Simultantheater in Lichtgeschwindigkeit: „Die Parallelwelt“ von Kay Voges hatte in Dortmund und Berlin zugleich Premiere

Zwei Welten, zwei Hochzeiten, viel Verwirrung: Szene aus "Die Parallelwelt" (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Zwei Welten, zwei Hochzeiten, viel Verwirrung: Szene aus „Die Parallelwelt“. (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Freds Pullover ist furchtbar. Eine optische Beleidigung in Blau. Aber die gestrickte Scheußlichkeit mit den zwei auffallenden Querstreifen besitzt einen entscheidenden Vorteil: Sie ist leicht wiederzuerkennen. Und das ist wichtig in der „Parallelwelt“, denn in ihr ist Fred immer ein anderer, verkörpert durch ein halbes Dutzend Schauspieler und Schauspielerinnen.

Im neuen Stück des Dortmunder Intendanten Kay Voges und seines Teams erleben wir Fred in verschiedenen Phasen seines Lebens zugleich. Er ist jung und er ist alt, Familienvater und Pflegefall, frisch verliebt und verdrossene Hälfte einer gescheiterten Ehe.

Mehrere Terabyte an Daten werden an diesem Premierenabend in Lichtgeschwindigkeit durch ein Glasfaserkabel gejagt, welches das Schauspiel Dortmund mit dem Berliner Ensemble verbindet. Denn „Die Parallelwelt“ findet als Simultanaufführung in beiden Städten zugleich statt. Hier wie dort filmen Live-Kameras die Schauspieler auf Schritt und Tritt. Was sie aufnehmen, sehen wir als Doppelbild und als Übertragung auf Leinwänden, die den Guckkasten zu zwei Dritteln in ein Kino verwandeln.

Eine Geburt in Berlin, ein Tod in Dortmund: „Die Parallelwelt“ erzählt eine Lebensgeschichte von ihrem Beginn und ihrem Ende her. (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Moderne Schöpfungsgeschichte

Voges greift Freds Lebensgeschichte an Anfang und Ende gleichzeitig auf. Uwe Schmieder, der uns in Dortmund die Agonie des Sterbenden vor Augen führt, geht dabei ähnlich unerschrocken an die Grenzen des Darstellbaren wie Stephanie Eidt, die in Berlin die Geburt des Babys spielt. Für schwache Nerven ist diese Introduktion nur bedingt geeignet. Aber an den scheinbar extremen Gegenpolen des Lebens findet sich seltsam Gleiches: die Sterilität der Zimmer, die Tracht der Krankenschwestern, der tröstende Zuspruch, schließlich die Waschung der Körper. Dazu erzählt Voges eine moderne Schöpfungsgeschichte, eine Genesis von einer Welt ohne Abstände, in der das Glasfaserkabel zum Räume und Zeiten verbindenden Wurmloch wird.

Was ist Original, was ist Kopie?

Die folgenden zweieinviertel Stunden gleichen einem bildgewaltigen, verrückten Spiegellabyrinth, in dem hinter jeder Biegung andere Fragen auf uns warten. Was ist Original und was Kopie? Was ist real, was virtuell? Ist die Welt mehr als Wille und Vorstellung? Gibt es überhaupt Materie, wenn am Ende womöglich alles nur Energie ist? Voges und seine Dramaturgen spielen ähnlich rasant mit diesen Themen wie die Techniker mit den Möglichkeiten von Bildregie (Voxi Bärenklau) und Videodesign (Mario Simon, Robi Voigt).

Ohne Live-Kameras läuft nichts in der „Parallelwelt“. (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Das mag ernst klingen, wird aber höchst komisch und unterhaltsam, wenn der gegenläufig erzählte Abend seinem Zentrum zustrebt, also der Lebensmitte von Fred. Denn während seiner Hochzeit mit Stella, die in Berlin und Dortmund zugleich gefeiert wird, tut sich ein Riss in der Raumzeit auf. Die Festgesellschaften stehen plötzlich sich selbst gegenüber, woraus ein herrlich amüsantes Chaos entsteht. In den hitzig ausbrechenden Diskussionen darüber, welche Feier denn nun die wahre und echte sei, werden die Bräute hysterisch („Mein Kleid ist verdammt nochmal ein Unikat!“). Begriffe wie rechts und links verschwimmen, was plötzlich pikant politische Töne ins turbulente Spiel bringt. Selbst kalauernde Currywurst-Vergleiche werden nicht ausgelassen.

Aus der Komik zurück zum Ernst

Erstaunlich, wie die Macher der „Parallelwelt“ nach diesem Riesen-Hallo zur Ernsthaftigkeit zurückfinden. Immer wieder gibt es so genannte Loops, in denen sich bestimmte Szenen wiederholen. Manchmal verhalten sich die Darsteller dabei eine Winzigkeit anders als erwartet, was dann zu einem anderen Fortgang der Geschichte führt – oder auch nicht. Es ist, als spielte dieser Abend beständig mit dem Was-Wäre-Wenn, mit den schier unendlichen Möglichkeiten, zwischen denen jeder Mensch immerzu die Wahl hat.

Verdoppelung, Vervielfältigung und Fragmentierung der Bilder in „Die Parallelwelt“. (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Die Jagd nach den Parallelen im vermeintlich Paradoxen gipfelt in eine flimmernde, sich im Tempo rasant steigernde Videosequenz, in der die Bilder wie eine entfesselte Flut vorbei rauschen: verdoppelt, vervielfacht, fragmentiert. Verwirrend und betörend zugleich, nicht zuletzt auch durch die Musik von T.D. Finck von Finckenstein. Mit diesem Feuerwerk hätte der Abend enden können, aber das Stück geht noch rund 20 Minuten weiter, obschon das meiste bereits gesagt scheint. Zu den sanften Klängen des Songs „Enjoy the silence“ von Depeche Mode plätschert „Die Parallelwelt“ beinahe ein wenig müde aus. In Erinnerung aber bleibt die überbordende Fantasie eines unbedingt sehenswerten Theaterabends, der von Entgrenzung und Neuzusammensetzung der Welt erzählt.

(Infos/Termine: https://www.theaterdo.de/detail/event/die-parallelwelt/)

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1 Antwort zu Simultantheater in Lichtgeschwindigkeit: „Die Parallelwelt“ von Kay Voges hatte in Dortmund und Berlin zugleich Premiere

  1. Bernd Berke sagt:

    Nachtrag am 12. März 2019: Die hier besprochene Inszenierung hat jetzt den Deutschen Bühnenpreis OPUS 2019 erhalten.

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