„Hütchen sind immens wichtig“ – Frank Goosen auf Lesereise

„Schnell rein, schnell raus. Keine Gefangenen.“ Dieser Plan ist schon bei Stefan, der Hauptfigur in Frank Goosens neuem Roman „Sommerfest“ nicht aufgegangen. Natürlich kommt auch der Erfinder des „Woanders-iss-auch-Scheiße-Koffergurts“ bei seiner Lesereise (z. B. jetzt im Ebertbad Oberhausen) nicht nur einfach schnell rein und schon gar nicht schnell wieder raus.

Will er wohl auch gar nicht. Goosen ist ja nicht nur Schriftsteller, sondern auch gelernter Kabarrettist. Die Erfahrungen aus den Lehrjahren mit den „Tresenlesern“ kommen ihm heute zugute.

Einen klug ausgewählten Querschnitt aus dem neuen Buch trägt er vor. Das Publikum bekommt einen guten Einblick, bleibt aber dennoch neugierig auf das große Ganze. Seine Romanfiguren, „die bedrohte, schützenswerte Sprache des Ruhrgebiets“ und „die Storys, die nur so auf der Straße liegen„, er erweckt sie gekonnt zum Leben. „Vorgelesen gewinnt das Buch enorm. Von mir aus kann er mir das jetzt auch ruhig ganz von Anfang bis Ende vorlesen, auch wenn ich es schon kenne“ – so eine begeisterte Dame im Publikum. Wie sich überhaupt das ganze Publikum dankbar mitnehmen lässt auf den teils nostalgischen, teils witzigen Road Trip durch ein Wochenende im  Ruhrgebiet. „Kennwa doch allet, ham wa genauso schon imma gesacht und gehört. Gut, datt datt ma einer aufschreiben tut.“ Da ist Frank Goosen ganz der Toto Starek aus dem Roman. Am besten ist Goosen aber immer dann, wenn er das starre Korsett des reinen Vorlesens verlässt und hintergründige Dönekes zur Entstehungsgeschichte des Buches erzählt.

Dennoch – das Ganze war „ja schließlich eine literarische Veranstaltung„. Wie es sich gehört bei so einer literarischen Veranstaltung, durften im Anschluss gerne Fragen zum Werk und zum Schaffen des Autors gestellt werden. Aber Goosen wäre nicht Goosen, das Ruhrgebiet nicht das Ruhrgebiet, wenn dieser gute Vorsatz auch nur die erste Frage überdauert hätte. Gibt ja schließlich auch noch andere Nebensachen, die das Leben des Frank Goosen und vieler Ruhrgebietler schön machen. Fußball zum Beispiel. Da sind sie alle sofort in ihrem Element. Auch wenn Goosen nicht unbedingt von unten in Richtung Champions League sticheln und sich nicht lange bei dem königsblauen Verein aufhalten will, der mehr Schulden hat als die Stadt Oberhausen… Da verläßt man auch mal kurz die kabarettistische Ebene und bekundet Solidarität mit Rot-Weiß-Oberhausen, die man auch jenseits des Gasometers gerne nicht viertklassig sehen möchte.

Ziemlich witzig wird es dann aber wieder, wenn Goosen von seinen ersten Erfahrungen als Trainer einer ambitionierten E-Jugend bei Arminia Bochum erzählt. Da erkennt sich mehr als eine Mutter oder Vater im Saal einwandfrei wieder. Der fußballverrückte Goosen erzählt, wie sehr geehrt er sich bei der Übergabe des Schlüssels zum Fußballplatz gefühlt hat und welch Aphrodisiakum dieser Schlüssel für ihn ist. Und dass er nun endlich seine Hütchen-Philosophie ungehindert ausleben kann. Hütchen sind nämlich immens wichtig beim Training, völlig zu Unrecht unterschätzt. Schön, dass dies nun auch geklärt wäre.

Man muss Frank Goosen das wirklich lassen. Erzählen kann er, frei von der Leber weg, schlagfertig und spontan. Da hält er es mit seiner Omma, „von der er datt Erzählen gelernt hat„. Wenn er dieser mit der Frage kam, ob das alles wirklich genauso passiert ist, hat sie wiederum ihn immer gefragt: „Und? Hasse Dich gelangeweilt?“ Nee, ma echt. Gelangweilt ham wa uns nicht. Goosen wächst immer mehr in die Rolle des Chronisten, des Geschichtenbewahrers des Ruhrgebiets hinein. Einige Termine stehen noch an. Karten sind allerdings schwer zu kriegen. Aber es lohnt sich.

Die nächsten Termine auf der Homepage des Autors.
Rezension des Buches in den Revierpassagen.
Foto mit freundlicher Genehmigung von Goosens Management, der connACT Gmbh, Köln.




Hermann Ungars Roman „Die Klasse“: Ein Lehrer leidet wie ein Hund

Einer gegen alle: Der Lehrer Josef Blau fühlt sich immerzu von aufsässigen Schülern umzingelt und im Wesenskern bedroht. Falls er kein strenges Regiment führt und dabei jede Maßnahme strategisch plant, droht die allzeit schlummernde Rebellionsbereitschaft aufzulodern und ihn zu vernichten. So denkt Blau jedenfalls. Kein Augenblick, der nicht mit Angst getränkt wäre. Einer gegen alle, auch gegen sich selbst.

Hermann Ungar hat 1927 in seinem Roman „Die Klasse“ eine Innenansicht des Verfolgungswahns gezeichnet. Gemeint ist nicht nur die Schulklasse, sondern auch die Klasse als soziale Schichtung. Man kann hier schaudernd in die Gefühlswelt eines durch und durch verkorksten Pädagogen jener Zeit eintauchen. Vor allem in der ersten Hälfte liest sich das Buch über weite Strecken als aufregend dicht gewobenes Psychogramm, als beklemmende Studie einer Gemütskrankheit, die nicht nur zeitbedingte Seiten hat.

Das Elend dieses Lehrerdaseins wuchert weit über schulische Fragen hinaus. Auch privat fühlt sich dieser Josef Blau zuinnerst mickrig – neben seiner drallen Partnerin Selma, die ein Kind von ihm erwartet, was der Erzeuger freilich bloß als tragische Verstrickung erlebt, die er am liebsten aller Welt verschweigen würde. Mit dem feschen Leopold taucht just jetzt ein neuer Lehrertypus als Gegenfigur an der Schule auf; ein Mann der neuen Zeit, beliebt bei allen Schülern, Naturbursche und Turner, gewiss auch Frauenheld, wie Blau argwöhnt. Deshalb zwingt er Selma, der er pauschal Gelüste auf andere Männer unterstellt, bodenlange Röcke zu tragen und das Haar abzuschneiden, damit sie nur ja keine Begehrlichkeiten wecke. Das ganze puritanische Arsenal.

Zu allem Überfluss lässt sich Blau vom barock-gargantuesken „Onkel Bobek“, einer mit Inbrunst gezeichneten, vor Fress- und Sauflust schier berstenden Gestalt, eine namhafte Bürgschaft abschwatzen. Und das, obwohl der Lehrer (gerade im Vergleich zu seinen großbürgerlichen Schülern) in bescheidenen Verhältnissen lebt. Wehe also, wenn Bobek das Geld vertrinken sollte!

Auch damit noch nicht genug, es sammelt sich weiteres Unheil über diesem Hiob: Einziger Ratgeber Blaus ist eine Jugendbekanntschaft, ein mephistophelischer Mensch namens Modlizki, der alle Bürger mitsamt den Aufsteigern (auch Lehrer) hasst, jedoch mit den übelsten Schülern im zwiespältigen Bunde zu stehen scheint. Er geleitet die – wie man damals vielleicht gesagt hätte – „mannbaren“ unter ihnen auch schon mal ins „Frauenhaus“, vulgo Bordell, um sie zu verderben. Aus Lust an Skandal und Untergang flüstert er Blau einen Hinweis zu, wann es wieder so weit sein wird. Fürchterliche Folge: Der Schüler Laub (Obacht: die gleichen Buchstaben wie im Namen Blau) erhängt sich, weil er sich vom Lehrer am Ort der Fleischeslust ertappt sieht. Nun, das ist eben doch schon ein paar Jahrzehnte her.

Leider steigert sich die Geschichte von jetzt an geradezu haltlos in ein existenzielles, quasi-religiöses Läuterungsdrama hinein. Blau sieht nun überall Gotteszeichen, spricht gleichsam in Zungen, stammelt wie ein seltsamer Heiliger. Alles, was jemals von ihm ausgegangen ist, möge getilgt werden. Alle Menschen sind Schüler einer einzigen großen Klasse. Und überhaupt…

Trotz solcher Einwände lohnt es sich, Hermann Ungars Roman zu lesen. 1929 mit nur 36 Jahren gestorben, hat er ein schmales Werk geschaffen, das anfangs die Aufmerksamkeit, ja den Enthusiasmus Thomas Manns weckte, der allerdings bald vor Ungars Radikalität der Menschenschilderung zurückschreckte. Man hat ihn in einer Traditionslinie zwischen Kafka und Freud sehen wollen. Solche Vergleiche sind meistens misslich. Ungar ist Ungar. Und das ist in vielen Belangen mehr als genug.

Hermann Ungar: „Die Klasse“. Roman. Nachwort von Ulrich Weinzierl. Manesse Verlag. 320 Seiten, 19,95 Euro.