Bis die Kriegsgewalt bröckelt – Alexander Kluges Bilderatlas „Sand und Zeit“

Da haben wir also wieder ein Buch vom inzwischen 93-jährigen Polyhistor Alexander Kluge, der stets die entferntesten Dinge produktiv zusammen bringt und hellsichtig Funken aus seinen Blickwechseln schlägt.

Diesmal beginnt die fruchtbringende Gedankenreise bei den akuten Verheerungen im Gazastreifen, wo vieles nicht einfach „nur“ zerstört wurde, sondern schier zu Sandkörnern zerriebene Wüstenei geworden ist. Vielfach erwogen wird in der Folge, ob dem allfälligen Krieg und der Gewalt Einhalt zu gebieten sei – ganz gleich, zu welchem Zeitpunkt und an welchem Ort des geschundenen Erdenrunds.

Damit wären die beiden Pole des Bandes „Sand und Zeit“ schon einmal benannt. Das zu Sand zermalmte Land kehrt später – gründlich verwandelt – im Kinder-Sandkasten und sodann in „Sandkasten-Spielen“ der Militärstrategen wieder. Auch werden einzelne Sandkörner physikalisch vermessen und mikroskopisch betrachtet. All das gipfelt in einem wesentlich aus Sand bestehenden Kunstwerk von Anselm Kiefer, das wiederum Ingeborg Bachmann seine Inspiration verdankt. Alles kann mit allem zusammenhängen, wenn man es denn recht zu betrachten weiß.

Auf der Suche nach Gegenkräften

Gewisse Gegenkräfte zur Kriegsgewalt, so scheint sich ahnungsvoll zu zeigen, dürften beispielsweise in dennoch abgetrotzten glücklichen Augenblicken liegen. Während der altgriechische Zeitgott Kronos alles fressen will (sogar die eigenen Kinder), verkörpert Kairos den geglückten Moment als kaum minder scharfes Gegengift. Eine vage, aber immer neu mit Zuversicht zu nährende Hoffnung kennzeichnet dieses Motto zu Beginn: „Die einzige Verlässlichkeit in zerrissener Zeit beruht auf der Beobachtung, dass auch die kriegerische Macht stolpert…“ Alle noch so imposanten Imperien der Geschichte, so ein zentraler Befund, stürzen irgendwann, nichts ist von ewiger Dauer. Ein Gedanke, bei dem einem – allem waltenden Elend zum Widerspruch – warm ums Herz werden könnte.

Kluge ruft kreuz und quer verschiedenste historische Szenarien auf – von der deutschen Nachkriegs-Trümmerzeit samt Wiederaufbau über altägyptische und altrömische Verhältnisse (Punische Kriege = Rom vs. Karthago), den jetzigen Ukraine-Krieg, die Kreuzzüge, den Krimkrieg (ab 1853), die Urkatastrophe des Ersten Weltkriegs und den (wenn überhaupt möglich) noch schlimmer wütenden Wahnsinn des Zweiten Weltkriegs, die Religionskriege, die in den Westfälischen Frieden von 1648 mündeten… Die Phänomenologie so vieler Waffengänge umfasst auch die seltene, vorbildliche Großzügigkeit generöser Sieger, die den Besiegten nach deren Kapitulation zunächst freies Geleit und fortan freie Entfaltung gewähren – beispielhaft erfasst in Velázquez‘ berühmtem Gemälde „Die Übergabe von Breda“.

Immer wieder neue Perspektiven

Geschildert und ausgiebig bildlich dargestellt (auch mit „virtuellen Kameras“, also KI-Hilfe) werden sowohl das große Ganze als auch gleichsam herangezoomte Nahansichten. Da gibt es erschütternde Bilder, die die brüllende Maschinerie des Krieges so vergegenwärtigen, wie es eben geht. Beim Lesen sollte man diese Illustrationen keinesfalls schnell überblättern, sie erheischen nachdrücklich Aufmerksamkeit. Derlei rasche und harsche Perspektivenwechsel, so Kluge im vorsichtig bilanzierenden Nachwort, können die Kontraste der Zeitläufte besser erfassen als reine Texte. Daher nennt er sein Buch im Untertitel „Bilderatlas“. Ein anregendes Vorbild ist ausdrücklich Aby Warburgs legendäre, größtenteils verschollene „Kriegskartothek“ zum Ersten Weltkrieg gewesen. Technisch auf der Höhe, bietet Kluges Buch übrigens auch (teilweise filmische) Ergänzungen an, die man mit Hilfe abgedruckter QR-Codes ansteuern kann.

Einen freien Erzählraum erzeugen

Alexander Kluge muss nicht nur über eine riesige Bibliothek und die Erfahrungen eines langen Lebens, sondern auch unendlich viele „Zettelkästen“ oder eben Datensammlungen verfügen, denen er immer wieder entlegene (und gleichzeitig prägnante) Beispiele entnimmt, so etwa, wenn es um die letzten Kriegstage rund um das Volkswagenwerk oder die zeitgleiche Kapitulation einer deutschen Munitionsfabrik geht.

Es ist Kluge um die Schaffung eines „freien Erzählraumes“ zu tun, um den Konjunktiv als Möglichkeitsraum. Erst im beherzten Sprung auf die andere Seite, in eine andere Zeit, sei es denkbar, die tendenziell verarmten Ausdrucksweisen unserer Tage zu überwinden. Bei Beschwörung des Überblicks kehrt Kluge verbal zu seiner Frühzeit zurück, indem er die hohe Zirkuskuppel als Bild aufruft. Wir erinnern uns an seinen Filmtitel „Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos“. Gegen alle Ratlosigkeit geht er im gesegnet hohen Alter immer noch und erst recht an – wie einst Elias Canetti unverdrossen gegen den Tod focht. Das darf und muss man heldenhaft nennen.

Alexander Kluge: „Sand und Zeit“. Bilderatlas. Suhrkamp, 168 Seiten, zahlreiche Abbildungen. 25 Euro.

 




Wenn die Dinge immer schlechter werden: „Die Verkrempelung der Welt“

Der Titel dieses silbrig glitzernden Buches aus der ehrwürdigen edition suhrkamp ist ein Coup. Hätte der Band „Kritik der überflüssigen Dinge“ oder ähnlich betulich geheißen, hätte wohl kaum ein Hahn danach gekräht. So aber nennt er sich „Die Verkrempelung der Welt“. Da horcht man auf, da will man Näheres wissen.

Nicht alle Befunde des Autors Gabriel Yoran (umtriebiger, mehrfacher Startup-Gründer mit eher „links“ anmutendem geistigen Rüstzeug) sind brandneu, aber schon der Einstieg ist hübsch: Er dreht sich um einstmals bewährte Dinge wie Herdknebel (früher übliche Bedienknöpfe) und konventionell sinnreiche Duschschläuche. Heute muss oft für einfachste Verrichtungen ein komplizierter Touchscreen mit allerlei irrwitzig verzweigten Optionen herhalten.

Erstes Zwischenfazit: Um noch mehr Gewinn zu generieren, nehmen Konzerne ihren jeweils neuesten Produkten gute und vernünftige Eigenschaften weg, um diese hernach als Premium-Features deutlich zu teurer zu verkaufen. Anders gesagt: Statt vormals guter oder wenigstens passabler Sachen erhalten wir vielfach „Krempel“; es sei denn, wir bezahlen enorme Aufpreise.

Die früher prägende „Fortschritts-Erzählung“ des Immer-besser-Werdens, so Yoran weiter, sei kurzatmig geworden, überhaupt sei der bis dahin im Westen recht unerschütterliche Fortschrittsglaube mit dem 11. September 2001 (für Jüngere: Terroranschlag aufs World Trade Center) kollabiert. In diesem Zeitklima falle es gar nicht mehr so sehr auf, wenn Produkte sich permanent verschlechtern. Sollten wir uns etwa an all den Krempel gewöhnt haben?

In der verqueren kapitalistischen „Logik“ liegen zudem immer kürzere Verfallszeiten der Produkte. Früher hielten bessere Waschmaschinen 30 Jahre lang, heute sind es allenfalls 10 Jahre. Dieser mäßige Wert reicht inzwischen schon als erfülltes Kriterium fürs Warentest-Urteil „Sehr gut“. Nachhaltiges Wirtschaften sähe wahrlich anders aus. Als Gegenbeispiel wird das legendäre DDR-Handrührgerät RG 28 aus Suhl aufgeführt, das über Jahrzehnte hinweg unverändert zuverlässig blieb. Tempi passati.

Das Buch scheint nun den anfangs gesponnenen Faden etwas zu verlieren, es gerät mehr und mehr zum Grundkurs in Warenkunde, ohne die wir Konsumenten ziemlich aufgeschmissen seien. Vom kostspieligen und in rechtsextremen Ruch geratenen Sonderweg von Manufactum ist die Rede. Ein solcher Satz lockt ein Grinsen hervor: „Die Manufactum-Katalogprosa wimmelt nur so vor letzten sorbischen Muhmen, die dank des Versandhändlers wieder Bierdeckel handfilzen.“ Inzwischen ist die Edel-Klitsche an Otto verkauft worden – und der Manufactum-Gründer hat Zeit genug, höchst zweifelhafte Bücher auf den Markt zu werfen.

Der geschichtliche Rückgriff führt bis zum Deutschen Werkbund, in dem auch Künstler eine „Moral der Dinge“ etablieren wollten, und zu den Ursprüngen des zunehmend autoritären Funktionalismus, der sich in Gestalt von Adolf Loos zum Lehrsatz verstieg, jedes Ornament sei ein Verbrechen. In der Gegenwart wird die krempelhafte, unnötig Aufmerksamkeit fressende Computer- und Online-Kommunikation gegeißelt.

Schließlich verbeißt sich der Autor geradezu in ein Thema, das ihm wohl speziell am Herzen liegt: die Entwicklung der Kaffee-Zubereitung im Spannungsfeld zwischen Vollautomaten und Siebträger-Maschinen. Auch aus persönlichen Gründen fand ich ein Kapitel interessant, das davon handelt, welche Dinge in anderen Ländern womöglich besser sind als bei uns. Ein Beispiel: Türen und Fenster in Dänemark, die sich nach außen hin öffnen. Warum haben wir nicht die Wahl?

Eine aufs große Ganze zielende Schlussfolgerung steht in den letzten Sätzen, die bedeutsam, ja beinahe gravitätisch ausschwingen, als hätte ein Adorno das Wort:

„Wir werden nicht herumkommen um die gemeinsame Suche nach dem guten Leben miteinander, nach den legitimen Bedürfnissen.

Noch die progressivste Warenkunde wäre nur der Schein der Laterne – der Schlüssel liegt anderswo. Es ist nur sehr unbequem, dort zu suchen“. 

Gabriel Yoran: „Die Verkrempelung der Welt. Zum Stand der Dinge (des Alltags)“. edition suhrkamp. 186 Seiten, 22 Euro.

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P. S.: Im werblichen Anhang des vorliegenden Bandes habe ich eine unverhoffte Wiederentdeckung gemacht. Dort wird eine Fortschreibung von Wolfgang Fritz Haugs „Kritik der Warenästhetik“ (1971) angepriesen, die wir zu Studentenzeiten in den 1970er Jahren zustimmend goutiert haben. Angefügt sind neue Erkenntnisse zur „Warenästhetik im High-Tech-Kapitalismus“. Das Buch erscheint für 19 Euro als Print on demand-Ausgabe. So ändern sich die Zeiten.




Hol dir, gönn dir!

 

Genau! Alles, und zwar jetzt. Sofort! (Foto: Bernd Berke)

Wie war das noch, vor soundsovielen Jahren, als im 68er-Umfeld der „Konsumterror“ lauthals angeprangert wurde?

Damals lösten gerade erst einige Supermärkte die bis dahin gängigen „Tante-Emma-Läden“ ab. Welche eine vergleichsweise beschauliche Verbraucherwelt das noch gewesen ist! Was hätte man bloß gesagt, hätte man kommen sehen, was wir heute haben – mit allseits in letzte Winkel und Ritzen dringendem Internet-Wahnwitz und obenauf gesetzter „Künstlicher Intelligenz“, die sich in alles hineinfrisst und sich alles einverleibt. Nun, da man gar nicht mehr weiß, wo einem der Kopf steht und wo es noch Restbestände von vermeintlicher Wirklichkeit gibt.

Allüberall wird man verbal, bildlich und medial verfolgt, gnadenlos, ohne Unterlass: „Hol dir“, „Gönn dir“, „Sichere dir“. Versäume nicht, zögere nicht, ergreife den Vorteil, sichere dir Premium, Premium Plus oder Pro. „Ergattere“ dies und jenes, schlage anderen ein Schnippchen, hol dir das Schnäppchen, den Schnapper. Exklusiv. Nur für Dich! Das große Gelingen. Eigentlich kein übles Wort, jedoch dem verbalen Missbrauch preisgegeben.

Immerzu ist Sale, Angebote und Preise sind mega, ja giga. Alles ist Hammer! Geiz ist geil, immer noch, obwohl dieser Spruch schon älter ist. Und ständig herrscht Beben. Mark(t)erschütternd. Schon morgen kann es zu spät sein, vielleicht hört die Gelegenheit schon gleich auf. Carpe diem! Yolo! Du lebst nur einmal. Hau rein. Deal!

Und wenn nicht? Dann Apokalypse. Dann Doomsday. Dann Untergang. Finale Finsternis. Und damit Tschüss, nech?!




„Panik wäre angebrachter“ – Essays und Reden von Daniel Kehlmann

Im Juli 2024 hält Daniel Kehlmann im Berliner Bundeskanzleramt bei einem Kultur-Festakt eine Rede, mit der er den Zuhörern gründlich die gute Laune verdirbt. Denn statt die Kunst zu rühmen und ihr in der Ära der digitalen Moderne eine glorreiche Zukunft zu prophezeien, hält er eine Totenmesse und warnt vor den Gefahren der Künstlichen Intelligenz, die nicht nur die kreativen Berufe, sondern die ganze Demokratie bedrohe.

Da kommt etwas „auf uns zu, für das wir keinen angemessenen Instinkt haben“, das „nicht wirklich unser Gemüt erfasst“. Wir müssten aber endlich begreifen, dass die KI mit ihren Datenbanken und Algorithmen uns nicht nur Arbeit abnimmt, sondern auch unser Bewusstsein beherrscht und unsere Bedürfnisse ausbeutet, politische Meinungen herstellen, Gesellschaften zerstören und einen neuen Kunstbegriff begründen kann: „Panik wäre angebrachter als die entspannte Ruhe, mit der wir dem Tsunami entgegenblicken, der sich bereits am Horizont abzeichnet.“

Enzyklopädisch gebildeter Intellektueller

Der 1975 in München geborene, in Wien aufgewachsene und inzwischen in Berlin und New York lebende Daniel Kehlmann gilt als bedeutende Stimme der zeitgenössischen Literatur. In seinen Romanen („Die Vermessung der Welt“, „Tyll“, „Lichtspiel“), verwebt er Fakten und Fiktionen, Realität und Fantasie zu einem literarischen Teppich und schwebt durch Zeit und Raum. Kehlmann gehört zur seltenen Spezies des enzyklopädisch gebildeten Intellektuellen, der das Wissen der Welt speichert, sich für politische und wirtschaftliche Entwicklungen genauso interessiert wie für literarische Debatten, für historische Fundstücke und die Abgründe der digitalen Kapitalismus. In einem Band mit Essays und Reden gibt er darüber Auskunft. Den Titel hat er sich bei Friedrich Schiller ausgeliehen, der seinen zu Tode erschöpften Feldherrn Wallenstein sagen lässt: „Sorgt, dass sie nicht zu zeitig mich erwecken“: Schreibt nicht zu bald über mich, lasst ein wenig Zeit vergehen, Abstand ist nötig, damit der erfinderische Autor sein Werk beginnen kann.

Die Wahrheit kennen und die Verblendung wählen

Die nötige Distanz und das richtige Maß finden will auch Kehlmann, wenn er Donald Trump als „Monster“ beschreibt, das mit einem Knopfruck den Atomkrieg auslösen und das Ende der Welt heraufbeschwören kann. Den Film „Happy End“ (Michael Haneke) sieht er als „prophetisches Werk über uns, die wir die Wahrheit kennen und die Verblendung wählen“, indem wir den Planeten mit unserer Misswirtschaft zugrunde richten, es uns aber noch „gut in unseren schönen Häusern“ gehen lassen und fröhlich feiern, „auch wenn die Ausgebeuteten bereits bei unserem Fest auftauchen“ und „der Meeresspiegel unterdessen immerzu steigt.“

„Menschen helfen, die Hilfe brauchen“

Über Salman Rushdie, der trotz aller Anfeindungen nie den Mut verliert und für seine irrlichternden Romane längst den Literaturnobelpreis verdient hätte, spricht Keilmann ebenfalls. Und über seinen Vater, der sich mit gefälschten Dokumenten vom Juden zum Halbjuden wandelte, dann aber doch von den Nazis verhaftet und in ein KZ gesperrt wurde, nur durch Zufall wieder frei kam und überlebte. „Niemals vergessen!“ bedeutet für ihn: „Menschen helfen, die Hilfe brauchen, auch wenn sie eine andere Religion haben, eine andere Kultur, andere Sprache, andere Hautfarbe, und zwar im Angedenken an die Vertriebenen und die Toten unseres eigenen Landes vor noch nicht langer Zeit.“

Daniel Kehlmann: „Sorgt, dass sie nicht zu zeitig mich erwecken.“ Essays und Reden. Rowohlt Verlag, 306 Seiten, 25 Euro.

 

 




Fürchterliche Kumpanei – der BVB-Deal mit der Waffenschmiede Rheinmetall

Jetzt Makulatur: meine BVB-Mitgliedskarte.

So! Es ist vollbracht. Heute habe ich meine Mitgliedschaft beim BVB 09 gekündigt. Dreimal darf geraten werden, welchen Grund ich dafür hatte. Oder auch nur einmal. Denn natürlich geht es um den nach (nicht nur) meiner Ansicht verwerflichen Sponsoren-Deal mit dem Rüstungskonzern Rheinmetall, der allzeit prächtig von internationalen Krisen und „Waffengängen“ profitiert.

Für die Düsseldorfer Firma mag es einen Image-Gewinn bedeuten, sich mit ein paar Milliönchen an Borussia Dortmund heranzuwanzen. Für den Verein (nun vollends unglaubwürdiges Motto: „Echte Liebe“) bedeutet es hingegen einen herben Image-Verlust. Zahlreiche Fans melden Protest an – und ich bin sicherlich nicht der einzige Anhänger, der die Konsequenz des Vereinsaustritts zieht. Ich habe auch gleich die Mitglieds-Plakette von meinem Auto abgezogen. Wenn schon, denn schon. Dem Verein, dem ich seit der Kindheit (also seit Gründerzeiten der Bundesliga) anhänge, bleibe ich dennoch treu. Freilich mit Schmerzen.

Wie peinlich wird es sein, wenn die Aufrüster fast überall mit ihrer BVB-Connection werben dürfen. Nur die Trikots sollen ausgespart bleiben. Na, toll. Es geht nicht darum, dass Rheinmetall derzeit auch und vor allem Waffen für die Ukraine herstellt, wo sie tatsächlich dringend benötigt werden. Es geht vielmehr um das allgemeine und sonstige Gebaren dieser Kriegsprofiteure, die fortan wahrscheinlich auch etliche VIP-Logen im Westfalenstadion fluten.

Wie hat man sich in Dortmund und anderswo aufgeregt, als der FC Bayern anrüchige Bande nach Katar knüpfte. Wie hat man die Schalker gescholten, die so lange an einer „Partnerschaft“ mit der russischen Gazprom festgehalten haben. Wie unbeliebt ist – zumal im Revier – RB Leipzig, weil der Club überhaupt erst vom Brausehersteller Red Bull gepäppelt wurde.

Und jetzt diese Dortmunder Kumpanei mit Rheinmetall, ausgerechnet im Vorfeld des Finales der Champions League lanciert. Es gibt so viele Marken, mit denen sich der börsennotierte BVB hätte schmücken oder wenigstens gut hätte arrangieren können. Warum musste es ausgerechnet die rheinische Waffenschmiede sein, die nicht einmal regionalen „Stallgeruch“ hat? Was ist in Hans-Joachim Watzke gefahren, dass er am Vorabend seines Abschieds noch eine solche Entscheidung getroffen hat?

Borussia Dortmund im Londoner Wembley-Stadion gegen Real Madrid. Mehr mythologische Aufgipfelung geht aus hiesiger Sicht kaum. So viele fiebern dem Endspiel am 1. Juni entgegen: Ob der Außenseiter BVB wohl die Sensation schaffen und den größten europäischen Titel erringen kann? Doch nun ist einem selbst dieses Hochamt des Fußballs vergällt.

Ich spare mir an dieser Stelle alle hochlustigen Anspielungen auf Abwehr, Verteidigung und Angriff in Krieg und Fußball. Das entsprechende Wortfeld ist mitsamt Bomben und Granaten schnell abgegrast. Ich gestatte mir aber gehörige Empörung oder – sprachlich noch passender – Entrüstung.




Chinesische Lyrik geht hier „viral“ – aber warum bloß?

Sollte dieses metallische Wesen etwa chinesische Lyrik lesen? (Foto eines regionalen Briefkastens: Bernd Berke)

Leute, dieses Kuriosum muss ich jetzt doch einmal vermelden: Wie aus dem Nichts hat ein länger zurückliegender Beitrag in den Revierpassagen fulminante Zugriffszahlen erzielt, er „geht viral“, wie quotengierige Menschlein so zu labern pflegen.

Wir sprechen von einem Text unseres im März 2023 verstorbenen Gastautors Heinrich Peuckmann, der sich für den 1. Januar 2018 mit chinesischer Lyrik befasst hat. Eher unauffällig, stand der Artikel seither im Hintergrund des Blog-Geschehens. In den letzten Tagen „schoss“ er jedoch urplötzlich an die Spitze aller hier jemals veröffentlichten Beiträge, verzeichnete auf einmal 6555 Aufrufe und verdrängte damit unversehens sämtliche anderen Texte auf die Plätze. Nur noch auf den Rängen landeten zuvor unangefochten an der Spitze stehende Schriftstücke über geprügelte Kinder (immerhin 2491 Zugriffe) und über den Pop- und Rock-Präsentator Alan Bangs (1480). Seltsam genug: Jetzt verharren die Zugriffe auf chinesische Lyrik seit Tagen just bei 6555, als wollte nun niemand mehr Interesse dafür aufbringen. Nanu?

Dass chinesische Poesie gleichsam über Nacht dermaßen viel Interesse wecken soll, kommt einem, kommt mir ohnehin verdächtig vor. Sollte es sich etwa um eine (vielleicht einigermaßen harmlose?) Cyber-Attacke handeln, womöglich mit der Absicht, einen Server zu überfordern und außer Kraft zu setzen? Sollte China etwa auch auf diesem Wege…? Und sollte ein solches Unterfangen jetzt bedrohlich oder auf verquere Weise „schmeichelhaft“ sein? Nicht, dass „man“ sich noch einbildet, ins Visier „der“ Chinesen geraten zu sein – und das als Kulturblog aus dem Ruhrgebiet. Hallo Staatsschutz, aufgepasst! Hihi!

Wie rief doch der einstige CDU-Bundeskanzler Kiesinger schon vor etlichen Jahrzehnten unkend aus: „Ich sage nur: China, China, China!“ Der gelegentlich aus Gründen geohrfeigte Mann hatte offenkundig Visionen und hätte daher (so ein anderer Ex-Kanzler, nämlich Helmut Schmidt) eventuell „zum Arzt gehen“ sollen.

Mag sein, dass es sich empfiehlt, nunmehr ein paar „Testballons“ aufsteigen zu lassen und weitere Äußerungen zur chinesischen Lyrik zu publizieren. Am Ende ergeben sich daraus noch Klickzahlen auf boulevardeskem Level. Ich sag’s Euch, demnächst grüßen wir noch als Influencer sondergleichen. Pardon: Ich meine natürlich Chinfluencer.




Die einen saufen so, die anderen so – zur wiederentdeckten Studie „Betrunkenes Betragen“

Wiederveröffentlichungen nach Jahrzehnten sind in der Belletristik nichts Ungewöhnliches, wohl aber im Sachbuchbereich. „Betrunkenes Betragen“ (Originaltitel „Drunken Comportment“) ist ein solch seltener Fall.

Die ethnologische Studie über den Umgang mit Alkohol bei den verschiedensten Völkern und Gruppierungen, verfasst von den kalifornischen Anthropologen Craig MacAndrew und Robert B. Edgerton, ist bereits 1969 erschienen. Der deutsche Schriftsteller und Psychiater Jakob Hein hat sie nun als wichtige Wiederentdeckung erneut herausgebracht und übersetzt. Vorworte zur alten und zur neuen Ausgabe markieren den historischen Abstand. Das Wort „Betragen“ mutet etwas antiquiert an und dürfte hierzulande vielen Leuten zuletzt auf Schulzeugnissen der 1960er Jahre begegnen sein. Es wird ganz bewusst abgegrenzt vom eher flüchtigen „Verhalten“ („behavior“).

Bis in die hintersten Winkel der Erde

Natürlich trägt ein 55 Jahre altes Buch Signaturen seiner Zeit und muss streckenweise auch „gegen den Strich“ gelesen werden. Das heißt aber keineswegs, dass die damals publizierten Erkenntnisse Makulatur sind. MacAndrew und Edgerton arbeiteten sich mit zahlreichen Beispielen aus aller Welt an der seinerzeit wie heute allgemein bedenkenlos geglaubten Hypothese ab, dass Alkohol eben immer und überall gleichermaßen enthemmend wirke. Die von ihnen emsig gesammelten und zitierten Aufzeichnungen von Ethnologen und sonstigen Beobachtern (bis in jene Zeiten praktisch ausschließlich Männer), die seit den Tagen der großen Entdeckungen in aller (entlegenen) Welt unterwegs waren, lassen freilich andere Schlüsse zu. Demnach gibt es äußerst vielfältige Formen der Trunkenheit, die letztlich auch unseren Umgang mit geistigen Getränken betreffen. Vielleicht hätten wir ja theoretisch mehr Wahlfreiheit, als uns bewusst ist?

Die wechselhaften Verhältnisse werden sozusagen bis in die hintersten Winkel der Erde ausgeleuchtet – von Süd- und Mittelamerika über afrikanische Regionen und Ostasien bis hin zu den indigenen Völkern auf dem Gebiet der heutigen USA. Tagelang ungemein ausschweifende Trinkfeste, so entnehmen wir einer Vielzahl von Augenzeugenberichten, hat es bei den allermeisten Gruppierungen gegeben – nicht erst seit dem fatalen Auftauchen europäischer Kolonisatoren, sondern schon zuvor: mit selbstgebrannten Substanzen von mancherlei Art und zuweilen höchstprozentiger Wirksamkeit.

Mörderische Orgien oder freundliches Beisammensein

Manche alkoholisierte Zusammenkunft artete wohl zu unvorstellbaren Orgien mit Mord und Totschlag aus, man liest hier Schilderungen von grauenhafter Bestialität, angesichts derer einem selbst das Oktoberfest, der Rosenmontag und dergleichen hiesige Besäufnisse wie überaus gemilderte Varianten erscheinen mögen. Oft wurde zunächst zugestochen oder gemeuchelt und erst dann eilends gezielt gesoffen, um eine vermeintliche triftige „Entschuldigung“ zu haben, die in etlichen Gesellschaften tatsächlich anerkannt wurde. Auch in der neueren Rechtsprechung haben sich Spuren davon erhalten. Doch das ist eine Entwicklung späterer Zeiten.

Vor allem dort jedoch, wo der Trunk von tradierten Ritualen eingefasst war, gab es (trotz vergleichbarer Unmengen alkoholischer Getränke) zumeist ein friedliches, freundliches und fröhliches Beisammensein, allenfalls mit Spott und Neckerei gewürzt. Etliche Völker aller Himmelsrichtungen verordneten sich seit jeher selbst „Auszeiten“, bei denen alle denkbaren (sexuellen) Norm-Übertretungen möglich, wenn nicht erwünscht waren. Selbst Kinder und Jugendliche waren wenigstens indirekt beteiligt. Männer wie Frauen duldeten es klaglos, wenn ihre Partner gleich neben ihnen anderweitig aktiv wurden oder „in die Büsche“ gingen, wie es hier mehrfach heißt. Einzig und allein das Inzest-Tabu hatte weiterhin Geltung. Hernach lebten sie wieder so kontrolliert, zivilisiert oder gar streng und freudlos „puritanisch“ wie zuvor; ganz so, als sei nichts geschehen.

Die Eroberer mit dem „Feuerwasser“

Sobald allerdings die (herrschaftlichen und kommerziellen) Interessen europäischer Eroberer sich Bahn brachen und Eingeborene mit „Feuerwasser“ traktiert wurden, lösten sich die wohltätig einhegenden und begrenzenden Bindungen auf. Nur mal nebenbei: Schiffsbesatzungen, die etwa im 18. Jahrhundert in Tahiti eintrafen, bekamen rund 4,5 Liter pro Tag und Mann an Bier, sie waren permanent beduselt. Gleichfalls bemerkenswert: Viele indigene Menschen wehrten sich anfangs vehement gegen den teuflischen Alkohol der Europäer, der für sie mit bösen Geistern zu tun hatte. Sie wurden aber nach und nach daran gewöhnt und gierten irgendwann danach.

Faszinierend die ungeheure Vielfalt der ursprünglichen Gesellschaftsentwürfe, die hier sichtbar wird. So wird etwa eine Ethnie geschildert, die ihre Babys vergöttert, die Kinder ab 5 Jahren aber total vernachlässigt. Andere wiederum sind nüchtern aggressiv und werden unter Alkoholeinfluss verträglich. Oder eben umgekehrt. Fast alles ist kulturell und situativ bedingt, stets zeigt sich, was die Menschen an Beispielen erlernt haben. Es geht eben nicht um Alkohol „an sich“, sondern um seine Wirkungen im gesellschaftlichen Kontext und Gefüge. Ethnologische Forschungen, auch das lernt man bei der Lektüre, sind eine aufregende Materie – bestimmt nicht nur, wenn sie sich um Suff und Sex drehen.

Craig MacAndrew / Robert B. Edgerton: „Betrunkenes Betragen. Eine ethnologische Weltreise“. Wiederentdeckt und übersetzt von Jakob Hein. Galiani Berlin. 296 Seiten. 24 Euro.

 




Eine Stadt, in Schwarzgelb gehüllt: Borussia Dortmund stand kurz vor der Meisterschaft – aber dann…

Die Kluft fürs Wochenende lag bereit. (Foto: Bernd Berke)

An einem einzigen Tor sind sie gescheitert… Bayern eins zu viel, der BVB eins zu wenig. Hallers verschossener Elfer, Adeyemis Verletzung. Ja, man könnte lange lamentieren. Doch was hilft’s? Borussia Dortmund hätte heute wirklich und wahrhaftig deutscher Fußballmeister werden können – erstmals wieder seit 2012, als es unter Jürgen Klopp sogar ein BVB-Double mit Pokalsieg gegeben hat. Hier die Zeilen, die vor dem entscheidenden Spiel gegen Mainz geschrieben wurden:

In der Stadt wird seit Tagen eigentlich über nichts anderes mehr geredet. Spätestens am Pfingstwochenende wird hier und im Umland so ziemlich alles in Schwarzgelb gehüllt sein, alle denkbaren Verrücktheiten im Zeichen dieser Farben inbegriffen. Nervosität und Vorfreude steigen von Stunde zu Stunde. Da wird sogar die gestern verkündete, überraschende (nur vorübergehende?) Rettung des Dortmunder Karstadt-Hauses zur lokalen Randnotiz, wenn auch zu einer erfreulichen.

Man muss nicht alles wieder herbeten, was dazu geführt hat, dass der Meistertitel in greifbar(st)e Nähe gerückt ist. Doch ein paar Faktoren sollten genannt werden: die immense Formsteigerung von Spielern wie Donyell Malen und Karim Adeyemi (welch eine pfeilschnelle „Flügelzange“!) oder auch dem immer stabileren Emre Can; die geradezu unglaubliche Wiederkehr des Sébastien Haller; der ungeahnte „zweite oder dritte Frühling“ von Mats Hummels; Gregor Kobel, der – wie man so schön sagt – immer mal wieder „die Unhaltbaren hält“. Na, und so weiter. Und natürlich hat Herzblut-Trainer Edin Terzic einen Riesenanteil an der ungemein erfolgreichen Rückrunde. Und nein: Es liegt keinesfalls nur an der Schwäche der Bayern, wenn es dem BVB gelingt. Es liegt auch und vor allem an eigenen Qualitäten. Jawoll!

Die tabellarische Ausgangslage ist bestens, doch kein Anlass zur Selbstzufriedenheit (was man der Mannschaft auch nicht nachsagen kann). Neben arg verfrühtem Siegestaumel bei etlichen Fans mehren sich nun auch die Unkenrufe aus allerlei Richtungen: „Vielleicht vergeigen sie es kurz vor der Ziellinie doch noch!“ Sollen wir uns nun ein nervenschonendes oder ein maximal spannendes Finale wünschen, das sich womöglich erst in der Nachspielzeit entscheidet? Mh. Dauerhafte Schnappatmung wäre der Gesundheit nicht unbedingt zuträglich. Und ob sie quer durch die Republik einen schönen Nervenkitzel haben, ist doch wohl zweitrangig, oder? Es soll bitteschön klar ausgehen.

Ich halte jedenfalls dafür, dass „zwischen Flensburg und Freiburg“ (um noch so ein Klischee zu bemühen) eine satte Mehrheit eher Dortmund den Titel gönnt als den Bayern. Natürlich bedeutet die Meisterschaft in dieser oft gebeutelten Stadt auch ungleich mehr als drunten im begünstigten Süden, wo sie es kaum noch anders kennen, als gelangweilt die Schale abzuräumen und wo sie schon zu Tausenden vorzeitig die Allianz-Arena (aka „Arroganz-Arena“) verlassen, wenn „dahoam“ vorentscheidend gegen Leipzig verloren wird.

So ähnlich hätte es wieder aussehen können: Impression vom Meister-Corso des BVB am 15. Mai 2011, hier mit (v. li.) Mario Götze, Lucas Barrios und Nuri Sahin. (Foto: Bernd Berke)

Wie es heißt, hat es vor dem entscheidenden Heimspiel gegen Mainz 05 weit über 300.000 Kartenanfragen gegeben. Zwar steht in Dortmund das größte deutsche Stadion, das immerhin knapp über 81.000 Zuschauer fasst, doch hört und liest man von exorbitanten Ticket- und Übernachtungspreisen, die die 1000-Euro-Marke überschreiten.

Für viel Ärger hat im Vorfeld dies gesorgt: Der Fußballsender Sky/Wow mag am Samstag partout keine großen Public Viewing-Ereignisse in Dortmund zulassen und es Kneipen mit Sky-Lizenz nicht einmal erlauben, ihre Bildschirme so zu drehen, dass sie von außen sichtbar sind. Wahrscheinlich ist es (ohne dass sie es zugeben dürften) auch der Stadt und der Polizei so ganz recht, weil dann nicht noch mehr riskante Events stattfinden. Der Sonntag mit einem möglichen Meister-Corso dürfte mit vorab geschätzten 200.000 bis 400.000 Fans zwischen Borsigplatz, Wallring und „Dortmunder U“ schon genug Probleme bereiten. Freilich: Gerade weil der Massenzulauf am Samstag vielleicht noch nicht richtig kanalisiert wird, sondern wahrscheinlich spontan entsteht, ist die Lage keineswegs ungefährlich. Kann und soll man sich beispielsweise mit Kindern in die City trauen?

Übrigens: Manche in Schwarzgelb frohlocken, dass heute Schalke absteigen kann. Andere sagen, sie würden jedenfalls das „Derby“ arg vermissen. Und wenn dann auch noch Bochum… Das wäre fürs Revier ja gar nicht auszudenken. Also bitte, Leute, gebt Euch einen Ruck: Daumendrücken hier wie dort. Und wenn’s nur wegen der Derbys ist.

 




Schlechtes Gewissen im Wohlstand – „Geld spielt keine Rolle“ von Anna Mayr

Nach ihrem bitteren Armutsbericht „Die Elenden“ (2020) legt Anna Mayr nun ein Buch über ihren und anderleuts (letztlich doch begrenzten) finanziellen Aufstieg vor: „Geld spielt keine Rolle“.

Der Titel ist natürlich nicht wörtlich zu nehmen. Im Gegenteil. Geld spielt immer und überall eine Rolle, so lautet der unumstößliche Befund. Über Geld redet „man“ nicht? Oh, doch! Hier schon. Jedes einzelne Kapitel ist mit einem konkreten Geldbetrag überschrieben: „600 Euro für einen Umzug“. – „200 Euro für Falafel“. – „225 Euro für eine Katzentherapeutin“ – „149 Euro für einen Elektrogrill“. Und so weiter, aus etlichen Lebensbereichen. Das Buch enthält somit (bestürzend) viele und genaue Proben des bundesdeutschen Alltags.

Als Frau, die in ärmlichen Verhältnissen am Ostrand des Ruhrgebiets aufgewachsen ist, „genießt“ Anna Mayr street credibility. Ihre Mitteilungen fußen zuerst auf schmerzlichen Erfahrungen, seither auch auf vielen Lektüren und Gesprächen. Inzwischen geht es ihr finanziell ungleich besser und sie macht sich oft ein schlechtes Gewissen daraus. Immer noch wundert sie sich darüber, welche Dinge sie sich leisten und erlauben kann, doch schwindet das Staunen allmählich. Sie hadert und ringt gleichsam mit sich selbst, ob sie sich diesen Sinneswandel verzeihen kann. Bloße Reflexion und Wohlmeinen reichen ja nicht aus. Irgendwann steht man mit seinem Geld „auf der falschen Seite“.

Nicht Leistung, sondern glückliche Umstände

Schon der rasante Einstieg („Eat The Rich“) enthält steile Behauptungen, die allerdings einiges für sich haben: Erfolgreiche berufliche Laufbahnen und höheres Einkommen hätten gar nichts mit Leistung, sondern allemal mit Glück (sprich: Herkunft, Erbschaften, Beziehungen) zu tun. Die grundsätzliche Ungerechtigkeit hat demnach weitreichende Folgen, auch für den Seelenhaushalt. Zitat: „Je mehr Geld man den Leuten gibt, desto unempathischer werden sie, desto unsozialer verhalten sie sich (…) Reich zu sein erhöht die Wahrscheinlichkeit, schäbig zu sein…“ Wie lautet doch das derzeit medial dauerverwendete Modesätzchen: „Da hat sie einen Punkt.“ Und nicht nur diesen einen. „Geld verdirbt den Charakter“ – haben ja auch schon unsere Großeltern gesagt, sofern sie keine prallen Portemonnaies hatten.

Die Autorin Anna Mayr. (Foto: © Anna Tiessen)

Je nach Betrachtungswinkel ist ein Besuch beim Bundespresseball in Berliner Edelhotel Adlon ein Tief- oder Höhepunkt des Buches. Da lassen sich eben mancherlei Studien zum Gebaren der Wohlhabenden betreiben. Der Autorin wurde dabei reichlich unbehaglich zumute, was sich durchaus nachfühlen lässt. Der uralte Satz, dass Reichtum nicht glücklich mache, findet sich – in entschieden abgewandelter Form – auch bei ihr: „Viele reiche Leute sind nicht besonders glücklich. Weil sie immer denken, dass es noch nicht genug ist.“ Wer sich und das Seine missgünstig vergleicht, kann sich leicht benachteiligt vorkommen. Jeff Bezos, Elon Musk, Bernard Arnault und Konsorten seien einmal weitgehend ausgenommen von solcher Selbstquälerei. Aber wer weiß, ob nicht sogar sie auf die Besitztümer von ihresgleichen schielen. Aber ich schweife ab.

Ganz bewusst ohne finale Moral

Zurück zu irdischen Verhältnissen. Gar viele Phänomene und Situationen kommen einem bekannt vor. Da geht es etwa um (vielfach unsinnigen) Konsum als Trost und „Leistungsnachweis“, um die Gemengelage zwischen dem Kauf eines Brautkleids und den Fallstricken von Eheverträgen, ums komplizierte Verhältnis zwischen Haupt- und Zuverdienern, um die feinen Unterschiede zwischen gesetzlich und privat Versicherten… Geld durchdringt eben alles und jedes. Mit mehr Geld nehmen so manche Sorgen und Leiden ab, da lebt es sich in aller Regel gesünder. Ohne genügend Geld wissen viele nicht aus noch ein und sterben folglich früher.

In einem Exkurs verteidigt Anna Mayr geradezu trotzig ihren vor Jahren neu entdeckten Hang zu vegetarischer und veganer Ernährung. Einst hat sie das Recht der weniger Begüterten auf Schnitzel verteidigt, heute hält sie das für einen gesundheitsschädlichen Fehler. Vorschriften will sie freilich niemandem machen. Aber zuraten möchte sie gern.

Sehr deutlich an die finanziellen Grenzen stößt die Autorin – mit den allermeisten anderen Menschen – beim tollkühnen Vorhaben, eine Immobilie in Berlin zu erwerben. Mit normalen Gehältern, selbst im relativen Komfortbereich, geht das einfach nicht mehr.

Und die Moral von der Geschicht‘? Gibt es nicht. Ganz bewusst und explizit verweigert Anna Mayr eine allgemein gültige Schlussfolgerung aus all ihren Beobachtungen. Mit unserem Verhältnis zum Geld müssen wir also selbst klarkommen. Doch sie hat dazu ein paar Fährten gelegt. Vertrackt genug: Wer sich dieses Buch kaufen kann, zählt schon mal nicht zu den ganz Bedürftigen. Auch kluge Denkanstöße sind käuflich.

Anna Mayr: „Geld spielt keine Rolle“. Hanser Berlin. 172 Seiten. 22 Euro.

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Nachbemerkung: Als einstiger Redakteur der Westfälischen Rundschau freue ich mich besonders über zwei Leute, die ihre journalistischen Anfänge in Lokalredaktionen dieser Zeitung hatten: Navid Kermani, heute hochgeachteter Publizist und u. a. Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels, hat seinen Weg in der WR-Lokalredaktion Siegen begonnen. Und just Anna Mayr, jetzt vielzitierte Politik-Redakteurin der „Zeit“, ist aus der WR-Redaktion in Unna hervorgegangen.

 




Wie ich dann doch kein Sargträger wurde

Hauptfriedhof Buer – Tritt ein! (Foto: Gerd Herholz)

Okay, ich will hier nicht das Lamento anstimmen vom Selbstausbeuter im Kulturjob, der als Ruheständler mit karger Rente zu kämpfen hat. Scheiß drauf, Schwamm drüber. Andererseits bleibt so einem wie mir nichts anderes, als beide Augen offen zu halten nach einem 520-Euro-Job, der auf Altersbezüge nicht angerechnet werden darf. Ansonsten hätte man vielleicht noch die Wahl, den Kopf in den Gasherd zu legen, solange einem das Gas noch nicht abgesperrt wurde.

Erfreulicherweise aber sprang sie mich tatsächlich an, diese Kleinanzeige aus den Stellenangeboten: „Sargträger (m/w/d) für Bestattungsunternehmen gesucht. Einsätze nach Absprache Mo.-Sa. vormittags. Minijob-Basis. Führerschein erforderlich.“

Hm…, gestorben wird immer, wie man zurzeit überall sehen muss. Vielleicht könnte ich das Unangenehme mit dem Nützlichen verbinden, Särge schultern und nebenbei auf Friedhöfen oder in Friedwäldern Milieustudien zur Trauerarbeit betreiben. Hatte nicht einst auch Jorge Luis Borges solchen Stoff zu seinen „Memoiren eines Sargträgers“ veredelt? Zumindest aber ein bisschen Wallraffen beim Urnengang sollte doch möglich sein.

Dich, Gott, loben wir

Dich, Gott, loben wir (Foto: G. Herholz)

Ich fasste mir also mein wehes Herz und wählte die angegebene Telefonnummer. Das sei ja schön, dass ich mich melde, sie hätten schon viele Ruheständler in Lohn und Brot, alle seien froh, mal ein paar Stunden rauszukommen, weg von häuslicher Enge und angetrauter Nervensäge, hahaha. Ob ich denn auch fit genug sei. Ja, sicher, gerade erst Übungsleiterschein für Breitensport gemacht. Super, dann solle ich mich umgehend unter tragfähig@bestattung bewerben.

Bewerben? Das hieße doch Arbeit, da hakte ich lieber nach. Und also sprach der Bestatter-Tycoon: Etwas über Mindestlohn würde gezahlt, 12,50 Euro, man solle möglichst Montag bis Freitag verfügbar sein, auf Abruf. Man könne mit anderthalb bezahlten Stunden pro Beerdigung rechnen, dabei sei der Trauerraum vorzubereiten, Blumenschmuck usw., dazu der Gang zum Grab, danach aufräumen. „Und alles in anderthalb Stunden?“, fragte ich. Klar, das ginge bei etwas Routine. Falls Beerdigungen außerhalb der Stadt anfielen, müsse man zu einem Sammelpunkt nach Schalke kommen, von wo aus man mit den Kollegen zum auswärtigen Friedhof fahre. Bezahlt würde ab der Abfahrt vom Bestattungsunternehmen.

Bei normaler Beisetzung komme man an einem Vormittag auf 18,75 Euro, außerhalb dann etwa auf 25 Euro. Überstunden würden gegebenenfalls angerechnet.
Und die Benzinkosten? Da könne man nach Vorlegen von Nachweisen mit Benzingutscheinen rechnen. „Aber die Berufskleidung stellen Sie?“ „Ne, müssen Sie in anderen Berufen ja auch selbst kaufen. Und einen schwarzen Anzug werden Sie von privaten Trauerfeiern her sicher noch haben!“ „Nein, habe ich nicht, ich gehe da immer in gedeckten Farben hin.“ „Tja, dann müssten Sie den wohl kaufen. Wir können jetzt nicht für alle Größen Anzüge vorrätig halten. Einen schwarzen Mantel bekommen Sie bei Bedarf aber von uns geliehen.“ Mist, genau davon habe ich tatsächlich selbst zwei.

Noch Plätze frei! (Foto: G. Herholz)

Fazit: Man (m/w/d) soll sich fünf Vormittage auf Standby schalten, um vielleicht an einigen Vormittagen zunächst 18,75 € brutto zu verdienen. Eigene Fahrtkosten vorstrecken und auf Erstattung hoffen. Schwarzen Anzug kaufen und ein paar Wochen auf Friedhöfen gratis Tote tragen, weil man dessen Kosten hereinzuholen hat. Mir schwante: So ein Job kann einen auch selbst sehr schnell unter die Erde bringen. Work fast, die hard.

P.S. Wochen später beklagte sich das Bestattungsgewerbe in einem großen regionalen WAZ-Artikel darüber, dass der Nachwuchs fehle, Sargträger nicht einmal ansatzweise so zahlreich nachwüchsen wie Menschen stürben. Und immer weniger Menschen seien bereit, als Sargträger zu arbeiten. Bestatter müssen also improvisieren, gründen Pools. Immerhin gebe es schon Versenkungsmaschinen, aber die seien bei Hinterbliebenen nicht so beliebt.

Einen Sargträger haben sie bei den Recherchen zu diesem Artikel allerdings nicht befragt. Was hätte der auch sagen können? „Hier verdienze zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel.“ Vielleicht sind deshalb so viele Träger so oft betrunken?




Zornige Suada – längst nicht nur gegen die Finanzbehörden: Elfriede Jelineks „Angabe der Person“

Seit Elfriede Jelinek den Literaturnobelpreis erhielt, hat sie sich aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Es schien, als sei sie in ihrem Werk verschwunden und sie lebe nur noch in ihren Texten. Umso überraschender, dass es Claudia Müller gelang, die scheue Autorin mit der Kamera zu begleiten und das filmische Porträt „Die Sprache von der Leine lassen“ zu realisieren. Kaum ist der Film in den Kinos, legt Elfriede Jelinek nach und veröffentlicht einen neuen Text: „Angabe der Person“. Der Verlag kündigt an, das Buch sei die „Lebensbilanz“ der Autorin. Stimmt das?

Tatsächlich benutzt Jelinek einmal das Wort „Bilanz“ und schreibt: „Ich ziehe Bilanz, obwohl es dafür zu früh ist.“ Sie meint aber damit nicht, dass sie ihr Leben bilanzieren will. Dann müsste sie vieles thematisieren, ihre schwierigen Beziehung zu den Eltern, ihre Nervenzusammenbrüche, ihre zeitweilige Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei Österreichs, ihre zornigen Dramen und wütenden Romane, die oft für Skandale sorgten.

Es geht Jelinek um etwas anderes: um den Staat, der willkürlich in das Leben einzelner eingreift, unkontrollierte Steuerbehörden, die sich aus unerfindlichen Gründen an einzelnen Personen festbeißen. Der Satz lautet denn auch vollständig: „Ich ziehe Bilanz, obwohl es dafür zu früh ist, ich zahle also das, was des Staates ist, ich zahle meine Steuern, das wird Ihnen jeder nachweisen können, der Ziffern voneinander unterscheiden kann.“

Es macht sie rasend, dass die Steuer-Behörden sie regelrecht verfolgen und zermürben. Die Autorin pendelt seit Jahrzehnten zwischen Deutschland und Österreich, sie hat zwei Wohnsitze, einen in München, wo ihr kürzlich verstorbener Ehemann lebte, und einen in Wien, wo sie sich zumeist aufhält und in ihre Schreib-Einsamkeit zurückzieht. Die Finanzbehörden unterstellen offenbar, sie habe ihre Einnahmen nicht ordentlich versteuert und eröffnen ein Ermittlungsverfahren gegen sie, beschlagnahmen private Unterlagen, sichten sämtliche Konten, machen eine Hausdurchsuchung bei ihr, schnüffeln sich durch intime E-Mails.

Sie fühlt sich gedemütigt und zur Verbrecherin abgestempelt, obwohl sie sich keiner Schuld bewusst ist und alle Schulden längst beglichen hat: „Schuld“ und „Schulden“, ihr Lebens-Thema. Es geht ihr nicht um ihre eigenen Geldsorgen oder Steuer-Probleme, sondern um die historische „Schuld“ einer von Nazis verseuchten Gesellschaft, um die „Schulden“ von Steuer-Sündern, die ihre Geschäfte in Steuer-Oasen verlagern, es geht um Sparmodelle, Betrugsskandale, Cum-Ex-Geschäfte. Das macht sie wütend, so wird aus ihrem Zorn über die gegen sie laufenden Ermittlungen ein Nachdenken über globale Kapitalströme und über einen Kapitalismus, der keine Moral kennt, sondern nur den Imperativ des Profits: Wie sehr, fragt sich Jelinek, profitieren bis heute Staaten von enteigneten jüdischen Vermögen? Wie viele Nazi-Größen wurden anstandslos entschädigt, während die Opfer von Terror und Enteignung bis heute vergeblich auf Wiedergutmachung warten?

Elfriede Jelinek hat noch nie so offen und einfühlsam über die Geschichte des jüdischen Teils ihrer Familie gesprochen: Jetzt schreibt sie zum ersten mal über eine in Auschwitz ermordete Tante, einen Onkel, der nach Dachau deportiert wurde und, kaum wieder freigelassen, Selbstmord beging. Sie spricht vom Vater, der im Nazi-Jargon als „Halbjude“ galt und der Vernichtung nur entging, weil er als Ingenieur für die Kriegsindustrie gebraucht wurde: „Hätte das deutsche Land, das damals einfach überall war, noch länger, tausend Jahre mindestens, sich breiter aufgestellt, als meine Eltern es aushalten konnten, dann gäbe es mich nicht. Hätte das Land länger, als es mußte, auf garantiert rassereinem Nachwuchs bestanden, gäbe es mich nicht, meine Rasse ist unrein, ich weiß, ich gehöre nirgends dazu.“

Pandemie, Flüchtlinge, Religion, Philosophie, Kunst, Heidegger, Nietzsche, Freud und Camus. Nichts wird geordnet. Der 190-seitige Text ist eine unaufhörliche Suada der Empörung, ein unablässiger Gedankenstrom. Er öffnet die Tür in surreal anmutende Wirklichkeiten. Vieles klingt grotesk und ist doch fürchterlich wahr, vermischt sich zu einer absurden Collage und einem vielstimmigen Chor. Oft weiß man nicht, wer spricht, die Autorin oder der Geist des toten Vaters, ein Cum-Ex-Betrüger oder ein Jungspund aus der Polit-Riege um Österreichs Ex-Kanzler Kurz. Man weiß nur: Es ist ein schwer lesbarer und schwer verdaulicher, aber ungemein wichtiger und unverzichtbarer Text.

Elfriede Jelinek: „Angabe der Person“. Rowohlt Verlag, 190 S., 24 Euro.

Nachspann:

Elfriede Jelinek, geboren 1946, aufgewachsen in Wien, hat für ihr Werk viele Auszeichnungen erhalten, u. a. 1998 den Georg-Büchner-Preis und 2004 den Literaturnobelpreis. Zu ihren bekanntesten Werken zählen die Romane „Die Klavierspielerin“ (1983), „Lust“ (1989) und „Gier“ (2000) sowie ihre Theatertexte „Raststätte“ (1994), „Ein Sportstück“ (1998) und „Ulrike Maria Stuart“ (2006). Ihr Ehemann, Gottfried Hüngsberg, der früher für R. W. Fassbinder Filmmusiken schrieb und seit Mitte der 1970er Jahre als Informatiker tätig war, verstarb vor wenigen Wochen. (FD)




Die „Hitlerwerdung“ Adolf Hitlers – Feridun Zaimoglus riskanter Roman „Bewältigung“

Als Romangestalt bleibt der Autor namenlos. Zunehmend scheint es so, als hätte eine fremde Macht von ihm Besitz ergriffen, so dass er gar kein Individuum mehr sein kann; als hätte er sich selbst verloren. Dahinter steht ein furchtbar monströses Projekt: Er hat sich vorgenommen, einen Roman zu schreiben, dessen Hauptperson Adolf Hitler ist. Genauer: Es geht um die frühen Jahre nach dem Ersten Weltkrieg, sozusagen um die „Hitlerwerdung“ Hitlers.

Besagter Autor hat Dutzende von Büchern durchgearbeitet, die das „Phänomen“ Hitler erschließen sollen. Er hat sich auf Recherche-Reise begeben – nach Bayreuth, wo Winifred Wagner den späteren „Führer“ angehimmelt hat; nach München, wo er einige Lieblingsorte Hitlers aufsucht; nach Dachau; zum Obersalzberg.

Mehr und mehr muss der Autor sich Hitler als glaubhafte Romanfigur anverwandeln, sonst hätte das Schreiben ja gar keinen Zweck. Hitler steckt in seinem Kopf, in seiner Psyche. Es sieht so aus, als käme der Schreibende aus dieser Zwangslage nicht mehr heraus. Lässt sich – bei aller schmerzlichen Anstrengung – überhaupt etwas wesentlich „Neues“ über Hitler herausfinden? Wie war das noch mit dem Diktum „Zu Hitler fällt mir nichts mehr ein“, das fälschlicherweise Karl Kraus zugeschrieben wird?

Feridun Zaimoglu, zwar 1964 in der Türkei geboren, aber seit seinem sechsten Lebensmonat in der Wahlheimat Kiel „ein deutsches Leben“ führend, wie er es selbst nennt, hat sich mit seinem Roman „Bewältigung“ ein denkbar belastendes Thema vorgenommen. Sein Buch enthält zahllose Passagen, in denen der fiktive Autor (und mit ihm Zaimoglu selbst) gedanklich und sprachlich beängstigend nahe an Hitler herangeführt wird. Wer immer sich in diesen Massenmörder dermaßen hineinversetzt, kann nicht einfach „normal“ weiterleben. Nicht nur nebenbei sei’s gesagt: Es gibt hierzulande gewiss nicht viele Autoren, die sprachmächtig genug sind, um solch ein Unterfangen zu beginnen. Da muss manches aus dem zeitgeschichtlichen Urschlamm hervorgeholt und gesagt werden, was eigentlich nicht sagbar ist. Zaimoglu und sein Autor taumeln auf schmalem Grat. Praktisch alle, die vom Hitler-Projekt erfahren, sind zutiefst befremdet.

Es stellt sich die Frage, ob solch ein Projekt auszuhalten ist. Eine irgendwie fassbare Romanfigur muss – so verbrecherisch sie sei – auch menschliche Eigenschaften haben, womöglich Traumata, die aus der biographischen Frühzeit herrühren. Um sie aufzuspüren, muss man sich tief ins Innere begeben. Daraus geht man nicht schadlos hervor, denn diese Figur ist ja recht eigentlich unfassbar. Je konsequenter man Hitlers Wesen nachzeichnen will, umso mehr ist es zum Verrücktwerden. Da hilft es auch nicht, sich in einen Opferstatus hineinzuversetzen, indem man sich eine KZ-Nummer in die Haut ritzt. Ist nicht jede „Bewältigung“ nur Beschönigung?

Seltsam genug, dass der Autor Hitler zumeist „den Österreicher“ oder „Menschenschwein“ nennt. Im Verlauf seiner Untersuchungen stößt dieser Schriftsteller auf mancherlei Vorlieben und Abneigungen Hitlers, er erwägt dessen Verhältnis zu Frauen, zu seiner Mutter und zu Hunden, geht zu den Quellen seiner rassistischen Raserei, untersucht sein verkorkstes Verhältnis zur Kunst. Gar manches klingt plausibel (sofern man es überhaupt so sagen kann) und trifft den schnarrenden Tonfall jener Zeiten, anderes streift beinahe zwangsläufig die läppische Kolportage. Was soll es besagen, dass Hitler als Achtjähriger angeblich einem Ziegenbock ins Maul gepisst hat? Dass er für gewöhnlich sieben Stück Zucker in seinen Tee rührte? Was für lachhafte Exzesse!

Aus vielen, vielen Notizen schält sich ein Kernsatz heraus, mit dem der Autor seinen Roman beginnen lassen will. Er bezieht sich auf eine Verwundung Hitlers durch britisches Gas in Ersten Weltkrieg. Damals in Flandern wäre Hitler fast dauerhaft erblindet, seither sei er von Gas besessen gewesen. Welch ein Ansatz, wenn man die späteren Vernichtungslager mitdenkt…

Hitler wird, aller Annäherung zum Trotz, nicht nur als Einzelmensch geschildert. Immer wieder geraten auch die willfährigen Helfer in den Blick, die ihn erst möglich gemacht haben. Doch auch darin geht die Geschichte nicht auf. Noch immer ist nicht bis ins Letzte ergründet, warum so viele Menschen Hitlers Wahn geradezu rauschhaft gefolgt sind.

Eine weitere Ebene zieht  Zaimoglu in den Roman ein, indem er seinen Autor Sprach- und Integrations-Unterricht für Geflüchtete aus dem arabischen Sprachraum erteilen lässt. Da stellt sich auf noch einmal ganz andere Weise die Frage nach dem Deutschsein an sich. Es zeigt sich, dass das Thema keineswegs „erledigt“ ist. Wohl jede Generation hat hierin eine Herkulesaufgabe. Das betrifft auch jene Menschen, die dauerhaft in dieses Land kommen. Sollte sich da ein Hoffnungsschimmer verbergen?

Feridun Zaimoglu: „Bewältigung“. Roman. Kiepenheuer & Witsch. 268 Seiten. 24 Euro.




Die Comedians sind los oder: Was doch noch für Netflix sprechen könnte

Der britische Comedian James Acaster bei einem Auftritt am 1. November 2018. (© Wikimedia Commons, by Raph_PH – Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/)

Was den Medienkonsum angeht, habe ich ein neues Hobby, nein, man muss schon sagen: eine neue Liebhaberei. Und ich habe sie da gefunden, wo ich sie eigentlich nicht vermutet hätte. Netflix setzt nämlich auch bei uns zunehmend auf englischsprachige Stand-up-Comedians, deren Auftritte im Original mit deutschen Untertiteln gestreamt werden. Ja, gewiss doch: Wenn manche dieser Leute so richtig loslegen, ist man schon mal dankbar für schriftliche Hilfestellung. Kann ja nicht jede(r) in Oxford oder Harvard studiert haben.

Zuerst habe ich mir Sketche des mächtig „inkorrekten“ Ricky Gervais zu Gemüte geführt. Sein Humor ist mir manchmal eine Spur zu rabiat und rücksichtslos. Auch röhrt und kichert er nicht wenig über seine eigenen Gags, aber Vorsicht: Sie haben mindestens doppelten Boden. Es gibt (zwischen Trans-Ideologie und behinderten Kindern) nichts, worüber er sich nicht belustigen würde – außer über Tierschutz, da kennt der vehemente Naturfreund und Veganer auf einmal keinen Spaß mehr.

Vor allem aber habe ich den wahrhaft grandiosen James Acaster für mich entdeckt. Der Mann ist ein Original sondergleichen, obwohl in der Erscheinung zunächst mal völlig „normal“ (was immer das heißen mag). Er gewinnt noch der kleinsten Nichtigkeit enorm viel Komik ab, ja, es ist phänomenal, wie er scheinbar abseitige thematische Nischen aufspürt. Zum Glucksen seine Etüden über Gratis-Bananen (und die perfiden Ausnahmen). Zum Gackern seine Version von Promi-Tratsch, die durch absurde Nicht-Promi-Gefilde im chilenischen Bergbau führt. Zum Brüllen seine Parodie auf das Gehabe von Streetgangs in London. Und welcher andere Spaßvogel beendet seine Performance schon mit einer solch finsteren Ansage ans wiehernde Publikum: „Death comes to us all.“ Der Tod kommt zu uns allen. Überhaupt scheint es, als ziehe Acaster seinen speziellen Humor nicht zuletzt aus deprimierenden Befunden, was ja eh ein fruchtbarer Nährboden ist. Nicht wenige Spaßmacher könnten es persönlich bezeugen.

Ein wenig Name-dropping, es ließen sich noch Dutzende andere aufzählen: Der Streamingdienst hat u. a. auch noch Taylor Tomlinson, Dave Chappelle*, Bill Burr, Tom Segura (alle USA, mit unterschiedlichen Akzenten), Jim Jefferies* (Australien) und Daniel Sloss (Schottland) im Angebot. Sie alle stehen auf meiner Liste für die nächsten Wochen und Monate, weitere werden wohl hinzukommen. Das ist ja schon mal eine Aufgabe, in deren Verlauf sich die eigene „Humorstruktur“ überprüfen lässt. (Subjektive Kurzbewertungen folgen nach und nach am Ende dieses Beitrags).

Übrigens sind sie alle – im Vergleich zu deutschsprachigen Comedians – in einem entscheidenden Punkt beneidenswert, können sie doch in ihrer Muttersprache schätzungsweise den halben Erdball nuancenreich unterhalten, von Kanada bis Neuseeland, von Irland bis Südafrika. Und überhaupt.

Bislang habe ich Netflix als Quelle des wenig ambitionierten Mainstream betrachtet und weitgehend gemieden. Achselzuckend habe ich zur Kenntnis genommen, dass sie nach dem pandemischen Streaming-Hype viele Abonnenten wieder verloren  haben und dass die Aktie in den Keller gerauscht ist. Dass sie entgegen früheren Bekundungen offenbar planen, auch Werbung zu schalten, macht einen gleichfalls nicht gerade geneigt.

Immerhin hat Netflix vor einiger Zeit auch in Deutschland die schier endlose Serie „The Office“ (Das Büro) gestartet, nach deren Fortgang man süchtig werden kann. Just Ricky Gervais, der auch schon mehrfach die „Golden Globes“ präsentierte, hat sich das englische Original der Büroserie ausgedacht, bevor die Chose in den Vereinigten Staaten zum weltweit ausstrahlenden Dauererfolg wurde. Sie wird besser und besser, je mehr Folgen man sieht, je vertrauter man mit den Figuren wird. Inzwischen halte ich „The Office“ für mindestens ebenso gut wie das daran angelehnte deutsche Pendant „Stromberg“, das sie auch im Repertoire haben. Mit solchen Schmankerln haben sie Leute bei Laune gehalten, die nicht so sehr aufs populäre Hollywood-Kino einsteigen. Nun also die Comedians. Schaun mer mal. Und zwar gepflegt.

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*James Acaster (siehe oben im Beitrag)

*Neal Brennan Schaut Euch einfach sein Programm 3Mics (3 Mikrophone) an, dann wisst Ihr Bescheid. Wie er zwischen luzidem Witz und tiefster Depression hin und her springt, das ist ziemlich unnachahmlich. Manchmal möchte man glauben, dass Depressionen geradewegs die Voraussetzung für Komik sind. Als Jüngster unter 10 Kindern aufgewachsen, hat Brennan unter einem furchtbaren Vater gelitten. Drogen und hammerharte Medikamente – Brennan hat praktisch alles hinter sich. Einer, dem man wirklich nichts mehr vormachen kann.

*Dave Chappelle benutzt das „N“-Wort so oft wie wohl kein anderer, und zwar ziemlich aggressiv – in der harten US-amerikanischen Slang-Form („N*gga“). Als schwarzer Komiker „darf“ er das natürlich auch, zumal er heftig für die Rechte derer eintritt, die heute nach woker Lesart „people of colo(u)r“ genannt werden sollen. Auch sonst lässt er an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. So bekundet er seinen Neid auf die LGBTQ-Community, weil die sich so gut organisierte habe. Chappelle findet: Wäre das den Schwarzen auf ähnliche Weise gelungen, so hätten sie hundert früher ihre Freiheit erlangen können… Auf Einfälle wie jenen, was Martin Luther King wohl mit einem „glory hole“ angefangen hätte, muss man ja auch erst einmal kommen. Hier zeigt sich erneut, dass heute ein gewisses Maß an Inkorrektheit dazugehört, wenn es wirklich komisch werden soll.

*Ari Eldjárn ist ein waschechter Isländer und zieht just daraus sein enorm komisches Potential, jongliert er doch zum Zwerchfellerweichen mit sämtlichen Klischees, die im restlichen Europa und auf anderen Kontinenten über die Geysir-Insel kursieren. Da er nicht nur das Englische, sondern auch dessen Dialekte und Spielarten (Schottisch, Australisch etc.) beherrscht, findet er inzwischen ein globales Publikum. Außerdem kann er z. B. Dänen und Finnen so parodieren, dass man sich schier am Boden wälzen möchte. Nur: Was macht er, wenn alle Gags zu Island und Skandinavien ausgeschöpft sind?

*Ricky Gervais (siehe oben im Beitrag)

*Jim Jefferies verwendet gefühlt jede zehnte Wendung in Verbindung mit f*ck, f*cking oder f*cked – ganz entschieden über den Zappen hinaus. Wenn beim unflätigen Dauergefluche wenigstens ordentliche Gags herauskämen… Wie hieß es früher so schön klar: Wir raten ab.

*Taylor Tomlinson, eine Frau mit außerordentlich flottem Mundwerk und lebendiger Mimik, spricht vor allem viel über Sex, und zwar ziemlich unverblümt und desillusioniert. Hat sie gerade mal niemanden für Bett, muss sie jemanden mühsam „in mich reinquatschen“. Dann fühle sie sich wie jemand, der den Leuten Flyer für einen Nightclub andrehen will, während die Typen nach einem etwaigen „Korb“ weiter zögen wie die Staubsaugervertreter: „Ah, da ist ja schon das nächste Haus…“ Kurzum: Die Frau vom Jahrgang 1993 gewinnt den Fährnissen auf dem Markt der Geschlechter einige Komik ab. Ihren Zwanzigern kann sie, wie sie im Programm „Quarter Life Crisis“ sagt, wenig abgewinnen. Mich erinnert sie ein wenig an Carolin Kebekus. Beide haben es drauf.

 

 




Am atomaren Abgrund: Buch über die Kubakrise 1962

Es waren wahrlich dramatische Tage – damals, im Oktober 1962. Wir („My Generation“) waren damals Grundschulkinder und haben kaum etwas von der Kubakrise mitbekommen. Die Medienwelt war noch längst nicht so unabweislich allgegenwärtig.

Man erschrickt noch 60 Jahre im Nachhinein zutiefst, wenn man sich das alles heute vergegenwärtigt; erst recht in Zeiten des europäischen Krieges in der Ukraine. Es ist, als wären wir wieder näher an „1962″ herangerückt.

Schon damals stand die Welt am atomaren Abgrund. Für die Vereinigten Staaten galt als Leitlinie noch nicht die später abgestufte „flexible response“, sondern das Prinzip der „massive retaliation“, also gleich der Griff ins ganze apokalyptische Arsenal.

Bloße Chronistenpflicht?

Rainer Pommerin (Jahrgang 1943), pensionierter Oberst und Geschichtsprofessor, schlägt nicht den großen Bogen einer etwaigen „Neudeutung“ der Kubakrise, sondern erzählt das Geschehen getreulich Punkt für Punkt und Tag für Tag nach, übrigens auch mit jenem Fokus auf Waffentechnik und Militärstrategie, wie er neuerdings wieder in den Vordergrund getreten ist. Der Autor berichtet, als sei’s seine reine Chronistenpflicht, so dass man sich gelegentlich fragt, welchen Standpunkt er eigentlich einnimmt. Pure Objektivität gibt es ja nun mal nicht, sie kann allenfalls ein Wunsch- und Näherungswert sein.

Die Kubakrise wird eingebettet in die Vorgeschichte – von der nahöstlichen Suezkrise sowie den Aufständen in Ungarn und Polen (alles 1956) über den „Sputnik-Schock“ am 4. Oktober 1957 (als die Sowjetunion einen weltraumtechnischen Vorsprung vor den USA erlangte) bis hin zum Berliner Mauerbau am 13. August 1961. Eine hochexplosive Gemengelage zwischen den Machtblöcken hatte sich aufgebaut und angestaut.

Als der Kalte Krieg alles prägte

Mit Fidel Castros kubanischer Revolution hatten die USA den von ihnen überaus gefürchteten Kommunismus seit 1959 sozusagen vor der Haustür. Hardliner argwöhnten, dass die Sowjets es via Kuba auf den gesamten amerikanischen Kontinent abgesehen hatten. Groß war das Entsetzen in Washington, als ein U-2-Aufklärungsflug am 14. Oktober 1962 ergab, dass die Russen insgeheim Abschussbasen und sonstige atomare Logistik auf Kuba installiert hatten – erstmals in Raketen-Reichweite zu US-Millionenstädten.

Bilder von damaligen Treffen der US-Präsidenten Dwight D. Eisenhower bzw. John F. Kennedy mit dem KPdSU-Chef Nikita Chruschtschow haben nahezu mythischen Status. Derlei persönliche Konfrontationen sind denn doch (in grotesk verzerrter Form) bis in manche Kinderzimmer vorgedrungen. Ich erinnere mich, wie wir Chruschtschows legendäre UNO-Wutrede (die mit seinem angeblich aufs Pult geschlagenen Schuh) mit Stoffbären nachgespielt haben. Kein Zufall, dass damals auch die James Bond-Filme aufkamen. Der Kalte Krieg prägten damals alles. Und jetzt? Das Vergangene ist offenbar nicht völlig vorbei. Es steht freilich unter anderen Vorzeichen.

Die „Falken“ hatten anderes im Sinn

Doch Überlegungen übergreifender Art stellt Reiner Pommerin überhaupt nicht an. Sein Buch liest sich so, als hätte es ebenso gut irgendwann in den letzten 20 oder 30 Jahren geschrieben worden sein können und als sollte es zum 60jährigen Gedenken nur noch einmal den Gang der Dinge rekapitulieren. Dennoch kann man daraus ein paar Erkenntnisse gewinnen – zum Beispiel die, dass beide Weltmächte (China war noch Nebendarsteller auf der globalen Bühne) sich gleichermaßen in die Krise verstrickt haben. Schließlich hatten die USA, bevor die Sowjetunion Atomwaffen nach Kuba brachte, bereits eine ähnliche Präsenz mit Jupiter-Raketen in der Türkei, die 1963 aufgrund einer Geheimvereinbarung zurückgezogen wurden.

Vielleicht hat es beim schließlich doch noch einigermaßen rationalen Umgang mit der Krise 1962 eine Rolle gespielt, dass Chruschtschow und Kennedy aus eigenem Erleben wussten, was Krieg bedeutete und sie sich offenbar vorstellen konnten, wie verheerend sich eine „nukleare Option“ auswirken würde – allen Drohgebärden zum Trotz. Sie reizten das Risiko bis zum Letzten aus, doch fanden sie gerade noch rechtzeitig einen Ausweg. Die „Falken“ beider Seiten hatten ganz anderes im Sinn. Vielleicht ließe sich heute etwas daraus lernen.

Ein verseuchter Neoprenanzug

Das Buch enthält einige geradezu bizarre Fakten, so etwa die US-Pläne, Fidel Castro und „Che“ Guevara aus dem Weg zu räumen. So sollte ein Unterhändler Castro als Geschenk einen Neoprenanzug (mit gefährlichem Hautpilz präpariert) und einen Schnorchel (mit Tuberkel-Bazillen) überreichen. Der Sendbote verweigerte jedoch die Mitnahme der „Gaben“, aus nachvollziehbaren Erwägungen.

Beinahe hätte es sich fatal und final ausgewirkt, dass im Verlauf der Kubakrise einmal  unterschiedliche Zeitzonen nicht berücksichtigt wurden. Zudem verzögerte sich der Austausch diplomatischer Noten durch umständliche Ver- und Entschlüsselung. Dabei war auf dem Höhepunkt der Krise doch allergrößte Eile geboten.

Kennedy durfte erst einmal ausschlafen

Kaum zu fassen auch, dass John F. Kennedy für die Mitteilung zum Berliner Mauerbau nur kurz einen Segeltörn unterbrach und dann sogleich wieder losschipperte. Von wegen „Ich bin ein Berliner“… Auch wurde ihm die Entdeckung der russischen Atombasen auf Kuba am 14. Oktober 1962 nicht sofort mitgeteilt. Die Krisengremien ließen ihn vielmehr erst einmal ausschlafen. Ergänzend hierzu erfährt man auch noch einmal, dass Kennedy keineswegs so viril war, wie er sich im siegreichen Wahlkampf gegen Nixon gegeben hatte. Der Mann war chronisch krank und benötigte ständig Schmerzmittel.

Nach dem Ende der Kubakrise wurden 1963 immerhin drei bedeutsame Schritte im Sinne einer besseren Beherrschbarkeit solcher Großkonflikte unternommen: Ab 6. Juli wurden endlich Geheimcodes für den Abschuss von Atomwaffen eingerichtet, die bis dahin bloß durch mechanische Schlösser „gesichert“ waren. Am 20. August wurde eine Fernschreiber-Verbindung zwischen Weißem Haus und Kreml als „heißer Draht“ installiert. Am 10. Oktober 1963 wurde ein Abkommen über das Verbot von Kernwaffenversuchen geschlossen.

Nachspann: Am 22. November 1963 wurde John F. Kennedy in Dallas erschossen. Am 14. Oktober 1964 wurde Nikita Chruschtschow entmachtet. Die Geschichte ging mit anderen Protagonisten weiter – und wurde auf Dauer nicht friedlicher.

Reiner Pommerin: „Die Kubakrise 1962″. Reclam, 160 Seiten. Paperback mit zahlreichen Schwarzweiß-Abbildungen. 14,95 Euro.

 




„Nichts ist, das ewig sei“: Bewegender Film über Detroit, Bochum und die Vergänglichkeit

Verblasster Schriftzug – Als die Buchstaben auf dem geschlossenen Bochumer Opel-Werk nur noch schemenhaft sichtbar waren… (Foto/Filmstill: © loekenfranke Filmproduktion)

Kaum zu glauben, aber offenkundig: Das anno 1643 in deutscher Sprache verfasste, barocke Vergänglichkeits-Gedicht „Es ist alles eitel“ von Andreas Gryphius scheint sich staunenswert genau zur desolaten Situation in der einstigen US-Autometropole Detroit zu fügen. „Seems like he got it“, sagt einer von denen, die vor der Kamera ein paar Worte aus der englischen Übersetzung vorgelesen haben. Ja, er hat’s im Grunde wohl schon damals verstanden, dieser Herr Gryphius, der solche gültigen Zeilen geschrieben hat:

„Was itzund prächtig blüht, soll bald zertreten werden.
Was itzt so pocht und trotzt, ist morgen Asch und Bein.
Nichts ist, das ewig sei, kein Erz, kein Marmorstein.
Itzt lacht das Glück uns an, bald donnern die Beschwerden.“

Es ist ein famoser Einstieg in den Film „We are all Detroit. Vom Bleiben und Verschwinden“, der an diesem Donnerstag (12. Mai) in ausgewählten Programmkinos der Republik startet (siehe den Nachspann dieses Beitrags). Die fast zweistündige Dokumentation stellt die überaus missliche Lage in Detroit neben jene in Bochum, wo bekanntlich das Opel-Werk dicht gemacht wurde. Inwieweit sind die Verhältnisse vergleichbar? Können Bochum und das Ruhrgebiet etwas aus den Zuständen in Detroit lernen – und wäre es möglich, dass umgekehrt Bochumer Impulse auf Detroit einwirken?

Filmplakat zu „We are all Detroit“ (© loekenfranke Filmproduktion)

Cadillac und andere Legenden

In Detroit wurden Legenden wie der Cadillac gebaut. Doch seit die großen, früher so stolzen und weltweit renommierten Fabriken von General Motors (GM) bis Packard geschlossen haben, ist es ein Jammer um die einst prosperierende Stadt und ihre Bewohner.

Das in Witten ansässige Regie-Duo Ulrike Franke / Michael Loeken, das schon mit dem Film „Göttliche Lage“ (zum sozialen Wandel durch den Dortmunder Phoenixsee auf einem vorherigen Stahlwerks-Areal) beeindruckte, hat diesmal beiderseits des Atlantiks recherchiert und bei den einfühlsamen Sondierungen starke Bilder eingefangen. Bemerkenswert zumal, welche Valeurs sie den verfallenden Fabrikhallen und dem tristen Ödland abgewinnen. Stellenweise scheint es, als wären die Bauten beseelte Wesen. Mit Wehmut sieht man die kilometerweit sich erstreckenden Industrie-Wüsteneien mitsamt der ringsum maroden Infrastruktur. Sarkasmus geht auch: Von „ruin porn“ (Ruinen-Porno) spricht ein Fremdenführer in den einsturzgefährdeten Fabrikhallen. Aas lockt die Geier an.

Krise? Doch nicht bei General Motors!

Ein ehemaliger GM-Ingenieur erzählt, dass der Konzern die Signale des Niedergangs nicht an sich herankommen ließ. Krise? Doch nicht bei General Motors! Wir scheitern doch nicht. „We’re too good to fail.“ Mussten die Konzerne und ihre Manager sich für all die Misswirtschaft verantworten? Nichts da! Das Kapital ist einfach weitergezogen, um andernorts aufzublühen und sodann abermals Verheerungen anzurichten.

Helden des Alltags und erste Hoffnungsschimmer

Hüben wie drüben hat das Filmteam Menschen befragt, die seit Jahrzehnten in den Autofabriken gearbeitet oder deren Mitarbeiter verköstigt bzw. sonstwie versorgt haben; Menschen, die nun seit geraumer Zeit unter dem Verfall der Urbanität leiden, aber auch solche, die (allmählich) neue Hoffnung schöpfen oder sogar ein gänzlich neues Leben begonnen haben. So haben sich einige Bewohner Detroits auf Gartenbau und Pflanzenzucht verlegt, um durch dieses „Zurück zur Natur“ auch persönlich zu reifen und ihren vergammelten Stadtteil wieder ein Stück lebenswerter zu machen. Der Verkauf von Obst und Gemüse sichert ein bescheidenes Einkommen. Da scheint so etwas wie konkrete Utopie auf. Überhaupt ist es geradezu heroisch, wie manche Leute dem Niedergang, wie sie der jahrelang vorherrschenden Gewalt- und Drogenkriminalität etwas entgegensetzen. Tatsächlich zeigen sich nun endlich erste Hoffnungsschimmer, es kehrt wieder Leben in manche Quartiere ein. Freilich sind es überwiegend andere Leute, die da kommen: „Hipster“, sagt einer etwas ratlos. Sei’s drum? Oder keimt da bereits die nächste Verlustgeschichte? Wait and see.

Den Geldströmen ihren Lauf lassen

An vielen Ecken und Enden der US-Millionenstadt hat sich seit langer Zeit kaum etwas getan. Hunderttausende haben die Gegend verlassen. Grundstücke haben für Spottpreise die Besitzer gewechselt, aber die meisten Investoren blieben untätig, so gut wie nichts ist vorangekommen. Da möchte man den Bochumer Weg loben, wo millionenschwere öffentliche Fördermittel in die Herrichtung des vormaligen Opel-Areals fließen und wahrhaftig erste Neubauten entstanden sind, so etwa ein gigantisches DHL-Paketzentrum. Auch eine Reisegruppe aus Detroit bewundert in Bochum derlei Fortschritte und ersehnt Ähnliches für daheim. Doch in den Staaten läuft die Chose anders, dort lässt man den Geldströmen noch weitaus ungehemmter freien Lauf. NRW fördert den Umbau in Bochum, Michigan kümmert sich hingegen nicht ums Schicksal von Detroit.

Eine grässliche „Blechbüchse“

Doch Vorsicht! Die bei Pressekonferenzen und Eröffnungen skizzenhaft eingefangene Selbstbeweihräucherung der politisch Verantwortlichen in Bochum (Projekt „Mark 51.7″) hat offenbar eine Kehrseite. Da gibt ein DHL-Sprecher auf Nachfrage zu, dass zwar zunächst 600 Arbeitsplätze entstehen, man aber auch schon darüber nachdenke, wie Roboter mehr Aufgaben übernehmen könnten. Außerdem vertritt jemand eine nachvollziehbare Gegenposition: Der Bochumer Architektur-Professor Wolfgang Krenz findet die knatschgelbe DHL-„Blechbüchse“ grässlich. So etwas Durchschnittliches stehe doch überall herum, während eine rund 500 Meter lange und weltweit nahezu einmalige Opel-Fabrikhalle unbedingt erhaltenswert gewesen wäre – als mächtiges Zeichen und ebenso ästhetisches wie lebensweltliches Statement fürs unbeugsame Selbstbewusstsein des Reviers.

Zur Erinnerung: Das 1962 fertiggestellte Bochumer Opel-Werk verhieß dem Ruhrgebiet in der Zechenkrise sichere Arbeitsplätze anderer Sorte. Den jetzigen neuerlichen „Strukturwandel“ sehen Anwohner und frühere Opel-Arbeiter mit sehr gemischten Gefühlen, Zuversicht und Skepsis halten sich die Waage. Jedenfalls kann das zögerliche Vorgehen in Detroit wohl keine ernsthafte Alternative sein.

Menschen, die sich „irgendwie“ durchbringen: der Inhaber des Baumarktes (rechts) und ein befreundeter Kunde, der gerade seine behinderte Tochter verloren hat… (© loekenfranke Filmproduktion)

Begegnungen mit einem „anderen Amerika“

Eine ausgesprochene Stärke des in den US-Passagen deutsch untertitelten Films ist es, die betroffenen Menschen freimütig für sich sprechen zulassen. Daraus entstehen einige bewegende „Erzählungen“, so etwa die Geschichte(n) eines liebenswert kernigen Typen, der seit Jahrzehnten im Detroiter Autobezirk eine Art Tante-Emma-Baumarkt (Schraubenhandel & Artverwandtes) betrieben hat und nun den Laden schließen muss, weil alle Welt nur noch online kauft. Diesem auf seine ganz eigene Art lebensweisen Mann könnte man sehr lange zuhören. Solche Begegnungen sind vielleicht gar geeignet, in unseren Köpfen ein etwas anderes „Amerika“-Bild entstehen zu lassen. Das gilt auch für die Imbisskellnerin, die sich – zeitweise parallel mit zwei Jobs – mühsam über Wasser hält (Hungerlohn: 3,20 Dollar pro Stunde ohne Trinkgeld) und an der Heroinsucht ihres Sohnes verzweifelt: „It is the door to hell.“ Da möchte man heulen.

Generell zeigt sich, welche Verheerungen das mangelhafte US-Sozialsystem angerichtet hat. Massenhaft campieren Obdachlose unter den Brücken, der Film zeigt dieses Elend aus diskreter Distanz. Der Himmel oder was auch immer bewahre uns vor dem weiteren Fortgang solcher Entwicklungen.

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Der Film läuft u. a. hier:

Bochum, endstation (Wallbaumweg 108): endstation-kino.de
Bochum, Casablanca (Kortumstraße 11, im „Bermuda-Dreieck“): casablanca-bochum.de
Dortmund, Sweet Sixteen im „Depot“ (Immermannstraße 29): sweetsixteen-kino.de
Essen, Filmstudio Glückauf (Rüttenscheider Str. 2): filmspiegel-essen.de
Münster: Cinema/Kurbelkiste (Warendorfer Str. 45-47): cinema-muenster.de

…und vielleicht auch in Eurer Stadt.




Ein Beitrag, der jetzt gestrichen werden muss

Seit den monströsen Kriegsverbrechen von Buschta (oder Buchta oder Butscha – sucht euch die Schreibweise aus, es ist zweitrangig) „gehen“ Texte wie der folgende, eilig gestrichene eigentlich nicht mehr, es verbietet sich jede auch noch so eingehegte Launigkeit. Da wir aber andererseits keine (Selbst)-Zensur ausüben wollen, bleiben die Ende März verfassten Zeilen noch notdürftig erkennbar.

Überhaupt vergeht einem schon seit einiger Zeit ganz gründlich die Lust auf kulturell oder feuilletonistisch angehauchte Betrachtungen. Obwohl gerade die Künste, sofern sie den Namen verdienen, ein dauerhaftes Gegengewicht sein und bleiben könnten… Ars longa, vita brevis.

Ceterum censeo: Jetzt endlich selbst das russische Gas abdrehen – und sei es „nur“ als starkes Zeichen ohne entscheidende Wirkung!

Was waren das noch für selige Zeiten, als „wir“ lediglich eine Nation von 40, 60 oder 80 Millionen Fußballtrainern gewesen sind. Gewiss, Länder- und Vereinsmannschaften stellen wir auch heute noch linkshändig auf, notfalls für Frankreich, England und Spanien gleich mit. Aber nur noch nebenbei. Wir haben jetzt Wichtigeres zu tun.

Inzwischen haben wir nämlich anderweitige Karrieren draufgesattelt. Zunächst bekanntlich als Top-Virologen, die sich ganz geläufig über komplizierteste Fachfragen ausgetauscht haben. Mit Corona und Konsorten kennt sich doch heute jeder Depp aus. Nun gut: Zuweilen ist da auch ein bisschen Besserwisserei im Spiel. Das bleibt halt nicht aus, wenn man viele Semester eines Fachstudiums und praktischer Forschung kurzerhand überspringt. Dann muss man eben beherzt behaupten.

Neuerdings haben sich viele, die das vorher nicht von sich selbst erwartet hätten, dem verschrieben, was hirnparalysierte Vorväter „Kriegskunst“ zu nennen beliebten. Zeitenwende eben. Oder richtiger: Zeitenbruch. Als Generalissimus von eigenen Gnaden widmet sich nun so mancher Mann überschlägigen ballistischen Berechnungen, intelligenter Nachschub-Logistik, effektiven Abwehrsystemen oder der schlagkräftigen Koordination verschiedenster Waffengattungen bis hin zu… Nein, wir wollen es nicht auch noch hier leichtfertig herbeireden. Frauen sind auf diesem Felde jedenfalls hoffnungslos in der Minderheit. ER wird es ihnen beizeiten zu erklären versuchen – wie einst das Abseits.

„Blamiert“ sich Russland militärisch – oder sollte man es nach wie vor „nicht unterschätzen“? Hockt Putin schon im Bunker? Dreht er uns den Gashahn zu? Gibt er sich mit dem Donbass zufrieden? Was machen die Chinesen? Derlei gravitätische Fragen werden Tag für Tag in mancherlei Medien erwogen. Im Gefolge solcher Gedankenspiele haben sich einige Leute außerdem flugs zu Flüchtlings-Kommissaren und Energie-Experten mit ungeahnt fossilen Präferenzen promoviert. Zwei bis drei Talkshows gucken – und schon kann man wieder mitpalavern. Wo liegt denn nur wieder die Generalstabskarte mit den vielen Pfeilsymbolen?

 




„Wehe, wenn der Russe kommt…“ – So haben wir damals gelacht und nicht gedacht

Sichtbares Bekenntnis beim Gang durch den Dortmunder Rombergpark, Ende Februar 2022. (Foto: Bernd Berke)

„Wann und wie mag denn wohl der Russe kommen?“ Wenn ich diese triefend ironische, hier noch einmal mitsamt Text verlinkte Überschrift vom 24. Juni 1982 über einem meiner Artikel wieder lese, läuft es mir heißkalt den Rücken herunter, so überaus falsch klingt sie jetzt.

Die Schlagzeile stand jedenfalls über einer TV-Vorschau auf einen Film des Dortmunders Michael Braun, der damals die Bundeswehr aufs Korn genommen hat. Flott und flockig, wie man wohl zu sagen pflegte. Wenn ich mich recht entsinne, hat die Süddeutsche Zeitung den Beitrag seinerzeit aus der Westfälischen Rundschau übernommen.

Ich war mit einer solchen Gesinnung beileibe nicht allein. Es war weithin Konsens. Dabei gab es doch noch die Sowjetunion, über die seinerzeit der Hardliner Leonid Breschnew (gestorben im November 1982) gebot, der am 25. Dezember 1979 seine Armee in Afghanistan hatte einmarschieren lassen. Doch das Böse, so haben viele – spätestens seit dem Vietnamkrieg – ganz selbstverständlich gemeint, hause vor allem oder gar ausschließlich in den Vereinigten Staaten und bei ihren Vasallen; erst recht, seit Ronald Reagan ab 1981 US-Präsident war und hitzig über den NATO-Doppelbeschluss diskutiert wurde.

Waren es nur Jugendsünden?

Rund vierzig Jahre ist das her. „Jugendsünden“ also? Ja, so haben wir damals und noch lange, lange Zeit danach uns lustig gemacht über die vermeintlich unsinnige Vorstellung, dass „der Russe“ kommen werde. Wir, die wir uns für links und fortschrittlich gehalten haben. Sehr viele sehr kluge Leute dabei und trotzdem gar nicht gut beraten, wenn man es von heute aus betrachtet. Aber hätten wir denn auf die Kommunistenfresser hören sollen? Auf einen CDU-Betonkopf wie Alfred Dregger etwa, an dessen von Buhrufen übertönten Dortmunder Marktauftritt aus den späten 70er Jahren ich mich noch erinnere, weil er immer „Kommenisten“ sagte. Wie haben wir uns beömmelt!

Das Gefasel vom „Ende der Geschichte“

Spätestens 1989 und die Folgen (das Gefasel vom „Ende der Geschichte“) haben uns vollends eingelullt. Wenn man nur hellhöriger gewesen wäre! Wenigstens in den letzten Jahren, wenigstens 2014, als Wladimir Putin kurzerhand die ukrainische Halbinsel Krim annektieren ließ. Doch aus schierer Gewohnheit, Denkfaulheit und Bequemlichkeit haben wir noch jede Lüge Putins geglaubt, haben sie glauben wollen. Nun überschreiten seine Truppen nicht nur widerrechtlich Staatsgrenzen, sondern er selbst lässt auch Grenzlinien des bisher Vorstellbaren hinter sich. Über 70 Jahre Frieden in weiten Teilen, ja fast (!) in ganz Europa haben uns in Sicherheit gewiegt. Nun droht uns einer mit Atomwaffen und lässt Atomkraftwerke attackieren. Auch wird wild spekuliert, ob seine Armee Polen, das Baltikum oder Berlin angreifen werde. Welch ein Wahnsinn! Seit der Kubakrise 1962 ist die Weltlage nicht mehr so brandgefährlich gewesen. Jetzt aber direkt vor unserer Haustür. Was freilich angesichts atomarer Bedrohung beinahe zweitrangig ist.

Ausläufer der alten „Denke“ waren noch bis vor ein, zwei Wochen virulent oder vielmehr: einschläfernd wirksam; bis zum ruchlosen Überfall der russischen Militär-Maschinerie auf die Ukraine am historischen 24. Februar 2022. Seitdem hat sich so furchtbar viel getan und geändert, hat sich manches, was oben zu liegen schien, zuunterst gekehrt. Nun beugen sich auch Pazifistinnen und Pazifisten besorgt über Europa-Karten, sprechen auf einmal geläufig von wehrhafter Demokratie und stellen strategische Erwägungen an, die bis vor Kurzem Generälen vorbehalten waren.

Wertschätzung für Wehrhaftigkeit

Die ziemlich marode Bundeswehr, wenn auch vielfach reformbedürftg (was derzeit eher organisatorisch als politisch verstanden wird), ja das Militärische im Westen überhaupt, erfährt eine vordem ungeahnte Wertschätzung. Wehrhaftigkeit ist das Wort der Stunde, vielleicht des Jahrzehnts. Wenn das mal nicht ins andere Extrem umschlägt! Wer hätte unter einer „Ampel“-Regierung erwartet, dass man in dieser „Zeitenwende“ (Olaf Scholz) so schnell derart viele Gewissheiten über Bord wirft?

Und wir dachten, wir wären dabei, in Sachen Corona-Pandemie (die bereits als größte Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg galt) schon das Schlimmste hinter uns zu lassen. Und jetzt? Redet kaum noch jemand vom Virus.




Gar nichts ist gewiss – die rätselhaften „Weltgeist“-Bilder des René Schoemakers

Selbstporträt des Künstlers als Bezwinger des rosaroten Panthers – René Schoemakers‘ Gemälde „Der böhse Paul“, Acryl auf Leinwand 180 x 120 cm, 2019/2020 (Bild: © René Schoemakers)

Da schau her: Dieses rosarote Stofftier ist doch Paulchen Panther! Und der Mann, der ihm mit einem (total verpixelten) Spielzeug-Schwert den Kopf abgeschlagen hat, ist offenkundig der Künstler und hat dieses stellenweise bluttriefende Bild gemalt. Sein gar nicht so triumphales Ganzkörper-Selbstbildnis changiert zwischen Grau und Pink. Was sollen wir davon halten?

Im Dortmunder Museum für Kunst und Kulturgeschichte bleibt man mit diesem und vielen anderen rätselhaften Bildern zunächst ohne Hilfestellung. Die Arbeiten haben Titel, die aber nicht vorgezeigt werden. Also wird man sogleich aufs genaue Hinschauen verwiesen. Aber das allein nützt nicht viel. Denn man muss zusätzlich parat haben, dass die rechtsradikale NSU-Mörderbande ausgerechnet die Panther-Figur in einem Bekennervideo verwendet hat. Doch selbst danach ist man nur bedingt schlauer, zumal auch noch ein Frauenakt zum Panther-Ensemble gehört. Etwas mehr Aufklärung halten Katalog und Internet-Auftritt bereit.

Irritationen und sinnliche Schauwerte

Der in Kleve geborene und in Kiel lebende Künstler René Schoemakers zieht in seine stupend fotorealistisch, geradezu altmeisterlich gemalten Bilder (2011 hat er den Cranach-Preis erhalten) gar viele Sinn-Ebenen ein, die sich auch stilistisch verzweigen. Irritierend sind die zahllosen Brüche und Widersprüche, die Ironisierungen, Verschiebungen und Verfremdungen, die Variationen und Überlagerungen. Hier ist nichts gewiss. Sobald man den Sinn eines Bildes halbwegs zu erhaschen glaubt, scheint der Künstler schon wieder ein paar Ecken und Hirnwindungen weiter zu sein. Es ist kompliziert. Doch die Ausstellung lockt auch mit sinnlichen Schauwerten.

Schoemakers hat nicht nur Kunst, sondern auch Philosophie studiert. Er denkt sich mancherlei Vertracktes aus. Doch wenn er vor der Leinwand steht, sagt er, sei er völlig spontan. Dann gehe es nur noch um die Wirkung des Bildes – und sonst um gar nichts mehr. Allerdings bereitet er jedes Werk penibel vor, oftmals mit dreidimensionalen Modellaufbauten als Vorlagen.

Der Schrecken kommt harmlos und clownesk daher

So kommt es beispielsweise, dass wir – als sei’s eine Dokumentation vom Tatort – die blutigen Spuren des rechtsradikalen Münchner Oktoberfest-Attentats von 1980 sehen, freilich wie mit Spielzeug bühnenhaft nachgestellt. Eine bestürzende Mischung aus vermeintlicher Harmlosigkeit, Nüchternheit und namenlosem Schrecken. Hier kann überall Gewaltsamkeit lauern, zuweilen auch seltsam verquickt mit Clownerie. Totenköpfe können hier aus Lego-Bausteinen bestehen oder als Papier-Faltungen herumliegen. Anspielungen auf Terrorismus werden auch schon mal mit dem Playboyhäschen-Logo unterlegt.

Rund 70 Arbeiten auf etwa 170 Leinwänden, nicht in Öl, sondern Schicht für Schicht mit schnell trocknender Acrylfarbe ausgeführt, sind in der Dortmunder Werkschau zu sehen. Die ungleichen Zahlen erklären sich daraus, dass Schoemakers eine Vorliebe für Triptychen hat, also für dreiteilige Bilder nach dem fernen Vorbild christlicher Altäre. An einem anderen Ende des Spektrums finden sich Schautafeln nach Art von Gebrauchsanweisungen oder Flugblättern, die freilich inhaltlich alles andere als simpel sind.

Gewagte Darstellung mit Bezug zum Massenmörder Anders Breivik: das Katalog-Cover mit René Schoemakers‘ Gemälde „Anders (Mummenschanz)“, Acryl auf Leinwand 160 x 120 cm, 2019. (Bild: © Foto René Schoemakers)

Christian Walda, stellvertretender Museumsdirektor und eigentlich Kurator der Ausstellung, sagt, Schoemakers habe ihm weitgehend die Aufbauarbeit abgenommen. Walda begibt sich auf die philosophischen Fährten, die der Künstler gelegt hat. Der setzt sich gedanklich und malerisch mit dem Idealismus und seinen Weiterungen (oder auch Verengungen) auseinander. Im Gefolge Hegels – die Schau trägt den hegelianisch inspirierten Titel „Weltgeist“ – seien  bloße Ideen vielfach übermächtig geworden und hätten sich gegen jegliche Realität durchgesetzt. Daraus seien die verschiedensten Ideologien mitsamt ihrem Gewaltpotential erwachsen.

Allmachts-Phantasien aus dem Idealismus

Die Allmachts-Phantasien, die sich darin verbergen, nehmen in der Historie und in Schoemakers‘ Bildern diverse Gestalt an. Hier gibt es einen Raum, in dem etwa Porträts von Martin Luther, des Islamisten Pierre Vogel und des US-Rechtsaußen Steve Bannon einander zugesellt werden – ergänzt um etliches Beiwerk. An anderer Stelle heißt es im Goebbels-Brüllton und in Frakturschrift: „Wollt ihr die totale Metapher?“ Mindestens ebenso abgründig ist solcher „Mummenschanz“: Eine Frau steckt in der Phantasie-Uniform, in der sich der rechtsextreme Massenmörder Anders Breivik gefallen hat. Dieselbe Frau posiert ebenso frontal mit Militärklamotten, Knarre und Theater-Schnurrbart – als „Karl-Heinz“ von der rechten „Wehrsportgruppe Hoffmann“.

Schoemakers scheint, allem Gedankenreichtum zum Trotz, kein Grübler zu sein. Für einen Mann vom Jahrgang 1972 hat er sich staunenswert jung erhalten, vielleicht just durch intellektuelle Wendigkeit. Seine Frau und fünf Kinder stehen ihm immer wieder Modell. Welch ein spezielles „Familienalbum“! Es hält seine ansonsten divergierenden Kunstwelten zusammen.

Seine Bilder lassen einen mit ihrer Überfülle möglicher Bezugspunkte nicht in Ruhe. Sie leisten Widerstand gegen Interpretation. Doch wer sie sieht, will ihnen zwangsläufig Sinn verleihen. Keine leichte, aber eine lohnende Übung.

René Schoemakers: „Weltgeist“. Museum für Kunst und Kulturgeschichte, Dortmund, Hansastraße 3. Noch bis zum 9. Januar 2022.

https://weltgeist-mkk.de

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Der Beitrag ist zuerst im „Westfalenspiegel“ erschienen:

www.westfalenspiegel.de




Durch Apps die Welt beherrschen – Dave Eggers konstruiert mit seinem Roman „Every“ eine digitale Dystopie

Sie heißen „TellTale“ und „TruVoice“, „OwnSelf“ und „HappyNow“, „Should I“ und „Friendy“: nur einige von unzähligen kostenlosen Apps, die demnächst jeder Mensch auf seinem Smartphone hat. Sie machen aus dem Leben ein Rundum-Sorglos-Paket. Helfen, die richtigen Entscheidungen zu treffen und uns ständig selbst zu optimieren.

Viel mehr noch: Sie beraten uns beim Einkauf, reduzieren das Überangebot und verbannen umweltschädliche Produkte. Sorgen dafür, dass unser CO2-Fußabdruck kleiner wird und wir durch bewussten Verzicht und Ressourcen schonendes Handeln das Klima retten. Verraten uns, ob wir glücklich sind und vermeintliche Freunde uns nur etwas vorflunkern. Sie hören mit und sprechen mit uns, sie wissen, was wir denken und fühlen und geben uns Ratschläge, welche Wörter diskriminierend und tunlichst zu vermeiden sind. Eine App („WereThey?“) kann ermitteln, ob unsere Eltern immer gut zu uns waren, eine andere („FictFix“) ist behilflich, unsympathische Figuren aus Romanen zu entfernen. Mit „EndDis“ können Archivare unangemessene Bilder und Texte für immer löschen.

So sieht sie aus, die schöne neue Welt, die da draußen wartet, nur ein paar Monate oder Jahre entfernt. Oder ist sie vielleicht schon da? Gibt es überhaupt noch ein „Draußen“? Wozu sollten die Menschen noch vor die Tür gehen, wenn ihnen alles ins Haus geliefert wird, wenn sie Urlaubsreisen nur noch per Video-Guide mit dem Smartphone machen, sie auf der Straße oder in der U-Bahn jeden Unbekannten mit einer App taxieren können, ob er ein Vergewaltiger oder Mörder ist?

Alle Konkurrenten geschluckt

„StayStil“ heißt eine zig-millionenfach benutzte App, die von „Every“ entwickelt wurde, dem digitalen Mega-Monopol: größte Suchmaschine, größter Social-Media-Anbieter, größter Software-Entwickler, größtes Onlineversandhaus der Welt. „Every“ hat alle Konkurrenten geschluckt und kauft jede Woche unzählige Start-Ups dazu. Google, Amazon, Facebook, Apple, Microsoft: alles Schnee von gestern. „Every“ kontrolliert die Gedanken und die Wünsche. Natürlich auch die Politik. Wer Kritik an „Every“ übt, digitale Regulierungsmaßnahme fordert und die Freiheit des Individuums anmahnt, wird über die sozialen Netzwerke sofort in die Hölle des Vergessens verbannt.

Gegen die gefährliche Machtfülle von „Every“ war die Zukunftsvision von „Circle“ nur ein ein harmloses Vorspiel: der sektenartige „Circle“ ist, so will es Autor Dave Eggers, von „Every“ einverleibt und ausgespuckt worden worden. Weil auch in der realen Welt alles noch viel schlimmer gekommen ist, als er es in seiner (allein im deutschsprachigen Raum über 600.000 Mal verkauften) „Circle“-Science-Fiction prophezeite, hat er jetzt seinen futuristischen Horror weitergedacht, das lockere Fäden-Logo von „Circle“ zum kompakten „Wollknäuel“ verdichtet, aus dessen Zentrum uns ein Auge anstarrt. Es registriert und bewertet alles. Wahrscheinlich auch die Lektüre des Romans.

Nur ein Abklatsch von Orwell und Huxley

Dass wir von Seite zu Seite genervter und gelangweilter sind, wird dem alles sehenden Wollknäuel nicht gefallen. Aber was sollen wir machen: Ein Ziegelstein-dicker Roman, der sich anschickt, Orwells analoge Alpträume ins digitale Zeitalter zu verlegen und uns vor dem endgültigen Sieg von Huxleys furchterregend schöner neuer Welt warnt, kann nur ein matter Abklatsch werden. Vor allem, weil Eggers keine Figuren aus Fleisch und Blut erfindet, die einen mitleiden lassen, keine Handlung, die einen emotionalen Schock entfacht oder einen intellektuellen Denkraum aufschließt, keine Sprache, die einen fasziniert und betört und zum Durchhalten animiert. Stattdessen nur Digital-Talk, endloses Gequassel über neue Apps und weitere Möglichkeiten, den Terror der Transparenz auf die Spitze zu treiben und den gläsernen Menschen zu kreieren, der sich in einer chaotischen, von der Klimakatastrophe Welt bedrohten Welt nach Ordnung und Sicherheit sehnt und bereit ist, seine Freiheit aufzugeben und an „Every“ abzutreten.

Doch wer ist „Every“, was will der neue digitale Welt-Herrscher? Wie könnte man seine Macht brechen und das Monstrum zerstören? Delaney Wells, ehemalige Försterin und unerschütterliche Technikfeindin, will das herausfinden, den Konzern unterwandern und vernichten. Sie schleust sich ins System ein, wird Mitarbeiterin bei „Every“, dessen Zentrale auf einer Insel in der Bucht von San Francisco liegt. Sie füttert die Firma mit Ideen, regt neue Apps an, von denen sie hofft, sie würden die User zum Widerstand anregen. Doch das Gegenteil ist der Fall. Den Menschen gefällt es, von „Every“ in jeder Lebenslage beraten und bespielt, beschützt und beglückt zu werden: „Geheimnisse sind Lügen“ lautet eine der „Every“-Parolen. Weg also mit allen Geheimnissen, Unsicherheiten und Unwägbarkeiten.

Bevölkert von seelenlosen Mutanten

Glauben Delaney und ihr verträumter Computer-Freund, der zottelige Späthippie Wes Kavakian, wirklich, „Every“ von innen heraus zerstören zu können? Dass es bei „Every“ eine „Widerstandsgruppe“ geben könnte, die nicht schon längst erkannt und infiltriert wurde? Wo Apps herrschen, brauchen keine Bücher und Menschen bei einer Temperatur von Fahrenheit 451 verbrannt werden. Aber natürlich platzen in diesem literarisch völlig substanzlosen Roman alle Träume von einer besseren Welt und enden in der digitalen Dystopie.

Hätte der vom technischen Firlefanz zugleich faszinierte wie erschrockene Autor nicht über unzählige Seiten Dutzende Apps erfunden und beschrieben, wäre ihm vielleicht ein spannender, aufrüttelnder Roman gelungen, bevölkert nicht von digitalen Mutanten, sondern von richtigen Menschen. Keiner, sagt einmal ein „Everyone“, die für das Kürzen und Aktualisieren von Literatur zuständig sind, will einen Roman lesen, der länger ist als 577 Seiten. Hätte fast gepasst. Mit Dank, Inhalt, Hinweis zum Autor und auf den von ihm gegründeten Verlag McSweeey´s sind es denn doch leider ein paar Seiten mehr geworden.

Dave Eggers: „Every“. Roman. Aus dem Englischen von Klaus Zimmermann und Ulrike Wasel. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2021, 583 S., 25 Euro.

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Dave Eggers und seine Vetriebskanäle

Die Bücher von Dave Eggers, geboren 1970, werden viel und kontrovers diskutiert. Sein Roman „Der Circle“ war weltweit ein Bestseller. Der Roman „Hologramm für den König“ war für den National Book Award nominiert, für „Zeitoun“ wurde ihm der American Book Award verliehen. Die Originalausgabe von „Every“ erscheint in den USA nur in dem von Eggers gegründeten unabhängigen Verlag „McSweeney´s“. Bei Amazon und anderen Handelsketten ist er zunächst nicht verfügbar. Taschenbuch, E-Book und Hörbuch erscheinen einige Wochen später im amerikanischen Verlag Vintage und werden dann auf allen Kanälen verkauft. Da die britische Ausgabe schon jetzt im deutschsprachigen Raum verfügbar ist, kann auch Kiepenheuer & Witsch den Roman vertreiben. (FD)

 




Geschichtlicher Spuk – Maxim Billers Roman „Der falsche Gruß“

Junger Mann namens Erck Dessauer drängt als kommender Autor zum führenden Edelverlag, doch der dort längst etablierte, allseits hofierte Großschriftsteller und jüdische Intellektuelle Hans Ulrich Barsilay scheint ihn daran hindern zu wollen. Nanu?

Gleich zu Beginn begibt sich dieser Skandal, als wär’s eine Phantasmagorie: In einer irrsinnigen Aufwallung zeigt Dessauer diesem Barsilay und dessen eingeschworener Entourage so etwas wie einen zittrigen Hitlergruß. Ein hochnotpeinlicher Moment im Berliner Lokal „Trois Minutes“. Ganz gleich, ob Dessauer damit die vermeintlichen Machtspiele des anderen provokant kenntlich machen wollte: Die gänzlich verunglückte Geste dürfte doch wohl das Ende all seiner Ambitionen bedeuten. Mit seinem publizistischen Einfluss wird Barsilay ihn nun gewiss gesellschaftlich vernichten, oder? Wir werden nun Zeugen einer unkontrolliert anschwellenden Furcht.

In der Villa des Hitler-Vertrauten

In seinem neuen Roman „Der falsche Gruß“ vollführt Maxim Biller mancherlei Zeitsprünge und verquickt manches mit manchem. Einen Altnazi-Großvater. Die Auflösung der DDR. Flüchtlings-„Schicksale“ daselbst. Jüdische Identität im heutigen Deutschland. Intrigen im Literaturbetrieb und im Verlagswesen. Herausgehobene Protagonistin ist die Verlegerin, die sich in einer ehemaligen Villa des Hitler-Vertrauten Martin Bormann hochherrschaftlich eingerichtet hat. Zudem geht’s um Berliner Befindlichkeiten als Brennglas komplizierter deutscher Zustände. Oder ist das alles ein zirzensischer Bühnenzauber mit parodistischem Einschlag? Nun, eher ist es vielfältiger historischer Spuk, der keine Ruhe geben will.

Wer die Arbeitslager perfektioniert hat

Sein Antipode Barsilay, so will es dem stets vorauseilend beleidigten Dessauer jedenfalls scheinen, ist zu allem Überfluss wohl drauf und dran, ihm das Thema wegzuschnappen. Dessauer schickt sich an, ein Buch über Naftali Frenkel zu schreiben, jenen erzkriminellen Abenteurer aus jüdischer Familie, der eines Tages Stalins Aufmerksamkeit auf sich zog, weil er teuflische Vorschläge zur „Rationalisierung“ und Perfektionierung der sowjetischen Arbeitslager gemacht und später selbst umgesetzt hat: Nahrung nur noch für einstweilen nützliche Kräfte, die anderen kann man ja mit winzigen Rationen Hungers sterben lassen. Im Raum schwebt somit die heikle Frage, ob ausgerechnet Frenkel – vor allen Nazis – als „Erfinder“ der Konzentrationslager gelten kann, so dass Ernst Noltes höchst umstrittene These vom NS-Staat als Reaktion auf den Stalinismus neue Nahrung bekäme. Gefährlich vermintes Debatten-Gelände. Aber Hauptsache, Dessauers Buch kommt heraus…

Was sind das nur für Ränkespiele?

Irgendwann hat sich ja auch der Knoten gelöst – und es schwinden die seit dem „falschen Gruß“ virulenten Angstattacken Dessauers. Warum? In Barsilays überall hochgelobtem Buch „Meine Leute“, dem auch er nicht seine Bewunderung versagen konnte, hat Erck Dessauer eine Passage entdeckt, in der jener seine schockhafte Erschütterung beim Besuch der Auschwitz-Gedenkstätte schildert, ja geradezu als entscheidende Lebenswende zelebriert. Dessauer findet heraus, dass es sich bei den näheren Umständen um Erfindung handeln muss, ja, dass Barsilay nicht einmal in Polen gewesen ist. Also hat er jetzt etwas Gewichtiges gegen seinen Widersacher in der Hand, das die Sache mit dem Hitlergruß womöglich aufwiegt. Auschwitz und der deutsche „Kult“ um den Holocaust, so sein zwiespältiger Befund, verzeihen keine Lügen. Aber wer lügt und belügt sich hier eigentlich am meisten? Und überhaupt: Was sind das für irrwitzige Ränkespiele, wo es doch inhaltlich um die schlimmsten Verbrechen der Geschichte geht?

Womöglich auch noch ein Schlüsselroman

Und sonst? Haben wir auch hier einen Hauch vom Ewigweiblichen, das hinan und hinab ziehen kann. Im Tross des Hans Ulrich Barsilay (solch ein Name aber auch!) bewegt sich zeitweise die aufreizende Russin Valeria, die selbst der sonst erotisch nur schwer ansprechbare Dessauer (vergebens) zu begehren scheint. Mittlerweile hat Barsilay in einem Buch mit dem Titel „Lustlos“ Valeria sexuell bloßgestellt, worum sich Gerichtsverfahren ranken – ein juristisches Feld, auf dem auch Maxim Biller mit „Esra“ so seine Erfahrungen gesammelt hat. Doch auch das bleibt Episode, wie so vieles in diesem Roman-Konstrukt, in dem schon mal solche Sätze ‚rausgehauen werden: „Freundschaften, das fand ich schon lange, waren nur etwas für Frauen und Verlierer.“ Klingt halt obercool.

Ist „Der falsche Gruß“ am Ende etwa auch noch ein Schlüsselroman über eine real existierende Welt des Scheins, über gewisse intellektuelle Kreise und Figuren der deutschen Hauptstadt? Mag sein. Aber vielleicht sollten kundige Herrschaften in Berlin das Rätsel unter sich ausmachen. Es ist ja gar nicht so furchtbar spannend. Und wer weiß, ob Biller nicht auch hiermit sein Verwirrspiel treibt.

Ganz ehrlich: Ich habe mich eher missmutig durch die bisweilen raffiniert verknüpften, streckenweise aber auch wirr verschlungenen Handlungsmuster des doch eigentlich recht kurzen Romans gequält. Vielleicht finde ich einfach keinen Zugang zu Billers Schreibweise, die mir – bei all seiner funkelnden Intelligenz und polemischen Potenz – zumindest unterschwellig arrogant und anmaßend vorkommt. Tja. Das wäre dann im Grunde m e i n Problem, nicht wahr?

Maxim Biller: „Der falsche Gruß“. Roman. Kiepenheuer & Witsch. 128 Seiten, 20 Euro.




In 10 Minuten geliefert – Wozu die Hetze?

10 Minuten Lieferzeit? Da muss selbst die Kartoffel grinsen. (Foto: Bernd Berke)

Ich hab’s nicht ausprobiert und möchte das sowieso nicht. Seit relativ kurzer Zeit sind auch in Revier-Breiten diese wahnwitzigen Lieferdienste unterwegs, die versprechen, einen online vorbestellten Supermarkt-Einkauf bereits binnen 10 oder 15 Minuten zu bringen. Warum? Wozu? Weshalb?

So rasen sie denn durch Bochum, Dortmund oder Essen – Gorillas, Flink und Konsorten. Wer noch einen Dienst gründen möchte: „fix“, „flugs“ oder „schnurstracks“ heißt wohl noch keiner, oder?

Dermaßen riskant sind manche dieser Radfahrer unterwegs, dass man das Fürchten lernen kann. Zumal in Gemengelagen mit den allgegenwärtigen E-Rollern bringen sie sich und andere in Gefahr – und alles nur, damit ein paar Hanseln (oder Greteln) in Windeseile ihr Zeug bekommen, ohne dass die ihren werten A… aus dem Haus bewegen müssen. Manche mögen sich dabei auch noch hip und urban vorkommen oder als Umwelthelden fühlen: Sie lassen ja ihr Auto stehen und ein Fahrrad herbeieilen…

Auf die Sekunde getaktet

Inzwischen gibt es eine Menge Reportagen und Selbsterlebensberichte zum Thema. Nicht wenige haben sich als Kuriere verdingt, um „hautnah“ davon erzählen zu können. Auch das tue ich mir (und der geneigten Leserschaft) nicht an. Man kann den Artikeln entnehmen, dass die Abläufe ungemein eng, ja quasi sekundengenau getaktet sind. Unschwer auszumalen, wie sehr die Zeit den Kurieren im Nacken sitzt. Ihre Wege kreuzen sich beispielsweise mit denen der Amazon-, DHL- oder Hermes-Fahrer, die drauf und dran sind, immer mehr „Same Day“-Aufträge abzuwickeln, oder jener Getränkedienste, deren zweistündige Lieferzeit vergleichsweise „gemütlich“ klingt (es aber nicht ist). Jetzt sind also 10 oder 15 Minuten das neue Maß. Was kommt noch? Echtzeit?

Etliche Lagerräume mussten gemietet werden, damit die Supermarkt-Dienste jeweils nah bei der Innenstadt-Kundschaft sind. Abfolge und Aufbau der Warenregale sind offenbar dermaßen ausgeklügelt, dass jeder Zugriff ohne Verzögerung erfolgen kann. Zack! Und schon geht’s ab auf die Strecke. Doch wehe, es läuft dabei etwas schief. Dann gerät die ganze Lieferkette ins Trudeln. Ob das ohne Gebrüll und Chefgehabe abgeht? Ob es Kunden gibt, die sich schon nach 12 oder 13 Minuten beschweren, wenn 10 Minuten angesagt sind? Und ob bereits Mitarbeiter den Aufstand geprobt haben? Man kann dies und das nachlesen.

Erwartungen züchten

Was sind das wohl für Kunden? Es mag ja sein, dass man in ganz gewissen, sehr eng umrissenen Situationen mal einen solchen Service gebrauchen kann; im Herbst vielleicht auch wieder aus Quarantäne-Gründen, wer weiß. In aller Regel aber ist die Hetze herzlich unnötig. Das bloße Angebot züchtet überdies ungute Erwartungshaltungen heran. Gar nicht auszuschließen, dass es auch üble Zeitgenoss*innen gibt, die einfach ihr Selbstgefühl steigern oder sogar mal wieder einen Migranten springen lassen wollen. Motto: „Warum? Weil ich es kann!“ Wie ich solche Leute nennen möchte, überlasse ich Eurer Phantasie.




„Herzzerreißend lustig“: Albert Ehrensteins Erzählung „Tubutsch“ aus dem Jahre 1908

„Mein Name ist Tubutsch, Karl Tubutsch. Ich erwähne das nur deswegen, weil ich außer meinem Namen nur wenige Dinge besitze…“

Das sind Anfangssätze, die man sich merkt, die gleich einen kaum widerstehlichen Sog ins Nichts ausüben. Sie leiten Albert Ehrensteins 1908 verfasste und 1911 publizierte Erzählung „Tubutsch“ ein, mit der er auf einen Schlag bekannt wurde. Selbst der rigide Karl Kraus hat Ehrenstein alsbald zu schätzen gewusst. „Tubutsch“ ist ein gleichermaßen mitreißender wie niederziehender Text. Der Göttinger Wallstein Verlag hat ihn dankenswerterweise „wiederentdeckt“ und mit zeitgenössisch-kongenialen Zeichnungen herausgebracht. Sie stammen von Oskar Kokoschka, mit dem Ehrenstein seinerzeit gelegentlich zusammengearbeitet hat.

Wie in so manchen großen Texten, passiert im Grunde wenig, ja, die Ereignislosigkeit wird sogar unablässig beschworen. Jener Tubutsch, arm an Besitz, an Erlebnissen und an verbliebenem Lebenswillen, streift ziellos durch Straßen und Gassen von Wien. Kein kultivierter Flaneur, sondern ein haltlos Umherirrender. Auf seinenen Wegen halluziniert er Turbulenzen und surreale Vorgänge ohne Unterlass. In jedem Moment kann alles und nichts passieren.

Da tritt ein parfümierter Polizist (damals eine Ungeheuerlichkeit) ebenso auf wie ein zu ungeahntem Leben erwachender Stiefelknecht namens Philipp, der sich nach Nordamerika aufmachen und beim US-Präsidenten Theodore Roosevelt anheuern will. Oder es lässt einer sein Butterbrotpapier bei einer Zeitreise ins urgeschichtliche Cambrium liegen. Man kann das alles gar nicht aufzählend wiedergeben. Unterschiede zwischen profan und erlesen gelten eh nicht mehr. Der Ich-Erzähler stellt klar: „Leute wie ich (….) müssen ihr Sensorium unaufhörlich füttern und sei es mit Geschäftsschildern, um über gähnende Leere hinwegzukommen.“

Ist selbst der Tod nur eine Witzfigur?

Das Ganze türmt sich auf zur Groteske der umfassenden Resignation, zur ewigen Komödie der Verbitterung. Zitat: „Man glaubt, ich sei lustig? Ja! Herzzerreißend lustig! Dies alles ist nichts als Galgenhumor.“ Doch nicht einmal damit genug. Selbst die Aussicht auf den Freitod verheißt Enttäuschung, denn auch der Tod könnte sich als bloße Witzfigur erweisen, kläglich und ohne jede Würde. Ja, hat denn gar nichts tieferen Sinn?

Man muss sich ein wenig an Ehrensteins Stil gewöhnen, so fremdartig ragt er ins Heute hinein. Doch die Befürchtung geht fehl, hier habe jemand die Sprache nur vor-expressionistisch aufgesteilt. Die zuweilen wirr und fahrig erscheinenden Metamorphosen aller Menschen und Dinge, notabene in Sigmund Freuds Wien imaginiert, rufen durchaus Erinnerungen an psychoanalytische Traumdeutungen wach. Sie münden zwar in einen verzagten Rückzug, wenn nicht in Selbstentleibung, werden aber in einer ungemein beweglichen, fiebrigen, manchmal geradezu feurig „sprühenden“ Art vorgebracht. Dann wieder gibt es ein Innehalten, gibt es Momente erhabener Lakonie. Und an manchen Stellen könnte man glauben, hier schreibe einer fast schon wie Franz Kafka. Oder auch wie ein Karl Valentin. Gar vieles steckt drinnen.

Irrwitzig leerlaufende Warenwelt

Die einsamen Gänge durch die Stadt wirken nicht nur für jene Zeit ausgesprochen „modern“, sie künden wie nebenher auch von Untiefen der Klassenfrage und von einer irrwitzig leerlaufenden, rundum austauschbaren Warenwelt. Im Jahre 1908 war das ziemlich unerhört, also im Vorfeld des Ersten Weltkriegs, als noch gravitätische Sätze wie dieser mehrfach ironisch aufgerufene in Kraft waren: „Man muß das Dekorum wahren.“

Ein sehr schmaler, aber furioser Band, der die Lektüre allemal lohnt. Hernach sollte man sich das beklagenswert exemplarische Leben Albert Ehrensteins vor Augen führen, Karl-Markus Gauß gibt in seinem kundigen Nachwort eine Ahnung davon. Schon als Kind erlitt Ehrenstein antisemitischen Hohn und Demütigungen, später wurde er ins bitterarme Exil getrieben und vollends entwurzelt. Und wieder müsste man die Anfangssätze zitieren, die eben nicht von ungefähr kommen: „Mein Name ist Tubutsch, Karl Tubutsch. Ich erwähne das nur deswegen, weil ich außer meinem Namen nur wenige Dinge besitze…“

Albert Ehrenstein: „Tubutsch“. Mit 10 Zeichnungen von Oskar Kokoschka und einem Nachwort von Karl-Markus Gauß. Wallstein Verlag, Göttingen. 88 Seiten. 20 Euro.




„Im Bann des Eichelhechts“ – Axel Hackes neue Abenteuer im Sprachland

Wohl einem Autor, dem die Ideen oder zumindest die Materialien nur so zufliegen, weil sie ihm haufenweise von seinen Leserinnen und Lesern zugesandt werden. Axel Hacke vergisst denn auch nicht, dafür im Nachspann seines neuen Buches Dank abzustatten. Er selbst versteht es meisterlich, all die Fundstücke zur vergnüglichen Lektüre zu arrangieren.

„Im Bann des Eichelhechts“ heißt das Opus, in dem Axel Hacke – wieder einmal – entzückende bis entsetzliche Sprachentgleisungen, Verhörer, Verleser und unfreiwillig komische Übersetzungsfehler auftischt. Hacke wähnt sich angesichts der überbordenden Fülle geradezu in einem jeder Logik enthobenen „Sprachland“, in dem ungeahnte, oft geradezu poetische Ausdrucks-Freiheiten herrschen. Ganz vorne und ganz hinten im Band sieht sich dieses Land liebevoll kartographiert.

Beim „Eichelhecht“ handelt es sich übrigens um den Irrtum eines Dreijährigen, der sich nach einem Waldspaziergang gesprächsweise an den Eichelhäher erinnern wollte. Respekt: Solch ein elaboriertes Missverständnis muss man mit drei Jahren erst einmal zustande bringen.

Die Tücken der indirekten Übersetzung

In ganz besonderem Maße erntet Axel Hacke diesmal auf dem weiten, weiten Feld der Kochrezepte und Speisekarten, zumal solchen, die aus dem Spanischen oder Italienischen übersetzt wurden – aber wie! Setzt man sich einmal auf die Spur (Wie konnte es nur zu diesen abenteuerlichen Formulierungen kommen?), so wird man im Gefolge Hackes häufig finden, dass es an der indirekten Übersetzung liegt. So geht es nicht gleich vom Spanischen ins Deutsche, sondern es wird zumeist der Umweg übers Englische genommen, womit die Zahl der Fehlerquellen sozusagen exponentiell steigt. Nicht zuletzt Übersetzungsprogramme sorgen beim Überschreiten der Sprachgrenzen für Heiterkeit. Immer noch.

Wenn die Scampi zum Gitter flüchten

Und so kommt es zu herrlichen Wortschöpfungen wie etwa „Tortenhuhn“, „Tinderfisch“ oder gar Gerichten wie „Fuck the duck until exploded“. Auch finden sich – weitaus harmloseres Beispiel – Zubereitungen wie „Französische Bekleidung“, was sich natürlich schlichtweg als wörtliche Übertragung von „French Dressing“ erweist. Auf ähnlich simple Weise geraten auch nahrhafte „Rechtsanwälte“ auf französisch-deutsche Menükarten, wenn nämlich Avocados im Spiel sind und an Advokaten sich anlehnen. Etwas komplizierter wird’s schon, wenn „Scampi alla griglia“ zu „Sie flüchten zum Gitter“ wird. Immerhin zeigt es sich bei hartnäckiger Recherche, dass die Entstehung dieser Wendungen noch durch Anklänge oder Doppelbedeutungen erklärbar ist, während andere Fügungen völlig sinnfrei daherschweben. Mehr wird dazu an dieser Stelle nicht verraten.

Axel Hacke erkundet jedoch nicht nur kulinarische, sondern auch etliche andere Bezirke im schier grenzenlosen Sprachland. So versucht er in einem Kapitel, sich deutsche Wörter mit möglichst vielen „e“-Lettern auszudenken – ein auch im Internet beliebtes Nonsens-Spiel. Stücker 18 sind es beispielsweise in:

ebereschenbeerengeleebecherchendeckelchen

Geht da womöglich noch mehr? Oder fällt man dabei irgendwann dem Wahnsinn anheim?

Was hat es mit den Tiftrienen auf sich?

Ergiebig sind auch übersetzte Gebrauchsanweisungen, mehrsprachige Schilder, Verhörer (speziell aus kindlicher Unwissenheit, z. B. „Tiftrienen“ statt „tief drinnen“), die einen mitunter ein halbes Leben lang begleiten können. Und dann wären da noch die phonetischen Anleitungen für beflissene Polen, die ausgewählte Sätze in verständlichem Deutsch aussprechen möchten. Beispielsweise:

„Zajt cwaj sztunden haben wija kajn waser.“ – „di szpyl-maszine yst fersztopft.“

Was nicht vergessen werden darf: Alle Achtung fürs Lektorat! Dermaßen viele Fehlleistungen und sonstige Sprachblüten quasi „korrekt“ (also „richtig falsch“, hehe) abzudrucken, hat sicherlich erhöhte Aufmerksamkeit und wahrscheinlich so manche ungläubige Rückfrage bei Axel Hacke erfordert.

Axel Hacke: „Im Bann des Eichelhechts und andere Geschichten aus Sprachland“. Verlag Antje Kunstmann. 264 Seiten, 22 Euro.

 




Endlich: „Dittsche“ ist wieder da!

Hobel klargemacht: Dittsche (Olli Dittrich, li.) und Ingo (Jon Flemming Olsen, re.) prosten einander zu, „Krötensohn“ (Jens Lindschau) ist per Videotelefonat auf dem Tablet nur virtuell gegenwärtig. (Screenshot aus der „Dittsche“-Folge von 7. März 2021)

Endlich, endlich! Er ist wieder da. Etwas über ein Jahr ist es her, dass „Dittsche“ zuletzt seine abgründig tiefgründelnde Bademantel-Philosophie verbreiten durfte. Dann kam die lange Corona-Pause. Und jetzt ist Ingos Imbiss-Stube wieder geöffnet – freilich nur zum Außer-Haus-Verkauf. Ganz wie im wirklich wahren Leben…

Dittsche ist jetzt berufstätig. Darauf legt er großen Wert. Hin und wieder fegt er nämlich die besagte Imbiss-Stube aus. Immerhin. Nach getaner Tat bringt er die lang vermissten Worte hervor: „Mach mal’n Hobel klar!“ (d. h. „Gib mir mal’n Bier!“) – und nach den ersten Schlucken  das unvermeidliche „Ah, das perlt aber…“ Hach, wie haben uns diese Wohllaute gefehlt!

Direkt an die letzte Folge von Anfang März 2020 anknüpfend, trug Dittsche anfangs wieder seine Super-Anti-Corona-Maske auf Mund und Nase, einen handelsüblichen Melitta-Filter. Darunter verbarg sich nun allerdings eine vorschriftsmäßige FFP2-Maske. Die wiederum, so verriet er, nehme er tagsüber auch zur Kaffee-Zubereitung. Filter ist Filter. Und Heißwasser tötet Viren ab. Biddää! Biddää!

Folgte eine Geschichte vom Herrn Karger, der seiner Frau ungewollt einen Meckischnitt verpasst hat. Und warum wohl? Weil der langjährige Ex-Friseur jene Trockenhaube aus dem Keller hochholte, die Dittsche im ersten Corona-Sommer als Grill benutzt hatte.  Bratfett-Reste waren halt noch drin – und die Haare der Gattin mussten elendiglich verschmurgeln. Ingo war fassungslos, als er das hörte.

Dittsche faselte sich schnell wieder warm und entwickelte abermals seine „Weltideen“. Tierschützer, bitte weghören! Wie der Installateur Frösche zur Rohrreinigung einsetzen könne: einfach per Flaschenpost zur Verstopfung schießen, dort pusten sie dann alles frei. Unterdessen könnten die jüngst auf Madagaskar entdeckten Mini-Chamäleons als farblich exakt angepasste Camouflage für Auto-Lackschäden dienen. Muss man auch erst mal drauf kommen.

Und als Trainer auf Schalke, wo sie in dieser Spielzeit schon den fünften Coach angeheuert haben, sollen (Dittsche zufolge) künftig nur noch rasch austauschbare Pappkameraden geradestehen – mal mit dem Konterfei von Guardiola, dann von Mourinho, Kloppo oder weiß der Geier wem…

Kurzum: Es war stellenweise wieder so herrlich hirnrissig, wie wir es lieben. Und schon freuen wir uns auf den nächsten Sonntag.

 

 

 




Bedeutsam wie eh und je: George Orwells „Farm der Tiere“ gleich in zwei neuen Übersetzungen

„Kein Tier soll seinesgleichen je tyrannisieren. Schwach oder stark, schlau oder schlicht, wir sind alle Brüder. Kein Tier soll je ein anderes töten. Alle Tiere sind gleich.“ Mit diesem Schlachtruf beginnt der Aufstand der Tiere gegen die Unterdrückung der Menschen. Doch schnell gerät die Revolution aus dem Gleis.

Die Manesse-Ausgabe (Übersetzung: Ulrich Blumenbach). (© Manesse)

Statt Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit gibt es Terror, „Säuberung“ und Diktatur auf der „Animal Farm“, auf der die Schweine die Macht ergreifen und alle anderen Tiere versklaven: George Orwells „Farm der Tiere“ ist ein böses Märchen, eine Abrechnung mit der stalinistischen Pervertierung des Sozialismus. Jetzt sind gleich zwei neue deutsche Übersetzungen des 1945 veröffentlichten Romans erschienen.

Weltliteratur von gnadenloser Präzision

Wenn wir die „Farm der Tiere“ nur als wütende Abrechnung eines frustrierten Sozialisten mit der Einparteien-Diktatur Stalins lesen und hinter jedem Tier nur das Abbild eines realen Menschen suchen, dann bräuchte es wohl auch keine neue Übersetzung. Aber die „Farm der Tiere“ ist ein großes Stück Weltliteratur: perfekt konstruiert, sprachlich schillernd, politisch visionär, zeitlos aktuell. Orwell zeigt uns mit gnadenloser Präzision, wie schnell die schönsten Träume zerplatzen, die buntesten Wunschbilder von skrupellosen Demagogen in ihr Gegenteil verkehrt werden, wie Populismus funktioniert und Propaganda die Hirne vernebelt, wie sich Angst und Anpassung ausbreiten, wenn Gehirnwäsche und Säuberungswellen jeden Widerstand im Keim ersticken und Verschwörungstheorien die Wirklichkeit ersetzen.

Natürlich steht der fiese Eber „Napoleon“ für Stalin, das kluge Schwein „Schneeball“ für Trotzki, das arbeitssame Pferd „Boxer“ und der duldsame Esel „Benjamin“ stehen für die gutgläubige Arbeiterklasse, die blutlechzenden Hunde für die Geheimpolizei, die blökenden Schafe für das leicht manipulierbare Fußvolk: aber sie sind nicht nur Fabelwesen, sondern stimmige Archetypen, prägnante Charaktere, die uns glaubhaft von Machtmissbrauch und Lüge, Verrat und Mord erzählen. Es ist der wohl wichtigste politische Roman des letzten Jahrhunderts und zugleich das Buch der Stunde, das sprachlich immer geschliffen und geschärft und auf den neuesten Stand gebracht werden sollte.

Die dtv-Ausgabe (Übersetzung: Lutz-W. Wolff). (© dtv)

Als Kritik an Stalin in England verpönt war

Orwell hatte eigene Erfahrungen mit dem langen Arm Stalins und war der Überzeugung, dass der Sozialismus nur zu retten ist, wenn man bereit ist, Fehler einzugestehen und die Sowjetunion rücksichtslos zu kritisieren: „Seit gut einem Jahrzehnt habe ich den Eindruck“, schrieb Orwell in einem Essay, „dass das jetzige russische Regime überwiegend böse ist, und ich bestehe auf dem Recht, das laut zu sagen, auch wenn die UdSSR unser Verbündeter in einem Krieg ist, in dem ich unseren Sieg herbeisehne.“

Genau das aber war das Problem: Die meisten englische Intellektuellen, Verleger und die Politiker wollten keine Kritik an Stalin zulassen, niemand mochte den Verbündeten verärgern, man hatte sich wehrlos der sowjetischen Propaganda ausgeliefert und wollte von Säuberungen und Schauprozessen nichts hören.

Orwell wusste, wovon er sprach. Als Freiwilliger hatte er am Spanischen Bürgerkrieg teilgenommen und in einer trotzkistischen Miliz gegen die Faschisten gekämpft. Aber der Einfluss Stalins reichte bis nach Barcelona und führte dazu, dass alle Trotzkisten von ihren sowjettreuen Mitkämpfern verfolgt, vertrieben, ermordet wurden. Orwell konnte sich in letzter Minute nach England retten, doch keiner wollte ihm glauben, niemand wollte seinen Augenzeugenbericht „Hommage an Katalonien“ lesen, und auch als er seinen Roman „Farm der Tiere“ seinem Verleger zeigte, lehnte der auf Anraten der Zensurbehörden ab, ihn zu drucken. Orwell war geschockt von der intellektuellen Feigheit in England und wollte den Roman auf eigene Faust im Selbstverlag herausbringen, doch dann war der Heiße Krieg vorbei und wurde schnell zum Kalten Krieg – und der Roman konnte endlich erscheinen.

Eine Fassung ist deutlich eleganter

Es ist Geschmacksache, welche der beiden neuen Übersetzungen man bevorzugt, manche mögen es exakt, andere poetisch, mache bestehen auf Worttreue, andere schätzen den freien Umgang mit der Vorlage. Man muss nicht gleich tief ins sprachliche Unterholz des politisch komplexen Romans kriechen, es reicht schon, sich den ersten Absatz anzusehen, also den letzten friedlichen Moment, bevor der Aufstand der Tiere losbricht.

In der Version von Lutz-W. Wolff liest man: „Mr Jones von der Manor Farm hatte die Hühnerställe für die Nacht abgesperrt, aber er war zu betrunken, um daran zu denken, die Auslaufklappen zu schließen. Der Lichtkreis seiner Laterne tanzte von einer Seite zur anderen, als er über den Hof schwankte und an der Hintertür seine Stiefel abschüttelte. Er zapfte sich noch ein letztes Bier vom Fass in der Spülküche und machte sich auf den Weg nach oben ins Bett, wo Mrs Jones bereits schnarchte.“

Bei Ulrich Blumenbach heißt es dagegen: „Mr. Jones von der Herrenfarm verriegelte die Hühnerställe zur Nacht, er war so betrunken, dass er vergaß, die Klappen zu schließen. Der Lichtkegel seiner Laterne sprang hin und her, als er über den Hof torkelte, an der Hintertür die Stiefel abstreifte, sich am Fass in die Spülküche ein letztes Bier zapfte und die Treppe hoch ins Bett ging, wo Mrs. Jones schon schnarchte.“

Die Fassung von Ulrich Blumenbach ist eleganter, moderner, flüssiger als die etwas holzige und beflissene von Lutz-W. Wolff. In der Ausgabe von dtv schreibt Ilija Trojanow ein Vorwort, reist in Gedanken auf die schottische Insel, auf der Orwell zurückgezogen lebte und am Roman schrieb. Trojanow macht einen Nachfahren von Esel Benjamin ausfindig und diskutiert mit ihm über die Revolution, die für viele Beteiligte im Gulag endete: Der Kunstgriff soll keck und witzig sein, ist aber selbstverliebt und nervig.

Einfühlsames Nachwort von Eva Menasse

Beim Manesse-Verlag (Blumenbach-Übersetzung) verfasste Eva Menasse ein Nachwort,  sie stellt sich ganz in den Dienst des Buches, beschreibt einfühlsam die Faszination des Romans, die Leiden des Autors und die zeitlose Aktualität des tierischen Märchens. Während dtv noch viele Anmerkungen und eine Zeittafel mit Lebensdaten und Werken von Orwell auflistet, präsentiert der Manesse-Verlag zwei spannende Aufsätze: einen Essay über die von Selbstzensur und Opportunismus bedrohte Pressefreiheit sowie einen subversiven Text, den Orwell für eine ukrainische Ausgabe verfasst hat.

Doch für welche Aufgabe man sich auch entscheidet: Wenn die Tiere mitansehen müssen, wie ihre schweinischen Anführer wieder mit den verhassten Menschen gemeinsame Sache machen, hat der Roman nichts von seinem Schrecken verloren,: „Die Geschöpfe draußen sahen von Schwein zu Mensch, von Mensch zu Schwein und wieder von Schwein zu Mensch, aber es ließ sich schon nicht mehr sagen, wer was war.“ Da kann einem angst und bange werden.

George Orwell: „Farm der Tiere“. Ein Märchen. Aus dem Englischen von Ulrich Blumenbach. Nachwort von Eva Menasse. Manesse Verlag, München 2021, 192 Seiten, 18 Euro.

George Orwell: „Farm der Tiere“. Ein Märchen. Aus dem Englischen von Lutz-W. Wolff. Vorwort von Ilija Trojanow. dtv, München 2021, 192 Seiten, 20 Euro.




Ros*in*enmontagsgruß – Gendern will gelernt sein

Gerd*a Frauholz
(Foto: Gerd Herholz)

Liebe Frau*innen und Männer*innen, liebe Männ*innen und Frauende, liebe Närrinnen und Narrhalesen,

heute am Rosenmontag möchte ich mich vordergründig zwar vor allem an die Männ*innen unter Ihnen wenden, aber selbstverständlich sind Frauende und Kind*innen immer mitgemeint.
Unumstritten, es ist höchste Zeit, dass Frauenzimmer, ja eigentlich alle weiblichen Räume und Welten sprachlich deutlich sichtbar werden! Ihnen, den Frauen, soll und muss von nun an die Hälfte des Himmels gehören – und die Hälfte der Erde und Hölle sowieso.

Als beherzte/r Fürsprecher*in des globalen Feminats („Ihr Wunsch wird mir zum Befehl!“) möchte ich dennoch darauf hinweisen, dass bei der gendergerechten Betonung des Weiblichen in der deutschen Sprache das Männliche schon aus folkloristischen Gründen nicht ganz verloren gehen sollte – obwohl es dafür sicher gute Gründe gäbe.

Nehmen wir zum Beispiel nur eine Formulierung wie „den Anstifter*innen und Täter*innen dieses Verbrechens muss der Prozess gemacht werden“. Gelesen wie gewünscht durchaus eindeutig zweideutig; rein akustisch allerdings hören wir da allein noch die weiblichen Formen der Vokabeln „Anstifter“ und „Täter“ heraus, wir hören also nur „Anstifterinnen und Täterinnen dieses Verbrechens muss …“. Da hilft auch eine kleine Stolperpause vor den „innen“ wenig. Und die männlichen Formen der Dativ-Deklination, also „Anstiftern“ und „Tätern“ gehen klanglich gänzlich verloren, so als ob den „AnstifterN und TäterN dieses Verbrechens“ nicht auch der Prozess gemacht werden müsste.

Halten wir fest: Schreiben und Hören desselben Satzfragments führen zu völlig unterschiedlichen Verstehenshorizonten: Mal gehen die Männer halb unter, mal ganz.

Zu Unrecht versenkt werden männliche „Anstifter“ und „Täter“ auch im Plural. Durch den weiblichen bestimmten Artikel „die“ werden sie zu „die Anstifter“ und „die Täter“. Diese ungerechte Verweiblichung der männlichen Mehrzahl sollten sich Frauende schlicht verbitten. Es wäre also höchste Zeit, auch im Plural männlichen Gruppen den bestimmten Artikel „der“ zuzuordnen: „Der Anstifter und der Täter vieler Verbrechen können ihrer Verantwortung nicht entkommen.“ Nun weiß auch der/die/das Letzte, wer gemeint ist. Und bitte kommen Sie mir jetzt nicht mit Haarspaltereien zu biologischem und grammatischem Geschlecht, zum komplexen Verhältnis von Sexus und Genus (nicht zu verwechseln mit „Genuss“). Wollte man und frau da alles berücksichtigen, kämen die wohl in Teufel*innens Küche.

Dennoch, eine Person, die einmal gelernt hat, Sexismus in der Sprache zu sehen, kann nicht der-/die-/dasselbe bleiben, das ist klar. Zunehmend irritieren mich aber auch andere diskriminierende Etikettierungen, etwa von Tier*innen oder Kind*innen. Immerhin, es gibt im Singular z. B. die Formen „der Hund“ / „die Hündin“, aber wieso die ganze Art dann wieder als (d-e-r) Hundeartige oder d-i-e Hundeartigen bezeichnet wird, ist nicht nachvollziehbar. Ich schlage deshalb eine gendergerechte Differenzierung aller Wörter im Singular / Plural vor: „der Hund / der Hunde“ sowie „die Hündin / die Hündinnen“. Die ganze Art könnte man vielleicht als „Hund*innen“ bezeichnen?

Über die weitere Deklination vieler Begriffe muss von linguistischer Seite gründlich nachgedacht werden. Wo der Mann im Plural sich dem weiblichen Artikel nicht weiter unterordnen will, darf zum Beispiel auch alles Weibliche im Genitiv nicht länger von einem „der“ regiert, ja unterjocht werden. Nieder mit einer Formulierung wie „die Schönheit der Frau“. Es muss natürlich heißen: „die Schönheit die Frau“ oder wie mittlerweile immer öfter als Graswurzelgendern im Rahmen lebendiger Sprachgestaltung zu hören ist: „die Schönheit von die Frau“.

Ein letzte Anmerkung, ja fast ein Seitenhieb noch wider das Sächliche. Es ist nicht einzusehen, dass wir weiterhin etwa „das Kind“ sagen. Hier wird durch den sächlichen Artikel das Kind versachlicht, es wird zur Sache. Die Folgen solcher Depersonalisierung sind heute überall zu sehen, etwa in der katholischen Kirche. Also bitte in Zukunft explizit nur noch geschlechterdifferenzierende Singular- / Plural-Formen verwenden: „der Kind / der Kinder“ und „die Kind / die Kinder“.

Ich hoffe, ich habe ein wenig zur aktuellen Debatte beitragen können.
Wenn Sie tiefer in die Materie einsteigen wollen, empfehle ich aus der 3sat-Mediathek die Kulturzeit-Extra-Sendung „Streit ums Gendern“. Mir war danach ein wenig schwindlig, aber Sie sind ja jetzt durch diesen Beitrag besser vorbereitet.

Für heute mit freundlichen Grüßen
Ihre
Gerd*a Frauholz




Neustart bei den „Mitternachtsspitzen“: Da geht noch was…

Einladend: Christoph Sieber, der neue Gastgeber der „Mitternachtsspitzen“. (Foto: WDR/Melanie Grande)

Soso. Ein Schwabe also. Christoph Sieber (51), geboren in Balingen (etwa auf halbem Wege zwischen Stuttgart und Bodensee), fungiert nun als neuer Gastgeber der WDR-„Mitternachtsspitzen“. Als lediglich reingeschmeckter Rheinländer mit Wohnsitz in Köln.

Die altvertraute Kabarett-Comedy-Mixtur, ab jetzt also ohne den gewohnten, bei allem kritischen Sinn immer noch irgendwie „gemütlichen“ und menschenfreundlichen Colonia-Tonfall von Jürgen Becker, ohne Herbert Knebels ruhrischen Zungenschlag („Boah ey, glaubsse…“) und ohne die dröhnend entnervten Schlussmonologe von Wilfried Schmickler. Und da soll man sich gleich heimisch fühlen? Der Mensch braucht doch auch in solchen Dingen seine Rituale.

Zweimal gab’s Anspielungen darauf, dass Sieber und/oder die Zuschauer mit seinem neuen Job womöglich fremdeln könnten. Anfangs wollte so eine groteske Möhre den hierorts Unbekannten gar nicht erst in den Kölner Wartesaal ‚reinlassen. Später hatte er (als coronabedingt beschäftigungsloses Funkenmariechen) erst einmal ordentlich kölsche Tön‘ zu lernen. Tja.

Und was gab’s sonst?

Die beiden Schweinepuppen von Michael Hatzius nervten schon jetzt, bei ihren Debüt; besonders, wenn das Wildschweinchen Torsten unentwegt stotterte und einzelne Worte fast gar nicht herausbrachte. Mit bestenfalls durchwachsener, brav abgespulter „Ach Was!“-Komik wartete Philip Simon auf, der Scherzvorlagen wie den Vergleich zwischen US-Wahlen und Bundesliga zum x-ten Mal nachkaute. Wie Trump es gerne gehabt hätte, so auch Bayern München: Sobald sie führen, soll das Spiel vorbei sein.

Christian Ehring plauderte recht nett über das gepflegte Mittelmaß des Armin Laschet, die eher humorfrei wirkende Sarah Bosetti lieferte mal wieder 1 a politisch korrekte Minuten ab (diesmal über den mehr als latenten Rassismus in der unsäglichen WDR-Talkshow „Die letzte Instanz“). Sie drückte dabei weit offen stehende Türen ein.

Darstellerisch gleich doppelt hervorstechend: Susanne Pätzold als tief in seinem Machtwillen gekränkter Friedrich Merz auf der Couch des Psychiaters (einer Echsenpuppe, wiederum geführt von Michael Hatzius) und final im „Homeschooling“-Musical à la „Abba“. Das hatte echten Schwung.

Christoph Sieber (re.) mit Helge Schneider und dessen Sohn Charly. (Foto: WDR/Melanie Grande)

Bekanntester Gast war Helge Schneider mit einem Song über jenen „Boss“, der seinem geknechteten Mitarbeiter so gut wie nix bezahlt, denn – so die diabolisch vorgetragene Ansage: „Ich will reich werden!“ Am Schlagzeug saß übrigens Helges offenbar hochtalentierter Sohn Charly. Von wem er die Begabung wohl hat?

In seinen Überleitungen rechnete Christoph Sieber mit Figuren wie Verkehrsminister Scheuer oder Kardinal Woelki ab – wahrlich zwei Watschenmänner, wie sie zu Recht im Musterbuche aller Witzbolde stehen. Unfassbares legte Siebers knappes Aufklärungsstück über NSU-Morde und Verfassungsschutz bloß, es hätte auch gut in „Die Anstalt“ (ZDF) gepasst. Dort hatte Sieber ja schon einige Auftritte.

Kurzum: Die etwas zusammenhanglose Nummernrevue hatte zum Auftakt vereinzelt passable, doch selten wirklich starke Elemente zu bieten. Hinderlich wirkt sich freilich aus, dass man sich nach wie vor nicht vor Live-Publikum entfalten kann. Da kommt einfach keine Saalstimmung auf, es fehlt die Rückkopplung, die die Leute auf der Bühne beflügeln könnte. Auch Becker, Knebel und Schmickler hatten zum Schluss ihrer Ära mit diesem Manko ihre liebe Not.

Vorläufiges Fazit:  Sieber und seine Gäste werden sich warmspielen und es sicherlich bald noch etwas besser machen. Am liebsten demnächst mit leibhaftig anwesendem Publikum, und sei’s auch erst einmal reduziert.




Corona-Lotto: Das ärgerliche Glücksspiel um einen Impftermin für die 87jährige Mutter

Wenn es doch erst so weit wäre… (Foto: Tim Reckmann / pixelio.de)

Unser Gastautor Thomas Schweres, TV-Reporter und Verfasser von Kriminalromanen, über vergebliche Bemühungen um die Buchung eines Corona-Impftermins:

Kurz vor Weihnachten wurde bekannt, dass es jetzt einen zugelassenen Impfstoff gibt und es bald losgeht. Am 27.12.2020 wurde die erste Person in NRW geimpft: eine 95jährige Bewohnerin eines Altenheims in Siegen. Dass  Impftermine für selbständig in eigenen Wohnungen lebende Menschen über 80 noch weit weg waren, konnte sich jeder ausrechnen. Zumal es für unsere Ruhrgebiets-Stadt mit knapp 600.000 Einwohnern zu Anfang gerade mal Impfdosen für 750 Personen geben soll. „Muss ich meine 87jährige Mutter erst ins Heim einweisen, damit sie zügig geimpft wird?“ habe ich dazu bei facebook bereits am 18.12.2020 geschrieben. Mit ihr selbst hatte ich noch nicht gesprochen.

„Hast Du schon was gehört, von der Stadt oder Krankenkasse, wann Dein Impftermin ist?“

Mutter Margret schüttelt den Kopf.

„Aber Du willst dich doch impfen lassen?“

„Ja, schon. Wäre schön, wenn ich meine Kinder und Enkel wieder sehen könnte, ohne mir Sorgen zu machen.“

„Aber?“

„Das wäre schon gut, wenn ich niemanden mehr anstecken könnte. Weil ich mich zum Beispiel unwissentlich selbst beim Friseur angesteckt habe.“

„Noch wichtiger wäre doch, dass Dir selbst nichts mehr passieren kann!“

„Ach, weißt Du, ich bin sowieso bald dran. Besser wäre es doch, die würden erst die jungen Leute impfen, die mitten im Leben stehen, ständig Kontakte haben. Ich gehe doch sowieso fast nicht mehr aus dem Haus.“

Mit „sowieso bald dran“ meinte sie nicht die Krankheit oder das Impfen, sondern die altersgemäß anstehende Heimholung ins Reich des Herrn. Meine Mutter ist ein sehr gottesfürchtiger Mensch . Das mit dem „bin bald dran“ sagt sie schon seit Jahren ständig, unabhängig von Corona. Ich antworte ihr dann, dass sie ihre Restlaufzeit schon überschritten hat und jetzt so alt wird wie Jopie Heesters, mindestens. Und dass ein Tod an oder mit Corona kein friedliches Ableben im Schlaf bedeutet. Sondern elendiges Verrecken durch Ersticken mit Schläuchen im Hals.

„Soll ich mich denn nun um deine Impfung kümmern?“

„Ja bitte, mach das.“

Bestimmt kommt bald ein Brief von irgendeiner Behörde

Anfang Januar habe ich noch gedacht, das sei ziemlich einfach: Bestimmt bekommt meine Mutter einen Brief von irgendeiner Behörde, in der ihr ein Impftermin mitgeteilt wird. Und ich brauche sie dann nur noch dorthin zu chauffieren.

Als wir in der zweiten Januarwoche immer noch nichts gehört hatten, wurde ich langsam nervös und habe versucht, das örtliche Gesundheitsamt anzurufen. Unter der Hotline für alle Fragen rund um Corona, bei der man auch Infektionen und Kontaktpersonen melden können sollte. Eigentlich. Kein Durchkommen. Am 16. Januar kam dann der Brief. Am 25. Januar gehe es  los, man solle sich telefonisch oder übers Internet registrieren lassen und Impftermine in einem Impfzentrum seiner Wahl vereinbaren. Wird wohl einige Versuche benötigen, aber kann ich ja mal für sie machen. Schließlich macht Margret  auch die Wäsche für mich.

Also sitze ich am 25. Januar morgens um 06:30 Uhr am Schreibtisch. Nebenbei läuft das Radio. Vor mir der Rechner, das Telefon in der Hand. Ich wähle die 0800-1611701 für’s Rheinland. Es ist ständig besetzt. Nach dem 16. Versuch höre ich um 07:30 Uhr in den Nachrichten von WDR2, dass die Leitungen erst ab 08:00 Uhr geschaltet sind. Na gut, bei Behörden oder behördenähnlichen Organisationen wie der Kassenärztlichen Vereinigung fliegt der frühe Vogel eben erst ab 08:00 Uhr los. Es ist ja nicht so, dass ich in der Zwischenzeit nichts anderes zu tun hätte.

Ab 08:00 Uhr feuere ich dafür aus allen Rohren. Das Telefon liegt auf dem Schreibtisch, der Lautsprecher ist auf laut geschaltet. So brauche ich beim Tippen auf der Tastatur des Rechners nur immer zwischendurch am Telefon die Taste für die Wahlwiederholung zu drücken. Und höre, falls eine Verbindung zustande kommt. Wenn ich, auf welchem Weg auch immer, schnell durchkomme, bekomme ich bestimmt einen frühen Termin für Mutter, nächste Woche oder so.

Einwahlversuche bis zum Abwinken

Beim Telefon ist alles wie vor acht. Im Netz komme ich gar nicht erst auf die Seite www.116117.de. Obwohl ich es  ununterbrochen probiere. Also fast. Ich gestehe, dass ich nach jeweils  ungefähr zehn Einwahlversuchen Unterbrechungen einlege. Wie gesagt, ich habe auch noch was anderes zu tun. Gehöre schließlich zum werktätigen Teil der Bevölkerung. Schlimmer noch, ich bin selbständig. Kann das also nicht während sowieso bezahlter Arbeitszeit erledigen. Wenn ich nicht arbeite, verdiene ich auch kein Geld. Zum, nun ja, „Glück“ ist jetzt, während Corona und Lockdown, nur wenig zu tun.

Wobei man schon den Eindruck hat, dass die KV Nordrhein es zumindest mit ihren Telefonleitungen abwechslungsreich gestalten will. Es ist nämlich nicht immer sofort besetzt. Manchmal kommt auch die Ansage: „Der gewünschte Gesprächspartner ist gerade nicht zu erreichen“. Oder, seltener: „Die gewählte Rufnummer ist nicht vollständig.“ Corona-Lotto: Vor jedem Versuch tippe ich mittlerweile im Kopf, welche Ansage jetzt dran ist. Oder ob ich überraschend durchkomme.

Irgendwann erscheint mir die Chance, telefonisch jemanden zu erreichen, geringer als ein Dreier im Lotto. Ich gebe die Telefonvariante ganz auf und konzentriere mich aufs Netz. Am späten Vormittag bin ich durch.

Mich guckt aus dem Bildschirm eine ältere Version des Fußballtrainers Rolf Rangnick an. Ein vertrauenserweckender älterer Herr mit noch weißerem Haarschopf.  Darunter der Text: „Herzlich Willkommen auf unserer Terminvergabe-Seite für Ihre Corona-Impfung! Leider sind derzeit alle Termine vergeben. Wir schalten in Kürze weitere Termine frei. Bitte versuchen Sie es zu einem späteren Zeitpunkt wieder.“

Fortlaufend dreht sich der Ladekreis

Wann ist „in Kürze“? Jedenfalls nicht um 13:00 Uhr, nicht um 14:30 Uhr, nicht um 15 und nicht um 16 Uhr. An diesem Tag überhaupt nicht mehr.

Der nächste Morgen. Es ist Dienstag, der 26. Januar, Punkt 08:00 Uhr. Wieder blickt mich der Vater von Rolf Rangnick (Ja, ich weiß. Aber Rudi Assauer hat auch immer „Rolf“ gesagt) an. Auch um 08:15, um 08: 30, 08:45 und um 09:00 Uhr. (Jede Uhrzeit steht  übrigens für mehrere Versuche!)

Gegen 09:15 Uhr  komme ich endlich auf die Registrierung. Trage die Daten meiner Mutter ein: Name, Adresse und Geburtsdatum, vergebe ein Passwort und werde zur Terminvergabe weitergeleitet. Jetzt habe ich es wohl endlich geschafft! Unterm Strich habe ich in 27 Stunden  gerade mal sieben oder acht Stunden dafür benötigt. Nur eine kleine Mühe dafür, dass Mutter ständig meine Wäsche macht und stundenlang meine Hemden bügelt.

Die Seite für die Terminvergabe öffnet sich nicht. Ich sehe im Hintergrund schon matt einen Kalender, im Vordergrund einen Ladekreis, der sich fortlaufend dreht. Und dreht. Und dreht.

Mailadresse und Passwort stets neu eingeben

Ich gehe auf „aktualisieren“. Pustekuchen. Bei jedem neuen Versuch  muss ich auch erneut meine Mailadresse und das Passwort eingeben. Nach dem xten Versuch sehe ich endlich den Kalender klar. Oben steht: Wählen Sie einen Termin aus. Zu sehen sind die Monate Januar und Februar. Jeder Tag ist mit kleinen grauen Kreisen mit einem Querstrich versehen. Wie Parkverbotsschilder, aber eben in grau. Ein Blick in die Legende: Dieses Zeichen steht für „Tag ausgebucht“. Ich bekomme ein schlechtes Gewissen. Da waren andere wohl schneller. Hätte ich mich mal durchgängig mit der Sache beschäftigt!  Aber man kann in dem Kalender weiterscrollen. Dann eben im März. Muss Mutter bis dahin vorsichtig sein. Eine Quarantäne hat sie ja schon überstanden. Nach dem Kontakt mit einer Tochter und einem Enkel, bevor die ihr positives Testergebnis erhielten.

Im März auch alles grau. Im April auch. Bis Dezember das gleiche Bild. Alle Termine ausgebucht. Ich überlege: Im September wird meine Mutter 88 Jahre alt. Sie kann zwar nicht mehr gut laufen, ist aber noch klar im Kopf. Und zäh. Die sollen sich mal keine Hoffnung machen, das Problem vor einer Impfung biologisch lösen zu können. Meine Mutter hält noch ewig durch. Falls sie sich nicht mit dem Virus infiziert.

An diesem Tag tut sich bei weitern Versuchen nichts mehr. Falls ich auf die Seite komme, gibt es keine Termine.

Ich bin sowas von sauer.

Immer noch keinen Termin ergattert

Der nächste Tag, Mittwoch, 27. Januar. Neues Spiel, neues Glück. Am späten Vormittag  ist endlich ein Termin frei. Schon am 05. März. Ich klicke sofort darauf. Ein Freitag. Da lässt Mutter sich eigentlich immer von mir oder einem der Enkel  zum Friseur chauffieren. Waschen und legen, manchmal auch schneiden. Wer weiß, ob Friseure bis dahin überhaupt wieder geöffnet haben. Selbst wenn… eine Impfung ist wichtiger.

Ich sehe wieder den sich drehenden Kreis. Gefühlte Ewigkeiten lang. Und dann: Keine Terminvergabe möglich. Im Radio haben sie gesagt, es stünde wohl kein Impfstoff mehr zur Verfügung. Und der von AstraZeneca sei nur für Menschen unter 65 Jahren geeignet. Vielleicht habe ich selbst dadurch eine Chance. Der Urologe hat gesagt, bei meiner Nieren-Insuffizienz wäre das schon wichtig, dass ich mich nicht anstecke… Haha.

Bis heute, 29.01.2021, habe ich ja nicht einmal einen Impftermin für meine Mutter ergattert.  Nach dem Einloggen erscheint immer nur: „Keine Terminvergabe möglich“. Vielleicht sage ich das auch mal dem Finanzamt oder der Krankenkasse, wenn sie wieder gnadenlos Steuern, Beiträge und Sozialabgaben einfordern, obwohl wir in der Pandemie kaum Umsatz machen.

Meine Mutter ist übrigens etwas enttäuscht von meiner Fehlleistung: „Du schaffst doch sonst immer alles in kürzester Zeit!“ Aber unser Verhältnis hat nicht grundsätzlich gelitten. Ich gehe jetzt erstmal rüber und bringe ihr meine Wäsche.




Soziale Miniaturen (24): Bizarres Büro

Klar, das Bild hat kaum etwas mit dem Text zu tun. Aber es gab schon schlechtere Illustrationen, oder? (Missgelungenes Foto: Bernd Berke)

Jahrzehnte brachte er mit dürftigen Witzzeichnungen in Stil der 1950er hin. Standardfiguren waren blöde Blondinen mit üppigen Brüsten. Aaaargh!

In manchen Medien liefen derlei knochige Gestalten noch eine zeitlang als berufsständische Folklore mit. Von der ganzen Computerei mussten sie nichts verstehen, ja, sie belustigten sich über jene, die da zunehmend heran mussten. Gestriges Gelächter. Noch einmal davongekommen. Rente quasi schon durch und sicher.

Schon vorbei waren die Zeiten, als man aus der Kantine noch kästenweise Bier in die Redaktionen wuchten durfte. Doch halt! Auf demselben Büroflur ließen sie ja noch einen strammen Alkoholiker wie eine kuriose Zirkusnummer loslegen. Der brachte seinen Schnaps selbst mit. Sie feuerten ihn an und riefen lauthals „Ho-ho-hoooo!“, als er eine Pulle Wodka „auf Ex“ soff und dann wegtorkelte. Irgendwohin. Danach hätte die Dame ohne Unterleib auftreten können. Oder der dickste Mann der Welt.

Nichts weiter davon. Es war gar zu beschämend. Für die Zuschauenden.

Der eingangs erwähnte alte Knabe hatte ein Faible für obszöne Anklänge. Schier weglachen konnte er sich über den Namen eines vor Zeiten ausgemusterten Lokalpolitikers, welcher an Kauwerkzeuge erinnerte, wobei man wiederum an orale Sexpraktiken denken sollte. Heilige Einfalt! Immer und immer wieder rief er den Namen aus, der ihm so herrlich schweinös erschien. Ein jüngerer Kollege war unvorsichtig genug, ihm ein Foto seiner neuen Freundin zu zeigen. Fortan erkundigte sich das alte Ferkel immer quer über den Büroflur: „Herr ***, was macht die Fickerei?“ Auch eine Art des Grüßens. Besonders wirksam, wenn gerade eine Kollegin die Szene betritt.




Wertegemeinschaft? Man heuchelt sich so durch! – Notizen aus der Inneren Coronei (3)

Stempel drauf: der Autor kurz vor der Entwertung. (Foto: Herholz)

Von Karl Kraus stammt der Satz: „Je näher man ein Wort ansieht, desto ferner schaut es zurück.“ Genau diese Erfahrung mache auch ich in meiner Eber-Einzelbucht während der Pandemie noch häufiger als sonst.

Aber ferner schauen nicht nur einzelne Wörter zurück, sondern auch Begriffshubereien, ganze Sätze und der sowieso überall anzutreffende Holy Shit aus Politik, Medien und Religionen.

The Orange One

Womit man gleich bei ihm wäre: diesem von Evangelikalen mit Bräunungscreme gesalbten Donald Trump. Den hat die Sorge um sein Land so krank gemacht, dass er darüber zuletzt sogar graue Haare bekam. Über Nacht. Und Maske trägt er jetzt auch. Wie oft habe ich gedacht, dem müsste mal einer die Maske vom Gesicht reißen? Aber nun, da er sich sogar eine zweite aufgesetzt hat, würde das ja nichts mehr bringen. Immerhin bleiben jetzt große Teile seines Gesichts verdeckt. Fake America great again.

Aberglaubensgemeinschaften

Apropos Fake: Kürzlich las ich vom „Sektenbeauftragten der katholischen Kirche“. Müsste das nicht „Sektenbeauftragter für die katholische Kirche“ heißen? Mit zwei zurzeit noch lebenden Päpsten jedenfalls überbietet diese Sekte durch Vielfalt jede anderswo herrschende Einfalt und schrammt nur knapp an einer diesseitigen Heiligen Dreifaltigkeit vorbei.

Müdes Lachen, hellwach

Der Kalauer, schrieb einst Wolfgang Hildesheimer, sei der müde gewordene Witz. Mich aber hält er schön wach.

Überall Würstchen

In Köln, der nördlichsten Stadt Italiens, haben sie zurzeit große Probleme, weil die kommende Karnevalssession unter dem Motto „Nur zesamme sin mer Fastelovend“ gefährdet ist. Ach, irgendwie sitzen wir doch alle in einem Boot. Zum Glück nicht in einem vor Sizilien. Aber vielleicht reicht es zumindest im Frühjahr 2021 doch noch für ein solidarisch-interkulturelles „Alaaf un‘ Nacktbar!“. Dazu Bratwurst mit Senf, am besten vom Schlachter Tönnies, denn wo Tönnies draufsteht, ist oft auch Würstchen drin.

„Division Sausages: Die Nummer 1 …“ (Tönnies‘ Homepage)

Clemens Tönnies zählt zu den reichsten Menschen der Welt und soll ein Vermögen von zwei Milliarden Euro angehäuft haben. Man muss schon sehr viel Schwein … haben, um so viel Geld beim Ausnehmen von Schlachtvieh und Werkverträglern zu ergattern. Alles legal, ich weiß. Anderenfalls würden es Gabriel & Co. mit flammendem Lobbyisten-Schwert sicher schon richten. Müssen sie aber gar nicht. Vor knapp vierzehn Tagen ist bei Tönnies endlich der Bereich ‚Blutverarbeitung‘ wieder in Betrieb genommen worden. Das lässt doch für alle hoffen.

Die Träume der Soldaten

..,Blutverarbeitung‘ …, da fällt mir ein: Im Osten machen wir auch wieder mobil. Der MDR berichtet: „Der EU- und Nato-Partner Ungarn hat eine erste Lieferung von Leopard-2-Kampfpanzern erhalten. Deutschland plant in den nächsten Jahren Waffenlieferungen für mehr als 1,7 Milliarden Euro nach Ungarn.“ Bisher hat die Waffenschmiede Krauss-Maffei-Wegmann allerdings nur vier gebrauchte Leopard zu Schulungszwecken an Ungarn verscherbelt, doch der ungarische Verteidigungsminister gerät schon jetzt ganz aus dem Häuschen: „Der Traum vieler Panzersoldaten geht heute in Erfüllung.“

Ab 2023 erhält Ungarn dann 44 neue Leopard 2A7. Und feste dabei als Zulieferer ist – Kölner, merkt auf! – die Rheinmetall Group aus Düsseldorf. In deren Pressearchiv kann man nachlesen: „Rheinmetall ist bei dem Vorhaben Partner von Krauss-Maffei Wegmann (KMW). KMW hatte im Dezember 2018 von den ungarischen Landstreitkräften den Auftrag zur Lieferung von 44 neu gefertigten Kampfpanzern Leopard 2A7+ und 24 neu gefertigten Panzerhaubitzen PzH2000 erhalten.

Was macht Ungarn mit den deutschen Panzern?

Was macht Ungarn nur mit all den Panzern? Laut Faktenfinder der Tagesschau hat der Antidemokrat, Antisemit und Gegenaufklärer Viktor Orbán schon im Juli 2018 vor allerlei Anti-Christen gewarnt: „In Europa läuft gerade ein Bevölkerungswechsel. Teilweise deswegen, damit Spekulanten, (…), viel Geld verdienen können. Sie möchten Europa zerstören, weil sie sie sich davon große Profite erhoffen. Anderseits haben sie auch ideologische Motive. Sie glauben an ein multikulturelles Europa, sie mögen das christliche Europa nicht, sie mögen die christlichen Traditionen Europas nicht, und sie mögen Christen nicht.“

Ja, wenn das so ist. Da ist es nur recht und billig, dass bundesdeutsche Rüstungskonzerne Viktor Orbán bei der Verteidigung des Abendlandes unter die Arme greifen und die EU dazu äußerst hörbar schweigt. Sonst wüchse ja nicht zusammen, was zusammengehört.




Die Rettung des Planeten kann auch aus Poesie erwachsen: Andri Snær Magnasons aufrüttelndes Buch „Wasser und Zeit“

Wenn ein Thema dieser Zeit global und entsetzlich entgrenzt genannt werden kann, dann das wohl dringlichste überhaupt: der Klimawandel. Es ist denn auch viel mehr als ein „Thema“ unter anderen, es geht ja um die ganze Existenz des Planeten und unseres Daseins.

So darf es auch nicht verwundern, dass der isländische Autor Andri Snær Magnason für sein streckenweise aufrüttelndes Buch eine geradezu verwegene Mixtur anrührt, indem er beispielsweise vorzeitlichen und immer noch nachwirkenden Bezügen zwischen seiner karstigen Heimat und dem Himalaya nachspürt. Dermaßen auffällig erscheinen ihm landschaftliche, spirituelle und mystische Querverweise, dass es kein Zufall mehr sein könne, sondern höherer und tieferer Sinn darin liegen müsse, der jede dürre Schulweisheit übersteigt oder jedenfalls überhöht. Nicht nur mit Daten, sondern auch und vor allem mit Dichtung lasse sich vor Augen führen, wie schön das Verlorene war und wie ernst die jetzige Situation ist.

„Mit Gottes stillegeschwängerter Kosmosweite“

Der ungemein vielseitige Schriftsteller Magnason (Kinderbücher, Theaterstücke, Lyrik, Romane, Sachbücher), der auch schon mal bei der Präsidentschaftswahl seines Landes kandidiert hat, findet, dass wir noch gar keine adäquate Sprache gefunden haben für die drohenden Katastrophen, die ihn wiederum an die altisländischen Vorstellungen vom Ragnarök (Weltuntergang) gemahnen. Elemente der geistesgeschichtlich überlieferten „Romantik“, Naturanbetung und beseeltes Erzählen scheinen nach seiner Ansicht hierbei entschieden weiter zu führen als nur rationale Betrachtungen oder prognostische Berechnungen. In poetischer Diktion wird ein Gletscher-Erlebnis vollends überwältigend, so heißt es etwa in einem Text des Romantikers Helgi Valtysson: „Und dein Selbst verschmilzt wie eine bebend erklingende Saite mit Gottes stillegeschwängerter Kosmosweite…“ Für Magnason ist es keine Frage mehr, dass dieses Gefühl und seine natürliche Grundlage bewahrenswert sind. Freilich ließe sich das alles auch als Esoterik denunzieren, aber es gibt ungleich Wichtigeres zu tun.

Nach einer passenden Sprache suchen

Traditionelle isländische Sprechgesänge, noch von den Großeltern des Autors überliefert, korrespondieren mit einer damals noch recht intakten Natur, vor allem mit den mächtigen Gletschern, die nun längst dahinschmelzen; ein höchst beunruhigendes Phänomen, das abermals auf die Himalaya-Region bezogen wird, wo das Leben vieler Millionen Menschen vom alljährlichen Zyklus des Gletscherwassers abhängt. Wasser und Zeit…

An einem etwas anders gelagerten Beispiel sucht Magnason zu erläutern, wie Menschen ihre Lage gar nicht begreifen können, wenn sie keine passenden Worte für akute Zustände haben. So habe schon um 1809 der dänische Abenteurer Jørgen Jørgensen den Isländern erzdemokratische Freiheitswerte und Unabhängigkeit gepredigt, doch das Volk habe überhaupt nicht gewusst, wovon er da redete – und sei der dänischen Fremdherrschaft hörig geblieben.

„Jedes Leben ist eine Lebensaufgabe“

Das Buch führt in die Frühzeit der isländischen Gletscherforschung in den 1930er Jahren, die wiederum verwoben wird mit der Familiengeschichte des Autors, welche auch in andere Bereiche ausgreift. Wer kann schon von sich sagen, dass ein Großvater in die USA ausgewandert ist und dort als Arzt sowohl den Schah von Persien als auch Andy Warhol operiert hat? Wer kann mit Fug behaupten, ein Onkel sei weltweit ein Pionier bei der Rettung nahezu ausgerotteter Krokodile gewesen? Wie heißt es doch auf Seite 139 so allgemeingültig: „Jedes Leben ist eine Lebensaufgabe…“

Was einem zwischendurch wie bloße Abschweifung erscheinen mag, markiert in Wahrheit wohl die Spannweite der möglichen und (prinzipiell jedem zugänglichen) Lebenserfahrung, die eben potentiell auch rückwärts bis zu den Vorfahren und vorwärts bis zu Kindern und Enkeln reicht. Auch schon vor ergänzender Lektüre begründet dies eine Verantwortlichkeit für den Zustand der Welt. Die fassbare Dimension der Zeit umgreift mehr als das eigene Leben. Diese Einsicht bewirkt, dass man über sich und seine Generation hinausdenkt; dass man gewahr wird, wie sehr die Erde sich seit den Ahnen geändert hat, welche Verluste bereits eingetreten sind. Das Schicksal der Erde dreht sich derweil nicht mehr um zigtausend Jahre, es steht – so der glaubhaft erschreckende Befund – Jahr um Jahr mehr auf dem Spiel, ist vielleicht schon bald unwiderruflich besiegelt.

Welch eine Bürde für die Nachgeborenen!

Von immer neuen Seiten beleuchtet der Autor die gigantische Bedrohung. Gelegentlich scheint das Buch thematisch etwas auszufransen, doch nimmt es auch immer wieder die Hauptspur auf. Der Zufall (oder die Fügung?) wollte es, dass Magnason mehrfach Gespräche mit dem Dalai Lama führen durfte, dessen Weisheit in allen Dingen mit staunenswerter Zuversicht einhergeht, wie denn überhaupt gegen Schluss des Bandes einige Entwicklungen und Forschungen anklingen, in denen Lösungsansätze stecken könnten. Doch es geht eben nicht nur um Forschung, sondern zuallererst um Haltung und Entschlusskraft. Und Magnason ist überzeugt: Die jetzt heranwachsende ist die letzte Generation, die die Erde retten kann. Welch eine Bürde!

Andri Snær Magnason: „Wasser und Zeit. Eine Geschichte unserer Zukunft“. Aus dem Isländischen von Tina Flecken. Insel Verlag, 304 Seiten, 24 Euro.

 




„Hören Sie bald von Ihnen“: Mailwechsel mit einem chinesischen Online-Shop

Leute, ich bin zum ersten Mal auf einen jener windigen China-Shops (Online-Firmen ohne Adresse, Impressum etc.) hereingefallen, die unter rasch wechselnden, „deutsch“ klingenden Namen antreten und – gegen Vorauskasse – äußerst minderwertige Ware liefern, so ca. acht Wochen nach Bestellung; wenn überhaupt.

Corpus Delicti (Foto: BB)

Hätte ich vorher z. B. im Bewertungsportal trustpilot.de nachgesehen, hätte ich gewusst, dass Waren und Geschäftsgebaren dieser Herrschaften zu satten 87 Prozent wahrhaft unterirdisch mit „ungenügend“ beurteilt werden. Auch ich habe inzwischen dort meine Meinung hinterlassen. Meinen stellenweise absurden Mailwechsel mit den Shop-Betreibern (die ich hier nicht benennen mag) möchte ich der Mitwelt trotzdem nicht vorenthalten:

Es begann mit meinem Retouren-Wunsch, ein paar Schuhe für etwas unter 50 Euro betreffend:

Guten Tag, ich möchte die Ware zur Bestellung (folgt Bestellnummer) zurücksenden und den Kaufpreis zurückerhalten. An welche Anschrift soll ich die Ware senden?

Mit freundlichen Grüßen Bernd Berke

Daraufhin der Shop:

„Sehr geehrter Kunde, Danke für Ihre E-Mail.
Wir entschuldigen uns für die Unannehmlichkeiten, die Ihnen entstanden sind.
Können Sie uns sagen, warum Sie zurückkehren müssen?
Bitte hängen Sie die Artikel auf und machen Sie deutlich Fotos, um die von Ihnen genannten Probleme zu zeigen. Damit Ihr Problem rechtzeitig bestätigt und gelöst werden kann.
Hören Sie bald von Ihnen, vielen Dank.“

In der Tat hörten sie wieder von mir, nämlich dies:

Guten Tag, verschonen Sie mich doch bitte mit Ihrer Hinhaltetaktik. Auf Ihrer Homepage ist ausdrücklich eine Rücknahmegarantie vermerkt (siehe Screenshot) – bis zu 14 Tage nach Erhalt der Ware, ohne Angabe von Gründen. Aber ich nenne Ihnen sogar zwei Gründe:

Die Schuhe passen einfach nicht, sie sind zu klein. Außerdem sind sie von enttäuschend minderwertiger Qualität, sie riechen erbärmlich nach billigem Plastik. Beide Mängel lassen sich mit Fotos n i c h t darstellen.

Ich möchte die Schuhe zurückschicken und den Kaufpreis erstattet bekommen.

Also: Bitte jetzt die Adresse zur Rücksendung. Sonst können wir die Sache auch juristisch behandeln.

Gruß Bernd Berke

Nun wieder der Shop:

„Sehr geehrter Kunde,

Vielen Dank, dass Sie uns darauf hingewiesen haben.
Wir entschuldigen uns für die Probleme mit den von Ihnen gekauften Schuhen und für die Unannehmlichkeiten, die Ihnen entstanden sind.
Können Sie es behalten, weiterverkaufen oder verschenken? Wir möchten Ihnen 8 EUR als Entschädigung zurückerstatten. Was denken Sie? vielen Dank“

Weiterverkaufen oder verschenken soll ich sie also? Interessante Retouren-Variante. Sie verstehen offenbar nichts oder wollen jedenfalls nicht verstehen. Mit ihrer freundlichen „Begriffsstutzigkeit“ wollen sie einen anscheinend zermürben und von weiteren Schritten abhalten. Gar nicht so ungeschickt. Offenbar eine bereits vielfach erprobte Methode. Also muss man vielleicht etwas bestimmter auftreten? Hier also meine neuerliche Antwort, diesmal recht kurz:

8 Euro? Das ist ja wohl ein Witz. Retourenadresse jetzt und volle Rückerstattung – oder Ärger mit Anwalt! Gruß

Auch das hat nicht wirklich gefruchtet. Diese Mail erhielt ich nun:

„Sehr geehrter Kunde, Ich freue mich sehr über Ihren Brief. Bitte verzeihen Sie mir etwaige Unannliche.

Für erhaltene Artikel erhalten wir, dass Sie den Artikel behalten und behalten, ihn geschlossen haben oder Ihre Freunde zu geben. Wir können 12 Euro zurückerstatten oder Ihnen einen Gutschein von 12 Euro auss
Bargeldcoupons wahr Bargeld. Sie können in Zukunft andere Artikel auf unserer Website kaufen.

Wenn Sie eine Rücksendung zahlen müssen, müssen Sie die Rücksendung bezahlen und bezahlen, müssen Sie auch selbst Steuern zahlen. dass die Schuhe nicht beschädigt sind
Bitte senden Sie Sie den Artikel und eine Adresse Adresse: (von 14 Tagen nach Erhalt des Pakets):

An: (folgt eine ungemein komplizierte Anschrift in China. Rücksendung „natürlich“ auf meine eigenen Kosten. Und ich möchte wetten, dass sie einem die Ankunft der Ware niemals bestätigen werden).

Bitte geben Sie Sie uns die Tracking-Nummer und geben Sie Ihr PayPal-Konto ein

Bitte teilen Sie mich mir Ihre Wahl mit. Viele Dank.“

P. S.: Die fast 50 Euro habe ich inzwischen schon als schmerzliches „Lehrgeld“ verbucht. Aber der Mailwechsel macht allmählich Spaß. Fortsetzung folgt vielleicht. Mal sehen, zu welchen abenteuerlichen Vorschlägen sie sich noch hinreißen lassen?




Kurze und knackige Klarstellung: Nein, die Revierpassagen betreiben kein „Business“

Bei Facebook regiert bekanntlich der nach und nach angeblich allwissende Algorithmus. Sagt man so. Doch von wegen allwissend! Erstens ereilt einen dort meistens Werbung der absurdesten Art, die einen überhaupt nicht betrifft. Und zweitens haben sie eh keine Ahnung.

Wisset also: Die Revierpassagen sind kein „Business“, waren es nie und werden es nie sein. Zwar suchen wir prinzipiell (zu allem) fähige Mitarbeiter – und Mitarbeiterinnen (selbstverständlich: mwd). Aber nicht einfach so. Und leider auch nicht für Geld, da wir mit gelegentlicher Kultur-Berichterstattung selbst nichts verdienen. It’s the Ehrenamt, stupid!

Schade eigentlich. Erst recht in diesen Zeiten, in denen wir nichts lieber täten, als verbal Kulturschaffenden einen womöglich lukrativen Freiraum zu eröffnen. Allein: Die Verhältnisse, sie sind nicht so.




Gartenvernichtung mit Oberhalunkenmaschine

gartenfrevel - die riesige Oberhalunkenmaschine

Thomas Scherl: »Die riesige Oberhalunkenmaschine«, Tusche auf Zeichenpapier, 25x30cm, 2020

Der Nachbar hat ja das Haus verkauft – da, wo mein Atelier war, Ende April war Übergabe (an einen Arzt aus dem Krankenhaus übrigens, die hams ja) und seither sind dort alle möglichen Halunken zugange, die renovieren und was weiß ich.

Wer diese Burschen kennt, weiß, daß 98,7% der aufgewandten Energie in Schall umgesetzt werden, 92,3% in Dreck, 91,7% in Gestank und der Rest in das gewünschte Ergebnis.

Jetzt wütet in dem schönen alten Garten mit den schönen alten Bäumen und den schönen alten Büschen seit dem frühen Morgengrauen ein ruchloser Oberhalunke mit einer riesigen Oberhalunkenmaschine, die gleichzeitig schon tragende Bäume fällt und mundgerecht zerlegt, die Hecke und die blühende Büsche, in denen Vögel brüten, bis unter die Grasnarbe schneidet, den üppigen Rasen bis unter dieselbe mäht, die gute Mutter Erde bis dicht über den Erdkern aufwühlt und die Steine, ja, die Steine, alles gleich shreddert, pulverisiert, atomisiert und die Atome dann unter lautem Schreien der geschundenen Materie in ihre Elementarteile zerreißt, zerfetzt, zerbeißt, verletzt und meine armen Trommelfelle gleich mit und der Fallout der vernichteten Existenz legt sich wie ein Leichentuch über meine Skizzenbücher und mich.

Die Meisen, die Schmetterlinge, die Hummeln und die Bienen, die Katze, der Hund und ich verachten ihn und seine Maschine, deren Erfinder und den neuen Besitzer, der das nicht selber von Hand machen kann wie alle anderen auch, und den Geist, der meint, daß er nur genug Krach machen muß, damit was »Arbeit« ist, mit jeder Faser unserer Körper, Seelen und… tja, was noch?

Ich kann so nicht arbeiten.

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(Text und anderes auch auf scherl.blogspot.com)




Wer sind wir und wie viele? Oder: Von einer, die auszog, Corona-„Soforthilfe“ für Kulturschaffende zu erhalten

Etwas mehr als dies hier hätte es schon geben können. Hätte… (Symbolfoto: Bernd Berke)

Gastautorin Marlies Blauth über ihre höchst ärgerlichen Erfahrungen mit der (ausbleibenden) finanziellen Unterstützung durch das Land NRW:

„Worauf waaartet ihr denn noch?“ lautete die so beliebte wie blöde Frage unseres Sportlehrers, wenn wir etwas verhalten agierten und nicht sofort lospreschten: „Hopp-hopp-hopp-und-los“.

50 Jahre später klingeln solche Sprüche wieder in meinen Ohren, und zwar im Zusammenhang mit einem höchst merkwürdigen, ja zynischen Wettlauf.

Wir befinden uns bekanntlich in Corona-Zeiten. Allgegenwärtig die Angst, sich mit einer neuen, unwägbaren Krankheit zu infizieren. Die Nachrichten überschlagen sich. Innerhalb weniger Tage werden alle Veranstaltungen, gleich welcher Größe, bis auf Weiteres gestrichen, Museen und Galerien sind geschlossen, kleine Läden auch, allein die Lebensmittelgeschäfte bleiben geöffnet. Stay at home heißt das Motto.

Absagemails prasseln in mein Postfach. Ich hatte mir für April, Mai und Juni besonders viel vorgenommen, nun ist alles dahin: meine Lesungen, ein Workshop, Offene Ateliers, verschiedene Ausstellungsbeteiligungen, ein Vortrag. Meine Ausstellung im März hatte es schon schwer, denn die Galerie befindet sich, ausgerechnet, in der Nachbarschaft zu Heinsberg, dem bundesweit ersten Corona-Hotspot. Kaum jemand traute sich hin, nun muss ich meine Bilder vorzeitig abbauen. Viel Arbeit für nichts.

Kultur findet also fast nicht mehr statt, jedenfalls keine direkte und lebendige. Zwar werden Mengen digitaler Behelfchen ins Netz gestellt, die bringen aber kein Geld, fressen höchstens welches, wenn man professionelle Unterstützung will.

Das „arme Dier“ steht vor mir, ich fühle mich mutlos und klein. So geht es inzwischen den meisten KollegInnen, manche sprechen von „Berufsverbot“, anderen fehlen schlichtweg die Worte.

Was die Bundesländer versprochen haben

Da baut es doch auf, wenn die Bundesländer versprechen, den Kulturschaffenden „schnell und unbürokratisch“ unter die Arme zu greifen. Also auch „mein“ NRW, schön, schön. Ich höre es stündlich im Radio, bekomme entsprechende Mails: wegen Corona abgesagte Veranstaltungen sollen vergütet werden. Ein Lichtstreif am Horizont! Da denkt jemand an uns!

Wir müssen nur bescheinigen, bestätigen lassen, welche Veranstaltungen ausgefallen sind. Dann bekommen wir eine Einmalhilfe bis zu 2000 Euro (Reaktion von Nicht-Kulturschaffenden: mitleidiges Lächeln).

Aber doch wirklich schnell und unbürokratisch: nur noch den Ausweis scannen, die Mitgliedschaft in der KSK (Künstlersozialkasse) nachweisen … alles in Form einer Mail abschicken, das war’s.

Mühsam Nachweise sammeln

Ich komme mir fast hyperaktiv vor, sogleich die Absage der Wuppertaler Literatur-Biennale (und Angaben zum Honorar) schwarz-auf-weiß anzufordern. Die Bescheinigung kommt, mit allem Drum und Dran. Schwieriger ist es mit Lesungen, deren Eintritt/ Honorar auf Spendenbasis funktioniert: Was will man da nachweisen, zumal ja niemand für Nichts spendet? Oder Bücher von einem Büchertisch kauft, der gar nicht aufgebaut werden darf?

Gut, dann erstmal das andere. Der Workshop ist irgendwie in Worte zu fassen. Bezüglich einer Ausstellungsbeteiligung in einer Städtischen Galerie heißt es hingegen, dass der Veranstalter ja nicht die Stadt sei, und wenn der die Absage geschickt hat, soll er auch den Zettel ausfüllen. Nee danke, ich behellige keine Kollegen, die hatten schon genug Arbeit (für nichts) und besitzen im Übrigen auch keinen offiziellen Stempel. Also weiter: Ja, die zentral organisierten Offenen Ateliers fallen aus, ja, das können wir bestätigen.

Ich bin es gewohnt, wie ein Eichhörnchen zu sammeln. Diesmal also Formulare. Zeitweise beschleicht mich ein komisches Gefühl. Oder ist es nur der Frust, viel Mühe beim Anfordern der Unterlagen zu haben und gleich schon zu wissen, gar nicht auf diese 2000 Euro zu kommen, weil ja „eventuelle Bilderverkäufe“ überhaupt nie bescheinigt werden können? Wie denn? Was ist mit entgangenen Folge-Aufträgen? Alles viel zu nebulös.

„Es ist kein Geld mehr da!“

Und dann … dann erscheint plötzlich Hiob, wie ein Blitz schlägt seine Botschaft ein in mein bürokratisches Wartezimmer. Einige KollegInnen berichten verzweifelt, dass sie trotz vollständiger Antragsunterlagen keinen Cent, dafür eine Absage bekommen haben. Die Entschuldigung verwundert und verschreckt: Es ist kein Geld mehr da! Ab Ende März kann nichts mehr ausgezahlt werden, und wir befinden uns schon weit im April. Ich warte immer noch auf ein Formular. Mir ist nicht gut.

Am 24.4. habe ich alles zusammen. War die Deadline Ende April oder Ende Mai? Egal, ich bin noch in time. Mit klopfendem Herzen schicke ich mein digitales Paket ab. Einerseits bringt’s ja wohl nichts mehr, andererseits: trotzdem. Bloß nichts falsch machen jetzt. Man weiß ja nie: Wie ich erfahre, wird nach Möglichkeiten gesucht, den Geldtopf neu zu füllen.

Nachfrage bleibt ohne Antwort

Aber meine Mail kommt zurück. Not found. Neuer Versuch. Dreimal, viermal. Es hilft nichts, ich werde mein (doch nicht so unbürokratisches) Zeug einfach nicht los. Man will offenbar seine Ruhe haben jetzt, wo es ohnehin kein Geld mehr gibt; hat die hochoffizielle Mailadresse anscheinend gleich abgeschaltet, damit sich jede Antwort automatisch erledigt. Beweisen kann ich das natürlich nicht. Aber ich muss wohl annehmen, dass es so ist, denn ich habe den Sachverhalt in einer zweiten Mail an die zentrale Adresse der Bezirksregierung geschildert und warte bis heute auf Antwort. Nicht einmal eine Eingangsbestätigung. Nichts.

Da muss man sich doch fragen, wie Land und Leute so zur Kultur stehen – oder genauer: zu denen, die sie machen, schaffen, am Laufen halten. Das Thema Corona beherrscht nun seit Wochen die Medienwelt; zum Teil nachvollziehbar, manchmal aber verwunderlich, weil die Kultur gleichzeitig als eine Art verzichtbarer Luxus behandelt wird: Sie spielt nicht nur die zweite oder dritte Geige, sondern meistens gar keine. In einer WDR-Sendung (Lokalzeit Düsseldorf, 22.4.2020) hieß es lapidar (ich zitiere sinngemäß aus dem Gedächtnis): „Das Musikerpaar XY hatte Glück, es gehörte zu den 3000 Künstlern, die die Soforthilfe bekamen.“ Wie – Glück?

Ein Wettrennen, das man nur verlieren kann

Etwa 13.000 AntragstellerInnen gingen leer aus, wie man heute weiß. Heute. Vor wenigen Wochen, als die finanzielle Hilfe viel zu schnell viel zu laut angekündigt wurde, kannte man diese Zahlen anscheinend noch nicht. Warum nicht? Wenn doch die Registrierung in der KSK Voraussetzung war, warum hat man dort nicht nachgefragt? Und wenn man meint, sich auf Schätzungen berufen zu können: Wie kommt es, dass man sich um vier Fünftel vertan hat? Ja, richtig: Kultur wird unterschätzt. In welcher Hinsicht auch immer.

„Wie schön, dass du dein Hobby zum Beruf machen konntest“ – selbst freundliche Zeitgenossen sagen das und meinen es nicht einmal böse. Aber Kultur ist kein schönes Hobby, sondern Arbeit und Mühe mit der Absicht, der Gesellschaft etwas zu geben, das über ihre bloße alltägliche Existenz hinausweist. Ein Lebensmittel höherer Art; fängt übrigens bei „Esskultur“ an.

Hopp-hopp-hopp-und-looooos! So böse, Menschen in ein Wettrennen zu schicken, bei dem sie nur verlieren können. Oder gibt es jemanden, der sein unterdurchschnittliches Einkommen jemals mit einem Lottogewinn verwechselt hat?

Ja, worauf wartet ihr denn noch?

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Nachtrag am 24. Mai

Die Töpfe wurden neu gefüllt, so dass alle KünstlerInnen, die die aufgelisteten Kriterien erfüllen, bedacht werden können!

Doch … *plopp*! Das war jetzt meine optimistische Seifenblase.
Man musste seinen Antrag nämlich bis einschließlich 9.4. gestellt haben, sonst geht man … logisch? … leer aus. Das kann aber deshalb nicht logisch sein, weil es ursprünglich hieß, dass man den Antrag bis zum 31.5. (!) stellen kann. Ich habe nochmal in meinen Unterlagen nachgesehen, um dem schleichenden Gefühl entgegenzuwirken, dass ich langsam anfange zu spinnen. Aber nein, ich spinne nicht; zumindest gemäß der PDF-Datei, die mir vorliegt, hätte ich noch mehr als einen Monat Zeit gehabt, als ich meinen Kram am 24.4.2020 abschickte.

Dass die Mailadresse der Bez.-Reg. da schon deaktiviert war, konnte man immerhin jetzt offiziell erfahren. Zu gegebener Zeit hatte es ja nicht einmal zu einer automatischen Antwortmail gereicht, die mich und andere von jenem Eindruck hätte erlösen können, digital zu doof zu sein.

Nun also das, was zumindest nach dem Stand meiner Informationen aussieht wie eine dreiste Umdatierung.

Und ich? Bin zur Berufsnervensäge mutiert, die immer und immer Hilferufe absetzt, beispielsweise den Kulturrat NRW endlos mit Details und Nachfragen quält und auch sonst jeden noch so dürren Ast ergreift. Ist eigentlich nicht mein Job, so was.

Aber ich sehe bisher noch nicht ein, zwar alle Voraussetzungen bis auf dieses plötzlich hingebastelte Deadlinedatum erfüllt zu haben – und dennoch ein zweites Mal sagen zu müssen: außer Spesen nichts gewesen.

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Nachtrag am 26. August

Nicht zuletzt dank des unermüdlichen Engagements des Kulturrat NRW e. V., dem ich an dieser Stelle ausdrücklich danken möchte, erfuhr ich von der Möglichkeit eines Stipendiums, Bewerbung ab 10. August 2020. Ich skizzierte darin die Fortsetzung meines „Kohlestaub“-Projekts, gab, wie vorgeschrieben, zwei Referenzen an und im übrigen jede Menge Ziffern und Zahlen.

Nach der ersten Antragsrunde mit ihren zahlreichen Klippen und Engpässen erschien es mir fast wie ein Wunder, dass sofort Eingang und Bearbeitung meiner Bewerbung bestätigt wurden. Und, kaum zu glauben: Am Morgen hatte ich sie elektronisch abgeschickt, am Abend bekam ich die Zusage! Und nach 12 Tagen war das Geld überwiesen.

Ich freue mich sehr und danke für die schnelle positive Entscheidung.




Virus der Ratlosigkeit: Diese und jene Frage über Corona hinweg

Natürlich kein Virus, sondern ein Nahrungsbild, das während einer Speisenzubereitung in der Küche entstanden ist. Und nein: Es ist auch wirklich kein Spiegelei. (Foto: Bernd Berke)

Für virologische Expertisen sind wir hier absolut nicht zuständig. (Ich höre schon Euer Loriotsches „Ach was…“). Auch steht uns selbstverständlich keine politische Entscheidung zu, es sei denn: als indirekte Teilhabe im Rahmen unserer demokratischen Rechte (manche unken auch schon: unserer verbliebenen Rechte). Es interessiert einen im Überlebensfalle freilich schon sehr, wie diese, unsere Gesellschaft „nach Corona“ aussehen könnte. Daher diese oder jene ratlose Frage.

1) Wird eine gewachsene Mehrheit künftig in verstärktem Maße immer gleich nach dem Staat rufen, der gefälligst alles regeln und möglichst auch bezahlen soll? Wie verträgt sich das mit dem Anspruch so vieler Gruppierungen, selbst möglichst immer weniger Steuern zu bezahlen? Der Staats soll’s haben und richten – aber woher und womit?

2) Wird sich dieser etwaige Impuls der Staatsfrömmigkeit von Land zu Land unterscheiden? Werden etwa die Bürger Frankreichs widerspenstiger sein als „wir“?

3) Sollten wir nicht heilfroh sein, dass es hier bei allem nötigen Reglement demokratisch zugeht und die Menschen nicht – wie in furchtbar vielen autokratischen Ländern der Welt – brutal in die Quarantäne geprügelt oder ins Jenseits geschossen werden?

4) Gibt es neben den vielen, vielen, die wirklich bedürftig sind und auf Unterstützung hoffen, auch solche, die vorher schon halb in der Krise waren und sich nun mit dem Anker von Staatshilfe retten wollen? Wird die Bedürftigkeit überprüft oder wird im Überschwang alles durchgewunken?

5) Und wie verhält es sich mit den Profiteuren, deren Geschäftsmodell haargenau zur gegenwärtigen Lage passt? Sollten sie nicht etwas abgeben?

6) Nebenfrage: Wie halten es eigentlich die sogenannten „Reichsbürger“ mit den diversen Rettungsschirmen und Hilfspaketen? Die Idioten nehmen doch sicherlich gern Knete vom Staat, den sie ansonsten nicht anerkennen, oder?

7) Wer glaubt wirklich, dass die Reichen, Begüterten, Betuchten und Wohlhabenden ihr Geld überwiegend in lebenswichtiges Produktivvermögen gesteckt haben, in Fabriken, Maschinen, Personal – und es nur in ganz bescheidenem Maße zur persönlichen Verwendung antasten?

8) Ist es nicht erstaunlich, dass nun etliche Leute bereit sind, vorübergehende Staatseingriffe in die Wirtschaft, wenn nicht gar Verstaatlichungen bestimmter Bereiche hinzunehmen, die solcherlei Ansinnen vor kurzer Zeit noch als Teufelswerk bezeichnet hätten?

9) Ist außer den lukrativ Beteiligten jemand dagegen, das in den letzten Jahren teilweise kaputtgesparte und neoliberal privatisierte Gesundheitswesen wieder weitgehend in öffentliche Regie zu übernehmen?

10) Werden dann die Angehörigen der Pflegeberufe (und einige andere Berufsgruppen) endlich angemessen bezahlt? Hat man denn nicht gesehen, dass das Virus auch die Klassenfrage neu aufgeworfen hat?

11) Wird dem Staat künftig generell mehr überantwortet oder aufgebürdet? Soll er uns im Gegenzug allweil gängeln dürfen?

12) Werden viele Menschen nach staatlicher Autorität geradezu lechzen, nach der harten Hand des Staates?

13) Wird zugleich der Asozialtypus des „Blockwarts“ (und des Denunzianten) wieder hervortreten und dumpf auftrumpfen, der es den Hedonisten mal so richtig zeigt?

14) Haben nun auch die Apokalyptiker Hochkonjunktur?

15) Löst der um sich selbst besorgte „Prepper“ den Hedonisten als Rollenmodell ab? Haben beide etwa insgeheim Gemeinsamkeiten? Was unterscheidet den Prepper vom gewöhnlichen Hamsterer?

16) Mag man die schicksalsergebene Wendung „In den Zeiten von Corona“ noch hören?

17) Wird, sofern Corona vorüber oder zumindest behandelbar ist, hierzulande alles rasend schnell nachdigitalisiert? Werden wir in dieser Hinsicht gar zu Litauen und Albanien aufschließen?

18) Wird die wild ins Kraut geschossene Globalisierung zum Teil zurückgedreht? Werden lebenswichtige Güter künftig wieder häufiger in Deutschland und Europa hergestellt – zu deutlich höheren Kosten als Preis der Versorgungssicherheit?

19) Wird es eine Wiederkehr der Nationalstaaten als Leitbild geben? Kann das zu ungeahnten Animositäten führen, die man längst überwunden glaubte?

20) Wird der angebliche Trend zu seriösen Medien von Dauer sein? Widerstehen die meisten Menschen nun der Versuchung zu unsinnigen Verschwörungstheorien? Lauern Populisten schon seit Wochen auf ihre Chance?

21) Soll man jetzt wirklich Masken tragen? Wie muss man sich beispielsweise Schulklassenfotos vorstellen, auf denen alle mit Masken versehen sind?

22) Um nach den hauptsächlichen Teilen einer Zeitung zu fragen: Werden wir hernach eine andere Politik, eine andere Wirtschaft, eine andere Kultur, einen anderen Sport und andere Gemeinden haben?

23) Wird sich das Verhältnis zu Migranten und Geflüchteten ändern? Werden die Religionen und Konfessionen anders miteinander umgehen?

24) Wird man den Klimawandel und die Folgen in einem anderen Licht sehen?

25) Wann wird es Impfstoffe und Medikamente geben?

26) Wann dürfen wir wieder dieses und jenes tun?

27) Ist es nicht jammerschade, dass wortmächtige Intellektuelle wie der heute (von der Neuen Zürcher Zeitung) vorübergehend irrtümlich totgesagte Hans Magnus Enzensberger sich nicht zum Themenkreis äußern?

P. S.: Immerhin hat sich im Monopol-Magazin und im Cicero Alexander Kluge zu Wort gemeldet.

 




Home Office: Notizen aus der Inneren Coronei

Das Virus, das Papier und ich. (Foto: Herholz)

Wirklich kaum zu beschreiben, was ich gerade fühle, denke, wie ich gerade lebe. Alles schwankt zwischen Idyll und Apokalypse, Frühlingserwachen und Totenstarre. Oder, um im schrägen Bild zu bleiben: Ich sitze auf dem Rasiersitz unterm Damoklesschwert. Von hier aus sieht vieles ziemlich verzerrt aus, selbst so ein klitzekleines Virus wirkt erdballgroß. Da hilft nur kräftiges Gegensteuern.

Also Terrasse kärchern, Fenster putzen, Türen abwaschen, Hilfskoch lernen und der Frau auch sonst zu Diensten sein, selbst eine schöne Wohnung würde sonst sehr schnell sehr eng werden. Man könnte natürlich an Flucht denken, aber dann denkt man zugleich an das unerträgliche Leid von Flüchtlingen und bleibt lieber daheim, wo’s noch Sauvignon Blanc gibt. Doch selbst unter Alkoholeinfluss schlägt der Aktionismus langsam um in Lethargie. Eine Art existenzieller Lähmung. Ich zum Beispiel schlafe viel, aber nicht gut. Selbst die Träume strengen an, oft bin ich froh, morgens endlich aufwachen zu dürfen.

Muße im Auge des Orkans?

Viele empfehlen mir jetzt zu lesen, mich weiterzubilden, zu bewegen. „Don’t worry, be happy“? Als ob dieses „Stay At Home“ eine Kur ohne jeden Schatten wäre, in der man ganz entspannt zur Ruhe käme, Muße fände, gar in einen Zustand der Kontemplation geriete. Ich aber bin durchaus nervös, manchmal sogar ängstlich, schließlich kommt das Virus täglich näher, ich gehöre zur Risikogruppe der über Sechzigjährigen und schon jetzt ist absehbar, dass es demnächst kaum Beatmungsgeräte für alle geben dürfte. Und dabei bin ich doch gesetzlich versichert und zahle seit über vierzig Jahren ein! Habe schon überlegt, ob ich alles daransetze, mich in den nächsten Tagen noch rechtzeitig zu infizieren, damit man mich auf der Intensivstation von St. Euthanasius fristgerecht aufnimmt, bevor Triage-Ärzte mich als unwertes Leben aussondern müssen; Stichwort: alter weißer Mann, Vorerkrankung: chronische Patriarchitis.

ALDI lieben Leute

Gestern habe ich aus diesem Grund freiwillig gleich drei Supermärkte aufgesucht. Uns mangelte es tatsächlich an Toilettenpapier – und Walnusskernen (für leckeren Flammkuchen, Henkersmahlzeit à l’Alsace). Einkaufen war bisher eigentlich durchaus okay. Bei REWE haben wir neulich alle miteinander laut gelacht, als ein freundlicher Hüne einer Verkäuferin zurief: „Toilettenpapier? Keines? Was ist bloß los mit den Leuten. Haben die alle zwei Jahre lang nicht geschissen?“ Gute Frage.

Gestern bei ALDI in Buer jedoch wurde schon stärker am Lack der Zivilisation gekratzt. Ein Verkäufer dort hatte mir am Montag gesteckt, dass am Mittwoch ab 10 Uhr Toilettenpapier nachgeliefert würde. (Uhrzeit aus naheliegenden Gründen geändert.) So war’s dann auch, ungefähr. Nachdem ich mich schon eine Viertelstunde bei ALDI herumgedrückt hatte, wurde um 10.25 Uhr die Palette mit dem guten Vierlagigen in den Gang vors leere Mehlregal geschoben.

Ich stand vorne in der Warteschlange. Dass da gleich Bückware käme, hatte sich herumgesprochen. Der Verkäufer forderte uns diabolisch grinsend auf, die Plastikverpackung der hochgestapelten Lieferung „kokett. supersoft & saugstark“ doch selbst aufzureißen. Gesagt, getan. Weil von hinten gedrängelt wurde und von der Seite Querulator-Omas und eine Kopftuchfrauen-Gruppe heranstürmten (Wo ist die infektionsverhütende Burka, wenn man sie braucht?), gab ich in Notwehr einige Packungen nach hinten und zur Seite durch, dann nahm ich mir selbst eine und entkam der schwer atmenden Menschentraube in Richtung Kasse. Geschafft! Denkste.

Kasse und Schlange

Plötzlich hörte ich hinter mir die Stimme eines älteren Herrn, der eine durchaus gut situierte Dame zu mehr Distanz aufforderte, weil die nicht auf die Markierung des Sicherheitsabstandes geachtet hatte. Doch die zündelte zurück: „Jaja, nu bleibense ma ruhig.“ Der Herr allerdings wies mit Recht darauf hin, dass es hier auch um seine Gesundheit ginge und der Sicherheitsabstand nun mal sinnvolle Vorschrift sei. Zugegeben, er klang etwas besserwisserisch, aber kein Grund dafür, dass die Dame erst loskeifte, sich dann in Rage brüllte und den gesamten Kassenbereich als Bühne nutzte, um sich als Mansplaining-Opfer zu inszenieren.

„Diese Striche da sind mir scheißegal. Ich habe vor zwei Tagen meinen Vater verloren, da habe ich ganz andere Sorgen als Ihren Scheißsicherheitsabstand.“ Ob dieser Logik waren wir alle etwas perplex. Über allen Kunden standen Comic-Denkblasen: Vater tot, herzliches Beileid, aber deshalb sollen als Kollateralschaden zur Not auch ein paar andere dran glauben? Als der Herr es wagte, noch etwas einzuwenden wie „Tut mir leid für Sie, aber das ist kein Grund hier so …“ konterte die Dame mit einem herzhaften „Dann bleiben Sie doch mit Ihrem Arsch zu Hause, wenn Ihnen das hier nicht gefällt.“
So viel zur Nächstenliebe in den Zeiten von Corona.

Was wird erst geschehen, wenn Produzenten und Transporteure wichtiger Nahrungsmitteln massenweise erkranken, wirklicher Mangel eintritt und härtere Verteilungskämpfe ausgefochten werden?

Hellsichtiges in dunklen Zeiten

Und wem könnte das nützen? „Follow the money“, dieses Motto zur Bekämpfung Organisierter Kriminalität drängt sich doch regelrecht auf. In den besten Momenten meiner derzeitigen Unruhe sehe ich alles sehr, sehr klar:

Das Corona-Virus wurde in geheimen Laboratorien der CIA entwickelt, um amerikanische Heuschrecken zu stärken und deutsche Ökonomie zu schwächen. Details gefällig? Die Strippenzieher gehen von der begründeten Hoffnung aus, dass der Ex-BlackRocker Friedrich Merz spätestens 2021 Kanzler wird. (Zwar ist der jetzt selbst an Corona erkrankt, doch das ist bloß ein Ablenkungsmanöver, so wirkt er umso unverdächtiger. Außerdem gibt’s längst ein Antivirus für den Inner Circle des großen Geldes und seine Handlanger.)

Merz wird also Kanzler und kann dann ungehindert die profitable Privatisierung der Rentenversicherung vorantreiben und dafür sorgen, dass die DRV an den US-amerikanischen Hedgefonds BlackRock verscherbelt wird, der für eine Übergangszeit alle Einnahmen und Ausgaben der DRV zu übernehmen hat, bevor er mit dem Pensionsfonds zu spekulieren beginnt. Damit sich die Übernahme für BlackRock aber richtig lohnt, muss die DRV zuvor ihre Rücklagen sichern und Ausgaben senken. Verstehen Sie? Je weniger Rentner/innen das Corona-Virus 2020 überleben, desto besser für BlackRock, weil die Ausgabenseite der DRV grundbereinigt wird. Für alle aus Politik, Wirtschaft und Verwaltung, die an diesem Deal beteiligt sind, wird gesorgt werden, versprochen. Noch Fragen? Na, sehen Sie.

Auf was man so alles kommt, wenn man mit dem Arsch zu Hause bleibt.




Jetzt geht es um den ganzen Lebensstil

Wenig originelles Bild zu den „dunklen Wolken, die da heraufziehen“, aber ich hab‘ in eigenen Beständen auf die Schnelle nichts Besseres gefunden. (Foto: BB)

So. Wir sind an einem Punkt angekommen, an dem es nicht mehr um einzelne bzw. kollektive Absagen geht – sei’s auf kulturellem oder sportlichem Felde. Was soll’s denn, ob die Bundesliga-Saison nun unterbrochen oder ganz abgebrochen wird?

Es geht inzwischen um unseren ganzen Lebensstil, ja überhaupt ums Ganze. Wenn Bundeskanzlerin Merkel rät, die sozialen Kontakte auf nötigste Mindestmaß zu begrenzen, ist denn doch – bei aller scheinbaren äußeren Gelassenheit – eine ziemliche Anspannung spürbar.

Wir dachten schon, ein neues (Bionade)-Biedermeier habe sich in gewissen urbanen Vierteln längst etabliert, dabei steht erst jetzt der allgemeine Rückzug in die Stuben an. Gartenlaube revisited?

Endlich, endlich schließt auch NRW die Schulen und Kitas

Du meine Güte! Wie relativ lang hat Deutschland, hat speziell Nordrhein-Westfalen gebraucht, um sich zu Schul- und Kita-Schließungen ab kommenden Montag durchzuringen – und das im Fall von NRW als Bundesland mit den weitaus meisten Corona-Infektionen. Hätte man in diesem Sinne nicht spätestens heute gehandelt, hätte NRW-Ministerpräsident Armin Laschet wohl seine Ambitionen auf CDU-Vorsitz und nachfolgende Kanzlerkandidatur gleich aufgeben können. Vielen Beobachtern galt und gilt er als „Zauderer“. Gerade hierbei hätte sich das nicht bestätigen dürfen.

Eine solche Lage hat es seit Kriegsende nicht gegeben. Frankreichs Präsident Macron zieht den historischen Bogen noch weiter und spricht von der größten medizinischen Krise seit 100 Jahren. Gemeint ist die jetzt wieder oft herbeizitierte „Spanische Grippe“, die um 1918/19 weltweit unfassbare 50 Millionen Todesopfer gefordert hat und damit, was die bloßen Zahlen anbelangt, noch verheerender gewirkt hat als die Weltkriege.

Schwindet die frohe Weltzugewandtheit?

Gerade um die italienische Lebensart (Italianità) machen sich italophile Journalisten und andere, dem Süden herzlich zugeneigte Menschen neuerdings erhebliche Sorgen. „Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn?“ Nein, man erkennt es nicht mehr wieder. Stirbt hier auch schrittweise die Lebensfreude, schwindet nach und nach die frohe Weltzugewandtheit? Geht nun ausgerechnet Italien den Weg in die innere Einkehr? Oder wird all die Freude wiederkehren?

Und überhaupt: der Westen. Was wird aus der üblichen Event-Kultur, was ist mit der landläufigen Erlebnisgier, mit dem gewöhnlichen Hedonismus? Gab’s da nicht mal jenes Buch mit dem Titel „Wir amüsieren uns zu Tode?“ Lang ist’s her. Treibt es uns nun noch mehr in die vereinzelnde Digitalisierung? Oder wirkt sich die Krise gar als gesellschaftlicher Kitt aus, als Anstoß zum Zusammenhalt? Man möchte es hoffen, doch da bleiben auch große Zweifel. Wo so viele Leute ohne Sinn und Verstand Toilettenpapier horten oder sogar aus Kliniken Desinfektionsmittel klauen (in der Phantasie male ich mir passende Strafen dafür aus), ist Solidarität offenbar kein weithin praktiziertes Allgemeingut.

Drastische Maßnahmen und Galgenhumor

Trotz der (verspäteten?) Schulschließungen geht’s bei uns noch vergleichsweise moderat zu. Die Schweiz verbietet Veranstaltungen mit über 100 (nicht: über 1000) Teilnehmern, in Belgien werden auch die Restaurants geschlossen, in Österreich bleiben Geschäfte jenseits des Lebensbedarfs dicht, die Restaurants schließen um 15 Uhr; Polen und Dänemark riegeln ihre Grenzen ab. Als deutscher Staatsbürger darf man ohnehin längst nicht mehr in alle Länder des Erdballs reisen. Viele weitere drastische Beispiele ließen sich nennen. Und wer weiß, wer am Ende wirksamer gehandelt hat.

Auch Galgenhumor macht sich breit, wie eigentlich immer, wenn’s ungemütlich (oder schlimmer) wird: Just heute twittern Tausende zum Hashtag-Thema #CoronaSchlager, will heißen: Man dichtet bekannte Schlagertexte der letzten Jahrzehnte aufs Virus und seine Folgen um. Wenn’s denn der Entspannung dient und nicht ganz und gar zynisch wird…

Die Professoren Drosten und Wieler haben das Sagen

Die beinahe täglich live übertragenen Presskonferenzen von der Corona-Front lassen allmählich den Eindruck aufkommen, die Professoren Christian Drosten (Charité) und Lothar Wieler (Robert-Koch-Institut) seien inzwischen die eigentlich Regierenden im Lande. Sie haben buchstäblich das Sagen. Jedenfalls können die politisch Verantwortlichen in dieser Situation schwerlich ohne solche Fachleute auskommen. Prof. Alexander Kekulé (Uniklinik Halle) wäre demnach mit seinen deutlich abweichenden Meinungen so etwas wie die Opposition. Schon recht früh hat er gefordert, was jetzt geschehen ist: „Coronaferien“ in den Schulen und Absage größerer Zusammenkünfte.

Um nur nicht missverstanden zu werden: So weit man es als Laie und Medienkonsument beurteilen kann, machen Drosten und Wieler (mit ihren Teams) einen großartigen Job, sie bleiben angenehm nüchtern und sachlich, wobei man dennoch die Dringlichkeit ihrer Anliegen nicht verkennen kann. Das gilt übrigens auch für Bundesgesundheitsminister Jens Spahn, der selbst nicht die medizinische Expertise haben kann, es aber offensichtlich versteht, fähige Leute als Berater heranzuziehen.

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P. S. zum Fußball: Ohne Zuschauer im Stadion macht die Kickerei eh keinen Spaß mehr, Sky & Co. haben mit den „Geisterspielen“ sozusagen leblose Materie übertragen. Meinetwegen soll die Liga jetzt mit der Saison aufhören, die Bayern halt zum Meister erklären (das sage ich als Dortmunder) oder – besser noch – diese Spielzeit ganz ohne Titel beenden, die jetzigen Tabellenplätze nur für einen künftigen europäischen Wettbewerb zählen lassen etc. Auf- und Abstieg ließen sich auch regeln, indem z. B. die 1. Liga aufgestockt würde, also niemand ohne Spielentscheidung absteigen müsste. Das alles wird sich finden und ist ganz und gar nicht lebenswichtig.

Ganz abgesehen davon ist es vielleicht ein soziales Experiment: Wirkt sich das Fehlen des Vereinsfußballs gesellschaftlich aggressionshemmend oder aggressionssteigernd aus? Anders gewendet: Befördert oder kanalisiert der Fußball die Gewaltsamkeit?




Sturm „Sabine“ – War denn wirklich was?

Seit Tagen werden wir vor dem gefährlichen Sturm bzw. Orkan „Sabine“ gewarnt und haben – wie viele andere Leute ebenfalls – auch diese oder jene Vorkehrung getroffen. Erst sollte es um 16 Uhr heftiger werden, dann um 17 Uhr. Ach, Sabine, wo bleibst du denn? Naja, ein paar Windstöße hat es schon gegeben.

Vorsichtshalber Mülltonnen hingelegt und Deckel mit Paketband zugeklebt, denn: Bei früheren Stürmen fielen die Dinger schon mal um und verstreuten Abfall. (aufregendes Sensations-Foto: BB)

Doch was ist weiterhin passiert? Sonntags um 20 Uhr und um 21.30 Uhr herrscht allenfalls ein mittelstarker Wind mit gelegentlichen Böen, nachdem es nachmittags ein bisschen ungemütlicher zu werden schien. Aber auch das bewegte sich eher auf der Skala des einigermaßen Gewöhnlichen. Jedenfalls kein Vergleich mit all der Unbill, die uns verheißen worden ist. Und kein Vergleich mit der elementaren Wucht früherer Stürme.

Nun schaut aber auf all die Liveticker, die schon den ganzen Sonntag über angeworfen werden und schließlich irgendwie „gefüttert“ werden müssen, damit sich die Sonntagsdienste auch lohnen. Da wird beinahe jeder halbwegs dicke Ast vermeldet, der vom Baume gefallen ist, und jeder mittelgroße Feuerwehr-Einsatz bekommt ein paar Zeilen extra. Wobei ein Zahlenvergleich interessant wäre: Wie viele Einsätze hat es an den letzten Sonntagen gegeben? Waren es heute wirklich exorbitant mehr Alarm-Situationen? Und welcher Anteil verdankt sich der Hysterie, die im Vorfeld eifrig geschürt worden ist?

Unterdessen hat die Deutsche Bahn, gleichsam vorsorglich, ihren kompletten Betrieb eingestellt. Schon zuvor hatte sie prophylaktisch vor Bahnfahrten zwischen Sonntag und Dienstag gewarnt. Mal ehrlich: Wir haben es auch nicht anders erwartet. Kaum fallen im Herbst die ersten Blätter, herrscht bereits gelinde Panik beim einstigen Staatsbetrieb.

Aber die Bahn ist nicht allein mit ihrer Schnappatmung. Veranstaltungen aller Art (Sport, Kultur etc.) sind abgesagt worden, etliche (nicht alle) Ruhrgebiets-Städte schließen am Montag sämtliche Schulen, andere Kommunen stellen die Entscheidung den Eltern frei, ob sie ihre Kinder zur Schule schicken wollen. Da die Bahn höchstwahrscheinlich nicht fahren wird und somit ein Autoverkehrs-Chaos nach sich ziehen dürfte, steht man tatsächlich vor einem Dilemma.

Und all diese Absagen fließen wiederum in die Liveticker ein, obwohl sie ja erst einmal vorsorglich angeordnet worden sind; wohl nicht zuletzt, damit man juristisch und haftungsrechtlich auf der sicheren Seite ist. Aber es plustert die ansonsten ziemlich nichtigen Nachrichten auf. Die Medien, die hier mäßigend und relativierend zur Sache gehen, muss man mit der Lupe suchen. Falls man sie überhaupt findet.

Es scheint so, als stünde die allzeit befeuerte Aufregung (auch in diesem Falle) in keinem vernünftigen Verhältnis mehr zu wirklichen Vorgängen. In früheren Zeiten hätte man um derlei Wetter-Kapriolen nicht halb so viel Aufhebens gemacht.

Irgendwann stand dann doch fest, dass es insgesamt nicht so schlimm gewesen ist – der nächtliche Stand der Dinge, frühmorgens geliefert. (Screenshot: Liveticker der Ruhrnachrichten)

Und ja: Man darf nicht selten durchaus ähnliche Missverhältnisse zwischen Aufregung und Geschehen vermuten, wenn es um sonstige Nachrichten-Fährnisse geht. Klar ausgedrückt: Jede Menge Peanuts und Petitessen werden aufgebauscht, bis man irgendwann gar nicht mehr hinhören mag.

Einer der Höhe- oder Tiefpunkte (je nach Betrachtungsweise) war heute im Liveticker der Ruhrnachrichten zu lesen. Nach Einstellung des Bahnverkehrs, so hieß es, machten Dortmunds Taxifahrer am Hauptbahnhof das Geschäfts des – Achtung! – Jahrhunderts… Was hat derlei lachhafte Großmäuligkeit noch mit Journalismus zu tun?

Aber egal. Nach zwei bis drei Tagen redet eh kaum noch jemand drüber. Dann stürzen sich die dauererregten Betreiber der Liveticker wieder auf den nächsten Skandal, Hype, Shitstorm oder dergleichen Zeugs.

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P. S.: Ich kann im Falle „Sabine“ nur aus Dortmunder Nahsicht reden. Mag sein, dass anderorts deutlich mehr vorgefallen ist. Mag auch sein, dass es sich nachts noch steigert. Dann werde ich Abbitte leisten.

 




It’s done! Der „Brexit“ ist da. Und jetzt?

So sieht’s (immer noch) aus, wenn man auf die Felsen von Dover zukommt. (Foto: Bernd Berke)

Ich mach’s jetzt kurz, weil sich das alles soooooo elend lange und windungsreich hingezogen hat. Sozusagen ein kurzer Brief zum langen Abschied, denn der Tag ist gekommen, an dem – finally! – der allweil beschworene „Brexit“ sein schauriges Haupt erhebt und überhaupt erst konkretere Gestalt annimmt.

Morgen sind „sie“ also draußen. Oder, wie manche Engländer es gerne umgekehrt betrachten: Dann sind wir alle draußen; wir auf dem nicht allzu bedeutsamen europäischen Kontinent. Froschfresser, Krautfresser und all die anderen bedauernswerten, kläglich isolierten Festland-Kreaturen in der EU.

All die dreisten Lügen

Wir wollen n i c h t noch einmal rekapitulieren, wieviel Rule-Britannia-Wahnwitz und welche turmhoch aufgestapelten, dreisten und tolldrastischen Lügen erforderlich waren, um es so weit zu bringen. Auch die (nicht) gehandelt habenden Personen nennen wir nicht abermals. Ihr wisst ja eh Bescheid. Und die wirtschaftlichen Folgen? Wir und jene da drüben auf der Insel werden schon sehen, was wir davon haben… Manche meinen, es werde gar nicht so schlimm kommen. Wait and see.

Very British, indeed: Impression aus Canterbury. (Foto: Bernd Berke)

Wir wollen allerdings doch noch einmal innehalten und die spezielle Sehnsucht in unseren Herzen bewegen, die einen erfasst, wenn man etwa per Schiff auf Englands südöstliche Küste zufährt und die Felsen von Dover erblickt. Ähnliche, wenn auch keineswegs gleiche Gefühle können einen freilich auch bei der Anreise nach Irland oder Schottland beschleichen.

Coming home

Paradox genug: Die Ankunft in England ist, so exzentrisch dann auch manches Folgende anmuten mag, eine Art Heimkommen. Ein seltsames Heimkommen in ein ganz anderes, fremdvertrautes Land, das letztlich doch wirklich recht weit vom Kontinent entfernt liegt; viel weiter, als Seemeilen oder sonstige Maße es ausdrücken können. Fast möchte man es begrüßen, dass diese Art von Fremdheit, von Andersheit nun wohl erhalten bleibt und womöglich sogar wieder anwächst. Andererseits… Nothing is easy.

Ein Trost bleibt uns, bei allem möglichen Trennungs-Phantomschmerz. Die Briten schwimmen uns ja – in absehbarer Zeit – nicht weg. Und dabei reden wir an diesem historischen Tag ausnahmsweise mal nicht vom Klima und vom Anstieg des Meeresspiegels. Ab morgen oder übermorgen dann wieder. Jaja, beizeiten auch über Corona. Und sogar über Hochkultur.

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P.S.: Stimmt. Das Beste am ganzen Brexit-Prozedere waren eh John Bercows „Oooooorder!“-Rufe im Unterhaus.

P.P.S.: Genau. Am 31. Januar schließt sich auch das winterliche Transferfenster der Fußball-Bundesliga. Mal gucken, wen „uns“ die finanziell übermächtigen englischen Clubs wieder weggekauft haben. Achtung, durch die Haarnadelkurve geht’s doch noch ins Ruhrgebiet: Kloppo wird doch nicht etwa beim BVB gewildert haben wollen?