell. Mit einem Interview von Wieland Freund. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Hamburg 2020. 64 Seiten, 8 Euro.

 




Mobilfunk mit neuer 5G-Technik: Deutsche Telekom hängt erst einmal das komplette Ruhrgebiet ab

Blick übers Ruhrgebiet von Westen her bzw. von der Höhe des Oberhausener Gasometers herab – in Richtung Essener Innenstadt. (Foto: Bernd Berke)

Blick übers Ruhrgebiet von Westen her bzw. von der Höhe des Oberhausener Gasometers herab – in Richtung Essener Innenstadt, die sich hinten in der Ferne erhebt. (Foto: Bernd Berke)

Ich weiß nicht, ob es schon sonderlich aufgefallen ist, ja, ob es überhaupt außerhalb der Region interessiert. Jedenfalls wird das komplette Ruhrgebiet mal wieder „abgehängt“, und zwar beim Ausbau der vielgepriesenen neuen Mobilfunk-Technologie 5G durch die Deutsche Telekom. Da heißt es also im Revier: noch längere Zeit warten aufs deutlich schnellere Internet, das beispielsweise fürs autonome Fahren benötigt wird.

Hier sind die nüchternen Telekom-Listen, Stand 22. Januar 2020, nachzulesen im Internet-Auftritt des börsennotierten Konzerns. Demnach ist 5G bei der Telekom teilweise und jedenfalls zuerst verfügbar in:

Berlin, Bonn, Darmstadt, Frankfurt/Main, Hamburg, Köln, Leipzig, München.

Geplant ist ferner der Ausbau für folgende Städte:

Bremen, Dresden, Düsseldorf, Erfurt, Hannover, Ingolstadt, Kiel, Magdeburg, Mainz, Potsdam, Saarbrücken, Schwerin, Stuttgart, Wiesbaden.

Richtig gelesen: Das gesamte Ruhrgebiet mit seinen rund 5 Millionen Bewohnern fehlt völlig. Kein Essen, kein Dortmund, kein Duisburg, kein Bochum. Beispielsweise. Obwohl diese Städte zum Teil erheblich mehr Einwohner haben als jene, die beim Ausbau ganz vorne mit dabei sind. Okay, Nürnberg ist auch noch nicht mit von der Partie. Weiß der Geier, warum. Auch sie hatten wohl keine schlagkräftige Lobby. Geschichtliche Gründe wird es ja wohl nicht haben.

Premium-Metropolen, Immo-Spitzenreiter und Landeshauptstädte bevorzugt

Ganz fix ist man in den üblichen „Premium-Städten“ mit den höchsten Immo-Kaufpreisen und Mieten, sodann in sämtlichen Landeshauptstädten bzw. Stadtstaaten der Republik. Letzteres wirkt so, als wolle man im „politischen Raum“ für Schönwetter sorgen und alle Landesväter (und Landesmütter) gefällig bedienen. Ja, man könnte spekulieren, ob das einstige Staatsunternehmen immer noch regierungsfromm ist und generell für den Status quo einsteht. Oder gar für den Status quo ante, für die (guten?) alten Zeiten also.

Warum aber Ingolstadt? Vielleicht wegen des Autobauers Audi, der dort ansässig ist? Warum dann aber nicht Wolfsburg? Etwa als Strafe für Diesel-Betrügereien? Und warum Darmstadt? Gewiss nicht, weil die Gesellschaft für Deutsche Sprache dort sitzt. Eher schon wegen der Nachbarschaft zum Börsenplatzhirschen Frankfurt. Und vor allem als einer der Hauptstandorte der Telekom.

Wo Dortmund dann doch noch vorn auf der Liste steht

Auffallend ist ferner, dass renommierte Universitäten in kleineren und mittleren Städten offenbar nicht zählen. Kommunen wie Heidelberg, Tübingen, Göttingen oder auch Münster gehen vorerst leer aus. Was das wohl zu bedeuten hat? Haben die Telekom-Manager denn mehrheitlich woanders studiert?

Das Folgende bitte ich keinesfalls als Werbung zu verstehen, dazu hört und liest man andererseits viel zu viel Negatives über den Kundenservice des britischen Konzerns: Tatsache ist freilich, dass Telekom-Konkurrent Vodafone etwa Dortmund ab Juli 2019 als eine der ersten Schwerpunkt-Städte für den 5G-Ausbau auf der Agenda hatte – zusammen mit Köln, Düsseldorf, Hamburg und München. Offenbar versucht man, möglichst schnell einen möglichst großen Prozentsatz der Bevölkerung zu erreichen, so dass alle Ballungsräume und die am dichtesten besiedelten Regionen Vorrang haben. Und dazu gehört nun einmal das Revier.

Zusatzfrage: Und wer versorgt das „platte Land“?

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Info: Lizenzen für rund 6,55 Milliarden Euro versteigert

Die Versteigerung der 5G-Lizenzen hatte 2019 – nach insgesamt 497 (!) Auktionsrunden – der Bundesnetzagentur insgesamt rund 6,55 Milliarden Euro eingebracht. Am meisten zahlte die Telekom (2,17 Milliarden), es folgten Vodafone (1,88 Milliarden), Telefónica (1,42 Mrd.) und Drillisch/United Internet (1,07 Mrd.).




Beide Weltkriegs-Bomben entschärft – Weite Teile der Dortmunder Innenstadt waren evakuiert

Seit Tagen und Wochen herrschte quasi Daueralarm, zumindest in stetig anwachsenden Vorstufen: Dortmund hatte sich gründlich auf die „Mega-Evakuierung“ (so das handelsübliche Steigerungs-Wort) an diesem Sonntag, 12. Januar, vorbereitet – im Großen und Ganzen und bis in alle vorhersehbaren Einzelheiten. Früher hätte man dafür das Wort „generalstabsmäßig“ verwendet, heute meidet man derlei martialische Ausdrücke lieber. Doch tatsächlich geht es ja immer noch um Kriegsfolgen.

Betroffenes Gebiet: Blick von der Kinderklinik zur Zentrale des Klinikums. (Foto von April 2015: Bernd Berke)

Betroffenes Gebiet, zu einer anderen Zeit: Blick von der Kinderklinik zur Zentrale des Klinikums. (Aufnahme von April 2015). (Foto: Bernd Berke)

Über 13.000 Menschen waren direkt betroffen

Vier etwaige Blindgänger-Bomben aus dem Zweiten Weltkrieg waren in der Innenstadt geortet worden, bei jedem einzelnen der (bis Sonntagmittag noch unbekannten) Objekte hätte es sich theoretisch um eine 500-Kilo-Bombe handeln können, also wurde sicherheitshalber jeweils ein Evakuierungs-Radius von 500 Metern gezogen. Zwischenzeitlich wurden am Sonntag zwei gefährliche Funde bestätigt: Die erste Bombe wurde heute gegen 15.30 Uhr an der Luisenstraße entschärft, um ca. 17 Uhr haben Spezialisten auch den zweiten Blindgänger (in der Beurhausstraße) unschädlich gemacht.

Zuvor mussten weite Teile der Innenstadt (bis spätestens Sonntag, 8 Uhr morgens) vorübergehend freigezogen werden. Direkt betraf diese Maßnahme über 13.000 Menschen. Dabei musste ungeheuer vieles bedacht werden, so u. a. auch die Frage nach der Mitnahme von Haustieren, um nur einen Nebenaspekt zu nennen. Doch so umfassend die organisatorische Leistung gewesen sein mag – mit den Leuten vom Kampfmittelräumdienst, die schlussendlich ganz nah ran mussten, hätte im Zweifelsfalle niemand tauschen wollen.

Drei große Kliniken im Einzugsbereich

Besondere Herausforderung im Vorfeld: Auch die Zentrale des Städtischen Klinikums, das Johannes-Hospital und die Kinderklink sowie zwei Altenheime zählten zum Einzugs- bzw. Auszugsgebiet. Bis auf wenige Intensiv-Fälle, bei denen das Transportrisiko gar zu groß gewesen wäre, sind die Patienten in andere Krankenhäuser verlegt worden, bis ins Umland hinein. Die komplizierte Aktion hat offenbar noch besser funktioniert als vorher geplant.

Auch der Dortmunder Hauptbahnhof durfte zeitweise nicht mehr betreten werden, Züge wurden umgeleitet; wie denn überhaupt Ausnahmezustand im gesamten öffentlichen Nah- und Fernverkehr rund um die Stadt herrschte. Auch andere Bereiche waren betroffen: Das Theater und andere Kulturstätten (u. a. Dortmunder U, Deutsches Fußballmuseum) blieben am Sonntag geschlossen, etliche Gastronomie-Betriebe ebenfalls. Mit anderen Worten: Das öffentliche Leben lag weitgehend brach.

Unterkunft im Ortsteil Scharnhorst

Die Bewohner des Klinikviertels und angrenzender Bereiche der Innenstadt wurden, sofern sie nicht bei Freunden oder Verwandten untergekommen sind, in einer Gesamtschule im Dortmunder Stadtteil Scharnhorst untergebracht. Alternativ konnten städtische Angebote wie der ausnahmsweise kostenlose Eintritt in den Zoo, in den Westfalenpark oder ins Südbad wahrgenommen werden. Erstmals wollte die Polizei übrigens Drohnen einsetzen, um zusätzlich die möglichst komplette Evakuierung zu überwachen. Es gibt ja immer mal wieder einzelne Leute, die sich weigern wollen, ihre Behausung zu verlassen. Und sind sie nicht willig, so…

Straße im Klinikviertel (August 2009). (Foto: Bernd Berke)

Straße im Klinikviertel (August 2009). (Foto: Bernd Berke)

Gespenstisch leere Straßen im Viertel

Zahlreiche Journalist(inn)en hatten sich für das Ereignis akkreditiert – offenbar weitaus mehr, als man zuvor erwartet hat. Dortmund hat es auch mal wieder mit ein paar Schnipseln in die ARD-Tagesschau um 20 Uhr geschafft. Aber ist das denn ein erstrebenswertes Ziel?

Die Ruhrnachrichten und der WDR hatten permanente Live-Ticker eingerichtet, mit denen man lückenlos auf dem Laufenden bleiben sollte. Auch viele andere Medien berichteten ausführlich, die in aller Regel weniger zimperlichen RTL, SAT.1 und „Bild“ ließen sich gleichfalls nicht lumpen. Erste Online-Fotos aus der Nacht zum Samstag zeigten bereits gespenstisch leere, weil auch komplett autofreie Straßen im Klinikviertel. Vielleicht ist es insofern eine Art Zukunftsschau ohne Absicht?

Wenn wir schon beim Thema Medien sind: Eventuell setzt sich ja eines Tages die Erkenntnis durch, dass eigentlich nicht Menschen „evakuiert“ (also: entleert) werden, sondern Gebäude, Gelände oder Zonen. Okay, das ist das geringste aller Probleme. Obwohl Präzision auch im Sprachlichen nicht schaden kann.

…und wenn es nur rostige Badewannen gewesen wären?

Apropos Zukunft: Ein Freiburger Forscherteam, das ein Simulationsmodell für Druckwellen und sonstige Auswirkungen explodierender Blindgänger entwickelt, betrachtet die (sehr realen) Vorgänge in Dortmund als eine Art Großversuch, der eingehend begleitet wird; damit man sich künftig vielleicht noch etwas präziser auf solche Ereignisse vorbereiten kann. Mag sein, dass dann die Sicherheitszonen nicht mehr so weitläufig bemessen sein müssen.

Ein Restaurant-Betreiber, der seinen Betrieb am Sonntag gar nicht erst öffnen wollte, gab sich der  örtlichen Presse gegenüber skeptisch bis verärgert: Wenn an den „Bombenverdachtspunkten“ (offizielle Bezeichnung) nun nur eine rostige Badewanne gefunden werde und sich das Ganze als falscher Alarm erweise, hätte Dortmund sich blamiert, findet er. Eine sehr spezielle Einlassung. Es drohte nach (inzwischen zweifach bestätigter) Experten-Einschätzung nun einmal Gefahr. Wer hätte da die Verantwortung übernehmen wollen? Etwa die Wirte und Pächter der umliegenden Gaststätten? Eben.

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Die folgenden Links haben nur begrenzte Gültigkeit:

Weitere Informationen der Stadt Dortmund: www.evakuierung.dortmund.de

Live-Ticker der Ruhrnachrichten

Live-Ticker des WDR: https://www1.wdr.de/nachrichten/ruhrgebiet/ticker-grosse-bombenentschaerfung-im-dortmunder-klinikviertel-100.html
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Infos mit Material u. a. von Ruhrnachrichten und WDR




Morgens an der S-Bahn: Lasset fahren die Hoffnung… (wird seit Mitte September fortlaufend aktualisiert)

Ein Stück der S-Bahn-Linie 4. (Foto: Bernd Berke)

Ein kurzes Stück der S-Bahn-Linie 4. (Foto: Bernd Berke)

So. Wir machen notgedrungen weiter mit unserer kleinen Bahnserie, die kürzlich mit seltsamen Schwierigkeiten beim Erwerb von Handytickets begonnen hat. Hat man diese Probleme überwunden, geht es erst richtig los. Beziehungsweise: Allzu oft geht es eben gar nicht los.

Jetzt begeben wir uns mal auf die Strecke. Die Rede ist von der S-Bahn-Linie 4, die zwischen Unna und Dortmund-Dorstfeld bzw. Lütgendortmund verkehrt oder verkehren soll. Betrieben wird sie von der DB Regio, also einer regionalen Unterabteilung der Deutschen Bahn, deren Kalamitäten bekanntlich ganze Beschwerde-Foren füllen, ja überquellen lassen – und neuerdings auch noch die global wirksame Aufmerksamkeit von Greta Thunberg gefunden haben, um es mal vorsichtig und möglichst neutral zu sagen.

Doch die DB Regio darf mit den S-Bahnen 1 und 4 weitermachen, obwohl sie die Ausschreibung für die Strecken verloren hat (siehe Nachricht weiter hinten).

Hauptstrecke zu drei großen Innenstadt-Gymnasien

Eine der wichtigsten Abfahrtzeiten des gesamten Tages ist (bzw. war) am S4-Haltepunkt Dortmund-Körne 7:29 Uhr morgens, an ebenfalls betroffenen anderen Haltepunkten gelten andere Vorgaben. Um diese Zeit jedenfalls brechen auf dieser Linie, von Osten her kommend, Hunderte von Schülern auf, um pünktlich vor Unterrichts-Beginn vor allem eines der drei Innenstadt-Gymnasien zu erreichen, die im unmittelbaren Einzugsbereich des Haltepunkts Dortmund-Stadthaus liegen: Mallinckrodt-Gymnasium, Stadtgymnasium und Käthe-Kollwitz-Gymnasium – mit zusammen deutlich über 3000 Schülerinnen und Schülern. Von den Lehrkräften und von allen anderen Arbeitnehmern oder auch sonstigen Fahrgästen, die gleichfalls auf diese Verbindung angewiesen sind, wollen wir gar nicht erst reden. Es dürfte einige Familien geben, die eine der drei genannten Schulen nicht zuletzt wegen der (theoretisch) guten S-Bahn-Anbindung gewählt haben…

Zugausfälle am Montag, am Dienstag, am Mittwoch und… 

Tatsache ist jedoch: Der genannte Zug fährt in den seltensten Fällen um 7:29 Uhr. In der Woche seit dem 16. September ist er bereits montags, dienstags und mittwochs ausgefallen, also bis dahin an jedem Wochentag. Am 5. und 6. September (beispielsweise) jeweils das gleiche Spielchen. Wie heißt der alte Buchtitel-Spruch nach Eric Malpass: Morgens um 7 ist die Welt noch in Ordnung. Mag ja sein. Um 7:29 Uhr zeigen sich jedenfalls erste Irritationen, sofern man die S-Bahn 4 nehmen möchte. Ob’s bei der Anfahrt von Westen her ähnlich betrübliche Befunde gibt?

Schlimmer noch: Viele können sich gar nicht darauf einstellen, denn in den Apps von VRR (Verkehrsverbund Rhein-Ruhr) und DSW21 (Dortmunder Stadtwerke) sind zwar die Fahrzeiten verzeichnet, von Zugausfällen erfährt man freilich meistens nichts vorab. Die Navigator-App der Deutschen Bahn soll in dieser Hinsicht etwas zuverlässiger sein. Sagt man. Und es stimmt auch. Die Lautsprecher-Durchsage am Bahnsteig quäkt, falls sie überhaupt erfolgt, jeweils ganz vage etwas von „technischen Problemen“.

Welch ein Beitrag zur „Klimawende“

Aber was hilft’s? Viele Hundert Leute müssen am kühlen und zugigen Bahnsteig weitere 10 Minuten warten und hoffen, dass wenigstens die nächste Bahn um 7:39 planmäßig kommt. Weil die wegen des vorherigen Ausfalls regelmäßig etwa die doppelte Menge an Passagieren aufnehmen muss, ist sie natürlich arg überfüllt. Und wehe, wenn auch sie nicht käme. Dann wären schon mal die allermeisten Schüler zu spät dran – eventuell auch noch bei einer wichtigen Klassenarbeit…

Immerhin: Jetzt eine halbwegs vernünftige App gefunden, die die Ausfälle rechtzeitig anzeigt... (Screenshot vom DB Navigator)

Immerhin: Habe jetzt eine halbwegs vernünftige App gefunden, die die Ausfälle wenigstens rechtzeitig anzeigt… (Screenshot vom DB Navigator)

Sehr wahrscheinlich haben sich angesichts dieser häufigen Ausfälle schon manche entschlossen, aufs morgendliche Bahnfahren zu verzichten. Statt dessen werfen sie dann doch wieder ihre Autos (darunter auch jene erschröcklichen SUV-Karossen) an und verstopfen die Straßen rund um die Schulen. Welch ein Beitrag zur „Klimawende“!

DB Regio: Weitermachen trotz verlorener Ausschreibung

Unterdessen schien eine kleine Hoffnung zu keimen, wenn’s denn überhaut eine Hoffnung war. Die DB Regio AG hatte die Ausschreibung für die Strecke verloren, so dass die S-Bahn-Linien 1 und 4 ab Dezember 2019 von der Gesellschaft Eurobahn (Keolis Deutschland) übernommen werden sollten, und zwar bis ins Jahr 2034.

Doch dann hat der Verkehrsverbund VRR nach eigener Einschätzung die Reißleine (oder passender: Notbremse) gezogen und der Eurobahn den Auftrag wieder weggenommen. Angeblicher Grund laut WDR-Bericht aus Essen: Die Eurobahn habe nicht genug Lokführer, um die S-Bahn-Linien 1 und 4 zu übernehmen und den Betrieb zu garantieren. Fragt sich angesichts der geschilderten Zugausfälle allerdings dringlich, ob die DB Regio dazu stets in der Lage ist. Sie hat selbst zu bedenken gegeben, dass sie auf die Fortsetzung des Betriebs eigentlich gar nicht eingestellt ist.

Zeitweise sah es so aus, als würde der Streit um die Strecken auch noch mit juristischen Mitteln ausgetragen. Keolis hat zwischendurch signalisiert, dass man die Übernahme der Linien keineswegs aufgegeben habe – und sich dann doch offenbar ins „Schicksal“ gefügt. Mittlerweile hat es offiziell eine gütliche Einigung gegeben.

Anfang November stand fest: DB Regio darf erst einmal weitermachen. Unzuverlässig wie gehabt?

Nachtrag am 12. Dezember 2019: Fatale Ausdünnung im Fahrplan

Nun, da die DB Regio den besagten Auftrag erst einmal in der Tasche hat (ob da wohl Beziehungen eine Rolle gespielt haben könnten?), verkündet der VRR teilweise rigorose Fahrplanänderungen, die ab 15./16. Dezember 2019 in Kraft treten. Für die oben geschilderte Verbindung bedeutet dies, dass man die Strecke in den morgendlichen Kernzeiten nicht mehr alle 10 Minuten, sondern nur noch alle 15 Minuten bedient – falls es nicht auch noch zu Ausfällen kommt. Die berüchtigte Abfahrtszeit 7:29 Uhr gibt es somit gar nicht mehr, es bleiben in jenem Zeitfenster nur noch 7:21 und 7:36 Uhr.

Man kann also mit Fug und Recht von einer deutlichen Ausdünnung reden. Welch‘ ein fatales Signal, angesichts der angeblich wachsenden Bedeutung des öffentlichen Nahverkehrs!

Nachtrag 15. bis 18. Dezember 2019: Wo bleiben die Aushangpläne?

Der neue Fahrplan ist doch sicherlich mit dem Start am 15. Dezember abrufbar gewesen? Nun ja, nur zum Teil. In der Bahn-App tauchen die korrekten neuen Zeiten auf, auch kann man online auf den gesamten Linienplan zugreifen. Was noch nicht funktioniert, sind die Aushangpläne für die einzelnen Stationen, auf denen man sofort sieht, wann „um die Ecke“ der nächste Zug fährt. Wohl viele Fahrgäste hätten sich zum Eingewöhnen die neuen Pläne gern ausgedruckt. Eine weitere Fehlanzeige…

Hat’s denn am ausgedünnten Dienstplan des Wochenendes gelegen? Nein, offenbar nicht. Auch am 16. und 17. Dezember waren die  neuen Aushangfahrpläne des Verkehrsverbundes Rhein-Ruhr fürs gemeine Volk noch nicht abrufbar. Am Nachmittag des 18.12. tauchten die Listen dann auf, Hallelujah!

Wir wollen uns lieber gar nicht vorstellen, wie es wäre, wenn Greta Thunberg auf die Dortmunder S-Bahn 4 angewiesen wäre. Dann wäre die Weltpresse aber heftig zugange!

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Anhang:

Chronik der Zugausfälle

Kleine Chronik der Fahrten bzw. Nicht-Fahrten an Werktagen um 7:29 Uhr
(S 4 ab DO-Körne, alter Fahrplan bis 14.12.2019), ohne Rücksicht auf Verspätungen:

Montag, 16. September: ausgefallen
Dienstag, 17. September: ausgefallen
Mittwoch, 18. September: ausgefallen
Donnerstag, 19. September: gefahren
Freitag, 20. September: gefahren

Montag, 23. September: ausgefallen
Dienstag, 24. September: ausgefallen
Mittwoch, 25. September: gefahren
Donnerstag, 26. September: ausgefallen
Freitag, 27. September: gefahren

Montag, 30. September: gefahren
Dienstag, 1. Oktober: gefahren
Mittwoch, 2. Oktober: gefahren

3. & 4. Okt. Feiertag/schulfrei

Montag, 7. Oktober: gefahren

Freitag, 12. Oktober, bis 21. Oktober (Herbstferien):
komplette Streckensperrung wegen Gleisarbeiten

Seitdem fuhr der 7:29er-Zug für einige Tage in aller Regel relativ regelmäßig ab – wenn auch häufig mit (schon bis DO-Körne angesammelten) Verspätungen von 1 bis 3 Minuten. Wir bleiben jedenfalls dran.

And here we go again:

Mittwoch, 13. November: ausgefallen
Donnerstag, 14. November: ausgefallen
Freitag, 22. November: ausgefallen

Montag, 25. November: ausgefallen
Mittwoch, 27. November: ausgefallen
Donnerstag, 28 November: ausgefallen

Dienstag, 3. Dezember: ausgefallen
Mittwoch, 4. Dezember: ausgefallen
Freitag, 6. Dezember: ausgefallen

Freitag, 13. Dezember: ausgefallen

Ende des alten Fahrplans.

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Einzelne Züge fallen trotz des ausgedünnten neuen Fahrplans immer noch aus, hier eine Zufallsauswahl am Haltepunkt Körne, Richtung DO-Innenstadt/Lütgendortmund:

Donnerstag, 19. Dezember: 16:36 ausgefallen, 18:21 ausgefallen

 




Wie die Technik den Sport angetrieben hat – eine aufschlussreiche Ausstellung in der Dortmunder DASA

Sport und Technik? Das sind doch wohl zweierlei Dinge. Von wegen! Beides hat innig miteinander zu tun. Spätestens beim Besuch der Dortmunder Ausstellung „Fertig? Los! Die Geschichte von Sport und Technik“ wird es klar.

Schrittmacher aus den 30er Jahren, in dessen Windschatten mit Fahrrädern Rekorde gafahren wurden. (Foto © Andreas Wahlbrink - DASA)

Auffälliges Schaustück: Schrittmacher-Motorrad aus den 1930er Jahren, in dessen Windschatten mit Fahrrädern Rekorde gebrochen wurden. (Foto © Andreas Wahlbrink – DASA)

Die aus dem Mannheimer „Technoseum“ kommende, in der Dortmunder DASA nur unwesentlich veränderte Schau blättert – mit rund 330 Exponaten in sechs Kapiteln – viele Aspekte des populären Doppelthemas auf.

Gleich hinterm Eingang sieht man ein wuchtiges Schrittmacher-Motorrad aus den 1930er Jahren, in dessen Windschatten Fahrradfahrer immer neue Geschwindigkeits-Rekorde aufstellten. Nach und nach galt das Prinzip praktisch für alle Sportarten: Ständige Optimierung und Leistungssteigerung bis ins Extreme setzten sowohl beim menschlichen Körper als auch bei Ausrüstung und Material an. Gezeigt werden dazu u. a. ein alter Skispitzenbiegebock (welch ein Wort!) aus dem Schwarzwald, diverse Bodenbeläge (Tartanbahn, Kunstrasen), ständig verbesserte Lauf- und Fußballschuhe, Räder, Schlitten, Speere und Sprungstäbe oder auch eine enorm wirksame Beinprothese für Paralympics-Teilnehmer.

Zuspitzung im Zuge der Industrialisierung

Mehr als verdächtig: In England, wo einst die Industrialisierung begonnen hatte, fing auch die leistungsgierige Zuspitzung des Sports an. Leistung im Sport und in der modernen Arbeitswelt haben eben verwandte Wurzeln im Kapitalismus – ein Zusammenhang, dem die Ausstellung ebenso gründlich wie unterhaltsam nachspürt, und zwar auch im Breitensport.

Sportliche Erfolge und Erfolgsaussichten bringen auch Maskottchen und Merchandising mit sich... (Foto: © Klaus Luginsland / Technoseum)

Sportliche Erfolge und Erfolgsaussichten bringen auch Maskottchen und Merchandising mit sich… Hier eine Auswahl in der Vitrine. (Foto: © Klaus Luginsland / Technoseum)

Es zeigt sich, wie einheitliche Regeln, Normen und Spielfeld-Markierungen sowie zusehends verfeinerte Zeit-, Weiten- und Höhenmessungen die universelle Vergleichbarkeit der Leistungen sicherstellen sollten. So zeugt beispielsweise eine um 1840 gefertigte Stoppuhr mit Tintenschreiber (beim Drücken sonderte die Sekunden-Nadel punktgenau kleine Kleckse ab) vom Bemühen um exakte Resultate. Im weiteren Rundgang sieht man die Stoppuhr des legendären Fußball-Bundestrainers Sepp Herberger, mit der er seine Mannen scheuchte. 1954 hat es bekanntlich geholfen.

Doping begann in Pferderennsport

Doch längst nicht immer wurden Höchstleistungen auf fairem Wege erzielt. Es geht deshalb auch um Doping-Auswüchse. Diese nahmen ihren Anfang übrigens beim Pferderennsport, wo schon früh ziemlich viel (Wett)-Geld auf dem Spiel stand. Eigene Pferde wurden zuweilen heimlich aufgeputscht, gegnerische Tiere pharmazeutisch gehemmt. Nicht viel später nahmen Radfahrer zum Teil dieselben Mittel ein, die zuvor den Tieren verabreicht worden waren. Ein weites Feld, auf dem ausgerechnet Radsportler schon sehr früh aktiv gewesen sind. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt…

Überaus respektabel nehmen sich sinnfällig dargestellte Höchstleistungen aus: Mike Powells wahnwitziger 8,95-Meter-Weitsprung von 1991 wird mit schlichten Bodenlinien (un)fassbar gemacht, die 258 Kilogramm, die ein Gewichtheber stemmte, lasten quasi tonnenschwer am Boden. Wohl niemand wird sie vom Fleck rühren können.

Plakat zur Fußball-Weltmeisterschaft 1962 – für einen Kinofilm zum Großereignis. (Foto © Technoseum Mannheim)

Plakat zur Fußball-Weltmeisterschaft 1962 – für einen Kinofilm nach dem Großereignis. (Foto © Technoseum Mannheim)

Als das Korsett sich allmählich lockerte

Das zeitliche und gesellschaftliche Spektrum reicht vom Bierkrug im Geiste des Turnvaters Jahn („frisch fromm fröhlich frei“) bis zu allerneuesten urbanen Trendsportarten, deren durchweg anglophone Namen man teilweise noch nie gehört hat.

Lehrreich auch die Geschichte der Sportbekleidung: Da verblüfft das eng geschnürte, aber im Vergleich zu „mörderischen“ Vorläufern schon ein wenig gelockerte Sportkorsett für die halbwegs emanzipierte Dame. Da staunt man über eine riesenhafte Badehose aus der Arbeitersport-Bewegung – und erst recht über den hautengen Original-Schwimmanzug eines Michael Phelps, der damit Dutzende von Goldmedaillen und Weltrekorden errang. Die der Haifisch-Haut nachgebildete Oberflächenstruktur steigerte die Leistung dermaßen effektiv, dass solche Anzüge alsbald verboten wurden.

Größere Tischtennisbälle eigens fürs TV

Wie bei DASA-Ausstellung üblich, kann man auch diesmal einiges selbst ausprobieren. So dürfen Besucher diverse Fitness-Geräte testen, sich selbst per Kamera und Monitor auf einem Zielfoto mit verzerrten Körper-Proportionen begutachten oder in einer Reporterkabine ausgewählte Spielszenen „live“ kommentieren. Man erfährt in diesem Zusammenhang, wie just das Fernsehen so manche Sportart nachhaltig verändert hat. Tischtennisbälle wurden vergrößert, weil die TV-Leute es für besser hielten. Medial und journalistisch lagen die Ursprünge ebenfalls in England: Bereits ab 1792 erschien dort das gedruckte Periodikum „The Sporting Magazine“.

Bei einem Ballspiel hinterm Schutznetz lässt sich zudem mit einer Art Hockeyschläger feststellen, auf welche Geschwindigkeit man das Spielgerät beschleunigt. Hier schon mal zwei Maßzahlen, mit untrüglicher Radarmessung ermittelt: Ausstellungs-Kurator Dr. Alexander Sigelen kam auf knapp 70 Stundenkilometer, ein Mannheimer Eishockeystar brachte es auf 165 km/h. Training zahlt sich eben aus.

Ein hochmodernes Trimmrad von 1905

Nur eine von etlichen Kuriositäten sei noch erwähnt: Geradezu hochmodern mutet das historische Trimmrad „Velotrab“ von 1905 an. Beim Pedaltreten hob und senkte sich der Sattel, als ob man auf einem trabenden Pferd gesessen hätte – eine derart pfiffige Idee, dass man sich fragt, warum sie seither nie wieder kommerziell aufgegriffen wurde.

Am Ausgang gibt’s eine Umfrage. Besucher(innen) sollen ihre Motivation zum Sport verraten. Geht’s ihnen in erster Linie um die Gesundheit, ums Gemeinschafts-Erlebnis, um Leistungssteigerung oder um körperliche Schönheit? – Und wie tut man seine Sicht der Dinge kund? Ganz sach- und fachgerecht: indem man Bälle in transparente Röhren wirft. Welche wird sich wohl am schnellsten füllen?

„Fertig? Los! Die Geschichte von Sport & Technik“. DASA Arbeitswelt Ausstellung, Dortmund, Friedrich-Henkel-Weg 1. Noch bis zum 19. April 2020. Mo-Fr 9-17, Sa/So 10-18 Uhr. Katalog 29,95 Euro.

www.dasa-dortmund.de

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Der Beitrag ist zuerst gedruckt im „Westfalenspiegel“ erschienen. Internet-Auftritt des Kultur-Magazins, das in Münster herauskommt: https://www.westfalenspiegel.de




Beim Archivieren älterer Zeitungsbeiträge für die Revierpassagen – eine Selbstbegegnung und Selbstbefragung

Die WR-Kultur- und Wochenend-Rdekation, ca. Anfang der 1990er Jahre, der Verfasser dieser Zeilen links vorn sitzend, dahinter (v. li.) Arnold Hohmann, Jürgen Overkott (damals Volontär), Berrens (Sekretariat), Rolf Pfeiffer, Johann Wohlgemuth, Hildegard Dörre. (Foto: Bodo Goeke)

Die WR-Kultur-/Fernseh- und Wochenend-Redaktion, ca. Anfang der 1990er Jahre, noch mit „altertümlich“ klobigem Computer-Gerät nebst mechanischer Schreibmaschine. Der Verfasser dieser Zeilen links vorn sitzend; stehend (v. li.) Arnold Hohmann, Jürgen Overkott (damals Volontär), Christel Berrens (Sekretariat), Rolf Pfeiffer, der damalige Ressortleiter Johann Wohlgemuth und Hildegard Dörre, Leiterin der Wochenendbeilage. (Foto: Bodo Goeke)

Wisst Ihr, womit ich mich seit einiger Zeit plage (und auch amüsiere)? Nun, ich bin dabei, ein kleines Archiv für die Revierpassagen aufzubauen, das ältere Artikel aus meiner „Feder“ umfasst. Weitergehendes steht mir ja nicht zu. Zur Zeit reicht dieser ausgesprochen lückenhafte Rückblick von Anfang 1993 bis 2006, rückwärtige Verlängerungen bis in die 80er Jahre hinein sind vorgesehen (Update: und inzwischen begonnen).

Ab 2007 setzen dann allmählich die Texte für „Westropolis“ und ab April 2011 für die eigentlichen Revierpassagen ein, womit dann endlich auch andere Autorinnen und Autoren ins mehr- bis vielstimmige Spiel kommen. Gut so. Übrigens ist dies just der 4000. Beitrag, der bei den Revierpassagen zu finden ist. Nicht übel, oder?

Immerhin auffindbar

Was das Archiv anbelangt: Der eine oder andere Rückblick in die jüngere kulturelle Revier-Geschichte mag dabei abfallen. Und was soll ich Euch sagen: Es ist schon ein eigenes Ding, dermaßen in die eigene (berufliche) Vergangenheit zu blicken. Dazu gleich noch mehr.

Offenbar nehme ich mich ja selbst wichtig genug, um die eigenen Hervorbringungen der digitalen Mit- und womöglich Nachwelt zu hinterlassen. Muss mir das jetzt unangenehm sein? Wenn man sich zu sehr oder auch gar nicht wichtig nähme, wäre es womöglich gleichermaßen ein Alarmsignal.

Irgendwann im WR-Konferenzraum: das damalige Ensemble der Ruhrfestspiele zu Gast. (WR-Foto)

Irgendwann während der 1980er Jahre im WR-Konferenzraum, als dort noch geraucht werden durfte: das damals noch bestehende, eigene Ensemble der Ruhrfestspiele zu Gast. (WR-Foto)

Vieles ist jetzt schon von gestern oder vorgestern, punktuell meinetwegen auch „historisch“ im Sinne einer deutlich wahrnehmbaren und vom Jetzt abgesetzten Vergangenheit. Sicherlich gibt es prägnantere Zeugnisse jener Zeiten, doch was die Region angeht, dürfte hier die eine oder andere Kleinigkeit zu holen sein.  Vielleicht sucht ja mal jemand nach Dortmunder Theateraufführungen bzw. Kunstausstellungen der 80er oder 90er Jahre des letzten Jahrhunderts. Besser, als wenn es überhaupt nicht auffindbar wäre, nöch?

Frühes Internet, Euro-Einführung, Rechtschreibreform

Zu ahnen sind – etwa gegen Mitte bis Ende der 90er Jahre – die Anfänge des Internets, zunächst noch tastend und zaghaft, später dann immer selbstverständlicher, schließlich auch schon vereinzelt im Überdruss. Sodann die wandelbaren deutsch-deutschen Fährnisse, der Sprung von den DM- in die Euro-Zeiten. Das Hin und Her um die Rechtschreibreform und um die Kulturhauptstadt Ruhr. Du meine Güte, 2010 ist bald auch schon wieder eine Dekade her.

Was subkutan noch alles zu gewärtigen wäre, möchte ich selbst nicht näher untersuchen, es liefe über die Maßen auf Selbstbespiegelung hinaus. Redaktionell ließe sich sagen, dass zeitweise einzelne Rezensionen unwichtiger genommen wurden. Stattdessen sollten – nach dem Willen gewisser Chefredakteure – Alltags-Phänomene aus feuilletonistischer Sicht betrachtet werden. Merksatz, den man nun wirklich nicht mehr hören mag: „Die Leute da abholen, wo sie sind…“ Das war vielleicht gar ein Vorläufer von „Das wird man ja wohl noch sagen dürfen!“ Vom Populären zum Populistischen sind es manchmal nur ein paar Schritte.

Wirkliche Debatten haben unterdessen die überregionalen Zeitungen angezettelt. Gelegentlich bis zum Exzess. Man sprach ja auch hochwichtig von „Debatten-Feuilleton“. Ganz ehrlich: Dazu hatten wir im östlichen Revier nicht die freien Köpfe und nicht die ausreichenden Mittel. Von der Personalstärke ganz zu schweigen.

Anno 1988: Feierliche Zusammenkunft der WR-Mantel- und Lokalredaktionen, vermutlich anlässlich des Wechsels in der Chefredaktion von Günter Hammer zu Frank Bühnte. (Foto: Bodo Goeke)

Anno 1988: Feierliche Zusammenkunft der WR-Mantel- und Lokalredaktionen, anlässlich des Wechsels in der Chefredaktion von Günter Hammer (ganz rechts vorn) zu Frank Bünte (vorn Mitte, direkt links neben der hochgehaltenen Zeitung). (Foto: Bodo Goeke)

Seitenproduktion unter erschwerten Bedingungen

Über viele Jahre hinweg konnte das sehr überschaubare Team sich ja nicht einmal auf die Kulturseite konzentrieren, sondern musste gleichzeitig die Fernseh-/Medienseite sowie zeitweise auch noch die Wochenendbeilage erstellen und dabei etlichen „populären“ Phänomenen hinterher laufen, die einen von Kultur eher ablenkten.

Trotzdem glaube ich, dass wir – angesichts der Verhältnisse – oft ein passables bis achtbares Blatt gemacht haben. Jawoll! Vor allem, wenn man es mit manchen heutigen Entwicklungen im regionalen Kulturjournalismus vergleicht. Hie und da ist Kultur als eigenständiges Ressort ja schon gar nicht mehr richtig vorhanden… Auch hätten wir damals Firlefanz wie gereckte Daumen oder Sternchen-Wertungen nicht mitgemacht.

Technisch geht das rückwärtige Vordringen ins Gestrige so vor sich: Eitel genug, habe ich meine Print-Artikel aus der Westfälischen Rundschau (deren Kulturredaktion ich von 1982 bis 2009 angehört habe – ab 1998 als deren Leiter) über die Jahre hinweg getreulich aufgehoben. Neuerdings gibt es taugliche Apps, mit denen man per Smartphone solche Texte hurtig scannen und in digitale Dateien umwandeln kann. Es ist immer noch ein mühseliges Geschäft, weil die OCR-Programme beileibe noch nicht alle Buchstabenfolgen korrekt erkennen, doch immerhin: Man kommt recht zügig voran.

Woher stammen Schlingensief und Kerkeling?

Damit ich’s nur gestehe: Beim Verarbeiten der alten Texte sind mir vereinzelt auch peinliche Fehler aufgefallen, die „damals“ im hektischen Aktualitäts-Getümmel untergegangen sind. Gewiss: Man hat nach Möglichkeit die Texte der Kolleg(inn)en gegengelesen und selbst gegenlesen lassen. Doch nicht immer waren derlei Bemühungen von Erfolg gekrönt. Andere Ressorts waren da ganz bestimmt nicht besser, ich glaube sogar: Wir haben genauer hingeschaut. Dies und das hat sich freilich „versendet“, wie man in anderen Medien traditionell zu scherzen beliebt. Blöd nur, dass das Gedruckte so hartnäckig stehenbleibt.

Was man nicht alles geknipst hat: Hinweisschild im WR-Aufzug... (Foto: Bernd Berke)

Was man nicht alles geknipst hat: Etagen-Wegweiser im Dortmunder WR-Aufzug… (Foto: Bernd Berke)

Beim Archivieren habe ich die erkannten Fehler selbstverständlich korrigiert. Als da beispielsweise wären: die bodenlose Behauptung, Christoph Schlingensief sei in derselben Ruhrgebietsstadt geboren wie Hape Kerkeling. Humbug! „Schlinge“ stammte aus Oberhausen, Hape aus Recklinghausen. Richtig unangenehm auch ein Buchstabendreher dieser Sorte: „Konservationsstück“ statt „Konversationsstück“. Puh!

Ein andermal habe ich tatsächlich bei einer Uraufführung den Vornamen der (damals wie heute herzlich unbekannten) Stückeschreiberin verhunzt und Eva statt Vera hingesetzt. Nur schwer verzeihlich. Normalerweise gucke ich in derlei Fällen eher dreimal hin. Denn Namen sind eben nicht nur Schall und Rauch. Nichtsdestotrotz ist es mir gleich zweifach passiert, dass ich den Namen von Armin Rohde „geringfügig“ falsch geschrieben habe. Und einmal ist mir der allerpeinlichste Fehler unterlaufen, als ich „Leientheater“ statt „Laientheater“ hingetippt habe. Das tut immer noch richtig weh. Drum schnell noch eine falsche Zahl hinterher: 1972 hätten die „Jungen Wilden“ bei der documenta Furore gemacht? Denkste. Es war natürlich 1982.

Ein ziemlich interessanter Beruf

Schon seltsam, sich selbst Jahrzehnte danach bei solchen Fehlern zu ertappen. Meistens aber waren die Sachen doch ziemlich korrekt, es geht ja insgesamt um mehrere Tausend Artikel. Und auch im Nachhinein bin ich noch mit manchen Beiträgen recht zufrieden oder einverstanden, obwohl ich im Rückblick die eigenen Marotten erkenne – und obwohl das Medium Regionalzeitung in der WAZ-Gruppe (heute Funke-Gruppe) dem Schreiben hie und da recht enge Grenzen gesetzt hat.

Schon allein die Beschränkung auf maximal rund 140 bis 150 Zeilen à 27 Anschläge, ganz ohne Ansehen des Themas… Aber das war noch relativer Luxus, verglichen mit heute, wo es auch mit dem Betriebsklima bei etlichen regionalen Medien hapert. Ich könnte Rösser, Reiter und Gerittene nennen, lasse es aber füglich bleiben.

Viele Jahre lang die zweite, wenn nicht gar die erste „Heimat": Blick in den Raum der WR-Kulturredaktion, anno 2008. (Foto: Bernd Berke)

Viele Jahre lang zweite, wenn nicht gar erste „Heimat“: Blick in die leere WR-Kulturredaktion am Brüderweg 9, anno 2008, nunmehr mit Flachbildschirmen. (Foto: Bernd Berke)

Und weiter: Ja doch, man hat über die Jahrzehnte einen ziemlich interessanten Beruf ausgeübt. Manchmal hat es sich schön geballt. Etwa so: Am einen Tag ein Konzert von Neil Young erlebt, kurz darauf den großen Frank Sinatra (1993). Oder eine Ausstellung mit Christo. Bei ein- und derselben Buchmesse (1995) mit Rühmkorf und Gernhardt sprechen zu dürfen. Oder so ähnlich. Berühmte Kulturschaffende wie Günter Grass, Gerhard Richter oder David Hockney persönlich erlebt zu haben. Mit schreibenden Menschen wie Martin Walser, Dieter Wellershoff, Harry Rowohlt oder Wilhelm Genazino und etlichen anderen gesprochen zu haben. Wenn auch oft nur unter Zeitdruck in engen Verlagskojen der Frankfurter Buchmesse. Nur zu schade, dass man die entsprechenden Tonkassetten nicht aufgehoben hat, darauf war viel mehr Material, als dann gedruckt erscheinen konnte. Dahin, dahin.

Andere Namen, andere Zeiten

Apropos: Im Rückblick habe ich auch bemerkt, dass ich das Hauptaugenmerk auf eine damals zeitgemäße Autorengeneration gerichtet habe, die inzwischen längst abgetreten ist. Zwar nicht mehr Böll. Und nur noch halbwegs Grass. Aber noch Walser, Ingeborg Bachmann, Enzensberger, Rühmkorf und Handke, sodann (bereits während des Studiums) Brinkmann und Nicolas Born, hernach beispielsweise Alexander Kluge, Botho Strauß, Paul Nizon oder eben Wilhelm Genazino. Jenseits der Landesgrenzen Cees Nooteboom, Milan Kundera, Lars Gustafsson. Um nur einige wenige zu nennen.

Noch deutlicher im Bereich Rock und Pop: Musikalisch in den 60ern und 70ern sozialisiert, war man in den frühen 80ern – wenn auch schon etwas widerwillig – noch halbwegs auf der Höhe. Dann wurde immer klarer: Man hat auch hierin „seine Zeit gehabt“. Der Rückgriff auf die eigenen „Idole“ hat nicht einmal mehr nostalgischen, sondern nur noch historischen Sinn. Wie bitte? Jaja, natürlich war die Musik nie wieder so gut wie damals.

Der um 2005/2006 eingeführte News Desk der WR – nach „Feierabend". (Foto: Bernd Berke)

Der um 2005/2006 eingeführte News Desk der WR – nach Spätschicht-„Feierabend“ abgelichtet. (Foto: Bernd Berke)

Bleisatz, grünes Flimmern usw.

Auch technisch ist so einiges an einem vorübergezogen. Los ging’s wahrlich noch mit Bleisatz, später flimmerten die frühen Computer-Terminals (alias „Tömmels“, wie wir sie nannten) grünlich vor sich hin, das waltete die Firma Atex. Jede Befehlskette war elend umständlich. Es ratterten noch die Fernschreiber („Ticker“) und der nach heutigen Begriffen ungemein langsame Bildfunk der Nachrichten-Agenturen. Wie schneckenhaft die Fotos aus dem Gerät gekrochen sind…

Irgendwann kam dann (Tele)-Fax auf, was einem anfangs geradezu hexerisch modern erschienen ist und neuerdings wieder eine kleine Renaissance erlebt. Dann der „Lichtsatz“, gleichfalls als letzter Schrei wahrgenommen und ebenfalls schon bald veraltet. Schließlich der Ganzseiten-Umbruch, die vielteilige Bildschirm-Wand im Konferenzraum, das Internet, das sich in allen Vorgängen rasant ausbreitete. Nun konnte jede(r) jedem in die Karten gucken. Zuweilen gar in Echtzeit.

Und heute? Online-Abos, Streaming, YouTube-Kanäle von allerhand „Influencern“ und „Aktivisten“, so genannte soziale Netzwerke etc. Eines nicht so fernen Tages wird einem die gedruckte Gazette wie ein liebenswertes Relikt vorkommen. Oder wie ein Kleinod.

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Gar nicht zu vergessen: Nach und nach sind immer mehr Kolleginnen und Kollegen „von früher“ verstorben, mittlerweile auch aus Jahrgängen, die einem nicht fern liegen.




„Unboxing“-Videos: Wenn der Nerd die neuen Geräte auspackt

Screenshot aus einem Erklär-Video vom „Technikfaultier". Vorgeführt wird ein iPad von Apple.

Bildnis mit Gerät und Nutzer: Screenshot aus einem Erklär-Video vom sich selbst so nennenden „Technikfaultier“. Vorgeführt und gleichsam rezensiert wird hier das iPad 10.2 (2019) von Apple.

Ich muss ein Geständnis ablegen: Ich bin ein Fan von gut gemachten „Unboxing“-Videos.

Der Laie fragt entgeistert: Nanu? Nein, es hat nichts mit Boxen oder anderlei Körperverletzung zu schaffen, sondern ist ein eigenes, sehr weit verbreitetes Genre, zumal bei YouTube. Da treten zahllose Freaks und Nerds mit mehr oder minder ausgeprägten Spezialbegabungen an, um neue Geräte zu erklären. Stiftung Warentest 4.0, wenn man so will. Aber nicht ganz so stockseriös. Denn das käme beim wohl vorwiegend jüngeren Publikum auch nicht so gut an. Es wäre nicht „cool“ genug.

Und was hat es mit dem Wort „Unboxing“ auf sich? Nun, es steht schlicht und einfach fürs Auspacken neuer Ware (aus der Box/Schachtel holen), vor allem betrifft es technische Gerätschaften aus den Bereichen Computer, Smartphones oder Audio.

Gewiss, da gibt es Gähnstoff-Videos zum alsbaldigen Einschlafen, die das Entfernen jeder, aber auch wirklich jeder Umverpackung ausführlich im kaum bewegten Bild dokumentieren, bevor es dann schließlich bräsig zur Sache geht. Da wird halt rasch weggeklickt.

Die besseren YouTuber dieser Richtung gehen allerdings deutlich flotter und zielgerichtet zu Werke. Schließlich wollen sie möglichst einige Tausend Zugriffe ernten, um sodann von den Herstellern mit brandneuen Apparaten kostenfrei bemustert zu werden.

Nützliche Tipps – vorher oder nachher

Ist man drauf und dran, ein Gerät zu kaufen oder ist gar die Sendung schon unterwegs, kann man sich hier schon mal etwas schlauer machen, was Qualitäten, Mängel und Handhabung angeht. Häufig wird konkrete Vorfreude geweckt. Die gewiefteren „Influencer“ (verzeiht mir bitte dieses grippale Unwort) zeigen jedoch durchaus auch Schattenseiten der ausgepackten Ware, wenn auch zumeist freundlich-unterhaltsam verbrämt. Hin und wieder aber auch sehr freimütig.

Im Nachhinein, wenn man ein Teil schon erworben hat, gibt es hier noch manchen nützlichen Tipp. Wenn’s gut läuft, nimmt man dann noch rechtzeitig sein Widerrufsrecht wahr. Oder man lernt, mit den kleineren Mucken eines Geräts fertig zu werden. Oder man ist und bleibt angetan, nun aber quasi fundiert.

Man wird in diesen Filmen wohl nicht mehr versteckte werbliche Aussagen finden als – sagen wir mal – im Reise- oder Motorteil einer Tageszeitung (zwei besonders anfälligen Ressorts also). Es scheint weithin üblich zu sein, dass man ganz offen sagt, von der Industrie kostenlose „Rezensions-Exemplare“ bekommen zu haben. Gut so. Solche Transparenz hilft bei der Einschätzung.

Zwischen Warenfetischismus und persönlicher Eitelkeit

Mit der Zeit wird man den oder jenen Ratgeber (tatsächlich sind es auf diesem Gebiet meistens jüngere Männer) entdecken, dem man besonders vertraut. Einer, der mir schon durch seinen pfiffigen Spitznamen aufgefallen ist, zählt dazu. Er nennt sich „Technikfaultier“ und ist immer mal wieder für ein paar brauchbare Hinweise gut. Andere tun es ihm gleich. „Technikfaultier“ hat übrigens 226.000 Abonnenten bei YouTube (also mehr Dauernutzer als die meisten deutschen Tageszeitungen) – vom virtuellen „Laufpublikum“ ganz zu schweigen.

Viele Unboxing-Videos zeigen lediglich das besprochene Gerät, was sehr leicht in Warenfetischismus ausarten kann. In anderen Beiträgen lassen sich auch die Urheber blicken – oft nicht ganz uneitel (manche hören sich sehr gerne reden), gelegentlich auch mitsamt ihrer Wohnungseinrichtung oder anderen Accessoires. Es muss eben jeder selbst wissen, wie er sich und seine Lebensweise vor einem potenziellen Millionen-Publikum offenbart.

„YouTuber(in)“ als Berufswunsch bei Kindern

Wo wir schon mal so traulich beim Thema sind: Bereits unter Acht- bis Zehnjährigen kursiert derweil „YouTuber(in)“ als häufiger Berufswunsch. Tierärztin und Fußballspieler können damit noch halbwegs mithalten – aber dann wird es schon dünn. Nun gut, das gibt sich in ein paar Jährchen.

Ein anderer, jedoch verwandter Fall sind die unzähligen Erklärvideos im Netz, die einem auch noch die letzten Kniffe en détail beibringen sollen: beispielsweise, wie, womit und was man kochen oder grillen soll; beispielsweise, wie, wann und warum man Rasen mäht oder Flecken entfernt – und das sind nur die populärsten Beispiele. Es gibt da wahrhaft exotische „Lebenshilfe“, die einem in netzlosen Zeiten so nicht zur Verfügung gestanden hat. Ganz ehrlich: Es sind darunter womöglich unbedarfte, aber keineswegs die unsympathischsten Seiten im www.

 




„Der montierte Mensch“ – eine vorzügliche Folkwang-Ausstellung fragt nach Individuum und Masse in der Kunst

Fernand Léger Le Mécanicien, 1920 Öl auf Leinwand, 116 × 88,8 cm National Gallery of Canada, Ottawa © VG Bild-Kunst, Bonn 2019 Foto: NGC

Fernand Léger: „Le Mécanicien“, 1920. Öl auf Leinwand. National Gallery of Canada, Ottawa / © VG Bild-Kunst, Bonn 2019. Foto: NGC

Wenige Jahre nach der Jahrhundertwende – der Wende in das 20. Jahrhundert hinein – begann die Kunst, schüchtern zunächst, mit naturwissenschaftlicher Genauigkeit die konstruktiven Gegebenheiten der Welt abzufragen, die Baupläne von Natur und Technik, die Funktionalität von Gesellschaft und Individuum. Das war eigentlich erstaunlich, denn jenseits der Kunst war die Welt des 19. Jahrhunderts ja längst im Industriezeitalter angekommen.

Nur ein Schönheitsfleck

Zum einen gab es bahnbrechende Erfindungen am laufenden Band, zum anderen kapitalistische Exzesse der Ausbeutung und der Anhäufung von Reichtum in einem bis dahin unvorstellbaren Maß. Doch die Maler schwelgten in Spätromantik, blickten auf liebliche Flußauen und schroffe Felslandschaften, und bestenfalls war ganz im Hintergrund, der rauchende Schornstein verriet es, eine kleine Fabrik zu erahnen, zu nicht mehr nütze als dazu, dem schwelgerischen Duktus einen süßen Schönheitsfleck zu verpassen. Die Moderne zeigte erstes Leben, gewiß; doch in den Akademien berauschte man sich an mythologischen Stoffen, betrieb Heldenverehrung. Das deutsche Bürgertum pflegte den Luisenkult, haßte die Franzosen (nicht aber ihren Wein…) und hörte Wagner dazu. Ist ja alles bekannt.

Orlan: Le Baiser de l’artiste. Le distributeur automatique ou presque! n°2, 1977 (2009) Silbergelatine auf Diasec, 55 × 110 cm Erworben 2009, entre Pompidou, Paris (Bild: Museum Folkwang,  VG Bild-Kunst, Bonn 2019 / ADAGP Foto: bpk / CNAC-MNAM / Georges Meguerditchian)

Zu Beginn Krupp

Der industriellen Wirklichkeit näherte sich die Kunst schließlich mit unübersehbarer Ambivalenz. Heinrich Kleys Gemälde „Tiegelstahlabguß bei Krupp“ zum Beispiel, entstanden 1909, schwankt mit seiner altmeisterlichen Lichtbalance etwas unschlüssig zwischen dramatischer Überhöhung, Bewunderung für die moderne Technik und dokumentarischer Beschreibung der Arbeitssituation, die die vielen Einzelnen entindividualisiert, sie gleich Soldaten unbedingtem Gehorsam unterwirft, weil sonst das Werk nicht gelingen würde.

Im großen Saal

Mit Kleys Bild beginnt der (ganz vorzügliche) Katalog zur Ausstellung „Der montierte Mensch“, die jetzt bis 15. März 2020 im Essener Folkwang-Museum zu sehen ist. Mehr als 200 Werke von 124 Künstlern beiderlei Geschlechts haben die Kuratorinnen Anna Fricke und Nadine Engel für diese eindrucksvolle Präsentation im großen Ausstellungssaal des schönen, zweckmäßigen Chipperfield-Baus zusammengetragen, Leihgaben und Eigenbestand. Der Gefahr allzu großer Beliebigkeit, die das Thema in sich birgt, sind sie mit konzeptioneller Strenge begegnet. Doch natürlich hat die Ordnung Grenzen, denn auf dem riesigen Themenfeld von Konstruktion, Dekonstruktion und Destruktion, wo irgendwo sicherlich auch der nicht allzu geläufige Begriff „montierter Mensch“ seine sinnhafte Verortung findet, haben die Dinge sich nicht nur linear entwickelt. Der Begriff „Der montierte Mensch“ stammt übrigens von dem Kulturwissenschaftler Bernd Stiegler.

Roy Lichtenstein; Study for Preparedness, 1968, Öl und Magna auf Leinwand, 142,5 × 255 cm, Museum Ludwig, Köln (Bild: Museum Folkwang, Estate of Roy Lichtenstein / VG Bild-Kunst, Bonn 2019 Foto: Rheinisches Bildarchiv, rba_d039366)

Zusammenhänge

Wenn auch nicht alles mit allem, so hängt doch vieles mit vielem, vielfältig zudem, zusammen. So lassen sich die fotografierten Bewegungsstudien Eadweard Muybridges, die 1887 noch vor der Erfindung des Kinos entstanden und die Zerlegung von Bewegung in viele Einzelschritte vorwegnahmen, durchaus sinnhaft in Zusammenhang bringen mit den Arbeiten Trevor Paglens. Der hat, beispielsweise für das ausgestellte, erschreckende Bild „Vampire (Corpus: Monster of Capitalism) Adversarially Evolved Hallucination“ (2017) den Computer nach der Evaluation menschlicher Statements zum Thema Vampire Algorithmen schreiben lassen, die in einem bildgebenden Programm zu eben jenem geplotteten Bild führten. Und wenn auch die Leistung des Computers uns Respekt abnötigt, so ist es mit seiner Künstlichen Intelligenz doch nicht weit her, denn im Kern reproduzierte er nur, was Menschen vorher äußerten. Muybridge verstand sich übrigens als Forscher, während Paglens Arbeit heutzutage problemlos als Kunst akzeptiert wird. Aber beide zerlegten und montierten.

Fortunato Depero: Motociclista (solido in velocità), 1927, Öl auf Leinwand, 117 x 163,5 cm, Privatsammlung (Bild: Museum Folkwang, VG Bild-Kunst, Bonn 2019, Foto: Vittorio Calore (Milano Italy))

Der Erste Weltkrieg

Streift man durch die reizvoll heterogene Essener Schau, drängt sich allerdings der Eindruck auf, daß Zerlegung und Zerstörung weitaus mehr Platz beanspruchen als ein anschließendes „Montieren“. Vor allem die traumatisierenden Destruktionserfahrungen des 1. Weltkriegs veränderten die Kunst grundlegend und unwiderruflich. In einem Dreierzyklus (zweimal Kohle, einmal Öl) aus „Die Schlacht“ (1916/17), „Vorstoß“ (1916/17) und „Der Krieg“ (1914) löst beispielsweise Otto Dix die Ordnung der Welt in wilde, entmenschlichte Strukturen auf. Während die Kompositionen der ersten beiden Bilder noch kraftvoll einem Ziel entgegenzustreben scheinen, ist das letzte nur pures Chaos. Details erkennt man noch, Köpfe, Zahnräder, Schlote, Blitze, doch jeglicher funktionale Zusammenhang ist dahin. Viele Künstler teilten Dix’ Blick auf diese gänzlich entzauberte Welt.

Bettina von Arnim: Close Cycle Man, 1969, Öl auf Leinwand, 138 × 112 cm, Städel Museum Frankfurt, Städelsches Kunstinstitut und Städtische Galerie (Bild: Museum Folkwang, VG Bild-Kunst, Bonn 2019, Foto: Städel Museum – ARTOTHEK)

Kleine Püppchen

Zurück zur Montage. Dem Ausstellungstitel im Wortsinn am nächsten sind wohl Zeichnungen von Rodtschenko, Malewitsch, Kandinsky, El Lissitzky und einigen anderen, die in einer kurzen Aufbruchphase der Kunst nach dem 1. Weltkrieg – in Rußland zumal – ernsthaft, doch auch spielerisch aus Menschen mechanische Funktionsgebilde machten, kleine Püppchen, um zu kreativen Weiterungen zu gelangen.. Es ist eine etwas spröde Kunst, aber auch eine ohne Ballast, nüchtern forschend, unbestechlich. Genannt sei hier neben der Herren ausdrücklich auch Ella Bergmann-Michel, deren rätselhaft-konstruktive Gebilde „sans titre“ sind und von 1923 stammen.

Bellings Köpfe

Natürlich (ist man fast geneigt zu sagen) fehlen Rudolf Bellings maschinengleiche aufpolierte Bronzemenschenköpfe (1923) nicht, auch René Magritte ist mit Menschen in surrealen Wundern („L’âge des merveilles“, 1926) vertreten. Und Fernand Léger natürlich, der seine Figuren aus prallwurstigen Einzelteilen (es widerstrebt, Gliedmaßen zu schreiben) zusammensetzte. Auch sein „Mechaniker“ von 1920 ist so entstanden, doch trotz der klobigen Anmutung in Sonderheit der Arme und der Hand vermittelt er nicht nur Kompetenz und Gelassenheit, sondern sogar Eleganz. Ein montierter Mensch, nun gut, aber auch einer, der gepflegt daherkommt (Oberlippenbärtchen, die Haare gescheitelt) und, Zigarette in der Hand, zu genießen weiß. Im Hintergrund des Bildes ahnt man Maschinenteile, und offenbar läuft die Maschine von ganz allein. Doch die Augen zeigen: der Mechaniker muß wachsam sein. Légers Bild ist das Logo der Essener Ausstellung.

Willi Baumeister: Maschinenmensch mit Schraubenwindung II, 1929 – 1930, Öl auf Leinwand, 81 × 65 cm, Staatsgalerie Stuttgart, erworben 1968 (Bild: Museum Folkwang, VG Bild-Kunst, Bonn 2019 Foto: bpk / Staatsgalerie Stuttgart)

Die Futuristen jubelten

Aber Léger war – in seinen Werken – ja auch eine Frohnatur, meistens jedenfalls. Viele andere Künstler begegneten der Technik mit Skepsis und Unverständnis, empfanden sie als bedrohlich. Eine Ausnahme bildeten die italienischen Futuristen. Sie bejubelten den Fortschritt, fanden Autos, Motorräder und Flugzeuge toll, liebten Wettrennen und Rekorde. Leider geizt die Essener Schau ein wenig mit Futuristen, gerade einmal Fortunato Deperos „Motociclista (solido in velocitá)“ von 1927 oder Giacomo Ballas „Automobile in Corsa“ (1913) fallen ins Auge, und die sind in ihrer dekorativen Auffassung des Themas nicht sehr typisch.

Unverstellten Futurismo gibt es eher auf Plakaten wie Romano di Massas „Circuito di Milano“ (nach 1924) und Lucio Vennas „Ammortizzatori Excelsior“ (1925) zu sehen, letzteres eine eindrucksvolle graphische Symbiose von Zahnrad und Einzelmensch. Russische Plakate aus jener Zeit, sie hängen gleich nebenan, frönen hingegen dem Kult der Entindividualisierung in der (revolutionären) Masse. Man ahnt die wahnhafte Vorstellung, Menschen und Gesellschaften könnten nach Idealbildern erschaffen werden.

Rudolf Belling: Skulptur 23, 1923, Messing, 41,5 × 22,5 × 21 cm, Museum Folkwang, Essen (Bild: Museum Folkwang, VG Bild-Kunst, Bonn 2019, Foto: Jens Nober)

Viele Arbeiten von Frauen

Walter Drexel montierte aus wenigen entlarvenden Strichen Hitler und Mussolini, Fotomontagen John Heartfields sind natürlich vertreten, ebenso Willi Baumeisters „Maschinen-Komposition“ (1921) und „Maschinenmensch“ (1929/30). Einige Fotos, zumal von marschierenden Soldaten und Sportlern, hätte man wohl auch weglassen können, da wird es sehr allgemein, franst die Ausstellung thematisch aus.

In guter Erinnerung hingegen bleiben zeitgenössische Arbeiten wie die eigentümlich anthropomorphen Skulpturen von Katja Novitskova (Mamaroo (Smoldering Brain, Groth Potential)“ und „Mamaroo (Violent Origins)“, beide von 2019 – auch deshalb, weil sie sich so schön pumpend, „hervorbringend“ bewegen. Anderes, was für Bewegung geschaffen war, steht still, insbesondere zwei Tinguely-Maschinen. Zu alt und zu gebrechlich seien sie, sagt das Kuratorium, aber schade ist es doch. Unverständlicherweise steht auch Rebecca Horns „Überströmer“ (1970) still. Dabei weiß gerade diese Künstlerin, man erinnere sich nur an ihre letzte Ausstellung im Duisburger Lehmbruck-Museum, sehr wohl, wie Kunst sich in Bewegung bringen läßt.

Gruselige Maschinengestalten

Man freut sich, Malerei von Maria Lassnig zu sehen („Warlord II“ von 1996, „Innenansicht/Röntgenselbst I von 1987, „Harte und weiche Maschine/Kleine Sciencefiction“ von 1988), doch wesentlich näher am Thema sind sicherlich Bettina von Arnims gruselige Maschinengestalten, Zwitterwesen aus Rohren und Tuben (vor Rohren, zwischen Rohren) mit menschlicher Anmutung. Und so könnte man fortfahren, Namen zu nennen und Werke zu beschreiben, doch das würde bald schon langweilig und soll deshalb jetzt ein Ende finden.

Das beste Haus für große Ausstellungen

Viel Kunst gibt es also im Folkwang-Museum zu sehen, über hundert Jahre alt oder auch ganz frisch, vielfältig aufeinander bezogen. Die thematische Klammer, wie gesagt, läuft hier und da Gefahr zu brechen, doch das mindert den Reiz dieser opulenten Ausstellung nicht. Von allen Museen im Ruhrgebiet ist das Essener Folkwang fraglos am besten dafür geeignet, große Ausstellungen mit vielen Kunstwerken prominent zu präsentieren. „Der montierte Mensch“ beweist es.

  • „Der montierte Mensch“
  • Folkwang-Museum, Essen, Museumsplatz 1
  • Bis 15. März 2020
  • Geöffnet Di-So 10-18 Uhr, Do + Fr 10-20 Uhr, Mo geschlossen
  • Eintritt 8,00 EUR
  • Katalog 384 Seiten, 227 Abbildungen 38,90 EUR im Museum, 65,00 EUR im Handel
  • www.museum-folkwang.de



Der Zeit voraus in allen Wissenschaften – Hagener Ausstellung auf den Spuren des Universalgenies Leonardo da Vinci

Von Leonardo exakt mit Feder und Tinte erfasst: „Der Mensch des Vitruv" (um 1490). (Galleria dell'Accademia, Venedig / Institut für Kulturaustausch, Tübingen)

Auch so ein berühmtes Bild, von Leonardo exakt mit Feder und Tinte erfasst: „Der Mensch des Vitruv“ (um 1490). (Galleria dell’Accademia, Venedig / Institut für Kulturaustausch, Tübingen)

Eigentlich muss man das nicht klarstellen, doch sei’s drum: Tayfun Belgin, Direktor des Hagener Osthaus-Museums, hält also spaßeshalber fest, dass in seinem Haus weder die „Mona Lisa“ noch die „Anna selbdritt“ oder „Das Abendmahl“ zu sehen sind, obwohl die neue Ausstellung doch von Leonardo da Vinci handelt.

Na, sicher: Solche weltberühmten Bilder könnte man nimmermehr ausleihen, auch wenn man weder Mühen noch Kosten scheut. Außerdem ist die Malerei gar nicht Leonardos Hauptbeschäftigung gewesen, heute werden ihm lediglich rund 20 Gemälde zugeschrieben. Den Großteil seiner Zeit auf Erden (1452-1519) hat er mit teilweise visionären Erkundungen und Erfindungen zugebracht, die ihrer Zeit sehr weit voraus waren. Genau damit befasst sich die Schau – anhand von 119 handkolorierten Faksimile-Skizzen und von 25 Modellnachbauten, die recht exakt Leonardos Entwürfen folgen.

Das Ausstellung-Konvolut stammt vom Tübinger „Institut für Kulturaustausch“ (Leitung: Maximilian Letze). Anlass des Hagener Gastspiels der Wanderschau ist der 500. Todestag Leonardos. Der Aufbau der Ausstellung wirkt nur auf den ersten Blick womöglich etwas dröge. Sobald man sich aufs Thema einlässt, entsteht ein Sog.

Nach einer Leonardo-Skizze von 1495 gebaut: Modell eines Hubschrauber-Vorläufers. (Foto: Bernd Berke)

Nach einer Leonardo-Skizze gebaut: Modell eines Hubschrauber-Vorläufers. (Foto: Bernd Berke)

Der 1485 skizzierte Fallschirm funktioniert tatsächlich

Und siehe da: Die allermeisten Ideen des Universalgenies funktionieren tatsächlich, sie sind staunenswert ausführbar; so etwa auch ein Fallschirm, der einen sicher zu Erde bringt. Der Fallschirmspringer Adrian Nicholas hat es anno 2000 am eigenen Leibe ausprobiert, die Ideenskizze stammt von 1485!

Leonardo hat sich seinerzeit auch Gedanken über einen Hubschrauber-Vorläufer und eine Art Flugdrachen gemacht. Wahrlich, das waren Gedankenflüge sondergleichen, wenn auch die beiden zuletzt genannten Apparaturen sich zu Leonardos Zeit noch nicht dauerhaft in die Lüfte erhoben haben. Immerhin wandelte das Genie auch hierbei auf den richtigen Wegen. Unter anderem hatte Leonardo dafür intensive Studien zum Vogelflug absolviert. Pendant im anderen Element: Bevor er sich mit Schiffen befasste, widmete er sich genauesten Untersuchungen zur Wasserströmung.

Hin und her zwischen vielen Projekten

Die Ausstellung ist zwar thematisch recht säuberlich gegliedert, doch das täuscht über die wohl ziemlich chaotische, demiurgische Arbeitsweise Leonardos hinweg, der stets an einigen Projekten zugleich arbeitete, gar vieles ergriff und zwischendurch manches beiseite legte. Es ist ja überhaupt kaum zu glauben, über welche verschiedenen Gegenstände Leonardo da Vinci fundiert nachgedacht und dabei immer wieder geistiges und technisches Neuland entdeckt hat. In der Anatomie machte er ebenso bahnbrechende Fortschritte wie im Schiffs-, Brücken- und Kanalbau. Eine weit geschwungene Brücke, die im heutigen Istanbul von Europa nach Asien führen sollte, ist freilich nie gebaut worden, sie erschien dem Sultan gar zu visionär und wohl auch zu kostspielig. Sie war übrigens so konstruiert, dass sie Erdbeben überstanden hätte.

Leonardo zeichnete sich zudem als ebenso ebenso kühner wie umsichtiger Stadtplaner aus, u. a. für Mailand, wo er ein Kanalsystem ersonnen hat, das die gar zu eng gebaute Metropole hätte entlasten sollen. Auch Müllabfuhr und Gesundheitsvorsorge gehörten zum weitsichtigen Planungsumfang. Doch er kam mit seinen vielfältigen Ideen nicht zum Zuge.

Auch die Arterien-Verkalkung entdeckt

Müßig zu erwähnen, dass Leonardo auch als Architekt und Ingenieur Maßstäbe setzte. Die damals noch nicht so exakte Zeitmessung (mit Sonnen- und Sanduhren) reizte Leonardo zur Konstruktion ausgefeilter Uhrmechanik. Sein geradezu besessener, offenbar nie ermüdender Wissensdurst trieb ihn auch zu anatomischen Studien, die etwa zur ersten Entdeckung der Arterien-Verkalkung führten, also auch die Medizin voranbrachten. Seine Zeichnungen vom menschlichen Körper und dessen Innenleben sind von bis dahin unerreichter Präzision. Gruselige Kehrseite: Er sezierte dafür gelegentlich auch die Leichen vormaliger Strafgefangener.

Modellnachbau eines „Automobils" mit Zahnradgetriebe und Differenzialgetriebe für die Hinterräder – nach einer Leonardo-Skizze von 1493. (Foto: Bernd Berke)

Modellnachbau eines „Automobils“ mit Zahnradgetriebe und Differenzialgetriebe für die Hinterräder – nach einer Leonardo-Skizze von 1493. (Foto: Bernd Berke)

Für Leonardo bestand kein grundlegender Unterschied zwischen Wissenschaft und Kunst, eins geht ersichtlich ins andere über. Erfindungen werden nicht zuletzt in ästhetischer Weise erwogen, geglückte Funktion erfüllt sich sozusagen auch im Anblick. Wenn er etwas Vorgefundenes aus der Natur zergliederte, diente dies auch der Verbesserung im Malerischen.

Ebenfalls keinen prinzipiellen Unterschied sah Leonardo zwischen Mensch und Maschine. Aufs „Funktionieren“ kam es beiderseits an. Wer weiß: Mit solchen Gedanken stünde er heute vielleicht an der Spitze einer Bewegung, die mit Nachdruck Künstliche Intelligenz erforscht und Mensch-Maschinen-Konstrukte in allerlei Abstufungen für denkbar oder gar für wünschenswert hält.

Eine Frühlingsgöttin auf dem „Automobil“

Die Modelle aus Holz und Metall, die auf der Basis von Leonardos Skizzen entstanden sind, kann man zum Teil selbst erproben, beispielsweise auch den Nachbau eines frühen „Automobils“, dessen Original sich per Federspannung (gespeicherte Kraft) immerhin rund 30 Meter weit selbsttätig fortbewegen konnte. Mit großem Pomp hatte das von den Medici in Auftrag gegebene Fahrzeug seine öffentliche Premiere, spektakulär beladen mit einer „Frühlingsgöttin“. Jammerschade, dass es davon keine Filmaufzeichnung gibt. Die entsprechende Erfindung (oder wenigstens Vorarbeiten dazu) hätte man Leonardo beinahe auch noch zutrauen dürfen. Nun gut, das ist vielleicht etwas übertrieben. Generell nahmen übrigens die Zeitgenossen manche seiner Erfindungen nicht ernst, weil sie die Tragweite nicht erkannt haben.

Je elf Läufe in drei Lagen: Modell eines Orgelgeschützes nach einer Skizze (1482) Leonardo da Vincis. (Foto: Bernd Berke)

Ein zwiespältiges Kapitel sind Leonardos Forschungen für militärische Zwecke. Obwohl im Herzen wohl eher Pazifist, erfand er beispielsweise martialische Belagerungsmaschinen oder einen fürchterlichen Sichelwagen, der durch die Reihen feindlicher Kämpfer rasen und sie massenhaft niedermähen sollte wie Gras oder Getreide. Allerdings hätten sich auch die Zugpferde schwer verletzt.

Furchtbar raffinierte Militärtechnik

Ein schon neuzeitlich anmutendes Orgelgeschütz konnte aus vielen Rohren zugleich feuern, die Geschützbatterien sollten sich durch Drehung rasch auswechseln lassen. Sogar ein trutziger Panzer, ebenfalls rundum mit Geschützen ausgestattet, zählte zu Leonardos Ideen-Arsenal. Derlei Kriegsgerätschaften beeindruckten so manchen italienischen Fürsten, der in jenen unruhigen Zeiten im Hader mit anderen lag. Auf lukrative fürstliche Aufträge war Leonardo angewiesen.

Die Skizzen sind oftmals dermaßen kleinteilig ausgeführt, dass man als Laie zumindest sehr lange hinschauen muss, um daraus halbwegs schlau zu werden – von der winzigen Beschriftung ganz zu schweigen. Verständnishilfe gibt’s an sechs Multimedia-Stationen, wo man mit mehr als 8000 Bildern etliche Einzelheiten über Leonardo und seine Zeit aufrufen kann. Mit einem allzu kurzen Aufenthalt im Museum sollte es also nicht getan sein. Erst recht nicht, wenn man am Schluss noch ein paar heutige Patente aus Hagen und Südwestfalen in Augenschein nehmen will. Erfindergeist regt sich noch, wenn auch nicht mehr im Sinne von Originalgenies.

Im Verlauf des Rundgang fragt man sich, woran ein Leonardo wohl heute arbeiten würde. Ob er sich mit Klimafragen beschäftigen würde? Oder mit etwas ganz anderem, was uns Heutigen noch gar nicht in den Horizont gerückt ist? Genügend Nahrung für Phantasie.

Leonardo da Vinci – Erfinder und Wissenschaftler. Osthaus Museum, Hagen, Museumsplatz 1 (Navigation: Hochstraße 73). 15. September 2019 bis 12. Januar 2020, geöffnet Di-So 12-18 Uhr. Eintritt 10 Euro, ermäßigt 7 Euro. Katalogbuch erhältlich. Tel.: 02331 / 207 3138. www.osthausmuseum.de

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Direkt nebenan, im selben Kunstquartier, zeigt das Emil Schumacher Museum vom 15. September 2019 bis zum 9. Februar 2020 eine Sonderausstellung mit abstrakten Bildern von K. R. H. Sonderborg. Darauf werden wir in den nächsten Tagen zurückkommen. Infos: www.esmh.de

 

 

 




Dein Ticket musst du zehnmal kaufen! – Eine digitale Absurdität aus der Welt des öffentlichen Nahverkehrs

Umständlich genug: der „gute alte" Fahrkartenautomat. (Foto: Bernd Berke)

Umständlich genug: der „gute alte“ Fahrkartenautomat. Schon die Aufschrift (Italienisch statt z. B. Türkisch oder Polnisch) deutet auf ein geistiges Verharren in den 1960er Jahren hin. (Foto: Bernd Berke)

Also, diesen Blödsinn muss ich Euch einfach erzählen. Es geht um Tickets für den öffentlichen Personen-Nahverkehr (ÖPNV), insbesondere: für den Rhein-Ruhr-Verkehrsverbund VRR bzw. die DSW21 (Dortmunder Stadtwerke). Ich höre schon jetzt Eure Seufzer. Tja. Da müssen wir jetzt gemeinsam durch.

Die Sache ist die: Weil ich schon mal gern mit der Zeit gehe, habe ich mich für Handytickets angemeldet. Also nix mehr mit papierenem Fahrschein und Abstempelei („zack-ping“), sondern – gegen entsprechendes Entgelt – die gespeicherte Fahrberechtigung auf dem Smartphone vorweisen. Wer mal in den letzten Jahren z. B. in England oder Holland war, weiß, dass sie uns dort in solchen und anderen digitalen Dingen meilenweit voraus sind. Und längst nicht nur dort. Deutschland ist auf diesem Sektor nahezu Entwicklungsland.

In einer mir selbst unbegreiflichen Euphorie habe ich per App trotzdem gleich ein Zehnerticket geordert, wobei der erste von zehn „Abschnitten“ erklärtermaßen schon nach 90 Minuten verfällt. Man sollte das Billet also erst kurz vor Antritt der ersten Fahrt erwerben (siehe dazu die Nachbemerkung am Schluss).

Da kann man klicken, wie man will…

So weit, so gut und halbwegs verständlich. Nun aber kommt’s: Flugs zeigt die einschlägige Handy-App an, dass das Ticket (Teil 1) nicht mehr gültig sei. Also wird die Anzeige doch jetzt ebenso schnell automatisch aufs zweite von zehn Tickets umspringen? Nichts da! Man kann drücken und klicken, wie man will, da tut sich nichts dergleichen. Sollte das ganze Zehnerticket (Preis immerhin 22,60 Euro) damit schon beim Teufel sein? Das wäre ja wohl nicht zu fassen.

Ticket abgelaufen... (Screenshot vom Smartphone / ©Markenzeichen VRR/DSW21)

Handyticket abgelaufen… (Screenshot vom Smartphone / © Markenzeichen VRR/DSW21)

Also die Hotline bemüht. Die Antwort folgt so rasch und klingt so geläufig, als kämen täglich Dutzende solcher Anfragen. Der Ratschlag, auf den man nie und nimmer von selbst gekommen wäre: Man soll das ganze Kauf-Prozedere erneut absolvieren – bis am Ende Kosten von 0,00 Euro angezeigt würden. Damit sei das zweite von zehn Tickets ohne weitere Kosten aktiviert. Und so weiter. Und so fort. Der ganze Mumpitz zehnfach. Leute, ist das denn wahr?

Nun sagt selbst: Hättet ihr einen solchen Humbug für möglich gehalten? Schreckt man denn nicht vielmehr bei der Ansage „Nochmals kaufen“ zurück, weil man abermals Kosten befürchtet? Womöglich ohne jegliche Gegenleistung.

Okay, es hat dann geklappt, aber es ist trotzdem blühender Unsinn.

Drei Hotliner, fünf Meinungen

Nach und nach sind es dann drei Anrufe bei der Hotline geworden, zwischendurch wurde ich auch noch mehrfach gesperrt (Rückmeldung wörtlich: „wegen zu viele Versuche“) und kam gar nicht mehr in die Nähe meiner ehrlich erworbenen virtuellen Fahrkarten. Ich sage nur: Kunde, Kunde, du musst wandern – von der einen PIN zur andern…

„Zack-ping" – als das Entwerten noch händisch vonstatten ging... (Foto: Bernd Berke)

„Zack-ping“ (oder „Zack-piep“) macht es, wenn das Entwerten noch händisch vonstatten geht. (Foto: Bernd Berke)

Auf den Einwand, dieses „System“ sei alles andere als selbsterklärend, räumten die ersten beiden Hotline-Mitarbeiter freimütig ein, das stimme auf jeden Fall. Kerls, so meldet es doch euren Chefs, damit die sich gezielt kümmern! Entweder deutliche Hinweise an geeigneter Stelle oder am besten gleich die ganze Funktion aufpolieren! Kann doch nicht so schwer sein. Ihr schafft das schon. Verdammte Hacke!

Die dritte Hotlinerin klang zunächst ein bisschen zickig, wurde dann aber zusehends freundlicher und gab hilfreiche Auskünfte. Es war halt wie sonst bei der zuweilen unsäglichen Telekom oder ähnlichen Spezialisten. Jede Info lautet ein bisschen oder gar völlig anders. Drei Hotliner, fünf Meinungen. Oder so ähnlich. Die „Wahrheit“ muss man halt extrapolieren. Man wird dabei zum Erkenntnistheoretiker wider Willen.

Nun sagt, soll ich künftig wieder Fahrscheine aus Papier am Automaten ziehen wie seit eh und je? Wenn nur diese Automaten nicht ebenfalls so idiotisch umständlich wären…

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P.S.: Hinterhältige Schlaumeier haben mit dem Kauf ihrer Handytickets gewartet, bis am anderen Ende des Waggons die Kontrolleure auftauchten. Erst da haben sie mit fliegenden Däumchen per Handy ganz fix ihre Karte erworben. Drum werden die Fahrkarten jetzt erst zwei Minuten nach dem Kauf gültig („scharf geschaltet“), um derlei Last-Minute-Aktionen zu unterbinden.

 




50 Jahre „danach“: Mit Donald und Dagobert Duck, Daniel Düsentrieb und der Westfälischen Rundschau zum Mond

Dortmunder Blatt mit historischen Schlagzeilen: die Westfälische Rundschau vom 21. Juli 1969. (Repro: Bernd Berke)

Dortmunder Blatt mit historischen Schlagzeilen: die Westfälische Rundschau vom 21. Juli 1969. (Repro: Bernd Berke)

Ja, das war schon ein Ding, als vor rund 50 Jahren die ersten Menschen den Mond betreten haben. Abermillionen Erdbewohner fieberten vor den Fernsehgeräten mit. „Das ist ein kleiner Schritt für einen Menschen, ein riesiger Sprung für die Menschheit“.* Oder so ähnlich. Naja, ihr wisst schon.

Man kann das Jahrhundertereignis (hier stimmt der Ausdruck mal) vom 21. Juli 1969 unter zig verschiedenen Aspekten betrachten. Wir haben uns en passant zwei herausgesucht: einen regionalen und einen komischen.

Zunächst die Region. Schließlich sind wir hier bei den Revierpassagen und allenfalls nebenberuflich im Komik-Kontor. Harr, harr.

Dortmunder Zeitung kündete vom „Spaziergang“

Durch Zufall habe ich jüngst in meinen Beständen eine alte Ausgabe der Westfälischen Rundschau aufgetrieben, und zwar just die vom 21. Juli 1969. Leider hat sie einen Riss auf der Titelseite. Nehmen wir’s als Zeitzeichen und Patina. Der „Mond-Spaziergang“, wie es dort heißt, stand noch unmittelbar bevor, zum Redaktionsschluss – am späten Abend des 20. Juli – konnte das Dortmunder Blatt „nur“ von der vollbrachten Mondlandung berichten.

Weniger zufällig weiß ich, dass damals jemand an höherer Stelle ziemlich neu zur Rundschau gekommen war, der sich Machart und Schlagzeilen gewisser Boulevard-Gazetten zum Muster genommen hat. Allein in der oberen Hälfte der Titelseite finden sich drei Ausrufezeichen hinter den oft rot unterstrichenen Zeilen. Ganz so, als hätte man all das herausbrüllen müssen. Nun ja, das gab sich in den folgenden Jahren.

Schmierereien und Waffenlieferungen

Alles in allem genommen, waren es noch die Ausläufer der großen Zeit dieser Zeitung, deren Verbreitungsgebiet einst vom Emsland bis an den Rand von Rheinland-Pfalz gereicht hatte. Als schnellere Medien hatte man 1969 allenfalls Hörfunk und Fernsehen zu fürchten, doch die waren vielfach recht betulich – und noch hielten fast alle Haushalte ein regionales Tageszeitungs-Abonnement. Von einer nachrichtlichen Beschleunigung wie beim Internet hat man (trotz Mondlandung) nicht einmal geträumt. Es war noch die Zeit der mechanischen Schreibmaschinen, des Bleisatzes, der ratternden Fernschreiber („Ticker“) und der ganz allmählich aus dem Empfänger kriechenden, schwarzweißen Funkbilder.

Aufschlussreich ist immer, welche Nachrichten sich – rein zufällig? – in einer solchen Ausgabe noch so zeigen. Manches mutet fürchterlich heutig an: Hakenkreuzschmierereien am Berliner Mahnmal für Widerstandskämpfer. Kämpfe am Suezkanal. Sodann die Zeile „Kirchentag endet mit hitzigen Debatten“ (Evangelischer Kirchentag in Stuttgart), u.a. ging es um deutsche Waffenlieferungen in „Entwicklungsländer“. Na, und so weiter. Solcherart war also das Hintergrundrauschen zur Mondlandung. 1968 war gerade erst vorüber.

Und das Fernsehprogramm an jenem Tage? Natürlich sehr mondlastig. Außerdem: Manche Filme liefen noch mit deutschen Untertiteln, Hochkultur kam teilweise zur allerbesten Sendezeit – und das bei insgesamt nur drei Programmen!

Sommerferien auf dem Trabanten

Nun aber endlich die Komik! Am 16. Juli kommt mal wieder ein LTB (Lustiges Taschenbuch) von Egmont Ehapa in den Handel, es ist bereits die Nr. 522, umfasst 256 Seiten und kostet 6,50 Euro. Übrigens fällt auf, dass die Klimafrage mit unterschwelliger Macht in diese dicken Hefte drängt. Man weiß halt, was die junge Kundschaft bewegt.

Lustiges Taschenbuch Nr. 522 zur Mondlandung. (© 2019 Disney / Egmont Ehapa Media)

Lustiges Taschenbuch Nr. 522 zur Mondlandung. (© 2019 Disney / Egmont Ehapa Media)

Ganz offensichtlich haben die Chefs ihren Story-Schmieden und Zeichnern (bzw. deren Kolleginnen) eingeschärft, dass die neue Edition unbedingt etwas mit dem Jubiläum der Mondlandung zu tun haben müsse. So prangt denn auf der Vorderseite die Schlagzeile „Sommerferien auf dem Mond“.

Die Titelgeschichte hebt so an: Onkel Dagoberts Versuche, auf dem Mond massenweise Gold zu schürfen, sind grandios fehlgeschlagen. Eine neue Geschäftsidee muss schleunigst her. In einem lichten Moment entfährt es Donald, dass sich der Mond vielleicht als Urlaubsgegend eignen könne. Im selben Augenblick leuchtet die berühmte Ideen-Glühlampe über Dagoberts Kopf auf: Das ist es! Geld scheffeln, indem man Mond-Tourismus für schwerreiche Leute anbietet! Aber die sind überaus anspruchsvoll – und ausgerechnet Donald soll sich um ihr Wohlergehen kümmern… Doch der Enterich hat unverschämtes Glück.

Invasion der Außerirdischen

Auch sonst ist das Buch überwiegend mit Weltraum-Abenteuern angefüllt. Na gut, die Einfälle sprühen nicht immer grenzenlos. Gar oft tauchen in diversen Geschichten jede Menge Aliens und Außerirdische auf. Beim schnellen Durchblättern scheint es so, als sei an jeder Ecke zu jeder Zeit mindestens eine Rakete startklar. Mit anderen Worten: Die Abenteuer sind ein wenig wiederholungsträchtig. Etliche Male werden beispielsweise Scherze mit der geringen Schwerkraft auf dem Mond getrieben. Trotzdem muss man den Machern eines lassen: Sie hauen immer mal wieder ein paar gehörige Gags ‚raus.

Auch das neueste Micky Maus-Magazin No. 15/19 (52 Seiten, 3,70 €) aus demselben Verlagshaus trägt auf dem Titel den Schriftzug „50 Jahre Mondlandung“, das Heft liegt bereits seit heute (12. Juli) vor. Hier müssen Donald & Dagobert gleich mit einem uralten Mondfluch fertig werden, der in einem magischen Ring gesteckt hat, nun fatal ins Freie dringt und den Trabanten so verformt, dass er auf die Erde zu stürzen droht. Daniel Düsentrieb muss einige Geistesblitze flackern lassen, um allein die technischen Schwierigkeiten zu meistern. Und dann gibt’s auch noch arge „menschliche“ Probleme mit den Mondbewohnern…

Micky Maus flog schon Ende 1968 in den Weltraum

Im selben Heft verschlägt es Micky Maus sogar auf den Mars. Eigentlich kein Wunder. Die Maus war ihrer Zeit schon etwas voraus, als am 18.12.1968 im Lustigen Taschenbuch Nr. 6 „Mickys Reise zum Mond“ begann – also rund ein halbes Jahr, bevor Neil Armstrong und Buzz Aldrin dann wirklich und wahrhaftig den Mond betraten (was manche Verschwörungstheoretiker bis heute bezweifeln und zum Mega-Fake aus dem Filmstudio erklären). Jedoch: Micky in allen Ehren, aber Donald fand ich persönlich immer zehnmal lustiger als die Maus. Ihr nicht auch?

Übrigens: Keinen Monat nach der Mondlandung gab’s dann schon das nächste legendäre Ereignis mit langer Nachwirkung: das Rockfestival von Woodstock, vom 15. bis 17. August 1969. Aber das ist eine völlig andere Geschichte.

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* Originalzitat von Neil Armstrong: „That’s one small step for [a] man, one giant leap for mankind.“




Auf falscher Spur unterwegs? – Ein paar völlig laienhafte Zeilen über Elektro-Autos

Nun gut, dise Vitrinen-Ansicht weist mich als hoffnungslosen Automobil-Nostalgiker aus. Aber eine Klimapreis werde ich damit nicht gewinnen. (Foto: Bernd Berke)

Ich geb’s zu: Diese private Vitrinen-Ansicht weist mich als hoffnungslosen Automobil-Nostalgiker aus. Einen Klimapreis werde ich damit nicht gewinnen. (Foto: Bernd Berke)

Dies vorweg: Von Technik habe ich wenig bis gar keine Ahnung, erst recht nicht von deren Feinheiten. Trotzdem stelle ich mir als Laie die Frage, ob „wir“ mit dem politisch forcierten E-Auto nicht auf der völlig falschen Spur unterwegs sind. Und nein: Wir reden hier weder über die gängige (Hoch)-Kultur noch über Laufkultur (von Motoren).

Wie ich überhaupt darauf komme? Hübsch der Reihe nach. Beispielsweise las ich dieser Tage u. a. online in der „Welt“, dass Audi (Slogan seit 1971: „Vorsprung durch Technik“) rund 7000 bereits ausgelieferte E-Fahrzeuge, die sogenannten E-Tron-Modelle, zurückrufen muss. Unter sehr ungünstigen Umständen (Strom-Betankung bei Regen) könne die Batterie feucht werden. Beim dann möglichen Kurzschluss könne sie sogar Feuer fangen. Oha! Wie schaut es denn wohl in dieser Hinsicht bei den anderen Marken aus?

…und wenn sie mal Feuer fangen?

Zweiter Vorfall, ähnlicher Sachverhalt, aber noch mehr zugespitzt. Neulich lief die regionale Nachricht, dass ein Elektro-Auto Feuer gefangen hatte. Als die Feuerwehr ohne detaillierte Vorab-Infos eintraf, konnte sie nicht wie gewohnt gleich zum Löschen schreiten, sondern musste offenbar besondere Vorsichtsmaßnahmen ergreifen, die wertvolle Zeit kosteten. In der kurzatmigen Nachricht wurde das zwar erwähnt, aber nicht weiter hinterfragt. Dabei wäre das nicht nur mal eben eine Nachfrage wert, sondern es dürfte sich dahinter ein weitaus größeres Thema verbergen, kann man doch vermuten, dass sich hier ein generelles Problem mit E-Autos auftut. Was, wenn wir erst zigtausend dieser Fahrzeuge auf den Straßen haben?

Drittens kann man vielfach nachlesen, dass die Öko-Bilanz der Elektro-Fortbewegung gar nicht so übermäßig günstig ausfällt. Die Herstellung der Akkus/Batterien verschlingt eine Menge an Ressourcen, die in die Gesamtrechnung mit einfließen müssten. Auch entstehen bei der Produktion etliche Schadstoffe. Klingt nicht gerade nach strikter Klima-„Neutralität“. Weitere Stichworte: Es gibt viel zu wenig Ladestationen und falls dann mal eine zur Verfügung steht, dauert das Laden ziemlich lang, die Reichweite des Fahrzeugs ist hingegen immer noch recht kurz. Kulturbeflissene mögen an dieser Stelle ein bildungshuberisches „Vita brevis, ars longa“ einflechten. Wir wollen sie nicht hindern.

In eine Technik geradezu verbissen

Doch zurück zum Thema: Wäre es möglich, dass sich Politik und Gesellschaft insgesamt spät, aber dann auf einmal doch panisch, vorschnell und gleichsam „alternativlos“ (furchtbares Totschlage-Wort) auf eine spezielle Technik festgelegt, ja geradezu darein verbissen haben, die einige gravierende Schwierigkeiten mit sich bringt? Wäre es ferner möglich, dass verstärkte Forschung (und entsprechender Einsatz von Finanzmitteln) auf anderen Gebieten weiter führt? Doch kaum denke ich dabei ganz naiv an Wasserstoffantrieb, lese ich akut, dass eine Wasserstoff-Tankstelle explodiert sei. Es ist wirklich kompliziert.

Ein Signal ist immerhin, dass sich manche Aktien-Investoren den Titeln zuwenden, die mit Wasserstoff und Brennzellentechnik Brennstoffzellentechnik arbeiten. Sobald sich damit Gewinn machen lässt, bekommt die Sache wohl ihre Eigendynamik. Wie man hört, leben wir nämlich immer noch in kapitalistischen Verhältnissen.

Es sieht freilich ganz so aus, als müsste noch sehr, sehr viel nachgedacht und zielgerichtet experimentiert werden. „Greta“ und die freitäglichen Klima-Katastrophen-Kohorten allein werden da mit ihren wohlfeilen Maximalforderungen (mögliches Motto: „Alles – und zwar sofort“) kaum Abhilfe schaffen können. Lindnersche Arroganz nach dem gegenläufigen Motto „Lasst mal die Experten ‚ran“ allerdings auch nicht.

P. S.: …und bei all dem haben wir noch gar kein Wort über Arbeitsplätze in der Autoindustrie verloren. Aber das interessiert ja eh nur noch die IG Metall und deren Mitglieder, oder?

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Im unten stehenden Kommentarbereich wird der Beitrag en détail schon korrigiert. Bei Facebook, wohin ich den Text verlinkt habe, gibt es – wie üblich – mehr Wortmeldungen.

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Mal sehen, vielleicht wird hieraus noch eine Serie. Arbeitstitel: „Sachen, von denen ich keinen Schimmer habe, über die ich aber trotzdem schreiben möchte“. Ich wäre in der Medienlandschaft beileibe nicht der Einzige, der nach dieser Parole verfährt.




Von der Primzahlenforschung bis zur Kanaldeckel-Kunde: Enzensbergers kurzweilige „Experten-Revue in 89 Nummern“

Erst durch die immer mehr verfeinerte Arbeitsteilung habe sich die Gattung Mensch zur Weltbeherrschung aufschwingen können. Diese Hypothese ist der Ausgangspunkt von Hans Magnus Enzensbergers „Experten-Revue in 89 Nummern“. Ob es im Verlauf dieser Entwicklung auch Verlierer gegeben hat? Das wäre ein anderes Thema. Insgesamt habe Arbeitsteilung die Menschheit stetig vorangebracht, befindet der Schriftsteller.

Schritt für Schritt erfahren wir hier, in welche Bereiche, Nischen, Höhen oder Abgründe sich menschliche Leidenschaften und Fähigkeiten verzweigt oder auch verstiegen haben. In diesem durchaus kurzweiligen, weil denkbar abwechslungsreichen Buch des inzwischen 89-jährigen (!) Enzensberger geht es nach und nach so ziemlich um alles. Um nur ein paar Beispiele fürs allfällige Spezialistentum zu nennen:

Da wird das „Wettrüsten“ zwischen Tresor-Produzenten und Panzerknackern geschildert. Sodann geht’s um die Erfindung des Fahrrad-Vorläufers durch Drais und um den erstaunlichen Hintergrund. Stichwortartig: Verdunkelung auch des europäischen Himmels durch indonesischen Vulkanausbruch, daher Mangel an Pferdefutter mit entsprechenden Folgen, deshalb neue Transport- und Fortbewegungsmittel nötig…

Wissenswertes über Taschendiebe und Henker

Ferner lässt Enzensberger – stets im angenehm unaufgeregten Duktus – den Blick z. B. über folgende Gebiete und die jeweiligen profunden Kenner der Materien schweifen: Pigment-Spezialisten, Schaben-Experten, mathematische Unendlichkeit(en), Geheimnisse der Primzahlenforschung und der Eulerschen Zahl (Enzensberger kann und mag sein Faible für Mathematik nicht leugnen). Außerdem spürt er dem Fachwissen der Wachszieher und Feuerwehrleute, der Vogel-Präparatoren und der Falkner nach, er berichtet von der immensen Vielfalt der Hobel, der Schrauben und der Mausoleen, der Parfüme, Äpfel (rund 1500 Sorten), Kaleidoskope, Helme, Matratzen, Fahnen und Flaggen.

Auch unternimmt der Autor kurze Streifzüge etwa durch die Lebenswelten der Taschendiebe, der Müßiggänger, der Hochstapler oder der Henker. Letztere brauchten – gleichsam ex negativo – gehörige medizinische Kenntnisse und mussten oftmals von den Hinterbliebenen der Hingerichteten entlohnt werden. Auf gewisse Weise ebenso bizarr: Wer hat schon mal von Dolologie gehört? Nun, das ist die von manchen Leuten mit flammendem Eifer betriebene Kanaldeckel-Kunde. Man glaubt ja nicht, was es da auf Erden so gibt!

Offenkundige Tatsache ist, dass jedes, aber auch wirklich jedes Fachgebiet nicht nur skurrile Formen annehmen kann, sondern vor allem auch weitaus komplizierter, vielfältiger und spannender ist, als es zunächst den Anschein hat. Überall haben sich besondere, hie und da bis ins Groteske reichende Fachvokabulare herausgebildet. Enzensberger dazu: „Mit den Worten der Spezialisten tut sich eine Welt auf, von deren Reichtum der Laie keine Ahnung hat.“

Der Mann, der unbedingt Busfahrer werden wollte

Überdies hält das Buch ungemein viel Erzählstoff bereit. Die meisten Kapitel handeln von besonderen Passionen, so etwa die Geschichte vom Hochbegabten, der alle Gymnasial-Empfehlungen in den Wind schlug und partout Busfahrer werden wollte. Als das nach vielen Berufsjahren nicht mehr so weiter ging, heuerte er bei einer Modellbaufirma an und entwarf originalgetreue Busse, mit denen er sich so gut auskannte wie sonst niemand. Man muss sich diesen Mann wohl als glücklichen Menschen vorstellen.

Ähnlich brannte auch der Rotwelsch-Spezialist Siegmund Andreas Wolf für sein Wissensgebiet. Niemals mit einem Professorentitel dekoriert, wusste er mehr über diese frühere Gaunersprache als wohl alle anderen. Mit ungeheurem Fleiß hat er Wörterbücher und Lexika zusammengestellt, die noch heute von Belang sind. Doch er starb ohne sonderliche akademische Weihen – übrigens abseits der Metropolen in Lünen, nördlich von Dortmund. Auch von dem Augsburger Feuerkopf Johann Most wird man bislang noch nicht viel gehört haben. Er verdingte sich als Journalist, sozialistischer Politiker und schließlich zusehends radikaler Anarchist mit Neigung zum Bombenbau samt praktischer Anwendung. Kein System, mit dem er sich nicht angelegt hätte. Enzensberger sieht in ihm einen Ahnherren des Terrorismus.

Von manchen genial wahnwitzigen Leuten, die hier vorkommen, würde man gern noch mehr erfahren, doch es ist Enzensberger just um die vielfältige Fülle zu tun. Das und nicht das Beharren auf wenigen Aspekten kommt seinem immer noch höchst beweglichen Geist entgegen.

Rückblick auf einen bewegenden Briefwechsel

Wer auf die Zeiten der literarischen Anfänge Enzensbergers zurückkommen möchte, sollte sich einen vor wenigen Monaten gemeinsam von den Verlagen Suhrkamp und Piper herausgebrachten Band besorgen, der den Briefwechsel mit der gewiss nicht minder einflussreichen Ingeborg Bachmann enthält. Es ist eines jener Bücher, in denen die Anmerkungen und Kommentierungen aus gutem Grund mehr Raum einnehmen als die Primärtexte, gilt es doch, Zusammenhänge zu erschließen, die längst nicht mehr zum Allgemeingut gehören.

Aber welch ein Gewinn ist das, wenn man tiefer eintaucht! Im Vergleich zur häufig grübelnden Bachmann erscheint einem Enzensberger in seinen Briefen geradezu jungenhaft unbekümmert, aber natürlich auch schon geistig fundiert und intellektuell so wendig, wie man ihn kennt und schätzt. Eben diese Mischung mag für Ingeborg Bachmann aufmunternd und tröstlich gewesen sein. Ihre Briefe lesend, bangt man geradezu nachträglich noch um sie; so wie man seinerzeit atemlos ihren Briefwechsel mit Paul Celan verfolgen konnte, sich unentwegt fragend, ob sie seiner ungeheuren Verletztheit und Verletzlichkeit hat gerecht werden können. Aber wer, wenn nicht eine wie sie? Und wer wiederum hätte sie zuweilen beruhigen können, wenn nicht jemand wie Enzensberger?

Solche Briefbände sind jedenfalls inzwischen Denkmäler, wenn nicht Monumente der letzten (oder meinetwegen vorletzten) Generation, die sich überhaupt noch dermaßen der Mühsal des Briefeschreibens unterzogen hat. Wir gedenken dieser Zeiten mit großem Respekt, ja mit Ehrfurcht und Sehnsucht.

Hans Magnus Enzensberger: „Eine Experten-Revue in 89 Nummern“. Suhrkamp-Verlag, 336 Seiten, 24 €.

Ingeborg Bachmann / Hans Magnus Enzensberger: „Schreib alles was wahr ist auf“. Briefe. Suhrkamp-Verlag/Piper Verlag, 480 Seiten, 44 €.

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P. S.: Zwei Korrekturen am Experten-Buch erlaube ich mir noch: Auf Seite 326 wird der Universalgelehrte „Anastasius“ Kircher genannt. Er heißt aber Athanasius. Das weiß ich auch deswegen, weil ich im selben Dörfchen geboren wurde wie der ruhmreiche Mann.

Auf derselben Seite ist dem Lektorat noch ein kleiner Lapsus durchgegangen. Die Zeile aus dem Beatles-Song „Lucy in the sky with diamonds“ ist geringfügig falsch zitiert. Ein „the“ ist überflüssig: „A girl with kaleidoscope eyes“ wäre richtig gewesen.




„Maschinen wie ich“ – Ian McEwan zeigt uns, dass Roboter auch nur Menschen sind

Charlie Friend ist Anfang Dreißig, Geld verdient er so schnell, wie er es wieder verliert. Derzeit zockt er von Zuhause aus mit windigen Transaktionen an der Börse.

Weil er sich seit Kindertagen für Elektronik und Informatik begeistert, hat er seine letzten Ersparnisse ausgegeben, um einen der ersten frei verkäuflichen Androiden zu bekommen: Roboter, die aussehen und denken wie Menschen und die alles können, was wir können. Nur vielleicht etwas besser, schneller und kompromissloser. Denn sie schlafen nie, durchforsten in Windeseile das Internet, verknüpfen Datenberge und schließen Wissenslücken. Sie helfen, wo sie nur können, sind lernfähige, selbstständige Wesen, voller Empathie und Güte. Sind die Maschinen vielleicht sogar die besseren Menschen?

Der britische Bestseller-Autor Ian McEwan, bekannt für Geschichten, die zwischen makabrer Situations-Komik und subtiler Existenz-Philosophie irrlichtern, hat jetzt mit „Maschinen wie ich“ sein literarisches Meisterstück vollbracht: einen Roman, der elegant und lässig zwischen Vergangenheit und Zukunft jongliert und ein abgründiges Szenario entwirft, in dem der verlogene und fehlbare Mensch konkurriert mit der rechthaberischen und gradlinigen Vernunft der Maschine, ein Wettstreit, den er kaum gewinnen kann. Es sei denn, er zertrümmert sein künstliches Ebenbild. Aber ist das dann nur Maschinenstürmerei oder nicht vielleicht doch, weil die Maschine auch nur ein Mensch ist, Mord?

Er duldet kein Unrecht, das Böse ist ihm verhasst

Adam, Charlies neues Spielzeug, ist viel mehr als nur ein Produkt Künstlicher Intelligenz. Adam hilft nicht nur beim Abwasch und trägt klaglos den Müll vor die Tür. Er verschafft mit seinen rasanten digitalen Verbindungen seinem Besitzer auch satte Gewinne an der Börse. Nachts, wenn Charlie friedlich schläft oder sich mit seiner Freundin Miranda vergnügt, zieht Adam sich den gesamten Shakespeare rein und schreibt hunderte Haikus: eine Intelligenzbestie mit literarischem Feingefühl und sexuellen Bedürfnissen, der einwilligt, als Miranda Lust hat, mit ihm zu schlafen.

Der perfekte und liebenswerte Roboter hat nur ein Problem: Er hat hohe moralische Standards und anspruchsvolle ethische Prinzipien. Er duldet kein Unrecht, das Böse ist ihm verhasst. Die Gesellschaft kann für ihn nur funktionieren, wenn Verfehlungen und Verbrechen gesühnt und bestraft werden. Da kennt er keine Gnade. Deshalb wird er dafür sorgen, dass Miranda, die er doch eigentlich inniglich liebt, ihre Schuld begleichen muss. Denn sie hat, um die Vergewaltigung und den Selbstmord einer Freundin zu rächen, dem Täter eine Falle gestellt und ihn mit einer Falschaussage ins Gefängnis gebracht.

Wenn die technischen Helfer verzweifeln

Als Miranda jetzt selbst hinter Gittern verschwindet, rastet Charlie aus und schlägt seinem Androiden den Schädel ein. Die unsterblichen Überreste der Maschine bringt er zu Alan Turing, dem mathematischen Genie und Vordenker der digitalen Moderne, der einst den Geheimcode der Nazis knackte, aber nach dem Krieg wegen seiner Homosexualität verfemt und als Verbrecher abgestempelt wurde.

Turing starb 1954. Doch bei Ian McEwan hat er überlebt und inspiriert die jungen Computer-Nerds noch immer. Warum auch nicht: Denn obwohl von drohender Klimakatastrophe und bevorstehendem EU-Austritt der Briten die Rede ist, sind wir nicht im Hier und Heute oder in der nahen Zukunft, sondern in der Vergangenheit. Wir schreiben das Jahr 1982: Die Beatles haben sich nach 12 Jahren Trennung wieder zusammen gefunden, ihr neues Album wird überall gespielt, John Lennon, der doch eigentlich seit zwei Jahren Tod ist, singt eine neue Hymne auf die friedensbringende Kraft der Liebe. Das ist auch nötig, denn Maggie Thatcher ist Premierministerin und führt einen Krieg um die Falkland-Inseln, von dem die britischen Truppen – anders als in der Wirklichkeit – geschlagen und gedemütigt wieder nach Hause kommen.

Was heißt hier schon „Wirklichkeit“?

Aber was ist schon die Wirklichkeit und der Tod, wenn Geist und Materie sich vermischen, Maschinen das Denken übernehmen und versuchen, die Menschen zu verstehen und zu verbessern? Dass die Maschinen an der Machtübernahme vielleicht scheitern, weil sie die menschliche Kommunikation in ihrer Mehrdeutigkeit nicht entschlüsseln können, weil Halbwahrheiten und Notlügen ihrem auf Ja und Nein, Gut und Böse, Recht und Unrecht programmiertem Hirn fremd sind; dass vielleicht die Maschinen an den Menschen verzweifeln und sich, zu Tode betrübt, selbst abschalten, ist nur eine der vielen Möglichkeiten, die der ebenso humorvolle wie melancholische, mal lächelnd in die Zukunft, mal kopfschüttelnd in die Apokalypse schauende Autor für uns parat hat.

Ian McEwan: „Maschinen wie ich“. Roman. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. Diogenes Verlag, Zürich. 416 Seiten, 25 Euro.

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  • Ian McEwan, geboren 1948 in Aldershot (Hampshire), lebt in London.
  • Für sein umfangreiches Werk hat er vielen Auszeichnungen erhalten, den Booker-Preis genauso wie den Shakespeare-Preis, immer wieder wird er auch als Kandidat für den Literaturnobelpreis gehandelt.
  • Viele seiner Romane wurden verfilmt: „Abbitte“ (mit Keira Knightley), „Am Strand“ (mit Saoirse Ronan), „Kindeswohl“ (mit Emma Thompson).



„Kinder First. Westentasche Second.“ oder: Eine lustige Mail von der Digital-Partei

Kommt mal ein bisschen näher! Ich muss Euch was erzählen. Hinter vorgehaltener Hand. Ohne Ross und Reiter genauer zu nennen:

Ob die hier vorherrschenden Farben etwas mit dem Thema zu tun haben? Jedenfalls scheint es sich um einen entschieden digitalisierungsfreudigen Menschen zu handeln. (Foto: Bernd Berke)

Ob die hier vorherrschenden Farben etwas mit dem Thema zu tun haben? Jedenfalls scheint es sich um einen entschieden digitalisierungsfreudigen Menschen zu handeln. (Foto: Bernd Berke)

Es begab sich aber zu der Zeit, dass eine kleine deutsche Partei sich zur Antreiberin und Hüterin der Digitalisierung aufschwingen wollte. Ihr oberster Guru, einer mit Zweieinhalb-Tage-Bart, gab gar in schreienden Versalien und ausgefuchstem Hipster-„Denglisch“ diese Plakat-Parole aus:

„DIGITAL FIRST. BEDENKEN SECOND.“

Das konnte man schon sprachlich ein wenig bedenklich finden, vom „Inhalt“ mal abgesehen. Aber es kommt noch besser. Dieser Tage kursierte im Raum Dortmund eine E-Mail, in der eine regionale Gliederung just jener Partei zum neudeutschen „ChancenTalk“ (Wow!) mit einem gewissen „Christian Kinder“ einlud. Moment mal! Heißt der nicht etwas anders? War nicht etwa genau der Mann gemeint, der auf dem Digital-Plakat zu sehen war? Potzblitz! Das wäre ja…

Noch rätselhafter der Name der Haltestelle, an der man aussteigen sollte, sofern man zum besagten Termin den ÖPNV nutzte (was man Anhängern jener Partei nicht unbedingt als Gewohnheit zuschreibt): U-Bahn-Station „Westentasche“. Ähemm. Die findet man wohl auf keinem Dortmunder Fahr- oder Stadtplan. Allenfalls Westentor.

„Kinder First. Westentasche Second.“?

Bald darauf kam die Korrektur. Der nicht ganz einflusslose Parteifunktionär bekannte, ein neues Tablet zu haben und damit (mit diesem digitalen Biest?) noch nicht so zurechtzukommen. Einfaches Korrekturlesen vor dem Absenden hätte vielleicht segensreich sein können. Aber wer wird denn so kleinlich sein! Obwohl: Hieß eine Lieblingslosung jener Partei nicht „Leistung muss sich wieder lohnen“?

Natürlich werde ich niemals verraten, wer den Rundbrief verfasst hat. Immerhin haut er im Vorfeld des „ChancenTalks“ (Wow!) so richtig auf die Pauke: „Wir (…) wollen Europa wieder zum Leuchten bringen“. Hoffentlich haben sie auch die entsprechenden Leuchtmittel.




Chancen, Risiken und Nebenwirkungen der digitalen Kultur – eine Diskussion in Dortmund

Auf dem Dortmunder Diskussions-Podium (von links): Moderator Tobi Müller, Verlegerin Nikola Richter, Museums-Expertin Prof. Monika Hagedorn-Saupe, Dortmunds Schauspielchef Kay Voges, Inke Arns (Leiterin des Hartware MedienKunstVereins - HMKV) und der Medienwissenschaftler Prof. Bernhard Pörksen. (Foto: Bernd Berke)

Auf dem Dortmunder Podium (von links): Moderator Tobi Müller, die Berliner Verlegerin Nikola Richter, Museums-Expertin Prof. Monika Hagedorn-Saupe (Berlin), Dortmunds Schauspielchef Kay Voges, Inke Arns (Leiterin des Dortmunder Hartware MedienKunstVereins – HMKV) und der Tübinger Medienwissenschaftler Prof. Bernhard Pörksen. (Foto: Bernd Berke)

Dass sich praktisch alle Lebensbereiche „digitalisieren“ (sollen), hat sich inzwischen herumgesprochen – bis in Regierungskreise hinein. Zwar tut sich speziell Deutschland mit der entsprechenden Infrastruktur schwer, doch man kann ja schon mal über die Zukunft reden. Oder auch über die „ZUKUNST“. Unschwer erkennbar, dass das schon vielerorts verwendete Designerwort just die Künste im digitalen Futur meint. Es stand jetzt als verbales Signal auch über einer Dortmunder Diskussionsrunde.

Auf diesem Gebiet will sich Dortmund jedenfalls besonders hervortun: Eine veritable „Akademie für Digitalität und Theater“, die sich im Hafenviertel ansiedeln soll, startet derzeit in ihre dreijährige Pilotphase. 1,3 Mio. Euro Fördermittel von Bund, Land und Stadt sind bereits zugesagt. Doch als jetzt im Dortmunder Schauspielhaus eine Diskussion zur digitalen Kultur über die Bühne ging, stocherte man noch ziemlich im Nebel. Und vom Konzept der Akademie war praktisch gar nicht die Rede.

Dortmunds Schauspielchef Kay Voges hat mit dem Theater-Projekt „Die Parallelwelt“ bundesweites Aufsehen erregt; das Stück wurde (inhaltlich hie vorwärts, dort rückwärts) simultan im Dortmunder Theater und im Berliner Ensemble gespielt und wechselseitig in die jeweils andere Stadt übertragen – in digitaler Echtzeit, versteht sich. Überhaupt gilt Voges, der auch Gründungsdirektor der besagten Akademie ist, als geradezu vehementer Protagonist des Digitalen. In der Podiumsdiskussion zahlte er folglich in denkbar großer Münze aus: Das Theater müsse mit digitalen Mitteln neue Räume eröffnen, es könne gar „das Raum-Zeit-Kontinuum durchbrechen“. Klingt höchst agil, wenn auch noch ein wenig wolkig.

Aufbruch in neue Dimensionen?

Immerhin ist man auch in Berlin aufs Tun und Trachten des Dortmunder Theatermannes aufmerksam geworden. So war es denn auch die Staatsministerin für Kultur und Medien, Prof. Monika Grütters (CDU), die nach Dortmund eingeladen hatte. Die Dortmunder Digital-Diskussion gehört in eine Veranstaltungsreihe, die mit anders gelagerten Themen u. a. noch in Dresden und Frankfurt/Main Station macht. Frau Grütters stellte in ihrer kurzen Begrüßungs-Ansprache die Chancen der Digitalisierung in die Tradition des legendären Frankfurter Kulturdezernenten Hilmar Hoffmann (1925-2018) und seiner basisdemokratischen Parole „Kultur für alle“.

Doch so weit sind wir noch nicht. Haben die Kulturschaffenden mit der Digitaltechnik vielleicht nur ein neues „Spielzeug“ entdeckt, mit dem sie sich noch nicht so recht auskennen und für das sie Technik-Freaks als Unterstützung brauchen? Oder erschließen sich hier wirklich neue Dimensionen? Wer das schon so genau wüsste!

Einige Grundlinien zeichnete eingangs der Debatte der Tübinger Medienwissenschaftler Prof. Bernhard Pörksen vor – in einem (Achtung, Tagungs-Deutsch) „Impulsstatement“. Ihm zufolge hat im Zuge der Digitalität das Publikum eine vordem ungeahnte Macht erlangt, man könne von einer „publizistischen Selbstermächtigung“ breiter Kreise reden. Will heißen: Gar viele Menschen verbreiten im Internet – bei Facebook, Twitter etc. oder auch in Blogs – ihre Meinungen und ihre Befindlichkeiten. Zwar gebe es noch die herkömmlichen Medien, die den Nachrichtenstrom filtern und auf „Relevanz“ setzen, doch würden online ganz andere, ungemein virale Themen hochgespült, die nicht ins alte Raster der Wichtigkeit passen, sondern eher Emotionen ansprechen.

Eine Comic-Katze als Weltherrscherin

Zudem, so Pörksen, werde im Netz alles sofort sichtbar, nichts bleibe verborgen. Und schließlich stifte das Netz neue Gemeinschaften, für jede nur denkbare Vorliebe finde sich Genossenschaft. Kaum verwunderlich: Der Wissenschaftler empfahl verstärkte Reflexion über derlei mediale Prozesse. Von Medien-„Kompetenz“ wollte er nicht sprechen, weil das Wort sinnentleert sei. Statt dessen hörte man viel von Mündigkeit, von „Inszenierungs-Bewusstsein“, „Transformations-Bewusstsein“ und von diversen „Narrativen“. Nun ja, das Publikum im Saale war kulturfachlich vorbelastet, da mochten solche Begriffe angehen.

Dem Eröffnungsreferat folgten in aller Knappheit Erfahrungen und Anregungen aus mehreren Kultursparten: Ausstellungswesen, Buchverlag, Theater. Inke Arns vom Dortmunder Hartware MedienKunstVerein (HMKV), seit Jahren intensiv mit Netzkunst sowie Formen der Virtualität befasst und wohl mit dem Themenfeld besonders vertraut, stellte die Frage, ob die (digitale) Technik womöglich mächtiger werde als alle Politik. Dazu ließ sie einen Kurzfilm mit einer niedlichen Comic-Katze laufen, die sich als fürsorgliche Weltherrscherin vorstellte. Lustig oder grauslich?

Den Flügelaltar virtuell auf- und zuklappen

Beispiele aus der Praxis nannte Prof. Monika Hagedorn-Saupe, die das Projekt „museum4punkt0″ (vulgo 4.0) leitet. Unter ihrer Ägide laufen etwa Versuche mit so genannter augmented reality (vermehrte/gesteigerte Realität), das heißt: Besucherinnen und Besucher halten eigens programmierte Tablets vor Museumsobjekte – und erfahren sofort allerlei Hintergründe. Auch können sie auf dem Bildschirm virtuell z. B. Gemälde-Rückseiten betrachten, Flügelaltäre auf- und zuklappen oder Infrarot-Aufnahmen der jeweiligen Kunstwerke aufrufen und somit eventuell die Entstehungsphasen besser verstehen.

Freilich ist die Vorstellung, dass das „altmodische“ (?) Sinnen, Sich-Sammeln, Nachdenken und Phantasieren vor den Bildern durch allweil hochgehaltene Tablets unterbrochen, wenn nicht gar verhindert wird, doch arg gewöhnungsbedürftig. Die vielzitierten Digital Natives haben damit wahrscheinlich keine Schwierigkeiten. Aber wie ließe sich ihr Kunsterlebnis beschreiben? Vielleicht kann man Ausstellungs-Rundgänge ja einmal mit und einmal ohne Tablet absolvieren? Das wäre den Museumsleuten sicherlich recht.

Über andere Bauformen fürs Theater nachdenken

Schauspielchef Kay Voges begreift digitale Verfahren, wie er bekannte, mittlerweile als weitere Sparte des eh schon vielfältigen städtischen Theaterbetriebs (Oper, Schauspiel, Kinder- und Jugendtheater, Ballett, Orchester). In diesem Zusammenhang fiel auch das machtvolle Wort vom „Raum-Zeit-Kontinuum“, das es zu durchbrechen gelte. Die analoge Epoche hätten wir hinter uns, wir lebten bereits in der digitalen Ära, befand Voges. Das müsse Konsequenzen für die Künste haben. Selbst die Bauformen der Theater müssten neu gedacht werden. Allerdings: „Die Künstler brauchen jetzt die Techniker, und zwar auf Augenhöhe.“ Hört sich so an, als werde sich so manches Berufsbild verändern – beileibe nicht nur am Theater. Andererseits hieß es später, man dürfe die Kunst „nicht den Ingenieuren überlassen“.

In Urheberrechtsfragen verheddert

Nach der Pause ging’s in eine nicht allzu ergiebige Diskussion, moderiert vom Schweizer Tobi Müller, der aus seiner Wahlheimat Berlin angereist war. Alsbald verhedderte man sich in den jüngst so heftig umstrittenen Urheberrechtsfragen der Netzwelt. Gegen widerrechtliche Nutzungen eingesetzte Upload-Filter, da war man sich weitgehend einig, seien eine Gefahr für freie Meinungsäußerung und Kreativität im Internet, also auch für die digitale Zukunft der Kunst. Inke Arns meinte, die hintersinnigen Collagen eines John Heartfield würden heute wahrscheinlich als „Urheberrechts-Verletzungen“ ausgefiltert. Großen Beifall erhielt die Berliner Autorin und Verlegerin Nikola Richter (mikrotext, spezialisiert auf E-Books), die forderte, Google, Amazon, Facebook und Konsorten sollten endlich richtig besteuert werden. Das eingenommene Geld werde dann reichen, um kulturelle und mediale Schöpfungen angemessen zu vergüten.

Auch Prof. Pörksen hatte einen Vorschlag, um die Macht der Weltkonzerne einzuhegen und nach Transparenz-Gesichtspunkten zu kontrollieren – die Einrichtung von „Plattform-Räten“ (hoffentlich nicht nach dem Proporz-Vorbild deutscher Fernsehräte). Pörksen war es auch, der zu Beginn des Abends die beiden Extrem-Haltungen zur Digitalität ausgemacht hatte: Es gebe „Euphoriker“ und „Apokalyptiker“, er selbst schwanke zwischen beiden Polen. Doch man solle die Zukunft nicht zu düster sehen. Selbst im Falle des Scheiterns aller Bemühungen gelte: „Der Zweckoptimist hat immer noch das bessere Leben gehabt!“

 

 




„Alles nur geklaut?“ – Dortmunder Schau auf Zeche Zollern zeichnet „abenteuerliche Wege des Wissens“ nach

Vorführung des von Karl Drais erfundenen Laufrades anno 1818 in Paris. (LWL/Repro: Hudemann)

Wichtige Station in der Erfindungsgeschichte des Rades: Vorführung des vom Karlsruher Karl Drais erfundenen Laufrades – anno 1818 in Paris. (LWL/Repro: Hudemann)

Das gibt’s beileibe nicht in jeder Ausstellung: In der Dortmunder Schau mit dem flotten Fragezeichen-Titel „Alles nur geklaut?“ (ebenfalls geklaut: beim gleichnamigen Song der „Prinzen“) wird das Rad gleichsam noch einmal neu erfunden.

Auch sonst werden „Die Abenteuerlichen Wege des Wissens“ (Untertitel) beschritten. Es geht um Entstehung und Weitergabe des Wissens, aber auch um Geheimhaltung und Spionage – mit historischen und aktuellen Weiterungen bis zum Datenschutz. Ein weites Feld, fürwahr, das da mit 370 Exponaten auf 1000 Quadratmetern ausgeschritten wird.

Symboltier der Ausstellung für „geklautes" Wissen: die diebische Elster. (Grafik: baier + wellach projekte / Golasch)

Steht als Symboltier der Ausstellung für „geklautes“ Wissen: eine diebische Elster. (Grafik: baier + wellach projekte / Golasch)

Kurz zurück zum Rad. Das älteste Exponat im Dortmunder LWL-Industriemuseum Zeche Zollern ist ein jungsteinzeitliches hölzernes Scheibenrad, aufgefunden im Moor bei Aurich und daher staunenswert gut konserviert. Es stammt aus der Zeit um 2350 v. Chr.

Sodann kann man wesentliche Entwicklungsschritte bis hin zum heutigen Formel-1-Reifen verfolgen. Zwischendurch hat eine holographisch erzeugte „Geistererscheinung“ ihren Auftritt. Da spricht im Kleinformat ein dreidimensionaler Schauspieler zu uns, stilecht gewandet als Freiherr Karl von Drais, welcher anno 1817 das Laufrad („Draisine“) erfunden hat. Gleich daneben kann man Drais‘ Antlitz als Lebendmaske bewundern, zusätzlich versehen mit echten Wimpern des Mannes. Ein Stück wie aus der Wunderkammer.

Diese Ausstellung arbeitet mit verschiedensten Medien und Methoden, um eben auch möglichst viele Menschen anzusprechen. Herkömmliche museale Exponate und Vitrinenstücke werden vielfach flankiert von künstlerischer „Intervention“ (mit einer Arbeit von Jean Tinguely bis hin zur Performance) und vor allem (multi)medialer Aufbereitung. Wo irgend möglich, geht es betont spielerisch zu, im nicht gar so schönen Neusprech gesagt: „Gamification“ genießt im Zweifelsfalle Vorrang.

Wer knackt die Codes in den Geheimkammern?

Ein Clou sind die sechs „geheimen Kammern des Wissens“. Nach dem Muster der schwer angesagten Escape Rooms (man darf ins Freie, wenn man vorher Rätsel gelöst hat) soll man in diesen abgetrennten Räumen knifflige Fragen beantworten und Codes knacken; natürlich alles auf freiwilliger Basis. Wer es schafft, wird in die „Loge des Wissens“ aufgenommen. Und selbstverständlich bleibt niemand, der die Antworten nicht findet, hilflos in der Raumzelle gefangen…

Die Loge in allen Ehren. Aufschlussreich ist aber schon der ganz normale Rundgang durch die Schau. Eingangs wird der Prometheus-Mythos aufgegriffen, demzufolge alles Wissen ursprünglich von den Göttern herrührt, das ihnen jedoch vom Menschen entwunden („geklaut“?) wurde.

Diese Installation bezieht sich auf den frühen Ruhrgebiets-Industriellen Friedrich Harkort, der sein Fachwissen auf Reisen nach England entscheidend erweiterte. War er Pionier oder Spion? Scherzhaft hat man gesagt: ein „Spionier". (Foto: LWL/Hudemann)

Diese Installation bezieht sich auf den frühen Ruhrgebiets-Industriellen Friedrich Harkort, der sein Fachwissen auf Reisen nach England erwarb. War er Pionier oder Spion? Scherzhaft hat man die Worte kombiniert: ein „Spionier“. (Foto: LWL/Hudemann)

Doch allmählich wurde offenbar, dass der Mensch auch selbst neues Wissen generieren konnte. Und zwar mit der Zeit dermaßen viel Wissen, dass es irgendwie gespeichert werden musste: Da steht man unversehens zwischen einem 243 Bände umfassenden Lexikon des Universalgelehrten Johann Georg Krünitz und einem Bildschirm mit Wikipedia-Zugriff. Vertreter dieser Online-Enzyklopädie wollen die Schau besuchen, Workshops veranstalten – und dabei auch um potenzielle Mitarbeiter werben, an denen es zunehmend mangelt; womit auch eine Frage zur Weitergabe des Wissens berührt wäre.

Wissen schützen, Wissen stehlen

Weitere Themen-Facette: der Schutz des Wissens und die Verletzung dieses Schutzes. Als sinnfälliges Beispiel dient die ehedem äußerst lukrative Porzellanherstellung, die über lange Zeit ein bestens gehütetes chinesisches Geheimnis blieb. Erst 1710 kam man im sächsischen Meißen auf den „Trichter“ (Kaolin hieß das Zauberwort), führend daran beteiligt war Samuel Stöltzel. Sein Expertenwissen galt unter August dem Starken quasi als Staatsgeheimnis. Stöltzel freilich übte Verrat. Er ließ sich vom Kaiser in Wien das wertvolle Wissen abkaufen – und kehrte hernach wiederum mit frischen Erkenntnissen um Porzellan-Bemalung nach Sachsen zurück. Ein Doppelagent also. Auch er begegnet uns als sprechendes Hologramm und versucht, seine Beweggründe zu erklären.

Besonderes Exponat: In sauerstoffarmem Wasser konservierte Turbopumpe einer V2-Rakete. (Foto: Bernd Berke)

Heikles Exponat: im sauerstoffarmen Wasser konservierte Turbopumpe einer V2-Rakete. (Foto: Bernd Berke)

An etlichen Stellen stößt man in der Schau auf Ambivalenzen und Widersprüche, manchmal auch auf schreckliche Untiefen: Wernher von Braun war mit seiner Raketenforschung zunächst den Nazis zu Diensten. In Dortmund sind Teile einer V2-Rakete, der in Peenemünde entwickelten, so genannten „Wunderwaffe“ zu sehen, bei deren Fertigung mindestens 12.000 Zwangsarbeiter aus dem KZ Mittelbau-Dora (Thüringen) ums Leben gekommen sind. Wissens-Weitergabe der überaus wendigen Art: Später war von Braun eine treibende Kraft der Raketenentwicklung und des Weltraumprogramms in den USA. Sein Weg führte sozusagen von Hitler zu Kennedy, was in Dortmund durch ein irritierendes Kippbild veranschaulicht wird. Allemal ist es ein Denk- und Lehrstück zur angeblich wertneutralen Wissenschaft.

Kein Patent auf Röntgenstrahlen

Manche Leute waren aufs Eigentum an Wissen bedacht, andere zeigten sich freigebig: Wilhelm Conrad Röntgen verzichtete tatsächlich auf ein Patent für seine bahnbrechende Entdeckung der Röntgenstrahlen (Ausstellungsstück: durchleuchteter Schädel Sigmund Freuds), er befand, solches Wissen gehöre der ganzen Menschheit. Konrad Adenauer kämpfte hingegen vergebens um ein Patent für eine ungleich geringere Erfindung. Der nachmalige Bundeskanzler hatte sich einen beleuchteten Stopfpilz ausgedacht…

Ein Exemplar der legendären deutschen Verschlüsselungs-Maschine „Enigma" aus dem Zweiten Weltkrieg. (LWL/Nixdorf-Museum/ Foto: Bernd Berke)

Ein Exemplar der legendären deutschen Verschlüsselungs-Maschine „Enigma“ aus dem Zweiten Weltkrieg. (LWL/Nixdorf-Museum/ Foto: Bernd Berke)

Um Geheimhaltung und Entschlüsselung geht es an einer anderen Station: Ein Exemplar des legendären, weil weltweit beispiellosen deutschen Verschlüsselungs-Apparats „Enigma“ steht für den Geheimdienst im Zweiten Weltkrieg. Rund 10.000 Menschen arbeiteten in London an der Entschlüsselung deutscher Militär-Nachrichten, lediglich vier deutsche Fachkräfte waren als „Enigma“-Abwehr eingeteilt, wie Ausstellungs-Kurator Georg Eggenstein zu berichten weiß.

Bochum mit James Bond und Stasi

Natürlich konnte man auch diesen populären Aspekt nicht verschenken: In Sachen Spionage wirft man einen kecken Seitenblick auf James Bond, der ja bekanntlich aus dem heutigen Bochumer Stadtteil Wattenscheid stammt. Zudem wird die abenteuerliche Geschichte des Bochumer Stasi-Spitzels Karl Heinz Glocke angerissen, wie es denn überhaupt einige frappierende regionale Bezüge gibt.

Spionage-Chefin aus Dortmund setzte Mata Hari ein

Am erstaunlichsten vielleicht diese Verbindungslinie nach Westfalen: Haben Sie schon einmal den Namen Elsbeth Schragmüller gehört? Ihre Geschichte ist ein Thema für sich, sie ist wohl noch lange nicht auserzählt und dürfte weitere Recherchen lohnen. Die Frau wurde im später zu Dortmund gehörenden Vorort Mengede geboren und besaß offenbar einen scharfen analytischen Verstand. In Berlin brachte sie es im Ersten Weltkrieg zur Leitung der Spionage-Aktivitäten gegen den „Erzfeind“ Frankreich. Mancherlei Legende rankte sich um „Mademoiselle Docteur“. Genaueres wusste kaum jemand. Sie selbst hat sich – erst 1929 – nur ein einziges Mal öffentlich zu ihrer Funktion geäußert.

Verantwortliche Akteure des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (v. li.): LWL-Direktor Matthias Löb, Projektleiterin Anja Hoffmann, Dirk Zache (Direktor der Zeche Zollern) und Kurator Georg Eggenstein). (Foto: Bernd Berke)

Akteure des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL), von links: LWL-Direktor Matthias Löb, Projektleiterin Anja Hoffmann, Dirk Zache (Direktor des Industriemuseums Zeche Zollern), Kurator Georg Eggenstein. (Foto: Bernd Berke)

Frau Schragmüller setzte auch die berühmte Mata Hari ein, die vormals halbseidene Tänzerin, die nach ihrer Bühnenkarriere weiter ein glamouröses Leben führen wollte und sich daher auf Spionage einließ. Hilfreich waren dabei ihre teils hochrangigen Nachtclub-Bekanntschaften. Auch dazu gibt es neue Einsichten, weil erst seit Ende 2017 die französischen Prozessakten gegen Mata Hari eingesehen werden dürfen. 1917, also 100 Jahre zuvor, hatte das Verfahren zur Hinrichtung der Spionin geführt.

Gar vieles könnte man noch erwähnen: Besucher-Selfies, die in einer Cloud auf Stoffbannern auftauchen; einschlägige Objekte zu „Fake News“ und sonstigen Fälschungen von Schülern aus Irland, Polen und Deutschland; eine ebenso niedliche wie gruselige Spielzeugpuppe, die ins Kinderzimmer hinein lauscht und in Deutschland verboten ist. Und, und, und. Nun ist’s aber auch genug der Vorrede: Ein Besuch der schlauen Schau ist schlichtweg ratsam.

„Alles nur geklaut? Die abenteuerlichen Wege des Wissens“. Vom 23. März bis zum 13. Oktober 2019. LWL-Industriemuseum Zeche Zollern, Dortmund, Grubenweg 5. Di-So 10-18 Uhr. Eintritt 8 Euro, Kinder/Jugendliche (bis 17) frei. Katalog 29,95 Euro. Tel. Führungen/Museumspädagogik: 0231/6961-211. Internet: allesnurgeklaut.lwl.org




In den Teich gesetzt…

Einst war's ein Teich, heute ist es eine Art Steppe im Becken. (Foto im Dezember 2018: Bernd Berke)

Einst war’s ein Teich, heute ist es eine Art Steppe. Im Hintergrund die imposanten Bauten im Eingangsbereich des Dortmunder Hauptfriedhofs. (Foto, Dezember 2018: Bernd Berke)

Zu berichten ist von einer schier endlosen Geschichte des Missvergnügens. Nein, bewahre, wir meinen nicht etwa den „Fortgang“ der Arbeiten am Berliner Flughafen BER. Aber auch etwas, das nicht und nicht fertig werden will.

Es geht um den einst recht schmucken Teich im Eingangsbereich des Dortmunder Hauptfriedhofs, welcher übrigens nach Hamburg-Ohlsdorf der zweitgrößte der Republik * sein soll. Aber das nur lokalpatriotisch nebenbei.

Schon gegen Ende 2016 wurde der bei Friedhofsbesuchern (nicht zuletzt wegen der schwarzen Trauerschwäne) beliebte Teich trockengelegt, weil er zusehends Wasser verloren hatte. Nanu?

Als der Trauerschwan noch übers Wasser glitt. (Foto, Dezember 2015: Bernd Berke)

Als der schwarze Trauerschwan noch übers Wasser glitt. (Foto, Dez. 2015: Bernd Berke)

Langwierig gestaltete sich die Suche nach den Ursachen, einige Zeit kostete auch die vermeintliche Abhilfe, nämlich die Abdichtung von Rissen.

Und tatsächlich. Eines Tages schien es vollbracht zu sein. Ende 2017 ließ man frohen Mutes neues Wasser einlaufen. Doch wieder versickerte es. Wie lautet doch die alte Weisheit: Ein bisschen Schwund ist immer. Jedenfalls war abermals Ursachenforschung angesagt.

Wie die Ruhrnachrichten zwischendurch aufgeregt vermeldeten, rann das Wasser doch nicht – wie bis dato gedacht – durch die Seitenwände, sondern durch Risse im Boden. Aber wo waren die genau?

Und wieder durften Experten ‚ran… Mehr noch: Die Friedhofsverwaltung ließ sogar einen Wünschelrutengänger tätig werden, der prompt eine Wasserader entdeckte, mit deren Hilfe man den Teich irgendwann neu zu befüllen gedenkt. Irgendwann.

Jetzt haben wir Ende 2018. Und noch immer sieht das, was früher ein Teich gewesen ist, erbärmlich aus. Es hat sich im Becken eine ziemlich unansehnliche Vegetation ausgebreitet. Nun verstehen wir auch recht konkret, was die Redewendung bedeutet, man habe etwas „in den Teich gesetzt“.

Dass dort eines Tages wieder Schwäne über einen Wasserspiegel gleiten, vermag man sich kaum noch vorzustellen. Aber wer weiß: Vielleicht schaffen sie es ja sogar noch vor Fertigstellung des Berliner Airports.

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  • * andere Quellen nennen als zweitgrößte deutsche Grabesstätte Stahnsdorf bei Berlin.

Ein Bild aus besseren Tagen. (Foto, Dezember 2015: Bernd Berke)

Ein Bild aus besseren Tagen. (Foto, Dezember 2015: Bernd Berke)

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The times, they are a-changin': Im Juli 2019 ist wieder Wasser drin... (Foto: Bernd Berke)

The times, they are a-changin‘: Im Juli 2019 ist wieder Wasser drin… (Foto: Bernd Berke)




Plastikpuppen, Suchmaschinen – Dortmunder Hartware Medienkunstverein zeigt Arbeiten von „Computer Grrrls“

Bild aus Caroline Martels Film „The Phantom of the Operator“ von 2004 (Bild: public domain/artifact productions. Im Rahmen der Ausstellung „Computer Grrrls“, HMKV im Dortmunder U)

Zwei aufblasbare überlebensgroße Plastikpuppen sind der Blickfang im Raum – plumpe Gebilde, denen Ventilatoren in regelmäßigen Abständen Kontur und Fülle verleihen, bevor sie, mangels Luftdruck, wieder in sich zusammensacken. Der grob-schlächtigen Bemalung nach sind sie nackt, eine erotische Anmutung jedoch geht von ihnen eher nicht aus.

Luftnummer

Was die Figuren eint, ist ihre Geschichte: Beide sind sie Auftragsarbeiten, entstanden in spezialisierten Werkstätten in China und den Niederlanden, denen als Vorbild identische zweidimensionale Pläne dienten, die die Künstlerin Simone C. Niquille anfertigte. Der Unterschied zwischen den Puppen ist mithin der „kulturellen Differenz“ der Produzenten geschuldet. Da sich die Figuren jedoch recht ähnlich sind, kann es (bei dieser Art von Beweisführung) mit der kulturellen Differenz nicht weit her sein.

Ach ja: Angebliches Vorbild der Puppenplanung ist eine Doppelgängerin von Hillary Clinton (auf einem Videomonitor zu sehen), deren Gesicht folgerichtig den runden Kopfballon einer der Figuren ziert. Bei der anderen wurde auf ein vorlagengetreues Gesicht eher weniger Wert gelegt. „The Fragility of Life“ heißt das ganze bedeutungsschwer. Haben wir jetzt alles?

Computer und Zubehör aus der Vergangenheit sind das Thema von Jenny Odell. „Neo-Surreal“, 2017 (Bild: Jenny Odell. Im Rahmen der Ausstellung „Computer Grrrls“, HMKV im Dortmunder U)

Computer und Zubehör aus der Vergangenheit sind das Thema von Jenny Odell. „Neo-Surreal“, 2017 (Bild: Jenny Odell. Im Rahmen der Ausstellung „Computer Grrrls“, HMKV im Dortmunder U)

Video-Schwerpunkt

Mit dem Kunstbegriff ist es bei solchen Arbeiten nicht immer einfach. Finale Wertungen sollen hier unterbleiben, ein jeder Besucher – und eine jede Besucherin, aber klar doch! – urteile selbst.

„Computer Grrrls“ ist der Titel der Ausstellung, zu sehen ist sie im Hartware Medienkunstverein (HMKV) im Dortmunder „U“. Mit einer marginalen Ausnahme wird hier nur Kunst von Künstlerinnen (ohne Sternchen) gezeigt, Arbeiten eher jüngerer Frauen, die mehr oder weniger eng um Computer, Informationsverarbeitung, Internet, KI und so fort kreisen.

Etwa 13 der 23 Exponate (bei manchen ist eine eindeutige Zuordnung nicht sinnvoll) arbeiten mit Video, mal auf kleinem Schirm, mal im abgedunkelten Séparée, was in der Ausstellung eines „Medienkunstvereins“ ja auch naheliegend ist. Eher schon könnte man hier die Zeichnungen und Aquarelle Suzanne Treisters als Ausreißer betrachten. In ihnen ist sogar Humor zu registrieren, wenn sie etwa auf einer wandgroßen Weltkarte die „Post Singularity Epoch of Artificial Super Intelligence Inhabitation of Earth“ darstellen. Bemerkenswert sind auch die Mandalas ähnlichen ornamentalen Bilder, die die Entwicklung von IT beschreiben.

Ganz so zornig sind sie nicht

„Computer Grrrls“ denn also. Der Titel läßt an „Riot Girls“ denken, an zornigen weiblichen Punk der 90er Jahre, der nun beim Medienthema irgendeine Entsprechung zu finden sich anschickt. Doch ist in der Ausstellung eher keine aggressive Kunst zu finden, und es wäre unredlich, die oftmals klugen und nachdenklichen Positionen sämtlich unter das Zornesbanner zu drängen. Auch muß nachdenklich stimmen, daß das Signalbild der Ausstellung, eine vielgliedrige, wohl weibliche Gestalt, die die Zunge provozierend herausstreckt, keineswegs ein Exponat ist, sondern offenbar eine Auftragsgraphik des Vereins mit dem bescheidenen Copyrightvermerk „Gestaltung: Stefanie Ackermann, Manuel Bürger“. Hatten sie wirklich kein Kunstwerk, das zum Titel paßte?

Nadja Buttendorf erzählt im Video die Geschichte ihrer Eltern beim DDR-Elektronikkombinat Robotron. (Bild: Nadja Buttendorf. Im Rahmen der Ausstellung „Computer Grrrls“, HMKV im Dortmunder U)

Telefonistinnen

Wie auch immer. Auffällig bei vielen Arbeiten ist eine Interesse an Forschung, zumal an historischer. So befaßt sich Caroline Martels mit feiner Ironie betitelter 65-Minuten-Film „Le Fantôme de l’Opératrice“ (Das Phantom der Telefonistin) unter Verwendung alter Originalaufnahmen profund mit Frauen und elektrischer/elektronischer Technik. Darsha Hewitt hat zwei „analoge“ Rhythmusgeräte vom Typ Wurlitzer Sidemann 5000 in Glasvitrinen gestellt, hat sie gründlich erforscht und erläutert sie in 10 Fünfminutenvideos. Nadja Buttendorf wiederum erzählt im Stil einer YouTube-Serie in heiter anmutenden Dreiminutenfolgen die Geschichte ihrer Eltern, die sich im seinerzeit bedeutenden DDR-Elektronikkombinat Robotron kennenlernten, heirateten, arbeiteten und sich nach dem Niedergang der Firma trennten.

Üble Späße mit dem Chatbot

Andere Künstlerinnen registrieren – auch hier könnte man oft sagen: augenzwinkernd – die Wechselbeziehungen von Mensch und Netz. So hat Erica Scourti in „Body Scan“ ihre Körpermaße als Text in eine Suchmaschine gegeben und präsentiert in einem Video nun – emotionslos, wie es scheint -, was ihr angeboten wird. „I’m here to learn so :))))))“ von Zach Blas & Jemima Wyman erzählt die angeblich wahre Geschichte des Chatbots Tay, der im Netz die feine Konversation erlernen sollte. Böse Trolls jedoch brachten ihm so viel verbalen Schweinkram bei, daß Microsoft Tay nach 16 Stunden wieder aus dem Verkehr ziehen mußte: Eine eindrucksvolle 4-Kanal-Videoinstallation mit einem eingedötschten, munter erläuternden Chatbot-Kopf, 27:33 Minuten lang.

Schönes aus dem 3D-Drucker

Erwähnt sei schließlich noch eine besonders „schöne“ Arbeit der Iranerin Moreshin Allahyari. In der Konzentration eines abgetrennten Betrachtungsraums erzählen Videos von monströsen weiblichen Dschinn-Figuren, von Ya’jooj und Ma’jooj, von Aisha Qandisha, und in zwei Vitrinen stehen diese Figuren, leuchten golden, Geschöpfe aus dem 3D-Drucker. Dieses Projekt sei, belehrt uns das Programmheft, Teil einer Serie zu „digitalem Kolonialismus und Re-figuration als feministische und aktivistische Praxis“. Nun gut; auf jeden Fall hinterlassen die einzigen figurativen Arbeiten mit gleichsam klassisch-skulpturaler Anmutung in dieser Ausstellung einen bleibenden Eindruck.

Skulpturales aus dem 3D-Drucker: Morehshin Allahyari, „Ya’jooj Ma’jooj“, 2018 (Bild:  Morehshin Allahyari. Im Rahmen der Ausstellung „Computer Grrrls“, HMKV im Dortmunder U)

Plötzlich waren die Frauen weg

Zurück noch einmal zum titelgebenden Zorn, der in den Arbeiten kaum Widerhall findet. Wenn er sich aber aus der Kunst nicht speist, wie dann? Es hat, eine Zeitschiene an der Wand verdeutlicht es, mit der Präsenz oder, ehrlicher ausgedrückt, Nicht-Präsenz von Frauen im großen IT-Themenfeld zu tun.

Gewiß, in der Frühzeit des komplexen Rechnens gab es sie noch, als „Rechnerinnen“ bei Finanzämtern oder Versicherungen. Auch als Bedienerinnen riesiger Maschinen, die mechanisch oder mit Röhrenbestückung Resultate suchten, waren sie unverzichtbar, und in Bletchley Park zum Beispiel, wo der geniale Mathematiker Alan Turing im 2. Weltkrieg den Code der Nazi-Verschlüsselungsmaschine „Enigma“ knackte, war die Zahl der weiblichen Mitarbeiter erheblich.

Doch spätestens mit dem Aufkommen der Personal Computers (PC) in den 80er Jahren, erläutert Inke Arns vom Hartware Medienkunstverein, war Schluß mit weiblicher Beteiligung. Computer waren nun Männersache, und sie sind es bis heute geblieben. Wenn Frauen in der IT-Industrie doch einmal in Spitzenpositionen gelangen, CEO werden, dann wahrscheinlich auf der juristischen oder wirtschaftswissenschaftlichen Schiene, eher nicht auf der technischen. Die berühmten Firmengründer und bald danach schon Multimilliardäre – Bill Gates, Steve Jobs, Mark Zuckerberg und so fort – waren sämtlich Männer, eine Videoarbeit in der Ausstellung thematisiert die männliche Dominanz ironisch, indem sie einfach Biographien aneinanderreiht: „A Total Jizzfest“ von Jennifer Chan.

Viele künstlerische Positionen

Wenngleich feministische Klage und präsentierte Kunst in dieser Ausstellung ein wenig auseinanderfallen, schmälert dies nicht ihre Attraktivität, weil so viele junge Positionen zu sehen sind wie selten. Der Vollständigkeit halber sei noch vermerkt, daß das Pariser Kulturzentrum La Gaîté Lyrique Kooperationspartner der Schau ist. Dort, in Paris, wird die Ausstellung im kommenden Frühsommer zu sehen sein, bevor sie dann im August zum MU Einhoven nach Holland weiterzieht.

  • „Computer Grrrls“, HMKV im Dortmunder U, Leonie-Reygers-Terrasse, 44137 Dortmund
  • Bis 24. Februar 2019.
  • Geöffnet tgl. außer Mo 11-18 Uhr, Do+Fr 11-20 Uhr.
  • Eintritt frei
  • www.hmkv.de