Landschaft mit Goldrand: Ausstellung zelebriert „1250 Jahre Westfalen“

Der vergoldete Silberschrein des heiligen Liborius, des Paderborner Dom- und Bistumspatrons, sonst im benachbarten Diözesanmuseum beheimatet, gehört zu den prachtvollsten Schaustücken der Westfalen-Ausstellung des Museums in der Kaiserpfalz. (Foto: LWL / B. Mazhiqi)

Welcher Gedanke liegt wohl nahe, wenn eine große Ausstellung „775 – Westfalen“ heißt? Nun, dann wird der Landesteil wohl 775 Jahre alt werden? Weit, weit gefehlt: Er wird vielmehr stolze 1250 Jahre alt.

Die „775″ steht dabei für die Jahreszahl der allerersten Erwähnung des Namens in einer Urkunde, etwas genauer: in den Reichsannalen jener Zeit, verfasst am Hofe Karls des Großen. Nun ist das unschätzbar wertvolle Zeitdokument in einer frühen, aus der Pariser Nationalbibliothek geliehenen Abschrift (entstanden um 820, in einer Abtei bei Lüttich) im Paderborner LWL-Museum in der Kaiserpfalz zu sehen.

Ankerprojekt eines weit ausgreifenden Themenjahres

Wir reden vom zentralen Ankerprojekt eines ganzen Themenjahres, das der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) ausgerufen hat und das 44 größere Maßnahmen umfasst, die sich zu weit über 300 Einzelveranstaltungen verzweigen. Rund 3 Millionen Euro beträgt die gesamte Fördersumme der LWL-Kulturstiftung. An der heutigen Ausstellungseröffnung in Paderborn hat auch der Schirmherr, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, teilgenommen, u. a. flankiert vom NRW-Ministerpräsidenten Hendrik Wüst. Die Schau macht einen streckenweise hochveredelten Eindruck, mit geradezu feierlicher Illumination und zahlreich schimmernden Goldtönen. LWL-Kulturdezernentin Barbara Rüschoff-Parzinger hofft auf rund 60000 bis 80000 Ausstellungs-Besuche. Solche Zahlen wären auch finanziell hilfreich.

Von den Franken besiegt und erstmals erwähnt

Kurz zurück zur erwähnten karolingischen Urkunde. „Die“ Westfalen (also nicht der noch gar nicht definierte Landesteil, sondern die Leute) fanden nebst anderen Volksstämmen – Ostfalen und Engern – Erwähnung als durch die Franken Besiegte. Damit war der Begriff schriftlich in der Welt und konnte sich durch die Epochen realiter vielfach entfalten – etwa als Herzogtum Westfalen um 1180, mit einem klimatisch bedingten, für Getreideanbau günstigen Boom um 1200 und einem ebenfalls klimatisch eingeleiteten Niedergang im 14. Jahrhundert (Stichwort „Wüstungen“), viel später dann als Schauplatz des Westfälischen Friedens (Münster/Osnabrück) anno 1648, mit dem der Dreißigjährige Krieg endete.

Wiederum ein ganz anders geartetes Land war sodann ab 1807 das französisch regierte „Königreich Westphalen“ unter Jérôme Bonaparte, dem jüngsten Bruder Napoleons. Seinerzeit zählten übrigens weder Münster noch Dortmund hinzu, die wir heute als die westfälischen Metropolen betrachten. Westfalens Hauptstadt hieß damals Kassel. Gar manche Westfalen begrüßten die gewachsenen bürgerlichen Freiheiten unter französischer Herrschaft, doch bald regte sich Unmut, weil Napoleon westfälische „Landeskinder“ als Soldaten für seinen Russlandfeldzug rekrutieren ließ.

Die Schau endet mit den Folgen des Wiener Kongresses von 1815, mit dem die napoleonische Ära endete und Preußen die Grenzen seiner Provinz Westfalen neu und dauerhaft festlegte. Damit wurden auch bis heute prägende Grundmuster der Infrastruktur geschaffen.

Ein „Wanderweg“ durch die Lande und Zeiten

Die Ausstellung breitet ihre Schätze (etwa 500 Exponate) auf rund 1000 Quadratmetern in Form eines „Wanderweges“ durch Lande und Zeiten aus. Ein Epilog, basierend auf Umfragen unter westfälischen Bürgern der Gegenwart, zeichnet schließlich Zukunfts-Perspektiven – nicht zuletzt visualisiert mit Hilfe Künstlicher Intelligenz (KI), die heute ja nirgendwo fehlen darf.

Eine Leitfrage der gesamten Unternehmung lautet: Was macht denn eigentlich Westfalen aus? LWL-Landesdirektor Georg Lunemann ist überzeugt, dass die heutige Heimat von rund 8,3 Millionen Menschen schon immer ein gesellschaftliches „Versuchslabor“ gewesen sei. Ein Menschenschlag habe diese Landschaft geprägt, der zwar zurückhaltend und bodenständig, aber auch stets prinzipiell offen (gewesen) sei. Hier wolle man die Probleme anpacken statt sie nur zu verwalten oder zu vertagen. Nun ja, so oder ähnlich muss man es als LWL-Chef wohl sagen. Westfalen war und ist im Vergleich zum Rheinland jedenfalls ländlicher geprägt und hat auf deutlich mehr Fläche weniger Einwohner. Selbst die westfälischen Ruhrgebietsstädte entstanden auf vormals ländlichen Arealen erst spät und dafür umso rasanter.

Ein Tragaltar für den Paderborner Bischof aus dem 12. Jahrhundert, gefertigt aus Eichenholz, vergoldetem Silberblech, Steinschmuck und Perlen. (Foto: LWL / B. Mazhiqi)

Als die Region bis zur Ostsee reichte

Martin Kroker, Leiter des Paderborner Museums in der Kaiserpfalz, legt Wert auf die Feststellung, dass es keineswegs eine klare, durchgehende Linie von 775 bis 1815 oder gar bis heute gebe, was Westfalen anbelangt. Größere Eindeutigkeit entstand erst mit der preußischen Ordnung im 19. Jahrhundert, namentlich unter Ägide des Freiherrn vom Stein. Zuvor hatten die als „westfälisch“ wahrgenommenen Ländereien zeitweise bis zur Ostsee gereicht, die eingangs der Ausstellung gezeigten alten Karten sind für heutige Begriffe geradezu verwirrend.

Die jetzige Gestalt ist eben erst nach und nach entstanden. Westfalen, wie wir es kennen (oder zu kennen glauben), konkretisierte sich erst allmählich im 19. Jahrhundert, damals entstanden zahlreiche Heimatvereine, einschlägige Denkmäler wurden errichtet und das treuherzige „Westfalenlied“ (1868/69) ward komponiert. Aus all dem leitet sich die generelle Erkenntnis her, dass Westfalen – wie so vieles, ja eigentlich alles – eine dem historischem Wandel unterworfene „Konstruktion“ ist, mit der sich die Menschen dann freilich im Idealfalle identifizieren können. Und überhaupt: Was Westfalen bedeutet, wird stets von Menschen bewirkt.

Die Ausstellung sucht den schier unerschöpflichen Themenkreis vor allem mit archäologischen Funden und markanten Schriftstücken zu fassen. Der Wanderweg wird freilich auch von in Westfalen gewachsenen Pflanzen begleitet, was den Museumsleiter Martin Kroker zunächst beunruhigt hat. Pflanzen neben uralten Schriften? Und was war mit womöglich schädlichen, feuchten Ausdünstungen? Nun, die begleitende Vegetation gedeiht hier völlig ohne Wasser, sie wird aber bis zum Ende der Ausstellung u. a. mit Glycerin konserviert. Gewusst wie! Jedenfalls ist man dank Pollenanalysen heute in der Lage, die westfälische Pflanzenwelt seit der Karolingerzeit im Wesentlichen zu bestimmen.

Abendmahls-Gemälde mit westfälischem Schinken

Und so schreitet man entlang früher Waffenfunde aus kriegerischen Zeiten, bestaunt Zeugnisse der Christianisierung, die mit etlichen Klostergründungen als „Erfolgsmodell“ dargestellt wird, belegt auch durch prachtvolle Altarbilder westfälischer Provenienz. Eine Abendmahls-Darstellung enthält gar typisch westfälischen Schinken als kulinarische Dreingabe. Weitere Höhepunkte sind etwa der kostbar vergoldete Paderborner Libori-Schrein, die penibel ausgetüftelte Sitzordnung zu den Verhandlungen über den Westfälischen Frieden oder die barocke Pracht westfälischer Fürstbischöfe.

Kritische Seitenblicke bleiben nicht aus. So gab es im Gefolge der Befreiungskriege auch in Westfalen nach 1815 nicht nur romantische Verklärungen der Region, sondern auch nationalistisch gewendete Überhöhungen. Manche Westfalen verstanden und gerierten sich nun als die allerbesten und echtesten Deutschen. Da sind einem die „sentimentalen Eichen“, die Heinrich Heine in Westfalen als knorrig-liebenswerten Menschentypus erlebte und bedichtete, doch allemal lieber.

„775 – Westfalen. 1250 Jahre Westfalen“. Paderborn, Museum in der Kaiserpfalz, Am Ikenberg 1 (neben dem Dom). Vom 16. Mai 2025 bis 1. März 2026. Täglich außer montags 10-18 Uhr, jeden ersten Mittwoch im Monat 10-20 Uhr. Eintritt 11 Euro, ermäßigt 6 Euro, Kinder/Jugendliche unter 18 Jahren kostenlos. Katalogbuch (352 Seiten) 35 Euro.

 

 




„Es musste etwas besser werden“ – Jürgen Habermas und die Pflicht zur Vernunft

„Ich halte das Streben, die Welt um ein Winziges besser zu machen oder auch nur dazu beizutragen, die stets drohende Regression aufzuhalten, für ein ganz unverächtliches Motiv. Daher bin ich mit der Bezeichnung ,Philosoph und Soziologe‘ ganz zufrieden.“

So äußert sich Jürgen Habermas in einem neuen Buch, in dem er über die Motive seines Denkens, die Umstände, unter denen es sich entwickelte, und die Veränderungen, die es im Laufe der Jahrzehnte erfuhr, Auskunft gibt.

Debatten und Diskurse beispielhaft geprägt

Dass der inzwischen 95-jährige Intellektuelle, der mit seinen Beiträgen und Büchern wie kein anderer die politischen Debatten und wissenschaftlichen Diskurse in Deutschland geprägt hat, mit dieser Selbstbeschreibung tiefstapelt, weiß er natürlich auch. Denn Habermas war nie nur ein „Philosoph und Soziologe“, der sich im universitären Elfenbeinturm verschanzt und von oben herab seine neuesten Erkenntnisse zu gesellschaftlichen Transformationen, kulturellen Phänomenen und kommunikativen Strategien verkündet.

Ob als Hochschullehrer in Frankfurt und Heidelberg oder als Autor der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“: Sich mit sozialwissenschaftlichen Argumenten und historischen Erkenntnissen in die aktuellen Debatten einzumischen, war stets sein größtes Bestreben, die Europäische Einigung sein größter Wunsch und die Abwehr rechtsnationaler Tendenzen der innerste Antrieb des enzyklopädisch gebildeten Großintellektuellen, der sich in jungen Jahren in einer von Alt-Nazis beherrschten Universitätslandschaft durchsetzen musste.

„Es musste etwas besser werden“, sagt Habermas (so auch der Titel des Buches), „und es lag an uns, ob sich die Welt zum Besseren verändern würde.“ Uns, das sind seine aus dem Exil heimgekehrten Kollegen von der „Kritischen Theorie“ der Frankfurter Schule: Adorno, Marcuse, Horkheimer, aber auch seine linksliberalen Mit-Studenten Karl-Otto Apel, Ernst Tugendhat und Michael Theunissen.

Wider die bleierne Zeit der Restauration

Im Gespräch mit Stefan Müller-Doohm und Roman Yos umkreist Habermas die Anfänge seiner wissenschaftlichen Biografie und die bleierne Zeit der bundesrepublikanischen Restauration, in der Habermas und sein Konzept einer auf die Demokratisierung der Gesellschaft und die Formulierung einer vernunftgeleiteten Kommunikation ausgerichteten Sozialwissenschaft wie ein Fremdkörper wirkte und als linksradikal diffamiert wurde.

Dabei hatte Habermas längst den ollen Marx neu interpretiert, auch Freuds Psychoanalyse und vor allem die US-amerikanischen Forschungen zur Linguistik und Sprechakt-Theorie in sein Werk einbezogen, Bücher verfasst, die heute legendär sind: „Strukturwandel der Öffentlichkeit“, „Erkenntnis und Interesse“, „Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus“, „Theorie des kommunikativen Handelns.“

Aber hört ihm auch noch jemand zu?

Im kollegialen Diskurs schreitet Habermas die wichtigsten Stationen seines Lebens und zentrale Begriffe seines Denkens ab, plädiert eindringlich für das Projekt der Europäischen Einigung, fordert ein entschlosseneres Handeln zur Verhinderung der Klimakatastrophe, kommentiert den völkerrechtswidrigen Überfall Russlands auf die Ukraine, mahnt Israel, bei seinem gerechtfertigten Krieg gegen den Terror der Hamas die zivilgesellschaftlichen Maßstäbe zu beachten, erinnert an die „Pflicht zum Gebrauch unserer Vernunft“. Habermas hat recht. Aber hört ihm auch noch jemand zu?

Jürgen Habermas: „Es musste etwas besser werden.“ Gespräche mit Stefan Müller-Doohm und Roman Yos. Suhrkamp, 254 Seiten, 28 Euro.




Stolz und Zuversicht: Gewichtiger Bildband „Ruhrgold“ feiert die Schätze des Reviers

Großer Auftritt im besprochenen Buch: Aral-Tankstelle an der Hauptverwaltung der Aral AG in Bochum, um 1958. (Foto: Aral AG)

Welch ein Trumm von einem Buch! Der wahrhaft aufwendig gestaltete Band „Ruhrgold. Die Schätze des Ruhrgebiets“ feiert auf 700 farbig bebilderten Seiten im Kunstkatalog-Format nahezu alles, was das Revier zu bieten hat.

Dieser Wälzer liegt sehr gewichtig in den Händen – mit etwa 2708 Gram, also über 2,7 Kilo, wenn ich richtig gewogen habe. Entschieden zu schwer für ein schmuckes „Coffee Table Book“, das Tischlein könnte schier einknicken… Außerdem reicht die Ambition deutlich übers Dekorative hinaus. Dafür bürgt schon der Herausgeber, Prof. Ferdinand Ullrich, vormals langjähriger Direktor der Kunsthalle Recklinghausen, der auch als Fotograf einiges zu diesem Band beigesteuert hat.

Ein Standardwerk über die Region

„Ruhrgold“ ist jedenfalls ein repräsentatives, umfängliches Standardwerk geworden, das von nun an in jede vernünftige Revier-Bibliothek gehören sollte. Ferdinand Ullrich und der Wienand Verlag haben kundige Autoren für die Kapitel-Einleitungen gewonnen, darunter Johan Simons (Intendant des Bochumer Schauspielhauses), Norbert Lammert (kultursinniger CDU-Politiker), Neven Subotic (Ex-BVB-Abwehrspieler und Stiftungsgründer), Manuel Neukirchner (Direktor des Deutschen Fußballmuseums in Dortmund), Prof. Theodor Grütter (Leiter des Ruhrmuseums, Essen) oder Hilmar Klute (Schriftsteller, Redakteur der Süddeutschen Zeitung). Zusätzlich hätte man sich wünschen können, dass auch noch der eine oder andere kritische Literat aus hiesigen Gefilden (Frauen inbegriffen) sich geäußert hätte. Aber das hätte vielleicht die feierliche Liturgie gestört. Schattenseiten des Reviers fristen hier lediglich ein – Schattendasein.

Landmarken und Entdeckungen

Wo soll man nur anfangen, wo aufhören? Das Motto könnte lauten: „Genug ist nie genug“. 350 Kunstwerke, Objekte und sonstige Phänomene aus nahezu allen Lebensbereichen des Reviers werden in 20 Kapiteln aufgeboten, mit rund 500 Illustrationen großzügig bebildert und in einem Anhang ausführlicher erläutert. Der (via RAG-Stiftung subventionierte) Preis von 60 Euro darf als vergleichsweise moderat gelten.

Natürlich werden markante Gebäude und Bauensembles wie etwa die Welterbe-Zeche Zollverein, die Villa Hügel (beide Essen), der Gasometer (Oberhausen) oder das Dortmunder U vorgezeigt. Die Museen, Theater, Konzertstätten und Unis der Gegend sind ebenso selbstverständlich vertreten, aber auch Verkehrsadern wie die B1 (streckenweise aka A 40 oder Ruhrschnellweg), Kanäle oder just die Flussläufe von Ruhr und Emscher. Auch als langjähriger Revierbewohner kann man hier noch Entdeckungen machen. Mir war beispielsweise die anheimelnde Siedlung Teutoburgia in Herne bislang kein Begriff. Asche auf mein Haupt. Auch der Hindu-Tempel in Hamm harrt noch einer näheren Erkundung. Und so weiter.

Objekte bis hin zur Aldi-Tüte

Dem Buchtitel entsprechend, gibt es hier auch veritable Goldschätze, namentlich die Goldene Madonna aus dem Essener Domschatz oder auch den „Cappenberger Kopf“. Nicht zuletzt werden prägende Persönlichkeiten der Region (z. B. Ostwall-Gründungsdirektorin Leonie Reygers, Jürgen von Manger, Tanja Schanzara, Uta Ranke-Heinemann, Hape Kerkeling, Christoph Schlingensief) gewürdigt. Und natürlich darf auch ein Exkurs zur ruhrdeutschen Mundart nicht fehlen. „Sprechende“ Objekte – vom Schrank im Stile des „Gelsenkirchener Barock“ über die prachtvolle Aral-Tankstelle von 1958 bis hin zur Aldi-Tüte – gehören gleichfalls zum Lieferumfang; ebenso einige wiederkehrende Ereignisse in der Spannweite zwischen Ruhrtriennale und Cranger Kirmes. Und natürlich hat auch die weltbekannte Dortmunder Südtribüne („gelbe Wand“) ihren gebührenden Auftritt – mit jener ebenfalls schon legendären Fotografie von Andreas Gursky.

Auch Großereignisse wie das „Stillleben“ (Vollsperrung des Ruhrschnellwegs über rund 60 Kilometer und Volksfest daselbst am 18. Juli 2010 – im Rahmen der Kulturhauptstadt Ruhr) zieren den neuen Ruhrgold-Band. (Foto: picture alliance/ augenklick / firo Sportphoto)

Allenfalls zaghafte Kritik

Und wie fügt sich all das alles zueinander, welches Konzept steht dahinter? Nun, das allermeiste wirkt ziemlich „revierfromm“, es entspricht spürbar der fraglos positiven Sichtweise der RAG-Stiftung, die hinter dem monumentalen Buchprojekt steht. Und so ist immer wieder die Rede von Tradition, auf die man stolz sein könne und von zukunftsträchtiger Transformation zur „grünsten Industrieregion der Welt“, die bereits eingeleitet sei. Kritik ist nur sehr zaghaft vorhanden, eigentlich nur am kläglichen Zustand des öffentlichen Nahverkehrs (ÖPNV). Diese Einsprüche dürften mehrheitsfähig sein.

Ansonsten ist es wie immer: Sobald man sich mit einer Materie (hier: Stadt) etwas besser auskennt, findet man auch Haare in der Suppe. Wohlan denn: Warum kommt eines der wohl wichtigsten Bauwerke der ganzen Region, die Dortmunder Westfalenhalle, überhaupt nicht vor? Und dann die etwas peinliche Sache mit dem Dortmunder Phoenixsee (Seite 357): Das Gewässer ist n i c h t, wie in der Bildzeile behauptet, auf dem Gelände eines früheren Bergwerks entstanden. Es war, wie wohl jedes Kind an den Gestaden der renaturierten Emscher weiß, ein Stahlwerk.

„Ruhrgold. Die Schätze des Ruhrgebiets.“ (Das Ruhrgebiet in 500 Bildern aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft). 700 Seiten mit lexikalischem Anhang sowie ausführlichem Orts- und Personenregister. Wienand Verlag, Köln. Gebundene Ausgabe 60 Euro, Luxus-Edition im Designschuber 180 Euro.

www.ruhrgold-das-buch.de

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P. S.: Schau’n wir spaßeshalber, wo die regionalpatriotische Publikation gefertigt worden ist: Verlag in Köln. Warum auch nicht? Dann aber: Gestaltung in Berlin. Graphik & Buchgestaltung in Freiburg. Druck in Italien (Vicenza). Waren diese Gewerke im Revier oder wenigstens in NRW nicht greifbar oder zu teuer?




Vom Dosenaufreißer bis zum Propeller – Schau zur Archäologie der Moderne in Herne

In Herne wie ein Kleinod präsentiert: Dosenring vom Woodstock-Festival, 15. bis 18. August 1969. (Leihgeber: The Museum at Bethel Woods, Bethel (USA) / Foto: Bernd Berke)

Was glitzert denn da in der Vitrine? Ein ziemlich kleines Objekt. Wahrscheinlich kostbar. Mal näher rangehen. Nanu? Das ist ja ein ringförmiger Dosenaufzieher der gewöhnlichsten Sorte (mutmaßlich für Coca oder Pepsi); noch dazu angerostet, aber präsentiert wie ein Kleinod oder gar Kronjuwel. Dazu muss man allerdings wissen, dass das alltägliche Stück zu den materiellen Hinterlassenschaften des legendären Woodstock-Festivals (1969) gehört und vielleicht Rückschlüsse auf das Ereignis zulässt, das eine ganze Generation mitgeprägt hat. Und wer zeigt so etwas?

Nun, wir befinden uns im LWL-Museum für Archäologie und Kultur in Herne. Das Haus zählt zu den Vorreitern einer neueren Entwicklung im Ausgrabungs-Wesen. Seit immerhin rund 15 Jahren befasst man sich hier mit Archäologie der Moderne, also nicht mehr ausschließlich mit ur- und frühgeschichtlichen oder antiken Funden, sondern auch mit Dingresten der letzten 200 Jahre.

Ergänzung zu schriftlichen Quellen

Aber ist denn nicht die herkömmliche Geschichtswissenschaft für die letzten Jahrhunderte zuständig? Doch, gewiss. Das wird auch so bleiben. Doch die Archäologen glauben, dass ihre Fundstücke noch einmal andere Befunde erschließen können, die den Umgang der Menschen mit der Dingwelt in den Blick nehmen und das sonstige, schriftlich und visuell reichlich angesammelte Wissen womöglich ergänzen. Georg Lunemann, Direktor des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL), bringt es auf eine Formel: „Auch Schrott, Schutt und Müll können eine Geschichte erzählen.“ Wenn man sie denn mit archäologischem Rüstzeug zu bergen und zu deuten versteht. Hernes Museumsleiterin Doreen Mölders spricht von einem buchstäblich „handfesten Beitrag“ zur Geschichte. Ob alle Historiker diese Hilfestellung zu schätzen wissen oder sie als Einmischung in ihre Belange begreifen? Abwarten.

Viele Exponate aus westfälischen Grabungen

Wie breit das Spektrum ist, das sich da zu eröffnen verspricht, zeigt nun jedenfalls die große, in Deutschland bislang beispiellose Überblicks-Ausstellung mit dem bezeichnenden Titel „Modern Times“. Rund 100 Funde und Fundkomplexe aus der Zeit zwischen 1800 und 1989 sind zu sehen, darunter etwa die Hälfte aus westfälischen Grabungskampagnen. Eine eigens erstellte App und Leih-Tablets im Museum sollen die Geschichte(n) hinter den Objekten so ausführlich darstellen, wie es mit musealen Texten und Schautafeln nun mal nicht geht. Die Ausstellung gliedert sich in sechs Stränge, deren Titel eher willkürlich und assoziativ klingen: Innovation, Gefühl, Zerstörung, Besonderes, Zweck und Erinnerung. Wahrscheinlich könnten die meisten Objekte in mehrere Kategorien eingeordnet werden. Sei’s drum.

Diese Champagnerflasche aus den 1840er Jahren hat es wirklich in sich. (Foto: Bernd Berke)

Champagner vom 1840er Jahrgang

Eines der erstaunlichsten Exponate ist jene noch gefüllte Champagnerflasche von etwa 1840. Gleich 168 solcher Flaschen wurden 2010 in der Ostsee aus einem alten Schiffswrack geborgen. 50 Meter unter dem Meeresspiegel herrschten Temperatur- und Druckverhältnisse, die das edle Getränk konserviert haben. Es soll sogar noch trinkbar sein, versichern Fachleute. Freilich: Der Zuckergehalt, so ergab eine Analyse, sei damals ungefähr zehnmal so hoch gewesen wie bei heutigem „Schampus“. Also doch eher nicht trinkbar, zumindest nicht genussreich für jetzige Geschmäcker. Dennoch ist der Fund wertvoll. Er gibt eben Auskunft über die damalige Wein- und Champagner-Herstellung, über den Stand des Luxus und der Moden sowie über mutmaßliche Verschiffungswege. War die Fracht gar für den russischen Zarenhof bestimmt? Lieferscheine lagen nicht mehr bei…

Was und wie sie wohl im Protestcamp zu Gorleben gegessen haben? Das lassen weitere Vitrinenstücke in der Herner Schau zur Archäologie der Moderne ahnen. (Foto: Bernd Berke)

Was vom Protestcamp übrig blieb

Ganz anderer Themenkreis: Da gibt es beispielsweise – Jahrzehnte später ausgegrabene – Funde vom einstigen Protestcamp „Republik Freies Wendland“ aus Gorleben. Auch hierzu sieht man einige Relikte als Vitrinenstücke. Fast schon zum Schmunzeln, wie sich die Überbleibsel den verschiedenen Seiten zuordnen lassen. Die jeweils kurzfristig dorthin beorderten Polizeikräfte nahmen in Gorleben offenkundig eilige Mahlzeiten von Papptellern ein, während die campierenden Demonstranten sich auf längere Dauer mitsamt Kochstellen eingerichtet hatten und beispielsweise Livio-Speiseöl in Blechdosen mit sich führten. Keine grundlegend neue Erkenntnis zur historischen Sachlage, aber sozusagen doch eine Art zusätzlicher, lebensnaher Farbtupfer.

Erschütternde Relikte aus der NS-Zeit

Bis hierher ging es um Exponate, die relativ harmlos anmuten. Doch man wird in Herne auch durch Fundstücke erschüttert, die von Stätten des NS-Terrors stammen, so etwa von Erschießungsplätzen zwischen Warstein und Meschede oder vom Kriegsgefangenenlager Stalag 326 bei Stukenbrock (Ostwestfalen), wo russische Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter im Zweiten Weltkrieg gepeinigt wurden. Diese schrecklichen Fundstätten werden zu verschiedenen Zeitpunkten Thema flankierender Studio-Ausstellungen sein. Besonders nahe geht einem der Anblick persönlicher Hinterlassenschaften, wie etwa Frauenschuhe oder bunte Perlen. Das Leben hätte schön sein können…

Britischer Kampfflugzeug-Propeller aus dem Zweiten Weltkrieg. (Foto: Bernd Berke)

Probleme mit tonnenschweren Fundstücken

Während übliche archäologische Funde aus weit zurück liegender Zeit meist sehr kleinteilig sind (Gefäß-Fragmente, Schmuckstücke, Knochenreste), hat es die Archäologie der Moderne öfter mit deutlich größeren und manchmal tonnenschweren Kalibern zu tun. So gehören zur Herner Schau beispielsweise eine gußeiserne Säule aus zwischenzeitlich verschütteten Beständen der Firma Krupp, ein kapitaler Heizungs-Ventilator aus dem zerstörten kaiserlichen Berliner Schloss (als Zeugnis zur Technikgeschichte) oder ein in Essen aufgefundener britischer Flugzeug-Propeller aus dem Zweiten Weltkrieg, der ein Einschussloch aufweist. Dieser Umstand lässt wiederum vermuten, dass das Objekt in Deutschland als vermeintlicher Abschuss-Triumph der Wehrmacht öffentlich vorgezeigt worden ist. LWL-Chefarchäologe Prof. Michael Rind betont, dass derlei Dinge ungeahnte Herausforderungen im Hinblick auf Konservierung, Restaurierung und Lagerung bedeuten. Zu fragen wäre wohl auch, ob wirklich alles aufgehoben werden muss oder ob hie und da eine präzise Dokumentation der Funde genügt.

Urzeit des Videospiels

Jetzt noch eine Spezialität für Videospiel-Fans: Aus der Urzeit des Genres, den frühen 1980er Jahren, stammt die Spielkassette für Konsolen, die tatsächlich später ausgegraben wurde. Die vom Kommerz-Flop tief ettäuschte Firma hatte das gesamte Material in der Wüste von New Mexico verscharren lassen, um möglichst nie wieder daran denken zu müssen. Es ist einigermaßen kurios, dass diese einst so unliebsame Erinnerung jetzt in Herne wiederbelebt wird.

Unterwegs zur „klimaneutralen“ Ausstellung

Die Ausstellung hat schließlich noch einen anderen Aspekt. Es soll erkundet werden, wie „nachhaltig und klimaneutral“ eine solche Schau zu bewerkstelligen ist – angefangen bei wiederverwertbaren Stellwänden, Katalog auf Recycling-Papier und so fort. Das zukunftsweisende Projekt wird gefördert – im Rahmen des Programms „Zero – klimaneutrale Kunst- und Kulturprojekte des Bundes“. Hernes Museumsleiterin Doreen Mölders möchte sämtliche Möglichkeiten zur ressourcenschonenden Gestaltung ausloten, stellt aber vorsichtshalber klar, dass das schonendste aller Verfahren nicht in Frage kommt: „Keine Ausstellungen mehr zu machen, das ist keine Option“.

„Modern Times“. Ausstellung zur Archäologie des 19. und 20. Jahrhunderts. LWL-Museum für Archäologie und Kultur, Herne, Europaplatz 1.

Ab 8. September 2023 bis zum 18. August 2024. Di / Mi / Fr 9-17, Do 9-19, Sa / So / Feiertage 11-18 Uhr. Tel.: 02323 / 94628-0. Katalog (632 Seiten) für 34,95 Euro im Museumsshop.

www.lwl-landesmuseum-herne.de
und
https://www.sonderausstellung-herne.lwl.org/de/

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Ähnlich gelagerte Schau im Essener Ruhr Museum

Archäologie der Moderne scheint wirklich im Schwange zu sein. Just in diesen Tagen wirbt das Essener Ruhr Museum auf Zollverein (Gelsenkirchener Straße 181) für seine offenbar ähnlich gelagerte Schau „Jüngste Zeiten. Archäologie der Moderne an Rhein und Ruhr“, die vom 25. September 2023 bis zum 7. April 2024 in der Kohlenwäsche zu sehen sein soll. Öffnungszeiten: Mo-So 10-18 Uhr. Eintritt 5 Euro, Katalog (304 Seiten) 29 Euro. www.ruhrmuseum.de

Herne und Essen geben Eintritts-Rabatte bei Vorlage eines Tickets der jeweils anderen Ausstellung.




„Arbeits- und Klassenverhältnisse im Comic“ – ein virtuelles Treffen zum Stand der Forschung

Eine Kiste mit Donald-Heften gehört mitunter auch in hochliterarisch interessierte Haushalte. (Foto: Bernd Berke)

Hotelbuchungen und Saal-Anmietungen waren nicht nötig. Sozusagen heimlich, still und ziemlich leise vollzieht sich gerade die (virtuelle) Jahrestagung der Gesellschaft für Comicforschung, die im Revier organisiert wird, genauer: von Iuditha Balint, Direktorin des Dortmunder Fritz-Hüser-Instituts (FHI) für Literatur und Kultur der Arbeitswelt sowie Markus Engels von der Uni Duisburg-Essen (UDE). Das Thema des Online-Treffens klingt griffig, geht es doch drei Tage lang um „Arbeits- und Klassenverhältnisse im Comic“.

Wer dächte da nicht gleich an die beiden berühmten Antipoden aus Entenhausen: Dagobert und Donald Duck. Just dem reichsten Mann (pardon: der reichsten Ente) der Welt und dem armen Schlucker Donald galt denn auch bereits der einleitende Fach-Vortrag. Christoph Schmitt (Schwäbisch Gmünd) gab Einblick in seine laufende Dissertation mit dem vorläufigen Titel „*Bling* – Vom ersten Kreuzer zum Geldspeicher. Arbeits- & Klassenverhältnisse in Entenhausen.“

Da ging es aber gleich zur Sache! Christoph Schmitt stellte klar, dass der Entenhausener Kosmos auf seine Weise eine durchaus realistische Lebenswelt abbildet, in der halt die Gesetze des Kapitalismus gelten. Ein Befund: Möglichkeiten des sozialen Aufstiegs (im Extrem: „vom Tellerwäscher zum Milliardär“) legitimieren das gesellschaftliche System und zementieren es zugleich. Nicht am Werk von Carl Barks, dem sich die Donaldisten geradezu inbrünstig widmen, sondern an ausgewählten Geschichten des Zeichners und Texters Don Rosa macht Schmitt seine Erkenntnisse fest. Anregende Leitgedanken finden sich zumal in Don Rosas Sammelband „Onkel Dagobert – Sein Leben, seine Milliarden“.

In Entenhausen geht es radikal marktliberal zu

Den Geschichten rund um Dagobert kann man laut Christoph Schmitt geradezu prototypische Regeln und Normen für sozialen Aufstieg, aber auch fürs Scheitern abgewinnen. Bemerkenswert schon, dass Dagobert mit zarten 13 Jahren aus Schottland in die USA aufgebrochen ist, wo die Aufstiegschancen angeblich grenzenlos sind. Dieser Aufstieg verlangt freilich außerordentlichen Fleiß, Verzicht und Askese. Anfangs tut sich Dagobert erbärmlich schwer und verrichtet die niedrigsten Jobs. Doch auch der spätere Reichtum ist stets bedroht. Nicht nur die Panzerknacker wollen an Dagoberts Geldspeicher heran, auch direkte Konkurrenten setzen ihm ständig zu. In Dagoberts Welt geht es derweil radikal marktliberal zu, der Staat soll allenfalls den „ehrlichen Wettstreit“ schützen, aber möglichst keine Steuern kassieren.

Betrüblich auch: Dagobert ist im Zuge seines ungeheuer gewachsenen Reichtums fast völlig vereinsamt, auch seine Jugendliebe (Bardame „Nelly“) hat er irgendwann aufgegeben. Demgegenüber hat der notorische Pechvogel Donald ein enorm spannendes und irgendwie doch intaktes Sozialleben – allerdings ohne ausreichende Geldmittel und mit etlichem Stress.

Kurzum: Christoph Schmitt führte schon einmal vor, wie interessant Comics als Forschungsgegenstand sein können. Im weiteren Verlauf der Tagung sollen noch einige andere einschlägige Themen aufgegriffen werden, u. a. geht es um „interkulturelle und postkoloniale Perspektiven“, wobei das Spektrum von polnischen Ghetto-Comic bis zum amerikanischen Superhelden-Comic reicht. Bis zur Abschlussdiskussion am Freitag dürfte also reichlich Material vorliegen.

 




Abbilder der Verhältnisse – im „Atlas des Unsichtbaren“

Sinnreiche Visualisierung komplexer Sachverhalte ist eine Kunst, auf die sich nicht viele verstehen. Im Netz geht neuerdings der Auftritt „Katapult“ steil, der auch verwickelte Dinge auf möglichst simple optische Umsetzungen „herunterbricht“ – mit wechselndem Geschick: Manches, aber längst nicht alles gelingt. In den „Atlas des Unsichtbaren“ sollte man sich hingegen einigermaßen vertiefen. „Auf einen Blick“ erlangt man hier nicht viel.

Die Autoren James Cheshire und Oliver Uberti versprechen laut deutschem Untertitel recht vollmundig „Karten und Grafiken, die unseren Blick auf die Welt verändern“. Die Kapitelüberschriften („Woher wir kommen“, „Wer wir sind“, „Wie es uns geht“, „Was uns erwartet“) erweisen sich als wenig trennscharf und taugen nicht zur Sortierung. Also heran an die vielen Einzelheiten, die eben nicht in solche Schubladen passen.

Nach und nach zeigt sich, dass Kartographie und graphische Darstellungen weitaus mehr vermögen, als sich der Diercke-Schulatlas träumen ließ. Manches lässt sich veranschaulichen, was vorher undurchdringlich schien, verblüffende Ein- und Durchblicke werden möglich. Auch Statistiken und Tabellen sind kein leerer Wahn, wenn sie mit Verstand eingesetzt werden.

Da zeigt eine Schautafel ganz schlüssig, ob und wie sich die Gene über 14 Generationen hinweg (etwa seit 1560) noch vererben. Neue Klarheit verschaffen Karten zu den Strömen des Sklavenhandels oder über Walfänge seit 1761. Der Aufschlüsse sind viele: Migrations- und Pendlerrouten, Mobilfunkdaten oder eine Karte zur Lichtstärke in Städten und Regionen verdeutlichen soziale und wirtschaftliche Zusammenhänge. Sie können als Ergänzung zu wortreich differenzierten Betrachtungen sehr brauchbar sein.

Häufig wird der globale Maßstab angelegt, bevorzugt aus angloamerikanischer Perspektive: In welchen US-Staaten kommt Lynchjustiz besonders häufig vor? Inwiefern lassen Gebäudedaten auf künftige Gentrifizierung schließen, so dass Prognosen dazu einen höheren Wahrscheinlichkeitsgrad haben? Wo leisten Frauen im Verhältnis zu Männern die meiste unbezahlte Arbeit (Indien) und wo die wenigste, aber immer noch deutlich über 50 Prozent (Schweden)? In welchen Ländern erleiden Frauen die meiste physische Gewalt?

Durch graphische Umsetzung werden auch die Muster der US-Bombardierungen im Vietnamkrieg gleichsam „transparenter“. Übrigens hat Ex-Präsident Bill Clinton die zugrunde liegenden Daten freigegeben. Freilich wirken solche fürchterlichen Sachverhalte in atlasgerechter Aufbereitung leicht zu harmlos. Auf diese Weise können eben nur bestimmte Dimensionen des Geschehens vermittelt werden. Dessen eingedenk, blättern wir weiter.

Das letzte Konvolut („Was uns erwartet“) handelt – man durfte gewiss damit rechnen – überwiegend vom bedrohlichen Klimawandel, so gibt es etwa Karten über weltweite Hitzewellen und Stürme oder zur Eis- und Gletscherschmelze. Auch erfährt man zum Beispiel, auf welchen Flugrouten künftig erheblich mehr Turbulenzen bevorstehen dürften. Hilfreich jene Sonnenlicht-Karte, die quasi jeden Quadratmeter eines bestimmten Gebiets im Hinblick auf Sonneneinstrahlung (Intensität, Dauer, zeitlicher Verlauf) definiert, so dass im Winter das Streusalz praktisch punktgenau verteilt werden kann und nichts verschwendet wird. Viele Flächen tauen eben auch rechtzeitig ohne Salz auf.

Ein Buch zum gründlichen Durchsehen, lehrreich, hie und da von echtem Nutzwert, dies aber von begrenzter Dauer. Denn solche Datenbestände und folglich die Karten altern leider ziemlich schnell.

James Cheshire / Oliver Uberti: „Atlas des Unsichtbaren. Karten und Grafiken, die unseren Blick auf die Welt verändern.“ Aus dem Englischen von Marlene Fleißig. Hanser Verlag, 216 Seiten (Format 20 x 25,5 cm), 26 Euro.




Das Ende der Unendlichkeit: Erinnerungen an ein Buch, das die Welt verändert hat

Im Frühsommer vor 50 Jahren lag es in den Buchhandlungen: Ein blauer Umschlag, darauf lugt der Planet Erde zwischen den beiden Hälften eines aufgebrochenen Eis hervor. „Die Grenzen des Wachstums“ lautete der Titel; die Unterzeile verhieß epochale Erkenntnisse: Ein Bericht „zur Lage der Menschheit“! Kaum einer kannte den „Club of Rome“, noch unbekannter war der als Autor genannte, damals 30jährige Dennis Meadows.

Und doch hat dieses Buch Geschichte gemacht. Zwischen März und Juni 1972 erschien es in zwölf Sprachen mit rund 12 Millionen Exemplaren. Eine „Bombe im Taschenformat“ nannte die „Zeit“ die knapp 200 Seiten, vollgepackt mit hochkomplexen Berechnungen und Tabellen.

Seine Aussage: Wenn wir so weitermachen wie bisher, ist unser Lebensmodell bis zum Jahr 2100 am Ende. Die Modellrechnung, die der Amerikaner Meadows und sein Team vorlegten, ging von fünf Tendenzen mit globaler Wirkung aus, setzte sie in Bezug zueinander und untersuchte die gegenseitigen Rückkoppelungen:

„Wenn die gegenwärtige Zunahme der Weltbevölkerung, der Industrialisierung, der Umweltverschmutzung, der Nahrungsmittelproduktion und der Ausbeutung von natürlichen Rohstoffen unverändert anhält, werden die absoluten Wachstumsgrenzen auf der Erde im Laufe der nächsten hundert Jahre erreicht. Mit großer Wahrscheinlichkeit führt dies zu einem ziemlich raschen und nicht aufhaltbaren Absinken der Bevölkerungszahl und der industriellen Kapazität.“

Das Fazit der Studie, die das Massachusetts Institute of Technology (MIT) mit Hilfe eines neuen Großcomputers im Auftrag des „Club of Rome“ erstellte, stieß auf kontroverse Reaktionen. „Unverantwortlicher Unfug“ hieß es im amerikanischen Magazin „Newsweek“. Der „Spiegel“ ordnete sie in die damals schon verbreiteten apokalyptischen Ängste ein und kritisierte eine „Weltuntergangs-Vision aus dem Computer“. Mit entsprechender Häme wurde in den folgenden Jahrzehnten immer wieder festgestellt, wie falsch die berechneten Zahlen für die Erschöpfung bestimmter Rohstoffe gewesen seien. Der „Club of Rome“ habe – so monierten Kritiker – auch die Rolle neuer Technologien unterschätzt, die den negativen Folgen des Wachstums entgegenwirken könnten. Es gab aber auch berechtigte Kritik, vor allem an der Vernachlässigung der sozialen und gesellschaftlichen Folgen eines eingeschränkten oder „Nullwachstums“.

Das Modell der Lilie im Gartenteich

Auch wenn sich kritische Einwände in einzelnen Fragen als zutreffend herausstellten: Das Grundproblem der „Grenzen des Wachstums“ bleibt bestehen. Die Gefahr exponentiellen Wachstums ist in Meadows Modell des Lilienteichs zutreffend beschrieben: Eine Lilie in einem Gartenteich wächst jeden Tag auf die doppelte Größe. Ihr Wachstum erscheint nicht besorgniserregend, denn auch wenn sie erst die Hälfte des Teichs bedeckt, scheint es noch genug Platz zu geben. Niemand denkt daran, sie zurückzuschneiden. Aber schon am nächsten Tag wächst die Lilie wieder um das Doppelte ihrer Größe, bedeckt den ganzen Teich und erstickt jedes Leben darin.

Die grundsätzliche Feststellung der Endlichkeit aller Ressourcen wird zum Teil bis heute nicht verstanden oder verdrängt. Die Unausweichlichkeit dieser Grenzen folgt aus physikalischen Gesetzen. Der Sozialethiker Wilhelm Dreier und der Physiker Reiner Kümmel haben damals in ihrem Forschungsschwerpunkt an der Universität Würzburg „Zur Zukunft der Menschheit“ die Thesen des „Club of Rome“ mit als erste in Deutschland aufgenommen und in ihrer Studie „Zukunft durch kontrolliertes Wachstum“ 1977 durch den Blick auf soziale und Bildungsprozesse ergänzt. Auch diese Ergebnisse wurden nicht verstanden oder – vor allem in konservativen und traditionell christlichen Kreisen – abgelehnt. Der vor 100 Jahren geborene CDU-Politiker Herbert Gruhl („Ein Planet wird geplündert“, 1975) ist ein Beispiel dafür, wie wenig Resonanz das neue ökologische Bewusstsein in seiner Partei fand, die er 1978 verließ.

Aktuelle Mahnung zu globalen Problemen

„Die Grenzen des Wachstums“ waren nicht, wie ihnen unterstellt wurde, eine Vorhersage apokalyptischen Schreckens. Sie waren ein Zustandsbericht zu einer Situation, die als veränderbar und beherrschbar eingeschätzt wurde – allerdings nur unter klar definierten Voraussetzungen: Dazu zählen eine radikale Energiewende weg von fossilen Brennstoffen, ein nachhaltige Landwirtschaft, der Abbau von Ungleichheit durch faire globale Steuersysteme, um zu vermeiden, dass die Reichsten der Erde mehr als 40 Prozent des Weltvermögens besitzen. Als nötig erachtet werden ferner enorme Investitionen in Bildung, Geschlechtergleichheit, Gesundheit und Familienplanung und neue Wachstumsmodelle für ärmere Länder.

Damals beflügelte das Buch die junge ökologische Bewegung in der Bundesrepublik; heute ist es nach wie vor eine aktuelle Mahnung, denn die globalen Probleme sind akuter, als wir es uns 1972 vorstellen konnten. Für mich persönlich waren „Die Grenzen des Wachstums“ ein wirklicher Augenöffner. Mein ökologisches Interesse war bereits durch die Lektüre von Rachel Carsons „Der stumme Frühling“ geweckt worden, hatte sich aber eher auf den klassischen Natur- und Tierschutz bezogen. Jetzt erweiterte es sich zu einem umfassenden ökologisch geprägten Nachdenken über die Entwicklung unserer Welt, die theologische, philosophische und politische Dimensionen mit einschloss und zum gesellschaftlichen Engagement für einen grundlegenden Wandel führte.

 

 




Kein richtiger Rückblick, aber die besten Wünsche für 2022!

Kater Freddy wirft einen Blick zurück. (Symbolbild: Bernd Berke)

Zum Ende eines vielfach so ernsten Jahres darf es auch mal halbwegs albern sein. Keine Angst also, hier gibt es keinen der landesüblichen Jahresrückblicke mit obligatorischem C-Schwerpunkt und blinkender Ampel. Alles, was wir vorrätig haben, ist ein über die Schulter zurückblickender Kater namens Freddy. Na, immerhin!

Übrigens geht es Freddy zur Zeit nicht so gold. Er bekommt ein Antibiotikum, damit sich bei ihm nicht noch eine Lungenentzündung entwickelt. Erste Besserung hat sich schon eingestellt. Aber stopp! Jetzt reden wir schon wieder über Krankheit und Genesung.

Wie ist im Vorfeld spekuliert worden, ob wir ab 2020 noch einmal „Roaring Twenties“ oder dergleichen erleben würden; wilde, entfesselte Zeiten, eine Dekade wie damals in den 1920ern. Es ist bislang ein wenig anders gekommen.

Nun doch noch etwas gaaaaaaaanz weit Rückblickendes: Höchst spannend finde ich alles, was sich aus dem kürzlich erfolgten Start und dem künftig hoffentlich erfolgreichen Einsatz des Weltraumteleskops „James Webb“ ergeben könnte. Gleich 13 Milliarden Jahre soll die phantastische Apparatur zurückschauen – „fast“ bis zum Urknall. Ob wir dann wohl erfahren werden, was die Welt im Innersten zusammenhält?




„Stonehenge“ in Herne: Der Mythos lebt – sogar in Styropor

Bis zu 7 Meter hoch und denkbar wuchtig: Nachbau des inneren Steinkreises von Stonehenge in Herne (Teilansicht). (Foto: Bernd Berke)

Betritt man den zentralen, hallenhohen Raum des LWL-Museums für Archäologie in Herne, so kommt man sich ziemlich klein vor. Ringsum ragen gigantische „Steine“ auf – just wie im berühmten südenglischen Stonehenge. Tatsächlich hat man den inneren Kreis des über 4000 Jahre alten Megalith-Monuments mit modernster Laserscan-Technologie vermessen und in Originalgröße nachgebaut.

Nun gut, die bis zu sieben Meter hohe Rekonstruktion mit 17 Repliken des inneren Steinkreises besteht aus Styropor, doch die Außenhaut (sanftes Berühren erlaubt!) soll sich ähnlich anfühlen wie jener Sandstein, aus dem das Vorbild besteht. Mehr noch: Während das englische Original an etlichen Stellen von Moos und Flechten bewachsen und überhaupt verwittert ist, sieht man Stonehenge in Herne gleichsam im frischen Zustand der Entstehungszeit, wie die Ausstellungs-Kuratorin Kerstin Schierhold erläutert. Mit etwas Phantasie ist es also vorstellbar, dass die Steinzeitmenschen soeben erst ihre Werkzeuge beiseite gelegt haben.

Doch natürlich verhält es sich anders. Der weltbekannte Steinkreis, etwa um 2500 v. Chr. (also bereits gegen Ende der Steinzeit) errichtet und bis um 1600 v.Chr. vor allem als Kultstätte und Versammlungsort genutzt, ist in Wahrheit das wandelbare Werk von Generationen und Jahrzehnten gewesen. Klar ist auch: Jeder noch so liebevoll gefertigte und raffiniert illuminierte Nachbau vermag zwar zu beeindrucken, besitzt aber bei weitem nicht die Aura des Originals.

Steinkolosse über viele Kilometer transportiert – aber wie?

„Stonehenge – Von Menschen und Landschaften“ heißt die in ihrem Zentrum gleichwohl imposante, an den Rändern ins Kleinteilige sich verästelnde Zeitreisen-Schau, die ziemlich genau ein Jahr lang in Herne zu sehen sein wird. Der Titel lässt es schon ahnen: Eine grundsätzliche Fragestellung lautet, wann und wie Menschen begonnen haben, die sie umgebende Landschaft willentlich und nachhaltig umzugestalten. Im Falle Stonehenge haben sie dabei jedenfalls keine Mühen gescheut und die ungeheuer schweren Sandsteine nach Kräften herbeigeschafft – selbst noch die gewichtigsten (bis zu 40 Tonnen wiegend) über rund 25 Kilometer hinweg, wie Gesteinsvergleiche belegen. Die kleineren, auch noch um die 4 Tonnen schweren Blausteine kamen sogar aus dem späteren Wales – rund 240 Kilometer weit entfernt.

Wie die Menschen die Transporte und noch dazu die Aufrichtung der Kolosse vollbracht haben, wird wohl nie restlos aufgeklärt werden. Man kann es heute höchstens durch Experimente und Mutmaßungen nachvollziehen. Womöglich wurden die Steine von ganzen „Hundertschaften“ mit Hilfe von Seilen und schlittenartigen Vorrichtungen sowie Gleitschienen bewegt und/oder auf runden Holzstämmen gerollt. Einmalig sind übrigens die passgenauen Zapfen- und Nutverbindungen, mit denen die Steine unverbrüchlich zusammengehalten wurden.

„Minimalinvasive“ Archäologie

Wie auch immer: Es war eine phänomenale Willens- und Kraftanstrengung der damaligen Menschen, die bereits einige Findigkeit, Intelligenz und handwerkliches Geschick besessen haben müssen. Kein Wunder, dass sich allerlei Mythen darum ranken. Und obwohl Wissenschaftler die eine oder andere Legende entzaubern, wird das große Ganze hoffentlich immer von Geheimnis umwoben bleiben.

Die Wissenschaft geht allerdings neue, verheißungsvolle Wege: Seit einigen Jahren ist es möglich, archäologische Forschungen auch ohne Grabungen zu bewerkstelligen, bei denen die Fundstücke zwangsläufig beschädigt werden. Mit geomagnetischen Radarmessungen, sozusagen „minimalinvasiv“, lassen sich Fundstellen sehr präzise und zerstörungsfrei aufspüren und virtuell „ausleuchten“. Europaweit führend ist auf diesem Gebiet das – Achtung, Bandwurmname! – Ludwig Boltzmann Institut für archäologische Prospektion und virtuelle Archäologie (LBI ArchPro) in Wien.

Stonehenge-Original, fotografiert vom LWL-Chefarchäologen Prof. Michael Rind. (LWL / Rind)

Nur zu gern kooperiert das Herner Museum mit dem LBI. Die Wiener Experten unter Leitung von Prof. Wolfgang Neubauer haben ein Gelände von rund 16 Quadratkilometern ausgelotet und konnten nachweisen, dass Stonehenge keine isolierte Kultstätte ist, sondern Bestandteil einer „rituellen Landschaft von gewaltigen Ausmaßen“. So wurden in Durrington Walls, knapp drei Kilometer vom Stonehenge-Steinkreis entfernt, die Relikte bislang unbekannter Bauwerke geortet. Dermaßen viele Terabytes an Daten hat man dazu gesammelt, dass die Auswertung noch Jahre dauern dürfte. Vielleicht kommt ja auch noch während der einjährigen Herner Ausstellungsdauer etwas Neues ans Licht.

Weit ausgreifende Ringe und Ovale von Gräben und Wällen dienten zumal als Begräbnisstätten, zunächst als Kollektivgräber, später (ab etwa 2200 v. Chr.) entstanden auch herausgehobene Einzelgräber, offenbar ein Zeichen gesellschaftlicher Ausdifferenzierung. Das ganze Stonehenge-Areal ist in der Jungsteinzeit vor allem eine Zone ritueller Praktiken, doch auch Versammlungsort für Handel und Tauschwirtschaft (man weiß von „Importen“ über Hunderte von Kilometern) sowie Verteidigungsanlage gewesen. Auch müssen die Menschen dort gemeinschaftlich gegessen, wenn nicht gar gefeiert haben. Reichlich vorgefundene Knochen verzehrter Tiere deuten darauf hin.

Vielfach digital ausgerichtete Präsentation

Das Museum gibt sich betont digital und breitet die Befunde mit ausgeklügelten Projektionen sowie an 25 Medienstationen virtuell aus, zudem werden (u. a. in Zusammenarbeit mit dem British Museum) Online-Führungen angeboten. Doch gibt es auf den 1000 qm Ausstellungsfläche auch einige Exponate in Vitrinen, beispielsweise Grabbeigaben, Werkzeuge, Tierknochen oder auch Gefäße der Glockenbecherkultur. Hier wird man nicht so sehr zum Staunen überwältigt, sondern darf sich auf Details konzentrieren. Doch auch dabei finden sich grandiose Einzelstücke, so etwa jener mit 140.000 winzigen Goldstiften verzierte Dolch aus der frühen Bronzezeit. Abermals ein Rätsel: Wie ist die Herstellung mit den damaligen Mitteln möglich gewesen?

Der Rundgang führt zurück in ein Zeitalter, in dem nomadisch lebende Menschen Zuwanderern vom kontinentalen Festland begegnet sind, die sich um 4000 v. Chr. ganz allmählich zur sesshaften bäuerlichen Gesellschaft zusammengefunden haben – die sogenannte neolithische Revolution. Das Stonehenge-Gebiet dürfte bereits seit etwa 8500 v. Chr. ein Anziehungspunkt für Jäger und Sammler gewesen sein, weil hier Quellen sprudelten, die auch im Winter nicht zufroren und daher nahrhaftes Getier anlockten. Dort haben sich auch rare Rotalgen gebildet, die aufgrund von biochemischen Reaktionen pink schimmerten und eine geradezu magische Wirkung ausgeübt haben dürften.

Vergleiche mit Westfalen und dem Ruhrgebiet

Recht kühn und eher aus regionaler Pflichtschuldigkeit zu erklären sind die Bögen, die das Museum des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe zu westfälischen Steingräbern schlägt. Vergleiche mit bretonischen Formationen lägen vermutlich näher. Mal waren die Vor-Vorläufer der Westfalen mit speziellen Errungenschaften früher an der Reihe als die Ur-Ur-Engländer, mal später. Nirgendwo in unseren Breiten hat es freilich ein Monument gegeben, das Stonehenge auch nur annähernd vergleichbar wäre. Ein Weltwunder und Weltkulturerbe sondergleichen. Etwa eineinhalb Millionen Touristen strömen jährlich dorthin, auch seltsam anmutende Druiden-Feiern finden dort gelegentlich statt, vor allem zu den Sonnenwend-Daten. Schon an normalen Tagen lassen Autostaus im weiten südenglischen Vorfeld ahnen, dass es hier etwas Besonderes geben muss… Apropos: Die Ausstellung schließt mit ein paar Kuriosa, darunter einer putzigen Stonehenge-Parodie aus „versteinerten Colaflaschen“ oder dem Hinweis auf eine aufblasbare Stonehenge-Hüpfburg. Was es nicht alles gibt.

Geradezu tollkühn muten schließlich die Vergleiche mit dem Ruhrgebiet und Landmarken wie der Halde Hoheward an, wo „der Mensch“ – aus ganz anderen Motiven – ja auch folgenreich in die Landschaft eingegriffen hat. Auch dies hatten die Ausstellungsmacherinnen im Sinn. Sollte demnach die Errichtung von Stonehenge ein frühzeitlicher Sündenfall gewesen sein, der Jahrtausende später ins industriell Monströse mündete? Oder anders herum: Wird man Teile des Reviers dereinst als rätselhaft magische Stätten bewundern?

„Stonehenge – Von Menschen und Landschaften“. 23. September 2021 bis 25. September 2022. LWL-Museum für Archäologie (Westfälisches Landesmuseum), Herne, Europaplatz 1. Tel.: 02323 / 94628-0 

Geöffnet Di, Mi, Fr 9-17, Do 9-19, Sa/So/Feiertage 11-18 Uhr. Eintritt 7 € (ermäßigt 3,50 €), Katalog 34,95 €.

www.lwl-landesmuseum-herne.de

www.stonehenge-ausstellung.lwl.org

 

 




Reisen durch ein fantastisches Universum: Vor 100 Jahren wurde Stanislaw Lem geboren

Als Science-Fiction-Autor wollte er sich nicht gerne bezeichnen lassen, aber auf diesem Feld hat sich Stanislaw Lem einen unsterblichen Namen gemacht. Vor 100 Jahren, am 12. September 1921, im damals noch polnischen Lemberg geboren, hat er originelle Werke voll Humor und visionärer Kraft geschrieben, die laut Wikipedia in 57 Sprachen übersetzt und über 45 Millionen Mal verkauft wurden.

Die Werke von Stanislaw Lem erscheinen im Suhrkamp-Verlag, so auch der Roman „Die Stimme des Herrn“. (Cover: Suhrkamp Verlag)

Zu seinen bekanntesten Büchern zählt der Roman „Solaris“, der drei Mal verfilmt und von Michael Obst, Detlev Glanert und Dai Fujikura auch zum Opernstoff erkoren wurde. Stanislaw Lem hatte gerade begonnen, Medizin zu studieren, als die Deutschen in Lemberg einmarschierten. Während des Krieges gelingt es ihm, seine jüdische Herkunft zu verschleiern; er arbeitet als Mechaniker und Schweißer für eine deutsche Firma. Bis auf Vater und Mutter wurde seine Familie Opfer des Holocausts. Wehrmacht und Rote Armee, Sowjets und Deutsche: Die Erfahrung willkürlicher Gewalt und der zerstörerischen Katastrophe der Besatzungszeit in Polen prägten ihn.

1946 zieht er aus seiner nun sowjetisch besetzten Heimat nach Krakau und studiert weiter. Da er sich weigert, im Abschlussexamen Antworten im Sinne der stalinistischen Ideologie zu geben, fällt er durch und geht, da er nicht als Arzt arbeiten kann, in die Forschung.

In dieser Zeit beginnt seine schriftstellerische Arbeit. 1946 erscheint in einer Zeitschrift „Der Mensch vom Mars“. Lem spricht darin bereits Themen an, die in späteren Werken bedeutsam werden sollten: Das Wesen vom Mars ist eine Kombination aus einem organischen Gehirn und einer atomgetriebenen Maschine, ungeheuer fremdartig, ohne Gefühl und Empathie, aber nicht bösartig. Die Menschen, die es untersuchen, haben jedoch kein Interesse an der Persönlichkeit des Außerirdischen; es gelingt ihnen keine dauerhafte Kontaktaufnahme.

Unbegreiflich andersartige Intelligenz

Diese Unfähigkeit, mit unbegreiflich andersartigem Leben, mit unverständlicher Intelligenz umzugehen, ist auch in „Solaris“ ein bestimmendes Thema. Dort umfließt ein riesiges Wesen wie ein Ozean einen ganzen Planeten. Ewig alleine, versucht es, mit den Menschen in Kontakt zu treten, die es entdeckt haben und die seit Generationen versuchen, das offenbar denkende Plasmameer zu erforschen. Lem verweigert sich in diesem wie in anderen Romanen einfachen Lösungen, aber die offen bleibende, dennoch sehr bewegende Begegnung des Psychologen Kelvin mit dem Wesen deutet den utopischen Moment eines Kontakts an.

Mit dem in viele Sprachen übersetzten Roman „Die Astronauten“ gelingt Lem 1951 ein Erfolg, der es ihm ermöglicht, als freischaffender Autor zu leben. Das Buch erschien drei Jahre später in der DDR auf Deutsch als „Der Planet des Todes“. Eine Expedition zur Venus entdeckt dort die Reste einer aggressiven Zivilisation, die sich selbst vernichtet hat, bevor sie ihren Plan, alles Leben auf der Erde auszulöschen, in die Tat umsetzen konnte. „Wesen […], die sich die Vernichtung anderer zum Ziel setzten, tragen den Keim des eigenen Verderbens in sich – und wenn sie noch so mächtig sind“, schreibt Lem über sein Buch, das er später selbst als „naiv“ bezeichnet hat.

Nachdenken über technologischen Fortschritt

Aber die gesellschaftlichen Probleme und Visionen, die Lem auch in Romanen wie „Eden“ (1959) oder dem Zukunfts-Szenario „Fiasko“ (1986) in fantastische Welten überträgt, fesseln den Leser und lassen über die Folgen unseres zivilisatorischen und technischen Fortschritts nachdenken. Lem nimmt schon früh etwa mögliche Folgen neuer Kommunikationstechnologien in den Blick. Über die Epoche der Neuro- und Gentechnologie und die Verbindung von Mensch und Maschine sagt er in einem Interview kurz vor seinem Tod 2006: „Wir stehen am Anfang einer Epoche, vor der mir ein bisschen graut.“

Stanislaw Lem hat es virtuos verstanden, ungewöhnliche philosophische Fragen, Probleme der technologischen Entwicklung und kühne Gedankenexperimente in seine Art von „Science Fiction“ einzubeziehen. Doch er ist auch Autor von geradezu prophetischer Sachliteratur wie der „Dialoge“ (1957) oder der „Summa technologiae“ von 1964, in der er sich bereits mit „virtual reality“ und Nanotechnik beschäftigt.

Zwischen 1982 und 1988 lebt Lem nicht im krisengeschüttelten Polen, sondern als hochgeachteter Autor in Berlin und Wien. Seine Kurzgeschichten, Anthologien und Romane finden in den siebziger und achtziger Jahren in beiden Teilen Deutschlands breite Resonanz, so etwa die „Robotermärchen“, der „Futurologische Kongress“ oder „Der Unbesiegbare“. Figuren wie der Raumfahrer Ijon Tichy, der Pilot Pirx oder die beiden skurrilen Robot-Konstrukteure Trurl und Klapaucius bevölkern sein Universum, in dem Humor und Satire nicht zu kurz kommen, aber auch – wie in der Erzählung „Terminus“ – bisweilen eine kaum zu fassende, unheimliche Atmosphäre entsteht, die Lem selbst so beschreibt: „Obwohl in dieser Erzählung keine Gespenster vorkommen, sind sie dennoch da.“

Persönliche Empfehlungen? Unheimlich und faszinierend zugleich, wie in „Der Unbesiegbare“ unscheinbare, harmlose Maschinenteilchen zu einer unüberwindlichen Macht zusammenwachsen. Höchst amüsant und geistreich, wie in den „Robotermärchen“ ein Elektrodrachen besiegt wird. Wen heute bei „Alexa“ oder „Siri“ im smart durchdigitalisierten Home leises Unbehagen befällt, sollte unbedingt mit der dümmsten vernunftbegabten Waschmaschine der Welt Bekanntschaft schließen. Immer wieder ins Nachdenken führend, wie fremdartig Lem außerirdisches (intelligentes) Leben erfindet und beschreibt, etwa in „Solaris“. Und eine bittere Abrechnung mit der menschlichen Fähigkeit zum Guten wie zum Bösen ist „Die Stimme des Herrn“, spröde zu lesen, aber ein Buch, das den Verstand fliegen lässt.




Wenn Querulanten querulieren – aufschlussreiches Buch über einen altbekannten Sozialtypus

Querulanten? Kennen wir doch alle. Und wir wissen ziemlich genau, was wir davon zu halten haben. Wirklich?

Eine virtuelle Buchpräsentation im Kulturwissenschaftlichen Institut (KWI) in Essen hat nun auch manche Leute aus der Fachwelt eines Genaueren belehrt. Privatdozent Dr. Rupert Gaderer, Akademischer Oberrat am Germanistischen Institut der Bochumer Ruhr-Universität, hat sich über Jahre hinweg mit dem Themenkreis befasst. Nun liegt das Resultat als Buch vor: „Querulieren. Kulturtechniken, Medien und Literatur 1700-2000″. Gaderer stellte es im Dialog mit der Münchner Literaturwissenschaftlerin Prof. Juliane Prade-Weiss vor.

Der Begriff „Querulant“ in seiner heute noch gängigen Bedeutung hat sich Gaderer zufolge erst allmählich herausgebildet, als im Laufe des 18. Jahrhunderts das Rechtssystem für Beschwerden geöffnet wurde („Zugang zum Recht“). Die Figur des Querulanten wäre demnach kaum denkbar ohne die preußische Bürokratie, die sie recht eigentlich hervorgebracht hat.

Um „den“ Querulanten nicht von vornherein als starre Figur abzustempeln (wie dies im Laufe der Geschichte oftmals geschehen ist), hat Rupert Gaderer lieber das Verb „querulieren“ in den Buchtitel gestellt, das die Handlung sozusagen verflüssigt und nicht vorschnell verfestigt.

Bis hin zum „Rechts-Exzess“

„Querulant“ wurde im 18. Jahrhundert in der allgemeinen Bedeutung „Zänker“ oder „Streitsüchtiger“ verwendet, bezog sich um das Jahr 1800 aber zusehends auf den Rahmen des Rechtssystems. Wie es im Leben so geht: Einige Leute nutzten das Instrument der juristischen Beschwerde sehr ausgiebig. In preußischen Gesetzesbüchern wurden folglich alsbald jene erwähnt, die mutwillig immer und immer wieder Klage erhoben, was sich zuweilen als Störfaktor im System (sozusagen als „Sand im Getriebe“) erwiesen hat.

Die mutwilligen Kläger drohten Kapazitäten der Justiz zu „verstopfen“. Hatte man einmal das Rechtssystem geöffnet, konnte man es allerdings schwerlich wieder gänzlich schließen und abschotten. Misstrauisch beäugte und belauschte der Beamtenapparat jedoch besonders auffällige „Querulanten“ und setzte von oben herab Grenzmarken, nach denen es gleichsam „des Guten zu viel“ sei. Die Folge waren Repressalien bis hin zu Haftstrafen für „unverbesserliche“ Klageführer. Fortan kam auch die Schmährede vom „Rechts-Exzess“ auf.

Fast immer nur Männer

Querulanten waren traditionell fast immer männliche Wesen, also können wir uns auch die krampfhafte Schreibweise Querulant*innen schenken. Frauen galten in früheren Zeiten – mit Ausläufern bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts – kaum als klagefähig. Diese Möglichkeit, sich Recht zu verschaffen, wurde ihnen schlichtweg nicht zugestanden. Autor Gaderer nennt als äußerst rares Gegenbeispiel die Frau eines Müllers, dem die Wasserzufuhr zum Mühlrad abgesperrt worden war. Grob gesagt: Während Männer in gewissen Grenzen munter querulieren durften, wurden klagewillige Frauen schnell als „hysterisch“ verunglimpft.

Rupert Gaderer hat die Spuren des Querulierens freilich nicht nur in juristischer Hinsicht verfolgt, sondern auch in der Psychiatrie und der Literatur zahlreiche wertvolle Hinweise vorgefunden. Das Phänomen lasse sich überhaupt nur erfassen, wenn man interdisziplinär vorgehe. Als literarische Beispiele seien nur genannt: Heinrich von Kleists berühmte Novelle „Michael Kohlhaas“ (1810) und Hermann Bahrs „Der Querulant“ (1914), eine Kömödie in vier Akten.

„Krankhaftes Phänomen“

Mit dem Aufkommen der Psychoanalyse setzte auch eine verschärfte Neubewertung des Querulierens ein. Auf breiter Front setzte sich die Tendenz durch, das Querulantentum zu pathologisieren, es als krankhaftes Phänomen zu behandeln. Dazu entstanden beispielsweise Fotoreihen, die typische Querulanten anhand ihrer Physiognomie dingfest machen sollten. Auch wurden Handschriften daraufhin untersucht, ob sich in ihnen Hinweise auf notorisches Querulieren fänden. Die Klagesucht galt manchen Vertretern des Fachs gar als erblich.

Hochinteressant auch der internationale Vergleich. Das Querulantentum in seiner reinsten Form war innig mit dem preußischen und sodann deutschen Rechtssystem verwoben. Zwar bildeten sich z. B. auch in Österreich („Nörgler“) und Italien ähnliche Sozialtypen heraus, doch in England (und später in den USA) mit ihren ganz anders gearteten Rechtssystemen nahm auch die Literatur eine andere Richtung.

Ein Gruß von Karl Kraus

Wohl nur in Preußen konnte Heinrich von Kleists „Michael Kohlhaas“ entstehen, der wegen einer relativen Geringfügigkeit Klage erhebt und hernach mordend und brandschatzend durch die Lande zieht. Englische Übersetzer täten sich, wie es in der Diskussion zur Buchvorstellung hieß, seit jeher schwer mit Kohlhaas-Übertragungen. Die Literatur auf der Insel ergehe sich zumeist in Satiren aufs Rechts- und Bürokratie-System, das Kohlhaas-Syndrom sei den britischen Autoren hingegen fremd.

Dass man die ganze Angelegenheit trotz aller Ernsthaftigkeit auch (selbst)ironisch auffassen kann, bewies übrigens just der allzeit streitbare Karl Kraus. Er unterzeichnete Briefe gelegentlich mit dem Gruß „Ihr Querulant“.

Rupert Gaderer: „Querulieren. Kulturtechniken, Medien und Literatur 1700-2000″. Verlag J. B. Metzler (Reihe „Media. Literaturwissenschaftliche Forschung), 368 Seiten, 59,99 Euro.




„Das Monster von Minden“ und andere Schwergewichte: Kurzfilme auf den Spuren der westfälischen Dinos

Frisch lackiert: Modell des Wiehenvenators (Screenshot aus dem besprochenen Film / © LWL)

Wenn man den Zahnfund aufs ganze Tier hochrechnet, kommt man auf eine ungefähre Körperlänge von 9 Metern. Wachstumsringe in seinen Knochen deuten darauf hin, dass dieses imposante Wesen noch nicht einmal seine volle Größe erreicht hatte. Donnerwetter!

Wir sprechen vom „Wiehenvenator“, der im Erdzeitalter Jura (liegt etwa 200 bis 145 Millionen Jahre zurück) im heutigen Westfalen lebte. Wieso dieser Name? „Wiehen“, weil die Fundstelle im Wiehengebirge bei Minden lag; „Venator“, weil das mächtige Tier ein Räuber, genauer ein Raubsaurier gewesen ist. Der kapitale Bursche hat sich also im heutigen Westfalen herumgetrieben. Ab 1998 wurde die Fundstelle freigelegt: Zum Vorschein kamen Teile des Schädels, des Kiefers, der Beine, der Rippen und eben der Zähne. Daraus ließen sich mancherlei Rückschlüsse über die Gesamterscheinung des Dinos ziehen, wie der Wissenschaftler Dr. Achim Schwermann erläutert.

In einer Serie von drei kurzen Filmen will der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) unterhaltsame Einblicke in die akribische Arbeit der Paläontologen geben. Dazu hat man den Schauspieler und YouTuber (ohne diese Bezeichnung geht heute kaum noch etwas) Fabian Nolte engagiert, der auf möglichst muntere Weise mit Wissenschaftlern spricht und besonders durchs Münsteraner LWL-Museum für Naturkunde streift. Der Ansatz ist regional: „Saurierland Westfalen“ lautet die Serien-Überschrift. Ganz ehrlich: Ich habe im ersten Moment „Sauerland“ gelesen. Aber das nur ganz nebenher. Wir sind ja schließlich im Edutainment-Bereich, da darf man schon mal abschweifen.

Imposantes Museumsstück aus dem 3D-Drucker

Jetzt ist jedenfalls der erste von drei Filmen online. Wir erfahren unter anderem, dass der Wiehenvenator zwar an Land gelebt hat, aber nach seinem Tod ins (damals noch ganz anders ausgedehnte) Meer gespült worden ist. Dort wurden seine sterblichen Überreste von Sedimenten bedeckt und sind daher gut erhalten geblieben. Anhand der Fundstücke aus der Region Minden und anderen Weltgegenden haben die Wissenschaftler im Computer eine 3D-Animation erstellt, die sodann mit einem 3D-Drucker materialisiert wurde. Passend lackiert (hierbei spielte auch die Phantasie eine gewisse Rolle), steht der nach bestem Wissen rekonstruierte Wiehenvenator nun im Museum. Schau mir in die Augen, Großer…

Natürlich stellt Fabian Nolte auch die Pflichtfrage nach dem „Jurassic Park“, sprich: Könnte man Saurier durch aufgefundene DNA wieder zum Leben erwecken? Experte Achim Schwermann muss ihn enttäuschen: Höchst unwahrscheinlich sei das. In den verflossenen Jahrmillionen hätten sich allenfalls DNA-Schnipsel erhalten. Nolte findet es schade. Möchte er denn wirklich gern solchen Dinos an der nächsten Straßenecke begegnen? Schließlich trägt der Wiehenvenator auch in diesem Film den Beinamen „Das Monster von Minden“.

Der Film ist offenbar vor den Corona-Beschränkungen entstanden, soll aber im Lockdown den Appetit auf künftige Museumserlebnisse wachhalten. Zwei weitere Streifen – jeweils rund eine Viertelstunde lang – werden am 11. und am 18. Februar freigeschaltet: „Westphaliasaurus – Eine Paddelechse aus Westfalen“ und „Ichthyosaurus – Ein ,Fischsaurier‘ wird filetiert“. Küchentipps sind da wohl nicht zu erwarten.

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Alle drei Filme finden sich unter diesem Link.




Keine Lust auf Endzeitstimmung – Ian McEwans Essays über „Erkenntnis und Schönheit“

Seine Bücher sind Weltbestseller, die Verfilmungen seiner Romane werden – wie „Abbitte“ mit Keira Knightley oder „Kindeswohl“ mit Emma Thompson – zu großen Kinoerfolgen. Jetzt hat Ian McEwan, der immer wieder auch als Kandidat für den Literaturnobelpreis gehandelt wird, ein Buch mit dem Titel „Erkenntnis und Schönheit. Über Wissenschaft, Literatur und Religion“ veröffentlicht. Der britische Autor kann freilich nichts für den blumigen deutschen Titel: Im englischen Original heißt das Buch schlicht „Science“(Wissenschaft).

Die fünf Essays basieren auf Vorträgen, die McEwan zwischen 2003 und 2019 bei verschiedenen Gelegenheiten gehalten hat. Dabei geht es nie darum, seine eigenen Romane in einem wissenschaftlichen Kontext zu interpretieren. Er will zeigen, dass Erkenntnis schön und Schönheit erkenntnisreich sein kann. Dass Wissenschaft sich viel schneller als neue Wahrheit in der Gesellschaft verbreitet, wenn sie elegant formuliert ist. Dass Neues in Literatur und  Wissenschaft vor allem eines braucht: intellektuelle Neugier, Risikobereitschaft, den Mut zum Scheitern.

Kaum jemand wäre besser dafür geeignet, einen Blick in die Geschichte der Wissenschaft zu werfen, ihre Triumphe und Verirrungen zu beschreiben, ein Plädoyer für Vernunft und Neugier zu halten, interessiert sich McEwan doch brennend für juristische Probleme, politische Konzepte, religiöse Abgründe. In „Solar“ verhandelte er nicht nur das Schicksal eines abgehalfterten Nobelpreisträgers, sondern auch noch Grundfragen der Physik, der Umwelt-Politik und Klima-Wissenschaft. „Kindeswohl“, ein Roman über einen an Leukämie erkrankten Jungen, machte McEwan zu einem poetischen Traktat über Vernunft und Religion. In „Maschinen wie ich“ verknüpfte er ethische Probleme der künstlichen Intelligenz und Neurologie mit einer spannenden Romanhandlung über Liebe und Tod.

Einstein und Darwin als elegante Schriftsteller

In einem seiner Essays verhandelt er nun die Frage, was Literatur und Wissenschaft verbindet und was sie über die menschliche Natur aussagen. Am Beispiel von Einsteins Essay über die „Spezielle und Allgemeine Relativitätstheorie“ sowie Darwins Berichte „Über die Entstehung der Arten“ und den „Ausdruck der Gemütsbewegungen bei den Menschen und den Tieren“ beschreibt McEwan, wie Wissenschaftler nicht nur den Mut haben, das Welt- und Menschenbild ihrer Zeit zu revolutionieren, sondern auch in der Lage sind, ihre neuen Erkenntnisse in elegante Literatur zu verwandeln.

Einstein hat gleichsam Gott vom Thron gestoßen und unser Universum aus den Wirkungsweisen von Raum und Zeit neu definiert. Darwin hat den Menschen nicht als Krönung der göttlichen Schöpfung, sondern als Ergebnis einer natürlichen Auslese und Teil einer Evolution neu definiert, die uns mit unseren direkten Verwandten verbindet: den Tieren, die uns in Mimik und Gestik ähneln und Scham und Schmerz, Angst und Freude auf ähnliche Weise ausdrücken wie der Mensch, über Generationen und Gesellschaften hinweg, so wie auch die Literatur, über Generationen und Gesellschaften hinweg, auf einen zeitlosen Fundus von Verständnis, Emotion und Intellekt zurückgreifen kann. Wie sonst könnte man erklären, dass die „Odyssee“ oder „Anna Karenina“ überall verstanden und genossen werden?

Wissenschaftler unter Zeit- und Erfolgsdruck

In einem anderen Aufsatz beschreibt McEwan, warum es für Wissenschaftler so wichtig ist, der Erste zu sein, warum Einstein und Darwin jahrelang herumtrödelten und erst einen Gang zulegten, als Konkurrenten am Horizont auftauchten, die zu ähnlichen Ergebnissen zu kommen schienen. Nur der Erste heimst allen Erfolg ein, nur über ihn wird geredet. Da haben es Schriftsteller einfacher: Zwar gibt es ein Copyright und ein Plagiats-Verbot, aber jeder Autor weiß, dass er auf den Schultern von Riesen steht und mit seinem neuen Gedicht oder Roman nur die Tradition fortschreibt, es sei denn, man heißt James Joyce und erfindet mit einem tausendseitigen Roman, der an einem einzigen Tag spielt und Erlebtes und Erdachtes sprachlich durch den Fleischwolf dreht, die Literatur völlig neu.

„Niemand wird uns retten, wenn wir es nicht tun“

Unter dem Titel „Endzeitstimmung“ versucht McEwan zu verstehen, warum immer noch Menschen an übernatürliche Kräfte und strafende Götter glauben, obwohl die Wissenschaft ständig Fortschritte macht und die Welt wie ein offenes Buch vor uns zu liegen scheint. Wie kann es sein, dass in den USA, die „weltweit für mehr als 4/5 der wissenschaftlichen Forschung verantwortlich“ sind und die meisten Nobelpreisträger stellen, „nur zwölf Prozent der Bevölkerung“ glauben, „das Leben auf der Erde habe sich durch natürlich Selektion ohne Intervention einer übernatürlichen Instanz entwickelt“? Die monotheistischen Religionen, schließt McEwan, basieren auf Endzeit-Visionen und der Lust auf die Apokalypse. McEwan schüttelt nur den Kopf: „Wir haben keinen Grund zu der Annahme, das irgendwelche Daten im Himmel oder in der Hölle vorgemerkt sind. Vielleicht vernichten wir uns selbst; vielleicht kommen wir davon. Uns dieser Ungewissheit zu stellen, ist ein Gebot der Reife und unser einziger Ansporn zu klugem Handeln. Niemand wird uns retten, wenn wir es nicht tun.“

Ian McEwan: „Erkenntnis und Schönheit. Über Wissenschaft, Literatur und Religion.“ Aus dem Englischen von Bernhard Robben und Hainer Kober. Diogenes Verlag, Zürich. 180 Seiten, 20 Euro.




Nietzsche und sein „Gast“, Thomas Bernhard und die finale Richtigstellung – Nachtrag zur Dortmunder „Korrektur“-Tagung

Hier noch ein Nachtrag zur Dortmunder Fachtagung übers Korrigieren und seine diversen Weiterungen. Am zweiten Konferenztag ging es u. a. um zwei besonders markante Gestalten der Philosophie- bzw. Literatur-Geschichte: Friedrich Nietzsche und Thomas Bernhard.

Screenshot-Auszug aus der Präsentation von Prof. Justus Fetscher: links ein heftig korrigiertes Typoskript von Thomas Bernhard („Tamsweg“, 1960), das nie in Buchform erschienen ist. (© Suhrkamp / Justus Fetscher)

Haben Sie schon mal den Namen Heinrich Köselitz gehört? Wahrscheinlich eher nicht. In der Fachwelt galt und gilt er vielfach als mediokrer Geist, doch Friedrich Nietzsche setzte einiges Vertrauen in den Mann, dem er diktierte oder Seiten zur Abschrift überließ. Zwar korrigierte Nietzsche dann seinerseits in Köselitz‘ Niederschriften, doch ließ er ihm auch zunehmend recht freie Hand. So veränderte Köselitz hie und da Ausdrücke des Philosophen, dachte sich eigenständig Kapitelüberschriften aus und begriff sich schließlich selbst als eine Art „Editor“ oder Ko-Autor mit der Lizenz zum Mitschreiben.

Stavros Patoussis (Saarbrücken) und Mike Rottmann (Freiburg / Halle-Wittenberg) legten anschaulich dar, welchen Einfluss Köselitz auf die Textgestalt mancher Nietzsche-Werke hatte bzw. gehabt haben könnte. Die Forschung dazu ist noch lückenhaft, es sind noch längst nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft.

Der Unterschied zwischen Autor und Schriftsteller

Nietzsche selbst schrieb im Zusammenhang mit dem Buch „Menschliches, Allzumenschliches“, er sei zwar der Autor (also Urheber), Köselitz aber sei gleichsam der Schriftsteller, zuständig für manche stilistische Feinheit. Fraglich allerdings, inwieweit man alles für bare Münze nehmen muss, was Nietzsche so von sich gegeben hat – nicht nur in Sachen Korrekturen. Dass ihm die Form ungemein wichtig war, ist indes ausgemacht. Der Stil war nach seiner Auffassung keineswegs sekundär, sondern essenziell fürs gesamte Gedankengebäude. Demnach hätte Köselitz (von Nietzsche übrigens „Peter Gast“ genannt) also auch inhaltliche Prägekraft entfaltet. Ein durchaus spannender Diskussionsansatz.

Bemerkenswert, wie auf solche Weise Nietzsches Bild als Originalgenie auf einsamer Geisteshöhe denn doch etwas zurechtgerückt wird. Er bediente sich eines ganzen Netzwerks von Zu- und Mitarbeitern. Vielleicht bringen uns solche Erkenntnisse den Philosophen sogar wieder etwas näher. Es könnte nicht schaden.

„Herumfuhrwerken“ in den eigenen Texten

Zeitsprung zu Thomas Bernhard, dessen korrigierendes „Herumfuhrwerken“ in eigenen Hervorbringungen geradezu manisch gewesen sein muss. Justus Fetscher (Germanist an der Mannheimer Uni) zeigte dazu einige Bernhardsche Korrekturfahnen im Faksimile. Da offenbart sich ein gehöriges Schriftchaos. Zuweilen strich Bernhard ganze Passagen, bis nur noch ein Halbsatz übrig blieb, der dadurch aber insgeheim mit viel mehr Bedeutung aufgeladen wurde. Es sind Lehrbeispiele zur möglichen Wirkung radikaler Kürzungen, die ja auch einen (häufigen) Sonderfall des Korrigierens darstellen.

Es bedurfte schon eines legendär duldsamen und auch den schwierigsten Autoren in besonderer Weise zugeneigten Verlegers wie Siegfried Unseld (Suhrkamp), um Bernhards Marotten zu ertragen oder sie gar ins Ertragreiche zu wenden.

In letzter Minute fertige Bücher zurückgezogen

Zuweilen konnte Bernhard das Erscheinen seiner Bücher nicht schnell genug gehen, sie sollten dann nur noch flüchtig lektoriert werden, da gab sich der Autor ungeahnt nonchalant. Justus Fetscher sagte, er selbst habe als junger Suhrkamp-Hospitant einen solchen Fall erlebt. Berüchtigt war Bernhard freilich für das umgekehrte Vorgehen: Immer mal wieder zog er Bücher, die schon fertig gesetzt waren, in den Vorschaukatalogen standen und vom ambitionierten Buchhandel sehnlichst erwartet wurden, quasi in letzter Minute zurück. Das kostete im Verlag nicht nur Nerven, sondern auch bares Geld.

Zu solchen Rückziehern dürfte Bernhard auch ein Gefühl des Ungenügens bewogen haben. Seine Korrekturseiten legen ja beredtes Zeugnis ab vom prinzipiell unendlichen Änderungs-Bedarf. Die drangvoll eng beschriebenen Blätter wirken zuweilen wie eine Prüfung auf maximal mögliche Seitenkapazität, die über und über gehämmerten Buchstaben-Anschläge durchlöchern oder zerfetzen an so manchen Stellen das Papier. Fast möchte man von „Anschlägen“ im doppelten Sinne sprechen. Das Schriftbild anderer Seiten ergibt, mitsamt den überschriebenen, gestrichenen und verworfenen Stellen, ein ruhigeres, nahezu graphisch wirkendes Bild, Justus Fetscher fühlte sich an „Frottagen“ erinnert, wie sie etwa Max Ernst geschaffen hat.

Fortwährende Korrektur als Stundung des Todes

Es konnte sich nicht besser zum Tagungsthema fügen: Thomas Bernhard hat einen Roman mit dem Titel „Korrektur“ verfasst. Auch darin geht es um unaufhörliches Korrigieren des Korrigierten – prinzipiell ad infinitum. Fortwährend erstellte, immer neue Versionen erweisen sich dabei als Aufschub und Stundung des Todes. Solange man korrigiert, lebt man. Letztlich aber reicht diese wahnwitzige Praxis – im Leben wie im Roman – eben nicht bis in die Unendlichkeit. Und so besteht die finale „Korrektur“, so eine Bernhardsche Denkfigur, im Selbstmord des Protagonisten Roithamer, der in einigen Wesenszügen dem Philosophen Ludwig Wittgenstein nachempfunden ist.

Die Schlussdiskussion der Tagung habe ich mir nicht mehr ansehen können. Auf jeden Fall hat diese Konferenz ein bislang unterschätztes, im Grunde aber höchst bedeutsames Themenfeld aufgetan. Korrekturen, ob von eigener oder fremder Hand, stehen geradezu im Mittelpunkt nicht nur des kulturelles Tuns und Trachtens.




Als Robert Walser von Christian Morgenstern gerügt wurde – eine digitale Dortmunder Fachtagung zum Thema „Korrigieren“

Dortmund. Das haben wir nicht alle Tage: dass von Dortmund aus eine literatur- und medienwissenschaftliche Diskussion angeregt wird und es dazu eine hochkarätige Tagung gibt – in diesen Zeiten freilich digital und virtuell. Wir reden von einer zweitägigen Fachdebatte zum bisher weithin unterschätzten Thema des Korrigierens in vielen Schattierungen. Das Spektrum reicht von der Lektorierung literarischer Texte bis hin zur oft so vermaledeiten Autokorrektur-Software – und ragt in einige andere Bereiche hinein.

Etwas unscharfer Screenshot von der Videokonferenz-Tagung: Prof. Thomas Ernst beim einleitenden Kurzvortrag, in der Bildleiste darüber weitere Tagungs-Teilnehmer(innen).

Wie noch nahezu jedes Thema, so lässt sich auch dieses im Prinzip unendlich auffächern und in allerlei Feinheiten zergliedern. Was abermals zu beweisen war und sich heute schon zu Beginn der Tagung angedeutet hat. Im Folgenden „schenken“ wir uns sämtliche Professoren- und Doktortitel, praktisch alle Beteiligten tragen den einen oder anderen. Und übrigens: Fast alle zeigten sich den Webcams vor üppig gefüllten Bücherregalen.

Eingeladen hatte das von Iuditha Balint geleitete Fritz-Hüser-Institut (FHI) für Literatur und Kultur der Arbeitswelt, das in der Nachbarschaft des Dortmunder LWL-Industriemuseums Zeche Zollern residiert. Mitorganisator ist Thomas Ernst (Amsterdam/Antwerpen), weitere Wissenschaftler*innen werden aus Bern, Hamburg, Berlin, Saarbrücken, Mannheim, Leipzig, Essen und Bochum zugeschaltet, die Kommunikation erfolgt via Zoom-Konferenz.

Machtverhältnisse und aufklärerisches Potenzial

Iuditha Balint legte in ihrer kurzen Einleitung dar, dass Korrekturen u. a. auch Ausdruck von Machtverhältnissen sein können (wer darf wen wie weitgehend „verbessern“?) und sozusagen ein Gegenstück zum Konzept von genialer oder auktorialer Autorschaft darstellen. Thomas Ernst führte aus, dass das Korrigieren zudem – schon in der Schule, wenn etwa Klassenarbeiten durchgesehen und bewertet werden – normative Funktionen erfülle. Auch Zensoren übten quasi eine Art „Korrektur“ aus. Am anderen Ende der Skala befördere das Korrigieren allerdings auch Formen kollektiver Zusammenarbeit und könne als Instrument der Aufklärung gelten. Wie wissenschaftliche Erkenntnisse sich überhaupt im Dialog und durch ständige Revisionen (also: Korrekturen) konstituieren, habe sich jüngst auch bei der Diskussion virologischer Themen vielfach erwiesen. Da war er, der aktuelle und buchstäblich virulente Bezug. Hier aber gilt’s den Geisteswissenschaften.

Die „Affenliebe“ zum eigenen Schreiben

Den ebenso anspruchsvollen wie interessanten Eröffnungsvortrag hielt sodann Ines Barner aus Essen. Sie skizzierte eine übergreifende Systematik zum Thema der Tagung und verwies dabei auf zwei konkrete Beispiele aus den Gefilden der literarischen Hochprominenz. So hat kein Geringerer als der Lyriker Christian Morgenstern – einer der frühen Lektoren im deutschsprachigen Literaturbetrieb – zeitweise die Betreuung des Romanautors Robert Walser („Geschwister Tanner“) übernommen. Anfangs höchst angetan vom kurz zuvor neu entdeckten Walser, schrieb Morgenstern ihm vor der Drucklegung einen ziemlich harschen Brief. Walsers „Affenliebe“ zum eigenen Text müsse nun endlich aufhören, er schreibe viel zu „weitschweifig“ und „selbstgefällig“, ja nahezu trivial. Sprach’s und strich kurzerhand ganze oder halbe Seiten aus dem ursprünglichen Text… Just solche „Störstellen“ (Ines Barner) hat Robert Walser hernach aufgegriffen, um sie eigenständig umzuarbeiten.

Peter Handke zwischen den Extremen

Anders gelagert war der Fall bei Peter Handke, dem Elisabeth Borchers als Lektorin des Buchs „Langsame Heimkehr“ zur Seite gestanden hat. Handke wusste nicht recht, wie er das Buch enden lassen sollte und steigerte sich in eine regelrechte Schreibkrise hinein, in deren Verlauf er Elisabeth Borchers freie Hand gab, den Text nach Belieben zu ergänzen, was einer Mitautorschaft gleichkam. Ein durchaus ungewöhnliches Verfahren. Handke hat seine Großzügigkeit denn auch später bereut, sich von Borchers als Lektorin getrennt und fortan umso entschiedener auf Unantastbarkeit seines Schreibens bestanden. Von einem Extrem ins andere…

Schon diese beiden Beispiele des Umgangs mit Korrekturen auf dem Felde der Hochliteratur lassen ahnen, wie spannend und vielfältig die Stoffe der Dortmunder Tagung sind. Es werden noch etliche weitere Aspekte in Betracht kommen, beispielsweise: Korrekturen und Lehrerurteile anhand deutscher Abituraufsätze in den 1950er Jahren (Sabine Reh), Korrekturprozesse bei der Verfertigung von Friedrich Nietzsches „Die fröhliche Wissenschaft“ (Stavros Patoussis / Mike Rottmann), „Zur Figur des Korrigierens bei Thomas Bernhard“ (Justus Fetscher), „Korrigieren mit der Schere“ (Marie Millutat) oder auch „Sprachliche Normen und Korrekturimpulse in automatisierten Korrekturprozessen“ (Ilka Lemke / Katrin Ortmann).

Schade nur, dass die Teilnehmerzahl auf rund 100 Leute begrenzt ist. So bleibt die Wissenschaft erst einmal unter sich. Doch Verlauf und Resultate der Tagung sollen später noch publiziert werden; zunächst in einigen Wochen als Zusammenschnitt (auf der Instituts-Seite fhi.dortmund.de), im nächsten Jahr dann als Tagungsband.

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P. S.: Auch dieser Beitrag wurde noch einer Korrektur unterzogen. Nur gut, dass er nicht gedruckt vorlag.

 

 




Im Zeichen des Mammuts – Dortmunds Naturmuseum nach sechs Jahren endlich wieder geöffnet

Museumsdirektorin Dr. Dr. Elke Möllmann und Dortmunds Oberbürgermeister Ullrich Sierau halten dem Wahrzeichen des Naturmuseums (aus vielen Originalteilchen zusammengesetztes Skelett einer Mammut-Kuh) ihre Schutzmasken vor. Sierau ließ es sich nicht nehmen, den hindernisreichen Umbau des Hauses als „Mammut-Aufgabe“ zu bezeichnen. (Foto: Bernd Berke)

Eine Stadt, die etwas auf sich hält, sollte beispielsweise mehrere Kunstmuseen haben, außerdem diverse Häuser zur (Kultur)-Geschichte – und möglichst ein naturkundliches Ausstellungs-Institut. In diesem Sinne rückt Dortmund jetzt beim Image-Wettbewerb der Kommunen endlich wieder in eine der vorderen Reihen auf: Nach schier unglaublichen sechs Jahren Umbauzeit (nur zwei hätten es sein sollen) eröffnet das Naturmuseum wieder, in gründlich veränderter Gestalt und deutlich attraktiver als ehedem.

Eigentlich ist – neben dem althergebrachten Stadtwappen-Adler – das Nashorn (Maskottchen des Konzerthauses) zum Dortmunder Werbetier avanciert, doch nun bekommt der Dickhäuter ebenso schwergewichtige Konkurrenz von einer Mammut-Dame. In mühseliger Kleinstarbeit hat man ihr Skelett fürs Museum zusammengesetzt, aus zahllosen originalen Einzelteilen, die (gleichsam als „Beifang“) auf dem Gebiet der heutigen Nordsee gefunden wurden. Vor rund 30.000 Jahren war dort noch trockenes Land. Schon angesichts eines solchen Zeitmaßes erscheint die sechsjährige Umbauzeit seit 2014 denn doch als (allerdings kostspielige) Petitesse. Und es geht ja museal noch viel weiter zurück: von den Eiszeiten (Quartär – hierhin gehört das Mammut) über das Zeitalter der Saurier (Kreidezeit) bis in die Frühzeit der Kohle-Entstehung (Karbon).

Kindgerechtes Marketing: Das Mammut gibt’s auch schon als Stofftier. (Foto: Bernd Berke)

Ach ja, übrigens: Nähere Einzelheiten zur Genese des bundesweit beispiellosen Dortmunder Mammuts finden sich hier. Und noch viel, viel mehr steht im „Mammutbuch“, das von den Freunden und Förderern des Naturmuseums neu herausgebracht wurde.

„(Bitte nicht) am Dino packen!“

Das zweite spektakuläre Hauptstück des Hauses ist nicht original, sondern ein nachempfundenes Dinosaurier-Modell. Die Dortmunder kennen das mächtige Wesen noch aus dem alten Naturkundemuseum, wie es vormals geheißen hat. Dortmund Oberbürgermeister Ullrich Sierau (SPD) sagte heute zur Eröffnung, er sei in den letzten Jahren vielfach darauf angesprochen worden, wann denn der Dino (und all die anderen Exponate) wieder zu sehen sein würden. Er musste die Menschen wieder und wieder vertrösten. Heute aber rief er launig und spontan in Ruhri-Diktion aus: „Jetzt kann man wieder am Dino packen!“ Da freilich musste er sich von den Museumsleuten höflich korrigieren lassen. Nicht nur, aber derzeit vor allem „wegen Corona“ dürfen etliche Objekte und Mitmach-Stationen noch nicht so berührt werden, wie man es sich gewünscht hätte.

Viele Kalamitäten beim Umbau – nur kein Vulkanausbruch

Museumsdirektorin Dr. Dr. Elke Möllmann skizzierte kurz die schier endlose Abfolge von Pech und Pannen in der Umbauzeit. Mal ging eine Baufirma pleite, mal gab’s keinen Strom, kein Internet, keine Heizung oder kein Wasser, dann wieder hatte man eine Überschwemmung. „Nur einen Vulkanausbruch – den hatten wir nicht…“

So präsentiert sich jetzt der Eingangsbereich des Naturmuseums. (Foto: Bernd Berke)

Die Museumschefin erläuterte das veränderte Konzept: Während das Museum früher die wissenschaftliche Systematik in Biologie und Geologie nüchtern abgearbeitet habe, sei der Rundgang heute im Wesentlichen regionalspezifisch und möglichst sinnlich arrangiert. Man setzt also konsequent in der Lebenswelt Dortmunds und des Umlandes an, ganz konkret zum Beispiel bei den Dortmunder Großgrünflächen Westfalenpark, Rombergpark, Hauptfriedhof und Fredenbaum. Diese Parklandschaften und andere Lebensräume sind (unter dem Obertitel „Stadt – Land – Fluss“) Ausgangspunkte naturgeschichtlicher Erkundungen und Erzählungen, die sich immer mehr verzweigen.

Die Vielfalt reicht bis in Alltagsfragen hinein, beispielsweise: Was muss ich bei der Haltung eines Meerschweinchens beachten? Andererseits rührt man natürlich auch an die großen Fragen der Entstehung des Lebens und der Ökologie. Wollte man hier all die vielen Schubladen mit pointiertem Zusatzwissen aufziehen und die Tafeln lesen, so hätte man sehr reichlich zu tun. Besser wär’s, man käme mehrmals wieder.

Vermittlung durch Vitrinen bleibt eher die Ausnahme

Ja, es gibt auch einige Vitrinen (etwa mit präparierten Vögeln oder Eichhörnchen und dergleichen Getier), doch derlei traditionelle Vermittlung ist eher die Ausnahme, auch wirkt das Inventar „lebendiger“, denn alles ist ungleich besser ausgeleuchtet als früher in den notorisch schummrigen Museen. Wo immer es ging, hat man versucht, Informationen zeitgemäß mit anschaulichen Dioramen, Touchscreens, Videos oder Hörstationen aufzubereiten. In der Pflanzenabteilung darf man ausgewählte Düfte riechen, in einem großen Aquarium schwimmen heimische Fische. Auf der geologischen Etage, die einem vielleicht nicht gar so nah liegt wie die Tierwelt, werden Fossilien durch farbliche Gestaltungen und überraschende Zusammenhänge „zum Sprechen gebracht“. So liegen etwa die uralten Ammoniten nicht einfach nichtssagend herum, sondern sie werden buchstäblich ansprechend präsentiert. Zudem ergeben sich auf den verschiedenen Stockwerken immer wieder reizvolle Perspektiven, die auch dem ästhetischen Empfinden Genüge tun.

Auch eine Katze leistete ihren naturgemäßen Beitrag

Nicht nur die Museumsdirektorin und ihr Team haben seit 2014 einiges geleistet, selbst die Katze von Frau Dr. Dr. Möllmann war indirekt beteiligt. Sie hat Mäuse gefangen, deren filigrane Skelette sodann präpariert wurden und nun in einem speziellen Schaukasten zu sehen sind; selbstverständlich im wissenschaftlichen Kontext.

Gut denkbar, dass das Naturmuseum, wie zuvor das Naturkundemuseum, wieder zum besucherstärksten Haus in Dortmund wird (wenn man vom Deutschen Fußballmuseum einmal absieht). Nicht nur nebenher bedeutet es auch eine kulturelle Aufwertung der gelegentlich als problematisch verschrienen Dortmunder Nordstadt.

Naturmuseum Dortmund. Münsterstraße 271. Ab Dienstag, 8. September 2020, jeweils dienstags bis sonntags 10-17 Uhr (zu diesen Zeiten ist auch das neue Museumscafé „Ammonit“ geöffnet). Eintritt in die Dauerausstellung frei. Neu seit 22. September: tägliche Öffnungszeit um eine Stunde erweitert, also Di bis So 10-18 Uhr

Reservierung erforderlich: Tickets über www.naturmuseum-dortmund.de

Tel.: 0231 / 50-24 856. Mail: naturmuseum@stadtdo.de

Internet: www.naturmuseum.dortmund.de

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Einlass-Regelung/Reservierung

Es muss vorab online für jede Person (unabhängig vom Alter) eine Reservierung vorgenommen werden, und zwar auf dieser Seite:

www.naturmuseum-dortmund.de

Die Reservierungen sind jeweils auf ein bestimmtes Einlass-Zeitfenster begrenzt. Dies bedeutet, dass der Zugang zum Museum nur zu dieser Zeit gestattet wird. Durch die Limitierung der Reservierungen soll gewährleistet werden, dass die aktuell maximal zulässige Personenanzahl im Naturmuseum zu keinem Zeitpunkt überschritten wird.

Vorerst werden nur Reservierungs-Möglichkeiten für jeweils zwei Wochen online gestellt.

 

 




Die Rettung des Planeten kann auch aus Poesie erwachsen: Andri Snær Magnasons aufrüttelndes Buch „Wasser und Zeit“

Wenn ein Thema dieser Zeit global und entsetzlich entgrenzt genannt werden kann, dann das wohl dringlichste überhaupt: der Klimawandel. Es ist denn auch viel mehr als ein „Thema“ unter anderen, es geht ja um die ganze Existenz des Planeten und unseres Daseins.

So darf es auch nicht verwundern, dass der isländische Autor Andri Snær Magnason für sein streckenweise aufrüttelndes Buch eine geradezu verwegene Mixtur anrührt, indem er beispielsweise vorzeitlichen und immer noch nachwirkenden Bezügen zwischen seiner karstigen Heimat und dem Himalaya nachspürt. Dermaßen auffällig erscheinen ihm landschaftliche, spirituelle und mystische Querverweise, dass es kein Zufall mehr sein könne, sondern höherer und tieferer Sinn darin liegen müsse, der jede dürre Schulweisheit übersteigt oder jedenfalls überhöht. Nicht nur mit Daten, sondern auch und vor allem mit Dichtung lasse sich vor Augen führen, wie schön das Verlorene war und wie ernst die jetzige Situation ist.

„Mit Gottes stillegeschwängerter Kosmosweite“

Der ungemein vielseitige Schriftsteller Magnason (Kinderbücher, Theaterstücke, Lyrik, Romane, Sachbücher), der auch schon mal bei der Präsidentschaftswahl seines Landes kandidiert hat, findet, dass wir noch gar keine adäquate Sprache gefunden haben für die drohenden Katastrophen, die ihn wiederum an die altisländischen Vorstellungen vom Ragnarök (Weltuntergang) gemahnen. Elemente der geistesgeschichtlich überlieferten „Romantik“, Naturanbetung und beseeltes Erzählen scheinen nach seiner Ansicht hierbei entschieden weiter zu führen als nur rationale Betrachtungen oder prognostische Berechnungen. In poetischer Diktion wird ein Gletscher-Erlebnis vollends überwältigend, so heißt es etwa in einem Text des Romantikers Helgi Valtysson: „Und dein Selbst verschmilzt wie eine bebend erklingende Saite mit Gottes stillegeschwängerter Kosmosweite…“ Für Magnason ist es keine Frage mehr, dass dieses Gefühl und seine natürliche Grundlage bewahrenswert sind. Freilich ließe sich das alles auch als Esoterik denunzieren, aber es gibt ungleich Wichtigeres zu tun.

Nach einer passenden Sprache suchen

Traditionelle isländische Sprechgesänge, noch von den Großeltern des Autors überliefert, korrespondieren mit einer damals noch recht intakten Natur, vor allem mit den mächtigen Gletschern, die nun längst dahinschmelzen; ein höchst beunruhigendes Phänomen, das abermals auf die Himalaya-Region bezogen wird, wo das Leben vieler Millionen Menschen vom alljährlichen Zyklus des Gletscherwassers abhängt. Wasser und Zeit…

An einem etwas anders gelagerten Beispiel sucht Magnason zu erläutern, wie Menschen ihre Lage gar nicht begreifen können, wenn sie keine passenden Worte für akute Zustände haben. So habe schon um 1809 der dänische Abenteurer Jørgen Jørgensen den Isländern erzdemokratische Freiheitswerte und Unabhängigkeit gepredigt, doch das Volk habe überhaupt nicht gewusst, wovon er da redete – und sei der dänischen Fremdherrschaft hörig geblieben.

„Jedes Leben ist eine Lebensaufgabe“

Das Buch führt in die Frühzeit der isländischen Gletscherforschung in den 1930er Jahren, die wiederum verwoben wird mit der Familiengeschichte des Autors, welche auch in andere Bereiche ausgreift. Wer kann schon von sich sagen, dass ein Großvater in die USA ausgewandert ist und dort als Arzt sowohl den Schah von Persien als auch Andy Warhol operiert hat? Wer kann mit Fug behaupten, ein Onkel sei weltweit ein Pionier bei der Rettung nahezu ausgerotteter Krokodile gewesen? Wie heißt es doch auf Seite 139 so allgemeingültig: „Jedes Leben ist eine Lebensaufgabe…“

Was einem zwischendurch wie bloße Abschweifung erscheinen mag, markiert in Wahrheit wohl die Spannweite der möglichen und (prinzipiell jedem zugänglichen) Lebenserfahrung, die eben potentiell auch rückwärts bis zu den Vorfahren und vorwärts bis zu Kindern und Enkeln reicht. Auch schon vor ergänzender Lektüre begründet dies eine Verantwortlichkeit für den Zustand der Welt. Die fassbare Dimension der Zeit umgreift mehr als das eigene Leben. Diese Einsicht bewirkt, dass man über sich und seine Generation hinausdenkt; dass man gewahr wird, wie sehr die Erde sich seit den Ahnen geändert hat, welche Verluste bereits eingetreten sind. Das Schicksal der Erde dreht sich derweil nicht mehr um zigtausend Jahre, es steht – so der glaubhaft erschreckende Befund – Jahr um Jahr mehr auf dem Spiel, ist vielleicht schon bald unwiderruflich besiegelt.

Welch eine Bürde für die Nachgeborenen!

Von immer neuen Seiten beleuchtet der Autor die gigantische Bedrohung. Gelegentlich scheint das Buch thematisch etwas auszufransen, doch nimmt es auch immer wieder die Hauptspur auf. Der Zufall (oder die Fügung?) wollte es, dass Magnason mehrfach Gespräche mit dem Dalai Lama führen durfte, dessen Weisheit in allen Dingen mit staunenswerter Zuversicht einhergeht, wie denn überhaupt gegen Schluss des Bandes einige Entwicklungen und Forschungen anklingen, in denen Lösungsansätze stecken könnten. Doch es geht eben nicht nur um Forschung, sondern zuallererst um Haltung und Entschlusskraft. Und Magnason ist überzeugt: Die jetzt heranwachsende ist die letzte Generation, die die Erde retten kann. Welch eine Bürde!

Andri Snær Magnason: „Wasser und Zeit. Eine Geschichte unserer Zukunft“. Aus dem Isländischen von Tina Flecken. Insel Verlag, 304 Seiten, 24 Euro.

 




Corona-Wortsammlung – weitgehend ohne Definitionen, aber fortlaufend aktualisiert

Wohl unter „M“ einzuordnen: in diesen Tagen ratsame bzw. pflichtgemäße Mund-Nasen-Bedeckungen. (Update: Achtung, Achtung! Solche Stoffexemplare sind mittlerweile durch medizinische Masken zu ersetzen). (Foto: BB)

Hier ein kleines Corona-„Lexikon“, darinnen etliche Worte, Wendungen, Zitate, Namen und Begriffe, von denen wir zu Beginn des Jahres 2020 nicht einmal zu träumen gewagt haben; aber auch bekannte Worte, die im Corona-Kontext anders und häufiger auftauchen, als bislang gewohnt. All das zumeist ohne Definitionen und Erläuterungen, quasi zum Nachsinnen, Ergänzen und Selbstausfüllen. Und natürlich ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit, aber von Zeit zu Zeit behutsam ergänzt. Vorschläge jederzeit willkommen.

Dazu ein paar empfehlende Hinweise: Die Gesellschaft für Deutsche Sprache hat sich einige Wochen lang in einer Serie mit den sprachlichen Folgen der Corona-Krise befasst, hier ist der Link.

Eine mit derzeit (März 2021) rund 1200 Einträgen sehr umfangreiche Liste von Corona-Neologismen hat das in Mannheim ansässige Leibniz-Institut für Deutsche Sprache online gestellt. Bitte hierher.

Das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache (DWDS) hat ein umfangreiches Corona-Glossar veröffentlicht, dazu bitte hier entlang.

Ein Glossar zum phänomenalen NDR-Podcast mit Prof. Christian Drosten und Prof. Sandra Ciesek findet sich hier.

Einige weitere Erklärungen hat die Zeitschrift GEO gesammelt, und zwar hier.

In ihrer Ausgabe vom 4. Januar 2021 (!) ist die „Süddeutsche Zeitung“ in Person des Autors und Dramaturgen Thomas Oberender schließlich auch auf den Trichter gekommen und bringt unter der Zeile „Die Liste eines Jahres“ eine recht umfangreiche Wortsammlung. Daraus habe ich mir auch ein paar Ausdrücke genehmigt. Oberender darf sich wiederum hier bedienen.

Nun aber unsere Liste der Wörter, Wendungen und Namen:

1,5 Meter Abstand
2 Meter Abstand
2-G-Regel („geimpft oder genesen“)
2-G-plus („geimpft oder genesen und getestet)
3-G-Regel („geimpft, genesen, getestet“)
3-G-plus (nur mit PCR-Test, nicht mit Antigen-Text)
6-Monats-Abstand (bzw. 3, 4 oder 5 Monate – zwischen Zweitimpfung und „Boostern“)
7-Tage-Inzidenz
15-Minuten-Regel (Gesprächsdauer, die das Risiko begrenzt)
15 Schüler(innen) im Klassenraum
15-Kilometer-Radius (um den Wohnort)
20 Quadratmeter pro Kunde (in größeren Geschäften ab 26.11.2020)
21 Uhr (Ausgangssperre)
23 Uhr (Sperrstunde)
-70 Grad (erforderliche Kühlung des BioNTech-Impfstoffs)
800 Quadratmeter (Verkaufsfläche)
50.000 Arbeitsschritte (zur Produktion des BioNTech-Impfstoffs)
100.000 Einwohner (Maßzahl zur Inzidenz)

Absagen
absondern
Abstand
Abstrich
achthundert Quadratmeter (Verkaufsfläche)
Adenoviren
Aerosol
Aerosolbildung
AHA-Formel (Abstand – Hygiene – Alltagsmaske)
AHA-Regeln
AHA+L (…plus Lüften)
Akkolade (französ. Wangenkuss-Begrüßung, nunmehr verpönt)
Alkoholverbot
#allesdichtmachen (umstrittene Schauspieler-Aktion)
#allesschlichtmachen
„Alles wird gut!“
Allgemeinverfügung
Alltagsmaske
Alpha (neuer Name für britische Mutante)
Altenheime
Alterskohorte
Aluhut
„an Corona“ (verstorben – vgl.: „mit Corona“)
„andrà tutto bene“
Antikörper
Antikörpertest
App (zur Nachverfolgung)
Armbeuge (Hust- und Nies-Etikette)
AstraZeneca (Impfstoff-Hersteller)
asymptomatisch
„auf dünnstem Eis“ (Merkel)
„aufgrund der aktuellen Umstände“
„auf Sicht fahren“
aufsuchende Impfung
Ausgangssperre
Autokino (Renaissance)
AZD1222 (Impfstoff von AstraZeneca)
AZD7442 (Medikament von AstraZeneca)

B.1.1.7 (britische Mutation des Corona-Virus / Aplha)
B.1.1.28.1 – P.1 (brasilianische Mutation)
B.1.1.529 (neue südafrikanische Variante, November 2021)
B.1.351 (südafrikanische Mutation)
B.1.526 (New Yorker Mutation)
B.1.617 (indische Mutation / Delta)
BA.2 (BA.1, BA.3) Subtypen der Omikron-Variante
Balkongesang
Balkonklatscher
Bamlanivimab (Antikörper-Medikament)
„Bazooka“ (massive Geldmittel – laut Olaf Scholz)
Beatmung
Beatmungsgerät
bedarfsorientierte Notbetreuung (Kita)
Beherbergungsverbot
behüllte Viren
Bergamo
„Bergamo ist näher, als viele glauben.“ (Markus Söder, 13.12.2020)
Bernhard-Nocht-Institut
Besuchsverbot (Alten- und Pflegeheime)
Beta (neuer Name für südafrikanische Mutante / B.1.351)
Bfarm-Liste (Auflistung der Antigen-Tests)
Bildungsgerechtigkeit
„Bild“-Zeitung (Kampagne gegen Drosten etc.)
Biontech / BioNTech (Impfstoff-Hersteller)
Black-Swan-Phänomen
Blaupause, keine
„Bleiben Sie gesund“ (Grußformel)
Blitz-Lockdown (vor Weihnachten/Silvester 2020)
Blutgerinnsel
BNT 162b2 (Biontech-Impfstoff)
Böller-Verbot
Booster
Booster-Impfung
boostern
Bremsspur („Das Virus hat eine unglaublich lange Bremsspur“ – Jens Spahn)
Brinkmann, Melanie (Helmholtz-Zentrum, Braunschweig)
„Brücken-Lockdown“ (Armin Laschet am 5. April 2021)
Bundesliga (Geisterspiele etc.)
Bundesnotbremse
Buyx, Alexa (Vorsitzende Deutscher Ethikrat)

C452R (Teil der indischen Doppelmutante)
CAL.20C (kalifornische Mutante)
case fatality
Casirivimab (Antikörper-Medikament)
Celik, Cihan (Leiter der Covid-Station am Klinikum Darnstadt)
China
Chloroquin
Ciesek, Sandra (Virologin, Frankfurt/Main)
Click & collect (Bestellung und Abholung)
Click & meet (Shoppen mit Termin)
Comirnaty (Handelsname des Biontech-Impfstoffs)
Contact Tracing
COPD (Lungenkrankheiten)
Corona
Corona-Ampel
coronabedingt
Corona-Biedermeier
Corona-Bonds
Corona-Blues
Corona-Chaos
Corona-Deutschland
„Corona-Diktatur“
Corona-Ferien
coronafrei
coronahaft
Corona-Gipfel
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Corona-Hotspot
Corona-Kabinett
Corona-Krise
Corona-Koller
Corona-Müdigkeit
Corona-Mutation
Corona-Notabitur
Corona-Pandemie („Wort des Jahres“ 2020)
Corona-Panik
Corona-Party
Corona-Schockstarre
Corona-Skeptiker
Corona-Tagebuch
Corona-Ticker
Corona-Verdacht
Corona-Winke (Gruß aus der Distanz)
Corona-Zoff
Coronials („Generation Corona“)
coronig
coronös
„Corontäne“ (Quarantäne wg. Corona)
Corozän (Corona-Zeitalter)
Cove (Impfstoff von Moderna)
Covid-19
Covidioten (Hashtag / siehe Verschwörungstheoretiker)
CovPass (App)
CureVac (Impfstoff-Hersteller)

Datenschutz (bei der Corona-Warn-App)
„Dauerwelle“
Decke auf den Kopf („Mir fällt die…“)
Dekontamination
Delta (neuer Name für die indische Mutante)
Delta Plus (Variante der Variante: B.1.617.2.1)
Desinfektion, thermische
Desinfektionsmittel
Desinfektionsmittel spritzen (Trump)
„Deutschland macht sich locker“
Dezemberhilfe(n)
Digitaler Impfnachweis
Digitaler Unterricht
„Distanz in den Mai“ (statt „Tanz in…“)
Distanzschlange
Distanzunterricht
Divi-Intensivregister
„Doppelmutante“ (indische Mutation, laut Prof. Drosten irreführender Begriff)
„dorfscharf“ (lokale Grenzziehungen beim Lockdown)
dritte Welle (befürchtet im Frühjahr 2021)
Drittimpfung
Drive-in-Test
Drosten, Christian (Charité, Berlin)
Drosten vs. Kekulé
durchgeimpft
Durchseuchung

E484Q (Teil der indischen Doppelmutante)
Ebola
Eindämmung
eineinhalb Meter (Abstandsregel)
eingeschränkter Pandemiebetrieb
eingeschränkter Regelbetrieb
Einreisestopp
„Einsperr-Gesetz“ (Ausgangsbeschränkungen laut „Bild“-Zeitung)
Einweghandschuhe
E-Learning
Ellbogencheck (Corona-Gruß)
Ema (Europäische Arzneimittel-Agentur)
Epidemie
Epidemiologie
„Epidemische Lage (von nationaler Tragweite)“
„Epidemische Notlage nationaler Tragweite“
Epizentrum
Epsilon (Virus-Variante B.1.427 / B.1.429)
Erntehelfer
Erstgeimpfte
Eta (Virus-Variante B.1.525)
Etesevimab (Antikörper-Medikament)
Exit-Strategie
exponentiell (Wachstum)

Falk, Christine (Präsidentin Dt. Gesellschaft für Immunologie, Hannover)
Fallsterblichkeit
Fallzahlen
fatality
Fatigue
Fauci, Anthony (US-Virologe)
Fax (Kommunikations-Instrument mancher Gesundheitsämter)
„…feiert keine stille Weihnacht.“ („Das Virus feiert…“ / Olaf Scholz am 13.12.2020)
Ffp2
Ffp3
flatten the curve
Fledermaus
Fleischfabriken
Flickenteppich (Föderalismus)
Fluchtmutation
forsch / zu forsch (Lockerungen, laut Merkel)
free2pass (App für Tests und Einlasskontrolle)
Freiheit
Frisöre / Friseure
Fuß-Gruß

G 5 (Verschwörungstheorie um den Mobilfunkstandard)
Gästeliste (Pflicht im Lokal)
Gamma (neuer Name für brasilianische Mutante / P.1)
„Gang aufs Minenfeld“ (Erfurts OB über Lockerungen in Thüringen)
Gangelt
Gastronomie
Gates, Bill
Geisterspiele (Bundesliga etc.)
Genesene
Genesenenstatus
Geruchs- und Geschmacksverlust (als Corona-Symptom)
geschlossene Räume
geteilte Schulklassen
Google Meet (Videokonferenz-Plattform)
Grenzkontrollen
Grenzschließungen
Großeltern (nicht) besuchen
„Grüner Pass“ (Israel / bescheinigt Corona-Impfung)
Grundimmunität
Grundrechte
Grundsicherung
Gütersloh (kreisweiter Lockdown wg. Tönnies)

Händedruck (kein)
Händewaschen
Härtefall-Fonds
häusliche Gewalt
hammer and dance
Hamsterkäufe
hamstern
Heimbüro
„Heimsuchung“ (Angela Merkel am 25. Oktober 2020)
Heinsberg
Heizpilze (herbstliche Option für Gastro-Betriebe)
„Held / Heldin des Alltags“
Helmholtz-Gemeinschaft
Hepa-Filter
Herdenimmunität
Herold, Susanne (Uniklinik Gießen)
heterologe Impfung (zwei verschiedene Impfstoffe bei Erst- und Zweitimpfung)
Hildmann, Attila
Hintergrundimmunität
Hintergrundinfektion
Hirnvenenthrombosen
Hochrisikogruppe
Hochzeitsfeier
Home-Office
Home-Schooling
Hospitalisierungs-Inzidenz
Hospitalisierungsrate
Hotspot
Husten
Hust- und Nies-Etikette
Hybrid-Unterricht
„Hygiene-Demos“
Hygieneplan
Hygiene-Konzept
Hygiene-Regeln
Hygiene-Standards
Hyperglobalisierung

Ibuprofen
Imdevimab (Antikörper-Medikament)
Immunabwehr
Immun-Escape
Immunologe
Impfangebot
Impfbereitschaft
Impfbus
„Impfchaos“
Impfdosen
Impfdosis
Impfdrängler
Impfdurchbruch (Infektion trotz Impfung)
Impfgegner
Impfgipfel
Impfling
Impflücke
Impfneid
Impfpass
Impfpflicht
Impfquote
Impfreihenfolge
Impfskeptiker
Impfstau
Impfstoff
„Impfstoff-Nationalismus“
Impfstraße
Impfstrategie
Impftermin
Impfung
Impfversprechen
Impfverweigerer
Impfvordrängler
Impfwilligkeit
Impfzentrum
Impfzwang
„Impfzwang durch die Hintertür“
inaktivierte Vakzine
Infektionsampel
Infektionskette
Infektions-Notbremse
Infektionsschutzgesetz (IfSG)
„Infodemie“
Inkubationszeit
Insolvenz(en)
„Instrumentenkasten“ (verfügbare Corona-Maßnahmen)
Intensivbetten
Intensivkapazität
Intensivstation
Inzidenz
Inzidenz-Ampel
Inzidenzwert
„In (den) Zeiten von Corona“
Iota (Virus-Variante B.1526)
Ischgl
Isolation
Israel (weltweites Impf-Vorbild)
Italien

„Jens, jetzt keine Emotionen!“ (Angela Merkel zu Jens Spahn – beim Impfgipfel am 1.2.2021)
Johns-Hopkins-Universität
Johnson & Johnson (Impfstoff-Hersteller)

Kappa (Virus-Variante B.1.617.1)
Kappensitzung (Heinsberg etc.)
Kariagiannidis, Christian (Leiter Insensivbettenregister)
Kassenumhausung
Kaufprämie (für Autos)
Keimschleuder
Kekulé, Alexander S.
„…kennt keine Feiertage.“ („Das Virus kennt…“)
„…kennt keine Ferien.“ („Das Virus kennt…“)
„…kennt keine Grenzen.“ („Das Virus kennt…“)
Kita-Schließungen
„Kleeblatt-Prinzip“ (bei Verlegung von Intensiv-Patienten in andere Bundesländer)
Kliniken (im RKI-Jargon auch „Klinika“)
Knuffelcontact (Belgisch/Flämisch für den möglicherweise einzigen Kuschelkontakt)
„körpernahe Dienstleistungen“
Kontaktbeschränkung
kontaktlos
kontaktloses Bezahlen
Kontaktperson
Kontaktsperre
Kontaktsport(arten)
Kontakttagebuch
kontaminierte Oberfläche
Kreuzimpfung (z. B. Erstimpfung mit AstraZeneca, Zweitimpfung mit Biontech)
„Krise als Chance“
Krisengewinn(l)er
Krisenreaktionspläne
Kulturschaffende
Kurzarbeitergeld

laborbestätigt
Lambda (Virus-Variante C.37)
Laschet, Armin
Lauterbach, Karl (Gesundheitsminister ab Dez. 2021)
Leopoldina
Letalität
„(das) letzte Weihnachten mit den Großeltern…“ (Angela Merkel)
Lieferketten
Liquiditätshilfen
Lockdown
Lockdown Light
Lockerung
„Lockerungsdrängler“ (Röttgen)
Lockerungsperspektive
Lockerungsübung
Lolli-Test
Lombardei
Long-Covid (Langzeit-Nachwirkungen)
Luca (Warn-App)
Lüftung
Lungenentzündung

„macht sich locker“ („Deutschland macht…“)
Marderhunde (mögliche Virusquelle, laut Drosten)
Maske
Maskenintegrität
Maskengutschein
Maskenmuffel
Maskenpflicht
Maskenverweigerer
Maßnahmen
„mehr als 90 Prozent“ (Imfstoff-Wirksamkeit)
Meldeverzug
Merkel, Angela
MERS
Meyer-Hermann, Michael (Helmholtz / Braunschweig)
„mit Corona“ (verstorben)
mobile Impfteams
Moderna (US-Impfstoff-Hersteller)
Molnupiravir (Corona-Medikament)
Mortalitätsrate
mRNA-1273 (Impfstoff von Moderna)
mRNA-Impfstoff
„mütend“ (Corona-Gefühlslage, Mischung aus mürbe und wütend – oder müde und wütend)
Mund-Nasen-Schutz (MNS)
Mundschutz (Plural: Mundschutze)
Mutanten
Mutation

Nachverfolgung
„Nasenbohren“ (saloppe Umschreibung für manche Schnelltests)
Nena (Corona-Verharmloserin)
neuartig(es)
„Neue Normalität“
Neuinfektionen
New York
niederschwellige Basisschutz-Maßnahmen
Nies-Etikette
No-Covid-Strategie
Normalität
Notbetreuung
Notbremse (harte N. / flexible N.)
Notstand
Novavax (Impfstoff-Hersteller)
Novemberhilfe(n)
Null-Covid-Strategie

Obergrenze für Neuinfektionen
„Öffnungsdiskussionsorgien“ (Merkel)
Öffnungsschritte
„Öffnungsrausch“ (Markus Söder)
Olympische Spiele (in Tokyo praktisch ohne Live-Zuschauer)
Omikron / Omicron (neue südafrikanische Variante, November 2021)
Omikron-Wand (Steigerung der Omikron-Welle)
on hold („angehaltenes“ Leben)
Online-Aufführung
OP-Maske

P.1 (brasilianische Virus-Mutation)
Palmer, Boris (OB Tübingen)
Pandemie
Pandemie-Müdigkeit
Pangolin (Gürteltier als möglicher Zwischenwirt)
„Paranoia-Promis“ (Hildmann, Naidoo, Wendler, Jebsen etc.)
Party
Patentfreigabe
„Patient Null“ (ursprünglicher Überträger)
Paul-Ehrlich-Institut
Paxlovid (Corona-Medikament von Pfizer)
PCR-Test
PEG (Polyethylenglykol / Inhaltsstoff von Impfmitteln)
Penninger, Josef (speziell für unsere österreichischen Freunde)
persönliche Schutzausrüstung (PSA)
Pest (Referenz-Seuche)
Pflegeheime
Pflegekräfte
Pflegenotstand
physical distancing
„Piks“ (etwas infantile Bezeichnung für die Impfung)
Plateau
Pleitewelle
Pneumokokken
Pneumonie
„Pobacken zusammenkneifen“ (Appell von RKI-Chef Wieler am 12.11.2020)
Positivrate (z. B. pro 1000 Tests)
Postcorona (die Zeit „danach“)
Präsenzunterricht
Präsenzveranstaltung
Präventions-Paradox
Prepper
Preprint (vorveröffentlichte Wissenschafts-Studie)
Priesemann, Viola (Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation, Göttingen)
Prio (neuerdings gängige Abkürzung)
priorisieren
Prioritätsgruppe
Prof.
proteinbasierte Impfstoffe

Quarantäne
„Querdenker“ (Euphemismus für Verschwörungstheoretiker)

Rachenabstrich
Ramelow, Bodo (Vorreiter der Lockerung)
Regelbetrieb
Regeneron (US-Hersteller von Antikörper-Cocktails)
Reiserückkehrer
Reisewarnung
Remdesivir
Reproduktionsrate (gern 0,7 oder niedriger)
Respiration
Restart (Bundesliga)
Rettungsschirm
Rezeptoren
Rezession
R-Faktor
R-Wert
Risikogebiet
Risikogruppe
RKI
Robert-Koch-Institut
Rückholaktion
„Ruhetage“ (Gründonnerstag & Ostersamstag 2021 / verkündet 23.3.2021 – zurückgenommen 24.3.2021)

SARS
SARS-CoV-2
Schaade, Lars (RKI-Vizepräsident)
Schichtunterricht
Schlachthöfe (Coesfeld etc.)
Schlangenmanagement
Schlauchboot-Party (Berlin, Landwehrkanal)
Schleimhautschutz
Schmidt-Chanasit, Jonas (Bernhard-Nocht-Institut, Hamburg)
Schmierinfektion
„schmutzige Impfung“ (absichtliche Infektion mit erhoffter Genesung)
„Schnauze voll“ (Hessens Ministerpräs. Bouffier im Feb. 2021: „Die Leute haben die…“)
Schnelltest
Schnutenpulli
Schulschließungen
Schutzkittel
Schutzmaske
Schutzschirm
schwedischer Sonderweg
schwere Verläufe

Seife
Seitwärtsbewegung (Minister Spahn über kaum noch sinkende Infektionszahlen)
Selbstisolation
Sentinel-Testung (Stichproben statt Massentests)
Sequenzierung
Shutdown
Sieben-Tage-Inzidenz
Sieben-Tage-R
Sinovac (chinesischer Impfstoff)
Sinusvenen-Thrombosen
Skype
social distancing
Soloselb(st)ständige
soziale Distanz
Spahn, Jens (Gesundheitsminister, auch infiziert)
Söder, Markus
Soforthilfe
Soloselbstständige
Spanische Grippe
Sperrstunde
Spike-Protein
Speicheltest (Schnelltest)
Spuckschutz
Spucktest (Schnelltest)
Sputnik V (russischer Impfstoff)
Statistik
Stay-at-home
sterile Immunität
Stiko (Ständige Impfkommission)
Stoßlüftung
Streeck, Hendrik (Virologe, Bonn)
Stürmer, Martin (Virologe, Frankfurt)
Südkorea
Superspreader
Superspreading-Ereignis
systemrelevant

„Team Vorsicht“ (Formulierung von Markus Söder)
Tegnell, Anders (Schwedischer Epidemiologe)
Telearbeit
Telefonkonferenz (Telko)
Temperaturscanner
Test
Testkapazität
Testzentren (teilweise unter Betrugsverdacht)
Theaterschließungen
Theta (Virus-Variante P.3)
Thrombose (angebliche Impffolge)
Tönnies
Toilettenpapier
Totimpfstoff
Tracing-App
Tracking-App
„Treffen Sie niemanden!“ (Österreichs Kanzler Kurz am 14.11.2020)
Triage
Tröpfcheninfektion
„trotz Corona“
Trump, Donald (Erkrankter)
Twitter (Plattform auch für Corona-Dispute)
„Tyrannei der Ungeimpften“ (Frank Ulrich Montgomery, Vorsitzender des Weltärztebundes)

Überbrückungsgeld
Übersterblichkeit
„Unheil“ (Angela Merkel am 14. Oktober 2020)
Untersterblichkeit

Vakzine
Variant of concern
Vaxzevria (neuer Name des AstraZeneca-Impfstoffs, seit 26.3.2021)
Verdoppelungsrate
verimpft („Sie haben 2000 Dosen verimpft“)
Vektorimpfstoff
Vektorwechsel
Verschwörungserzählung
Verschwörungsmythen
Verschwörungstheoretiker (Jebsen, Hildmann, Schiffmann, Soost, Naidu u.a.)
verzeihen
Verzeihung
Videokonferenz (Viko)
vierte Welle (befürchtet für und dann eingetreten im Herbst 2021)
Virologe(n)
Virologie
Virulenz
Virus, das
Virus, der
Virusvariantengebiet
viruzid
Volksmaske
vollständig geimpft
„Vom Verbot zum Gebot“
Vorerkrankungen
vulnerabel

„Wand“ (siehe Omikron-Wand)
Watzl, Carsten (Immunologe, Leibniz-Institut, Dortmund)
Wechsel-Unterricht
„wegen Corona“
Wellenbrecher
Wellenbrecher-Lockdown
Wendler, Der (noch so’n Corona-Leugner)
Westfleisch
WHO
Wieler, Lothar H. (RKI-Präsident)
Wildtyp
„Wir bleiben zu Hause“
Wodarg, Wolfgang
Wohnzimmerkonzert
Worst-Case-Szenario
Wuhan
„Wumms“ („Mit Wumms aus der Krise“ – Finanzminister Olaf Scholz)

Zarka, Salman (Corona-Regierungsberater in Israel, genannt „Corona-Zar“)
Zero Covid (niedrigstes Ziel)
Zero-Covid-Strategie
Zeta (Virus-Variante P.2)
Zoom (Plattform für Online-Konferenzen)
Zoonose
Zweihaushalte-Regel
„Zweimal ,Happy Birthday‘ singen“ (Zeitmaß fürs Händewaschen)
zwei Meter (Abstand)
zweite Welle
Zweitgeimpfte

_____________________________

Danke für Anregungen und Ergänzungen, die mich u. a. via Facebook erreicht haben.

Bei Virologe, Immunologe etc. bitte jeweils die weiblichen Formen hinzudenken.




Virus der Ratlosigkeit: Diese und jene Frage über Corona hinweg

Natürlich kein Virus, sondern ein Nahrungsbild, das während einer Speisenzubereitung in der Küche entstanden ist. Und nein: Es ist auch wirklich kein Spiegelei. (Foto: Bernd Berke)

Für virologische Expertisen sind wir hier absolut nicht zuständig. (Ich höre schon Euer Loriotsches „Ach was…“). Auch steht uns selbstverständlich keine politische Entscheidung zu, es sei denn: als indirekte Teilhabe im Rahmen unserer demokratischen Rechte (manche unken auch schon: unserer verbliebenen Rechte). Es interessiert einen im Überlebensfalle freilich schon sehr, wie diese, unsere Gesellschaft „nach Corona“ aussehen könnte. Daher diese oder jene ratlose Frage.

1) Wird eine gewachsene Mehrheit künftig in verstärktem Maße immer gleich nach dem Staat rufen, der gefälligst alles regeln und möglichst auch bezahlen soll? Wie verträgt sich das mit dem Anspruch so vieler Gruppierungen, selbst möglichst immer weniger Steuern zu bezahlen? Der Staats soll’s haben und richten – aber woher und womit?

2) Wird sich dieser etwaige Impuls der Staatsfrömmigkeit von Land zu Land unterscheiden? Werden etwa die Bürger Frankreichs widerspenstiger sein als „wir“?

3) Sollten wir nicht heilfroh sein, dass es hier bei allem nötigen Reglement demokratisch zugeht und die Menschen nicht – wie in furchtbar vielen autokratischen Ländern der Welt – brutal in die Quarantäne geprügelt oder ins Jenseits geschossen werden?

4) Gibt es neben den vielen, vielen, die wirklich bedürftig sind und auf Unterstützung hoffen, auch solche, die vorher schon halb in der Krise waren und sich nun mit dem Anker von Staatshilfe retten wollen? Wird die Bedürftigkeit überprüft oder wird im Überschwang alles durchgewunken?

5) Und wie verhält es sich mit den Profiteuren, deren Geschäftsmodell haargenau zur gegenwärtigen Lage passt? Sollten sie nicht etwas abgeben?

6) Nebenfrage: Wie halten es eigentlich die sogenannten „Reichsbürger“ mit den diversen Rettungsschirmen und Hilfspaketen? Die Idioten nehmen doch sicherlich gern Knete vom Staat, den sie ansonsten nicht anerkennen, oder?

7) Wer glaubt wirklich, dass die Reichen, Begüterten, Betuchten und Wohlhabenden ihr Geld überwiegend in lebenswichtiges Produktivvermögen gesteckt haben, in Fabriken, Maschinen, Personal – und es nur in ganz bescheidenem Maße zur persönlichen Verwendung antasten?

8) Ist es nicht erstaunlich, dass nun etliche Leute bereit sind, vorübergehende Staatseingriffe in die Wirtschaft, wenn nicht gar Verstaatlichungen bestimmter Bereiche hinzunehmen, die solcherlei Ansinnen vor kurzer Zeit noch als Teufelswerk bezeichnet hätten?

9) Ist außer den lukrativ Beteiligten jemand dagegen, das in den letzten Jahren teilweise kaputtgesparte und neoliberal privatisierte Gesundheitswesen wieder weitgehend in öffentliche Regie zu übernehmen?

10) Werden dann die Angehörigen der Pflegeberufe (und einige andere Berufsgruppen) endlich angemessen bezahlt? Hat man denn nicht gesehen, dass das Virus auch die Klassenfrage neu aufgeworfen hat?

11) Wird dem Staat künftig generell mehr überantwortet oder aufgebürdet? Soll er uns im Gegenzug allweil gängeln dürfen?

12) Werden viele Menschen nach staatlicher Autorität geradezu lechzen, nach der harten Hand des Staates?

13) Wird zugleich der Asozialtypus des „Blockwarts“ (und des Denunzianten) wieder hervortreten und dumpf auftrumpfen, der es den Hedonisten mal so richtig zeigt?

14) Haben nun auch die Apokalyptiker Hochkonjunktur?

15) Löst der um sich selbst besorgte „Prepper“ den Hedonisten als Rollenmodell ab? Haben beide etwa insgeheim Gemeinsamkeiten? Was unterscheidet den Prepper vom gewöhnlichen Hamsterer?

16) Mag man die schicksalsergebene Wendung „In den Zeiten von Corona“ noch hören?

17) Wird, sofern Corona vorüber oder zumindest behandelbar ist, hierzulande alles rasend schnell nachdigitalisiert? Werden wir in dieser Hinsicht gar zu Litauen und Albanien aufschließen?

18) Wird die wild ins Kraut geschossene Globalisierung zum Teil zurückgedreht? Werden lebenswichtige Güter künftig wieder häufiger in Deutschland und Europa hergestellt – zu deutlich höheren Kosten als Preis der Versorgungssicherheit?

19) Wird es eine Wiederkehr der Nationalstaaten als Leitbild geben? Kann das zu ungeahnten Animositäten führen, die man längst überwunden glaubte?

20) Wird der angebliche Trend zu seriösen Medien von Dauer sein? Widerstehen die meisten Menschen nun der Versuchung zu unsinnigen Verschwörungstheorien? Lauern Populisten schon seit Wochen auf ihre Chance?

21) Soll man jetzt wirklich Masken tragen? Wie muss man sich beispielsweise Schulklassenfotos vorstellen, auf denen alle mit Masken versehen sind?

22) Um nach den hauptsächlichen Teilen einer Zeitung zu fragen: Werden wir hernach eine andere Politik, eine andere Wirtschaft, eine andere Kultur, einen anderen Sport und andere Gemeinden haben?

23) Wird sich das Verhältnis zu Migranten und Geflüchteten ändern? Werden die Religionen und Konfessionen anders miteinander umgehen?

24) Wird man den Klimawandel und die Folgen in einem anderen Licht sehen?

25) Wann wird es Impfstoffe und Medikamente geben?

26) Wann dürfen wir wieder dieses und jenes tun?

27) Ist es nicht jammerschade, dass wortmächtige Intellektuelle wie der heute (von der Neuen Zürcher Zeitung) vorübergehend irrtümlich totgesagte Hans Magnus Enzensberger sich nicht zum Themenkreis äußern?

P. S.: Immerhin hat sich im Monopol-Magazin und im Cicero Alexander Kluge zu Wort gemeldet.

 




Auf dem weiten Feld der Online-Vorlesungen – zum Beispiel: über Pest und Klimawandel im 14. Jahrhundert

Blick in den (virtuellen) Hörsaal, Aufzeichnung einer Tübinger Vorlesung im Sommersemester 2008: Prof. Ellen Widder über die „Krise des Spätmittelalters – 14. Jahrhundert“ (Screenshot aus: https://timms.uni-tuebingen.de/tp/UT_20080508_001_14jhd_0001)

Auf der Suche nach sinnreichen Online-Auftritten bin ich dieser Tage nicht nur auf die zeitgeschichtlich hochinteressanten TV-Interviews von Günter Gaus gestoßen, sondern habe auch – abermals – die Möglichkeit wiederentdeckt, virtuelle Hörsäle zu besuchen, will heißen: aufgezeichnete (und oft auch ausgezeichnete) Uni-Vorlesungen aus etlichen Fachbereichen anzuschauen.

Da kann man sich probehalber in Wissensgebiete „verirren“, von denen man eigentlich partout keine Ahnung hat(te)! Nehmen wir als ein herausragendes Beispiel nur die Website der Universität Tübingen, die unter dem Kürzel „Timms“ rasch zu finden und per Suchmaske aufzuschlüsseln ist. Alles ist frei zugänglich.

Da kann man sich, sofern man denn möchte, in der Fakultät für Evangelische Theologie etwa eine insgesamt 44-stündige Vorlesung über die Psalmen zu Gemüte führen. Klingt krass. Eine Einführung in die Psychologie dürfte wohl etwas alltagstauglicher sein.

Nun aber zu den „Mint“-Fächern: Experimentalchemie I ist im Angebot, außerdem stehen Physik-Grundkurse (Mechanik, Wärme, Elektromagnetismus) oder auch – verheißungsvoll benannt – „10 Perlen der Mathematik“ im Verzeichnis. Letztere habe ich (nicht nur spaßeshalber) auf meine mittelfristige To-do-Liste gesetzt, obwohl oder gerade weil ich Mathe als Schüler so gar nicht gemocht habe. Auf dieser Liste der Vorhaben steht auch eine Einführung in die Astronomie, deren Unendlichkeiten mich schon immer fasziniert haben.

Von der Unfallchirurgie bis zum Strafprozessrecht

Auch bei den Medizinern kann man sich umsehen, beispielsweise anhand der Vorlesungen Anatomie 1 und 2 oder mit einer Einführung in die Unfallchirurgie. Wahrscheinlich nichts für allzu empfindsame Seelchen. Habe mal in eine ähnliche Vorlesung hineingeschnuppert – und es zeigte sich gleich, wie sehr die Chirurgie handwerkliche Anteile hat. Jetzt aber habe ich doch erst einmal Biologie vorgezogen: „Aufbau und Funktion der Pflanzen und Tiere“. Bei der aufgefächerten Fachbegrifflichkeit wollte ich allerdings alsbald kapitulieren. Mir gemäßer fand ich anfangs eine juristische Vorlesung über die Feinheiten des Strafprozessrechts, dessen irrwitzige Winkelzüge mich auf Dauer freilich auch irritiert zurückließen. Trotzdem gilt: Man wird nicht dümmer dabei.

So richtig zu Hause fühlt sich unsereiner dann aber doch in den Geisteswissenschaften. Also dort mal kreuz und quer geschaut, zumal bei Germanistik und Geschichte. Und da wurde ich gestern so passend fündig, dass ich vorerst gar nicht mehr aufhören wollte. Es ging um die „Krise des Spätmittelalters im 14. Jahrhundert“, eine im Sommersemester 2008 gehaltene Vorlesungsreihe von Prof. Dr. Ellen Widder, hörbar aus Westfalen stammend, aber nun eben – nach mancherlei Stationen und Gastprofessuren – in Tübingen wirkend. Ich habe ihr gebannt zugehört. Denn schon im zweiten Teil ging es nicht nur historisch, sondern sozusagen auch hochaktuell zur Sache: Klimawandel, Pest und Bevölkerungsentwicklung im 14. Jahrhundert.

Die Seuche kam aus China – in 14 Jahren über die Seidenstraße

Corona hin, Corona her. Bei der Pest, die eine medizinisch kaum geschulte Menschheit traf, reden wir von Mortalitätsraten von im Schnitt 60 Prozent, die Lungenpest zog praktisch in 100 Prozent der Fälle den Tod nach sich – manchmal binnen Stunden nach der Infektion. Ganze Landstriche wurden entvölkert und blieben als „Wüstungen“ zurück.

Aus China kommend, wo die Seuche um 1333 wohl begonnen hat, gelangte sie via Fernhandel (zu Schiff und über die Seidenstraße) um 1347 nach Europa. Sie verschonte  kaum eine Gegend in Italien, nur ausgerechnet die Landstriche um Mailand, was bis heute niemand schlüssig erklären kann. In deutschen Gefilden ging es derweil für Nürnberg ähnlich staunenswert glimpflich ab.

Schon vor der Pest hatte sich das Klima gewandelt. Es häuften sich die kühlen und nassen Sommer, so dass bei der damaligen, noch nicht vollends entfalteten Produktionsweise die Ernten viel zu gering ausfielen und es zu Hungersnöten kam. Seit dem Jahr 1000 hatte sich die mittel- und westeuropäische Bevölkerung etwa verdreifacht, nun stagnierte sie oder ging sogar regional zurück. Die Pest traf also auf eine ohnehin schon geschwächte Bevölkerung mit unzureichender Immunabwehr, wie Prof. Widder schlussfolgert.

Europa in immer neuen Schüben erfasst

Die furchtbare Seuche, die Europa schon einmal vom 6. bis ins 8. Jahrhundert heimgesucht hatte, kam seit dem 14. Jahrhundert in immer neuen, wenn auch nicht mehr gar so verheerenden Schüben wieder, als Epidemie und zeitweise als Pandemie blieb sie rund 400 Jahre auf dem Kontinent. Aber die Menschen hatten auch kein taugliches Gegenmittel. Erst 1894 (!) wurde der Pesterreger (Yersinia Pestis) entdeckt.

An den Anfang ihrer Überlegungen stellte Prof. Ellen Widder übrigens einen berühmten Text der Weltliteratur, nämlich die Einleitung in den Erzählkreis des „Decamerone“ von Giovanni Boccaccio, der die Pest erstaunlich detailreich beschreibt, übrigens aus der Perspektive einer außerordentlich privilegierten Gesellschaftsschicht. Aber an den Zusammenhang zwischen Epidemien und Klassenfragen wollen wir an dieser Stelle nicht auch noch rühren.

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Tausende Online-Vorlesungen in deutscher und englischer Sprache erreicht man z. B. über Links, die auf der folgenden Seite aufgeführt sind: https://www.fernstudi.net/magazin/10963




Jetzt geht es um den ganzen Lebensstil

Wenig originelles Bild zu den „dunklen Wolken, die da heraufziehen“, aber ich hab‘ in eigenen Beständen auf die Schnelle nichts Besseres gefunden. (Foto: BB)

So. Wir sind an einem Punkt angekommen, an dem es nicht mehr um einzelne bzw. kollektive Absagen geht – sei’s auf kulturellem oder sportlichem Felde. Was soll’s denn, ob die Bundesliga-Saison nun unterbrochen oder ganz abgebrochen wird?

Es geht inzwischen um unseren ganzen Lebensstil, ja überhaupt ums Ganze. Wenn Bundeskanzlerin Merkel rät, die sozialen Kontakte auf nötigste Mindestmaß zu begrenzen, ist denn doch – bei aller scheinbaren äußeren Gelassenheit – eine ziemliche Anspannung spürbar.

Wir dachten schon, ein neues (Bionade)-Biedermeier habe sich in gewissen urbanen Vierteln längst etabliert, dabei steht erst jetzt der allgemeine Rückzug in die Stuben an. Gartenlaube revisited?

Endlich, endlich schließt auch NRW die Schulen und Kitas

Du meine Güte! Wie relativ lang hat Deutschland, hat speziell Nordrhein-Westfalen gebraucht, um sich zu Schul- und Kita-Schließungen ab kommenden Montag durchzuringen – und das im Fall von NRW als Bundesland mit den weitaus meisten Corona-Infektionen. Hätte man in diesem Sinne nicht spätestens heute gehandelt, hätte NRW-Ministerpräsident Armin Laschet wohl seine Ambitionen auf CDU-Vorsitz und nachfolgende Kanzlerkandidatur gleich aufgeben können. Vielen Beobachtern galt und gilt er als „Zauderer“. Gerade hierbei hätte sich das nicht bestätigen dürfen.

Eine solche Lage hat es seit Kriegsende nicht gegeben. Frankreichs Präsident Macron zieht den historischen Bogen noch weiter und spricht von der größten medizinischen Krise seit 100 Jahren. Gemeint ist die jetzt wieder oft herbeizitierte „Spanische Grippe“, die um 1918/19 weltweit unfassbare 50 Millionen Todesopfer gefordert hat und damit, was die bloßen Zahlen anbelangt, noch verheerender gewirkt hat als die Weltkriege.

Schwindet die frohe Weltzugewandtheit?

Gerade um die italienische Lebensart (Italianità) machen sich italophile Journalisten und andere, dem Süden herzlich zugeneigte Menschen neuerdings erhebliche Sorgen. „Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn?“ Nein, man erkennt es nicht mehr wieder. Stirbt hier auch schrittweise die Lebensfreude, schwindet nach und nach die frohe Weltzugewandtheit? Geht nun ausgerechnet Italien den Weg in die innere Einkehr? Oder wird all die Freude wiederkehren?

Und überhaupt: der Westen. Was wird aus der üblichen Event-Kultur, was ist mit der landläufigen Erlebnisgier, mit dem gewöhnlichen Hedonismus? Gab’s da nicht mal jenes Buch mit dem Titel „Wir amüsieren uns zu Tode?“ Lang ist’s her. Treibt es uns nun noch mehr in die vereinzelnde Digitalisierung? Oder wirkt sich die Krise gar als gesellschaftlicher Kitt aus, als Anstoß zum Zusammenhalt? Man möchte es hoffen, doch da bleiben auch große Zweifel. Wo so viele Leute ohne Sinn und Verstand Toilettenpapier horten oder sogar aus Kliniken Desinfektionsmittel klauen (in der Phantasie male ich mir passende Strafen dafür aus), ist Solidarität offenbar kein weithin praktiziertes Allgemeingut.

Drastische Maßnahmen und Galgenhumor

Trotz der (verspäteten?) Schulschließungen geht’s bei uns noch vergleichsweise moderat zu. Die Schweiz verbietet Veranstaltungen mit über 100 (nicht: über 1000) Teilnehmern, in Belgien werden auch die Restaurants geschlossen, in Österreich bleiben Geschäfte jenseits des Lebensbedarfs dicht, die Restaurants schließen um 15 Uhr; Polen und Dänemark riegeln ihre Grenzen ab. Als deutscher Staatsbürger darf man ohnehin längst nicht mehr in alle Länder des Erdballs reisen. Viele weitere drastische Beispiele ließen sich nennen. Und wer weiß, wer am Ende wirksamer gehandelt hat.

Auch Galgenhumor macht sich breit, wie eigentlich immer, wenn’s ungemütlich (oder schlimmer) wird: Just heute twittern Tausende zum Hashtag-Thema #CoronaSchlager, will heißen: Man dichtet bekannte Schlagertexte der letzten Jahrzehnte aufs Virus und seine Folgen um. Wenn’s denn der Entspannung dient und nicht ganz und gar zynisch wird…

Die Professoren Drosten und Wieler haben das Sagen

Die beinahe täglich live übertragenen Presskonferenzen von der Corona-Front lassen allmählich den Eindruck aufkommen, die Professoren Christian Drosten (Charité) und Lothar Wieler (Robert-Koch-Institut) seien inzwischen die eigentlich Regierenden im Lande. Sie haben buchstäblich das Sagen. Jedenfalls können die politisch Verantwortlichen in dieser Situation schwerlich ohne solche Fachleute auskommen. Prof. Alexander Kekulé (Uniklinik Halle) wäre demnach mit seinen deutlich abweichenden Meinungen so etwas wie die Opposition. Schon recht früh hat er gefordert, was jetzt geschehen ist: „Coronaferien“ in den Schulen und Absage größerer Zusammenkünfte.

Um nur nicht missverstanden zu werden: So weit man es als Laie und Medienkonsument beurteilen kann, machen Drosten und Wieler (mit ihren Teams) einen großartigen Job, sie bleiben angenehm nüchtern und sachlich, wobei man dennoch die Dringlichkeit ihrer Anliegen nicht verkennen kann. Das gilt übrigens auch für Bundesgesundheitsminister Jens Spahn, der selbst nicht die medizinische Expertise haben kann, es aber offensichtlich versteht, fähige Leute als Berater heranzuziehen.

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P. S. zum Fußball: Ohne Zuschauer im Stadion macht die Kickerei eh keinen Spaß mehr, Sky & Co. haben mit den „Geisterspielen“ sozusagen leblose Materie übertragen. Meinetwegen soll die Liga jetzt mit der Saison aufhören, die Bayern halt zum Meister erklären (das sage ich als Dortmunder) oder – besser noch – diese Spielzeit ganz ohne Titel beenden, die jetzigen Tabellenplätze nur für einen künftigen europäischen Wettbewerb zählen lassen etc. Auf- und Abstieg ließen sich auch regeln, indem z. B. die 1. Liga aufgestockt würde, also niemand ohne Spielentscheidung absteigen müsste. Das alles wird sich finden und ist ganz und gar nicht lebenswichtig.

Ganz abgesehen davon ist es vielleicht ein soziales Experiment: Wirkt sich das Fehlen des Vereinsfußballs gesellschaftlich aggressionshemmend oder aggressionssteigernd aus? Anders gewendet: Befördert oder kanalisiert der Fußball die Gewaltsamkeit?




Was macht Corona mit der Kultur?

Sorglos hat man eigentlich noch nie auf den inzwischen so globalisierten Globus blicken können. Jetzt sind mal wieder ein paar neue Sorgen hinzugekommen. (Foto: BB)

Und hier bekommt Ihr wieder ein Bonus-Paket der Revierpassagen, nämlich: Heute gibt’s k e i n e n laienhaften Aufsatz über Corona. Jedenfalls nicht über virologische Fragen oder Quarantäne. Wie denn auch?

Obwohl man da unendlich viel erwägen und bekakeln könnte, aus nichtfachlicher Sicht wohl überwiegend Nutzloses. Aber das geschieht schon andernorts zur Genüge und weit über Gebühr. Man schaue sich nur die Kommentare an, wenn etwa „Zeit“ oder „Süddeutsche“ mit Live-Schaltungen zu allfälligen Pressekonferenzen des Bundesgesundheitsministers und des Robert-Koch-Instituts aufwarten. All die vielen selbsternannten Fachleute im Publikum, die Besserwisser, Hassverspritzer und Paniker aus den Untiefen des Netzes. Und das bei Angeboten dieser seriösen Medien… Das seriöseste aller hiesigen Medien, „Der Postillon“, hat diesen Trend natürlich auch erkannt: „Zahl der Corona-Experten in Deutschland sprunghaft angestiegen“. Wohl irgendwie wahr.

So. Und jetzt, da Ihr Euch vielleicht in Sicherheit wiegt, kommen hier halt doch noch ein paar CoV-19-Absätze. Wir sind schon mittendrin. Aber halb so schlimm. Wir hamstern keine Zeilen. Wir desinfizieren auch nicht eigens die Tastatur. Tippen mit sorgsam gewaschenen Händen (20 Sekunden plus!) ist freilich die leichteste Übung.

Konzerthusten mit neuer Virulenz

Vielleicht erwischt es ja nach dem Sport mit seinen zuschauerlosen „Geisterspielen“ (so auch das Revierderby BVB – Schalke am kommenden Samstag) sehr bald auch Teile des Kulturbetriebs. Veranstaltungen mit mehr als 1000 Teilnehmenden, deren Absage nicht nur von Gesundheitsminister Spahn dringlich angeraten wird und in Frankreich bereits verfügt worden ist, haben wir schließlich auch in Philharmonien, Konzerthäusern und Opernhäusern, erst recht bei manchen Rock-Auftritten etc. Da sitzt oder steht man beim kulturellen Geschehen ziemlich dicht an dicht. Der Konzerthusten ist ja eh ein sprichwörtliches, heftiges und häufiges Phänomen im Bereich der E-Musik. Auch er hat allerdings schon einen bedrohlichen Bedeutungswandel hinter sich. Mit Hustinetten als Gegenmittel ist es nicht mehr getan.

…oder gar daheim zum Buch greifen

Von Veranstaltungen wie dem Literaturfestival Lit.Cologne, der Pariser oder der Leipziger Buchmesse (alle abgesagt) – letztere mit sonst Abertausenden von lesewilligen Hallenflaneuren – mal ganz abgesehen. Und noch mehr zu schweigen von den italienischen Zuständen, wo im ganzen Land Museen, Kinos und Theater geschlossen bleiben. Schon warnen besorgte Publizisten vor nachhaltigen Schäden an der „italienischen Lebensart“.

Just, als ich das schreibe, erreicht mich die Nachricht von der Absage der Museumsnacht im LWL-Museum für Archäologie in Herne am 27. März. Dort wird übrigens – ausgerechnet – noch bis zum 10. Mai die derzeit besonders aufschlussreiche natur- und kulturhistorische Ausstellung über die Pest gezeigt. Apropos: Wie man liest, erlebt zur Zeit auch Albert Camus‘ moderner Klassiker „Die Pest“ einen Auflagenschub sondergleichen.

Schon wird uns auf Feuilleton-Seiten wärmstens anempfohlen, öfter mal daheim zu bleiben und zwecks Kulturgenuss diverse Streamingdienste für Kino und Musik anzuwerfen. Oder gar: zum Buch zu greifen! Man denke nur…

„Inflation öffentlicher Zusammenrottungen“

Es sind keine günstigen Zeiten für kulturgeneigte Adabeis. Wenn ich nicht irre, war es die Neue Zürcher Zeitung, die vor ein paar Tagen geradezu erbittert gegen das ewig amüsierwütige Ausgehen zu Felde zog, und zwar mit einer solchen Formulierung: „Die hedonistische Eventkultur mit ihrer Inflation öffentlicher Zusammenrottungen zu unwesentlichen Zwecken“, hieß es da, solle endlich wieder durch „Vergnügungen in bescheidenerem, privaten Rahmen“ ersetzt oder wenigstens ergänzt werden. Sie raten freilich nicht direkt zum Brettspieleabend, sondern erst einmal zu Netflix-Filmen und Gruppen-Chats. Man will die Leute da abholen, wo sie sind. Mit möglichen Folgen einer zunehmend digitalisierten Kultur hat sich unterdessen auch die Süddeutsche Zeitung befasst. Wir sehen betroffen: Da ist einiges im Schwange.

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P. S.: Hat eigentlich schon mal wieder jemand nachgeschaut, was in den einst so umkämpften Notstandsgesetzen steht, die vor über 50 Jahren schon manchen „Achtundsechziger“ auf die Barrikaden getrieben haben? Kann uns da jetzt was blühen?

Nachtrag: Erstaunlich, dass laut Homepage heute (10. März) im Dortmunder Konzerthaus die Veranstaltung „Sinatra & Friends“ (Trio aus England) stattfinden soll. Sind da wirklich weniger als 1000 Plätze besetzt? Man wird ja mal fragen dürfen. Laut Landesgesundheitsminister Laumann gilt die 1000er-Grenze ohne Wenn und Aber. Bei Überschreitung müsste seit heute abgesagt werden.

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Absagen und Sonstiges

Das Gelsenkirchener Musiktheater im Revier (MiR) stellt den gesamten Spielbetrieb „bis auf weiteres“ ein.

Das Frauenfilmfest Dortmund/Köln (Programmschwerpunkt diesmal in Köln) soll nach jetzigem Stand vom 24. bis 29. März stattfinden. Pro Filmvorstellung soll die Zahl der Zuschauerinnen auf 100 begrenzt werden. Es werden Anwesenheitslisten geführt und auch sonst diverse Sicherheitsmaßnahmen ergriffen.

 




Corona: Aufregung oder Apokalypse?

Wie soll man das Thema sonst bebildern, als mit dräuenden Wolken? (Foto: Bernd Berke)

Kann sich jemand erinnern, dass jemals derart rigorose Maßnahmen wegen einer Epidemie ergriffen worden sind?

Hat es das in den letzten 50 oder 60 Jahren schon einmal gegeben, dass ganze Städte und Regionen (in China, in Italien und wer weiß wo demnächst noch) so strikt vom Rest der Welt abgeriegelt wurden wie jetzt, dass beispielsweise alle grenzüberschreitenden Züge (vorerst zwischen Österreich und Italien) gestoppt oder Flüge (aus und nach China) verboten werden? Dass Schiffe über Wochen hinweg nicht verlassen werden dürfen? Dass Zigtausende, ja insgesamt Millionen in Quarantäne leben?

Mit der offenbar rapiden Ausbreitung der Corona-Viren haben die – vielleicht schon verspäteten? – Vorsichtsmaßnahmen (und die darob entstehende Panik) offenbar eine neue Eskalationsstufe erreicht. Sind Rinderwahn oder SARS dagegen nur „Vorübungen“ zur Apokalypse gewesen? Welchen Anteil hat die Realität, welchen haben die aufgeregten Medien? Man liest allerdings auch, dass nicht nur die Zahl der Todesopfer, sondern auch schon die Zahl der „Geheilten“ ansteige. Ein Lichtstreif.

Igelt sich bald jedes Land ein?

Oder kann all das noch viel drastischer werden? Doch wohl nicht so wie in jenen schrecklichen Zeiten der Pest, denen eine archäologische und kulturgeschichtliche Ausstellung in Herne (noch bis zum 10. Mai 2020) nachgeht? Als diese Schau eröffnet wurde, hat noch niemand gewusst, was da womöglich auf uns zukommt.

Man möchte sich gar nicht vorstellen, wie das noch weitergehen mag. Igelt sich bald jedes Land, jede Gegend ein? Woher sollen dann die Nachschublieferungen kommen, seien es medizinische Güter oder Lebensmittel? Die Weltmärkte würden zusammenbrechen, es gäbe eine ökonomische Krise sondergleichen. Schon jetzt knicken die Börsenkurse ein.

Globalisierung und Rassismus

Daraus könnte ein großer, ja schließlich ein weltweiter Versuch werden, ob und wie weit die Globalisierung vorübergehend gebremst werden muss. Und wie selbstverständlich spielt Rassismus auch hier hinein: Schon soll es tätliche Angriffe auf Chinesen in Europa gegeben haben. Es müssen mal wieder Menschen herausgegriffen und als Schuldige „dingfest gemacht“ werden.

Apropos irrationale Umtrieb: In letzter Zeit haben sich – vor allem im ökopolitischen Umfeld – auch sektenartige oder zumindest quasi-religiöse Formationen gebildet. Ist es nur eine wahnwitzige, literarisch induzierte Phantasie, wenn man sich vorstellt, wie wegen der Seuche Menschen durch die Straßen ziehen, sich selbst als sündhaft geißelnd? Wie damals, zu Zeiten der Pest…

Autoritäre vs. demokratische Staaten

Auch treten jetzt autoritär regierte Länder (China, Iran) in einen unfreiwilligen Wettbewerb mit einstweilen demokratisch verfassten Staaten (Italien etc.): Wer wird eine solche Krise besser bewältigen? Wie demokratisch kann es überhaupt zugehen, wenn der Notstand herrscht? Und übrigens: Wie kommt es bloß, dass bisher praktisch in ganz Afrika und Südamerika noch kein Ausbruch der Seuche verzeichnet wird? Liegt es daran, dass man dort nicht so streng registriert und dass man dort überhaupt auch noch einige andere Sorgen hat?

Vom medizinischen (Un)wissen, von der fieberhaften Suche nach Ursachen und Wirkungen ganz zu schweigen. Wo liegen überhaupt die Ursprünge der Seuche, die nunmehr eine Pandemie genannt wird? Wo war der allererste Ansteckungsherd, wie sehen die möglichen tierischen Zwischenwirte aus? Wie lange dauert die Inkubation, wie ist der wahrscheinliche Verlauf, wann klingt die Krankheit wieder ab, wann darf ein Patient als kuriert und „erholt“ gelten? Hängt alles mit China zusammen – oder wird sich erweisen, dass es weitere Ausbruchszentren gibt?

Heldentum der Mediziner

Und weiter: Wie hoch liegt die mutmaßliche Todesrate? Betrifft es wirklich vor allem über 80 Jahre alte oder sonstwie vorher geschwächte Menschen? Zynische Frage: Wären sie vielleicht auch an einer „normalen“ Grippe gestorben, wie denn überhaupt die Grippewellen einer durchschnittlichen Saison rund 25.000 Menschenleben kosten können?

Fragen über Fragen. Und keine ist bisher abschließend geklärt.

Ein zeitgemäßes Heldentum zeigt sich freilich, wenn man den Begriff schon verwenden will: beim ärztlichen Personal, das gleichsam an vorderster Front und unter hohem persönlichen Risiko die mysteriöse Krankheit bekämpft. Darüber hinaus gebührt großer Respekt all jenen, die die Gegenmaßnahmen vernünftig organisieren; den Forschungsteams, die in aller Welt an möglichst wirksamen Gegenmitteln arbeiten. Und so manchen anderen, die wir vergessen haben.

Und nun lasset uns hoffen. Und handeln, so gut es eben geht.




Jonathan Franzen: Der Kampf ums Klima ist bereits verloren

Beim Weltwirtschaftsforums in Davos hatte jeder seine eigene Wahrheit. Während Klima-Aktivistin Greta Thunberg davon sprach, dass die Welt in Flammen stehe und sie eine sofortige, radikale Reduktion aller Emissionen anmahnte, verbreite US-Präsident Donald Trump heiteren Optimismus, lobte seine eigene Politik und wies die Propheten des Untergangs aufs Schärfste zurück. Schade, dass der Schriftsteller und Vogelkundler Jonathan Franzen nicht nach Davos eingeladen war.

Der Autor, der seit dem Erfolg von „Die Korrekturen“ in der ersten Liga der Weltliteratur spielt, hat sich immer wieder in die Umwelt-, Klima- und Artenschutz-Debatte eingemischt: Sein Essay „Wann hören wir auf, uns etwas vorzumachen?“ hat erhebliche Sprengkraft.

Franzen möchte, dass wir der schmerzlichen Wahrheit ins Auge sehen: Das Spiel ist aus, wir haben den „Point of No Return“ erreicht, wir werden den Klimawandel nicht mehr verhindern. Auch wenn sich die Politiker noch heute aufraffen, die Emissionen mit sofortiger Wirkung radikal zu reduzieren und die Weltwirtschaft umzubauen: Es ist zu spät. Bis nachhaltige Effekte eintreten, würde es Jahre dauern, die wir nicht mehr haben.

Die Katastrophe wird kommen und wird fürchterlich sein: Dürre, Brände, Hunger, gigantische Flüchtlingsströme, gegen die alles bisherige nur ein harmloses Vorspiel war. Trump und alle Klimaleugner oder „Umweltsünder“ tun Franzen nur noch leid. Genauso alle Klima-Aktivisten, die ihre Kraft verschleudern und ihre Hoffnungen auf unrealistische Ziele richten, um dann in zehn Jahren, wenn immer noch nichts Grundlegendes passiert ist, zu resignieren.

Möglichst lange hinauszögern und halbwegs erträglich machen

Franzen aber will – trotz allem – Hoffnung verbreiten, er möchte, und das ist seine eigentliche Botschaft, dass Klimaaktivisten und Umweltschützer ihr Handeln darauf richten, das Inferno möglichst lange hinauszuzögern, es erträglich zu machen, sich auch wieder anderen, erreichbaren Themen zuwenden: dem Artenschutz, der Aufforstung, dem Umweltprojekt vor der Haustür, das man überschauen und begleiten kann, das die Gemeinschaft und letztlich die Demokratie stärkt.

Im Sommer 2019 war Franzen, der als junger Autor eine Zeitlang in Berlin gelebt hat, wieder in der Gegend, um in Ruhe zu schreiben, Vögel zu beobachten, in den Wäldern nach seltenen Wildtieren Ausschau zu halten. Es war heiß und trocken, und bei einer Radtour von Berlin nach Jüterbog ist er mitten ins Feuer-Inferno geraten, das plötzlich vor ihm ausbrach und dann tagelang in den Wäldern wütete. Franzen hat direkt vor Ort miterlebt, wie schnell sich die Feuerwalze ausbreitete, wie wehrlos die Feuerwehr den Naturkräften gegenüberstand und das Feuer nicht löschen, sondern nur begleiten, abwarten und auf Regen hoffen konnte.

Brände um Jüterbog stehen für die globale Katastrophe

Die Brände um Jüterbog sind für Franzen eine Metapher für die unaufhaltbare Katastrophe auf dem ganzen Planeten. Sie waren auch der Anlass, um für den „New Yorker“ den jetzt in deutscher Übersetzung vorliegenden Essay zu schreiben, der dem Autor einen gigantischen Shit-Storm eingebracht hat: vor allem von Klimaaktivisten. Denn es regt sie auf, dass Franzen behauptet, die Klimakatastrophe sei nicht mehr aufzuhalten, es nütze nichts, jeden Tag in einer liberal-demokratischen Zeitung zu betonen, man müsse jetzt die Ärmel aufzukrempeln und anpacken, damit wir in zehn Jahre Zeit die Klimaziele erreichen.

Nein, wir haben keine Zeit mehr, sagt Franzen, die Uhr ist abgelaufen, alle Warnungen und Prognosen, die der Club Of Rome im Buch über die „Grenzen des Wachstums“ schon vor über 45 Jahren formuliert hat, sind eingetroffen.

Die große Wut der Aktivisten 

Es nervt die Klimaaktivisten, wenn Franzen darauf hinweist, dass selbst bei Erreichen einiger Klimaziele, z. B. der Begrenzung auf zwei Grad Erwärmung, die Katastrophe laut Klimaforschern allenfalls „theoretisch“ noch abzuwenden ist, aber „praktisch“ eher nicht. Wenn Franzen einzelnen Klima- und Umwelt-Projekten attestiert, kompletter Blödsinn zu sein, Geld und Ressourcen zu verschwenden (wie bei der Bio-Dieselverordnung der EU, die zur Entwaldung von Indonesien zugunsten von öden Palmöl-Plantagen geführt hat), rasten sie aus. Es ist wunderbar, New York in ein grünes Utopia zu verwandeln, aber was nützt es, wenn die Texaner weiterhin Öl fördern und Pick-ups fahren?

Franzens Fazit: Wir sollten uns nicht länger belügen, sondern die bittere Wahrheit akzeptieren. Jeder muss für sich eine Entscheidung treffen: Was kann ich tun, um durch Konsumverhalten, Energieverbrauch usw. die Katastrophe ein wenig hinauszuzögern, das Überleben ein bisschen erträglicher zu machen.

Stärkung der Demokratie dringend nötig

Weil Katastrophen einher gehen mit brutaler Waffengewalt und Auflösung aller staatlichen und rechtlichen Verbindlichkeiten, ist für Franzen die Stärkung der Demokratie das oberste Ziel: Überall faire Wahlen garantieren, Vermögensunterschiede abschaffen, Hassmaschinen abschalten, Gleichberechtigung aller Rassen und Geschlechter herstellen, Pressefreiheit, humane Einwanderungspolitik, Respekt vor den Gesetzen: all das ist gesellschaftliche Klimapolitik, nur so können wir die Katastrophe meistern und abfedern – und nur dann hätte Franzen die „Hoffnung, dass die Zukunft, selbst wenn sie zweifellos schlechter sein wird als die Gegenwart, in mancher Hinsicht auch besser sein könnte.“

Jonathan Franzen: „Wann hören wir auf, uns etwas vorzumachen? –Gestehen wir uns ein, dass wir die Klimakatastrophe nicht verhindern können.“ Ein Essay. Aus dem Englischen von Bettina Abarbanell. Mit einem Interview von Wieland Freund. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Hamburg 2020. 64 Seiten, 8 Euro.

 




Wow! Ihr werdet nicht glauben, wie das Dortmunder Naturkundemuseum jetzt heißt!

Äußerlich sachlich und schmucklos: das Museum, das jetzt einen neuen Namen trägt... (Aufnahme vom August 2019: Bernd Berke)

Äußerlich sachlich und schmucklos: das Museum, das jetzt einen neuen Namen trägt… (Aufnahme vom August 2019: Bernd Berke)

…und nun zu einer Nachricht, die eventuell ein paar Tage Aufschub verträgt. Obwohl: recht eilends anberaumte Pressekonferenz, freitags um 15 Uhr (gewiss nicht der Lieblingstermin einer Lokalredaktion); sodann die Nachricht mit zeitlichem Sperrvermerk. Da hat sich doch offenbar Wichtiges begeben?

Wie man’s nimmt. Bevor ich euch gar zu sehr auf die Folter spanne, nur frisch heraus mit der auch schon zwei Tage alten Wahrheit: Die Sache ist nämlich die, dass das Dortmunder Naturkundemuseum, seit rund fünf Jahren (und damit weit über die Ursprungspläne hinaus) wegen Umbaus geschlossen, einen neuen Namen erhalten hat. Jetzt seid Ihr baff. Doch wie groß wird erst euer Erstaunen sein, wenn ihr den neuen Namen erfahrt. Er lautet (Trrrrrrommmmelwirbel…):

Naturmuseum

Wow!

Es mag Internet-Seiten geben, die eine solche Nachricht mit elend langer Klickstrecke und Anmach-Sprüchen à la „Ihr werdet nicht glauben, wie das Naturkundemuseum jetzt heißt!“ verkaufen würden. Das hätten wir uns und euch gern komplett erspart. Indes…

Dr. Dr. Elke Möllmann, die Leiterin des Hauses, das schlussendlich im Sommer 2020 wieder öffnen soll, zeigte sich jedenfalls – laut Pressemeldung der Stadt Dortmund – „hochzufrieden“. Zitat: „Der Name betont den Erlebnischarakter…“

Na, wenn das so ist. Offenbar deutet der Wegfall des (zu sehr nach Anstrengung und schulischem Unterricht schmeckenden?) Bindeglied-Begriffs „Kunde“ (Naturkunde) auf eine gewisse Erleichterung des Zugangs hin. Ersten Eindrücken zufolge, die man vor einigen Monaten aufklauben konnte, wird das neue Konzepts des Museums diesen Anspruch wohl auch einlösen, ohne die wissenschaftliche Seriosität zu opfern.

Im August hatte das Museum einen Namenswettbewerb ausgeschrieben, an dem sich – seltsame, fast schon magische Zahl – 101 Bürgerinnen und Bürger beteiligt haben, zum Teil auch mit Gedichten oder Zeichnungen. Es folgten Debatten „der politischen Gremien“ sowie ein Losentscheid, durch den fünf Teilnehmer(innen) Exklusiv-Führungen bzw. Kindergeburtstage im Museum gewannen.

Im deutschsprachigen Raum, vor allem in der Schweiz, so hieß es ergänzend,  gebe es bereits einige naturkundliche Museen, die als „Naturmuseum“ firmieren. Somit wäre Dortmund nicht allein auf weiter Flur. Und mit der Schweiz haben wir es ja sowieso, auch auf anderem Gebiet. Ich sage nur Favre, Bürki und Hitz.




„Mammuts mag jeder!“ – Hammer Ausstellung versetzt uns in die letzte Eiszeit und ihre Tierwelt

Ein „Bildungs-Erlebnis“ versprechen die Veranstalter der neuen Hammer Ausstellung „Eiszeit Safari“ (modisch ohne Bindestrich). Betonung auf Bildung; Betonung gleichermaßen auf Erlebnis.

So ähnlich könnte es ausgesehen haben – vor rund 15.000 bis 30.000 Jahren: Im Vordergrund ein fürs Museum rekonstruiertes Wollnashorn, dahinter ein weibliches Mammut, ganz hinten links das Skelett eines (nicht ganz ausgewachsenen) Mammut-Bullen. (Foto: Bernd Berke)

So ähnlich könnten wesentliche Teile der Fauna ausgesehen haben – damals, vor rund 15.000 bis 30.000 Jahren: Rechts im Vordergrund ein fürs Museum rekonstruiertes Wollnashorn, dahinter ein Nashorn-Skelett, sodann ein zotteliges weibliches Mammut und ganz hinten links das Skelett eines (nicht ganz ausgewachsenen) Mammut-Bullen. (Foto: Bernd Berke)

Die Schau führt uns etwa 15.000 bis 30.000 Jahre zurück, als weite Teile des heutigen europäischen Kontinents unter einer Eisdecke lagen. Betritt man die Räume im Obergeschoss des Gustav-Lübcke-Museums, so steht man zwar nicht Aug‘ in Aug‘ mit tausend, aber doch mit etlichen Tieren. Ko-Kuratorin Dr. Sarah Nelly Friedland gibt dazu gleich ein griffiges Motto aus: „Mammuts mag jeder!“

Präparate nach dem Stand der Forschung

Und tatsächlich fühlt man sich hier ein wenig in eine Safari-Situation versetzt – nur eben nicht mit Löwen, Elefanten und Giraffen, sondern mit den beherrschenden Tieren (sozusagen den „Big Five“) jener Vorzeit, als da beispielsweise gewesen sind: Mammut, Wollnashorn, Höhlenbär, Riesenhirsch und Steppenbison.

All diese Exemplare, über 60 an der Zahl, sind – teilweise sehr lebendig wirkend – von erfahrenen Herstellern in den Niederlanden und Spanien rekonstruiert und präpariert worden; nicht einfach nach Gusto, sondern nach wissenschaftlichen Vorgaben, dem Stand der Forschung entsprechend. In schützende Container verpackt, wurden all diese Tiere der Wanderschau mit fünf Lastwagen nach Hamm verfrachtet. Ergänzend finden sich einige Beispiele zur damaligen Vegetation, ausgewählte Zeugnisse der frühen Kultur und Mitmach-Stationen, an denen man z. B. mit spitzen Steinsplittern ritzen und schnitzen oder mit den Händen Tierfelle ertasten kann. Zum virtuellen Zugang kommen wir später noch.

Mysteriöse Geräuschkulisse

Es ist eine (mit moderaten Gruselmomenten angereicherte) Wohlfühl-Ausstellung, gedacht für die ganze Familie, mit verschiedenen Ansatzpunkten und Begleitheften für Kinder und Erwachsene. Vor den oder jenen gefletschten Zähnen oder der schieren Größe mancher Tiere könnte man sich fürchten, aber auch die unentwegt eingespielte Geräuschkulisse mit geheimnisvollen „Huuhuuu“-Rufen klingt für Menschenwesen nach steter Gefahr. Das ganze Arrangement wirkt ein wenig „amerikanisiert“, es ist auch ein Show-Aspekt dabei. Aber sei’s drum. Man wird nicht getäuscht, sondern bei den Sinnen gepackt. Und zu trocken soll es ja auch nicht geraten.

Die damaligen Menschen, hier repräsentiert von zwei Figuren, die man Urs und Lena getauft hat, hatten es in ihrem Alltag nicht leicht. Ihr Leben muss einem ständigen Survival-Training unter erschwerten Bedingungen geglichen haben. Aber was heißt hier Training? Es war höchst lebensgefährlicher Ernst.

Ein paar ausgewählte archäologische Fundstücke (Schmuck, Kleidungsreste) deuten freilich auch schon auf die Frühzeit eines sozialen, gelegentlich gar geselligen Lebens hin. Überdies gibt es beispielsweise Anzeichen dafür, dass damals Alte und Kranke gepflegt worden sind. Auch Höhlenmalerei dürfte es gegeben haben, nur ist sie unter hiesigen Bedingungen nicht so erhalten geblieben wie in Frankreich oder Spanien.

„Sie waren wie wir“

Besonders dann, wenn die jagdbaren Tiere jahreszeitlich massenhaft Gelände und Gebiete wechselten, haben sich die Menschen an verheißungsvollen Treffpunkten verabredet – nicht nur zum Halali, sondern auch im Sinne des gegenseitigen Kennenlernens, der Fortpflanzung und eines erweiterten Genpools. Nach allem, was man weiß und vermutet, könnte dabei die Monogamie die vorherrschende Beziehungsform gewesen sein. Kuratorin Sarah Nelly Friedland ist ohnehin überzeugt, dass ein Mensch von damals, trüge er nur moderne Kleidung und spräche er nicht in seinem eiszeitlichen Idiom, uns kaum als „andersartig“ auffallen würde. Kurzum: „Sie waren wie wir.“

Sie soll bei Bedarf auch gejagt, er soll auch Nahrhaftes gesammelt haben: Dieses Paar (hilfsweise Urs und Lena genannt) repräsentiert in der Ausstellung die Eiszeit-Menschen. (Foto: Bernd Berke)

Sie soll bei Bedarf auch gejagt, er soll auch Nahrhaftes gesammelt haben: Dieses Figurenpaar (hilfsweise Urs und Lena genannt) repräsentiert in der Ausstellung die Eiszeit-Menschen. (Foto: Bernd Berke)

Und die Verteilung der Geschlechterrollen? Sei vermutlich auch nicht so starr gewesen. Frau Friedland ist überzeugt, dass (je nach Erfordernissen des Augenblicks) die Frauen auch schon mal gejagt und die Männer gesammelt haben.

Wobei auch das Wort Jagd eine Differenzierung verträgt. Tiere wurden nämlich längst nicht nur durch steinerne Geschosse zur Strecke gebracht, sondern vielfach auch durch Fallenstellerei. Statt der Bezeichnung Jäger bietet sich dafür der Begriff Wildbeuter an.

Natürlich geht es auch ums Klima

Und wie kalt ist es in der besagten Eiszeit gewesen? Nun, im Winter schon ziemlich arg. Doch in den Sommern konnte es sich wohl auch schon mal auf 20 Grad erwärmen. Das Gebiet des heutigen Westfalen darf man sich denn auch nicht als dauerhaft vereist vorstellen, sondern als karg bewachsene Steppe. In den fast waldlosen Weiten war übrigens der Besitz von kostbarem Holz (etwa für Speere) ein Glücksfall. Viel später, als sich weite Lande wieder bewaldeten, bedeutete genau dies das Ende einiger Tierarten. Sie konnten sich nicht mehr so frei bewegen, wie es hätte sein müssen. Verkürzt gesagt: Sie kamen nicht mehr richtig durch…

Überhaupt kommt man beim Thema Eiszeit natürlich nicht um die Klimadebatte herum, hie und da hebt die Ausstellung explizit darauf ab, u. a. mit einer wohlfeilen Fotomontage, die den Kölner Dom halb überflutet an einem südlichen Sonnenstrand zeigt, und mit einem Globus, der den Erdzustand bei heftig gestiegenem Meeresspiegel vor Augen führt. Auch das sind Gruselmomente.

Der Unterschied zwischen Eiszeit und Eiszeitalter

Damit es kein Vertun gibt: Auch wir leben – allen Debatten um Klimawandel und Erderwärmung zum Trotz – zwar in einer Warmzeit, dies aber im größeren Zusammenhang eines Eiszeitalters, das fachbegrifflich von einer Eiszeit zu unterscheiden ist. Für ein Eiszeitalter genügt es auf weite Sicht vieler Millionen Jahre, wenn zumindest eine Polkappe vereist ist. Das ist einstweilen noch der doppelte Fall. Aber wer weiß, wie lange noch. Zur Einschätzung der Dimensionen noch diese Zahlen: „Unser“ Eiszeitalter hat vor rund 33 Millionen Jahren begonnen, die letzte wirkliche Kaltzeit endete vor rund 11.600 Jahren. Eigentlich kein Stoff für die täglichen Nachrichten. Und doch…

Nach bisher eingependelten Rhythmen der Erdgeschichte stünde in 2000 bis 3000 oder auch erst in 15.000 Jahren der Beginn einer neuerlichen Eiszeit an. Über die Vorausdatierung streiten sich noch die Experten. Außerdem kann man sich gar nicht mehr so sicher sein, dass die Vorhersagen überhaupt eintreffen. Wenn die Menschheit so weitermacht wie jetzt, kommen vielleicht gar keine kältere Zeiten mehr. Apropos: Vor rund 160.000 Jahren haben in einer Warmzeit Nilpferde an den Flüssen gelebt, die wir heute Rhein und Neckar nennen.

Filmische Ergänzungen durch eine App

Die Wanderausstellung ist in Kooperation mit den federführenden Reiss-Engelhorn-Museen Mannheim (gleichsam rockiges Kürzel: REM) entstanden. Ein Clou der Schau: Man hat eigens eine App entwickelt, mit der man (über Smartphone oder Tablet) die Hauptpunkte der Schau ansteuern und nach dem Scannen der Stations-Symbole mit einschlägigen Filmen und Tönen anreichern kann. Da wird beispielsweise vorgeführt, wie die Menschen damals wohl ihr Fleisch gekocht oder gebraten haben. Das Ganze funktioniert auch mit den Ausstellungsführern in Papierform, sie können ebenfalls via Kapitelnummer mit dem Smartphone angereichert werden. Damit in Hamm nicht alle Besucher mit tönenden Apparaten herumgehen, werden Kopfhörer ausgeteilt – und Leihgeräte, falls man selbst nicht ausgerüstet sein sollte.

Eine weitere Besonderheit stößt (!) wahrscheinlich erst Mitte Januar 2020 zur Ausstellung im Lübcke-Museum (neuer Direktor seit dem Sommer: der aus Neuss nach Westfalen gewechselte Dr. Ulf Sölter), und zwar ein veritabler Mammut-Stoßzahn, vor mehreren Jahren just auf Hammer Stadtgebiet gefunden und mittlerweile von Fachleuten des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL) museumstauglich aufbereitet. Wie hieß doch gleich die Losung? „Mammuts mag jeder!“

„Eiszeit Safari“. Eine Erlebnis-Ausstellung. Gustav-Lübcke-Museum, Hamm, Neue Bahnhofstraße 9. Tel. 02381 / 17-5714. Vom 1. Dezember 2019 bis zum 5. Juli 2020. Geöffnet Di-Sa 10-17, So 10-18 Uhr. Heiligabend, Weihnachtsfeiertag, Silvester und Neujahr geschlossen. Eintritt 9 €, ermäßigt 7 €, Familienkarte 22 € (bis zu 2 Erwachsene und 3 Kinder). Umfangreiches Begleitprogramm, u.a. auch kindgerechte Aktionen („Fit für die Eiszeit“) im örtlichen Maximilianpark.

www.museum-hamm.de

 

 

 




„Pest!“ – Herner Museum für Archäologie beleuchtet die Geschichte der furchtbaren Seuche

Seltsames Phänomen: Ein solcher „Rattenkönig" (mit den Schwänzen verknotete Tiere) galt besonders in der frühen Neuzeit als böses Omen im Hinblick auf die Pest. (Foto: LWL/P. Jülich)

Rätselhaftes Phänomen als Ausstellungsstück, für zart besaitete Gemüter nur bedingt geeignet: Ein solcher „Rattenkönig“ (an den Schwänzen miteinander verknotete Tiere) galt besonders in der frühen Neuzeit als böses Omen im Hinblick auf die Pest. (Foto: LWL/Peter Jülich)

Die Pest ist weit mehr als „nur“ eine Krankheit. Diese Seuche, die im Laufe der Epochen Hunderttausende dahingerafft hat, ist überhaupt zu einem Mythos des Weltübels geworden, der auch etliche Redewendungen geprägt hat. Etwas hassen wie die Pest. Nur die Wahl zwischen Pest und Cholera haben. Und so weiter. Das LWL-Museum für Archäologie in Herne hat sich also an ein wahrhaft globales Schreckensthema gewagt. Die Ausstellung heißt einfach „Pest!“ Mit Ausrufezeichen.

Globales Thema? Aber ja. Während man früher in eurozentrischer Beschränkung gedacht hat, die fürchterlichen Pandemien im 6. Jahrhundert n. Chr., sodann – noch berüchtigter – im 14. Jahrhundert und schließlich im 19. Jahrhundert seien die Seuchen-Katastrophen schlechthin gewesen, muss man diese Sicht wohl revidieren. Die Pest dürfte seit jeher auf Erden viel weiter verbreitet gewesen sein. Mehr noch: Neuere Untersuchungen haben den Pesterreger schon in steinzeitlichen Funden nachgewiesen.

Die Pest ist eine Krankheit, die zunächst vor allem Nager befällt. Unter dem Mikroskop sieht ein Floh, der die Pest von Ratten Menschen übertragen kann, so aus. (Foto: LWL/S. Leenen)

Die Pest ist eine Krankheit, die zunächst vor allem Nager befällt. So sieht unter dem Mikroskop ein Rattenfloh aus, der durch seine Stiche die Pest auf Menschen übertragen kann. (Foto: LWL/Stefan Leenen)

Um solch spannende Erkenntnisse herum hat der Kurator Dr. Stefan Leenen die lehrreiche Ausstellung mit rund 300 archäologischen und kulturgeschichtlichen Belegstücken entwickelt; manche Exponate erzählen kleinere Geschichten, andere rufen wahre Epen wach.

Schnabelmasken nur die Ausnahme

In Herne räumt man mit einigen Legenden auf. So sind die immer wieder ikonisch abgebildeten Pest-Doktoren mit den langen Schnäbeln in Wirklichkeit die Ausnahme gewesen. Dennoch hat man ihnen eine imposante Masken-Installation gewidmet.

Der Rundgang beginnt mit dem kleinsten „Exponat“, dem nur unterm Mikroskop sichtbaren Erreger-Bakterium „Yersinia Pestis“. Das Exemplar ist natürlich tot, es kann keinen Schaden mehr anrichten. Es stammt übrigens aus Beständen der Münchner Bundeswehr-Hochschule. Ausschließlich dort darf in Deutschland an Pest-Bakterien geforscht werden.

Die in diesem Grab beigesetzten Toten starben nachweislich an der Pest (Archäologische und Anthropologische Staatssammlung München, 550 n. Chr. (Foto: LWL/P. Jülich)

In Herne gezeigt: Skelette zweier Pest-Opfer aus dem 6. Jahrhundert. (Archäologische und Anthropologische Staatssammlung München, 550 n. Chr.), dahinter ein Teil der großen Leuchtwand mit Totentanz-Motiven. (Foto: LWL/Peter Jülich)

In Europa wurde das Bakterium hauptsächlich durch Ratten verbreitet, die die Krankheit via Flohbefall übertragen haben. In anderen Weltgegenden waren es andere Nager wie etwa Murmeltiere. Solche (mikro)biologischen Zusammenhänge werden zu Anfang erläutert.

Skelette und Totentanz

Im Zentrum des Ganzen erhebt sich als Leuchtwand ein zehn mal vier Meter großes Schaubild, ein Totentanz nach traditionellem Vorbild, jedoch in moderner Gestaltung. Davor sieht man die ungemein gut erhaltenen Skelette zweier Pest-Opfer aus dem 6. Jahrhundert. Man kommt nicht umhin, so etwas zu zeigen. Insgesamt geht man das Thema allerdings möglichst nüchtern an – ohne unnötige Gruseleffekte. Bloß keine Horror-Show!

Dennoch gibt es Gründe zum Erschrecken. Beispielsweise über hysterische Schuldzuweisungen, über mit Folter erzwungene Geständnisse. Die so rätselhafte Pest wurde oftmals Fremden und nicht selten jüdischen Bürgern angelastet. Davon zeugt etwa ein 1348 aufgesetztes Dokument aus Frankfurt, in dem bereits die posthume Verteilung jüdischer Habe „geregelt“ wurde.

Furchtbar auch die Anfänge dessen, was man fast schon als biologische Kriegführung bezeichnen könnte: Im 17. Jahrhundert wollte der venezianische Geheimdienst mit Pestsekret bestrichenen Filzstoff an Türken verkaufen. Der hinterhältige Plan wurde aber durchkreuzt.

Religiöse Folgen der Seuche: Der heilige Rochus von Montpellier wurde im ausgehenden Mittelalter als Helfer wider die Pest verehrt (Foto: LWL/P. Jülich)

Eine von zahlreichen religiösen Folgen der Seuche: Der heilige Rochus von Montpellier wurde im ausgehenden Mittelalter als Helfer wider die Pest verehrt. (Foto: LWL/Peter Jülich)

Breiten Raum nehmen religiöse Folgen der Pest ein, die vielfach als Strafe Gottes galt. Einige Objekte beziehen sich auf spezielle Schutzheilige wie Sebastian und Rochus oder auf die Entstehung von Bitt-Prozessionen, deren Nachfolger sich teilweise bis heute gehalten haben, so u. a. in Münster und Castrop-Rauxel. Apropos Westfalen: Im Gefolge der Pest lagen hier – wie auch andernorts – Wirtschaft und der Handel darnieder, ganze Landstriche entvölkerten sich.

Heilpflanzen mit Gold gemixt

Weiterer Schwerpunkt sind Versuche, die Menschen mit den damaligen Mitteln der Medizin zu kurieren. Wie u. a. Rezeptbüchern zu entnehmen ist, experimentierte man mit allerlei Heilpflanzen. Arme Leute fanden sie kostenlos am Wegesrand, für Wohlhabende wurden Mittel mit teuren Gewürzen und Gold gemixt. Geholfen hat beides nicht. Auch Tabaksrauch, Aderlass und Einläufe blieben wirkungslos.

Glaube, Aberglaube und Wissenschaft waren noch nicht streng voneinander geschieden. Doch ein bizarres Exponat wie jener Schwarze Hahn, der als Sinnbild des Urbösen heilsam auf Pestbeulen gesetzt werden sollte wie auf ein Ei, dürfte schon damals eher ungläubige Verwunderung ausgelöst haben.

Schwerstes Schaustück ist übrigens ein kapitaler Anker. Er gehörte zum französischen Schiff „Grand Saint Antoine“, mit dem 1720 die Pest nach Marseille kam.

Die Pest, so ein Fazit der Schau, ist ein steter Begleiter der Menschheit. Auch heute noch bricht sie manchmal epidemisch aus, zuletzt 2017 auf Madagaskar. Nur gut, dass man der Seuche seit Entdeckung des Pesterregers anno 1894 (vor 125 Jahren) nicht mehr schutzlos ausgeliefert ist.

„Pest!“ LWL-Museum für Archäologie, Herne, Europaplatz 1. Noch bis zum 10. Mai 2020. Di, Mi, Fr 9-17, Do 9-19, Sa/So 11-18 Uhr.

https://pest-ausstellung.lwl.org/de/

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Der Beitrag ist zuerst gedruckt erschienen, und zwar im „Westfalenspiegel“. Internet-Auftritt des Magazins, das in Münster herauskommt: https://www.westfalenspiegel.de/




Nachdenken über Städtebau, Rechtsradikalismus und die autoritäre Persönlichkeit – Vorträge von Theodor W. Adorno

Also schrieb Botho Strauß in seinem 1981 erschienenen Buch „Paare Passanten“ über Theodor W. Adorno, anlässlich einer Lektüre der „Minima Moralia“: „Wie gewissenhaft und prunkend gedacht wurde, noch zu meiner Zeit! Es ist, als seien seither mehrere Generationen vergangen.“ Tatsächlich sind inzwischen etliche weitere Jahre vorübergezogen, seit Adorno, der Mitbegründer der „Frankfurter Schule“, seine Wirksamkeit vollends entfaltete. Doch eine Wiederbegegnung lohnt sich immer noch und allemal.

Jetzt sind gesammelte „Vorträge 1949-1968″ Adornos im Rahmen der Nachgelassenen Schriften bei Suhrkamp erschienen – wissenschaftlich sorgsam eingeordnet in die „Abteilung V – Vorträge und Gespräche, Band 1″.

Doch man muss hier keine Angst vor knochentrockenem Dozieren haben. Gewiss, Adorno (1903-1969) bewegt sich stets auf beachtlichen theoretischen Höhen, doch hat er gerade in seinen öffentlichen Vorträgen auch spürbar versucht, auf sein jeweiliges Publikum einzugehen, zuweilen gar geradezu unterhaltsam an dessen Verstand zu appellieren. Selbst beim wahrlich ernsthaften Vortrag über Rechtsradikalismus verzeichnet die Niederschrift einige Lacher im Publikum. Es war das Gelächter der Erkenntnis.

Was die Schönheit einer Stadt ausmacht

Das Themenspektrum der 20 Vorträge ist vielfältig und größtenteils von bleibender Relevanz. Es reicht von überaus differenzierten (wenn auch heute nicht mehr in allen Punkten nachvollziehbaren) musiktheoretischen Erwägungen und allgemeinen soziologischen Analysen („Die menschliche Gesellschaft heute“, 1957) über Fragen des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg („Städtebau und Gesellschaftsordnung“, 1949) bis hin zu einer nach wie vor aufschlussreichen Betrachtung über „Aspekte des neuen Rechtsradikalismus“ aus dem Jahre 1967, als die NPD aufkam. Apropos: Historische Differenzen und Details werden in einem umfangreichen Anmerkungs-Apparat am Ende des Bandes erschlossen.

Gehen wir – anhand von drei prägnanten Beispielen – chronologisch vor. 1949, als weite Teile Deutschlands noch in Kriegstrümmern lagen, empfahl Adorno einen demokratischen Wiederaufbau, an dem möglichst auch die Bürger beteiligt werden sollten – damals alles andere als eine Selbstverständlichkeit, heute zumindest formal vielfach üblich. Die „Schönheit“ von Städten als Mischung aus organisch und historisch Gewachsenem ist für Adorno nicht so sehr eine rein ästhetische Frage, sondern vielmehr eine soziologische: Sie habe sich phasenweise ergeben, wenn die Interessen der einzelnen Bewohner mit denen des Gemeinwesens übereinstimmten.

Im Geiste der Moderne

Diese Zeiten, in denen Wohnen und Arbeiten noch nicht räumlich getrennt waren, sind allerdings 1949 längst Geschichte. Und so rät Adorno denn auch zum Wiederaufbau im Geiste der Moderne, keineswegs zur Wiedererrichtung historischer Altstädte, deren gesellschaftliche Grundlagen entfallen seien. Ein Wiederaufbau des alten Nürnberg, so sein Beispiel, würde nur auf eine Spielzeug-Variante der Historie hinauslaufen. Ein entschiedener „Gegenschlag“ zum Gewesenen würde hingegen verbliebende Traditionen erst recht zur Geltung bringen.

Immer noch hochinteressant und in so manchen Punkten weiterhin gültig ist auch Adornos Vortrag über „Die autoritäre Persönlichkeit“ (1960). Auf der Grundlage langjähriger Untersuchungen arbeitet er abermals einige Kernpunkte seiner Thesen heraus. Die autoritätshörige Persönlichkeitsstruktur ist nach seiner Ansicht die Basis aggressiv-nationalistischen Unwesens. Der weit verbreitete Typus lasse lebendige Erfahrungen, die ihn verunsichern könnten, gar nicht mehr an sich heran. Also verhärteten sich seine irrationalen Vorurteile zusehends. Auch wenn heute andere Sozialtypen vorherrschen mögen, so erkennt man doch einige Züge dieser charakterlichen Prägung heute wieder, vielleicht sogar im wachsendem Maße – so etwa auch im „finsteren und brütenden Einverständnis“, das derlei Gruppierungen kennzeichne. Muss man da noch eigens Ross und Reiter unserer Tage nennen?

„Technik der plumpen Lüge“

Womit man beinahe bruchlos zum Thema Rechtsradikalismus überleiten kann. In seinem Vortrag von 1967, kurz vor dem Scheitelpunkt der bundesdeutschen Studentenrevolte, registriert Adorno, welche Teile und Regionen der Gesellschaft noch oder schon wieder für rechtsradikale Ideologien anfällig seien. Adorno befindet, dass diese Ideologie kein zusammenhängendes Theorie-Konstrukt ausgeformt hat, sondern weit überwiegend nur aus Propaganda und Machttechnik bestehe.

Unter dem Eindruck einer seinerzeit erstarkten NPD gerät das Phänomen in den Blick, dass von rechts (z. B. seinerzeit in der National-Zeitung) ganz bewusst an den Grenzen des „Sagbaren“ operiert wurde. Kommt einem nicht auch das neuerdings wieder bekannt vor? Auch geht es um systematische Fake-Behauptungen, die Adorno damals natürlich noch nicht so genannt hat. Er sprach von „solchen völlig irren und phantastischen Geschichten“ sowie von der „Technik der plumpen Lüge“. Oh, schreckliche Wiederholung!

Wahrheit im Dienste der Unwahrheit

Weiteres Zitat, bezogen auf rechtes Imponiergehabe: „Es wird mit Kenntnissen geprotzt, die sich schwer kontrollieren lassen, die aber eben um ihrer (Un)kontrollierbarkeit willen dem, der sie vorbringt, eine besondere Art von Autorität verleihen.“ Von Adorno erfundenes, aber triftiges Beispiel einer infamen Lüge aus rechten Kreisen: „Was? Das weiß doch jedes Kind! Und Sie wissen nicht, daß seinerzeit der Rabbiner Nussbaum gefordert hat, daß alle Deutschen kastriert werden sollen?“

Bemerkenswert auch Adornos fein unterscheidende Sicht auf den Umgang mit der Wahrheit: „Ich möchte (…) darauf hinweisen, daß keineswegs alle Elemente dieser Ideologie einfach unwahr sind, sondern daß auch das Wahre in den Dienst einer unwahren Ideologie (…) tritt…“ Dieser Umstand müsse bei der Gegenwahr berücksichtigt werden.

Überhaupt erwägt Adorno am Rande auch taugliche Abwehrstrategien gegen rechte Umtriebe. So solle man nicht moralisieren, sondern jenen Leuten, die noch erreichbar sind, deren eigene und eigentliche Interessenlage ganz klar vor Augen halten und die Tricks ihrer Anführer entlarven. Ob es (noch) hilft?

Theodor W. Adorno: „Vorträge 1949-1968″ (Hrsg.: Michael Schwarz / Theodor W. Adorno Archiv). Im Rahmen der Ausgabe „Theodor W. Adorno Nachgelassene Schriften, Abteilung V: Vorträge und Gespräche, Band 1″. Suhrkamp, 786 Seiten, 58 Euro.

 




Der Zeit voraus in allen Wissenschaften – Hagener Ausstellung auf den Spuren des Universalgenies Leonardo da Vinci

Von Leonardo exakt mit Feder und Tinte erfasst: „Der Mensch des Vitruv" (um 1490). (Galleria dell'Accademia, Venedig / Institut für Kulturaustausch, Tübingen)

Auch so ein berühmtes Bild, von Leonardo exakt mit Feder und Tinte erfasst: „Der Mensch des Vitruv“ (um 1490). (Galleria dell’Accademia, Venedig / Institut für Kulturaustausch, Tübingen)

Eigentlich muss man das nicht klarstellen, doch sei’s drum: Tayfun Belgin, Direktor des Hagener Osthaus-Museums, hält also spaßeshalber fest, dass in seinem Haus weder die „Mona Lisa“ noch die „Anna selbdritt“ oder „Das Abendmahl“ zu sehen sind, obwohl die neue Ausstellung doch von Leonardo da Vinci handelt.

Na, sicher: Solche weltberühmten Bilder könnte man nimmermehr ausleihen, auch wenn man weder Mühen noch Kosten scheut. Außerdem ist die Malerei gar nicht Leonardos Hauptbeschäftigung gewesen, heute werden ihm lediglich rund 20 Gemälde zugeschrieben. Den Großteil seiner Zeit auf Erden (1452-1519) hat er mit teilweise visionären Erkundungen und Erfindungen zugebracht, die ihrer Zeit sehr weit voraus waren. Genau damit befasst sich die Schau – anhand von 119 handkolorierten Faksimile-Skizzen und von 25 Modellnachbauten, die recht exakt Leonardos Entwürfen folgen.

Das Ausstellung-Konvolut stammt vom Tübinger „Institut für Kulturaustausch“ (Leitung: Maximilian Letze). Anlass des Hagener Gastspiels der Wanderschau ist der 500. Todestag Leonardos. Der Aufbau der Ausstellung wirkt nur auf den ersten Blick womöglich etwas dröge. Sobald man sich aufs Thema einlässt, entsteht ein Sog.

Nach einer Leonardo-Skizze von 1495 gebaut: Modell eines Hubschrauber-Vorläufers. (Foto: Bernd Berke)

Nach einer Leonardo-Skizze gebaut: Modell eines Hubschrauber-Vorläufers. (Foto: Bernd Berke)

Der 1485 skizzierte Fallschirm funktioniert tatsächlich

Und siehe da: Die allermeisten Ideen des Universalgenies funktionieren tatsächlich, sie sind staunenswert ausführbar; so etwa auch ein Fallschirm, der einen sicher zu Erde bringt. Der Fallschirmspringer Adrian Nicholas hat es anno 2000 am eigenen Leibe ausprobiert, die Ideenskizze stammt von 1485!

Leonardo hat sich seinerzeit auch Gedanken über einen Hubschrauber-Vorläufer und eine Art Flugdrachen gemacht. Wahrlich, das waren Gedankenflüge sondergleichen, wenn auch die beiden zuletzt genannten Apparaturen sich zu Leonardos Zeit noch nicht dauerhaft in die Lüfte erhoben haben. Immerhin wandelte das Genie auch hierbei auf den richtigen Wegen. Unter anderem hatte Leonardo dafür intensive Studien zum Vogelflug absolviert. Pendant im anderen Element: Bevor er sich mit Schiffen befasste, widmete er sich genauesten Untersuchungen zur Wasserströmung.

Hin und her zwischen vielen Projekten

Die Ausstellung ist zwar thematisch recht säuberlich gegliedert, doch das täuscht über die wohl ziemlich chaotische, demiurgische Arbeitsweise Leonardos hinweg, der stets an einigen Projekten zugleich arbeitete, gar vieles ergriff und zwischendurch manches beiseite legte. Es ist ja überhaupt kaum zu glauben, über welche verschiedenen Gegenstände Leonardo da Vinci fundiert nachgedacht und dabei immer wieder geistiges und technisches Neuland entdeckt hat. In der Anatomie machte er ebenso bahnbrechende Fortschritte wie im Schiffs-, Brücken- und Kanalbau. Eine weit geschwungene Brücke, die im heutigen Istanbul von Europa nach Asien führen sollte, ist freilich nie gebaut worden, sie erschien dem Sultan gar zu visionär und wohl auch zu kostspielig. Sie war übrigens so konstruiert, dass sie Erdbeben überstanden hätte.

Leonardo zeichnete sich zudem als ebenso ebenso kühner wie umsichtiger Stadtplaner aus, u. a. für Mailand, wo er ein Kanalsystem ersonnen hat, das die gar zu eng gebaute Metropole hätte entlasten sollen. Auch Müllabfuhr und Gesundheitsvorsorge gehörten zum weitsichtigen Planungsumfang. Doch er kam mit seinen vielfältigen Ideen nicht zum Zuge.

Auch die Arterien-Verkalkung entdeckt

Müßig zu erwähnen, dass Leonardo auch als Architekt und Ingenieur Maßstäbe setzte. Die damals noch nicht so exakte Zeitmessung (mit Sonnen- und Sanduhren) reizte Leonardo zur Konstruktion ausgefeilter Uhrmechanik. Sein geradezu besessener, offenbar nie ermüdender Wissensdurst trieb ihn auch zu anatomischen Studien, die etwa zur ersten Entdeckung der Arterien-Verkalkung führten, also auch die Medizin voranbrachten. Seine Zeichnungen vom menschlichen Körper und dessen Innenleben sind von bis dahin unerreichter Präzision. Gruselige Kehrseite: Er sezierte dafür gelegentlich auch die Leichen vormaliger Strafgefangener.

Modellnachbau eines „Automobils" mit Zahnradgetriebe und Differenzialgetriebe für die Hinterräder – nach einer Leonardo-Skizze von 1493. (Foto: Bernd Berke)

Modellnachbau eines „Automobils“ mit Zahnradgetriebe und Differenzialgetriebe für die Hinterräder – nach einer Leonardo-Skizze von 1493. (Foto: Bernd Berke)

Für Leonardo bestand kein grundlegender Unterschied zwischen Wissenschaft und Kunst, eins geht ersichtlich ins andere über. Erfindungen werden nicht zuletzt in ästhetischer Weise erwogen, geglückte Funktion erfüllt sich sozusagen auch im Anblick. Wenn er etwas Vorgefundenes aus der Natur zergliederte, diente dies auch der Verbesserung im Malerischen.

Ebenfalls keinen prinzipiellen Unterschied sah Leonardo zwischen Mensch und Maschine. Aufs „Funktionieren“ kam es beiderseits an. Wer weiß: Mit solchen Gedanken stünde er heute vielleicht an der Spitze einer Bewegung, die mit Nachdruck Künstliche Intelligenz erforscht und Mensch-Maschinen-Konstrukte in allerlei Abstufungen für denkbar oder gar für wünschenswert hält.

Eine Frühlingsgöttin auf dem „Automobil“

Die Modelle aus Holz und Metall, die auf der Basis von Leonardos Skizzen entstanden sind, kann man zum Teil selbst erproben, beispielsweise auch den Nachbau eines frühen „Automobils“, dessen Original sich per Federspannung (gespeicherte Kraft) immerhin rund 30 Meter weit selbsttätig fortbewegen konnte. Mit großem Pomp hatte das von den Medici in Auftrag gegebene Fahrzeug seine öffentliche Premiere, spektakulär beladen mit einer „Frühlingsgöttin“. Jammerschade, dass es davon keine Filmaufzeichnung gibt. Die entsprechende Erfindung (oder wenigstens Vorarbeiten dazu) hätte man Leonardo beinahe auch noch zutrauen dürfen. Nun gut, das ist vielleicht etwas übertrieben. Generell nahmen übrigens die Zeitgenossen manche seiner Erfindungen nicht ernst, weil sie die Tragweite nicht erkannt haben.

Je elf Läufe in drei Lagen: Modell eines Orgelgeschützes nach einer Skizze (1482) Leonardo da Vincis. (Foto: Bernd Berke)

Ein zwiespältiges Kapitel sind Leonardos Forschungen für militärische Zwecke. Obwohl im Herzen wohl eher Pazifist, erfand er beispielsweise martialische Belagerungsmaschinen oder einen fürchterlichen Sichelwagen, der durch die Reihen feindlicher Kämpfer rasen und sie massenhaft niedermähen sollte wie Gras oder Getreide. Allerdings hätten sich auch die Zugpferde schwer verletzt.

Furchtbar raffinierte Militärtechnik

Ein schon neuzeitlich anmutendes Orgelgeschütz konnte aus vielen Rohren zugleich feuern, die Geschützbatterien sollten sich durch Drehung rasch auswechseln lassen. Sogar ein trutziger Panzer, ebenfalls rundum mit Geschützen ausgestattet, zählte zu Leonardos Ideen-Arsenal. Derlei Kriegsgerätschaften beeindruckten so manchen italienischen Fürsten, der in jenen unruhigen Zeiten im Hader mit anderen lag. Auf lukrative fürstliche Aufträge war Leonardo angewiesen.

Die Skizzen sind oftmals dermaßen kleinteilig ausgeführt, dass man als Laie zumindest sehr lange hinschauen muss, um daraus halbwegs schlau zu werden – von der winzigen Beschriftung ganz zu schweigen. Verständnishilfe gibt’s an sechs Multimedia-Stationen, wo man mit mehr als 8000 Bildern etliche Einzelheiten über Leonardo und seine Zeit aufrufen kann. Mit einem allzu kurzen Aufenthalt im Museum sollte es also nicht getan sein. Erst recht nicht, wenn man am Schluss noch ein paar heutige Patente aus Hagen und Südwestfalen in Augenschein nehmen will. Erfindergeist regt sich noch, wenn auch nicht mehr im Sinne von Originalgenies.

Im Verlauf des Rundgang fragt man sich, woran ein Leonardo wohl heute arbeiten würde. Ob er sich mit Klimafragen beschäftigen würde? Oder mit etwas ganz anderem, was uns Heutigen noch gar nicht in den Horizont gerückt ist? Genügend Nahrung für Phantasie.

Leonardo da Vinci – Erfinder und Wissenschaftler. Osthaus Museum, Hagen, Museumsplatz 1 (Navigation: Hochstraße 73). 15. September 2019 bis 12. Januar 2020, geöffnet Di-So 12-18 Uhr. Eintritt 10 Euro, ermäßigt 7 Euro. Katalogbuch erhältlich. Tel.: 02331 / 207 3138. www.osthausmuseum.de

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Direkt nebenan, im selben Kunstquartier, zeigt das Emil Schumacher Museum vom 15. September 2019 bis zum 9. Februar 2020 eine Sonderausstellung mit abstrakten Bildern von K. R. H. Sonderborg. Darauf werden wir in den nächsten Tagen zurückkommen. Infos: www.esmh.de

 

 

 




Regionale Erdung, weiter Horizont – Buch und Ausstellung zum Thema „Mensch & Tier im Revier“

Der Titel „Mensch & Tier im Revier“ wirkt anheimelnd. Doch dieses Buch kommt vor allem anfangs auch mit gewichtigem theoretischen Unterbau und gesellschaftskritischem Besteck daher. Anlässe gibt’s ja genug.

Und so erfahren wir eingangs, dass das menschengeprägte Erdzeitalter, das Anthropozän, sich in der bisherigen Form dem Ende zuneige und dass wir endlich in eine – Achtung, Neologismus! – „humanimale Sozietät“ eintreten sollen. Sprich: Mensch und Tier mögen gleichsam auf Augenhöhe existieren, dem Tier wird eine Art „Inklusion“ zuteil und es sieht seinen so ganz anderes gearteten Geist (jawohl: Geist) gleichberechtigt gewürdigt. Eine ferne Utopie? Oder eine dringliche Notwendigkeit? Jedenfalls eine Sichtweise, die sich mit herkömmlichen Zoos oder zirzensischen Attraktionen nicht mehr vereinbaren lässt.

Grubenpferd, „Taubenvatta“ und Bergmannskuh

In fünf Hauptkapiteln greift der hochinteressante Band (und die zugehörige Ausstellung im Essener Ruhr Museum mit über 100 Exponaten und mehr als 100 Fotografien) die Aspekte seines vielfältigen Themenkreises auf, der nach Möglichkeit mit prägnanten Belegstücken aus der Geschichte des Reviers illustriert wird. Und ja: Auch der früher so allgegenwärtige „Taubenvatta“ sowie die Ziege als „Bergmannskuh“ kommen natürlich ebenso vor wie Gruben- oder Brauereipferde.

Der Horizont des Buches wie der Schau reicht allerdings weit über die Region hinaus, er erstreckt sich zugleich ins Existenzielle und Universelle. Man darf getrost von einem Standardwerk zum Thema sprechen, wobei es in den Texten häufig deutlich ernster zur Sache geht als in den Illustrationen.

Die Kapitel-Überschriften lauten:

1.) Tiere töten
2.) Tiere nutzen
3.) Tiere lieben
4.) Tiere ordnen
5.) Tiere deuten

Der Mensch handelt, das Tier erduldet und erleidet

Da gibt es, allen Differenzen zum Trotz, Gemeinsamkeiten: Immerzu ist nämlich der Mensch der Handelnde, das Tier erduldet und erleidet zu allermeist die Aktionen und Emotionen des Homo sapiens. Das biblische „Macht euch die Erde untertan“ wirkt lange und vielfach schrecklich nach.

Ganz unverhüllt und explizit zeigt sich das Gewaltverhältnis zu Beginn: „Tiere töten“ handelt vornehmlich von Jagd und Schlachtung, aber auch von rabiater Insektenvernichtung oder massenhaft überfahrenen Tieren. In den Blick gerät selbst ein Bildschirmspiel wie „Moorhuhn“, bei dem die Comic-Tierchen halt bedenkenlos abgeknallt werden. Befinden wir uns hier im Grenzgelände zwischen berechtigter Mahnung und humorfreier Spaßbremsung?

Auch in der Abteilung „Tiere nutzen“ verhält es sich nicht gerade zu wie auf dem sprichwörtlich idyllischen Ponyhof: Da geht es etwa um barbarische Tierversuche, erbärmlich ausgebeutete Grubenpferde, Brieftauben im Militärdienst, rücksichtslose Elfenbein-, Pelz- und Leder-Gewinnung, wobei im Ruhrgebiet das vielzitierte „Arschleder“ der Bergleute nicht fehlen darf.

Objekte der sortierenden Wissenschaft

„Tiere lieben“ klingt demgegenüber harmlos und versöhnend, doch auch die oftmals übertriebene Vermenschlichung und Verniedlichung der Tiere wird deren Wesen keinesfalls gerecht. Die herablassende Haltung schließt etwa die Zurschaustellung in Varietés und Zirkuszelten mit ein. Auch der vermeintliche „Schutz“ von Tieren hat furchtbare Kehrseiten: So wurden in Kriegszeiten Pferde in die Schlachten geschickt, notfalls mit Gasmasken versehen. Das war natürlich alles andere als mitfühlend.

„Tiere ordnen“ bezieht sich auf die Systematik der wissenschaftlichen Betrachtung, die im Tier vor allem ein Objekt sieht. Ausgestopfte Exemplare in naturkundlichen Sammlungen sind nur ein Ausdruck dieses herrschaftlich sortierenden und zergliedernden Zugriffs auf die Schöpfung, zu dem sich die Menschen selbst ermächtigen. Überdies umfasst der „Ordnungs“-Gedanke auch die ideologische Indienstnahme der Tiernatur – bis hinab zur 1935 in Essen gezeigten Ausstellung „Mensch und Tier im deutschen Lebensraum“, die unterm überdimensionalen Hitlerbild und unter Schirmherrschaft des „Reichsjägermeisters“ Göring rund 350.000 Besucher anzog.

Mit Blattgold überzogener WM-Krake

Schließlich „Tiere deuten“. Hier erfährt man von mancherlei Zuschreibungen symbolischer oder religiöser Art, mit denen der Mensch sich das Tier gedanklich für seine emotionalen Bedürfnisse zurechtlegt. Das Spektrum reicht hier vom putzigen Zigaretten-Igel bis zum Amulett und Wappentier, vom Tierkreiszeichen bis zum prolligen Fuchsschwanz am Auto-Rückspiegel.

Sogar der Oberhausener Fußball-Krake Paul, der bei der EM 2008 und bei der WM 2010 so manches Match mit deutscher Beteiligung richtig „vorhersagte“ und posthum mit Blattgold überzogen wurde, wird in diesem Zusammenhang noch einmal dargeboten. Das Exponat stammt übrigens aus dem Deutschen Fußballmuseum in Dortmund und zeugt auf bizarre Weise von einem obsoleten Blick auf die Tierwelt.

Das Buch

Heinrich Theodor Grütter / Ulrike Stottrop (Hrsg.): „Mensch & Tier im Revier“. Klartext Verlag, Essen. 304 Seiten Katalogformat, fester Einband, über 230 Abbildungen. 29,95 Euro.

Die gleichnamige Ausstellung

„Mensch & Tier im Revier“. Bis zum 25. Februar 2020 im Ruhr Museum auf Zeche Zollverein, Essen. Mo bis So 10-18 Uhr. 24., 25. und 31.12 geschlossen. Eintritt 3 Euro, ermäßigt 2 Euro. Welterbe Zollverein, Areal A (Schacht XII), Kohlenwäsche (A 14), Gelsenkirchener Straße 181. www.ruhrmuseum.de 




Ein Mammut als „Puzzle“ und tonnenschwere Vorzeit-Brocken – Dortmunder Naturkundemuseum füllt sich allmählich wieder

Ein ziemlich großes „Puzzle": das Dortmunder Mammut. (Foto: Bernd Berke)

Ein ziemlich großes „Puzzle“: das Dortmunder Mammut. (Foto: Bernd Berke)

Das Mammut ist da! Zwar eröffnet – wenn nun endlich alles glatt läuft – Dortmunds Naturkundemuseum doch erst im nächsten Jahr, aber es treffen nun sozusagen Tag für Tag neue Schaustücke ein. Wohl das spektakulärste ist just das fast vollständige Skelett eines weiblichen Wollhaar-Mammuts mit immerhin 2,45 Metern Schulterhöhe.

Europas führender Mammut-Experte, Dick Mol aus den Niederlanden, erläuterte heute bei einer Pressekonferenz in Dortmund die Geschichte hinter diesem imposanten Tier aus der Weichsel-Kaltzeit (vor rund 30.000 bis 40.000 Jahren). Es handelt sich nämlich nicht um ein einzelnes Wesen, sondern quasi um ein Puzzle aus vielen, vielen Einzelteilen.

Vor sechs Jahren von den Dortmundern befragt, ob er wisse, wo Mammuts auf dem Markt seien, musste Dick Mol zunächst passen. Zumal in Sibirien wird schwunghafter (und nicht immer ganz legaler) Handel mit Überresten der Vorzeit-Wesen betrieben. Doch darauf wollte man sich nicht einlassen. Statt dessen griff man auf Abertausende von Einzelteilen zurück, die mit Schleppnetzen aus der Nordsee (Küste der niederländischen Provinz Zuid-Holland) geborgen wurden. Zur Zeit der Mammuts war das Gebiet trockenes Festland, durch das der Ur-Rhein als mächtiger Strom geflossen ist. In der Steppe ringsum lebten damals auch Wollhaar-Nashörner, Antilopen und Wildpferde.

Lauter Einzelteile aus der Nordsee

Aus all den Partikeln aus der Nordsee setzte man – unter Dick Mols Anleitung – tatsächlich nach und nach in langwieriger Kleinstarbeit (siehe Zeitraffer-Film am Ende des Beitrags) die Mammut-Kuh zusammen. Sämtliche Teile mussten sorgsam ausgewählt werden, sie mussten von einem weiblichen Tier bestimmten Alters und von jeweils passender Größe stammen. Männliche Exemplare wuchsen lebenslang, während die weiblichen, sobald einmal trächtig gewesen, das Wachstum einstellten und ungleich kleiner blieben. Genau das aber war das richtige Maß für Dortmund, wo die relativ geringe Deckenhöhe keinen Platz für den monumentalen Knochenbau eines ausgewachsenen Mammut-Bullen geboten hätte.

Man schaue sich das an! Das Dortmunder Mammut ist allem Anschein nach dermaßen kundig zusammengesetzt worden, dass wohl nur Experten auf den Puzzle-Gedanken kommen würden. Einzige Ausnahme von der Regel: Während alle Teile von wirklichen (aber eben vielen verschiedenen) Mammuts stammen, handelt es sich beim rechten Stoßzahn um eine Nachbildung. Wer bemerkt den Unterschied zum linken? Fest steht, dass das Dortmunder Mammut bundesweit seinesgleichen sucht.

Nebenher räumt Dick Mol gleich mit ein paar Legenden auf: Anders als vielfach kolportiert, hätten solche Mammuts keineswegs gleichzeitig mit den Sauriern gelebt, sondern viel später. Auch haben sie nicht in einer veritablen Eiszeit existiert.

Und wer hat den ganzen Mammut-Spaß bezahlt? Zum großen Teil die Sparkasse Dortmund, die 150.000 Euro beisteuerte. Wir vermelden es pflichtschuldigst.

Kraft- und Maßarbeit: Anlieferung eines 2,8 Tonnen schweren versteinerten Baumstamms. (Foto: Bernd Berke)

Kraft- und Maßarbeit: Anlieferung eines 2,8 Tonnen schweren versteinerten Baumstamms. (Foto: Bernd Berke)

Seit 2014 eine schier endlose Umbau-Geschichte

Das Narrativ vom Mammut kann freilich nicht ganz und gar von der misslichen Geschichte des Museums-Umbaus ablenken. Jeglichen Vergleich mit der endlosen Geschichte um den Berliner Flughafen BER wollen wir uns tunlichst verkneifen. Aber eine Gemeinsamkeit gibt’s leider doch: Auch das Dortmunder Naturkundemuseum, im September 2014 für vermeintlich nur zweijährige Umbau- und Renovierungsmaßnahmen geschlossen, wartet und wartet immer noch auf seine (Wieder)-Eröffnung.

Eigentlich hätte es (nach einer Firmeninsolvenz sowie etlichen Planungs- und Bauproblemen) in diesem Sommer endlich so weit sein sollen, doch müssen wir uns noch ein weiteres Jahr gedulden. Ab Sommer 2020 (genaueres Datum folgt vermutlich im nächsten Januar), so Museumsleiterin Dr. Dr. Elke Möllmann, sollen die Besucher wieder in jenes Museum strömen, das vor der Schließung mit rund 80.000 Besuchern im Jahr das meistbesuchte der Stadt gewesen ist – und diesen Spitzenplatz künftig wieder erobern dürfte.

Schade, schade. Durch all die Verzögerungen mussten beispielsweise einige Grundschul-Jahrgänge ohne diesen Museumsbesuch auskommen, der doch gerade mit kindgerechten Themen und Exponaten (lebensgroßes Dino-Modell der Gattung Iguanodon mitsamt passenden Original-Fußspuren usw.) aufwarten kann.

Nach Jahren endlich aus der Schutzfolie heraus: Dino-Modell der Gattung Iguanodon. (Foto: Bernd Berke)

Nach Jahren endlich aus der Schutzfolie heraus: Dino-Modell der Gattung Iguanodon. (Foto: Bernd Berke)

Wenn der Dino erzählen könnte…

Besagter Dino, stattliche fünf Meter hoch, steckte in all den Umbau-Jahren unter einer Schutzfolie. Wenn der Bursche erzählen könnte! Elke Möllmann jedenfalls stellt unumwunden fest, dass die Verzögerungen „eine Belastung für unser ganzes Team“ gewesen sind.

Nun aber der Blick nach vorn. Jetzt seien die Bauarbeiter „ausgekehrt“ (Möllmann). Und jetzt kann das Haus endlich wieder eingeräumt werden. Stück für Stück. Gerade heute wurde von einer Fachspedition ein 210 Millionen Jahre alter, 2,8 Tonnen schwerer versteinerter Baumstamm angeliefert und mühsam auf ein Podest gehievt. Ebenfalls frisch eingetroffen und gleichfalls tonnenschwer: ein mächtiger Steinkohlebrocken, der nicht mehr von der Lore genommen werden darf, weil er sonst in seine Bestandteile zerfiele. Er repräsentiert einen Aspekt des Karbon-Zeitalters, wie denn überhaupt weite Teile der gänzlich neu konzipierten und vielfach auch neu „möblierten“ Schau eine imaginäre Reise durch die Erdzeitalter ermöglichen sollen. Auch Exponate, die man schon zu kennen glaubt, werden dabei in andere Kontexte gestellt.

Neues Konzept mit entschieden regionaler Ausrichtung

Neu ist die entschieden regionale und oft gar lokale Ausrichtung des Museums. Wo irgend möglich, wurden Exponate aus Dortmund und Umgebung beschafft. Nur zwei Beispiele: Das erwähnte Kohlestück etwa stammt aus der 1987 geschlossenen Zeche Minister Stein in Dortmund-Eving. Versteinerte Ammoniten (längst ausgestorbene, schneckenförmige Kopffüßler) kamen beim Bau der Dortmunder U-Bahn zutage.

Insgesamt soll der Vermittlungs-Ansatz nicht so trocken und lehrhaft daherkommen wie ehedem, sondern „ganzheitlicher“, ökologischer und lebensnäher. So werden auch Fragen des Klimawandels durch die Jahrmillionen und Jahrtausende eine gewichtige Rolle spielen. 1500 Quadratmeter Ausstellungsfläche stehen für all das zur Verfügung.

Das Haus braucht einen anderen Namen

Die erste Sonderausstellung nach der Wiedereröffnung wird sich um die Fährnisse der Umbauzeit ranken. Sicherlich kein Blick zurück im Zorn, sondern Erinnerungen mit leichten Seufzern und nachträglichem Goldrand. Außerdem wird’s ein Buch über das Dortmunder Mammut geben. Wenn das nicht elefantös ist!

Museumsleiterin Elke Möllmann möchte dem geänderten Konzept auch in der Namensgebung gerecht werden. Gesucht wird also eine neue Bezeichnung für das Haus. Vorschläge können bis zum 6. September 2019 an folgende Adresse gemailt werden:

NeuerNameMuseum@dortmund.de

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Ein Zeitraffer-Video vom Aufbau des Mammuts ist bei YouTube zu sehen. Hier der Link:

 

 

 




50 Jahre „danach“: Mit Donald und Dagobert Duck, Daniel Düsentrieb und der Westfälischen Rundschau zum Mond

Dortmunder Blatt mit historischen Schlagzeilen: die Westfälische Rundschau vom 21. Juli 1969. (Repro: Bernd Berke)

Dortmunder Blatt mit historischen Schlagzeilen: die Westfälische Rundschau vom 21. Juli 1969. (Repro: Bernd Berke)

Ja, das war schon ein Ding, als vor rund 50 Jahren die ersten Menschen den Mond betreten haben. Abermillionen Erdbewohner fieberten vor den Fernsehgeräten mit. „Das ist ein kleiner Schritt für einen Menschen, ein riesiger Sprung für die Menschheit“.* Oder so ähnlich. Naja, ihr wisst schon.

Man kann das Jahrhundertereignis (hier stimmt der Ausdruck mal) vom 21. Juli 1969 unter zig verschiedenen Aspekten betrachten. Wir haben uns en passant zwei herausgesucht: einen regionalen und einen komischen.

Zunächst die Region. Schließlich sind wir hier bei den Revierpassagen und allenfalls nebenberuflich im Komik-Kontor. Harr, harr.

Dortmunder Zeitung kündete vom „Spaziergang“

Durch Zufall habe ich jüngst in meinen Beständen eine alte Ausgabe der Westfälischen Rundschau aufgetrieben, und zwar just die vom 21. Juli 1969. Leider hat sie einen Riss auf der Titelseite. Nehmen wir’s als Zeitzeichen und Patina. Der „Mond-Spaziergang“, wie es dort heißt, stand noch unmittelbar bevor, zum Redaktionsschluss – am späten Abend des 20. Juli – konnte das Dortmunder Blatt „nur“ von der vollbrachten Mondlandung berichten.

Weniger zufällig weiß ich, dass damals jemand an höherer Stelle ziemlich neu zur Rundschau gekommen war, der sich Machart und Schlagzeilen gewisser Boulevard-Gazetten zum Muster genommen hat. Allein in der oberen Hälfte der Titelseite finden sich drei Ausrufezeichen hinter den oft rot unterstrichenen Zeilen. Ganz so, als hätte man all das herausbrüllen müssen. Nun ja, das gab sich in den folgenden Jahren.

Schmierereien und Waffenlieferungen

Alles in allem genommen, waren es noch die Ausläufer der großen Zeit dieser Zeitung, deren Verbreitungsgebiet einst vom Emsland bis an den Rand von Rheinland-Pfalz gereicht hatte. Als schnellere Medien hatte man 1969 allenfalls Hörfunk und Fernsehen zu fürchten, doch die waren vielfach recht betulich – und noch hielten fast alle Haushalte ein regionales Tageszeitungs-Abonnement. Von einer nachrichtlichen Beschleunigung wie beim Internet hat man (trotz Mondlandung) nicht einmal geträumt. Es war noch die Zeit der mechanischen Schreibmaschinen, des Bleisatzes, der ratternden Fernschreiber („Ticker“) und der ganz allmählich aus dem Empfänger kriechenden, schwarzweißen Funkbilder.

Aufschlussreich ist immer, welche Nachrichten sich – rein zufällig? – in einer solchen Ausgabe noch so zeigen. Manches mutet fürchterlich heutig an: Hakenkreuzschmierereien am Berliner Mahnmal für Widerstandskämpfer. Kämpfe am Suezkanal. Sodann die Zeile „Kirchentag endet mit hitzigen Debatten“ (Evangelischer Kirchentag in Stuttgart), u.a. ging es um deutsche Waffenlieferungen in „Entwicklungsländer“. Na, und so weiter. Solcherart war also das Hintergrundrauschen zur Mondlandung. 1968 war gerade erst vorüber.

Und das Fernsehprogramm an jenem Tage? Natürlich sehr mondlastig. Außerdem: Manche Filme liefen noch mit deutschen Untertiteln, Hochkultur kam teilweise zur allerbesten Sendezeit – und das bei insgesamt nur drei Programmen!

Sommerferien auf dem Trabanten

Nun aber endlich die Komik! Am 16. Juli kommt mal wieder ein LTB (Lustiges Taschenbuch) von Egmont Ehapa in den Handel, es ist bereits die Nr. 522, umfasst 256 Seiten und kostet 6,50 Euro. Übrigens fällt auf, dass die Klimafrage mit unterschwelliger Macht in diese dicken Hefte drängt. Man weiß halt, was die junge Kundschaft bewegt.

Lustiges Taschenbuch Nr. 522 zur Mondlandung. (© 2019 Disney / Egmont Ehapa Media)

Lustiges Taschenbuch Nr. 522 zur Mondlandung. (© 2019 Disney / Egmont Ehapa Media)

Ganz offensichtlich haben die Chefs ihren Story-Schmieden und Zeichnern (bzw. deren Kolleginnen) eingeschärft, dass die neue Edition unbedingt etwas mit dem Jubiläum der Mondlandung zu tun haben müsse. So prangt denn auf der Vorderseite die Schlagzeile „Sommerferien auf dem Mond“.

Die Titelgeschichte hebt so an: Onkel Dagoberts Versuche, auf dem Mond massenweise Gold zu schürfen, sind grandios fehlgeschlagen. Eine neue Geschäftsidee muss schleunigst her. In einem lichten Moment entfährt es Donald, dass sich der Mond vielleicht als Urlaubsgegend eignen könne. Im selben Augenblick leuchtet die berühmte Ideen-Glühlampe über Dagoberts Kopf auf: Das ist es! Geld scheffeln, indem man Mond-Tourismus für schwerreiche Leute anbietet! Aber die sind überaus anspruchsvoll – und ausgerechnet Donald soll sich um ihr Wohlergehen kümmern… Doch der Enterich hat unverschämtes Glück.

Invasion der Außerirdischen

Auch sonst ist das Buch überwiegend mit Weltraum-Abenteuern angefüllt. Na gut, die Einfälle sprühen nicht immer grenzenlos. Gar oft tauchen in diversen Geschichten jede Menge Aliens und Außerirdische auf. Beim schnellen Durchblättern scheint es so, als sei an jeder Ecke zu jeder Zeit mindestens eine Rakete startklar. Mit anderen Worten: Die Abenteuer sind ein wenig wiederholungsträchtig. Etliche Male werden beispielsweise Scherze mit der geringen Schwerkraft auf dem Mond getrieben. Trotzdem muss man den Machern eines lassen: Sie hauen immer mal wieder ein paar gehörige Gags ‚raus.

Auch das neueste Micky Maus-Magazin No. 15/19 (52 Seiten, 3,70 €) aus demselben Verlagshaus trägt auf dem Titel den Schriftzug „50 Jahre Mondlandung“, das Heft liegt bereits seit heute (12. Juli) vor. Hier müssen Donald & Dagobert gleich mit einem uralten Mondfluch fertig werden, der in einem magischen Ring gesteckt hat, nun fatal ins Freie dringt und den Trabanten so verformt, dass er auf die Erde zu stürzen droht. Daniel Düsentrieb muss einige Geistesblitze flackern lassen, um allein die technischen Schwierigkeiten zu meistern. Und dann gibt’s auch noch arge „menschliche“ Probleme mit den Mondbewohnern…

Micky Maus flog schon Ende 1968 in den Weltraum

Im selben Heft verschlägt es Micky Maus sogar auf den Mars. Eigentlich kein Wunder. Die Maus war ihrer Zeit schon etwas voraus, als am 18.12.1968 im Lustigen Taschenbuch Nr. 6 „Mickys Reise zum Mond“ begann – also rund ein halbes Jahr, bevor Neil Armstrong und Buzz Aldrin dann wirklich und wahrhaftig den Mond betraten (was manche Verschwörungstheoretiker bis heute bezweifeln und zum Mega-Fake aus dem Filmstudio erklären). Jedoch: Micky in allen Ehren, aber Donald fand ich persönlich immer zehnmal lustiger als die Maus. Ihr nicht auch?

Übrigens: Keinen Monat nach der Mondlandung gab’s dann schon das nächste legendäre Ereignis mit langer Nachwirkung: das Rockfestival von Woodstock, vom 15. bis 17. August 1969. Aber das ist eine völlig andere Geschichte.

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* Originalzitat von Neil Armstrong: „That’s one small step for [a] man, one giant leap for mankind.“




Auf falscher Spur unterwegs? – Ein paar völlig laienhafte Zeilen über Elektro-Autos

Nun gut, dise Vitrinen-Ansicht weist mich als hoffnungslosen Automobil-Nostalgiker aus. Aber eine Klimapreis werde ich damit nicht gewinnen. (Foto: Bernd Berke)

Ich geb’s zu: Diese private Vitrinen-Ansicht weist mich als hoffnungslosen Automobil-Nostalgiker aus. Einen Klimapreis werde ich damit nicht gewinnen. (Foto: Bernd Berke)

Dies vorweg: Von Technik habe ich wenig bis gar keine Ahnung, erst recht nicht von deren Feinheiten. Trotzdem stelle ich mir als Laie die Frage, ob „wir“ mit dem politisch forcierten E-Auto nicht auf der völlig falschen Spur unterwegs sind. Und nein: Wir reden hier weder über die gängige (Hoch)-Kultur noch über Laufkultur (von Motoren).

Wie ich überhaupt darauf komme? Hübsch der Reihe nach. Beispielsweise las ich dieser Tage u. a. online in der „Welt“, dass Audi (Slogan seit 1971: „Vorsprung durch Technik“) rund 7000 bereits ausgelieferte E-Fahrzeuge, die sogenannten E-Tron-Modelle, zurückrufen muss. Unter sehr ungünstigen Umständen (Strom-Betankung bei Regen) könne die Batterie feucht werden. Beim dann möglichen Kurzschluss könne sie sogar Feuer fangen. Oha! Wie schaut es denn wohl in dieser Hinsicht bei den anderen Marken aus?

…und wenn sie mal Feuer fangen?

Zweiter Vorfall, ähnlicher Sachverhalt, aber noch mehr zugespitzt. Neulich lief die regionale Nachricht, dass ein Elektro-Auto Feuer gefangen hatte. Als die Feuerwehr ohne detaillierte Vorab-Infos eintraf, konnte sie nicht wie gewohnt gleich zum Löschen schreiten, sondern musste offenbar besondere Vorsichtsmaßnahmen ergreifen, die wertvolle Zeit kosteten. In der kurzatmigen Nachricht wurde das zwar erwähnt, aber nicht weiter hinterfragt. Dabei wäre das nicht nur mal eben eine Nachfrage wert, sondern es dürfte sich dahinter ein weitaus größeres Thema verbergen, kann man doch vermuten, dass sich hier ein generelles Problem mit E-Autos auftut. Was, wenn wir erst zigtausend dieser Fahrzeuge auf den Straßen haben?

Drittens kann man vielfach nachlesen, dass die Öko-Bilanz der Elektro-Fortbewegung gar nicht so übermäßig günstig ausfällt. Die Herstellung der Akkus/Batterien verschlingt eine Menge an Ressourcen, die in die Gesamtrechnung mit einfließen müssten. Auch entstehen bei der Produktion etliche Schadstoffe. Klingt nicht gerade nach strikter Klima-„Neutralität“. Weitere Stichworte: Es gibt viel zu wenig Ladestationen und falls dann mal eine zur Verfügung steht, dauert das Laden ziemlich lang, die Reichweite des Fahrzeugs ist hingegen immer noch recht kurz. Kulturbeflissene mögen an dieser Stelle ein bildungshuberisches „Vita brevis, ars longa“ einflechten. Wir wollen sie nicht hindern.

In eine Technik geradezu verbissen

Doch zurück zum Thema: Wäre es möglich, dass sich Politik und Gesellschaft insgesamt spät, aber dann auf einmal doch panisch, vorschnell und gleichsam „alternativlos“ (furchtbares Totschlage-Wort) auf eine spezielle Technik festgelegt, ja geradezu darein verbissen haben, die einige gravierende Schwierigkeiten mit sich bringt? Wäre es ferner möglich, dass verstärkte Forschung (und entsprechender Einsatz von Finanzmitteln) auf anderen Gebieten weiter führt? Doch kaum denke ich dabei ganz naiv an Wasserstoffantrieb, lese ich akut, dass eine Wasserstoff-Tankstelle explodiert sei. Es ist wirklich kompliziert.

Ein Signal ist immerhin, dass sich manche Aktien-Investoren den Titeln zuwenden, die mit Wasserstoff und Brennzellentechnik Brennstoffzellentechnik arbeiten. Sobald sich damit Gewinn machen lässt, bekommt die Sache wohl ihre Eigendynamik. Wie man hört, leben wir nämlich immer noch in kapitalistischen Verhältnissen.

Es sieht freilich ganz so aus, als müsste noch sehr, sehr viel nachgedacht und zielgerichtet experimentiert werden. „Greta“ und die freitäglichen Klima-Katastrophen-Kohorten allein werden da mit ihren wohlfeilen Maximalforderungen (mögliches Motto: „Alles – und zwar sofort“) kaum Abhilfe schaffen können. Lindnersche Arroganz nach dem gegenläufigen Motto „Lasst mal die Experten ‚ran“ allerdings auch nicht.

P. S.: …und bei all dem haben wir noch gar kein Wort über Arbeitsplätze in der Autoindustrie verloren. Aber das interessiert ja eh nur noch die IG Metall und deren Mitglieder, oder?

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Im unten stehenden Kommentarbereich wird der Beitrag en détail schon korrigiert. Bei Facebook, wohin ich den Text verlinkt habe, gibt es – wie üblich – mehr Wortmeldungen.

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Mal sehen, vielleicht wird hieraus noch eine Serie. Arbeitstitel: „Sachen, von denen ich keinen Schimmer habe, über die ich aber trotzdem schreiben möchte“. Ich wäre in der Medienlandschaft beileibe nicht der Einzige, der nach dieser Parole verfährt.




Kinder für Kultur gewinnen, Digitalisierung voranbringen – Neues Konzept beim Landschaftsverband Westfalen-Lippe

LWL-Kulturdezernentin Barbara Rüschoff-Parzinger führt einen digitalen ZUgang zum archäologischen Fund (Gebeine einer 5300 bis 4500 v. Chr. gestorbenen Bäuerin) vor: Auf dem Tablet-Bildschirm sieht man, wie sich die Bäuerin die Gelenke ruiniert hat. (Foto: Bernd Berke)

LWL-Kulturdezernentin Barbara Rüschoff-Parzinger führt einen virtuellen Zugang zum archäologischen Fund (Gebeine einer 5300 bis 4500 v. Chr. gestorbenen Frau) vor: Auf dem Tablet-Bildschirm sieht man, wie sich die Bäuerin ihre Gelenke ruiniert hat. (Foto: Bernd Berke)

Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) will die Kultureinrichtungen seines weitläufigen Einzugsgebiets mit einem neuen Langzeit-Konzept unterfüttern, das im fertigen Druck rund 150 illustrierte Seiten umfassen wird. Zeitliche Zukunftsperspektive der Planung: die nächsten zehn Jahre. Eine Zwischenbilanz ist nach fünf Jahren vorgesehen. Und was steht drin im Konzept?

LWL-Kulturdezernentin Barbara Rüschoff-Parzinger schickt voraus, dass es nicht um strikte Richtungsangaben gehe: „Wir verstehen das Konzept als Kompass und nicht als starren Fahrplan.“ Sie hat die wesentlichen Grundzüge heute im Herner Archäologiemuseum vorgestellt – ein Haus, das sie vormals selbst geleitet hat und das jetzt eine gewisse Vorreiterrolle auf dem Parcours der Reformen einnimmt.

Zwei von insgesamt zehn Punkten gelten als besonders wichtig: Wie gewinnt man Kinder und Jugendliche für Museen und sonstige Kultur, wie hält man sie bei der Sache? Und natürlich läuft auch hier, wie allerwärts, eine weitere Leitlinie auf „Digitalisierung“ hinaus. Auf diesem Felde will man zahlreichen kleineren Museen, die über wenig Mittel verfügen, beratend zur Seite stehen. Rüschoff-Parzinger: „Wenn die Schulen digitalisiert werden, müssen auch die Museen mitmachen. Sonst versteht man sich nicht mehr.“ Kinder und Digitalisierung also. Klingt zunächst noch nicht so furchtbar originell.

Fragebogen-Aktion in rund 1200 Schulen der Region

Doch zunächst zum Nachwuchs. Der LWL hat Fragebögen an alle westfälischen Schulen (rund 1200 an der Zahl) verschickt. Rund 1600 Bögen kamen zurück, weil nicht nur ganze Schulen, sondern auch einzelne Klassen teilgenommen haben. Es wurden so grundlegende Fragen gestellt wie die, was nach Auffassung der Schüler(innen) eigentlich mit Kultur zusammenhängt. Hier ragten – kein Witz – Reiz- und Schlüsselwörter wie Schloss (15,3% der Nennungen) und sogar Blaskapelle hervor. Nicht ganz leicht, daran sinnreich anzuknüpfen. Aber es gibt ja auch noch etliche andere Zugänge, die stets „auf Augenhöhe“ mit den Kindern eröffnet werden sollen.

Der genauerer Blick auf die virtuelle Szene mit der Bäuerin vermittelt einen Eindruck von der mühsamen steinzeitlichen Art des Getreidemahlens. (Foto: Puppeteers / Sebastian Heger)

Der genauere Blick auf die virtuelle Szene mit der Bäuerin vermittelt einen Eindruck von der steinzeitlichen Art des Getreidemahlens. (Foto: Puppeteers / Sebastian Heger)

90 Prozent aller Befragten hatten laut LWL-Umfrage schon mal ein Museum besucht, die allermeisten mit der Schulklasse, viele auch mit der Familie, wobei sich hier schichten- und schulformenspezifische Unterschiede abzeichnen. Kinder und Jugendliche wünschen sich weit überwiegend andere, zeitgemäßere Darbietungsformen in den Museen – weniger klassische Führungen und mehr kreative Aktionen, eigene Erfahrungen inbegriffen, etwa beim Herstellen einschlägiger Objekte. Auch sollen die vermittelten Inhalte möglichst mit dem eigenen Leben zu tun haben – und sei’s auf indirekte, aber nachvollziehbare Weise. Dass hier auch digitale Annäherungen ins Spiel kommen, versteht sich beinahe von selbst.

Eintritt frei, Anfahrt kostenlos

Seit 1. April lief die Versuchsphase, in der Kinder und Jugendliche in den 18 LWL-Museen keinen Eintritt mehr bezahlen mussten. Die Besucherzahlen mancher Häuser haben sich seither so rasant nach oben entwickelt, dass die Vergünstigung jetzt dauerhaft sein soll. Manche NRW-Städte haben es ja bereits in ähnlicher Weise vorgemacht. Kaum minder wirksam: Nach unbürokratischem Antrag (Formular auf der LWL-Internetseite) wird eine Klassen-Anfahrt zum gewünschten Museum vom LWL bezahlt – auch schon mal über mittlere Strecken wie von Detmold nach Herne. 300.000 Euro stehen für solche Bustouren vorerst bereit.

Doch der Verzicht auf Eintrittsgeld und die subventionierten Anfahrten genügen nicht. Die Museen müssen halt Attraktionen bieten. Inhalte und Formen der Darstellung sollen zur Zielgruppe passen, Spaß machen, spannend sein.

Original-Exponat plus virtuelle Darstellung

Und die Digitalisierung der Museumslandschaft? Nun, wohin die Reise in den nächsten zehn Jahren geht, kann eigentlich noch niemand genau wissen, denn die Technik entwickelt sich bekanntlich rasend schnell.

Einstweilen steuert man auf Installationen zu, die im Herner Archäologiemuseum auch schon an mehreren Stationen zu besichtigen sind: Ein Original-Vitrinenstück, beispielsweise ein Faustkeil, wird geradezu „geisterhaft“ holographisch ergänzt. Da sieht man im bewegten virtuellen Bild, wie das Stück in der Steinzeit verwendet worden ist. Auch eine in der Vitrine schwebende Textprojektion gehört dazu. Fraglich bleibt, ob und wie rasch sich solche Effekte abnutzen.

Frappierend auch die Möglichkeit, mit dem eigenen Smartphone oder Tablet ein Museums-Exponat wie jene Gebeine einer vor etwa 7000 Jahren gestorbenen Bäuerin anzusteuern und mit einer virtuellen Erscheinung („Augmented Reality“) auf- oder jedenfalls umzuwerten. Da sieht man, mit welchen Dauerbewegungen beim Getreidemahlen sich die Frau damals ihre Gelenke ruiniert hat. Solche technischen Zaubereien in allen Ehren. Ohne die Aura des Originals wären sie jedoch wenig wert.

Aufwertung des ländlichen Raumes

Unterdessen wird auch schon darüber nachgedacht, ob künftige Ausstellungen als virtueller Rundgang gespeichert werden sollen, sprich: Man könnte eine Schau, die längst geschlossen ist, noch Jahre später durchstreifen, beispielsweise auch zu Hause, mit einer Spezialbrille für Virtual Reality (VR) ausgestattet. Man ahnt schon, dass im Zuge einer solchen Entwicklung kiloschwere gedruckte Kataloge an Bedeutung einbüßen könnten.

Weitere gewichtige Zielvorstellung, die im Konzept dargelegt wird: die Stärkung des ländlichen Raumes auch auf kulturellem Gebiet. Außerdem in Planung: der Ausbau der Burg Hülshoff zum (anglo-neudeutsch so benannten) „Center for Literature“ (CfL) sowie die Stärkung von historischen „Erinnerungsorten“ wie dem Kriegsgefangenenlager Stalag 326 in Schloß Holte-Stukenbrock (Kreis Gütersloh).

Politisch schon beschlossene Sache

All dies und ein maßvoll erweiterter Stellenplan sind Kostenfaktoren. Doch es handelt sich beim Konzept nicht um Traumgespinste, sondern um regionalpolitisch bereits einmütig beschlossene Maßnahmen. Barbara Rüschoff-Parzinger erwähnt in diesem Kontext eigens den Dortmunder Stadtdirektor Jörg Stüdemann, der Kulturdezernt und Kämmerer in Personalunion ist und vom neuen LWL-Konzept angetan sei. Und tatsächlich: Stüdemann dürfte qua Doppelamt nicht nur wissen, zu welchem Zweck man Kultur finanziert, sondern auch: woher das Geld kommen könnte.

Wie im gegenwärtigen Kulturmanagement üblich, ist in derlei konzeptuellen Zusammenhängen immer wieder von Bedarfen (in der Mehrzahl), Evaluierung, Vernetzung, Akteuren oder gar „Stakeholdern“ der Kultur die Rede. Man merkt allenthalben, dass Frau Rüschoff-Parzinger, der dieser Jargon nicht fremd ist, die Dinge systematisch und strategisch angeht. Dennoch betont sie, dass manches auch dem Geschick überlassen bleibt, dass wohl nicht alle Experimente gelingen werden. Auch hier gelten eben Bert Brechts legendäre Songzeilen: „Ja, mach nur einen Plan…“




Von der Primzahlenforschung bis zur Kanaldeckel-Kunde: Enzensbergers kurzweilige „Experten-Revue in 89 Nummern“

Erst durch die immer mehr verfeinerte Arbeitsteilung habe sich die Gattung Mensch zur Weltbeherrschung aufschwingen können. Diese Hypothese ist der Ausgangspunkt von Hans Magnus Enzensbergers „Experten-Revue in 89 Nummern“. Ob es im Verlauf dieser Entwicklung auch Verlierer gegeben hat? Das wäre ein anderes Thema. Insgesamt habe Arbeitsteilung die Menschheit stetig vorangebracht, befindet der Schriftsteller.

Schritt für Schritt erfahren wir hier, in welche Bereiche, Nischen, Höhen oder Abgründe sich menschliche Leidenschaften und Fähigkeiten verzweigt oder auch verstiegen haben. In diesem durchaus kurzweiligen, weil denkbar abwechslungsreichen Buch des inzwischen 89-jährigen (!) Enzensberger geht es nach und nach so ziemlich um alles. Um nur ein paar Beispiele fürs allfällige Spezialistentum zu nennen:

Da wird das „Wettrüsten“ zwischen Tresor-Produzenten und Panzerknackern geschildert. Sodann geht’s um die Erfindung des Fahrrad-Vorläufers durch Drais und um den erstaunlichen Hintergrund. Stichwortartig: Verdunkelung auch des europäischen Himmels durch indonesischen Vulkanausbruch, daher Mangel an Pferdefutter mit entsprechenden Folgen, deshalb neue Transport- und Fortbewegungsmittel nötig…

Wissenswertes über Taschendiebe und Henker

Ferner lässt Enzensberger – stets im angenehm unaufgeregten Duktus – den Blick z. B. über folgende Gebiete und die jeweiligen profunden Kenner der Materien schweifen: Pigment-Spezialisten, Schaben-Experten, mathematische Unendlichkeit(en), Geheimnisse der Primzahlenforschung und der Eulerschen Zahl (Enzensberger kann und mag sein Faible für Mathematik nicht leugnen). Außerdem spürt er dem Fachwissen der Wachszieher und Feuerwehrleute, der Vogel-Präparatoren und der Falkner nach, er berichtet von der immensen Vielfalt der Hobel, der Schrauben und der Mausoleen, der Parfüme, Äpfel (rund 1500 Sorten), Kaleidoskope, Helme, Matratzen, Fahnen und Flaggen.

Auch unternimmt der Autor kurze Streifzüge etwa durch die Lebenswelten der Taschendiebe, der Müßiggänger, der Hochstapler oder der Henker. Letztere brauchten – gleichsam ex negativo – gehörige medizinische Kenntnisse und mussten oftmals von den Hinterbliebenen der Hingerichteten entlohnt werden. Auf gewisse Weise ebenso bizarr: Wer hat schon mal von Dolologie gehört? Nun, das ist die von manchen Leuten mit flammendem Eifer betriebene Kanaldeckel-Kunde. Man glaubt ja nicht, was es da auf Erden so gibt!

Offenkundige Tatsache ist, dass jedes, aber auch wirklich jedes Fachgebiet nicht nur skurrile Formen annehmen kann, sondern vor allem auch weitaus komplizierter, vielfältiger und spannender ist, als es zunächst den Anschein hat. Überall haben sich besondere, hie und da bis ins Groteske reichende Fachvokabulare herausgebildet. Enzensberger dazu: „Mit den Worten der Spezialisten tut sich eine Welt auf, von deren Reichtum der Laie keine Ahnung hat.“

Der Mann, der unbedingt Busfahrer werden wollte

Überdies hält das Buch ungemein viel Erzählstoff bereit. Die meisten Kapitel handeln von besonderen Passionen, so etwa die Geschichte vom Hochbegabten, der alle Gymnasial-Empfehlungen in den Wind schlug und partout Busfahrer werden wollte. Als das nach vielen Berufsjahren nicht mehr so weiter ging, heuerte er bei einer Modellbaufirma an und entwarf originalgetreue Busse, mit denen er sich so gut auskannte wie sonst niemand. Man muss sich diesen Mann wohl als glücklichen Menschen vorstellen.

Ähnlich brannte auch der Rotwelsch-Spezialist Siegmund Andreas Wolf für sein Wissensgebiet. Niemals mit einem Professorentitel dekoriert, wusste er mehr über diese frühere Gaunersprache als wohl alle anderen. Mit ungeheurem Fleiß hat er Wörterbücher und Lexika zusammengestellt, die noch heute von Belang sind. Doch er starb ohne sonderliche akademische Weihen – übrigens abseits der Metropolen in Lünen, nördlich von Dortmund. Auch von dem Augsburger Feuerkopf Johann Most wird man bislang noch nicht viel gehört haben. Er verdingte sich als Journalist, sozialistischer Politiker und schließlich zusehends radikaler Anarchist mit Neigung zum Bombenbau samt praktischer Anwendung. Kein System, mit dem er sich nicht angelegt hätte. Enzensberger sieht in ihm einen Ahnherren des Terrorismus.

Von manchen genial wahnwitzigen Leuten, die hier vorkommen, würde man gern noch mehr erfahren, doch es ist Enzensberger just um die vielfältige Fülle zu tun. Das und nicht das Beharren auf wenigen Aspekten kommt seinem immer noch höchst beweglichen Geist entgegen.

Rückblick auf einen bewegenden Briefwechsel

Wer auf die Zeiten der literarischen Anfänge Enzensbergers zurückkommen möchte, sollte sich einen vor wenigen Monaten gemeinsam von den Verlagen Suhrkamp und Piper herausgebrachten Band besorgen, der den Briefwechsel mit der gewiss nicht minder einflussreichen Ingeborg Bachmann enthält. Es ist eines jener Bücher, in denen die Anmerkungen und Kommentierungen aus gutem Grund mehr Raum einnehmen als die Primärtexte, gilt es doch, Zusammenhänge zu erschließen, die längst nicht mehr zum Allgemeingut gehören.

Aber welch ein Gewinn ist das, wenn man tiefer eintaucht! Im Vergleich zur häufig grübelnden Bachmann erscheint einem Enzensberger in seinen Briefen geradezu jungenhaft unbekümmert, aber natürlich auch schon geistig fundiert und intellektuell so wendig, wie man ihn kennt und schätzt. Eben diese Mischung mag für Ingeborg Bachmann aufmunternd und tröstlich gewesen sein. Ihre Briefe lesend, bangt man geradezu nachträglich noch um sie; so wie man seinerzeit atemlos ihren Briefwechsel mit Paul Celan verfolgen konnte, sich unentwegt fragend, ob sie seiner ungeheuren Verletztheit und Verletzlichkeit hat gerecht werden können. Aber wer, wenn nicht eine wie sie? Und wer wiederum hätte sie zuweilen beruhigen können, wenn nicht jemand wie Enzensberger?

Solche Briefbände sind jedenfalls inzwischen Denkmäler, wenn nicht Monumente der letzten (oder meinetwegen vorletzten) Generation, die sich überhaupt noch dermaßen der Mühsal des Briefeschreibens unterzogen hat. Wir gedenken dieser Zeiten mit großem Respekt, ja mit Ehrfurcht und Sehnsucht.

Hans Magnus Enzensberger: „Eine Experten-Revue in 89 Nummern“. Suhrkamp-Verlag, 336 Seiten, 24 €.

Ingeborg Bachmann / Hans Magnus Enzensberger: „Schreib alles was wahr ist auf“. Briefe. Suhrkamp-Verlag/Piper Verlag, 480 Seiten, 44 €.

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P. S.: Zwei Korrekturen am Experten-Buch erlaube ich mir noch: Auf Seite 326 wird der Universalgelehrte „Anastasius“ Kircher genannt. Er heißt aber Athanasius. Das weiß ich auch deswegen, weil ich im selben Dörfchen geboren wurde wie der ruhmreiche Mann.

Auf derselben Seite ist dem Lektorat noch ein kleiner Lapsus durchgegangen. Die Zeile aus dem Beatles-Song „Lucy in the sky with diamonds“ ist geringfügig falsch zitiert. Ein „the“ ist überflüssig: „A girl with kaleidoscope eyes“ wäre richtig gewesen.




„Alles nur geklaut?“ – Dortmunder Schau auf Zeche Zollern zeichnet „abenteuerliche Wege des Wissens“ nach

Vorführung des von Karl Drais erfundenen Laufrades anno 1818 in Paris. (LWL/Repro: Hudemann)

Wichtige Station in der Erfindungsgeschichte des Rades: Vorführung des vom Karlsruher Karl Drais erfundenen Laufrades – anno 1818 in Paris. (LWL/Repro: Hudemann)

Das gibt’s beileibe nicht in jeder Ausstellung: In der Dortmunder Schau mit dem flotten Fragezeichen-Titel „Alles nur geklaut?“ (ebenfalls geklaut: beim gleichnamigen Song der „Prinzen“) wird das Rad gleichsam noch einmal neu erfunden.

Auch sonst werden „Die Abenteuerlichen Wege des Wissens“ (Untertitel) beschritten. Es geht um Entstehung und Weitergabe des Wissens, aber auch um Geheimhaltung und Spionage – mit historischen und aktuellen Weiterungen bis zum Datenschutz. Ein weites Feld, fürwahr, das da mit 370 Exponaten auf 1000 Quadratmetern ausgeschritten wird.

Symboltier der Ausstellung für „geklautes" Wissen: die diebische Elster. (Grafik: baier + wellach projekte / Golasch)

Steht als Symboltier der Ausstellung für „geklautes“ Wissen: eine diebische Elster. (Grafik: baier + wellach projekte / Golasch)

Kurz zurück zum Rad. Das älteste Exponat im Dortmunder LWL-Industriemuseum Zeche Zollern ist ein jungsteinzeitliches hölzernes Scheibenrad, aufgefunden im Moor bei Aurich und daher staunenswert gut konserviert. Es stammt aus der Zeit um 2350 v. Chr.

Sodann kann man wesentliche Entwicklungsschritte bis hin zum heutigen Formel-1-Reifen verfolgen. Zwischendurch hat eine holographisch erzeugte „Geistererscheinung“ ihren Auftritt. Da spricht im Kleinformat ein dreidimensionaler Schauspieler zu uns, stilecht gewandet als Freiherr Karl von Drais, welcher anno 1817 das Laufrad („Draisine“) erfunden hat. Gleich daneben kann man Drais‘ Antlitz als Lebendmaske bewundern, zusätzlich versehen mit echten Wimpern des Mannes. Ein Stück wie aus der Wunderkammer.

Diese Ausstellung arbeitet mit verschiedensten Medien und Methoden, um eben auch möglichst viele Menschen anzusprechen. Herkömmliche museale Exponate und Vitrinenstücke werden vielfach flankiert von künstlerischer „Intervention“ (mit einer Arbeit von Jean Tinguely bis hin zur Performance) und vor allem (multi)medialer Aufbereitung. Wo irgend möglich, geht es betont spielerisch zu, im nicht gar so schönen Neusprech gesagt: „Gamification“ genießt im Zweifelsfalle Vorrang.

Wer knackt die Codes in den Geheimkammern?

Ein Clou sind die sechs „geheimen Kammern des Wissens“. Nach dem Muster der schwer angesagten Escape Rooms (man darf ins Freie, wenn man vorher Rätsel gelöst hat) soll man in diesen abgetrennten Räumen knifflige Fragen beantworten und Codes knacken; natürlich alles auf freiwilliger Basis. Wer es schafft, wird in die „Loge des Wissens“ aufgenommen. Und selbstverständlich bleibt niemand, der die Antworten nicht findet, hilflos in der Raumzelle gefangen…

Die Loge in allen Ehren. Aufschlussreich ist aber schon der ganz normale Rundgang durch die Schau. Eingangs wird der Prometheus-Mythos aufgegriffen, demzufolge alles Wissen ursprünglich von den Göttern herrührt, das ihnen jedoch vom Menschen entwunden („geklaut“?) wurde.

Diese Installation bezieht sich auf den frühen Ruhrgebiets-Industriellen Friedrich Harkort, der sein Fachwissen auf Reisen nach England entscheidend erweiterte. War er Pionier oder Spion? Scherzhaft hat man gesagt: ein „Spionier". (Foto: LWL/Hudemann)

Diese Installation bezieht sich auf den frühen Ruhrgebiets-Industriellen Friedrich Harkort, der sein Fachwissen auf Reisen nach England erwarb. War er Pionier oder Spion? Scherzhaft hat man die Worte kombiniert: ein „Spionier“. (Foto: LWL/Hudemann)

Doch allmählich wurde offenbar, dass der Mensch auch selbst neues Wissen generieren konnte. Und zwar mit der Zeit dermaßen viel Wissen, dass es irgendwie gespeichert werden musste: Da steht man unversehens zwischen einem 243 Bände umfassenden Lexikon des Universalgelehrten Johann Georg Krünitz und einem Bildschirm mit Wikipedia-Zugriff. Vertreter dieser Online-Enzyklopädie wollen die Schau besuchen, Workshops veranstalten – und dabei auch um potenzielle Mitarbeiter werben, an denen es zunehmend mangelt; womit auch eine Frage zur Weitergabe des Wissens berührt wäre.

Wissen schützen, Wissen stehlen

Weitere Themen-Facette: der Schutz des Wissens und die Verletzung dieses Schutzes. Als sinnfälliges Beispiel dient die ehedem äußerst lukrative Porzellanherstellung, die über lange Zeit ein bestens gehütetes chinesisches Geheimnis blieb. Erst 1710 kam man im sächsischen Meißen auf den „Trichter“ (Kaolin hieß das Zauberwort), führend daran beteiligt war Samuel Stöltzel. Sein Expertenwissen galt unter August dem Starken quasi als Staatsgeheimnis. Stöltzel freilich übte Verrat. Er ließ sich vom Kaiser in Wien das wertvolle Wissen abkaufen – und kehrte hernach wiederum mit frischen Erkenntnissen um Porzellan-Bemalung nach Sachsen zurück. Ein Doppelagent also. Auch er begegnet uns als sprechendes Hologramm und versucht, seine Beweggründe zu erklären.

Besonderes Exponat: In sauerstoffarmem Wasser konservierte Turbopumpe einer V2-Rakete. (Foto: Bernd Berke)

Heikles Exponat: im sauerstoffarmen Wasser konservierte Turbopumpe einer V2-Rakete. (Foto: Bernd Berke)

An etlichen Stellen stößt man in der Schau auf Ambivalenzen und Widersprüche, manchmal auch auf schreckliche Untiefen: Wernher von Braun war mit seiner Raketenforschung zunächst den Nazis zu Diensten. In Dortmund sind Teile einer V2-Rakete, der in Peenemünde entwickelten, so genannten „Wunderwaffe“ zu sehen, bei deren Fertigung mindestens 12.000 Zwangsarbeiter aus dem KZ Mittelbau-Dora (Thüringen) ums Leben gekommen sind. Wissens-Weitergabe der überaus wendigen Art: Später war von Braun eine treibende Kraft der Raketenentwicklung und des Weltraumprogramms in den USA. Sein Weg führte sozusagen von Hitler zu Kennedy, was in Dortmund durch ein irritierendes Kippbild veranschaulicht wird. Allemal ist es ein Denk- und Lehrstück zur angeblich wertneutralen Wissenschaft.

Kein Patent auf Röntgenstrahlen

Manche Leute waren aufs Eigentum an Wissen bedacht, andere zeigten sich freigebig: Wilhelm Conrad Röntgen verzichtete tatsächlich auf ein Patent für seine bahnbrechende Entdeckung der Röntgenstrahlen (Ausstellungsstück: durchleuchteter Schädel Sigmund Freuds), er befand, solches Wissen gehöre der ganzen Menschheit. Konrad Adenauer kämpfte hingegen vergebens um ein Patent für eine ungleich geringere Erfindung. Der nachmalige Bundeskanzler hatte sich einen beleuchteten Stopfpilz ausgedacht…

Ein Exemplar der legendären deutschen Verschlüsselungs-Maschine „Enigma" aus dem Zweiten Weltkrieg. (LWL/Nixdorf-Museum/ Foto: Bernd Berke)

Ein Exemplar der legendären deutschen Verschlüsselungs-Maschine „Enigma“ aus dem Zweiten Weltkrieg. (LWL/Nixdorf-Museum/ Foto: Bernd Berke)

Um Geheimhaltung und Entschlüsselung geht es an einer anderen Station: Ein Exemplar des legendären, weil weltweit beispiellosen deutschen Verschlüsselungs-Apparats „Enigma“ steht für den Geheimdienst im Zweiten Weltkrieg. Rund 10.000 Menschen arbeiteten in London an der Entschlüsselung deutscher Militär-Nachrichten, lediglich vier deutsche Fachkräfte waren als „Enigma“-Abwehr eingeteilt, wie Ausstellungs-Kurator Georg Eggenstein zu berichten weiß.

Bochum mit James Bond und Stasi

Natürlich konnte man auch diesen populären Aspekt nicht verschenken: In Sachen Spionage wirft man einen kecken Seitenblick auf James Bond, der ja bekanntlich aus dem heutigen Bochumer Stadtteil Wattenscheid stammt. Zudem wird die abenteuerliche Geschichte des Bochumer Stasi-Spitzels Karl Heinz Glocke angerissen, wie es denn überhaupt einige frappierende regionale Bezüge gibt.

Spionage-Chefin aus Dortmund setzte Mata Hari ein

Am erstaunlichsten vielleicht diese Verbindungslinie nach Westfalen: Haben Sie schon einmal den Namen Elsbeth Schragmüller gehört? Ihre Geschichte ist ein Thema für sich, sie ist wohl noch lange nicht auserzählt und dürfte weitere Recherchen lohnen. Die Frau wurde im später zu Dortmund gehörenden Vorort Mengede geboren und besaß offenbar einen scharfen analytischen Verstand. In Berlin brachte sie es im Ersten Weltkrieg zur Leitung der Spionage-Aktivitäten gegen den „Erzfeind“ Frankreich. Mancherlei Legende rankte sich um „Mademoiselle Docteur“. Genaueres wusste kaum jemand. Sie selbst hat sich – erst 1929 – nur ein einziges Mal öffentlich zu ihrer Funktion geäußert.

Verantwortliche Akteure des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (v. li.): LWL-Direktor Matthias Löb, Projektleiterin Anja Hoffmann, Dirk Zache (Direktor der Zeche Zollern) und Kurator Georg Eggenstein). (Foto: Bernd Berke)

Akteure des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL), von links: LWL-Direktor Matthias Löb, Projektleiterin Anja Hoffmann, Dirk Zache (Direktor des Industriemuseums Zeche Zollern), Kurator Georg Eggenstein. (Foto: Bernd Berke)

Frau Schragmüller setzte auch die berühmte Mata Hari ein, die vormals halbseidene Tänzerin, die nach ihrer Bühnenkarriere weiter ein glamouröses Leben führen wollte und sich daher auf Spionage einließ. Hilfreich waren dabei ihre teils hochrangigen Nachtclub-Bekanntschaften. Auch dazu gibt es neue Einsichten, weil erst seit Ende 2017 die französischen Prozessakten gegen Mata Hari eingesehen werden dürfen. 1917, also 100 Jahre zuvor, hatte das Verfahren zur Hinrichtung der Spionin geführt.

Gar vieles könnte man noch erwähnen: Besucher-Selfies, die in einer Cloud auf Stoffbannern auftauchen; einschlägige Objekte zu „Fake News“ und sonstigen Fälschungen von Schülern aus Irland, Polen und Deutschland; eine ebenso niedliche wie gruselige Spielzeugpuppe, die ins Kinderzimmer hinein lauscht und in Deutschland verboten ist. Und, und, und. Nun ist’s aber auch genug der Vorrede: Ein Besuch der schlauen Schau ist schlichtweg ratsam.

„Alles nur geklaut? Die abenteuerlichen Wege des Wissens“. Vom 23. März bis zum 13. Oktober 2019. LWL-Industriemuseum Zeche Zollern, Dortmund, Grubenweg 5. Di-So 10-18 Uhr. Eintritt 8 Euro, Kinder/Jugendliche (bis 17) frei. Katalog 29,95 Euro. Tel. Führungen/Museumspädagogik: 0231/6961-211. Internet: allesnurgeklaut.lwl.org




Jürgen Manthey, ein wahrer homme de lettres – Nachruf auf den einflussreichen Essener Hochschullehrer

Jürgen Manthey ist mit 86 Jahren in Lübeck gestorben. Unser Gastautor Frank Hirsch, heute als freiberuflicher Dozent für Integrationskurse (BAMF) tätig, erinnert sich an seine literaturwissenschaftliche Essener Studienzeit bei dem einflussreichen Hochschullehrer:

Jürgen Mantheys wegweisende Studie über das Sehen in LIteratur und Philosophie, 1991 im Hanser Verlag erschienen. (© Hanser Verlag)

Jürgen Mantheys wegweisende Studie über das Sehen in Literatur und Philosophie, 1991 im Hanser Verlag erschienen. (© Hanser Verlag)

Wer Ende der siebziger, dann in den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts an der Essener Gesamthochschule Literaturwissenschaften resp. Germanistik studierte, traf dort im „Fachbereich 3“ (die Bezeichnung Fakultät gab’s damals nicht mehr oder noch nicht wieder) auf eine überaus kompetente und in wissenschaftlichen Kreisen angesehene Schar von Dozenten.

Unter diesen prägenden akademischen Lehrern wie vor allen anderen Erhard Schütz, Jochen Vogt, Horst Wenzel oder auch Horst Albert Glaser beeindruckte den jungen Studenten gleich in den ersten Semesterwochen besonders ein stets elegant gewandeter (Markenzeichen Schal) – durchaus gegen den habituellen Mainstream des geisteswissenschaftlichen juste milieus gekleidet – Dozent: Jürgen Manthey!

Mit weit geöffneten Augen und großen Ohren lauschte der Jungakademiker dem warm-sonoren Klang einer Stimme, die erst einmal mehr Freundlichkeit verströmte, als eine immense Ansammlung von Wissen, die sie späterhin verkünden sollte. Schnell merkte, wer es nur wollte, mit welch einer gebildeten Persönlichkeit man hier in einem Raum saß. Selten nur wurde Manthey ungeduldig ob der gelegentlichen Ignoranz oder vorsätzlichen Unbedarftheit der Studierenden, gleichwohl konnte sein feiner Sarkasmus ein untrügliches Urteil über bewiesene fachliche Inkompetenz abgeben.

Als Lektor Peter Rühmkorf und Elfriede Jelinek betreut

Jürgen Manthey war ein wundervoller Hochschullehrer, genauso wunderbar und mindestens ebenso einflussreich war er für den Literaturbetrieb der späten westlichen Bundesrepublik in den siebziger und achtziger Jahren. Beim Rowohlt Verlag war Manthey viele Jahre als Lektor tätig, dort betreute er die Werke zum Beispiel von Peter Rühmkorf, Peter Hauf oder Elfriede Jelinek.

Wer von uns Studenten auf sich hielt, las gierig jedes neu erschienene Buch aus der für die damalige Zeit wegweisenden Edition „das neue buch“ bei Rowohlt; eine Reihe, die im Gegensatz zu der damals schon ein wenig angestaubten „edition suhrkamp“ pfiffiger, avancierter und irgendwie auch links abgebogener daherkam; erinnert sei hier nur an die Bücher Rolf Dieter Brinkmanns oder an die voluminöse Flaubert-Biografie von Sartre. Manthey war zudem ein Kenner der zeitgenössischen amerikanischen Literatur, er machte unter anderen James Baldwin in Deutschland bekannt (heute wird dieser Autor zum X-ten Mal wiederentdeckt), wie auch den überaus komplexen Thomas Pynchon.

Beispielhafter Enzyklopädist und Kulturhistoriker

Was von Jürgen Manthey bleiben wird, neben den Erinnerungen seiner Studierenden, seiner Kollegen und der literarischen Welt, sind selbstverständlich seine Bücher! Natürlich beschaffte sich der Student via Bibliothek zunächst seine Fallada-Monografie bei Rowohlt. Manthey war freilich als Literaturwissenschaftler vor allem Enzyklopädist und Kulturhistoriker. Seine Hauptwerke über die Kulturgeschichte des Sehens („Wenn Blicke zeugen könnten“), vor allem aber zuletzt „Königsberg. Geschichte einer Weltbürgerrepublik“ sind von einem unfassbaren Impetus des Erklärens, des Verstehen-Wollens und des Aufweisens von kulturwissenschaftlichen Querschnitten bewegt, wie es das heute nur noch selten gibt. Und sie sind – bei aller wissenschaftlichen Stringenz – lesbar, bar jeden akademischen Jargons.

Literaturbetriebler, Literaturvermittler, Literaturliebhaber – Jürgen Manthey war ein wahrer homme de lettres!




Seltene Fresken in der gräflichen Gruft – ein überraschender Fund im Arnsberger Kloster

Nicht leicht zu erkennen: Kreuzigungsszene als mittelalterliches Fresko im Arnsberger Kloster Wedinghausen. (Foto: Bernd Berke)

Nicht ganz leicht zu erkennen: Kreuzigungsszene als mittelalterliches Fresko im Arnsberger Kloster Wedinghausen. (Foto: Bernd Berke)

Mh, was gibt es denn hier zu sehen? Mal ganz ehrlich: Dieser archäologische Fund wirkt beim ersten Hinsehen für Laien ziemlich unscheinbar. Man muss schon von kundigen Fachleuten angeleitet werden. Wenn man die Hintergründe erfährt, erhellt sich die Sache und man ahnt die Bedeutung.

Tatsache ist: Im Kloster Wedinghausen zu Arnsberg haben Archäologen des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL) im Zuge von Sanierungsarbeiten Fresken aus der Zeit um 1320 bis 1340 freigelegt. In Westfalen wurde so etwas noch nie gefunden, ja, in ganz Europa gibt es kaum Vergleichbares.

Nicht ohne pflichtgemäßen Heimatstolz spricht Arnsbergs Bürgermeister Ralf Bittner von einer – nun ja – „Sensation“. Barbara Rüschoff-Parzinger, LWL-Kulturdezernentin und selbst ausgebildete Archäologin, kündigt scherzhaft an: Demnächst werde sie wieder einmal in Flandern sein und könne dann mit dieser westfälischen Neuentdeckung punkten. Offenbar haben die dortigen Kolleginnen und Kollegen gelegentlich schon Zweifel am Fundreichtum in Westfalen geäußert. Was es mit Flandern sonst noch auf sich hat, dazu kommen wir gleich noch.

Kreuzigungsszene im gotischen Stil

Jetzt erst mal näher hingeschaut: Das seinerzeit frisch („ al fresco“) und daher eilends auf den noch nassen Putz gemalte Bild zeigt eine Kreuzigungsszene (so genannter „Dreinagel-Typus“) im gotischen Stil, und zwar am Fußende einer Grabkammer, die sich wiederum in der Mitte des ehemaligen Kapitelsaals befindet. Und was ist nun zu sehen? In der Mitte hängt Jesus am Kreuz, links steht sein Lieblingsjünger Johannes, rechts trauert Maria, die Hände vor der Brust gefaltet. Den Raum zwischen den Figuren füllt kunstvoll ausgeführtes Rankenwerk.

Wollt ihr auch noch das typische Lokalteilfoto? Bitte sehr, hier ist es. Es beugen sich über die Fundstelle (von links): Ausgrabungsleiter Wolfram Essling-Wintzer, LWL-Kulturdezernentin Barbara Rüschoff-Parzinger, Prof. Michael Rind (LWL-Direktor für Archäologie), Arnsbergs Bürgermeister Ralf Bittner und Propst Hubertus Böttcher. (Foto: Bernd Berke)

Foto mit hohem Lächelfaktor gefällig? Bitte sehr, hier ist es. Es beugen sich über die Fundstelle (von links): Ausgrabungsleiter Wolfram Essling-Wintzer, LWL-Kulturdezernentin Barbara Rüschoff-Parzinger, Prof. Michael Rind (LWL-Direktor für Archäologie), Arnsbergs Bürgermeister Ralf Bittner und Propst Hubertus Böttcher. (Foto: Bernd Berke)

Das Bild gehört zur Grabkammer der gräflichen Stifterfamilie, der man also das ganze, 1173 gegründete Prämonstratenser-Kloster zu verdanken hatte. Die Kreuzigungsszene verwies natürlich auch auf die Auferstehung und somit aufs erhoffte Seelenheil der Grafen. Dass das Bild in einer Gruft den Blicken entzogen wurde, hat vermutlich keinem der damaligen Zeitgenossen etwas ausgemacht. Es war keine Epoche der Schauwerte. Konservatorisch betrachtet, war das Überdauern in der Dunkelheit jedenfalls ein Segen.

Das empfindliche Bild für die Zukunft bewahren

Ausgrabungsleiter Wolfram Essling-Wintzer war, als die Fresken im Oktober 2017 unverhofft zum Vorschein kamen, nach eigenem Bekunden „verzückt“ von der gut erhaltenen Leuchtkraft, die nun freilich durch besonders sorgsamen Umgang für die Zukunft bewahrt werden muss. Schließlich sind die Fresken ja nicht mehr durch die geschlossene Gruft geschützt. Die Untersuchungen sollten jetzt zügig vonstatten gehen, damit das kostbare Bild sehr bald wieder möglichst wenigen Umwelteinflüssen ausgesetzt ist. Die Zeitfrage ist vor allem auch eine Geldfrage. Deshalb engagiert sich hier die Deutsche Stiftung Denkmalschutz mit finanziellen Mitteln.

Schon hat man den gesamten Fund mit 3D-Fotografien festgehalten und rundum eingescannt, so dass künftig ein virtuelles Museum denkbar wäre, in dem man das abgedunkelte Original allenfalls durch einen schmalen Sehschlitz betrachten dürfte. Vorerst ist der Fund überhaupt nicht zur öffentlichen Besichtigung freigegeben.

Hubertus Böttcher, als Dechant und Propst sozusagen der heutige Hausherr im Kloster, schwärmt von der Aura der Fundstelle und favorisiert eine Lösung, die auch jüngere Leute anspricht, sie in eine andere Zeit eintauchen lässt. Seine nicht nur diesseitige Vision geht weiter: In absehbarer Zeit sollen junge, zölibatär lebende Männer aus Brasilien im restaurierten Klostergeschoss (eine Etage über der Gruft) einziehen und den Ort womöglich zum geistlich-geistigen Zentrum machen – ganz im Sinne ihrer „Katholischen Gemeinschaft Shalom“.

Mächtiger Pfeiler als Zeugnis der Barbarei

Doch zurück zum Bodendenkmal und zur Fundsituation: Bei einer gewaltsamen Grab-Plünderung anno 1804 (nach Aufhebung des Klosters) kamen drei Schädel abhanden, nur Knochenbruchstücke blieben übrig, die man jetzt auswerten kann. Leider findet sich in der Grabstätte noch ein weiteres Zeugnis brachialer Barbarei. Ebenfalls zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde nämlich das Fundament eines mächtigen Pfeilers achtlos mitten hinein gesetzt. Andernfalls wäre die 2,10 Meter lange und 80 Zentimeter breite Grablege heute noch ungleich besser und vollständiger erhalten. Zum Glück hat man auch viele abgeplatzte Wandstückchen gefunden, die sich mit neuesten Computerprogrammen als virtuelles Puzzle wieder zusammensetzen lassen. Dann wird man ungefähr wissen, was an den Fresken fehlt.

Teilansicht des Arnsberger Klosters Wedinghausen, das derzeit gründlich restauriert wird. (Foto: Bernd Berke)

Teilansicht des Arnsberger Klosters Wedinghausen, das derzeit gründlich restauriert wird. (Foto: Bernd Berke)

Knochenreste wurden gleichfalls in der gräflichen Gruft entdeckt. Man hofft, mit den heutigen Methoden (DNA-Analyse) schon bald nachweisen zu können, dass die hier beigesetzten Verstorbenen miteinander verwandt waren. Dann müsste es sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit um die Grafen Heinrich I. und Heinrich II. handeln, die dritte Person dürfte Ermengardis sein, die Gattin Heinrichs II. Mehr noch: Anhand von DNA-Proben könnte man auch Rückschlüsse auf Gesundheitszustand und Ernährungsgewohnheiten dieser höchlich privilegierten mittelalterlichen Menschen ziehen.

Teile eines westeuropäischen Netzwerks

Das alles mag immer noch nach bestenfalls regionaler Bedeutsamkeit klingen. Doch weit gefehlt. Zwar gibt es auch Beispiele in Lübeck und Bonn, doch zumal in Brügge und Umgebung befinden sich die meisten Gräber, die auf diese Art mit Fresken bemalt sind. Heinrich I. hatte, wie man aus schriftlicher Überlieferung weiß, durch seinen Vater Gottfried von Cuyk Kontakt zur flandrischen Region. Jener Gottfried von Cuyk war Burggraf von Utrecht. Da zeichnen sich also – nunmehr auch künstlerisch beglaubigt – Teile eines (west)europäischen Netzwerks ab.

Arnsberg, heute Sitz einer Bezirksregierung, der Teile des Ruhrgebiets unterstehen, war auch damals anscheinend keine reine Provinz. Mit leichter Zuspitzung kann man eventuell sogar behaupten, dass Heinrich I. und sein Sohn in der reichspolitischen, wenn nicht europäischen Liga agierten. Von weit reichender, allerdings unfriedlicher Wirkung zeugt überdies die Beteiligung an den Kreuzzügen. Aber das Kapitel blättern wir jetzt nicht auf.

 




Der Mensch zwischen Tieren und Robotern: Windungsreiche Münsteraner Schau rund ums Gehirn

Geheimnisvoll und etwas gruselig: Blick in die „Galerie der Gehirne". (Foto: Bernd Berke)

Geheimnisvoll und etwas gruselig: Blick in die „Galerie der Gehirne“. (Foto: Bernd Berke)

Es gibt keinen Grund zur darwinistischen Überheblichkeit: Im Vergleich zu den Tieren hat der Mensch gar nicht so furchtbar viele exklusive Anlagen. Mit solchen Erkenntnissen lehrt die neue Münsteraner Ausstellung „Das Gehirn. Intelligenz, Bewusstsein, Gefühl“ auch etwas Bescheidenheit oder gar Demut.

Gleich am Beginn steht das größte Exponat, ein veritables Londoner Taxi aus den 1970er Jahren, in das man auch einsteigen soll. Nanu? Was hat das mit dem Gehirn zu tun? Nun, hier erfährt man, dass angehende Taxifahrer, die sich den komplizierten Londoner Stadtplan einpauken, nachhaltig von der Mühsal profitieren. Anschließend sind die Hirnbereiche, die mit Orientierung zu tun haben, deutlich ausgeprägter als vorher. Eine frohe Botschaft, übrigens auch und gerade für ältere Probanden.

Trio der Ausstellungsmacherinnen (von links): Dr. Julia Massier, Nicola Holm und LisaKlepfer) mit dem größten Exponat, inem original Londoner Taxi. (Foto: LWL/Steinweg)

Die drei Ausstellungsmacherinnen (von links): Julia Massier, Nicola Holm und Lisa Klepfer mit dem größten Exponat, einem original Londoner Taxi. (Foto: LWL/Steinweg)

Imposante Fülle der Exponate

Im LWL-Museum für Naturkunde werden 1200 Quadratmeter Ausstellungsfläche mit 770 Objekten rund ums Thema Gehirn „bespielt“. Damit ist es deutschlandweit die bei weitem größte Ausstellung zu dieser Materie. An über 60 Medienstationen können Besucher(innen) weiterführende Informationen sammeln oder ihre kognitiven Fähigkeiten erproben, sich jedenfalls zum Nachdenken und Nachfühlen anregen lassen. Zwei bis drei Stunden Zeit sollte man möglichst mitbringen, um die Fülle halbwegs auszuschöpfen. Aber gemach! Die Schau dauert beruhigende 16 Monate.

Ausgestopfte Tiere, die man gemeinhin in Naturkundemuseen erwartet, sind hier auch reichlich zu finden, doch sind sie nicht das Eigentliche, sondern dienen eher als sinnfällige Dekoration. Der themengerecht windungsreiche, ansprechend gestaltete Rundgang führt in etliche Bereiche, die man mit dem Gehirn assoziiert.

Da geht es zunächst um anatomische Voraussetzungen und Entwicklungen, sodann um natürliche und künstliche Intelligenz, Wahrnehmung, Gefühle, Ich-Bewusstsein, Schlaf und Traum, psychische Erkankungen, Drogen und schließlich um Verhaltenssteuerung (Stichwort „Gehirnwäsche“) des für allerlei Einflüsse empfänglichen, ja anfälligen Organs. Überhaupt erweist sich die Schau keineswegs als rein naturkundlicher Streifzug, sondern als Unterfangen, das weit in psychosoziale Sphären reicht.

MM7 Selector mit der groben Mechanik

Das eingangs erwähnte Taxi ist dabei nicht das einzige auffällige Exponat. Da wäre zum Beispiel KIM, ein Roboter mit 3D-Kamera und ausgeklügelter Sensorik (Kostenpunkt rund 40.000 Euro), der leise auf Rollen durch die Räume gleitet, zielsicher zu bestimmten Exponaten hinführen und sie einigermaßen eloquent erklären kann. Er wirkt in gewissen Momenten freilich noch etwas störrisch. Aber keine Angst: Er fährt einen nicht um, sondern bremst stets rechtzeitig! Das hat ein ähnliches Exemplar auch schon in der Dortmunder Arbeitswelt-Ausstellung DASA bewiesen.

KIM steht übrigens für „Künstliche Intelligenz im Museum“. Einer seiner frühen Vorläufer, der Maschinenmensch MM7 Selector, ist gleichfalls zu bestaunen. Das ziemlich ungeschlacht aussehende Monstrum wurde bereits 1961 vom Visionär Claus Christian Scholz-Nauendorff entwickelt, ist aber kein echter Roboter im heutigen Sinn. Es wollte sozusagen erst einer werden und musste sich noch mit grober Mechanik begnügen.

Früher Vorläufer heutiger Roboter: der „MM7 Selector", eine kybernetische Maschine von 1961/62. (Foto: © Technisches Museum Wien)

Früher Vorläufer heutiger Roboter: der „MM7 Selector“, eine kybernetische Maschine von 1961. (Foto: © Technisches Museum Wien)

Daran knüpfen sich Fragen nach dem heutigen Stand der Robotertechnik. Man ist drauf und dran, ihnen beizubringen, angemessen auf menschliche Mimik und somit auf Emotionen einzugehen – vielleicht zeichnet sich da eine (Neben)-Lösung im Pflegebereich ab? Gleichzeitig weckt derlei Fortschritt natürlich auch Ängste: Werden wir Menschen eines (nicht so fernen?) Tages in die hinteren Reihen rücken und von Robotern nicht nur entlastet, sondern regiert werden?

Zwei Schnittproben von Einsteins Hirn

Zurück zur Natur: Gibt es äußere Merkmale für besonders kluge Gehirne? Schon vorab wurden zwei Exponate besonders beworben, nämlich in einer Art Schrein präsentierte, haudünne Schnitte durchs Gehirn des Genies Albert Einstein, die aus einem Museum in Philadelphia (USA) eingeflogen wurden. Freilich hat keiner der vielen, vielen Hirnforscher, die solche Schnitte untersuchen durften, bisher spezielle physische Merkmale der überragenden Intelligenz Einsteins nachweisen können – wie denn überhaupt dieses Fachgebiet immer noch und immer wieder Rätsel bereithält. Auch das kann man eher beruhigend finden.

Nebenbei bemerkt: Zur Pressekonferenz lag auf jedem Stuhl u. a. ein Stück Seife in Form eines Gehirns. Die morbide kleine Morgengabe war mit einem Zettel versehen, auf dem „Gehirnwäsche“ stand. Beim Museumsträger, dem Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL), hat man offenbar schwarzen Humor.

Etwas gruselig kann einem auch in der geheimnisvoll abgedunkelten „Galerie der Gehirne“ zumute werden. Hier sind gleich 71 echte, in Gläsern konservierte Hirne verschiedener Lebewesen zu sehen, die frappierende anatomische Vielfalt reicht von Frosch und Fledermaus bis zum Elefanten. Die allermeisten Beispiele stammen aus der umfangreichen „Edinger-Tiergehirnsammlung“. Sie werden ergänzt durchs Gehirn und das filigran verzweigte Nervensystem eines Berberaffen, präpariert vom nicht ganz unumstrittenen Plastinator Gunther von Hagens.

Die Wahrnehmung eines Elefanten

An einer anderen Station kann man sich – ein wenig – hineinversetzen in die Wahrnehmung diverser Tiere, die ja ganz andere Farbspektren und Tonfrequenzen aufnehmen können. Auf einer Vibrationsplatte stehend, kann man etwa das Sensorium eines Elefanten nachempfinden, der höchst sensibel auf geringste Erderschütterungen reagiert. Grotesk wirken jene Menschen- und Tiermodelle, deren tastempfindlichste Körperstellen entsprechend optisch vergrößert wurden. Deshalb hat die scherzhaft so genannte „Homunculine“ riesige Finger. Und das Kaninchen… Aber sehen Sie selbst!

Visualisierte Tastempfindlichkeit: „Homunculine", Kaninchen und Maulwurf. (Foto: Bernd Berke)

Visualisierte Tastempfindlichkeit: „Homunculine“, Kaninchen und Maulwurf. (Foto: Bernd Berke)

Sogar ein kleines, unscheinbares Bild von Pablo Picasso ist zu sehen, daneben vom Computer programmierte „Kunst“ – und die Hervorbringung eines Schimpansen, der angeblich nach und nach sogar einen „Stil“ entwickelt haben soll. Das bodenlose Fass, was nun Kunst und wer ein Künstler sei, will das Museum mit diesem Arrangement eigentlich nicht aufmachen. Zu erwarten steht jedoch, dass die einen oder anderen Betrachter dies trotzdem tun.

Auch Tiere berauschen sich

Man kann längst nicht alles erwähnen, so vielfältig und reichhaltig ist diese Ausstellung. Schon beim zügigen Rundgang lassen sich einige erstaunliche Einsichten gewinnen. So etwa die, dass nicht nur Menschen (allerdings erst mit etwa 18 Monaten), sondern auch manche Tierarten ein rudimentäres Ich-Bewusstsein entwickeln und sich selbst von anderen Exemplaren ihrer Spezies zu unterscheiden wissen. Ihnen ist offenbar auch vor dem Spiegel klar, dass sie sich selbst sehen. Und dabei reden wir nicht nur z. B. über Affen, Delfine und Hunde, denen man das wohl zugetraut hat, sondern beispielsweise auch über Schweine.

Dass Tiere ängstlich oder aggressiv sein können, weiß man. Die Ausstellung begibt sich darüber hinaus auf die aussichtsreiche Spur der Vermutung, dass sie auch ein (etwas anders gelagertes) Gefühlsleben haben. Noch in einer weiteren Hinsicht verhalten sich Tiere wie Menschen, sie berauschen sich nämlich ganz gezielt mit allerlei „Drogen“. So bevorzugen manche Arten Rauschpilze oder Mohn, andere wiederum pfeifen sich das Sekret von Tausenfüßlern ‚rein, um es mal salopp zu sagen. Da gerät ihr Gehirn gleichsam ins Schwirren, Schwanken und Tanzen.

„Das Gehirn. Intelligenz, Bewusstsein, Gefühl.“ LWL-Museum für Naturkunde, Münster, Sentruper Straße 285 (neben dem Allwetterzoo). Vom 29. Juni 2018 bis zum 27. Oktober 2019. Geöffnet Di bis So 9-18 Uhr. Eintritt 6,50 Euro (Erwachsene), 4 Euro (Kinder), 14 Euro (Familien).

Weitere Infos: www.das-gehirn.lwl.org




Warum Proben von Einsteins Gehirn nach Münster gelangen

Welch ein Termin! Da trifft doch heute eine Einladung vom Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) ein, die Sensationelles verheißt: Demnach werden in wenigen Tagen im Münsteraner LWL-Museum für Naturkunde zwei Gehirnschnitte von Albert Einstein eintreffen.

1. Oktober 1940: Albert Einstein erhält die US-Einbürgerungsurkunde aus der Hand des Richters Phillip Forman. (© World-Telegram photo / public domain / gemeinfrei - Link zu Lizenz-Angaben:https://de.wikipedia.org/wiki/Albert_Einstein#/media/File:Citizen-Einstein.jpg)

1. Oktober 1940: Albert Einstein erhält die US-Einbürgerungsurkunde vom Richter Phillip Forman. (© World-Telegram photo / public domain. Lizenz-Link: https://de.wikipedia.org/wiki/Albert_Einstein#/media/File:Citizen-Einstein.jpg)

Donnerwetter! Gehirnschnitte. Und dann auch noch von Einstein, dem vielleicht klügsten Menschen aller Zeiten. Ein solches Faszinosum ist schon einen Extra-Fototermin für die Weltpresse (oder wenigstens die westdeutsche bzw. westfälische Presse) wert.

Soll man gespannt sein, wie die Fotografen das Thema umsetzen, oder kann man das gelassen abwarten? Bei anderem Licht betrachtet, könnte man die Angelegenheit auch ein wenig degoutant finden. Doch Naturwissenschaftler denken über derlei Relikte ganz nüchtern. Für sie sind es auch keine Reliquien.

Die zwei offenkundig bedeutsamen Scheibchen gehören übrigens zur Sonderschau „Das Gehirn – Intelligenz, Bewusstsein, Gefühl“, die ab 29. Juni im besagten Museum zu sehen sein wird. Das ist fraglos ein hochinteressantes Thema.

Zum Hintergrund der Leihgabe: Einstein ist 1955 in den USA gestorben. Eigentlich wollte er, dass seine gesamten sterblichen Überreste nach seinem Tode verbrannt werden. Doch ein enthusiasmierter Mediziner entnahm dem Leichnam Gehirnproben zur Aufbewahrung – eine durchaus abenteuerliche Geschichte. So kommt es, dass die beiden Gehirnschnitte jetzt aus Philadelphia (Pennsylvania/USA) nach Münster gelangen können. Überreichen wird sie Lowell Flanders, der Sammlungs-Manager des dort angesiedelten Mütter Museums.

Bevor sich jemand wundert: Das Institut in Philadelphia hat überhaupt nichts mit Müttern zu tun, sondern ist ein renommiertes medizingeschichtliches Museum, das 1856 durch die Sammlung eines gewissen Dr. Thomas Dent Mütter erheblich anwuchs und seither ständig erweitert wurde.