Malocherhölle Ruhrgebiet: „Rote Erde“ im Grillo-Theater

Freizeitpark Ruhrgebiet 2012: 20 Jungmänner lümmeln auf Liegestühlen und beklagen ihr Schicksal. Nach Hauptschulabschluss keinen Job gekriegt, nach zehn unbezahlten Praktika immer noch arbeitslos. 20 Euro mehr im Monat für Arbeit als wie für Hartz IV – wie doof ist das denn?

Rote Erde/Schauspiel Essen

Rote Erde/Schauspiel Essen

Malocherhölle Ruhrgebiet, rund hundert Jahre zuvor: Schweiß, 15-Stunden-Schichten, Dreck, Vorgesetzen-Brutalität und Staublunge. Unter dem Titel „Rote Erde“ verschränkt Regisseur Volker Lösch im Essener Grillo die Schicksale von Jungmännern im Revier gestern und heute für die Bühne.

Wer Klaus Emmerichs Fernsehserie „Rote Erde“ von 1984 kennt, muss allerdings mit einer abgespeckten Version vorliebnehmen: Statt in epischer Breite werden hier die Schicksale des Sozialisten Karl (Urs Peter Halter), seiner Eltern, seiner Schwester (Laura Kiehne), des polnischen Arbeiters Bruno (Krunoslav Šebrek) und des hitzköpfigen Otto (Glenn Goltz) in kurzen Szenen und mit spartanischen Mitteln erzählt. Die historische Ebene kündigt sich jeweils mit Bühnennebel an, Unfälle unter Tage werden mit aufgehäuften Briketts simuliert. Ansonsten haben die Schauspieler und der Laien(Chor), der allerdings geschickt ins Geschehen integriert ist, nur ihren Bizeps und ihre kohlegeschwärzte Haut zu Markte zu tragen, die sich im Laufe der Inszenierung und mit fortschreitender Politisierung rot färbt. Ach ja, und eine Spitzhacke trägt jeder bei sich, die auch mal drohend in Richtung Bergwerksdirektor geschwenkt wird.

So plakativ, so gut: Tatsächlich hat der Geschichtsunterricht live einige positive Lerneffekte. Er motiviert, sich einmal mehr der Historie zuzuwenden und sich so als Ruhrgebietsmensch seiner selbst zu vergewissern. Und es gibt endlich Helden. Was waren das damals für Kerle, die ihren Vätern trotzten, die sich jeden Tag der Schinderei und der Gefahr aussetzten, die für ihre Rechte kämpften und manchmal auch dabei draufgingen anstatt den ganzen Tag Unterschichtsfernsehen zu glotzen und herumzujammern wie heutzutage. Die Politik machten und streikten, die ausgesperrt wurden und nichts zu fressen hatten. Die ihren Stolz als Arbeiter entdeckten und ihn als Funktionär im roten Seidenanzug in Berlin auch wieder verloren.

Sozialromantik in Reinkultur, bis an die Schmerzgrenze. Doch wenigstens sind am Schluss die Liegestühle weggeräumt und die Jungmänner zeigen Muskeln und Kante. Ob wirklich alle zu Helden taugen, ist noch nicht raus, aber Vorbilder hat Volker Lösch jetzt schon mal geschaffen. Eine Etage höher, zwei Stunden später gibt es dann Heldenpop in der Heldenbar. Auf der Tanzfläche nur Mädchen mit Handtaschen – schrecklich. Alles Weicheier.

Infos: www.schauspiel-essen.de




Zwischen Weltgeltung, Utopie und herben Verlusten: Das Hagener Osthaus-Museum spürt seiner Geschichte nach

Hagens Osthaus-Museum nimmt jetzt die eigene Geschichte in den Blick – von den Uranfängen anno 1902 bis heute. Doch man geht dabei nicht streng geordnet vor, sondern gleichsam essayistisch, kursorisch, nach Art von Flanierenden.

Damit macht man aus der Not eine Tugend. Denn weite Teile der ursprünglichen Bestände sind ja nicht mehr zur Hand, so dass in einer bloßen Chronologie arge Lücken klaffen müssten. Bekanntlich sind die hochbedeutenden Kernbestände der Sammlung im Jahr 1922, nach dem Tod des Hagener Mäzens und Museumsgründers Karl Ernst Osthaus (1874-1921), nach Essen gelangt. Sie bildeten dort den reichen Fundus des heutigen Folkwang-Museums. In Essen frohlockten sie über den immensen Zuwachs, denn Osthaus hatte mit den Bilderschätzen (u. a. Renoir, Van Gogh, Cézanne) in Hagen ab 1902 das weltweit erste Museum für zeitgenössische Kunst begründet, und zwar gegen den herrschenden Ungeist der Zeit, in der Kaiser Wilhelm II. die Werke der Franzosen als „Rinnsteinkunst“ bezeichnete.

Die wirtschaftsmächtigen Essener konnten Osthaus’ Erben einfach mehr Geld bieten, als Hagen es vermochte. Auch Gerichtsprozesse ums Kunsterbe fruchteten nichts. Es war ein gigantischer Verlust, im Grunde bis heute nicht völlig zu verschmerzen. Hagen verfiel damals für Jahre in eine Art Schockstarre. Erst 1930 wurde mit dem Rohlfs-Museum wieder nennenswertes Neuland betreten. Doch diesen Künstler wiederum verfemten die Nazis bald darauf als „entartet“. Den Hagenern gingen in der Folgezeit rund 400 Werke von Christian Rohlfs verloren – nicht zuletzt durch Plünderung. Eine Sammlungsgeschichte mit Verlusten und Verwundungen.

Ferdinand Hodler: "Der Auserwählte" (1903, zweite Fassung), Öl auf Leinwand, © Osthaus Museum Hagen.

Ferdinand Hodler: "Der Auserwählte" (1903, zweite Fassung), Öl auf Leinwand, © Osthaus Museum Hagen.

Den zentralen Platz im Entrée der Ausstellung „Der Folkwang Impuls. Das Museum von 1902 bis heute“ nimmt nun Ferdinand Hodlers grandioses Gemälde „Der Auserwählte“ (1903) ein, das gottlob noch zum Hagener Besitz zählt. In diesem Kontext wird noch einmal überdeutlich: Das Werk sollte nie und nimmer verkauft werden dürfen, so sehr steht es für den lebensreformerischen Impuls der Anfangszeit. Zwischenzeitlich hatte es ja Gerüchte gegeben, dass Lokalpolitiker der überschuldeten Stadt Hagen auf einen namhaften Millionenerlös bei britischen Versteigerern spekulierten.

Karl Ernst Osthaus hat keineswegs nur Impressionisten und später Expressionisten gesammelt. Das Hagener Folkwang-Museum hat er sich ungleich vielfältiger vorgestellt. Er war offen auch für außereuropäische Schöpfungen. Von ausgedehnten Reisen, insbesondere in den Orient, hat er zahlreiche Kunstgegenstände mitgebracht, die jetzt großzügig präsentiert werden.

Gebrauchskunst in Handel und Gewerbe sowie Architektur gehörten gleichfalls zu seinen Vorlieben. Überdies hegte der Mann, der durch eine Erbschaft (nach heutigem Wert ca. 30 Millionen Euro, bei relativ moderaten Preisen auf dem Kunstmarkt) unabhängig geworden war, naturwissenschaftliche Interessen. Er besaß eine heute verschollene Kollektion mit Abertausenden von Schmetterlingen und Käfern. Besonders die Farbenpracht der Schmetterlinge hat Osthaus fasziniert. Mit all dem verfolgte er – im Zeichen eines gehörig erweiterten Kunstbegriffs – durchaus pädagogische Absichten. Kunst sollte das ganze Leben ergreifen und die Menschen durch Schönheit veredeln. Welch ein Impuls, welch eine Vision, welch eine Utopie!

Osthaus’ Lebensstationen und seine staunenswert vielfältigen Interessen werden nicht nur mit Kunstwerken, sondern auch anhand von zahlreichen Archivalien (Briefe, Dokumente, Fotos, Plakate etc.) belegt, denn immerhin zählt seit 1963 das Osthaus-Archiv zum Hagener Bestand. Wohl noch nie wurde es für eine Ausstellung derart gründlich ausgewertet wie jetzt durch den emsigen Kurator Christoph Dorsz.

Mit der auf 2300 Quadratmetern in Alt- und Neubau weit ausgreifenden Schau würdigt man zwar zwangsläufig auch die großen Gründungsjahre von 1902 bis 1922, als hier ein veritables Weltmuseum entstand, doch weitet man die Perspektive. Schließlich ist auch in den „restlichen“ 90 Jahren seither weiter gesammelt worden; nicht immer, aber doch wesentlich den frühen Folkwang-Impulsen folgend. Die bringen vor allem die Verpflichtung mit sich, ein waches Augenmerk auf die jeweilige Gegenwartskunst zu haben und dabei auch die örtliche und regionale Szene nicht zu vernachlässigen.

Nach 1945 hat die damalige Osthaus-Chefin Herta Hesse-Frielinghaus die verbliebenen Bestände durch Neuerwerbungen nach Kräften verdichtet. Nun wurden beispielsweise auch Arbeiten der Informel-Künstler, darunter natürlich der Hagener Emil Schumacher, gesammelt. Schritt für Schritt kann man an ausgesuchten Beispielen die Genese des heutigen Eigenbesitzes verfolgen.

Hier kommt einiges am passenden Platze zusammen. Es wird etwas vom Geist des Gründervaters spürbar, je mehr man in die Dokumente eintaucht. Auch Facetten des allgemeinen Zeitgeistes lassen sich erahnen. Und schließlich waltet der Geist des Ortes, vor allem im imposanten Brunnensaal des Museums, dessen historische Zusammenhänge hier gleichfalls beleuchtet werden.

Die Ausstellung ist somit auch eine Selbstvergewisserung des jetzigen Teams um Museumsleiter Tayfun Belgin. Dem Bezug zur lokalen Szene etwa kommt man nach, indem auf Bilder der weltkriegszerstörten Stadt Hagen die Schwarzweiß-Fotos des jungen Hagener Fotokünstlers Andy Spyra folgen. Er hat den Folgen des irakischen Bürgerkriegs für die verbliebenen Christen nachgespürt. Was als thematischer Bruch erscheinen könnte, gehört in Wahrheit hierher. Auch die Dialoge mit den Rändern des Kontinents und mit nicht-europäischer Kunst will man bewusst weiterführen. 2010 war die Türkei an der Reihe, 2013 wird Korea folgen.

Mit dieser Ausstellung begibt sich das Museum auf Spurensuche nach seiner Identität. In Essen (das einige Leihgaben zu den 300 Exponaten beisteuert) hätten sie das wohl nicht in diesem Maße nötig. Aber gerade solche schweifenden Suchbewegungen können ja neue Wege im Gefolge der Traditionen weisen.

„Der Folkwang Impuls. Das Museum 1902 bis heute“. 21. Oktober 2012 bis 13. Januar 2013. Osthaus Museum Hagen. Museumsplatz 3 (Navigation: Hochstraße 73). Geöffnet Di/Mi/Fr 10-17, Do 13-20, Sa/So 11-18 Uhr. Katalog 19, 90 Euro. Eine Reproduktion der 1912 – also vor 100 Jahren – erschienenen ersten Hagener Folkwang-Katalogbroschüre kostet 4 Euro.
Internet: www.osthausmuseum.de




„Reise durch die Nacht“: Saisonauftakt im Schauspiel Köln

Es ist nicht einfach, mit einer Dichterin zusammenzuleben. Stimmungsschwankungen, Schlafstörungen und viel zerknülltes Papier. Und auf engstem Raum wird die Beziehung noch komplizierter: Zum Beispiel in einem Zugabteil auf einer „Reise durch die Nacht“ nach der Erzählung von Friederike Mayröcker, bearbeitet und inszeniert von Katie Mitchell für das Schauspiel Köln.

 DURCH DIE NACHT (NIGHT TRAIN) / SCHAUSPIEL KOLN 2012/© Stephen Cummiskey

REISE DURCH DIE NACHT (NIGHT TRAIN) / SCHAUSPIEL KOLN 2012/© Stephen Cummiskey

Nach „Wunschkonzert“ von Kroetz, „Die Wellen“ von Virginia Woolf und „Ringe des Saturn“ von W.G. Sebald ist dies nun eine weitere Inszenierung im Katie-Mitchell-Stil und zugleich der Saisonauftakt von Karin Beiers letzter Spielzeit in Köln. Diesmal ist ein Eisenbahnwaggon aus den 80er Jahren auf die Bühne der Halle Kalk gebaut, in deren Abteilen der Live-Dreh der Szenen beobachtet werden kann, die zeitgleich auf der großen Leinwand über dem Zug zu sehen sind. Auch diesmal funktioniert das Arrangement grandios, entfaltet sich die Geschichte der verzweifelten Schriftstellerin und ihrem stumm-gequälten Partner in einer Vielschichtigkeit, Simultanität und Abgründigkeit, die den im letzten Abteil eingesprochenen Mayröcker-Text zum (Er)leben erweckt.

Der Zug fährt von Paris nach Wien, doch unsere Autorin (Julia Wieninger) scheint nicht glücklich darüber: Die Schatten der Vergangenheit holen sie ein und produzieren quälende Szenen in ihrem Kopf. Von ihrem Vater, der gegen die Mutter gewalttätig war, von zerbrochenem Spielzeug, Angst und Schmerz. Gedreht werden diese Szenen im Abteil links, inklusive Weihnachtsmusik, fallendem Schnee und trügerischem Kerzenschein. Die Kamera ahmt in Froschperspektive den Blickwinkel des Kindes nach; auch hier zeigt sich wieder die ungeheure Sorgfalt, mit der Katie Mitchel und ihr Team ihre Methode inzwischen perfektioniert haben. Tatsächlich tritt in „Reise durch die Nacht“ die Offenlegung des Produktionsprozesses gegenüber den vorherigen Inszenierungen etwas zugunsten der dramatischen Entwicklung der Handlung zurück, was aber durchaus stimmig ist.

Wer seine nächtlichen Interrail-Fahrten in den achtziger Jahren nicht vergessen hat, kann das rastlose Umherwälzen der Autorin in der Bahnpritsche nachfühlen. Drei Uhr nachts zeigt der Reisewecker, „schon seit langem leide ich an schweren Schlafstörungen.“ Ruhelos, getrieben streunt sie durch den schwankenden Zug und stolpert in einen Quickie mit dem smarten Schaffner hinein, hungrige wahllose Leidenschaft, kalt ausgeleuchtet aufm Bahnhofsklo. Während der mitreisende Mann (Daniel Betts) im Pyjama und Schlafmaske in der unteren Pritsche im Tiefschlaf liegt. Rache der Schlaflosen an dem, der die Fähigkeit hat, vor den eigenen Gespenstern in den Traum zu flüchten? Am Morgen dann muss sie dem Lebensgefährten ausführlich beim Zähneputzen und Bartschneiden zusehen. „Dieser Einheitsmensch, dieser Einspurmensch“, klingt es in ihrem Kopf – Hass kann auch subtil sein.

Doch der Pedant geht noch aus sich heraus, als er nämlich seine Frau beim Knutschen mit dem Schaffner erwischt: Plötzlich prügelt der kalte Gefährte sich hitzig, der Zug schwankt und draußen zieht verregnetes Österreich vorbei. Die Frau schreibt, die Frau zerreißt das Geschriebene, vom realen Geschehen eher befremdet, denn berührt. Am Schluss fährt der Zug unter monotoner Ansage in Wien Westbahnhof ein. Die Autorin steigt aus, im Blick nur ein wenig mehr Einsamkeit als beim Einsteigen. Das Manuskript wird von der Putzfrau entsorgt. Endstation.




Meilensteine der Popmusik (20): Simon & Garfunkel

Der Jahresanfang 1970 brachte ein neues Album der Superlative. Simon & Garfunkel sollten ihre gemeinsame Erfolgskarriere mit „Bridge over troubled water“ krönen – und gleichzeitig auch beenden.

Die beiden Schulfreunde aus dem New Yorker Stadtteil Queens machten in den 60-er Jahren den Folkrock weltweit populär. Sie wurden zum erfolgreichsten Duo seit den legendären Everly Brothers. Was die Öffentlichkeit nicht bemerkte: Die Beziehung der beiden war von Anfang an mit Spannungen belegt. Spätestens bei der Produktion zu „Bridge over troubled water“ kamen diese ziemlich heftig zum Ausbruch. Der Kopf der beiden, Songwriter Paul Simon, packte 1972 über ihre letzte gemeinsame Studio-LP aus: „Es war kein Spaß damals zusammen zu arbeiten, es war Knochenarbeit. Art sagte, dass er diese Platte eigentlich gar nicht machen wollte – ich musste trotzdem da durch, wusste aber, dass es, nach diesen persönlichen Reibungen, mit uns einfach nicht mehr weitergehen konnte …“

Während der Aufnahmen war Art Garfunkel schon intensiv mit seinem Film „Catch 22“ beschäftigt, so dass bei einigen Songs Paul Simon solo zu hören ist. Ein Simon & Garfunkel-Album also… und dennoch kein richtiges. Die Trennung war hier schon eigentlich perfekt, aber der Krach ging trotzdem weiter. Paul Simon hatte für das Album ein Stück geschrieben mit dem Titel „Cuba si, Nixon no“. Der damals hochbrisante politische Inhalt war dem Kollegen Garfunkel zu heiß, er lehnte ab. Die Retour-Kutsche kam prompt: Einen neu aufgenommenen Bach-Coral, den Art Garfunkel favorisierte, schmiss Paul Simon aus der Produktion. So blieben statt der zwölf vorgesehenen Lieder nur elf übrig.

Ein Wunder, dass in diesem Chaos der Animositäten und Intrigen eine der schönsten und erfolgreichsten LP’s der Pop-Geschichte entstand. Die Bilanz: Hits wie „The Boxer“, „El condor pasa“, und „Cecilia“. Weit über 10 Millionen verkaufte LP’s, noch einmal so viele Singles. Dafür gab es insgesamt 6 Grammys. Das lag natürlich auch am Titelsong, der damals stündlich in den US-Radiostationen zu hören war. Doch auch um diesen Gesangspart gab es damals Streitigkeiten. Art Garfunkel sollte ihn übernehmen, wollte erst nicht, sang dann aber trotzdem. Seltsamerweise so intensiv und so schön, wie wohl vorher und nachher nie wieder. So hatte er entscheidenden Anteil am weltweiten Erfolg dieses Liedes, das Paul Simon komponiert hatte. Dieser wiederum gab später zu, wie neidisch er auf diesen Erfolg seines ehemaligen Partners war. Wenn bei den wenigen Malen, die Simon & Garfunkel noch live auftraten, „The bridge“ erklang und Paul Simon den Hauptscheinwerfer verließ, dann tobte das Volk zum Gesang von Art Garfunkel. Im Hintergrund wurde Paul dann eifersüchtig: „Das ist mein Lied, Mann, vielen Dank. Ich habe dieses Lied geschrieben!“ Spätestens dann versteht man diesen kleinen, und doch so großen Poeten Paul Simon, der in den Jahren danach als Künstler bewiesen hat, dass Art Garfunkel eigentlich nur die Nummer Zwei war. Heute, nach vielen Jahren und einer  Versöhnung mit Garfunkel hat Simon schon zugeben müssen, dass seine Stimme die Höhen von „The bridge“ wohl nicht so sauber gemeistert hätten wie die von Art Garfunkel.

Paul Simons Soloplatten machten ihn später zu einem der bedeutendsten Rock-Poeten seiner Zeit. Ein Amerikaner, der seiner Heimat in tiefer Zuneigung, doch teilweise sehr kritisch begleitete. Zudem ein prominenter Fürsprecher der Worldmusic, dessen Ruhm auch als 70-jähriger immer noch Bestand hat.

Simon & Garfunkel on Dailymotion

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Die vorherigen “Meilensteine”:

Peter Gabriel (1), Creedence Clearwater Revival (2), Elton John (3), The Mamas and the Papas (4), Jim Croce (5), Foreigner (6), Santana (7), Dire Straits (8), Rod Stewart (9), Pink Floyd (10), Earth, Wind & Fire (11), Joe Cocker (12), U 2 (13), Aretha Franklin (14), Rolling Stones (15), Queen (16), Diana Ross (17), Neil Diamond (18), Fleetwood Mac (19)




Tschaikowskys „Mazeppa“ in Krefeld: Triste Orte ohne Ausweg

Diese Liebe freut sich schwärmerisch auf ihre Erfüllung. Aber sie erreicht, wie so oft bei Tschaikowsky, ihr Ziel nicht. Gegen sie steht nicht nur ein verbohrter Vater, sondern auch eine politische Intrige. Und am Ende regieren Tod, Wahnsinn, Leere. Piotr Iljitsch Tschaikowskys Thema ist immer wieder die unkonventionelle Liebe: So ist es in „Eugen Onegin“, so ist es auch in „Mazeppa“. Das selten aufgeführte Werk steht in dieser Spielzeit in Krefeld auf dem Programm.

Eine kluge Wahl, mit der sich der neue GMD Mihkel Kütson vorstellt und sofort Interesse weckt: Der estnische Dirigent, der bisher GMD am Landestheater Schleswig-Holstein war, wählt keines der üblichen „Chefstücke“ für sein Entrée. Das ist sympathisch und lässt am Niederrhein auf frischen Wind hoffen.

„Mazeppa“ ist nach „Eugen Onegin“ und „Pique Dame“ die dritte Puschkin-Vertonung Tschaikowskys, die am Krefeld-Mönchengladbacher Haus gezeigt wird. Die pessimistischen Sujets, die an der traurigen Verfassung der menschlichen Seele keinen Zweifel lassen, kamen dem homosexuellen Komponisten, der zeitlebens um innere Stabilität und äußere Akzeptanz rang, offenbar sehr entgegen. Das Biografische spielt bei Tschaikowsky – auch in den späten Sinfonien – eine gewichtigere Rolle als bei anderen Komponisten.

Die Liebe zwischen der blutjungen Tochter eines Großgrundbesitzers und dem wesentlich älteren Mazeppa scheitert zunächst am Einspruch des entsetzten Vaters, der in der ehrlichen Liebe der beiden Menschen eine Verirrung und in dem Kosakenführer einen Lüstling sieht. Die beiden setzten sich gegen Kotschubej, den Vater, durch: Maria verlässt ihre Familie, zieht mit ihrem Geliebten weg. Doch sie will nicht akzeptieren, dass sie hinter Mazeppas politischen Ambitionen zurückstehen soll.

Zum inneren Bruch kommt es, als Mazeppa ihr die Hinrichtung ihres Vaters eröffnet: Kotschubej hatte dem Zaren Mazeppas Pläne für die Unabhängigkeit der Ukraine verraten, ist aber Opfer seiner eigenen Intrige geworden. Der Machtmensch zögert nicht, den Vater Marias seinem nationalen Ehrgeiz zu opfern. Doch der Aufstand gegen den Zaren scheitert …

Unwirtliche Orte der Gewalt: Die Bühne Kathrin-Susann Broses thematisiert das Gefangensein. Foto: Theater Krefeld-Mönchengladbach

Unwirtliche Orte der Gewalt: Die Bühne Kathrin-Susann Broses thematisiert das Gefangensein. Foto: Theater Krefeld-Mönchengladbach

Tschaikowsky, der das Libretto weitgehend selbst erarbeitet hat, kann an diesem Stoff alle Aspekte seiner musikalischen Charakterisierungskunst ausleben: Sie reicht von der wehmutsvollen Lyrik, wie wir sie von der jungen Tatjana („Eugen Onegin“) kennen, bis hin zu kraftvollen Eruptionen von Wut, Enttäuschung, Rache und Aggression. In der Instrumentation zeigt sich Tschaikowsky auf der Höhe seines Könnens. Die ergreifenden, von russischer Kirchenmusik-Tradition grundierten Chöre (Maria Benyumova) erinnern an den zehn Jahre vor „Mazeppa“ uraufgeführten „Boris Godunow“: Tschaikowsky hat in seiner Oper von 1884 nicht nur einen historischen Stoff aus der russischen Geschichte gewählt, sondern scheint sich auch musikalisch mit dem Vorwurf einer zu westlich orientierten Musiksprache auseinanderzusetzen.

Kütson spornt das Orchester an, seine Klang-Konzeptionen aufzunehmen. Die wuchtigen Momente der kriegerischen Aktion, das Schlachtengemälde des Zwischenspiels zum Dritten Akt, die unruhevollen „Reiterfiguren“ der Ouvertüre spielen die Symphoniker mit Energie und Engagement. Wird es ruhiger und leiser, sind Piano-Schattierungen oder Mezzoforte-Delikatesse gefragt, poltern die Orchestergruppen oft weiter, lassen auch den elegisch-eleganten Tschaikowsky-Tonfall vermissen. Mihkel Kütson wird in Krefeld noch Aufbauarbeit zu leisten haben.

Mit dem Mazeppa Johannes Schwärskys steht ein kraftvoller Mann auf der Bühne, der zu herrischer Entschlossenheit wie zu sehnsuchtsvoller Nachdenklichkeit, zum Liebesschwur wie zum Rachebekenntnis den richtigen Ton findet. Seine große Soloszene im zweiten Akt gestaltet er emotional facettenreich. Schwärsky erhellt mit stimmlichen Mitteln die komplexe Psyche dieses Helden, der sich zur gescheiterten Figur entwickelt. Anders Heik Dèinyan als Kotschubej, der trotz beeindruckender Tiefe und manch berührender Stelle – vor allem im Angesicht des Todes – seinen Bass nicht aus einer gewissen Befangenheit befreien kann.

Freies, lockeres Singen hört man auch von Satik Tumyan als Mutter nicht. Sie gibt der Figur der Ljuboff ein treffendes darstellerisches Profil, zeigt ihren Stolz, ihre Hilflosigkeit, ihre innere Not. Aber bruchlose Registerwechsel und Flexibilität gehen ihr ab. Mit Carsten Süß steht ein Tenor auf der Bühne, der den dramatischen Momenten seiner Partie durchaus gewachsen ist. Aber sein Andrej bleibt in der Höhe stumpf; der Ton will nicht gut gestützt erblühen.

Izabela Matula, neu engagiert, hat als Maria im ersten und dritten Akt Momente, die aufhorchen lassen: mädchenhaftes lyrisches Leuchten, die selbstvergessen sich weiterspinnenden Phrasen des Endes, das berührende Wiegenlied. Im zweiten Akt geht ihr die Stimme öfter vom Atem, wird flach und unstet. Zudem verordnet ihr die Kostümbildnerin Alexandra Tivig strenge Frisur und Kluft einer Funktionärin, während sie im letzten Akt das aufgelöste Haar einer Lucia di Lammermoor der russischen Steppe tragen muss. Facetten der Figur erschließt das schwerlich.

Die Inszenierung ist Helen Malkowksy anvertraut, die in Nürnberg einen komplexen „Fliegenden Holländer“ und Reimanns „Melusine“ mit viel Sensibilität auf die Bühne gestellt hat. Seit 2010 ist sie am Theater Bielefeld unter anderem mit Brittens „Peter Grimes“ hervorgetreten. Eine gute Wahl, denn Malkowsky weiß die Geschichte spannend zu erzählen, ohne auf dieser Ebene steckenzubleiben. Ihr dominierendes Motiv ist das Gefangensein, das sie bereits während der Ouvertüre thematisiert: Kotschubej vegetiert bereits hinter Gittern; das Geschehen entwickelt sich wie aus einer Rückblende heraus. Der stolze, starre Patriarch ist ein Gefangener seiner selbst, noch bevor er zum politischen Häftling wird.

Orangefarbene Girlanden, Bänder und Accessoires zitieren die ukrainische „orange Revolution“ von 2004. Sie brechen das dominierende Graublau auf, mit dem Kathrin-Susann Brose ihre Bühne als einen Ort der Tristesse und des äußeren und inneren Elends kennzeichnet. Gefängnisgitter, Kerkertüren: An diesem Ort gibt es kein Entrinnen. Vergeblich die Träume, die Helen Malkowsky mit dem Bild einer Sternennacht eher vorsichtig andeutet als aufdringlich vorzeigt. Friedliche Naturbilder an der Wand von Mazeppas Büro wandeln sich zu gespenstisch drohenden Erscheinungen.

Hoffnungslose Zerstörung: Der dritte Akt von Tschaikowskys "Mazeppa" in Krefeld. Foto: Theater Krefeld-Mönchengladbach

Hoffnungslose Zerstörung: Der dritte Akt von Tschaikowskys "Mazeppa" in Krefeld. Foto: Theater Krefeld-Mönchengladbach

Am Ende trägt Maria in ihrem Wahnsinn das Sternenbild mit sich – Symbol verlorener Hoffnung, eines zerstörten Traums. Mazeppa verabschiedet sich mit den lapidaren Worten „gehen wir“ in den Tod durch eigene Hand. Die zunehmende Verrohung dieser Gesellschaft zeigt Malkowsky in immer eindringlicheren Konfrontationen, die bis zur Vergewaltigung Marias durch einen Trupp Soldaten reichen. Der Abgrund der Hoffnungslosigkeit reißt auf; die letzten Spuren der Liebe verwehen im Wiegenlied der Maria für ihren sterbenden Jugendfreund Andrej.

Malkowksy gelingt es, mit „Mazeppa“ eine überzeitliche Parabel über Menschen zu erzählen, die Opfer ihrer selbst und ihrer Zeit werden: gefangen in sich selbst und verstrickt in ihre Leidenschaften, die mit dem dumpfen Druck des Unausweichlichen auf ihnen lasten und doch von ihnen selbst entfesselt werden. Eine sehenswerte Spielzeit-Eröffnung, die für die Premieren von Puccinis „Suor Angelica“ und „Le Villi“ im Januar und „Rienzi“ im März 2013 viel hoffen lassen. Und nicht vergessen: Mit Bellinis „Norma“, inszeniert von Thomas Wünsch, der im Mai 2012 so unerwartet verstarb, wird in Mönchengladbach noch eine Produktion gezeigt, die man nicht verpassen sollte!