Rituale statt Rebellion – Interview mit Martin Mosebach

An Martin Mosebach (56) scheiden sich manche Geister: Den Einen gilt der Frankfurter Schriftsteller und Büchner-Preisträger als Vorbote oder gar Leitgestalt einer „konservativen Wende”, die Anderen rühmen Werk und Wirkung. Jetzt hat Mosebach seinen Roman „Der Mond und das Mädchen” bei einer Lesung im Dortmunder Harenberg-Center vorgestellt – Gelegenheit zu einem Gespräch.

Was hat sich mit dem Büchner-Preis für Sie verändert?

Martin Mosebach: Die wichtigste Änderung war schon eingetreten, nämlich das Bewusstsein, dass ich jetzt einen Einschnitt erreicht habe in meiner Arbeit. Ich möchte einen Neuanfang versuchen. In welche Richtung, das wird sich zeigen. Der Preis hat das Gefühl eines Einschnitts nur noch bestätigt. Aber meine Romane unterscheiden sich ohnehin sehr stark voneinander. Ich bin niemals den gleichen Pfad gegangen.

Was können Sie mit dem Begriff „konservativ” anfangen”, der Ihnen immer wieder angeheftet wird?

„Konservativ” empfinde ich als ein sehr defensives Wort, ein Wort in Verteidigungshaltung. Das entspricht nicht meinem Lebensgefühl. So ängstlich bin ich nicht. Aber die Worte „aggressiv” oder „offensiv” wären auch falsch. Ich beziehe mich gar nicht so sehr auf Andere. Ich bin nicht besonders stark auf die Öffentlichkeit hin ausgerichtet.

Ganz anders als Grass?

Ja, er definiert sich selbst als politischen Menschen. Das trifft auf mich nicht zu.

Sie haben gefordert, die alte lateinische Liturgie in der Katholischen Kirche wieder einzuführen. Haben Sie damit etwas bewirkt?

Nun, eine Debatte habe ich bestimmt angeregt. Sie schwelte schon lange, wurde aber von der offiziellen Kirche nicht zugelassen. Ich glaube, dass der Ritus ein essentielles Bedürfnis ist – für die Religion, aber auch ganz allgemein für die Humanität. Der uralte Kultus verbindet uns mit der ganzen Menschheitsgeschichte. Das rituelle Empfinden ist im Westen seit längerer Zeit verkümmert, aber dabei darf es nicht bleiben.

Sie sind Jurist und haben im Nachhinein gesagt, sie hätten dieses Fach gern engagierter studiert. Warum?

Weil alles, was man wirklich intensiv lernt, letztlich interessant ist. Etwas langweilig zu finden, ist eigentlich ein Zeichen für Unerwachsenheit. Doch leider habe ich schlampig studiert. Die juristische Sprache ist eine Schule der Klarheit und Präzision.

1968 mit dem Rücken
zum Zeitgeist erlebt

Wie sehen Sie die Rebellion um 1968? Sind Sie „Anti-Achtundsechziger”?

Ich bin ein „Nicht-Achtundsechziger”. Ich habe mit dem Rücken zu allen Phänomenen von „68” gelebt. Auch die kulturellen Aspekte der Zeit – wie etwa die Musik – haben mich nicht berührt. Ich war in einer Art Emigrations-Zustand.

Ging das denn damals?

Ja. Ich habe die bedenkliche Gabe, Dinge, die mir nicht passen, zu verdrängen. Man selbst stellt ja auch eine Welt dar. Die war mir wichtiger.

Viele Ihrer Romane spielen in Frankfurt am Main. Sie haben Frankfurt eine der hässlichsten Städte genannt, die aber – als Vision – auch schön sein könnte.

Ich weiß gar nicht so genau, worin mein Verhältnis zu Frankfurt besteht. Die Stadt ist mir vollkommen selbstverständlich. In den Romanen wird sie zu einer Stadt der Phantasie, und meine Schilderungen strotzen vor Unwahrscheinlichkeiten. Ich schreibe nicht nach Stadtplan. Aber die Sprache erzeugt die Suggestion, es sei von realen Orten die Rede. Und schauen Sie mal, wie Nabokov oder Proust ihre Elternhäuser beschrieben haben. Wie krass sich das von der Realität unterscheidet! Romane sind eben keine Fotografien und keine Reportagen.

Und die Hässlichkeit?

. . . wird immer dann als besonders schmerzlich empfunden, wenn man die Schönheit noch kennt, die durch sie verdrängt worden ist. Denken Sie an den Kölner Dom und die absurde Domplatte. Wer nicht weiß, wie der Domberg vorher ausgesehen hat, wird unter dieser schwächlichen Brutalität viel weniger leiden. Es scheint, als habe im 20. Jahrhundert Schönheit nur entstehen können, wenn sie nicht beabsichtigt war: Fabriken sind gelungen, Opernhäuser fast nie.

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INFO

Martin Mosebach wurde 1951 in Frankfurt am Main geboren. Er studierte Jura in Frankfurt und Bonn. Seit 1980 ist er freier Schriftsteller. Er lebt in Frankfurt, schreibt seine Bücher aber meistens im Ausland, um den nötigen Abstand zu haben.So spielt zwar auch sein jüngster Roman „Der Mond und das Mädchen” (Hanser Verlag) in Frankfurt. Verfasst hat ihn Mosebach aber in Marokko.

Weitere Romane: „Das Bett” (1983), „Westend” (1992), „Die Türkin” (1999) und „Der Nebelfürst” (2001).

Der Georg-Büchner-Preis, den Mosebach in diesem Jahr erhalten hat, gilt als wichtigste deutsche Literaturauszeichnung.

Aufsehen erregte Mosebachs Dankrede, in der er die Französische Revolution als Gesinnungsterror brandmarkte und zur Nazi-Diktatur in Beziehung setzte.

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(Der Beitrag stand am 30. November 2007 in der „Westfälischen Rundschau“)




„Freiheit der Linie“: Wie Künstler die Gefühle steigern

Münster. Mit Farbe, Form und Linie muss sich jeder Künstler befassen. Das Landesmuseum in Münster greift eins dieser Grundelemente heraus: die Linie. Nicht einfach so, sondern mit konkreten und teilweise verblüffenden Bezügen.

Die These lautet ungefähr so: Im Jugendstil wurde die Linie zusehends freier behandelt. Sie löste sich immer mehr vom dargestellten Gegenstand und drückte schon durch ihren bloßen Verlauf gesteigerte Gefühle aus; zuweilen geschmäcklerisch und ornamental, aber oft auch empfindsam, geradezu seismographisch. Genau bei solchen Bewegungen konnten die Expressionisten anknüpfen, denen es just um (manchmal steil aufragende) Emotionen ging. Bei ihnen gewann die Linie Kraft und Spannung.

In der Linie liegt die Kraft

Die Münsteraner Schau versammelt nun überraschend deutliche Belege dafür, dass auch Künstler im Jugendstil wurzeln, von denen man das nicht (mehr) weiß: Das Schaffen von Wassily Kandinsky, Franz Marc, Paul Klee und Ernst Ludwig Kirchner wird zurückgeführt auf solche Ursprünge. Was hier aus ihren Frühzeiten gezeigt wird, steht tatsächlich noch im Bann des Jugendstils. Erst im Lauf der Jahre gingen sie eigene Wege.

Beispiel Kandinsky 1907 noch ein lineares Wellenspiel aus Kleidung und Haaren („Der Spiegel“), ganz im Geist des Jugendstils, bis 1911 dann der kühne Sprung ins gänzlich Freie. Die Linien halten das Bildgefüge nur noch vage zusammen, sie sind zum Ausdrucksmittel geworden.

Als Kristallisationsfigur des Übergangs hat Ausstellungs-Kurator Erich Franz einen Mann namens Hermann Obrrist (1862-1927) ausgemacht. Franz versichert: „Es ist keine Bildungslücke, Obrist nicht zu kennen“. Seit rund 40 Jahren sei dieser Jugendstil-Künstler in deutschen Museen praktisch nicht mehr präsent. Eine „Ausgrabung“ also. Der gebürtige Schweizer Obrist hat – im Spannungsfeld zwischen Kunst und Kunstgewerbe – das freie Spiel der Linien bis zum Rand der Abstraktion getrieben. Dabei werden bereits expressive Qualitäten sichtbar. Ein um 1895 von Obrist entworfener Wandbehang zeigt laut Titel Alpenveilchen, wirkt aber eher wie eine flammende Linien-Schrift oder (so befand damals ein Kritiker) gar wie ein „Peitschenhieb“. Für die Münsteraner Schau wurde das Werk in rund 600 Stunden mühsamer Handarbeit nachgestickt, es erstrahlt nun fast wie in der Ursprungszeit. Das Original in München ist hingegen arg ramponiert.

Obrist, der vorwiegend in München lebte und arbeitete, hat mit derlei Formfindungen direkten Einfluss ausgeübt: Kandinsky war mit ihm befreundet, Kirchner hat um 1902 bei ihm das Zeichnen gelernt. Auch Marc und Klee nahmen seine Anregungen auf – und wandelten sie ab. Durch Entwürfe für Alltagsgegenstände, Brunnen und Denkmäler hat Obrist wohl auch den nachmals berühmten Architekten Peter Behrens und Henry van de Velde Anstöße gegeben.

Es herrscht ein Stilwille, der die sichtbare Wirklichkeit hinter sich lässt. Hochinteressant ist es zu sehen, dass Marcs Tierfiguren sich den Linienführungen des Jugendstils entwickeln, gleichsam daraus hervorwinden. Es ist wie eine Geburt, ein großes Werden.

Mit Vorläufern vor aus Frankreich beginnt der Reigen. Im Zeichen einer grassierenden Japan-Mode („Japonismus“) wurde die vordem im Historismus schwelgende Kunst entschlackt, vereinfacht, auf pflanzlich inspiriertes Formenvokabular reduziert. Eine Abfolge von Mädchenbildnissen (Edvard Munch, Ferdinand Hodler) beweist sinnfällig die neue Schlichtheit. In ihr verbargen sich ungeahnte, zuweilen erschütternd intensive Ausdruckswerte.

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INFOS

  • „Freiheit der Linie. Von Obrist und dem Jugendstil zu Marc, Klee und Kirchner.“
  • Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte, Münster (Domplatz)
  • Ausstellung bis zum 17. Februar 2008. Geöffnet Di-So 10-18 Uhr, Do 10-21 Uhr. Eintritt 5 Euro, Familie 11 Euro. Katalog 27 Euro.



Kreis Unna: Millionen fürs Haus der Moderne gesucht

Unna/Holzwickede. Es ist offenbar ein großes Rad, an dem der Kreis Unna dreht: Um die hochkarätige Wiesbadener Kunstsammlung Brabant in ein künftiges „Haus der Moderne“ einzubringen, müssen zuvor 10 Millionen Euro Spenden gesammelt werden.

„Eine Vision mit großen Chancen“ nannte gestern die Kulturdezernentin des Kreises Unna, Gabriele Warminski-Leitheußer, das Projekt. In der Tat: Der Sammler Frank Brabant (69) hat seine eindeutige Zusage gegeben. Er ist zu dem Schluss gekommen, dass seine Bilderschätze beim Kreis Unna in guten Händen sind. Alles Vertrauenssache. Unna erhält somit den Vorzug etwa vor dem Landesmuseum in Schwerin (Brabants Geburtsstadt) und diversen Häusern in Süddeutschland.

Der Sammler ist als Kaufmann tätig und erwirbt seit rund 45 Jahren Bilder. Das allererste Werk, einen Holzschnitt für damals 300 Mark, müsste er noch auf Raten finanzieren. Brabant übt zwar keinen zeitlichen Druck aus. Aber eins ist klar: Allein mit öffentlichem Geld ist das Vorhaben nicht zu stemmen. Die finanziellen Fakten: Der museumstaugliche Umbau des historischen Hauses Opherdicke (in Holzwickede) dürfte rund 5 Millionen Euro kosten. Beim Kreis Unna hofft man, 80 Prozent dieser Summe durch Zuschüsse des Landes NRW aufzubringen. In diesem Falle müsste der Kreis selbst also rund 1 Million Euro ausgeben.

Damit nicht genug. Wenn die Sammlung erst einmal im Haus Opherdicke untergebracht ist, fallen Betriebskosten von cirka 500 000 Euro pro Jahr an. Plan der Kulturdezernentin: Es soll eine Stiftung gegründet und mit 10 Millionen Euro Kapital ausgestattet werden. Aus den Erträgen könnte man die laufenden Kosten bestreiten. Hierfür wären, wie gesagt, namhafte Spenden nötig. Warminski-Leitheußer: „Wir werden jetzt ,Klinken putzen‘ gehen.“ Sprich: für gut‘ Wetter bei möglichen privaten Geldgebern sorgen.

Und wenn das alles klappt? Dann würde sich der Kreis Unna in einer ganz anderen Liga wiederfinden. Man könnte mit teilweise hochrangigen Gemälden und Graphik (z. B. von Beckmann, Chagall, Feininger, Kandinsky, Klee, Marc, Nolde, Picasso und Warhol) locken. Einige Kostproben der 450 Stücke umfassenden Kollektion waren 2006 auf Schloss Cappenberg zu sehen. 25 000 Besucher interessierten sich für den Querschnitt, dessen Qualität Verhandlungen mit dem
Sammler in Gang brachte.

Günstiger Umstand: NRW-Ministerpräsident Jürgen Rüttgers hat sich die Schau seinerzeit persönlich angesehen. Am Donnerstag dieser Woche gibt es in Düsseldorf Gespräche von Vertretern des Kreises Unna mit NRW-Kulturstaatssekretär Hans-Heinrich Grosse-Brockhoff. Dabei sollen Bedingungen für etwaige Landeszuschüsse zum Umbau des Hauses Opherdicke erörtert werden.

Thomas Hengstenberg, Fachbereichsleiter für Kultur und Medien beim Kreis Unna, hat bereits erste Studien zur Umsetzung erstellt. Das idyllisch gelegene, denkmalgeschützte Haus Opherdicke bietet reichlich Platz und eine recht gute Verkehrsanbindung. Bereits im Umkreis von nur 25 Kilometern leben etwa 2 Millionen Mensschen 5,6 Millionen wohnen im Radius von 50 Kilometern.

Die Sammlung, derzeit mehr schlecht als recht in Brabants Dachwohnung untergebracht (bis in den Sanitärbereich hinein), soll in Holzwickede durch Zukäufe ergänzt werden. Man will nicht das ganze Konvolut auf einmal zeigen, sondern thematische Wechselausstellungen arrangieren. Damit die Kollektion vernünftig erschlossen werden kann, sollen Kunsthistoriker der regionalen Hochschulen Zugang für Forschungen erhalten.

Übrigens: Die Eröffnung des „Hauses der Moderne“ würde der Kreis gerne 2010 feiern – im Jahr der Kulturhauptstadt.

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(Der Beitrag stand am 27. November 2007 in ähnlicher Form in der „Westfälischen Rundschau“)




Weihnachtliches Familienchaos

Das muss man erst mal wegstecken: Jan will Weihnachten im trauten Kreise der Familie feiern. Just am Heiligabend eröffnet ihm Gattin Sara, dass sie seine drei Ehe-Vorgänger mitsamt deren aktuellem Anhang eingeladen hat. Zwei Minuten später steht die Meute schon vor der Tür.

Schlimmer noch: Sara hat schon mal die neue Sauna vorgeheizt und drängt die Männer, selbige gemeinsam „einzuweihen”. Sogleich führen die nackten Herren frivole Gespräche über Saras erotische Qualitäten. Jan leidet darunter wie ein Hund. Später werden dann auch die Seelenzustände gründlich entblößt. Dass Jan hauptberuflich Psychologe ist, hilft ihm dabei herzlich wenig.

„Meine schöne Bescherung” ist der etwas andere Film zum Fest. Zwischen den Männern lodern noch manche Eifersüchteleien, die nun neu entfacht und boshaft ausgetragen werden. Erst recht, als Sara am reich gedeckten Tisch verkündet, sie erwarte ein Kind. Dumm nur: Von Jan kann es nicht sein, denn der hat sich vor Monaten stillschweigend sterilisieren lassen. Fortan belauert er seine Vorläufer und vermeintlichen Nebenbuhler. Welcher Schmutzbuckel war’s?

Mehr wird hier nicht verraten. Vanessa Jopps Film schlängelt sich jedenfalls flott durch Komödie, Kammerspiel, Klamotte, Gefühlsoper und Slapstick. Ein recht inspiriertes Wechselspiel, in dem unterwegs so manches Problem auf den Tisch kommt – bis hin zur peinlichen Moralfrage bei Adoptionen.

Dass ein linkischer Nachbar (als Weihnachtsmann) und ein Riesenkaktus als Dauergags firmieren und beim Liebesspiel gleich eingangs der Schrank wackelt, nimmt man halt hin. Nicht jede Pointe muss gleich humorhistorische Maßstäbe setzen.

Jan, Sara und ihre Kinder (Töchter ihrer drei Ex-Männer und Jans Sohn aus erster Ehe leben bei ihnen) haben sich wohlig als Puzzle-Familie eingerichtet. Nur Fassade? Derlei mittelständische Zufriedenheit lädt viele Filmemacher seit jeher zur systematischen Verunsicherung ein. Mal sehen, ob sich Liebe und Familie im Chaos der Vorfälle bewähren. Übrigens: Die Kinder haben bei dieser Walpurgisnacht von Weihnachtsfeier ihren eigenen Tisch – und sie benehmen sich längst nicht so kindisch wie die Erwachsenen.

Das mit heimischer Prominenz gespickte Darsteller-Ensemble ist vor allem an der Spitze doppelt stark. Martina Gedeck und Heino Ferch verkörpern Sara und Jan nuancenreich, keineswegs nur komödiantisch. Diese Sara ist stark und unabhängig, sie hat aber auch reichlich egozentrische Züge. Und Jan hat vielfach Recht, ist aber auch rechthaberisch. Dreimal darf man raten: Ob sie sich wohl zusammenraufen werden?




Chinesisch für den eiligen Menschen – Spielerischer Selbstversuch mit neuem Anfänger-Lehrbuch und Sprech-CD

Von Bernd Berke

„Chinesisch superleicht!“ heißt das neue Buch mit Sprech-CD. Nanu? Diese Verheißung ist doch wohl ein Widerspruch in sich. Da wird man misstrauisch. Mal schnell lesen und hören, was es damit auf sich hat.

Das aus dem Englischen ins Deutsche übertragene Bändchen (flockiger Originaltitel: „Easy Peasy Chinese“) ist schmal – und reich bebildert. Bestenfalls reicht’s am Ende für ein Gestammel beim Chinesen um die Ecke. Bitte, danke, schmeckt gut. Ob damit die Herausforderungen der Globalisierung bewältigt werden können, steht dahin.

Trotzdem frisch ans Werk. Denn Hochchinesisch (Mandarin) ist schließlich die bei weitem meistgesprochene Sprache der Welt – und außerdem stehen 2008 die OIympisehen Spiele in Peking an. Nein, mit müden Scherzen wie „Do Ping“ (angeblich Chinesisch für „Spitzenleistung“) kommen wir hier nicht weiter.

„Ma“ heißt zum Beispiel Mutter, Hanf oder Pferd

Ein paar Umstände könnten das Erlernen der chinesischen Sprache tatsächlich erleichtern. Es gibt offenbar ungemein viele Wörter mit nur zwei, drei oder vier Buchstaben (jedenfalls in lateinischer Umschrift). Dao (Gabel), cha (Messer), chi (essen), cha (Tee), ji (Huhn), yu (Fisch). Damit ist bei Tisch schon einiges gesagt. Mit dem Ausruf . „shu“ (Buch) geht’s in die Bibliothek, bevor man den „hu“ (Tiger) im Zoo anschaut.

Frohen Mutes vernimmt man, dass die Verben nicht gebeugt werden, so als wenn man im Deutschen sagen dürfte: „Ich bin, du bin, er bin…“ Prima. Weiter so. Dann werden wir’s bald können. Dann aber geht’s eben doch los mit den Schwierigkeiten.

Rund 40 000 Schriftzeichen gibt’s, etwa 2000 reichen angeblich fürs Gröbste. Aber die müsste man erst mal alle geläufig hintuschen können. Mindestens ebenso knifflig ist ein Phänomen, von dem man schon mal gehört hat: Ein und dieselbe Lautfolge nimmt bei wechselnden Tonfällen (lang – fallend – steigend – erst fallend, dann steigend – tonlos) ganz verschiedene Bedeutungen an. Was zunächst als „ma“ einfach Mutter heißt, wird mit fragend ansteigender Stimme „Hanf“, kann aber bei anderem Singsang auch „Pferd“ oder „schimpfen“ bedeuten. Man mag sich die möglichen Missverständnisse im täglichen Gebrauch nicht ausmalen. Übrigens: Die Buchstabenfolge „mao“ kann beispielsweise Katze oder Feder heißen.

Auf gerade mal 128 Seiten hangelt sich das Buch mit flotter Gebärde durch absolute Anfangsgründe – bis man auf Chinesisch solche Sätze sagen soll: „Das ist zu teuer“, „Ich spiele auch gern Tennis“ oder „Mit Stäbchen (zu) essen ist leicht“. Dabei kommt die CD mit Hörproben ins Spiel.

Schon verzagt man wieder. Denn was sich gerade noch munter weglesen ließ, verflüchtigt sich angesichts der tückischen Aussprache.

Immerhin. Selbst wenn man frühzeitig aufgibt, hat man Freude an Botschaften aus der gänzlich fremden Sprachwelt. „Gonggongqiche“ heißt Autobus, wobei „gonggong“ für „öffentlich“ steht. Eine gemeine Aufgabe wäre wohl dies: Bilde einen Mandarin-Satz mit „öffentlich-rechtliches Fernsehen“.

Zu denken geben auch zusammengesetzte Piktogramm-Schriftzeichen: Da ergeben die Signaturen für „Frau“ und „Kind“ in der Addition den Begriff „gut“, während „Kraft“ und „Feld“ miteinander den Mann ausmachen. Da blicken die uralten Ordnungen hindurch.

Nehmen wir schließlich die Ländernamen, wortwörtlich übersetzt. Da firmiert England als „Land der Helden“, die USA sind das „Land der Schönheit“ und schließlich gilt Deutschland als „Land der Tugend“. Wer’s glaubt…

„Chinesisch superleicht! – Für Anfänger“. Buch mit CD. Verlag Dorling Kindersley. 128 Seiten. 12,95 Euro.

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HINTERGRUND

Ohne Fleiß geht gar nichts

  • Chinesisch liegt „im Trend“ – auf bescheidenem Zahlen-Sockel:
  • Im Jahr 2002 belegten rund 5000 Deutsche Chinesisch-Kurse an Volkshochschulen, 2005 waren es rund 10 000.
  • Das Schwierigste ist die Schrift. Erst nach zwei Jahren Fleißarbeit, so sagen Experten, könne man Texte auf dem Niveau eines Zwölfjährigen lesen.
  • Einfache mündliche Unterhaltungen sind in der Regel nach 100 Stunden möglich.

 

 




Thomas Virnich: Keine Angst vor dem Teufel

Schwerte. Erstaunlich windschief wirkt dieser „Doppeldom“. Auch scheint die phantasievoll nachempfundene Kölner Kathedrale zu zerfließen wie Kerzenwachs. Doch dem fragilen Skulpturen-Bauwerk ist auch freudige Beweglichkeit eigen; ganz so, als könnte es alle wechselnden Zeiten überstehen.

Die Arbeit ist jetzt in der Katholischen Akademie in Schwerte zu sehen und stammt vom documenta-erprobten Bildhauer Thomas Virnich (Jahrgang 1957). Die teilweise noch nie öffentlich gezeigten Plastiken fügen sich bestens in die Schwerter Ausstellungs-Reihe „Transzendenz im Augenschein“. Deren weltoffene Zielsetzung, abseits von verkrampften Kirchenkunst-Debatten: Nicht fromme Auftragswerke sollen hier zum Zuge kommen, sondern freie, autonome Schöpfungen, die allerdings im weitesten Sinne auch auf „Jenseitiges“ verweisen können.

Gern zeigt Virnich die ganze Erde im Modell, das Kleine findet dabei furchtlos Platz im großen Ganzen. So hat er einen allseits brüchigen Globus ersonnen und mit fröhlichen Narren bevölkert („Spiel-Welt“). Ein anderer Erdball hängt von der Decke herab und lässt verwirrend viele Teilansichten seines Atelier-Anwesens in Mönchengladbach, eines alten Schulgebäudes, erkennen („Meine Schule – ein Planet“). Eisenstücke vom Schrottplatz, durch ungeheure Kräfte verformt, geraten zu Sinnbildern für Mann und Frau. Ein Monumentalbau wie das Colosseum gibt Gelegenheit zum hintersinnigen Formenspiel zwischen Kern und Schale.

Manchmal ist Virnich ganz dicht dran an religiösen Themen. Der Petersdom ist bei ihm freilich von Pappe, er „klebt“ als stark verfremdeter Modellbausatz an der Wand. Ein kleines Bronze-„Teufelchen“ kommt derweil als harmloser Kobold daher. Auch hier also kein Grund zu Angst und Furcht. Doch gebrannte Keramik lässt nur noch die Negativ-Form des gekreuzigten Christus erkennen – als schmerzliche Leerstelle, als pure Abwesenheit. Welche Sehnsucht sich daran knüpft, ist Glaubenssache.

Katholische Akademie Schwerte, Bergerhofweg 24. Vom 18. November bis 13. Januar. Mo-Sa 10-18, So 10-13 Uhr.

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(Der Beitrag ist am 17. November 2007 in der „Westfälischen Rundschau“ erschienen)




Kultur zum Plaudern und zum Streiten – Spektrum von Goethe bis Punk: Erfahrungen und Eindrücke aus dem Kulturblog Westropolis

Von Bernd Berke

Manchmal reicht schon ein Bild mit provozierender Unterzeile: „Die Beatles sind langweilig“, behauptete der Westropolis-Autor Ingo Juknat kurzerhand, stellte ein Foto der Fab Four hinzu – und schon ging’s los mit teilweise empörten Kommentaren.

Juxhafter Moment mit Kasperlfiguren bei einem Westropolis-Treffen am 5. Februar 2008 im Essener Bahnhof Süd, u. a. mit dem „Revierflaneur" Manuel Hessling (hinten Mitte, mit Teufelchen), Ingo Juknat (hinten, ganz links) und Nadine Albach (vorn, 2. v. re.). (Foto: Bernd Berke)

Juxhafter Moment mit Kasperlfiguren bei einem Westropolis-Treffen am 5. Februar 2008 im Essener Bahnhof Süd, u. a. mit dem „Revierflaneur“ Manuel Hessling (hinten Mitte, mit Teufelchen), Ingo Juknat (hinten, ganz links) und Nadine Albach (vorn, 2. v. re.). (Foto: Bernd Berke)

Bei Westropolis, dem Kultur-Blog der WAZ-Mediengruppe, zu der auch die WR gehört, werden Musik, Kunst, Kino, Literatur & Co. oft zu heiß diskutierten Streitthemen. Auch als langjähriger WR-Kulturredakteur, der nun seit einigen Monaten ebenfalls bei Westropolis mitwirkt, macht man einige neue Erfahrungen.

Kulturfans sind nicht unbedingt leidenschaftliche Leserbrief-Schreiber. Im Blog (Internet-Auftritt, so etwa zwischen kollektivem Tagebuch und Plauderecke angesiedelt) ist das zuweilen ganz anders. Zwar gibt es auch hier ruhigere Stunden, doch häufig finden Beiträge sehr schnellen und deutlichen Widerhall; ganz gleich, ob Rezensionen zum aktuellen Kulturgeschehen, eher persönliche Aufzeichnungen oder veritable kleine Essays.

Im Netz wird mehr Tacheles gesprochen

Überdies wird im Netz mehr Tacheles gesprochen. Da müssen sich Autoren schon mal herbe Kritik gefallen lassen. Verbale Gegenwehr keineswegs ausgeschlossen. Doch praktisch immer wird im Widerstreit der Argumente ein Mindestmaß an Höflichkeit gewahrt. Man kennt die ungeschriebene „Net(t)iquette“ (Abart des Knigge fürs Internet). Auch Kampfhähne der Kultur wissen, wann’s genug ist. Da wird nicht unnötig nachgekartet.

Derzeit bestreiten neun ständige „Gastautoren“ und Autorinnen einen Löwenanteil der Westropolis-Beiträge, hinzu kommen etliche Kommentator(inn)en, die gelegentlich auch eigene Artikel bereitstellen. Das Spektrum steht im Zeichen eines gehörig erweiterten Kulturbegriffs, ist also breit und reicht von Goethe über Beuys bis Punk. Mindestens.

Jeder Geschmack kommt zum Zuge. Beispiele: Da gibt es ein wöchentliches, wahrhaft kniffliges Literaturrätsel vom „Revierflaneur“ Manuel Hessling, der so etwas wie eine Seele des ganzen Betriebs ist.

Auch Promi-Klatsch aus der Partyzone

Da teilt Else Buschheuer (moderiert das Magazin „Kino Royal“ im MDR-Fernsehen) neueste Eindrücke aus ihren Kino- und DVD-Sitzungen mit. Da wirft die Deutsch-Türkin Hatice Akyün (Bucherfolg: „Einmal Hans mit scharfer Sauce“) Fragen zwischen den Kulturen auf oder verbreitet zur Entspannung Promi-Klatsch und Erlebnisse aus der Partyzone.

WR-Redakteur Jürgen Overkott liefert serienweise CD-Besprechungen und Interviews. Der Autor dieser Zeilen ist mit wechselnden Themen dabei und nicht unfroh, derzeit den Kommentar-Rekord (bis gestern 364 Äußerungen zu einem Beitrag) zu halten. Wobei die Anzahl der Kommentare gewiss kein alleiniges Gütesiegel ist. Beliebt sind übrigens allerlei Hitlisten, auch negative wie etwa: „Die größten Nervensägen im deutschen Musikgeschäft“. Jeder kennt welche.

Auch bei den – meist unter erfundenen Namen antretenden – Kommentatoren ist einiges Interesse und Kulturwissen vorhanden. Ein Aufenthalt für Banausen ist Westropolis somit nicht.

Ein geradezu familiäres Gefühl

Wie im richtigen Leben: Mit der Zeit stellt sich ein geradezu familiäres Gefühl ein, wenn man die Seite betritt. Nach und nach kennt man Vorlieben, Macken und Launen vieler Mitstreiter. Der eine ist streng, die andere spontan, der dritte allzeit witzig. Aha, da hat sich ja wieder X geäußert, Y ist auch online, aber Z ist eine ganz neue Stimme im Konzert und bereichert den Zirkel.

Je mehr Meinungen und Temperamente, umso besser. Dann diskutiert es sich doppelt so schön. Wer sich dabei auf unverbindliche Positionen zurückzieht („Das ist doch letztlich alles Geschmackssache“), der hat hier keine sonderlich guten Karten. Weichspülerei wird allenfalls zur Versöhnung nach einer Diskussion akzeptiert.

Längst nicht immer geht’s bei Westropolis bierernst zu. In manchem Thread (Fachwort für „Themen-Strang“) wird auch schon mal gealbert. Oder: Eine Kultur-Debatte kann sich unter der Hand in ganz andere Bereiche wie etwa Alltag, Sport oder Kochkunst schlängeln. Speziell am Wochenende kommt es (mitten im kulturellen Wortgemenge) immer wieder zu netten kleinen Sticheleien zwischen BVB- und Schalke-Anhängern.

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HINTERGRUND

Bestandteil von www.derwesten.de

  • Ein Blog (von „Weblog“) ist eine Art Online-Tagebuch eines oder mehrerer Autoren bzw. ein Gesprächskreis, der sich daran knüpft. Das Wort enthält den Bestandteil „Log“, der sich vom Seefahrer-Logbuch ableitet.
  • Die ersten Blogs tauchten um die Mitte der 1990er Jahre in Internet auf.
  • Streitfrage: Heißt es „der“ oder „das“ Blog? Der Duden lässt beides zu.
  • Westropolis ist Bestandteil von www.derwesten.de, des neuen online-Auftritts der WAZ-Mediengruppe, zu der auch die WR gehört.
  • Mehrere WR-Redakteure sind auch ständige Gastautoren bei Westropolis.
  • Westropolis ging im Februar 2007 an den Start. Seither wurden Kulturthemen aller Sparten und Güteklassen aufgegriffen.
  • Internet-Adressen: www.derwesten.de und www.westropolis.de

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Nachtrag 2019:

2011 komplett gelöscht

Aus bis heute unerfindlichen Gründen hat die WAZ-Gruppe (heute Funke-Gruppe) Anfang 2011 Westropolis komplett aus dem Netz genommen – mit allen Beiträgen und zigtausend Kommentaren. Ein brachialer Akt. Und von wegen: „Das Internet vergisst nichts.“ In diesem Falle eben doch. Weil es dazu gezwungen worden ist.

Zwei der damaligen Autoren sind inzwischen – allzu früh – verstorben, nämlich die erwähnten Manuel Hessling und Ingo Juknat. Friede sei mit ihnen.

Zwei anderen Mitwirkenden, deren Namen hier gnädig verschwiegen werden sollen, ist ihr bisschen Erfolg zwischenzeitlich sehr zu Kopf gestiegen. Schade eigentlich.

 




„Siehst du, jetzt fangen wir an! – Wie Romane beginnen

Vor zwei Tagen haben die Stiftung Lesen und die Initiative Deutsche Sprache den angeblich schönsten deutschsprachigen Prosa-Anfangssatz gekürt. Es war Günter Grass‘ lapidarer Einstieg in den „Butt“: „Ilsebill salzte nach.“ Nun denn.

Der Autor dieser Zeilen ist vor fast einem Jahr aufs selbe Thema gekommen, der folgende Artikel stand zu Silvester 2006 in der „Westfälischen Rundschau“, für Westropolis ist er jetzt rundum neu – gleichsam „remastered“. Und vielleicht taugt er auch zum nächsten Jahreswechsel, der ja nicht mehr allzu weit entfernt liegt:

Ein altes Jahr verrinnt, ein neues fängt an. Mit welchen Haltungen man wortwörtlich etwas Neues (und vielleicht Großes) beginnen kann, das lässt sich vielleicht bei den Schriftstellern ablesen. Wie haben sie ihre Romane eingeleitet? Wie lauten die ersten Sätze, die ja oft die schwierigsten sind?

„Es war ein launischer Frühling“

Nun, viele Autoren beginnen schlicht mit einer Naturbeobachtung oder einem Landschaftsbild. Oft schildern sie das Wetter: „Es war ein launischer Frühling“ (Virginia Woolf, „Die Jahre“). „Es war ein klarer, kalter Tag im April“ (George Orwell, „1984“). „Da eine Hitze von dreiunddreißig Grad herrschte…“ (Gustave Flaubert, „Bouvard und Pécuchet“). Oder, fast wissenschaftlich genau: „Über dem Atlantik befand sich ein barometrisches Minimum; es wanderte ostwärts…“ (Robert Musil, „Der Mann ohne Eigenschaften“).

Gertrude Stein („Ida“) stellt sinnigerweise eine neue Erdenbürgerin voran: „Ein Baby wurde geboren namens Ida.“ Andere nennen einfach erst einmal Epoche, Jahreszeit, Datum, Ort, um in den Erzählfluss zu gleiten. Vladimir Nabokov behauptet just in den Anfangssätzen eines Romans („Die Gabe“), vor allem deutsche Schriftsteller würden stets mit einem Datum beginnen. Wer’s glaubt . . .

„Ich beginne ein Unternehmen, das ohne Beispiel ist…“

Entschlossene Charaktere greifen sofort kräftig in die Harfe, um die schrecklich weiße erste Seite (oder die leere Datei) zu füllen. Sie trumpfen mit Besonderheiten auf. Es hat wohl generell etwas mit ihrem Zugriff aufs Dasein zu tun. „Zugegeben, ich bin Insasse einer Heil- und Pflegeanstalt…“ Diesen Satz stellt Günter Grass an den Beginn seiner „Blechtrommel“.

Irmgard Keun steigert sich gleich in Gefühle hinein: „Das war gestern abend so um zwölf, da fühlte ich, dass etwas Großartiges in mir vorging.“ („Das kunstseidene Mädchen“). Noch eine Spur weihevoller formuliert Peter Handke: „Einmal in meinem Leben habe ich bis jetzt die Verwandlung erfahren.“ („Mein Jahr in der Niemandsbucht“). Nabokovs genial-skandalöse „Lolita“ fängt mit haltloser Schwärmerei an: „Lolita, Licht meines Lebens, Feuer meiner Lenden.“ Am höchsten hinaus will Jean Jacques Rousseau mit seinen „Bekenntnissen“: „Ich beginne ein Unternehmen, das ohne Beispiel ist und das niemand nachahmen wird.“

„Den 20. ging Lenz durchs Gebirg“

Häufig fangen jedoch gerade aufregende Bücher betont unscheinbar an. Aber dann! Michel Houellebecq steigt in „Ausweitung der Kampfzone“ so lakonisch ein: „Am Freitagabend war ich bei einem Arbeitskollegen eingeladen.“ Georg Büchners Erzählung „Lenz“ steuert knapp auf den Leser zu: „Den 20. ging Lenz durchs Gebirg.“ Jonathan Swifts Ich-Erzähler lässt in „Gullivers Reisen“ wissen: „Mein Vater hatte einen kleinen Besitz in Nottinghamshire.“ Adalbert Stifters „Nachsommer“ hebt nüchtern an: „Mein Vater war ein Kaufmann.“ Herman Melvilles grandioser Wälzer „Moby Dick“ raunt uns eingangs kurz zu: „Nennt mich Ismael.“ Richard Fords Roman „Der Sportreporter“ meldet kurz: „Ich heiße Frank Bascombe. Ich bin Sportreporter.“

Gängig ist auch das Beschwören einer Bedrohung. Der vielleicht berühmteste aller ersten Sätze steht in Franz Kafkas „Der Prozess“: „Jemand mußte Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.“ Wolfgang Koeppen im Nachkriegsroman „Tauben im Gras“: „Flieger waren über der Stadt, unheilkündende Vögel.“ Thomas Pynchon in „Die Enden der Parabel“: „Ein Heulen kommt über den Himmel.“

Überboten werden solche Rätsel durch komplette Konfusion. Etwa so: „Heute ist Mama gestorben. Vielleicht auch gestern, ich weiß nicht.“ (Albert Camus, „Der Fremde“). Bei Rainald Goetz („Irre“) heißt es wie in Trance: „Ich erkannte nichts wieder.“ Nullpunkt-Gefühle auch bei Rolf Dieter Brinkmann („Keiner weiß mehr“): „Man hörte nichts mehr. Sämtliche Geräusche waren verstummt.“

„Wie froh bin ich, daß ich weg bin“

Das schiere Gegenteil sind behagliche Sätze wie dieser: „Eduard – so nennen wir einen reichen Baron im besten Mannesalter – Eduard hatte in seiner Baumschule die schönste Stunde eines Aprilnachmittages zugebracht…“ (Goethe, „Wahlverwandtschaften“). Noch behäbiger: Iwan Gontscharows fauler Antiheld „Oblomow“ liegt schon im ersten Satz zu Bette – und bleibt praktisch den ganzen Roman über liegen…

Verzagte Anfänge sind nicht selten, sie können durchaus fesselnde Romane einleiten: „Ich will nicht mehr kämpfen. Ich bin’s leid.“ (Ralf Rothmann, „Flieh, mein Freund!“). „Als ich aus dem Krankenhaus entlassen wurde, war ich erst recht am Ende.“ (Günter Herburger, „Flug ins Herz“). Schon anfangs am Ende. Unerhört…

Nun aber vorwärts! Etwas mehr Dynamik, bitte. Es bietet sich geradezu an, ein Buch mit einem Aufbruch oder einer neuen Freiheit beginnen zu lassen. Etwa so: „Wir starteten in la Guardia, New York, mit dreitägiger Verspätung infolge Schneestürmen.“ (Max Frisch, „Homo faber“). Goethes „Werther“ sagt’s rückblickend so: „Wie froh bin ich, daß ich weg bin.“ Der Ägypter Nagib Machfus bejubelt in „Miramar“ eine Ankunft: „Alexandria. Endlich!“ Alfred Döblin schreibt: „Er stand vor dem Tor des Gefängnisses und war frei.“ („Berlin Alexanderplatz“).

„Nie habe ich einen Roman mit größeren Hemmungen begonnen“

Eine weitere Sorte bezieht sich aufs Metier selbst. „Erzähl du. Nein, erzählen Sie!“ (Grass, „Hundejahre“). Bange Variante: „Nie habe ich einen Roman mit größeren Hemmungen begonnen.“ (Somerset Maugham, „Auf Messers Schneide“). Jean-Paul Sartre ermuntert sich in „Der Ekel“ selbst: „Das Beste wäre, die Ereignisse Tag für Tag zu notieren.“ Ein kluger Mann baut gegen etwaige Kritik vor: „Ich will mich für die Erzählung, die ich Ihnen anbiete, entschuldigen.“ (Harold Brodkey, „Profane Freundschaft“).

Die größten Romanprojekte gehen übrigens nahezu läppisch an den Start. James Joyce lässt im ersten Satz von „Ulysses“ einen Mann („stattlich und feist“) mit Utensilien zur täglichen Nassrasur auftreten. Marcel Proust („Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“, Vorspiel in „Combray“): „Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen.“ Und Thomas Manns sprachgewaltiger Roman „Buddenbrooks“ macht mit solchem Gestammel auf: „Was ist das. – Was – ist das…“ Botho Strauß rattert sich in seinen Roman „Der junge Mann“ derart hinein: „Zeit Zeit Zeit.“

Eine Strategie des Spannungsaufschubs verfolgt der wundersame Robert Walser. Er legt mit „Jakob von Gunten“ los und bremst sogleich: „Edith liebt ihn. Hievon nachher mehr.“ Hitchcock!

Hans Christian Andersen mag keine Umschweife. Der Erzähler des langen Märchen „Die Schneekönigin“ ruft eingangs: „Siehst du, jetzt fangen wir an!“ Vielleicht sollten wir genau so unverkrampft ans Neue herangehen.




Biermann revisited

Gestern Abend in der Schwerter Rohrmeisterei Wolf Biermann (wird in ein paar Tagen 71) live erlebt.

Musste mal sein, nach so vielen Jahren. Er ist schließlich einer, der stets „begleitend mitgelaufen“ ist auf dem Lebensweg. In mehr oder weniger großer Entfernung. Von „So oder so – die Erde wird rot“ bis zum Kulturkolumnisten der „Welt“ ist’s eben ein weiter Weg. Da kann man nicht jede Strecke mitgehen. Er ist keine Instanz mehr, aber doch einer, auf den man dann und wann hört. Und sei’s, um sich des Abstands zu vergewissern.

Seine notorische Eitelkeit ist immerhin hie und da halbwegs selbstironisch gebändigt. Wie er seinen eigenen Lebenshunger immer und immer wieder feiert. Je nun: Neun Kinder hat er mit diversen Damen in die Welt gesetzt, darin Günter Grass vergleichbar. Der jüngste Spross ist gerade mal 6 Jahre alt und heißt Molly, wie Biermann vaterstolz verkündete.

Dabei hat er etwas von einer traurigen Gestalt. Er betont unentwegt, wie er nach seiner DDR-Ausbürgerung 1976 sich neue, „westliche“ Themen habe aneignen müssen – und steckt doch ersichtlich bis heute ganz tief in diesem DDR-Trauma. Davon kommt er nicht los. „Frische Früchte vom alten Baum“ hatte er versprochen. Nun, so frisch sind sie eben nicht.

„Heimkehr nach Berlin Mitte“ ist ein dreistündiger, langwieriger Abend. Biermann scheint sich in seinem alten Berliner Wohnzimmer (Chausseestraße 131) im Freundeskreise zu wähnen und erzählt sehr, sehr viel, will gegen Schluss gar nicht mehr aufhören, obwohl schon das Saallicht grell aufleuchtet. Zuvor erläutertet er jedes Gedicht(lein) ausführlichst, vielfach mit pädagogischem Unterton. Anschließend singt er’s dann jeweils noch. So tragfähig aber sind die meisten seiner neueren Texte nicht, dass sie eine solche Verdoppelung aushielten.

Natürlich sind da auch einige intensive Momente. Seine andauernde Trauer um die einstigen Mit-Dissidenten Robert Havemann und Jürgen Fuchs ist einfach wahr und wahrhaftig. Gewiss auch seine (unerfüllte) Sehnsucht, das Frankreich der Troubadoure betreffend.

Nach dem Verlust aller Gewissheiten (bis auf jene, dass Heinrich Heines „Freiheitskrieg“ aus dessen Gedicht „Enfant perdu“ fortzuführen sei) besingt Biermann den „Phantomschmerz der Utopie“. Manchmal hätte man halt gern wieder die gedanklichen Krücken von einst. Und, so der bekennende Atheist: Auch das Christentum sei eine taugliche Krücke – wenn es denn der inneren Stärkung dient.




Unterwegs in eine stille und gütige Welt – „Die Unbeholfenen“ von Botho Strauß

Wo brüten sie gleichsam über der Weltformel, wo denken sie über unser aller Rettung nach? Botho Strauß führt uns mit seinem Buch „Die Unbeholfenen” in ein eher unscheinbares Fachwerkhaus inmitten eines schäbigen Gewerbegebiets.

Dort denkt eine merkwürdige Gruppierung über die offenbar zerstörerischen Triebkräfte der Gegenwart nach – und darüber, ob man Einhalt gebieten und umkehren kann. Das klingt nach Erweckung.

Der Ich-Erzähler namens Florian Lackner fühlt sich zunächst unbehaglich fremd in diesem Kreise. Am Gängelband seiner neuen Liebschaft Nadja ist er in die Abgeschiedenheit ihres elternlosen Familienverbands geraten. Zwei Schwestern (davon eine Stumme, die sich nur per SMS verständigt), einen Bruder (im Rollstuhl) und ihren arroganten Ex-Liebhaber Romero hat sie um sich geschart.

Das Spinnennetz
der Gegenwart

Wenn sie sich in meist hohem, manchmal beinahe priesterlichem Ton mitteilen, ist es weder Monolog noch Zwiesprache, sondern eine Art Reigen des Redens, ein Weiterreichen der Worte – wie in einem Denker-Orden oder einem Geheimbund.

Man vernimmt Bruchstücke einer wehen Zeitdiagnose, aus der man noch und noch zitieren könnte – ob nun einverständig oder ablehnend. Bewusstseinskrise und Verluste, wohin man nur blickt. Unsere technisch überrüstete, jede existenzielle Not dämpfende „Komfortgesellschaft” lässt demnach kein wirkliches Lebensschicksal mehr an uns heran, wir führen nur noch ein Schattendasein. Ob Strauß sich für diesen Befund wirklich überall im Lande umgesehen hat? Und ob er dabei alle Gegenden der Erde im Sinn hatte?

Spätestens durchs allgegenwärtige Spinnennetz des Internet, so Strauß weiter, sind wir dermaßen überinformiert, dass diese Fülle in umfassende Demenz umschlägt. Nichts geht uns mehr wirklich und zuinnerst an. Gesteigerte Endzeit-Vision: Das herkömmliche Menschenbild wird mehr und mehr biotechnischen Neuronenspeichern ausgeliefert, die irgendwann gänzlich unsere Stelle einnehmen werden. Schließlich ist von einem alles niederwalzenden Feuerball die Rede . . .

Heilserwartung ist nicht fern

Schleichende und rasende Apokalypse also. Solche Ängste ziehen seit alters her Heilserwartung nach sich. Bei Strauß ist es nicht anders. Bloßer Verstand hilft nach seiner Lesart nicht weiter. Dringlich ist die Sehnsucht seiner Figuren nach einem für alle heutigen Menschen verbindlichen Leitbild, ja nach neuem Heiligtum. Verzückung statt Aufklärung. Trance statt Scharfsinn. Auch „vordemokratische Ideale” werden raunend beschworen, doch nicht konkret benannt. Vielleicht sind ja auch Edelmut und Minne der Ritterzeit gemeint?

Wer meint, Strauß wärme hier den fatalen deutschen Hang zu rauschhaftem Untergang auf, der irrt gründlich. Zielgebiet ist eine nicht luxuriöse, eine karge, stillere Welt, in der man einander gütige Schonung angedeihen lässt und in Anschauung großer Symbole innerlich aufblüht.

Nicht so sehr Menschen aus Fleisch und Blut reden in dieser Abhandlung, sondern Lektürefrüchte (Wolfram von Eschenbach, Hölderlin, die Romantiker) und Mythen, aus denen Einsprüche gegen herrschende Stimmungen fließen. Eine „Bewußtseinsnovelle” nennt Strauß seinen gedankenreichen, mitunter gedankenschweren Text. Das äußere Geschehen bleibt begrenzt. Erst recht gibt es keine „unerhörte Begebenheit”, wie sie in der Novellen-Gattung traditionell üblich war.

Dennoch geht es nicht nur um die Hirnwindungen, sondern auch um die Körper. Man merkt, dass der Autor viel fürs Theater gearbeitet hat. Häufig notiert er, wie sich seine Personen im Raum postieren: miteinander, ohne einander, gegeneinander. Wie bei einer Bühnen-Stellprobe.

Am Ende nimmt der Erzähler Abschied von den Geisterstimmen. Man spürt Erleichterung. Wohin er so entspannt aufbricht, bleibt ungewiss. So wie unsere Zukunft.

Botho Strauß: „Die Unbeholfenen.” Hanser Verlag, 123 Seiten, 12,90 Euro.

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ZUR PERSON:

  • Botho Strauß wurde am 2. Dezember 1944 in Naumburg/Saale geboren.
  • 1967-1970 Redakteur und Kritiker der Fachzeitschrift „Theater heute”.
  • 1970-1975 Dramaturg der Schaubühne am Halleschen Ufer in Berlin.
  • 1977 Uraufführung seines Stücks „Trilogie des Wiedersehens”.
  • Weitere wichtige Werke: „Groß und klein” (Stück, 1978), „Rumor” (Roman, 1980), „Paare, Passanten” (Prosa, 1981), „Niemand anderes” (Roman, 1987), „Die Zeit und das Zimmer” (Stück, 1989), „Wohnen, Dämmern, Lügen” (Prosa, 1994), „Mikado” (Prosa, 2006).
  • Höchst umstritten war sein Essay „Anschwellender Bocksgesang” (1993). Manchen linksliberalen Kritikern gilt Strauß seither als potenziell „rechtslastig”. Ein weites Feld.