Großereignis, Oberhammer: Die viertägige „Ruhr Residenz“ der Berliner Philharmoniker

Sir Simon Rattle am Pult der Berliner Philharmoniker (Foto: Monika Rittershaus)

Gleich fällt er, der Vernichtungsschlag, mit dem die Welt zusammenkracht. 2000 Menschen beobachten in der ausverkauften Philharmonie Essen gebannt, wie sich der Kopf des Riesen-Holzhammers hebt, den ein Schlagzeuger der Berliner Philharmoniker jetzt hoch über sein Haupt schwingt. Dann saust das mehr als vier Kilo schwere Mordsding nieder, mit einem Dröhnen und Krachen, das die Eingeweide erschüttert und das Herz niederschmettert.

Gustav Mahlers 6. Sinfonie, apokalyptisch düster, verwehrt uns ein glückliches Ende, eine triumphale Apotheose, wie wir sie aus anderen Sinfonien des Komponisten kennen. Den Schlussjubel muss diesmal das Publikum übernehmen. Im gleichen Haus, in dem Gustav Mahler selbst im Mai 1906 die Uraufführung dieses monumentalen Werks dirigierte, bricht nun ein mit Bravorufen durchsetzter Beifallssturm los.

So feiern die Essener Musikfreunde das deutsche Vorzeige-Orchester und seinen Chefdirigenten Sir Simon Rattle, der diese Position nach nunmehr 15 Jahren aufgeben wird, um 2018 zum London Symphony Orchestra zu wechseln. Sein Nachfolger Kirill Petrenko wird die Arbeit erst im Jahr 2019 voll aufnehmen, zuvor aber schon als Gast präsent sein.

Für das Orchester ist dieser Abend der Abschluss einer viertägigen Tour de force, genannt „Ruhr Residenz“, die durch gemeinsame Bemühungen des Dortmunder Konzerthauses und der Philharmonie Essen Wirklichkeit wurde – sowie durch die Unterstützung einiger finanzkräftiger Sponsoren.

Im Gepäck hatten die Berliner ein wahres Mammut-Programm. Zweimal, in Dortmund und in Essen, führten sie György Ligetis vertrackt hintersinnige Oper „Le Grand Macabre“ in einer halbszenischen Fassung von Peter Sellars auf. Sie spielten zwei Mahler-Sinfonien und streuten, als sei das noch nicht kräfteraubend genug, Perlen ein wie György Ligetis Violinkonzert, sein berühmtes Orchesterstück „Atmosphères“ und Richard Wagners Vorspiel zu „Lohengrin“.

Edles Ensemble für Ligetis „Le Grand Macabre“

Der „große Makabre“ landet bei Regisseur Peter Sellars im Atomzeitalter. Hier sehen wir den Fürsten Gogo (Anthony Roth Costanzo, Mitte) und seine Getreuen (Foto: Monika Rittershaus)

Es dürfte lange, vermutlich sogar sehr lange dauern, bis man György Ligetis groteske Weltuntergangs-Oper in annähernd vergleichbarer musikalischer Brillanz zu hören bekommt. Keiner in dieser Sänger-Riege, dessen stimmliches Vermögen nicht das Staunen lehrt: Sei es der wirkmächtige Bariton von Pavlo Hunka, der dem Sensenmann (alias Nekrotzar) brutale Untertöne gibt, der gelenkige Tenor von Peter Hoare, der als Piet vom Fass halsbrecherische Intervallsprünge meistert, oder Frode Olsen, dessen Bass als Hof-Astrologe Astramadors wie von ständiger Übererregung vibriert. Sie seien stellvertretend für das Ensemble herausgehoben, in dem sich so edle Namen wie der von Anna Prohaska finden. Über allem irrlichtert zudem der Wahnsinns-Sopran von Audrey Luna, die sich zunächst als Venus in stratosphärische Höhen schwingt und als Geheimdienstchef „Gepopo“ so lange artistische Kapriolen in höchster Lage schlägt, bis man nicht mehr an die Kraft der Erdanziehung glaubt.

Der Rundfunkchor Berlin übt sich in Volkszorn gegen den Fürsten Gogo (Foto: Monika Rittershaus)

Der exzellente Rundfunkchor Berlin (Einstudierung: Gijs Leenaars) und die Berliner Philharmoniker steigen mit der gleichen packenden Spielfreude in das Geschehen ein, das auf einem absurden Theaterstück von Michel de Ghelderode basiert. Wenn der Volksaufstand gegen Fürst Gogo seinen Höhepunkt erreicht, skandieren Choristen und Musiker mit vereinter Kraft gegen den Machthaber. Wie schön, dass der angekündigte Weltuntergang am Ende doch entfällt, denn zum Glück hat sich der große Makabre mit Piet vom Fass und dem Hof-Astrologen kräftig besoffen. Der große Nekrotzar verpennt schlicht seinen Einsatz.

Warum die Inszenierung von Peter Sellars wiederbelebt wurde, über die György Ligeti bei der Aufführung 1997 bei den Salzburger Festspielen wenig erfreut war, bleibt freilich rätselhaft. Sellars macht aus Ligetis grotesker Anti-Anti-Oper kurzerhand ein Anti-Atomkraft-Stück. Fässer mit dem Warnzeichen für radioaktive Strahlung prägen die Bühne, Video-Sequenzen aus dem zerstörten Reaktor von Tschernobyl erheischen Betroffenheit. Damit stülpt Sellars dem Werk einen Bierernst über, der quer steht zu Ligetis skurrilem Humor: Der Komponist selbst sprach von einer „semantischen Subversion“ seines Werks.

Das sagenhafte Spiel der Patricia Kopatchinskaja

Die temperamentvolle Geigerin Patricia Kopatchinskaja präsentierte eine spektakuläre Lesart des Violinkonzerts von György Ligeti (Foto: Monika Rittershaus)

Umso spektakulärer gelingt die Aufführung von Ligetis Violinkonzert durch die moldawisch-österreichische Geigerin Patricia Kopatchinskaja im Konzerthaus Dortmund. In dem knapp halbstündigen, Saschko Gawriloff gewidmeten Werk dialogisiert die Geige mit einem Orchester von nur 25 Musikern. Der Komponist verwendet dabei exotische Instrumente wie die Okarina oder die asiatische Lotusflöte. Die Streichinstrumente sind teils verstimmt und erzeugen so neuartige Klangeffekte.

Es spottet jeder Beschreibung, wie die Kopatchinskaja den extrem virtuosen Solo-Part meistert. Wie üblich barfuß auftretend, wird sie auf der Bühne zu einem Irrwisch, der das Werk mit einer gleichermaßen nervösen wie furiosen Energie auflädt. Ihre Finger rasen über das Griffbrett, sind scheinbar überall zugleich. Man kann das gar nicht so schnell hören, wie die Geigerin das spielt. Wie um alles in der Welt schafft sie es, derart hoch komplexe Rhyhtmen in die Saiten zu fetzen? Fast lässt ihre lustvolle Vehemenz uns glauben, dass dieses Werk für sie geschrieben sei – und für sie allein.

Patricia Kopatchinskaja im musikalischen Wettstreit mit einem Geiger der Berliner Philharmoniker (Foto: Monika Rittershaus)

Wie eine Schauspielerin steigert sie sich in musiktheatralische Momente à la Mauricio Kagel hinein. Diese Frau kann alles gleichzeitig: Geige spielen und singen, Geige spielen und schauspielern, Geige spielen und eine Flut von Geräuschen und Lauten von sich geben. Weil Außergewöhnliches nach außergewöhnlichen Mitteln verlangt, möge die Ich-Form an dieser Stelle bitte verziehen werden: In meinem ganzen bisherigen Leben habe ich auf der Konzertbühne nichts Vergleichbares gesehen und gehört. Dabei geht es dieser Künstlerin ganz gewiss nicht um Showeffekte oder gar um Selbstdarstellung. Es ist sagenhaft.

Klangpracht für Mahler-Sinfonien

Auswendig dirigierte Sir Simon Rattle die Sinfonien Nr. 4 und Nr. 6 von Gustav Mahler (Foto: Monika Rittershaus)

Zwei Mahler-Sinfonien standen in diesen Tagen ebenfalls auf dem Programm: In Dortmund zunächst die 4. Sinfonie G-Dur, die im Schlussgesang von den „himmlischen Freuden“ kündet. Mag die merkwürdig schwammige Tempo-Gestaltung zunächst auch irritieren, ja den ersten beiden Sätzen gar eine klare Kontur verwehren, schmälert das den Musikgenuss doch erstaunlich wenig. Das liegt an der Klangpracht, die jede einzelne Instrumentengruppe dieses Orchesters zu entfalten weiß. Das österreichische Idiom, die Ländler- und Walzer-Anklänge taumeln uns zu verführerisch entgegen, um sich lange an Kritik aufzuhalten. Der ruhige Fluss des dritten Satzes führt dann vollends in andere Sphären. Die Berliner Philharmoniker fächern ihren Klang auf, bis eine Orgel aus der Ferne zu uns herüber zu klingen scheint. Jede harmonische Wendung rückt weiter von allem Irdischen ab. Erst die süße Beschwörung des „himmlischen Lebens“ durch die Sopranistin Camilla Tilling wird wieder vom scharfen Klang der Narrenschellen kommentiert, die wir bereits vom Beginn der Sinfonie kennen.

Einige Streicher der Berliner Philharmoniker in Aktion (Foto: Monika Rittershaus)

Den monumentalen Schlusspunkt setzt das Orchester mit der 6. Sinfonie a-Moll in der Philharmonie Essen. Mit scheinbar unerschöpflichen Kraftreserven werfen sie sich in die düsteren Märsche dieser Musik, stets vorangetrieben von der kleinen Trommel, die kaum einen Moment des Atemholens zulassen will. Immerzu! Immerzu! Ohne Rast und Ruh! So geht das voran in düsteren und grellen Farben, in einem zunehmend wilden Schlachtenlärm, der brachiale Züge annimmt.

Guter Geist der Kooperation

Aber die Berliner ermüden nicht und lärmen nicht. Bei ihnen führt das Getümmel von einer erregenden Klang-Eruption zur nächsten. Wenn der berühmte Hammer schließlich fällt, stampft er die Musik förmlich zu Brei. Sie stockt, zerfasert, versinkt endgültig ins Dunkel. Ende. Aus. Der Jubel ist grenzenlos.

Es war der Geist der Kooperation, der die kostspielige Ruhr Residenz der Berliner überhaupt erst möglich machte. Etwaige Konkurrenz im Alltag beiseite lassend, zogen die Leitungsteams des Konzerthaus’ Dortmund und der Philharmonie Essen an einem Strang, um das Großereignis wahr werden zu lassen. Gewonnen haben dabei alle, die beiden renommierten Häuser ebenso wie die Musikfreunde der Region.




Ruhrfestspiele: Intendant Frank Hoffmann nimmt Mitte 2018 Abschied von Recklinghausen

Furchtbar überraschend kam die Nachricht eigentlich nicht: Ruhrfestspiel-Chef Frank Hoffmann wird sich mit seiner 14. Spielzeit im Mai und Juni 2018 von Recklinghausen verabschieden. Nach so vielen Jahren kann man sich schon mal neu orientieren – erst recht auf kulturellem Gebiet.

Ruhrfestspiel-Intendant Frank Hoffmann. (Foto: © Ruhrfestspiele)

Ruhrfestspiel-Intendant Frank Hoffmann. (Foto: © Ruhrfestspiele)

Der gebürtige Luxemburger Hoffmann (Jahrgang 1954) ergreift die Gelegenheit zum Wechsel mit dieser Begründung: „Das Ende des Steinkohlebergbaus im Jahr 2018 bedeutet auch eine wichtige Zäsur in der Geschichte der Ruhrfestspiele. Deshalb ist es auch für mich persönlich der richtige Zeitpunkt, nach 14 großartigen Jahren einen Schnitt zu machen und zu neuen Horizonten aufzubrechen.“ Das klingt doch ebenso druckreif wie einigermaßen vollmundig.

Noch etwas mehr Pressestellen-Prosa gefällig? „Theater sind vielleicht austauschbar, aber ich werde den grünen Hügel in Recklinghausen mit seiner besonderen Magie und vor allem die Menschen im Ruhrgebiet vermissen. Sie sind einzigartig.“ Genau so etwas sagt man, um einen bevorstehenden Abschied vom Revier anzukündigen. Hoffmann weiß eben, was sich ziemt.

Besucherzahlen enorm gesteigert

Tatsächlich hat niemand die 1946/47 gegründeten Ruhrfestspiele länger geleitet als Frank Hoffmann, der außerdem (schon seit dessen Gründung 1996) Intendant des Théâtre National du Luxembourg ist. Kein anderer hat zudem die Besucherzahlen der Ruhrfestspiele derart nachhaltig gesteigert. Kein Wunder, dass sein Vertrag immer wieder verlängert wurde.

Angetreten im September 2004 nach einer krisenhaften Phase (in der sein Vorgänger Frank Castorf das Große Haus und die anderen Stätten gleichsam leergespielt hatte), hievte Hoffmann das Festival von 22.000 nach und nach auf über 55.000 Besucher. Inzwischen sind es rund 80.000, die pro Jahr nach Recklinghausen pilgern. Solche Bilanzen dürften mit den vorhandenen Mitteln kaum noch zu übertreffen sein.

Zentraler Spielort: das Festspielhaus. (Foto: Torsten Janfeld)

Zentraler Spielort: das Festspielhaus in Recklinghausen. (Foto: Torsten Janfeld)

Hoffmann setzte ganz bewusst auf eine Vielzahl von Uraufführungen und hielt dabei so manche Entdeckung bereit. Auch hat er renommierte Theater aus aller Welt zu Gastspielen geholt, die wichtigsten deutschsprachigen Bühnen zeigten hier ebenfalls bedeutende Inszenierungen. Immer wieder gastierten internationale (Film)-Stars wie etwa Cate Blanchett und Kevin Spacey bei den Ruhrfestspielen. Selbst eine nur stichwortartige Aufzählung der wichtigsten Produktionen würde jeden üblichen Textrahmen sprengen.

Hoffmanns eigene Inszenierungen galten indes meist nicht als künstlerische Höhepunkte der Spielzeiten. Seine Art des Zugriffs fand zumindest nicht den mehrheitlichen Beifall ästhetisch verwöhnter Rezensenten, sie wirkte mitunter etwas bieder und nicht allzu couragiert. Nach den in und um Recklinghausen schwer zu vermittelnden Egotrips eines Frank Castorf war das breite Publikum für solcherlei Theater allerdings dankbar. Warum auch sollten die Ruhrfestspiele mit der Ruhrtriennale in Sachen Avantgarde gleichziehen wollen? Besser ist es doch, in der Region zu einer vernünftigen „Arbeitsteilung“ der großen Festivals zu kommen.

Nehmt alles nur in allem, so wäre zu loben: Hoffmann hat mit seinem Team vielfach Gespür fürs Populäre, auch fürs Gängige bewiesen, ohne an der Qualität zu rütteln. Er war und ist ein „Ermöglicher“ von hohen Graden. Just das ist es, was einen Theatermann seines Zuschnitts auszeichnet. In diesem Sinne kann er seinen Prägestempel nun noch zwei weiteren Spielzeiten (2017 und 2018) aufdrücken.

Unterdessen hat sich Hoffmann bereit erklärt, auch an der Suche nach einem/einer Nachfolger(in) beratend mitzuwirken. Das bisherige Anforderungsprofil kennt er jedenfalls am allerbesten. Den Trägern des Festivals (zu je 50 Prozent Stadt Recklinghausen und Deutscher Gewerkschaftsbund) kann man bei der Neubesetzung des Postens jedenfalls nur eine glückliche Hand wünschen.

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www.ruhrfestspiele.de




Operetten-Passagen (4): Karneval auf der Bühne – Emmerich Kálmáns „Die Faschingsfee“ in München ausgegraben

Eine Operetten-Rarität in München, passend zum Karneval: "Die Faschingsfee" von Emmerich Kálmán. Foto: Marie-Laure Briane

Eine Operetten-Rarität in München, passend zum Karneval: „Die Faschingsfee“ von Emmerich Kálmán. (Foto: Marie-Laure Briane)

Karneval, Fasching, Fasenacht: Das war früher goldene Zeit für die Operette. Heute haben die Theater in Deutschland an Rosenmontag und Faschingsdienstag meist geschlossen; wenn nicht, spielt man auch einmal „Lulu“ oder „Elektra“. Man mag zu den närrischen Tagen stehen, wie man will: Auch bei ihnen zeigt sich die Erosion von Festen, die eine ganze Gesellschaft zusammenbinden konnten.

In München sieht es – wie übrigens hierzulande in Düsseldorf („Der Graf von Luxemburg“) und Gelsenkirchen („Die lustige Witwe“) – ein wenig anders aus. Josef E. Köpplinger, Intendant des momentan wegen Generalsanierung geschlossenen Gärtnerplatztheaters, hat sich eine Operetten-Rarität vorgenommen, die noch dazu mit München zu tun hat: Emmerich Kálmáns „Die Faschingsfee“, seit Jahrzehnten, eigentlich seit der Nazi-Zeit, aus den Spielplänen verschwunden, feiert in der Alten Kongresshalle ein Comeback.

Es geht um den Münchner Fasching 1917, mitten im Ersten Weltkrieg. Damals ein zeitgenössisches Stück, denn Kálmán arbeitete eine seiner früheren ungarischen Operetten („Zsuzsi kisasszony“) um, Alfred Maria Willner und Rudolf Österreicher schrieben ein Libretto, das Köpplinger nicht gefällt – und so textete der Experte für’s Unterhaltungstheater geschickt (und ein gutes Stück frecher als im Original) Kálmáns musikalischen Münchner Künstlerfasching um.

Gesellschaftsstück und Sittendrama

So bekommt das Stück in seinen gut zwei Stunden Spieldauer ein rasantes Tempo – und wenn sich am Ende nach endlosen, amüsanten Missverständnissen die unbekannte „Faschingsfee“ als hochadeliges Blut entpuppt, das sich lieber mit dem Bohème-Maler als mit dem ältlichen Herzog vermischen will, fühlt sich das Publikum prächtig unterhalten und applaudiert mit Hingabe.

In seiner Inszenierung bleibt Köpplinger – er hat am Essener Aalto-Theater Verdis „La Traviata“ in Szene gesetzt – nicht beim harmlosen Faschingsscherz stehen. Er schärft Situationen und Charaktere und macht aus Kálmáns Kriegsablenkung fast ein gleichnishaftes Gesellschaftsstück, ein Sittendrama, das auch von Gerhart Hauptmann oder von Carl Sternheim stammen könnte.

Wenn Graf Lothar Mereditt die schöne Unbekannte anbaggert, ist das kein wohlgesetztes Charmieren, sondern sexuelle Belästigung an der Grenze zur Gewalt – und Maximilian Mayer, schneidig in Figur und Stimme, gibt den rücksichtslosen Macho, für den Frauen in solchen Etablissements einfach Freifleisch sind.

Sexuell zudringlich ohne jeden SkrupeL Maximilian Mayer als Graf Mereditt. Foto: Marie-Laure Briane

Sexuell zudringlich ohne jeden SkrupeL Maximilian Mayer als Graf Mereditt. (Foto: Marie-Laure Briane)

Das Etablissement ist von Karl Fehringer und Judith Leikauf als bescheidene Vorstadt-Kneipe aufgebaut. Ein Ambiente, in dem ausgezehrte Leute nach Festesfreuden gieren, die sich, zumal im Krieg, nur kärglich einstellen. Da helfen auch die zehntausend Mark nicht, die der Maler Viktor Ronai bei einem Wettbewerb gewonnen hat. Immerhin, das Geld ist noch etwas wert, der Maler könnte damit die Zeche für die muntere Gesellschaft begleichen – wenn nicht ein dummer Zufall den Gewinn gleich wieder in Nichts aufgelöst hätte… Daniel Prohaska singt und spielt seine Liebhaber-Rolle mit viel Einsatz, aber manchmal doch zu wenig leicht und mit einem an Schmelz armen Tenor.

Illusionslose Frau: Nadine Zeintl als Lori Aschenbrenner, hier mit Simon Schnorr (Baron Hubert von Mützelberg) und Franz Wyzner (Josef, Oberkellner). Foto: Marie-Laure Briane

Illusionslose Frau: Nadine Zeintl als Lori Aschenbrenner, hier mit Simon Schnorr (Baron Hubert von Mützelberg) und Franz Wyzner (Josef, Oberkellner). (Foto: Marie-Laure Briane)

Zu einer Studie jenseits der Tanzsoubretten-Fröhlichkeit hat Köpplinger auch die Choristin Lori Aschenbrenner ausgebaut – eines jener Theatermädchen von damals, die ihre mies bezahltes Engagements vor allem dazu benutzen mussten, sich einen besser gestellten Gatten zu angeln. Mit sexueller Selbstbestimmung war da nicht viel – und die mit dem Mundwerk ebenso flink wie mit ihren Beinen agierende Lori (Nadine Zeintl) will sich ihren jungen Baron (Simon Schnorr) unter keinen Umständen streitig machen lassen. So ist sie, ein bissl doof, ein bissl rechthaberisch, vor allem aber tief um ihre Existenz geängstigt, ziemlich rabiat dabei, ihr Revier zu verteidigen. Eine Chuzpe, der die inkognito erscheinende Fürstin – die Faschingsfee eben – nicht viel entgegenzusetzen hat.

Keine Chance für die Dame

Camille Schnoor macht deutlich, dass sich solche Frauen höheren Standes im vulgären Trubel des Karnevals nicht souverän bewegen können. Ob sie den Maler – besungen mit einem voll tönenden, dunkel gefärbten Sopran, der sich dem Metier Operette noch nicht so sicher ist – wirklich um seiner selbst willen liebt, bleibt offen: Die Dame könnte auch nur fasziniert sein, weil er ihr das Tor in eine andere als ihre steife Adelswelt geöffnet hat. Verliebt ins pralle, ungeschützte Leben?

Drumherum herrscht viel Bewegung – und Köpplinger hält das personenreiche Stück so unerbittlich in Aktion, dass es am Ende fast zu viel der Hektik wird. Ruhepunkte, etwa reflektierende Arien, Szenen inniger Liebe oder intimer Begegnung, kennt diese Operette offenbar nicht. Die rein physische Leistung von Chor, Solisten und Ballett ist bewundernswert; die Bilder klappen auf den Punkt, der Bühnentrubel ist präzise ausgearbeitet.

Zu jeder Operette gehört die große Liebe: Camille Schnoor (Fürstin Alexandra Maria), Daniel Prohaska (Viktor Ronai). Foto: Marie-Laure Briane

Zu jeder Operette gehört die große Liebe: Camille Schnoor (Fürstin Alexandra Maria), Daniel Prohaska (Viktor Ronai). (Foto: Marie-Laure Briane)

Dennoch kommen die Typen zur Geltung, die Köpplinger porträtiert und die Dagmar Morell in eine überbordende Vielfalt sehenswerter Kostüme steckt. Sie nehmen ihren Raum ein, wischen nicht einfach nur peripher vorbei. Zum Beispiel der Transvestit Julian (Josef Ellers), für den der Fasching die ideale Gelegenheit ist, unauffällig seiner Neigung zu frönen, und der eine überraschende Begegnung mit einem coolen Corpsstudenten hat. Oder der Tiermaler Lubitschek, ein wohl stets zu kurz gekommener älterer Herr, an dem Köpplinger den latenten Antisemitismus der Zeit in einer winzigen, beklemmenden Szene offenlegt. Oder das Wirtshaus-Personal, für das die Urgesteine des Theaters, Gisela Ehrensperger und Franz Wyzner, die Bühne mit ihrer Aura füllen. Oder Maximilian Berling, der als Hilfskellner Toni in ein paar Gängen und Szenen genau die Präsenz zeigt, die für seine Rolle nötig ist.

Aber Köpplinger belässt es nicht nur beim scharf beobachteten Zeitmilieu. Er zieht noch eine Ebene ein, die das Stück ins Parabelhafte steigert. Schon zu Beginn sickern geisterhafte Gestalten in den Raum: Soldaten, Rotkreuzschwestern, mit schwarz geränderten Augen, stumm, steinern in der Miene. Sie gruppieren sich um die Bühne, lassen auf Stichwort blutrote Luftballons hochpoppen, mischen sich wie unsichtbar unter die quirlige Gesellschaft. Mahnen sie an die Hunderttausende, die im Krieg einem ganz anderen Feuerwerk zu Opfer gefallen sind? Sind es die Geister der Gefallenen, die sich unter den Lebenden bewegen? Die Regie lässt diese Fragen offen – tut aber zu viel des Guten: Wenn die Toten dann im Schnee tanzen, wirkt der Bogen überspannt und das Bild verliert seine Schärfe. Weniger wäre in diesem Fall mehr gewesen.

In den Händen von Michael Brandstätter liegt die Musik Kálmáns: Das Orchester des Staatstheaters am Gärtnerplatz spürt mit geschmeidigen Linien den melodischen Einfällen nach, bringt die Tanzmusik auf den Punkt, lässt die Reize des Instrumentariums entdecken. Das ist hinter der Szene nicht so einfach; der Klang ist stets versucht, sich zu kompakter Mischung zu verdichten.

Aber was man hört, ist geeignet, wieder einmal den Hut zu ziehen vor der ideensprühenden Kunst des Komponisten. Auch wenn die Melodien nicht so eingängig sind wie in seinen Welterfolgen, gehen sie mit ihrer ungarischen Farbe –München klingt sehr magyarisch – ins Blut und Nummern wie „Heut flieg‘ ich aus“ haben das Zeug zu einem Mitsing-Faschingsschlager. Da geht man dann mit einem kleinen Kálmán-Schwips nach Haus und freut sich, dass es wieder einmal gelungen ist, eine lebensvolle Operetten-Partitur dem staubigen Schlaf der Archive zu entreißen. Hoffentlich ist am Aschermittwoch nicht alles vorbei…

Alle Vorstellungen waren schon vorab ausverkauft – einer Wiederaufnahme steht also, was das Interesse des Publikums betrifft, nichts im Wege.




Packende Reisen in der Fantasie: Vor 175 Jahren wurde der erfolgreichste deutsche Autor geboren

Karl May auf einem Foto von Erwin Raupp aus dem Jahr 1904. (Foto: Karl-May-Museum, Radebeul bei Dresden

Karl May auf einem Foto von Erwin Raupp aus dem Jahr 1904. (Foto: Karl-May-Museum, Radebeul bei Dresden)

Seine Bücher sind weiter verbreitet als die jedes anderen deutschen Autors: Schätzungen sprechen von 200 Millionen in mindestens 33 Sprachen. Karl May, der arme Webersohn aus Hohenstein-Ernstthal in Sachsen, hat wie kein zweiter Generationen von jugendlichen Lesern in seinen Bann gezogen. Von Theodor Heuss bis Helmut Kohl, von Hermann Hesse bis Utta Danella reicht die Liste seiner Bewunderer.

Der Schriftsteller und Literaturfachmann Hans Wollschläger fasst in einem Satz zusammen, was Karl May ausmacht: „Er war ein Mensch, der ungezählten Millionen das Unglück erleichtert, das Glück vermehrt hat, und er war letzten Endes auch ein großer Schriftsteller.“

Wer verschlang nicht nächtens unter der Bettdecke die grünen Bände aus dem Karl-May-Verlag? Wer bebte nicht vor Spannung, wenn es der edle Winnetou (gemeinsam mit Old Shatterhand) mit den Feinden seines Volkes aufnahm? Wem stockte nicht der Atem, wenn Kara Ben Nemsi durch die Schluchten des Balkan und von Bagdad nach Stambul ritt? Wer lachte und fieberte nicht zusammen mit Hadschi Halef Omar, mit dem May 1892 seinen Durchbruch erreichte? Wer den vollen Namen des charaktervollen Dieners aus dem Wüsten-Zyklus auswendig konnte, galt als Kenner: Hadschi Halef Omar Ben Hadschi Abul Abbas Ibn Hadschi Dawuhd al Gossarah.

Viel Prügel und wenig Brot

Wir eifrigen May-Leser zogen mit dem „blauroten Methusalem“ durch China, amüsierten uns über den dicken Mijnheer und das umwerfende Chinesisch des Käpt’n Turnerstick, lernten das Erzgebirge und die düsteren wie lichten Gestalten in seinen Wäldern und Tälern kennen – aber was wussten wir über den Autor? Dass er ein Hochstapler war? Ein Phantast, der seine Reisen und ihre Schauplätze erfunden hat, aber als wirklich und wahrhaftig ausgab? Ein Kleinkrimineller aus ärmlichen Verhältnissen? Ein Kolportage-Vielschreiber mit Werken ohne tieferen Sinn oder höheren Wert? All das wurde Karl May vorgeworfen. All das trifft zu, trifft aber nicht den wirklichen Karl May.

Geboren vor 175 Jahren, am 25. Februar 1842, hat Karl May eine Kindheit mit viel Prügel und wenig Brot. Der Vater erkennt seine Begabung, weiß aber nicht damit umzugehen: Der arme Weber lässt das Kind alles auswendig lernen, was er an „Bildungsgut“ erreichen kann. Karl muss sein Geld als Kegeljunge in der Gastwirtschaft verdienen; dort entdeckt er Räubergeschichten wie die von Rinaldo Rinaldini.

Als 17-jähriger Schulamtskandidat schafft er sechs Kerzen beiseite, um seiner Familie an Weihnachten ein paar Lichter mitzubringen, wird entdeckt und wegen Diebstahl entlassen. Er bekommt eine Stelle als Fachlehrer. An Weihnachten fährt er nach Hause, versäumt es, die alte Taschenuhr seines Mitbewohners wieder im gemeinsamen Zimmer aufzuhängen: Am Ersten Weihnachtstag wird er wieder verhaftet.

Wilder Westen, geheimnisvoller Orient

Skurrile Betrügereien, falsche Identitäten, Flucht nach Böhmen, Zuchthaus: Mays Karriere ist die eines Entwurzelten, den eine unsensible Justiz aus nichtigen Anlässen zum Kriminellen macht. Immerhin: In der Haft in Waldheim begegnet er dem katholischen Anstaltskatecheten Kochta, der ihm Mut macht: May beginnt zu schreiben; 1872 entstehen die ersten Publikationen. Der Verleger Heinrich Gotthold Münchmeyer sucht solche „Subjecte“ für seine neu gegründeten, für die breite Masse bestimmten Zeitschriften. Er heuert May 1874 an. May heiratet, hofft auf eine bürgerliche Existenz.

Fantasie, dargestellt als Wirklichkeit: Karl May als Old Shatterhand, fotografiert 1896 von Alois Schießer. Foto: Karl-May-Museum Radebeul bei Dresden

Fantasie, dargestellt als Wirklichkeit: Karl May als Old Shatterhand, fotografiert 1896 von Alois Schießer. (Foto: Karl-May-Museum, Radebeul bei Dresden)

1875 taucht erstmals Winnetou auf. In den nächsten fünf Jahren entwickelt sich May zum professionellen Schriftsteller für Unterhaltungsliteratur. Sein Figuren-Kosmos steht: Old Shatterhand, Old Firehand, Kara Ben Nemsi oder der skurrile Sam Hawkens bevölkern seinen Wilden Westen und seinen Orient.

Später sollte er diese Gegenden bereisen und bitter enttäuscht werden: Fantasie und Realität klafften allzu weit auseinander. Aber in seiner Fantasie hat May – gestützt auf weitreichende Recherchen – die exotischen Ziele seiner inneren Reisen treffend erfasst: „Bei Allah, dieser Karl Ben May hat den Orient im Hirn und Herzen mehr verstanden als ein Heer heutiger Journalisten, Orientalisten und ähnliche Idiotisten“, urteilte der syrische Schriftsteller Rafik Schami.

Empor ins Reich des Edelmenschen

Karl May lebt dennoch in seiner Welt. Realität und Fantasie auseinanderzuhalten, fällt ihm schwer. Er behauptet, Abenteuer aus seinen Büchern selbst erlebt zu haben. Die „Villa Shatterhand“ in Radebeul, 1896 gekauft, ist voll von angeblichen Souvenirs seiner Abenteuer.

Gleichzeitig wird er bekämpft und verunglimpft. Schwer trifft es ihn, als seine Vorstrafen bekannt werden. Sensationslüsterne Journalisten und bigotte Moralapostel überziehen ihn mit Polemik und Prozessen. Er gewinnt sie alle, stirbt dennoch am 30. März 1912 als gebrochener Mann – wie vor kurzem erst durch eine Untersuchung festgestellt wurde, vermutlich an den damals verbreiteten Umweltgiften Blei und Cadmium.

Der letzte Triumph des tief gläubigen Christen war ein Vortrag in Wien: „Empor ins Reich des Edelmenschen“. Inmitten einer kriegslüsternen Welt, in einem Deutschland, das sich als Kolonialmacht wenig um Menschenrechte schert, legt er ein Credo ab zum Frieden  zwischen Völkern, Rassen und Religionen und ein Bekenntnis zu einem christlich inspirierten Humanismus.

May hat diese Gedanken in seinem wenig bekannten Spätwerke „Ardistan und Dschinnistan“ entwickelt. Heute haben es seine Bücher schwer, sich gegen Fantasy und virtuelle Spielwelten zu behaupten. Der Wilde Westen oder ein exotisch eingefärbter Orient sind keine Sehnsuchtsorte für träumende junge Menschen mehr. Die Abenteuer seiner Helden wirken heute zahm und ein wenig altbacken. Dennoch: Mays psychologisch komplexe Persönlichkeit, sein erzählerischer Kosmos und seine visionären Gedanken lohnen bis heute die Lektüre.

Ausstellungen zum Geburtstag

Karl May. Collage: Karl-May-Museum Radebeul bei Dresden

Karl May. (Collage: Karl-May-Museum, Radebeul bei Dresden)

Das Andenken Karl Mays wird in zwei Museen hoch gehalten, die sich zum 175. Geburtstag des Autors mit Ausstellungen und Veranstaltungen in Position bringen. Im Karl-May-Museum in Radebeul in Mays ehemaligem Wohnhaus, der „Villa Shatterhand“, ist nicht nur sein Arbeitszimmer zu besichtigen, sondern auch jede Menge Erinnerungsstücke und Sammlungsobjekte – bis hin zu den berühmten Gewehren seiner Romanhelden, dem „Bärentöter“ oder dem „Henrystutzen“. In der „Villa Bärenfett“ ersteht der romantische Wilde Westen neu, wie ihn May beschrieben hat. Das Museum ist dabei, sich zeitgemäß weiterzuentwickeln und sucht dafür „Blutsbrüder“, die seine Visionen finanziell unterstützen.

Derzeit bietet das Museum noch bis Ende 2017 die Sonderausstellung „Verborgene Schätze – Aus dem Depot des Karl-May-Museums“. Dort sind seltene Kostbarkeiten aus nahezu allen Teilen der Erde zu sehen, die teils aus dem privaten Nachlass des Schriftstellers und seiner zweiten Ehefrau Klara stammen, teils durch den Artisten Patty Frank und weitere von Karl May begeisterte Sammler ihren Weg in die Bestände fanden – darunter eine wertvolles Lederhemd, das dem Sioux-Häuptling Red Cloud gehört haben soll.

Auch in Mays Geburtsort Ernstthal wird der Geburtstag gefeiert. Sein Geburtshaus kann besichtigt und soll demnächst durch einen modernen Service- und Ausstellungsbereich erweitert werden. Eine am Geburtstag Mays eröffnete Sonderausstellung zeigt unter dem Titel „Stehaufmännchen Winnetou – Karl May und die literarischen Adaptionen“, wie Mays Figuren von anderen Autoren weiterverwendet und –entwickelt wurden.

Schließlich zeigt noch das Haus der Stadtgeschichte in Offenbach am Main eine Jubiläums-Ausstellung: „Durch die Wüste in den Westen“ präsentiert vom 25. Februar bis zum 19. März  Zeichnungen aus dem Nachlass von Klaus Dill (1922–2000). Der Western-Zeichner illustrierte unzählige Szenen aus den Werken Karl Mays. Ausgewählte Blätter aus diesen Beständen werden mit Leihgaben aus überregionalen Karl May-Sammlungen gezeigt.




PEN-Vorsitzender Josef Haslinger in Dortmund: Lesung und mahnende Worte zu den Menschenrechten

Josef Haslinger (re.) und sein Schriftsteller-Kollege Heinrich Peuckmann. (Bild: TK)

Josef Haslinger (rechts) und sein Schriftsteller-Kollege Heinrich Peuckmann. (Bild: TK)

Josef Haslinger, prominenter Vorsitzender des PEN-Zentrums Deutschland, las jetzt in der Dortmunder Zeche Zollern (LWL-Industriemuseum) u. a. aus seinem Buch „Jáchymov“ (Fischer Taschenbuch Verlag), in dem er von der Tragödie der tschechoslowakischen Eishockeymannschaft zu Beginn der kommunistischen Herrschaft in dem osteuropäischen Land gegen Ende der 40er und in den 50er Jahren erzählt.

Das Buch ist jedoch keine Dokumentation, sondern es handelt sich um einen Roman, der auf Dokumenten, Fakten und Chroniken beruht. In den Auszügen, die Haslinger vortrug, kam die gesamte Dramatik der damaligen Ereignisse zum Ausdruck.

Protest kann die Lage verschärfen

Im anschließenden Gespräch mit dem Schriftsteller Heinrich Peuckmann (Dortmund/Kamen) ging der Österreicher Haslinger auf das Engagement des PEN-Zentrums für verfolgte und bedrohte Schriftsteller ein. Mit Beispielen aus Mexiko, Kolumbien und Kamerun verdeutliche Haslinger die gesellschaftspolitische Verantwortung der Schriftstellerorganisation. Zudem sprach er auch über die Situation von Deniz Yücel, Türkei-Korrespondenten der Zeitung „Die Welt“, der sich im Gewahrsam der türkischen Polizei befindet. Die momentane Lage sei sehr komplex, erläuterte der Schriftsteller. Man stehe vor der Frage, ob es gut und richtig ist, weiter zu protestieren oder ob sich dadurch die Situation für den in Deutschland geborenen Journalisten noch weiter verschärfe.

Orbán-Berater führt Ungarns PEN

Das PEN-Zentrum sei nicht parteipolitisch gebunden, unterstrich Haslinger, gleichwohl ergreife die Organisation beispielsweise Partei, wenn es um Menschenrechte geht. Unter anderem kritisierte Haslinger, dass Menschen, die Zuflucht in Deutschland suchen, wieder in ihr Heimatland zurückgeführt werden, das als „sicher“ erklärt wird, es aber in Wirklichkeit nicht ist.

Dass in einzelnen Ländern PEN-Organisationen durchaus vom Staat unterwandert werden können, zeigte Haslinger am Beispiel von Ungarn auf. Inzwischen sei ein Berater des Ministerpräsidenten Viktor Orbán dort der Vorsitzende.

Neuer Erzählband „Schichtwechsel“

Zum Abschluss las Josef Haslinger einen Auszug aus seinem Beitrag zum neuen Erzählband „Schichtwechsel“, den Heinrich Peuckmann und Gerd Puls herausgegeben haben. Insgesamt haben an dem Band, der Geschichten aus und über das Arbeitsleben beinhaltet, elf Autoren mitgewirkt. Erschienen ist das Buch im Oberhausener assoverlag.

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Vom 27. bis 30. April hat das PEN-Zentrum Deutschland seine Jahrestagung in Dortmund. Dazu werden rund 200 Schriftsteller erwartet. Das Motto der Tagung stammt vom gebürtigen Dortmunder Autor Peter Rühmkorf und lautet: „Bleib erschütterbar und widersteh“.




Die Frau, die nicht vernünftig sein will – „Medea“ in einer Oberhausener Light-Version

Medea (Janna Horstmann) (Foto: Axel J. Scherer/Theater Oberhausen)

Der Titel des Stücks verheißt Tragödie, doch könnte diese Bühne auch gut zu munterer Unterhaltung taugen. Schon vor Beginn der Vorstellung zupft ein Musikant (Khater Dawa) am rechten Bühnenrand schwermütige Klänge auf der Oud, die fast einzige Möblierung ist allerdings ein Tresen, Modell Partykeller, sind Gläser, Hocker, Flaschen. Das Theater Oberhausen zeigt „Medea“, und als (einzige) Autorin des Stücks wird hier Wihad Suleiman genannt, Autorin und Regisseurin, Jahrgang 1988. In gewisser Weise ist das auch schlüssig; denn von Euripides, Christa Wolf und etlichen Anderen, die sich mit dem Medea-Stoff befasst haben, ist hier wirklich kaum etwas zu spüren. Kann das gutgehen?

Ein Paar im Streit – Medea (Janna Horstmann) und Jason (Omar El-Saeidi) (Foto: Axel J. Scherer/Theater Oberhausen)

Medea pappt das Etikett „Kindermörderin“ an. Doch natürlich hatte die Tötung ihre Vorgeschichte. Nach etlichen tragischen Wendungen war Medea, Tochter Königs Kolchis, mit ihrem geliebten Mann Jason an den Hof Kreons in Korinth geflohen. Sie hatte zwei Söhne mit ihm, und alles war halbwegs erträglich, auch hier in der Fremde.

Doch dann wendet Jason sich von ihr ab und heiratet Kreons jüngste Tochter. König Kreon verweist Medea bald darauf des Landes, er ahnt Rachegelüste. Und in der Tat überwindet Medea ihre Schockstarre nach dem erlittenen Unrecht und wird auf grausame Art aktiv. So viel in fast schon sträflicher Verkürzung.

Was bisher geschah

Mit Medeas Verzweiflung beginnt das Stück von Wihad Suleiman (auch Regie) in Oberhausen. Was bisher geschah, erzählt uns im Wesentlichen ihre Amme (Anna Polke), gekleidet in ein amorphes textiles Gebilde zwischen Kleid und Kittelschürze, die nach Sprache und Haltung durchaus auch in der Bütt reüssieren könnte. Gemäß dem Setting der griechischen Tragödie ist sie hier zusammen mit Dunja Dogmani, die neben dem Lautenspieler sitzt, so etwas wie der Chor, nur eben viel kompakter, flotter im Erzählen. Eine sinnvolle Setzung.

Die Amme (Anna Polke) führt in das Geschehen ein (Foto: Axel J. Scherer/Theater Oberhausen)

Wenn Medea (Janna Horstmann) nun zum ersten Mal die Bühne betritt, tut sie es mit geballten Fäusten und tief gebeugt, unsichtbar bleibt ihr Gesicht unter den herabhängen blonden Haaren. Bald aber redet sie, und manchmal meint man gar, ein klassisches Versmaß in ihrer Klage wahrzunehmen. Vertraut und zeitlos ist ihr Leid, zornig ist sie, fassungslos wegen des Unrechts, das ihr widerfuhr. Das Motiv der Existenzbedrohung hingegen, allgegenwärtig eigentlich in diesem fremden Land, in dem nicht nur das Volk, sondern auch der König sie nicht mag, tritt hinter den „moderneren“ Motiven zurück.

Wie konnte sie nur?

Wie also kommt diese Frau nun dazu, den Kindermord zu beschließen und auszuführen? Sie tut es ja nicht im Affekt, sondern mit kalter Planung. Und vielleicht ist ihr die Mordtat auch nur möglich, weil sie früher schon gemordet hat, oder zumindest doch Morde ermöglichte. Medea, und das macht die Faszination dieser Figur zu einem großen Teil ganz ohne Frage aus, ist ja in höchsten Maße widersprüchlich, steht in unserer Gegenwart wie auch in der Antike, als man über sie zu berichten begann, weit jenseits der herrschenden Vorstellungen von Moral und Recht.

Medea (Janna Horstmann) und König Kreon (Hartmut Stanke) (Foto: Axel J. Scherer/Theater Oberhausen)

An einer psychologischen Ergründung von Medeas Entscheidung für den Kindermord zeigt dieses Stück jedoch kaum Interesse. Ein Großteil des Entscheidungsprozesses, wie er hier inszeniert wurde, vollzieht sich schließlich als eine Art wortloser Schleiertanz hinter durchscheinenden Vorhängen. Dieser Tanz ist die Zäsur, bevor es zum „Versöhnungsessen“ mit dem ungetreuen Jason (Omar El-Saeidi) kommt, dem Höhepunkt dieses Stücks.

Wie ein junges Ehepaar

Was es zu essen gibt, ahnte man beizeiten. Spätestens, wenn Jason Medea „Wo sind die Kinder, du Miststück“ ins Gesicht schreit, und sie ihm antwortet „Warte, bis du fertig verdaut hast“, herrscht Klarheit. Als Ratte, Verräter, Hure und so fort titulieren sich die beiden wechselseitig, und da sind sie dann eher ein junges, unzufriedenes Paar, das sich auch über das Geld streiten könnte, das nie reicht, oder über die neue Beule im Auto. Aber tragisch ist ihr Streit selbst auf seinen Höhepunkten nicht, eher schäbig und alltagsgrau.

Immerhin gelingt es Omar El-Saeidi in diesem Finale, die Verlogenheit von Jasons Argumenten überzeugend herauszuspielen. Vernünftig sei es gewesen, Kreons Tochter zu heiraten, erklärt er Medea, gut für die Sicherheit der eigenen Leute im fremden Land: Muster eines geradezu zeitlos einsetzbaren Erklärungsversuchs, warum die Frau „vernünftig“ sein soll, wenn sie verlassen wird. Es nimmt sehr für Medea ein, dass sie in der Vergangenheit nicht „vernünftig“ war und es auch jetzt nicht ist.

Ambitioniertes Schauspielertheater

Mit ihren gerade einmal 90 Minuten entwickelt sich diese Oberhausener „Medea“ als flott gespielter Bühnenabend, der durchaus seine Geschichte erzählt und sicherlich Diskussionen anregen kann. Man sieht ambitioniertes Schauspielertheater, woran auch das Oberhausener „Urgestein“ Hartmut Stanke als Kreon und Peter Waros als Aigeus ihren Anteil haben.

Herzlicher Beifall aus dem Zuschauerraum, in dem an diesem Abend leider etliche Plätze unbesetzt geblieben waren.




Münster bleibt dem Tiger treu

Im westfälischen Münster hält man auf Tradition. Man gibt das Gestern nicht so leicht verloren.

Fertiggestellt: Zootiger Rasputin in der Präparations-Werkstatt. (Foto: LWL/Steinweg)

Fertiggestellt: Zootiger Rasputin in der Präparations-Werkstatt des Naturkundemuseums. (Foto: LWL/Steinweg)

So haben die Münsteraner  – berühmtestes Beispiel – nach dem Krieg ihren historischen Prinzipalmarkt getreulich wieder neu erstehen lassen. Welch ein Gegensatz zu Dortmund, wo das damals älteste steinerne Rathaus Deutschlands 1955 kurzerhand abgerissen wurde.

Wir wechseln auf ein ganz anderes Feld, bleiben aber im Modus der Überlieferung: In Münster mag man sich nicht einmal von besonderen Tieren des Allwetterzoos ganz und gar trennen.

Jetzt ist der im Februar 2016 gestorbene Amur-Tiger Rasputin (er musste wegen eines Tumors am rechten Vorderlauf eingeschläfert werden) wieder in seiner prachtvollen Gestalt vorhanden. Er wurde von Fachleuten des Münsteraner LWL-Museums für Naturkunde Millimeter um Millimeter sorgsam präpariert.

2013 einen Tierpfleger getötet

Entscheidend fürs stimmige Gesamtbild seien Kleinigkeiten, zum Beispiel, „wie welche Streifen im Fell wo saßen“, sagt Präparator Markus Ranft, der den Gesichtsausdruck des majestätischen Tieres anhand von vielen Fotos nachgebildet hat. Keine leichte Aufgabe, denn langjährige Zoobesucher kannten das Aussehen dieses Tigers genau, ihnen kann man nichts vormachen. Unter dem Fell verbirgt sich freilich nicht das Originalskelett, sondern eine vorgefertigte Form.

Nun sieht er fast wieder so aus wie früher im Zoo. Man mag das zunächst vielleicht ein wenig gruselig finden, doch das liegt wohl hauptsächlich daran, dass das Tier noch nicht so lange tot ist. Rasputin hat vielen Menschen als lebendiges Wesen imponiert. Doch es bleiben nicht nur erfreuliche Erinnerungen an ihn. 2013 hatte Rasputin einen Pfleger durch einen Genickbiss getötet.

Wann eine breitere Öffentlichkeit den präparierten Tiger erstmals sehen kann, steht noch nicht fest. Er soll, wenn es thematisch passt, künftig im Rahmen von Sonderausstellungen des Naturkundemuseums gezeigt werden.




Stand jetzt ziemlich „humorlos“ – Notizen zum TV-Fußballjargon

Über die gängigen Floskeln der Fußball-Kommentatoren im Fernsehen kann man sich – je nach Laune – immer wieder amüsieren oder echauffieren. Hier sind ein paar neuere Standard-Wendungen, die ich mir in letzter Zeit geflissentlich notiert habe:

"Der hat ein anderes Spiel gesehen als ich." (Verfremdeter Screenshot aus dem Dortmunder Stadion)

„Der Blindfisch hat ein anderes Spiel gesehen als ich.“ (Verfremdeter Screenshot einer Begegnung im Dortmunder Stadion)

Gilt es ein Foul zu bewerten, heißt es vom Reporterplatz aus gern: „Da gibt es keine zwei Meinungen“. Diese Verfügung im nahezu diktatorischen, jedenfalls keinen Widerspruch duldenden Gestus bedeutet, dass der Kommentator genau und unwiderleglich weiß, ob es regelwidrig zugegangen ist oder nicht. Könnte der Schiedsrichter ebenfalls Zeitlupen aus einem Dutzend Blickwinkeln begutachten, wäre er vielleicht ebenso oberschlau. Wenn’s denn überhaupt stimmt, was der rundum bildversorgte Fernsehmann gesehen haben will.

„Mit allem, was er hat“

Ein kompromissloser Abwehrspieler wird seit einigen Jahren bevorzugt als „humorlos“ bezeichnet. Auch seine entschlossene Grätsche ist „humorlos“. Wer also Mist baut und dem Gegner dadurch unnötige Chancen gestattet, besäße im Umkehrschluss beträchtlichen Humor. Wat hammwer da gelacht! Apropos Abwehrspieler, einige Kommentatoren gefallen sich öfter mal in der erlesenen Formulierung, einer gehe „mit allem, was er hat“ in die Szene `rein. Das muss man sich im Vortrag mit einem ganz leicht gekräuselten Grinsen vorstellen. Wie denn überhaupt weichgespülte Ironie zur Grundausstattung gehört.

Diverse Sprecher gelangen freilich eh kaum über ein pures Nachplappern dessen hinaus, was man als Zuschauer mit eigenen Augen sieht. Man möchte unentwegt „Ach was!“ murmeln: Kommt einer nicht an den Ball, sagen sie „Er kommt nicht `ran“, stehen Widersacher seinem Schuss im Wege, heißt es, er sei „geblockt“ worden. Segelt eine Flanke etwas zu weit, ist sie „gut, aber nicht gut genug“. Verfehlen Pässe ihr Ziel, mangelt es an „Präzision“. Greift eine Mannschaft an, steht sie „hoch“, zieht sie sich nach hinten zurück, steht sie „tief“. Welch‘ ein (tief)sinnig ausdifferenziertes Fachvokabular… Vorteil: Bei solchen Nullformeln kann man vielfältig andocken und zu (un)passender Gelegenheit auch mal Bescheidwisser-Schenkelklopfer wie etwa Mentalitätsmonster“ oder „Feierbiest“ einstreuen.

Als man noch von „Granaten“ sprach

Der wohl schlimmste Mikrophonquäler von allen, den ich hier nicht namentlich nennen mag (er labert für einen Bezahlsender drauflos) und mit dem verglichen selbst Béla Réthy, Tom Bartels oder Gerd Gottlob wahre Leuchten ihrer Zunft sind, überbrückt die Zeit mit Bemerkungen des Kalibers, dass es dieser (oder eben jener) Mannschaft gefallen würde, wenn sie z.B. noch ein, zwei Tore macht, die Punkte holt und gewinnt. Man hält es nicht für möglich. Da sehnt man sich heftig zurück nach einem Ernst Huberty, der auch mal eine ganze Strecke schweigen konnte. Okay, wenn dann ein entscheidendes Tor fiel, war er auch nicht vollends aus dem Häuschen. Aber das konnte man verschmerzen. Ein paar Emotionen brachte man ja selbst mit.

Immerhin knödeln sie alle heute längst nicht mehr im martialischen Jargon von früher, als stets von Bomben und Granaten die Rede war und der erfolgreichste Stürmer als „Bomber der Nation“ bezeichnet wurde. Bis tief in die 70er Jahre hinein ging das so. Es war die Zeit, als der eine oder andere tyrannische Trainer noch geschrien haben soll: „Ihr müsst Gras fressen“. Dies und das pathetische Wochenschau-Tremolo der 50er Jahre, in denen der Krieg noch nachzitterte, brauchen wir erst recht nicht mehr.

Es kommt auf die Sekunde an

Statt dessen bequatschen uns jetzt Sprachverweigerer, die nicht mehr „nach jetzigem Stand“ sagen können. Die allermeisten sagen immer nur „Stand jetzt“, auch dann, wenn es z. B. um Transfergerüchte geht. Auch bringen sie nicht „die erste Halbzeit“ über die Lippen, sondern immer nur „Halbzeit eins“ oder „Minute zehn“, um nur ja keine Sekunde zu verschenken. Die gewonnene Zeit füllen sie sodann mit aberwitzigen Statistiken. Oder sie weisen schon mal wortreich auf die anschließende „Analyse“ respektive auf eine selbstverständlich hochkarätige Expertenrunde hin, in der uns diese eben gesehene (läppische) Szene „noch lange beschäftigen“ werde.

Wo wir schon bei Minuten sind: Wenn es auf die Nachspielzeit zugeht, gibt es bei diesen Herrschaften immer zwei oder drei Minuten „oben drauf“, niemals „zusätzlich“. Pardon, ich habe eine Ausnahme vergessen: Für Bayern München gibt’s bei Bedarf natürlich mindestens 8 Minuten „oben drauf“.

Jaja, schon klar, man möchte mit diesen sich überaus wichtig nehmenden Leuten (außer womöglich beim Gehalt) auch nicht unbedingt tauschen. Unter dem Druck eines Millionen-Publikums würde jede(r) von uns gelegentlich Unsinn verzapfen. Doch was sind das für Zeiten, in denen man den arroganten und manchmal parteiischen, doch immerhin deutlich sprachbegabten Marcel Reif wieder am Mikro haben möchte? Vom unvergleichlichen Ruhri Werner Hansch mal ganz zu schweigen. Aber seit er das selbst zu sehr weiß, nervt auch er gelegentlich.

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Nachträge (werden gelegentlich aktualisiert)

„Gute Bewegung“ (Wenn einer am Gegner vorbeikommt)
„Das war kein Freistoß für die Geschichtsbücher.“
Der Ball wird „durchgesteckt“.
„Ein emotionaler Moment“ (Inflationär gebräuchlich, wenn etwas nicht ganz gleichgültig ist)

Das neueste Ding der Sport-Kommentatoren ist es, den mächtig intellektuell klingenden Begriff „Momentum“ einzustreuen. Spieler nutzen demnach nicht mehr den richtigen Moment, sondern das Momentum. Es ist zu erwarten, dass demnächst auch „Telos“ und „Kairos“ verwendet werden.

„Fix“ (Eher in Print-Produkten gebräuchlich. Bezeichnet in aller Kürze einen unzweifelhaft geschlossenen Vertrag bzw. erfolgten Transfer. Weiß der Teufel, wer zuerst darauf gekommen ist.)




Ernst Huberty wird 90 Jahre alt – Er stand für Fußball-Kommentare mit gedämpften Emotionen

TV-Legende Ernst Huberty (Screenshot aus: http://www.youtube.com/watch?v=VmYQEJ_Ww8E)

TV-Legende Ernst Huberty (Screenshot aus: http://www.youtube.com/watch?v=VmYQEJ_Ww8E)

Ernst Huberty, der legendäre ARD-Sportjournalist („Mister Sportschau“), wird heute 90 Jahre alt. Aus diesem Anlass noch einmal der Beitrag, der im Juni 2014 über ihn in der Revierpassagen-Reihe „TV-Nostalgie“ erschienen ist:

Wenn man Béla Réthy, Tom Bartels, Steffen Simon und Co. über Fußball palavern hört, dann sehnt man sich manchmal zurück in die alten Zeiten eines Kurt Brumme, Rudi Michel – oder Ernst Huberty. Wie nüchtern und abgeklärt wirkte das, verglichen mit heute.

Beispielsweise im Vorfeld der Fußball-WM in Brasilien fiel es 2014 wieder besonders auf, welch ein Geschrei inzwischen um den Fußball gemacht wird. Im Laufe eines Spiels werden alle möglichen und unmöglichen Statistiken geliefert, auch gibt’s schon mal neckische Anspielungen auf halb private Umtriebe der Kicker. Mal ganz abgesehen von der umfangreichen Vor- und Nachberichterstattung. Das alles war in den alten Zeiten undenkbar.

„Ausgerechnet Schnellinger“

Man höre sich noch einmal (leider nur in Ausschnitten möglich) Ernst Hubertys Fernsehkommentar zum sogenannten „Jahrhundertspiel“ zwischen Italien und Deutschland bei der Fußball-WM 1970 in Mexiko an. Lange wogte die legendäre Begegnung hin und her, es ging in eine Nerven zerreißende Verlängerung. Schließlich gewann Italien mit 4:3.

Man mag sich gar nicht ausmalen, wie heutige Sprecher bei einem solchen Match simulieren würden, dass sie von einer Ohnmacht in die andere fallen. Ernst Huberty, ab 4. Juni 1961 über Jahrzehnte der „Mister Sportschau“ der ARD (als noch keine private Konkurrenz drohte), blieb hingegen die Ruhe selbst. Ein leise, aber irgendwie doch intensiv dahingesagtes „Ausgerechnet Schnellinger“ markierte schon einen Gipfel der Gefühle.

Keine starken Gefühle zeigen

Tatsächlich wurde damals ja auch noch langsamer gespielt, so dass Huberty und Kollegen die Ballstaffetten sehr gemächlich mit bloßer Namensnennung abhaken konnten. Wenn überhaupt. Fiel ein Treffer, so reichte meist ein lakonisches „Und Tor.“ Oder dergleichen. Während des Spiels wurde oft einfach geschwiegen. Es gibt ja auch nicht immer was zu schwätzen.

Selbst das WM-Finale von 1966 (England – Deutschland 4:2) rang Rudi Michel nur begrenzte Emotionen ab. Jedenfalls trug er sein Herz nicht auf der Zunge, nicht einmal beim berühmten „Wembley-Tor“ (oder eben Nicht-Tor). „Das wird wieder Diskussionen geben“, sagte er, äußerlich seelenruhig, innerlich aber wohl bewegt. Männer durften damals noch immer keine allzu deutlichen Gefühle zeigen. Metallisch dröhnende Töne wie noch 1954 waren freilich auch nicht mehr erwünscht.

Wohltuend unaufgeregt oder langweilig?

Die Sprecher der 60er und 70er Jahre klingen für heutige Empfinden einerseits wohltuend unaufgeregt. Andererseits bringt man die Geduld für einen solchen Stil gar nicht mehr auf. Je nach Gemütszustand, möchte man Ernst Huberty am liebsten nachträglich schütteln: „Nun reg’ dich doch endlich mehr auf! Nun lass doch mal deinen Empfindungen freien Lauf!“

Es müsste mal einer ein Buch darüber schreiben, wie sich die Fernseh-Fußballreportage seit Hubertys Zeiten grundlegend verändert hat, mit Zwischenstationen wie Heribert Faßbender oder Gerd Rubenbauer – und wie sie alle hießen.

Ein Extra-Kapitel könnte man der Entwicklung widmen, dass gesellschaftliche Befunde anhand des Fußballs dingfest gemacht werden – und dass neuerdings auch mehr oder weniger subtiler Humor in Sachen Fußball erlaubt ist. Man vergleiche etwa den betulich ernsten „Kicker“ mit dem quicken und hellwachen Blatt „11 Freunde“…

Der Mann mit dem „Klappscheitel“

Ernst Huberty, der Mann mit dem unvergleichlichen „Klappscheitel“, hatte seine Laufbahn in den späten 50er Jahren begonnen. Als WDR-Sportchef und Moderator der Sportschau wurde er 1982 abgelöst, weil er es mit Spesenabrechnungen nicht so genau genommen haben soll. Man schob ihn ins dritte Programm ab.

1990 sprang Huberty beim noch neuen Bezahlsender Premiere ein und gab nebenher jungen Talenten wie Johannes B. Kerner oder Reinhold Beckmann Tipps. Doch da waren die alten Zeiten schon vorbei – und das unaufhörliche Geschrei über Fußball hatte begonnen.




Das Fundament zur Musik: Dortmunder Festival „Klangvokal“ präsentiert die Vielfalt des Singens

Bild: Festival Klangvokal Dortmund

Titelmotiv des Programmbuchs (Bild: Festival Klangvokal Dortmund)

Georg Philipp Telemann, vor 250 Jahren in Hamburg verstorben, prägte einen berühmten Satz. Singen, so schreibt er in einem Brief an Johann Mattheson, sei „das Fundament zur Musik in allen Dingen“. Komponisten wie Instrumentalisten sollten des Singens kundig sein. „Also präge man das Singen jungen Leuten fleißig ein“.

So gesehen, müsste Dortmund eine der musikalischsten Städte in Deutschland sein, denn hier wird eifrig gesungen: Rund 300 Chöre und Vokalensembles soll es in der Stadt und ihrem Umfeld geben – und 130 von ihnen lassen zum neunten Mal beim „Fest der Chöre“ zwischen St. Reinoldi und St. Petri lebendig erleben, welche Vielfalt des gemeinsamen Singens möglich ist: vom diffizilen Chorsatz bis zum kraftvollen Volkslied, vom Gospel bis zum Shanty, von liturgischem Gesang bis zum Popsong. Am Samstag (17. Juni) also wird es in der Dortmunder Innenstadt an allen Ecken und Enden klingen, beginnend mit dem gemeinsamen Singen um 12 Uhr auf dem Alten Markt, ein Ereignis, das in den vergangenen Jahren stets Tausende von Besuchern angezogen hat.

Weit über die Grenzen hinaus

Das Chorfest ist Teil des ehrgeizigen Festivals „Klangvokal“, das seit 2009 immer wieder für künstlerische Höhepunkte gesorgt hat – man denke allein an die Deutsche Erstaufführung der Urfassung von Giacomo Puccinis früher Oper „Edgar“ oder an Franz Schmidts monumentales Oratorium „Das Buch mit sieben Siegeln“ im letzten Jahr. Das Musikfest hat aber auch den Blick geweitet über Grenzen der Gattungen, der Länder und der Kontinente hinaus: Wie singen die Menschen in Aserbeidschan oder in Zypern?

In diesem Jahr steht von 28. Mai bis 25. Juni in 20 Veranstaltungen so etwas wie eine Selbstvergewisserung an: Wie klingt eigentlich die „Heimat Europa“? Wie verändert sich Vokalmusik im Lauf der Jahrhunderte? Was nimmt sie an Einflüssen in sich auf? Wie sieht die Zukunft des Singens aus zwischen technisch perfektem, ausziseliertem Belcanto und vulgär deklamiertem Rap?

Enorm hoher Anspruch

Festival-Direktor Torsten Mosgraber hängt den Anspruch hoch: „Mit dem Thema ‚Heimat Europa‘ begleitet das Klangvokal Musikfestival Dortmund den aktuellen Diskurs um die Zukunft auf unserem Kontinent und belebt ihn mit vokalmusikalischen Kostbarkeiten vom 14. Jahrhundert bis heute.“ Wenn das nicht nur wohlfeiler Marketing-Sprech bleiben soll, hat sich das Festival-Team einiges vorgenommen.

Lawrence Brownlee, einer der führenden Rossini-Tenöre der Gegenwart. Foto: Derek Blanks

Lawrence Brownlee, einer der führenden Rossini-Tenöre der Gegenwart. (Foto: Derek Blanks)

Das Programm, wenn man es so lesen will, behauptet zunächst den klassischen Belcanto als Ausgangspunkt des Singens: Bei der Eröffnung am Sonntag (28. Mai) wird mit Gioacchino Rossini einer der Komponisten zu Klang gebracht, der noch die verfeinerte Kunst des Singens aus dem 18. Jahrhundert geschätzt und ins nächste Jahrhundert gerettet hat, gleichzeitig aber mit einer neuen Epoche unmittelbarerer Emotionalität und mit veränderten technischen Möglichkeiten konfrontiert war. Seine Oper „Le Comte Ory“ steht als ironisch blitzendes Juwel am Ende der Ära des Ziergesangs. Mit Lawrence Brownlee – flankiert von Sängerinnen wie Jessica Pratt oder Stella Grigorian, die in der Vokalkunst einen Namen haben – erwartet ein Virtuose des kunstreichen Rossini-Gesangs im Dortmunder Konzerthaus sein Publikum.

Der Opernkunst huldigen

Die Oper mag man als Mekka des Gesangs ansehen, und ihrer heiligen Kunst wird reichlich gehuldigt: Antonio Vivaldis Pasticcio „Il Tamerlano“ – auch bekannt als „Bajazet“ – kommt am 2. Juni zur Aufführung, Henry Purcells „King Arthur“ am 24. Juni. Mit Georg Friedrich Händels „Acis und Galathea“ kehren am 10. Juni das mit hervorragenden Sängern und Instrumentalisten besetzte Collegium Marianum und die Puppenspieler von „Buchty a loutky“ aus Prag nach Dortmund zurück, um Händels „Masque“ zu spielen.

Mit Edward Elgars „The Dream of Gerontius“ steht am Pfingstmontag (5. Juni) in der Reinoldikirche ein Hauptwerk des englischen Chorgesangs auf dem Programm. Der Philharmonische Chor des Dortmunder Musikvereins und die Dortmunder Philharmoniker realisieren unter Leitung von Granville Walker Elgars klangüppige Vertonung eines Poems von Kardinal John Henry Newman. Ein – immerhin gläubiger – „Jedermann“ steht vor dem Sterben und beschreitet nach seinem Tod einen Weg jenseits von Raum und Zeit, der ihn durch die klanglichen Welten von Engeln und Dämonen vor das Gericht Gottes und mit der Verheißung der Erlösung ins Purgatorium führt, die jenseitige Reinigungsstätte, die in der katholischen Tradition als Fegefeuer bezeichnet wird. Das Werk hat übrigens nach einer desaströsen Uraufführung unter Hans Richter in Birmingham seinen Siegeszug mit zwei Aufführungen in Düsseldorf 1901 und 1902 angetreten. Heute gilt es vielen als Hauptwerk von Elgars vokalem Schaffen.

Chormusik durch die Jahrhunderte

Chormusik vom 14. Jahrhundert bis zur Gegenwart ist bei weiteren sechs Konzerten zu hören, etwa am Pfingstsonntag (4. Juni) in der Nicolaikirche mit dem Chor des Lettischen Rundfunks und dem Großen Abend- und Morgenlob op. 37 von Sergej Rachmaninow, einem monumentalen Gipfelwerk der russischen liturgischen Musik. Oder am Freitag, 9. Juni in St. Bonifatius, wo das französische Ensemble Correspondances unter Sébastien Daucé Barockmusik des 17. Jahrhunderts singt. Die Schola Gregoriana Pragensis stellt am Dienstag (13. Juni) in der Marienkirche geistliche Gesänge, aber auch weltliche Chansons der Zeit Kaiser Karls IV. vor. Und an Fronleichnam (15. Juni) verweist Frieder Bernius mit Kammerchor und Barockorchester Stuttgart zwei Kantaten vor, die Johann Sebastian Bach zur Feier des Reformationsfestes geschrieben hat und die in diesem Jahr an den Beginn der konfessionellen Umwälzungen vor 500 Jahren erinnern.

Soul, Blues, Pop: China Moses, Tochter der Jazz-Sängerin Dee Dee Bridgewater, präsentiert ihr neues Programm „Nightintales“ am Donnerstag (1. Juni) im „Domicil“, die international erfolgreiche polnische Sängerin Anna Maria Jopek kommt mit ihrem Quartett am Donnerstag, 22. Juni, ebenfalls in dieses Dortmunder Forum für aktuelle Musikrichtungen.

Das Dortmunder Konzerthaus. (Foto: Häußner)

Auch Bespaßung gehört dazu

Wer’s mag, wird sich am 18. Juni einen Sonntagnachmittag im Konzerthaus gönnen und an den Lippen der zum „Opernvulkan“ stilisierten Simone Kermes hängen, die sich nicht zu schade ist, die Wahnsinnsszene aus Gaetano Donizettis „Lucia di Lammermoor“ in eine Reihe mit Schlagern und Filmsongs zu stellen und sich dabei vom „bekanntesten Protagonisten des deutschen Schlagers“, Roland Kaiser, assistieren zu lassen. Die Neue Philharmonie Westfalen hat die dankbare Aufgabe der Begleitung übernommen, der Mann oder die Frau am Pult ist noch nicht bekannt. Zur Vielfalt des Singens und zur Heimat Europa gehört eben auch die Art musikalischer Bespaßung, die gemeinhin als besonders populär angesehen wird.

Auf einem originelleren Niveau wird sicherlich der Abschlussabend des Festivals Kurzweil verbreiten: Zarzuelas, die spanische Form unterhaltenden Musiktheaters, laden am Sonntag (25. Juni) auf der Seebühne im Westfalenpark die hoffentlich laue Sommernacht mit feurigen Rhythmen und federleichten Melodien auf. Das WDR Funkhausorchester unter Enrico Delamboye entführt mit dem Flamenco-Gitarristen Santiago Lara und den Sängern María Rey-Joly und Ismael Jordi auf die iberische Halbinsel, wo Zarzuelas nach wie vor gerne gespielt und von allen großen einheimischen Gesangsstars hingebungsvoll gesungen werden.

Karten: Tel. 0231 / 50 299 96 – Internet: www.klangvokal-dortmund.de

 




Luther, Homer Simpson und die anderen – Arbeiten des Malers Anton Henning in der Recklinghäuser Kunsthalle

Homer Simpson, wie Anton Henning ihn schuf (Foto: Kunsthalle Recklinghausen)

Er malt Gesichter, die wie bezahnte Trompeten aussehen, chaotische Innenräume oder auch gruselig kryptische Gebilde, denen Trichter und einzelne Augen die Anmutung von Lebendigkeit verleihen.

Der Grad der Verfremdung naturalistischer Motive schwankt erheblich. Mal begnügt sich der Künstler mit der Applikation eines Horntrichters an einem ansonsten halbwegs normalen Gesicht, mal wirbelt er die Positionen von Augen Mund und Nase in einer Weise durcheinander, daß Francis Bacon und die Kubisten ihre helle Freude daran hätten.

Auf altmeisterliche Art

Manchmal weist nichts außer dem Bildtitel auf die (behauptete) Zugehörigkeit zur Gattung Portrait hin, manchmal aber auch arbeitet Anton Henning ganz konventionell, altmeisterlich sozusagen, Öl auf Leinwand. Das sieht dann ein wenig aus wie Renaissancemalerei, wenngleich die Ausgestaltung der Augen bei Henning nicht ganz so akribisch ist wie in vielen Originalwerken jener Zeit. Einige eher „italienische“ Renaissanceköpfe denn also – wie der von Papst Leo X – bereichern die Ausstellung, daneben aber hat Martin Luther es dem Maler angetan. Immer wieder warf er ihn aufs Leinen, mit typischem Barett und ohne surreale Verfremdung. Weil Luther-Jahr ist vielleicht? Ja, sagt der Maler, das spielt durchaus eine Rolle.

Das Glasfenster für Recklinghausen besteht aus „Plaka und Zweikomponentenlack auf Plexiglas“ und ist 172 x 1057 cm groß (Foto: Kunsthalle Recklinghausen)

Zu sehen sind Hennings Bilder sowie einige plastische Arbeiten jetzt in der Recklinghäuser Kunsthalle, auf drei Etagen. „95 hypermanische Paraphrasen“ ist die Kunstschau betitelt, was bei freundlicher Betrachtung ein hoher Anspruch ist, bei eher nüchterner Sehweise relativ sinnfreies Wortgedröhn. „Hypermanisch“ gibt es nicht, manisch ist ja schon schlimm genug, jedenfalls als das eine Extrem in einer bipolaren psychischen Störung.

Hypomanisch ist etwas weniger schlimm als manisch, aber ebenfalls klinisch auffällig, jedenfalls wohl nicht gemeint. Doch auch wenn wir „manisch“ etwas weniger fachlich mit „besessen“, „obsessiv“ oder ähnlichem übersetzen, will es nicht recht passen. Das liegt natürlich auch daran, daß der Herr Künstler mit Anzug und Aktentasche eher gelassen und entspannt wirkt. Schwer, ihn sich als stark erregten Atelier-Berserker vorzustellen.

Kunst und Religion

Der Begriff Paraphrasen hingegen ergibt Sinn. Denn Anton Henning entwickelt seine Arbeiten an Persönlichkeiten, Ereignissen, Wahrnehmungen, Stilen entlang, lädt sie auf mit dem Durchdringungsanspruch des Künstlers. Solch einem schöpferischen Tun wohnt Religiöses inne, was Henning durchaus bejaht und weshalb der Luther tatsächlich für das Lutherjahr entstand.

Von einem anderen Idol des Malers, der übrigens im Jahre 1964 in Berlin das Licht der Welt erblickte und heute eine Autostunde von dort entfernt in Brandenburg lebt, war bis jetzt noch gar nicht die Rede, was es zu ändern gilt. Henning ist ein großer Freund der Simpsons, der voll prolligen Zeichentrickfilmfamilie aus den USA, deren Oberhaupt Homer viel Unsinn anstellt, was aber auf wunderbare Weise niemals negative Langzeitfolgen für die Familie hat, sondern ihr im Gegenteil zu Erkenntnis, Läuterung und letztlich Vergebung verhilft.

Die Simpsons – und Homer vorneweg – machen also, befindet Henning, in jeder Folge so etwas wie religiöse Erfahrungen, die geradezu ein Idealgegenstand für Paraphrasierungen sind. Eingang in die Ausstellung fanden daher etliche Homer-Portraits mit parakubistischen Eigenheiten unterschiedlichster Intensität, die hier natürlich sehr gut die Seelen- und Gemütszustände des glubschäugigen Filmhelden spiegeln.

Vorne im Bild Durchleuchtetes auf dem Künstlerleuchtmöbel „Minitrex“, hinten an der Wand das Große 3-teilige Stilleben No.1 von 2014 (Foto: Kunsthalle Recklinghausen)

Ob es in den Bildern Hennings nun bevorzugt um die Motive geht, um die Auseinandersetzung mit Stilen oder mit der Malerei als solcher, mag der Betrachter entscheiden. Streng geordnet und durchgezählt sind die Themenreihen, in Recklinghausen vor allem Portraits. Zudem gibt es einige wenige Trouvaillen wie das Künstlerleuchtmöbel „Minitrex“, Installationen wie „Pin-up No. 140“ aus Holz, Glas, Kokosnuß, Gips, Lampe, Buch, Kunststoffhand und PU-Schaum, die im Schaufenster des Museums steht, ein, zwei Akte und last not least eine hübsch bunte Glasarbeit, die das viele Quadratmeter große zentrale Museumsfenster vollständig bedeckt. „Stained Glass Window No. 7“ heißt sie, besteht aus 14 Acrylglasscheiben der Größe 172 mal 75,5 cm und behandelt, was nicht auf den allerersten Blick schon klar wird, die Sieben Todsünden. Sagt der Maler.

Keine Konzeptkunst

Bei weitem nicht alles in dieser Kunstschau erschließt sich zügig, und neben den komplexen personellen und stilistischen Bezüglichkeiten ahnt man schnell doch auch eine gewisse Lust am Verbergen und Verrätseln. Keine Konzeptkunst sei dies, unterstreicht der (demnächst in den Ruhestand wechselnde) Museumsleiter Prof. Ferdinand Ullrich im Pressetermin, sondern es sei eine Kunst, die erst im Prozeß des Entstehens ihre Form finde. Und sicherlich auch im Spielerischen, das diesem Vorgehen ebenso eigen ist.

Altmodische, wandhängende „Flachware“ denn also? Nun, eigentlich schon, aber warum auch nicht. Jedenfalls bereitet die Begegnung mit Anton Hennings Kunstauffassung in der Recklinghäuser Kunsthalle großes Vergnügen. Etliche Bilder würden bestimmt auch den Simpsons gefallen.

  • „Anton Henning – 95 hypermanische Paraphrasen“, Kunsthalle Recklinghausen, Große Perdekamp-Straße 25-27.
  • Bis 17 April 2017.
  • Geöffnet Dienstag bis Sonntag 11 bis 18 Uhr,  Montag geschlossen
  • Telefon +49(0)2361-50-1935
  • Telefax +49(0)2361-50-1932
  • info@kunst-re.de 
  • www.kunsthalle-recklinghausen.com
  • Eintritt 5 Euro, ermäßigt 2,50 Euro.



Ein Rathaus kündet vom guten Leben bei Wein und Gesang

Rathäuser als Zentralen der kommunalen Politik können das unterschiedlichste Aussehen und die seltsamste Geschichte haben. Wenn es sehr gut kommt, dann wurden sie direkt als Rathaus gebaut wie das wunderschöne spätmittelalterliche Fachwerkhaus in der Altstadt von Hattingen oder das Rathaus von Michelstadt – angeblich das älteste seiner Art in Deutschland.

Rathaus Ennepetal, früher ein Wohnheim für junge Fabrikarbeiterinnen. (Foto HH Pöpsel)

Weniger schön finden die meisten Bürger ihre als Neubauten errichteten Rathaus-Betonschachteln, wie man sie in Lüdenscheid oder Essen findet. Wieder andere Rathäuser zogen in ein Gebäude, das ursprünglich für einen ganz anderen Zweck gebaut wurde. Zu dieser Art gehört auch die Stadtverwaltung in der Industrie-Kleinstadt Ennepetal am Südrand des Ruhrgebietes.

Die Stadt gab es bis 1949 noch gar nicht. Zwei Gemeinden – Milspe und Voerde – schlossen sich damals freiwillig zusammen. Sie waren schon zuvor als ein gemeinsames Amt Milspe-Voerde locker verbunden gewesen, und diese Amtsverwaltung residierte seit 1937 in einem großen Altbau, der schon Ende des 19. Jahrhunderts von einem Fabrikanten als Wohnheim für seine jungen Fabrikarbeiterinnen gebaut worden war. War schon die Beschäftigung von Frauen in dieser Größenordnung in einer Schraubenfabrik damals ungewöhnlich, so war es die fürsorgliche Unterbringung nicht minder.

Neckische Putten mit Weinreben am alten Rathaus. Prost. (Foto HH Pöpsel)

Als einige Jahrzehnte später das Gebäude für diesen Zweck nicht mehr gebraucht wurde, wechselte es den Besitzer, der es zu einem Hotel umbaute. Auf diese Weise kamen auch die Stuckelemente an die Vorderfront, die vom guten Leben bei Wein und Gesang berichten. Als dann später die Amtsverwaltung einzog, ließ man den Außenschmuck unangetastet, und so blieb es auch, als nach der Stadtgründung im April 1949 ganz folgerichtig das Rathaus der neuen Stadt dort eingerichtet wurde.

Auch heute noch dient es als Verwaltungsgebäude, und im Sitzungssaal tagen noch immer die Politiker – wenn auch nicht mehr bei Bier und Wein. Das gibt es nur noch nach Dienstschluss in der Kantine, und die liegt immerhin im Untergeschoss dieses seltsamen Rathauses.




„Datengrab“: Ruhrgebiets-Krimi rund um IT-Sicherheit

Das Fernsehteam Pegasus ist wieder da und Kameramann Klaus-Ulrich Mager bekleckert sich nicht nur nicht mit Ruhm, sondern er steht sogar auf der Liste der Verdächtigen eines Verbrechens, das man doch einfach nur dokumentarisch hat begleiten wollen.

Im ehemaligen Schrebergarten seiner Eltern wird eine skelettierte Leiche gefunden und Dortmunds eigenwillige Kommissarin Kasten will zunächst nicht ausschließen, dass die ehemaligen Besitzer die Leiche, welche als eine seit Jahren als vermisst gemeldete Studentin identifiziert wird, unter das Gartenhaus verbracht haben.

Eine Leiche im Schrebergarten

Erste Spuren führen an das renommierte Kopula-Institut der Uni Duisburg-Essen, das sich im Bereich der IT-Sicherheit einen Namen gemacht hat. Der Zufall will es, dass dort die Freundin von Magers Sohn Kalle als IT-Expertin ebenfalls an dieser Uni arbeitet und sich unfreiwillig im Nebenjob als Ermittlerin betätigt. Gesucht werden die Doktorandin Lea Bensdorf und der IT-Supporter Tim. Simone hackt sich in die Systeme des Kopula-Instituts und was sie dort in alten „Datengräbern“ zutage fördert, lässt schaudern – und schnell einen Zusammenhang mit der Leiche im Schrebergarten vermuten.

Mit „Datengrab“ bringt sich das Fernsehteam Pegasus bereits zum zehnten Mal in Stellung. Die Krimis stammen aus der Feder von Reinhard Junge, einige entstanden gemeinsam mit Leo P. Ard, einem anderen Urgestein des gepflegten Ruhrgebietskrimis. Für „Datengrab“ holte Junge sich nun aber Christiane Bogenstahl mit an Bord. Die Bochumerin IT-Expertin schrieb bereits Kurzkrimis und sorgt nun sozusagen für das „Reboot“ der Pegasus-Reihe.

Revier zwischen Unis und Zechen

Mit über 400 Seiten liefern die beiden schon einen ordentlichen Schmöker ab und schütten ein wahres Füllhorn an Themen aus. Es geht um Macht und Machtmißbrauch, Gier, Eitelkeit, Mobbing und IT-Sicherheit. Das alles im Umfeld des akademischen Ruhrgebiets, aber auch das Milieu des „alten“ Ruhrgebiets mit seinen Zechensiedlungen und Schrebergärten kommt nicht zu kurz. Und wer nicht aus dem Revier kommt, kennt spätestens nach Lektüre dieses Krimis eine der wichtigsten Alltagsregeln hier: „A 40 nur, wennste Zeit hass“.

Das Verbrechen wie auch Täter und Drahtzieher kennt man beinahe von Anfang an und weiß über ihre Motive Bescheid, nur die Zusammenhänge erschließen sich erst sukzessive. Die dennoch durchweg hoch gehaltene Spannung speist sich hauptsächlich aus den Wegen, die Kriminalpolizei und die auf eigene Faust ermittelnden Fernsehleute beschreiten müssen, um die fast schon mafiös anmutenden Strukturen des Kopula-Instituts zu durchschauen und die Bösewichte schlussendlich zur Strecke zu bringen.

Nur eine Marotte trübt den Genuss

Die bei aller Bedrängnis ihren Humor nicht verlierenden Charaktere sind in kurzen, knackigen Kapiteln gut herausgearbeitet, man fiebert gerne mit, mag vor allem Simone und Kalle und verabscheut den Institutsleiter. Die Autoren beschränken sich auf klare Sätze und fast wäre das Krimivergnügen ungetrübt gewesen, wenn nicht immer wieder Absätze irritieren würden, in denen z.B. für ein und diesselbe Person mehrere verschiedene Bezeichnungen gebraucht werden.

Als Leser(in) fragt man sich unwillkürlich, ob hier gerade der Einsteigerkurs „Kreatives Schreiben, Folge eins: Synonyme leicht gemacht“ läuft. Diese irgendwie albern anmutende Angewohnheit reißt aus dem gemütlichen Lesefluss raus, was umso ärgerlicher ist, da die Spannung eigentlich an keiner Stelle stockt und ein Wachmacher somit gar nicht vonnöten wäre.

Viel Spaß hingegen machen die gelegentlichen Cross-Over-Begegnungen mit den Protagonisten eines anderen Krimi-Kosmos, mit Kommissar Schüppe und den Mannen von Broadfacts-TV. Ob deren geistigen Vater Thomas Schweres uns wohl seinerseits in seinem neuen Krimi „Die Abbieger“ verrät, wie seine Charaktere die brummelige Kommissarin Kasten und das neue Pegasus 3.0. Team finden?

Bogenstahl & Junge: „Datengrab“. Kriminalroman. Grafit Verlag, Dortmund. 445 Seiten, € 12,00.




Helmuth Macke stand stets im Schatten seines Cousins August – Jetzt holt das Kunstmuseum Ahlen seine Bilder ans Licht

Helmuth Macke: "Karussell am Rheinufer", 1924 (Öl auf Leinwand / Kunstmuseum Krefeld)

Helmuth Macke: „Karussell am Rheinufer“, 1924 (Öl auf Leinwand / Kunstmuseum Krefeld)

Wenn ein Museum bestimmte Künstler präsentiert, so will es ihnen in aller Regel besondere Wertschätzung erweisen oder sie überhaupt erst aufwerten, auf sie aufmerksam machen. Häufig könnte das Motto lauten: Seht her, diese Kunst wird bisher weithin unterschätzt, wir wollen dies ändern. So auch jetzt im Kunstmuseum Ahlen, wo Helmuth Macke in den Blickpunkt rückt, der Cousin des vier Jahre älteren, ungleich berühmteren August Macke.

Die Ahlener Schau ist zweite Station einer fünfteiligen Tournee mit jeweils wechselnden Werkschwerpunkten. Anlässe waren der 125. Geburtstag und der 80. Todestag Helmuth Mackes (1891-1936). Auf Konstanz (schon vorbei) und Ahlen folgen noch Penzberg, Erfurt und das August Macke Haus in Bonn.

Eine Frohnatur und ein Grübler

Ahlen ist mit von der Partie, weil es einschlägigen Eigenbesitz auch aus Mackes Umfeld vorweisen kann und weil der scheidende Museumsleiter Burkhard Leismann das Werkverzeichnis Helmuth Mackes erarbeitet; ein Projekt, das noch nicht abgeschlossen ist. Seit rund 30 Jahren bewegt sich Leismann, der nun quasi nach und nach in den Ruhestand geht, forschend auf Helmuth Mackes Spuren. Mit der jetzigen Ausstellung schließt sich also ein Kreis. Dass Leismann sich vollends aus dem Kunst-Kontext zurückzieht, mag man freilich kaum glauben.

Der scheidende Museumsleiter Burkhard Leismann, Kuratorin Ina Ewers Schulz vor Helmuth Mackes "Selbstporträt mit Palette", um 1910/11 (Öl auf Leinwand / Kunstmuseum Krefeld - Foto: Bernd Berke)

Der scheidende Ahlener Museumsleiter Burkhard Leismann und die Kuratorin Ina Ewers Schulz vor Helmuth Mackes „Selbstporträt mit Palette“, um 1910/11 (Öl auf Leinwand / Kunstmuseum Krefeld – Foto: Bernd Berke)

Helmuth und August Macke also. Die beiden haben stets freundschaftlich aneinander Anteil genommen, doch waren sie von sehr unterschiedlicher Gemütsart. Während der in Meschede geborene August Macke als Frohnatur galt, war der aus Krefeld stammende Helmuth Macke eher grüblerisch veranlagt. Immer wieder plagten ihn Selbstzweifel und Existenzängste. Bis heute steht er im Schattenbereich der Kunstgeschichte. Man fragt sich angesichts seiner Bilder, warum das so gekommen ist. Es hätte vielleicht nicht sein müssen.

Fast das ganze Frühwerk im Krieg zerstört

Schon mit 15 verließ Helmuth Macke die Schule, er hatte nicht einmal das „Einjährige“ (Realschulabschluss); ein Manko, das ihm später noch zu schaffen machen sollte. Immerhin kam er als junger Mann in Krefeld zeitig mit der künstlerischen Moderne in Berührung. Die dortige Kunstgewerbeschule, wo der Niederländer Johan Thorn-Prikker (der u. a. auch in Hagen wirkte) sein Lehrmeister war, öffnete sich den damals neuesten Strömungen aus Frankreich viel bereitwilliger als etwa die Akademie in Düsseldorf, die auf ältere, größtenteils verkrustete Traditionen hielt. Dort studierte August Macke also eher auf althergebrachte Art. Was die Moderne anging, hatte Helmuth anfangs einen gewissen „Vorsprung“. Doch was half’s?

Helmuth Macke: "Wasserkessel mit Rübe", 1909/10 (Öl auf Leinwand) (Privatbesitz)

Helmuth Macke: „Wasserkessel mit Rübe“, 1909/10 (Öl auf Leinwand) (Privatbesitz)

Es ist, als hätte das Unglück Helmuth Macke auch noch nach dem Tode verfolgt. Fast sein gesamtes Frühwerk ist im Zweiten Weltkrieg zerstört worden. Kuratorin Ina Ewers Schultz hat natürlich versucht, Raritäten aus den Anfangszeiten zeigen zu können, doch deren (Privat)-Besitzer mochten sich nicht von ihren Stücken trennen. Daher setzt diese Ausstellung erst um 1910 ein.

Kurz zuvor hatte Helmuth Macke am Tegernsee Künstler wie Franz Marc, Marianne von Werefkin, Jawlensky, Kandinsky und Gabriele Münter kennen gelernt – sozusagen die erste Riege der damaligen Avantgarde. Am Tegernsee entstand z. B. Helmuth Mackes Gemälde „Heuhocken in Sindelsdorf“ (um 1910) mit seiner durchaus eigenwilligen Formfindung und Farbigkeit. Im „Selbstporträt mit Palette“ (um 1910/11) zeigt er sich noch geradezu trotzig selbstbewusst.

Helmuth Macke "Niederrheinische Landschaft bei Lank am Rhein", 1926 (Privatbesitz)

Helmuth Macke „Niederrheinische Landschaft bei Lank am Rhein“, 1926 (Privatbesitz)

Hernach begegnete er in Berlin ja auch noch den Künstlern der „Brücke“-Vereinigung und freundete sich speziell mit Erich Heckel an. An hochkarätigen Inspirationen und an prominentem Zuspruch hat es mithin nicht gemangelt. Helmuth Macke gehörte einem regelrechten „Netzwerk“ an. Doch im Nachhinein scheint es, als sei er so etwas wie das schwächste Glied in der Kette gewesen.

Nirgendwo angekommen

Der schwerblütige Mann war keiner, der sein Glück beim Schopfe packte. Auch waren es mörderische Zeiten. Durch den Ersten Weltkrieg verlor er zwei seiner besten Gefährten, den Cousin August Macke und Franz Marc, der eine 27, der andere 36 Jahre jung. Helmuth Macke selbst wurde kriegsverletzt und erkrankte auf dem Balkan an Malaria. Seine Ortswechsel in all den folgenden Jahren wirken plan-, rast- und ruhelos, ja letztlich sogar im Wortsinne ortlos, als wäre er nie irgendwo richtig „angekommen“. Es wäre eine Frage von beträchtlicher Tragweite, ob dies auch die Kraft seiner Kunst geschmälert hat.

Die Ahlener Ausstellung umfasst rund 130 Bilder, etwa 80 stammen von Helmuth Macke und 50 von Freunden und Weggefährten aus dem Umkreis des Expressionismus. Zu nennen sind beispielsweise der schon erwähnte, einflussreiche Lehrer Johan Thorn-Prikker, sodann Heinrich Campendonk (ebenfalls Schüler bei Thorn-Prikker), Wilhelm Wieger und Heinrich Nauen. An mehreren Stellen sind auch einzelne Bilder von August Macke im Vergleich zu sehen. Und man kann nicht auf Anhieb sagen, dass er seinen Cousin Helmuth bei weitem überragt hätte, der sich nach 1914 übrigens intensiv um den Nachlass von August gekümmert hat.

Helmuth Macke: "Porträt Grete Hagemann (Frau Hoff", 1920, Öl auf Leinwand (Privatbesitz)

Helmuth Macke: „Porträt Grete Hagemann (Frau Hoff)“, 1920, Öl auf Leinwand (Privatbesitz)

Überhaupt ergeben sich hie und da ebenbürtige „Dialoge“, so etwa, wenn Katzen-Studien von Franz Marc, August und Helmuth Macke nebeneinander hängen. Oder wenn eine Serie von Badenden ahnen lässt, wie sehr sich Helmuth Macke ein zentrales Thema der „Brücke“-Künstler anverwandelt hat, das ihm zuvor fremd gewesen sein mag. Auch als Porträtist hat Helmuth Macke, wie hier mehrmals zu gewärtigen ist, Außerordentliches vermocht. Diese Bildnisse sind ausgesprochen lebendig und erfassen spürbar das Wesentliche.

Unterwegs zur Neuen Sachlichkeit

Wenn es dann auf den Stilwandel vom Expressionismus hin zur Neuen Sachlichkeit zugeht (generell eine hochinteressante, noch zu wenig erforschte Phase der Kunstgeschichte), hat Helmuth Macke gerade an den epochalen Schnitt- und Wendepunkten einige bemerkenswerte Bilder geschaffen. Am rätselhaft melancholischen „Paar am Tisch“ (1924) und am rasanten Auf und Ab beim „Karussell am Rheinufer“ (1924) wird man sich nicht so schnell sattsehen. Rein „sachlich“ gerierte er sich sowieso nicht, immer behielt er lyrische Momente bei.

Das Exponat mit dem größten Volumen ist indes kunsthandwerklicher Art: Ab 1925 schuf Helmuth Macke jenes apart blau grundierte und symbolträchtig bemalte Schlafzimmer-Ensemble (Bett, Kommode, Nachttisch, Spiegel, Schreibtisch und Stühle), das sich heute im Besitz eines Kunsthändlers befindet und – wie man gerüchteweise hört – für etwa 150.000 Euro auf den Markt kommen soll.

Ein Schlafzimmer für Dortmund?

Gelinde Überraschung: Indirekt hat dieses Schlafzimmer mit Dortmund und dem Museum Ostwall zu tun. Entstanden ist es nämlich für den Sommersitz des Maschinenfabrikanten Karl Gröppel am Chiemsee. Gröppel sammelte seinerzeit Kunstwerke der Avantgarde – und 1957 kaufte just das Ostwall-Museum das bedeutende Konvolut von rund 200 Werken an. Die Kollektion bildet den Kernbestand des Dortmunder Hauses.

Helmuth Macke: "Blaues Zimmer" (achtteiliges Schlafzimmer-Ensemble), für das sich im Hintergrund auch ein TV-Kameramann interessiert. (Artax Kunsthandel KG)

Helmuth Macke: „Blaues Zimmer“ (achtteiliges Schlafzimmer-Ensemble), für das sich im Hintergrund auch ein TV-Kameramann interessiert. (Artax Kunsthandel KG) (Foto: Bernd Berke)

Burkhard Leismann hält dafür, dass das von Helmuth Macke für Gröppel geschaffene Mobiliar ein idealer Zukauf für Dortmund wäre. Ergänzend wäre anzumerken, dass es nicht nur zum Geist des Ostwall-Museums, sondern wahrscheinlich auch gut zu den Sammelschwerpunkten des Dortmunder Museums für Kunst und Kulturgeschichte sich fügen würde. Fein. Jetzt müsste nur noch jemand den Dortmundern mal eben 150.000 Euro plus minus X anreichen…

Rätselhafter Tod im Bodensee

Zurück zu Helmuth Macke, dessen Tod bis heute rätselhaft anmutet. 1933 war er an den Bodensee gezogen. Der ohnehin zu Depressionen neigende Künstler litt am Unwesen der NS-Zeit und sah sich in die innere Emigration gedrängt.

Das eigentlich so idyllische Bodensee-Gemälde „Segelboot und badende Frauen“ (1933/36) wirkt unversehens wie ein Menetekel, wenn man dies weiß: Am 8. September 1936 ging Helmuth Macke mit einem Freund auf Segeltörn über den – je nach Wetterlage – manchmal äußerst tückischen Bodensee. Als ein Gewitter aufkam, kenterte das Boot. Der Freund konnte sich mit knapper Not retten, der geübte Schwimmer Macke nicht. Die näheren Umstände sind nie hinreichend geklärt worden. Es hört sich fast an wie ein Stoff für Martin Walser. Man könnte über einen kaschierten Freitod spekulieren. Man kann es aber auch bleiben lassen.

Helmuth Macke. Im Dialog mit seinen expressionistischen Künstlerfreunden. 19. Februar bis 1. Mai 2017. Kunstmuseum Ahlen, Museumsplatz 1/Weststraße 98, 59227 Ahlen/Westfalen. Geöffnet Mi-Fr 14-18, Sa/So/Feiertage 11-18 Uhr, Mo/Di geschlossen. Tageskarte 8 Euro, ermäßigt 4 Euro. Katalogbuch 24,80 Euro.

www.kunstmuseum-ahlen.de




Anmerkungen zur neuen WAZ-Beilage „Lust aufs Wochenende“

Es ist wahrlich kein neues Phänomen, dass viele Chefredakteure ihre Schwierigkeiten mit Kulturrezensionen haben. Vorab häppchenweise Appetit machen – okay. Das lassen sie schon mal gern durchgehen. Doch all das nachträgliche Kritisieren erscheint ihnen überflüssig. Die Leute werden schon selbst merken, ob es ihnen gefallen hat. Das könnte jetzt auch eine ziemlich populistische Denkfigur sein, oder?

Ausriss aus dem Titelseitenkopf der neuen Beilage (© WAZ)

Ausriss aus dem Titelseitenkopf der neuen Beilage (© WAZ)

Nach diesem unbedarften Gusto ist jetzt auch eine neue Beilage gefertigt, die heute erstmals in der WAZ erschienen ist. Sie heißt „Lust aufs Wochenende“, kommt donnerstags (mit 8 Seiten) und samstags heraus. Am Donnerstag besteht die Neuheit zu großen Teilen aus einem Terminkalender, der mit ein paar Texten garniert wird. Erleben, entdecken, genießen – so heißen die Leitwörter. Mann, sind die gut drauf! Immer jung und flott. Ein bisschen Kulinarik, ein bisschen Pop, Lifestyle und Events – fertig ist die bonbonbunte Mischung.

Von den Autor(inn)en hat man als Leser des WAZ-Mantelteils bislang noch nicht viel gehört, sie zählen nicht zur Kerntruppe des Blattes. Vergebens habe ich heute nach einem speziellen Impressum gesucht. Hab‘ ich’s übersehen? Gern hätte ich jedenfalls gewusst, wo die Funke-Gruppe diese Beilage produzieren lässt. Vielleicht erfährt man’s ja noch nachträglich.

Schauen wir mal etwas genauer hin: Bislang sind donnerstags in der WAZ stets einige Kinokritiken erschienen, weit überwiegend von erfahrenen und sachkundigen Mitarbeitern verfasst. Daran konnte man sich schon ganz gut orientieren. Und jetzt? Hat man diese Rezensionen offensichtlich gestrichen.

Statt dessen gibt’s praktisch nur noch kurzatmige Zehn-Zeilen-Vorstellungen neuer Filme, natürlich mit Sternchen-Wertung von 1 bis 5. Damit man sofort sieht, woran man ist und keine Zeit verschwenden muss. Richtig geraten: Kinocharts werden natürlich auch abgedruckt. Man muss ja unbedingt wissen, ob man zur großen Mehrheit gehört. Diese ganze Hit-oder-Niete-Top-oder-Flop-Denke. Ihr wisst schon, was ich meine.

Ein einziger Kino-Text ist in der Premierenausgabe ein ganz klein wenig länger geraten. Doch natürlich hat er empfehlenden Charakter, wenn man dabei von „Charakter“ sprechen kann. Mit Kritik hat man hier so gut wie nichts im Sinn. Schon gar nicht mit nachvollziehbaren Begründungen oder mit abwägendem Für und Wider. Fazit: Als kritische Instanz (hahaha! Der war gut…) ist diese neue Beilage ein Totalausfall.

Diese Donnerstags-Beilage u. a. in Großbuchstaben mit dem Slogan „MEHR KINO“ anzukündigen, ist jedenfalls ein schlechter Witz. Dass es dabei eh nicht um Arthouse-Filme, sondern um „die spannendsten Blockbuster und Familienfilme“ geht, dürfte wohl klar sein.

Damit nicht genug. Auf vier luftig layouteten Spalten wendet man sich in aller Kürze auch neuen Büchern zu. Kostprobe der heutigen drei „Bewertungen“ gefällig? Wortwörtlich: „Ein nahezu perfekter Roman“ (Julian Barnes), „Ein großer Roman von einem wahrlich meisterhaften Autoren“ (James Lee Burke) und „gelingt es in ihrem Debütroman großartig…“ (Noemi Schneider). Alles bestens also. Kein lästiges Gemecker. Mit dem ungefilterten Pressematerial der Verlage und werblichen Klappentexten ließe sich die Trommel kaum penetranter rühren. Überdies darf man gespannt sein, ob die WAZ-Kulturredaktion dieselben Bücher auch noch einmal aufgreift. Man kann ohnehin nur hoffen, dass sich dort noch weiterhin das eine oder andere Gegengewicht bemerkbar macht.

Schon am Mittwoch hatte die WAZ Reklame in eigener Sache betrieben. „Die WAZ macht Lust aufs Wochenende“, hieß es da im Anreißer auf der Titelseite und man dachte schon, es ginge gleich los. Doch wir, die wir das Wochenende bislang immer so verschmäht haben, mussten uns noch einen Tag gedulden, bevor uns die Zeitung endlich Lust darauf machte. Ein weiterer Hieb wird dann am kommenden Samstag folgen, die Ausgabe soll sich in Erscheinungsbild und Themenstruktur deutlicher von den Wochentagen abheben, soll sozusagen „wochenendiger“ werden und dabei offenbar Anleihen bei den Sonntagszeitungen nehmen. Man wird sehen.




Operetten-Passagen (3): Emmerich Kálmáns „Die Herzogin von Chicago“ am Theater Koblenz

Glamour im Halbdunkel: Szene aus der Koblenzer Inszenierung der "Herzogin von Chicago" im Bühnenbild von Michiel Dijkema und mit Kostümen von Alexandra Pitz. Foto: Matthias Baus

Glamour im Halbdunkel: Szene aus der Koblenzer Inszenierung der „Herzogin von Chicago“ im Bühnenbild von Michiel Dijkema und mit Kostümen von Alexandra Pitz. (Foto: Matthias Baus)

Vielleicht passen Operetten wie „Die Herzogin von Chicago“ besser in unsere Zeit als sentimentale Liebesgeschichten mit Friede, Freude, Happy End.

Operetten also, bei denen die Liebe ständig in der Gefahr schwebt, pragmatisch als Strategie für andere Zwecke eingespannt zu werden. Bei denen der Konflikt nicht glücklich verpufft und die romantische Beziehung bestätigt ist. Sondern Stücke, die entlarven, wie gefährdet, wie brüchig, ja wie unmöglich die große Liebe, die unbedingte Leidenschaft seit jeher sind. So wie eben Emmerich Kálmáns Operette von 1928, die auf dem Vulkan der entfesselten „goldenen“ Zeit tanzt und in der die Liebe von den aufsteigenden Dünsten einer ökonomisch grundierten Rationalität erstickt würde – wenn … ja, wenn es nicht die süße Illusion, die willkommene Unwahrscheinlichkeit, die Macht der Erwartung gäbe.

In der „Herzogin von Chicago“ repariert der Film – der Inbegriff der Fiktion in dieser Zeit –, was in der bitteren Realität wohl kaum zu retten wäre: Eigentlich ist die Romanze zwischen dem alteuropäischen Thronfolger in einem bankrotten Kleinstaats und der dollarschweren Erbin eines modernen Wirtschaftsimperiums aus der florierenden Neuen Welt an der Sollbruchstelle, dem Finale des zweiten Aktes, an ihrem schnöden Ende. Der Mann von Adel will herausgefunden haben, dass er lediglich das Objekt einer zynisch-infantilen Wette des verwöhnten Girls mit seinen Freundinnen ist: Gekauft werden sollte in Europa, was dort am schwersten für Geld zu haben ist.

Das königlich sylvarische Schloss ist bereits gekauft und amerikanisiert - der Prinz soll folgen. Marcel Hoffmann (Finanzminister Graf Bojatzowitsch), Emily Newton (Mary) und Christof Maria Kaiser (Charlie Fox junior). Foto: Matthias Baus

Das königlich sylvarische Schloss ist bereits gekauft und amerikanisiert – der Prinz soll folgen. Marcel Hoffmann (Finanzminister Graf Bojatzowitsch), Emily Newton (Mary) und Christof Maria Kaiser (Charlie Fox junior). (Foto: Matthias Baus)

In einer American Bar – damals wohl der Ort, an dem das unwirkliche Leben am heißesten pulsierte – geben sich die beiden einen kühlen Abschied. Das letzte Wort könnte gesprochen und ein tragisches Ende á la Franz Lehár besiegelt sein – da kommt der Film, der Traum auf Zelluloid, zum Zuge: Weil die „Herzogin von Chicago“ ein toller Stoff sei, brauche die „Geschichte nach dem Leben“ ein Happy End, um einen erfolgreichen Film abzugeben, verkündet Studio-Generaldirektor Charlie Fox junior: Das Leben gleitet in die Illusion, die Realität in die Fiktion, die Tatsachen in die Erwartung. Ob am Ende ein Film-Finale zu sehen ist oder eine Episode zweier Menschen, die sich verfehlt haben, zu Ende geht – wen interessiert’s? Hauptsache, der Film passt.

Walzerseligkeit vs. Charleston

Kálmán und seine geschickten Librettisten Julius Brammer und Alfred Grünwald haben mit diesem Kniff ein wenig an das Spiel mit Illusionen angeknüpft, das sie schon für ihre Erfolgsoperette „Die Bajadere“ ein paar Jahre vorher (1921) erfunden haben. In der „Herzogin von Chicago“ prallen zwei Welten aufeinander, repräsentiert durch Tanzmusik. Hier das walzerselige Wienerlied und der ungarische Csárdás, dort die neuen Modetänze, der Slowfox und der amerikanische Charleston. Die unterschiedlichen Kulturen manifestieren sich in Rhythmen und musikalischer Farbe. Orchester und „Jazz“-Band auf der Bühne, schwärmende Streicher und schmeichelnde Saxophone.

Kálmán versöhnt die musikalischen Sphären nicht. Aber er transzendiert sie: Wenn die kesse Amerikanerin ihre oberflächliche Vergnügungslaune hinter sich lässt, wenn der europäische Adlige seine verstockten Vorbehalte vergisst, versetzt die Musik die beiden in ein Fantasie-Land jenseits ihrer Lebenskulturen: „Komm in mein kleines Liebesboot, du Rose der Prärie“ singt Prinz Sandor Boris in exotisch-pentatonischem Touch sich und seine Geliebte hinein in ein fernes, untergegangenes indianisches Amerika. Dort, jenseits ihrer Kulturen, wo das „Ursprüngliche“ gegenwärtig ist, dort können sie ihre Liebe unbeschwert leben, sich „küssen bis zum Morgenrot“.

Die Figuren beim Wort genommen

Eine überraschende Lösung jenseits aller Operettenklischees – und Michiel Dijkema arbeitet in seiner Inszenierung am Theater Koblenz heraus, wie weltenthoben dieser Traum-Raum der Liebe ist: rotes Licht, Ethno-Anklänge, eine Sphäre fernab vom Glamour des mondänen „Grill americain“ und der marmornen Kühle des fürstlichen Adelssitzes.

Die Genauigkeit, mit der der niederländische Regisseur auf die szenischen Abläufe und die Entwicklung seiner Figuren schaut, bekommt der Operette ausgezeichnet. Dijkema – in NRW mit einer „Salome“ in Wuppertal und durch die Uraufführung von „Nahod Simon“ von Isiora Žebeljan (2015) in Gelsenkirchen aufgefallen – hält sich von der erzwungen lustigen antiquierten Operetten-Seligkeit ebenso fern wie vom bemühtem Überbau beflissener Operetten-Retter; er nimmt die Menschen im Stück einfach beim Wort und setzt ihre Intentionen und Gefühle – auch die unausgesprochenen – in treffende Körpersprache um.

Das macht die abnehmende Drehzahl, mit der die energische Milliardärstochter Mary durch ihr Leben wirbelt, ebenso glaubwürdig wie das aristokratisch resignierte Beharrungsvermögen des Erbprinzen aus dem Operettenstaat Sylvarien. Mit Emily Newton, derzeit auch in Dortmund in der „Blume von Hawaii“, und Mark Adler hat das Koblenzer Theater zwei prägnante Darsteller, die sich manchmal stimmlich allerdings zu sehr im Aplomb der Oper verirren.

Gelsenkirchens GMD am Pult

Bei Haruna Yamazaki und Peter Koppelmann als Buffopaar musste man diese Sorge nicht haben: Die Prinzessin Rosemarie aus einem ebenfalls finanzknappen Nachbarstaat und der amerikanische Tausendsassa im Dienste der verwöhnten US-Lady finden in schönster Buffo-Manier tanzend und trällernd zusammen. Das Ensemble engagiert sich in den zahlreichen kleineren Rollen mit Hingabe; auch der Koblenzer Chor, einstudiert von Ulrich Zippelius, und die Choreografien von Steffen Fuchs tragen ihren Teil zum Gelingen dieses erfreulich lockeren, dennoch präzis gestalteten Operettenabends bei.

In besten Händen ist Kálmáns opulente Musik bei Rasmus Baumann. Der Gelsenkirchener GMD begibt sich – wie in seinem Stammhaus mit der „Lustigen Witwe“ – vorurteilsfrei in die anspruchsvollen „Niederungen“ des Genres, schenkt den pfiffigen Rhythmen und den Ausdruckskontrasten zwischen der groß besetzten Jazz-Combo auf der Bühne und dem luxuriös besetzten Orchester im Graben volle Aufmerksamkeit.

Die Rheinische Staatsphilharmonie bringt die Schlager aus Kálmáns unerschöpflichem melodischem Erfindungsgeist manchmal etwas grob und lautstark zu Gehör, aber die rhythmische Flexibilität, die Balance der Farben, der drängende Schwung und der variable Klang hinterlassen einen rundum überzeugenden Eindruck.

Es zeigt sich immer wieder: Theater in der Größe von Koblenz tragen, wenn sie nicht die vermeintlich sichere Nummer des Gängigen ziehen oder von ökonomischen Zwängen erdrosselt werden, eine unverzichtbare Farbe zur deutschen Theaterlandschaft bei. Diese „Herzogin von Chicago“ wird das Publikum an Rhein, Mosel und Lahn prächtig unterhalten und darf für Operettenfreunde von außerhalb bedenkenlos als Reiseziel am Karnevals-Wochenende empfohlen werden.

Die nächsten Vorstellungen: 22., 24., 26. und 27. Februar.
Karten online oder telefonisch unter (0261) 129 28 40.

Info: www.theater-koblenz.de




Fast alles über die eiskalten Zeiten: Bernd Brunners Buch „Als die Winter noch Winter waren“

Die Samen (Ur-Skandinavier), die es wohl wissen mussten, haben mindestens zwischen Früh-, Mittel- und Spätwinter unterschieden. Ein durchschnittlicher Schneemann besteht aus rund 100 Milliarden Flocken. Anno 1890 mussten Zugpassagiere in Nevada schneehalber volle zwei Wochen in den Waggons ausharren. Und in Rio? Da bibbern sie angeblich schon bei 24 Grad plus.

Man ahnt es schon: Dieses Buch bewegt sich kursorisch kreuz und quer durch alle vorstellbaren Winter- und Kälte-Erfahrungen. Zwar gibt es eine Kapiteleinteilung, doch hin und wieder herrscht trotzdem ein bisschen Durcheinander; ganz so, als hätte sich der Autor bisweilen im Schneegestöber befunden. Der Mann heißt Bernd Brunner, sein Buchtitel ruft die oft ungemütlichen alten Zeiten auf: „Als die Winter noch Winter waren“, das könnte – so oder so – ein Stoßseufzer sein. Heute sind wir in der Hinsicht ja nichts mehr gewohnt. Früher war mehr Minus.

Echte Herausforderungen

Was die etwas Älteren unter uns vielleicht zuletzt im klirrenden Winter 1978/79 erfahren haben mögen, ist hier auf 240 Seiten gang und gäbe: Es geht vornehmlich um die harten Winter von ehedem, in denen man vor lauter Schnee nicht mehr wusste, wo oben und unten war. Über Jahrhunderte war der Winter eine echte, vielfach tödliche Herausforderung für die Menschen, die darob auch ziemlich abergläubisch waren. Und wie hat man eigentlich früher geheizt, welche Probleme gab es dabei? Auch solche gar nicht profanen Fragen werden abgehandelt.

Mjöll und Hundslappadrifa

Überdies geht es – die Jahrtausende überspannend – um Eiszeit und derzeitigen Klimawandel, um winterliche Überlebens-Strategien der Tier- und Pflanzenwelt, um Schönheit und Regelmaß der Schneekristalle, um Eisblumen und Eiszapfen, um entbehrungsreiche Arktis- und Antarktis-Expeditionen, um vielfältig differenzierte Bezeichnungen der Inuit, Norweger und Isländer: Mjöll heißt frischer Schnee auf Isländisch. Wie wohlig weich das klingt. Geradezu verlieben kann man sich ins folgende Wort: Hundslappadrifa bedeutet Schneefall mit großen Flocken…

Die Erfindung des Winterurlaubs und des Wintersports sowie das Aufkommen der Sehnsucht nach „Weißer Weihnacht“ (erst seit Mitte des 19. Jahrhunderts) deuten auf einen tiefgreifenden Wahrnehmungswandel auf Basis des bau- und heiztechnischen Fortschritts hin. Solche Passagen über die Mentalitätsgeschichte hätte man sich etwas ausführlicher gewünscht.

Bloß keinen Aspekt vergessen

Doch Brunner gewichtet nicht so sehr, sondern grast sein Thema mitsamt allerlei Kuriosa und Extremen rundum ab und garniert es mit allerlei literarischen Zitaten, Anekdoten und wissenschaftlichen Streiflichtern. Niemand soll ihm vorwerfen können, er hätte beim Recherchieren oder Aufzeichnen einen Aspekt vergessen.

Doch nichts ist perfekt, auch nicht das Lektorat: Ein ziemlich rätselhafter Fehler in diesem Buch ist mir neulich schon per Zufall begegnet. Wenn man dann z. B. noch einen argen Lapsus wie „Popularität schwedischer Autoren wie Strindberg und Ibsen“ (so wörtlich auf Seite 153) vorfindet, so schmälert dies allmählich das Vertrauen ins ganze Buch. Das mag ungerecht sein, doch wer weiß, was man noch übersehen hat.

Anfangs hatte ich gedacht und gehofft, hier wandle einer auf den Spuren des grandiosen Kulturhistorikers Wolfgang Schivelbusch, der auf wunderbar ergiebige Art alltagsnahe Themen wie etwa die Geschichte der Eisenbahnreise und der Genussmittel aufbereitet hat. Diese Hoffnung ist mir nach und nach etwas abhanden gekommen.

Jetzt lesen, bevor es zu spät ist

Gewiss: Brunner hat gar fleißig gesammelt und angehäuft, doch die Erkenntnisse, die über die puren winterlichen Phänomene hinaus weisen, halten sich denn doch in Grenzen. Angesichts der schieren Fülle des Materials hätte eine strengere Systematik gutgetan. So aber erschöpft sich die manchmal atemlose Darstellung gelegentlich in einem „Und dann war da auch noch…“ Auch lässt sich Brunner via Zitatstellen eine ganze Menge Text liefern.

Aber vielleicht hat sich die ganze Chose in dieser Form für uns eh bald erledigt. In den Abschnitten über Klimawandel hört sich schon manches nach Abgesang auf den europäischen Winter an. Also wird’s wohl hohe Zeit, dieses Buch noch schnell zu lesen – am besten mit Heißgetränk und auf dem Sofa in die Wolldecke eingemummelt.

Wer den Frühling schließlich kaum noch abwarten kann, wird in diesem Buch trostreich mit Zahlen bedient: Demnach kommt der Lenz, wenn er einmal begonnen hat, in unseren Breiten pro Minute 28 Meter und pro Tag 40 Kilometer nordwärts voran.

Bernd Brunner: „Als die Winter noch Winter waren. Geschichte einer Jahreszeit“. Galiani Berlin. 240 Seiten. 18 €.

P. S.: Um schöne Themenfindungen ist Bernd Brunner nicht verlegen. 2012 trat er bereits mit dem Buch „Die Kunst des Liegens. Handbuch der horizontalen Lebensform“ hervor.




Mode bis zum Tode: Jelineks „Das Licht im Kasten“ und Houellebecqs „Unterwerfung“ in Düsseldorf

Düsseldorf und Mode – das passt wunderbar zusammen. Den Stücktext dazu liefert die Schriftstellerin Elfriede Jelinek. Auch in Michel Houellebecqs „Unterwerfung“ ändern sich die Kleidervorschriften: Miniröcke sind plötzlich out, lange züchtige Gewänder dagegen angesagt. Zwei Inszenierungen am Düsseldorfer Schauspielhaus beschäftigen sich mit dem Geist der Zeit.

Szene aus „Unterwerfung“ (Foto: David Baltzer)

Zynische, abgründige und hoffnungslose Zukunftsszenarien sind die Spezialität des französischen Autors Michel Houellebecq. In seinem Roman „Elementarteilchen“ geht es um die Gentechnik und darum, welche Auswirkungen die Möglichkeit zur gesteuerten Reproduktion auf die menschliche Gesellschaft haben könnte.

In dem Buch „Unterwerfung“ imaginiert Houellebecq ein Frankreich im Jahre 2022, in dem nach bürgerkriegsähnlichen Zuständen zwischen Anhängern des rechten und linken Lagers schließlich ein muslimischer Staatspräsident an die Macht kommt. Eine unheimliche Aktualität erhielt der Roman dadurch, dass er zeitgleich mit dem Attentat auf die französische Satire-Zeitschrift „Charlie Hebdo“ im Januar 2015 herauskam. Wurde das Werk von der Realität eingeholt?

In Hamburg, Berlin und Düsseldorf (Regie: Malte C. Lachmann) steht „Unterwerfung“ als Bühnenstück im Moment auf dem Spielplan und doch hat man in Zeiten von Trump, Putin und Co. schon fast den Eindruck, es sei bereits wieder obsolet geworden: Wo gerade Mauerbau statt Gründung einer Muslim-Universität ansteht.

„Liberté, Egalité, Fraternité“ – die Kernbotschaft Frankreichs bestimmt das Bühnenbild (Ursula Gaisböck). Wenn auch als Möbeldesign, denn der Wissenschaftler François (Christian Erdmann) nutzt die hölzernen Buchstaben gerne als Sitzgelegenheit. Mit seinem Glauben an die Werte der Demokratie ist es allerdings nicht mehr so weit her: Lieber pflegt er seine Depressionen und leidet an der Leere seiner Beziehungen. Christentum oder Islam – auch das ist ihm letztlich wurscht, Hauptsache, er hat sein Auskommen und die Frauen sind nett zu ihm.

Wie Houellebecq die Ausgehöhltheit der westlichen Werte dem Machtanspruch religiöser Fundamentalisten gegenüberstellt, das zeugt von abgründiger Ironie – die allerdings im Roman deutlicher zutage tritt als auf der Bühne. Hier wirken manche Thesen merkwürdig platt, vor allem die frauenfeindlichen Sprüche sind gut für Lacher im Publikum. Dass Francois sich selbst damit ebenso bloßstellt und die Frauen in ihm ohnehin nur ein Würstchen sehen, kann man so leicht vergessen.

Szene aus „Das Licht im Kasten (Straße? Stadt? Nicht mit mir!)“. (Foto: Sebastian Hoppe)

Weiblichkeit und der (teilweise masochistische) Blick der Frauen auf sich selbst sind die Themen von Elfriede Jelinek: In „Das Licht im Kasten (Straße? Stadt? Nicht mit mir!)“, inszeniert von Jan Philipp Gloger, bildet die Mode den Fixpunkt, an dem sich die Frauen auf der Bühne zu orientieren suchen. Doch finden sie sich dabei? In den immer gleichen und doch immer neuen Kleidern? Die irgendwie an den Models immer besser aussehen als an einem selbst? Und wer steckt überhaupt in diesen Kleidern? Eine Person? Oder doch nur ein Nichts?

Die Jelineksche Textfläche plätschert über einen hinweg, mit Ironie, Nonsens, Leichtigkeit und Tiefgründigkeit. Mitunter wird es auch philosophisch, zum Beispiel wenn Kant und Heidegger Tennis spielen. Oder politisch, wenn die Umstände der Textilherstellung in der dritten Welt angeprangert werden.

Absolut grandios aber ist das Bühnenbild (Marie Roth): Ein kleiner Wald in dem Manuela Alphons, Tabea Bettin, Judith Bohle, Claudia Hübbecker, Karin Pfammatter, Lou Strenger, Julia Berns bzw. Tanja Vasiliadou herumstolpern, auf plüschige Hasen und große Füchse treffen, um sich dann nach den Shopping-Raubzügen in einem stilvollen Bungalow zu versammeln und ihre Beute anzuprobieren, ein Gläschen Weißwein zu trinken und – weiter zu shoppen: im Internet nämlich!

Der schwerbeladene Paketbote klingelt gleich mehrmals und bringt wieder den neuen alten Rock. Rot ist der und sieht an jeder anders aus, aber auch gleich. Der Regie gelingt das Kunststück, das Textmonstrum zu strukturieren und äußerst spielerisch und unterhaltsam zu dramatisieren. Das ist nicht zuletzt der Verdienst der großartigen Schauspielerinnen aller Altersstufen, die Mode bis zum Tode lustvoll durchexerzieren.

Karten und Termine: www.dhaus.de




Das Leben ohne Verdünnung: Otto Dix in Düsseldorf

Otto Dix: "Bildnis der Tänzerin Anita Berber", 1925. (Sammlung Landesbank Baden-Württemberg im Kunstmuseum Stuttgart / © VG Bild-Kunst, Bonn 2016)

Otto Dix: „Bildnis der Tänzerin Anita Berber“, 1925. (Sammlung Landesbank Baden-Württemberg im Kunstmuseum Stuttgart / © VG Bild-Kunst, Bonn 2016)

Er hatte was, dieser junge Mann aus dem Osten. Eine Frechheit, einen Charme, ein markantes Gesicht. Er trug schicke Anzüge, aber er sah darin nicht aus wie ein Bürger, eher wie ein Gangster aus dem Kintopp. Und malen konnte der Kerl, zum Fürchten!

Die Gesellschaft im Düsseldorf der locker-leichten 1920er-Jahre war irritiert, amüsiert, fasziniert. Otto Dix (1881-1969), im thüringischen Kaff Untermhaus geborener Sohn eines Eisengießers, machte 1922-25 sein Glück am Rhein, hier startete er seine Karriere. „Der böse Blick“, so der Titel einer grandios sortierten und arrangierten Schau im K20, führte den Meister der sogenannten Neuen Sachlichkeit geradewegs in den Olymp der Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts.

Am liebsten möchte man sofort die fatalen Weiber sehen, für die Dix berühmt wurde. Seine „Tänzerin Anita Berber“ von 1925, dieses kaputte Luder aus der Berliner Szene, lockt und leuchtet weit und breit an der Fassade der Düsseldorfer Landesgalerie: kreidebleich, mit rotem Haar, roten Lippen und rotem Kleid im roten Licht wie eine Teufelsbraut. Und da drinnen sind noch viele andere – „Mieze“ mit den Krallenhänden, „abends im Café“, die lauernde „Liegende auf Leopardenfell“ oder „Ellis“, die hinter einem koketten Schleier die gelben Augen und das bissige Grinsen einer bösen Katze zeigt. Sie sind alle Teil der Vorstellung, die wir uns – auch durch Dix – von den wilden 20er-Jahren machen.

Der Künstler Otto Dix im Jahr 1919, Fotograf unbekannt (Otto Dix Stiftung / Foto Kunstsammlung NRW)

Der Künstler Otto Dix im Jahr 1919, Fotograf unbekannt (Otto Dix Stiftung / Foto Kunstsammlung NRW)

Der Mensch im entfesselten Zustand

Aber man sollte erst einmal nach links gehen, in den Ausstellungssaal, der konzentriert von dem Ereignis handelt, das den Optimismus des frühen 20. Jahrhunderts zerschmetterte. Der Weltkrieg 1914-18 veränderte alles. Wie viele Künstlerkollegen war auch der talentierte junge Dix freiwillig an die Front gezogen, um, wie er sagte, „etwas Gewaltiges“ zu erleben, „den Menschen in diesem entfesselten Zustand“.

Soldat Dix schoss unbekannte Gegner nieder, wurde selbst verwundet. Er sah Panik, Verwüstung – und er zeichnete, hielt alles fest. Zehn Jahre später entstand seine legendäre Grafikfolge „Der Krieg“. Drastischer als Dix kann man das Entsetzen nicht zeigen: die Grimassen der Toten, die Kadaver der Pferde, die aufgerissenen Augen, die zerbombte Erde.

Otto Dix: "Sturmtruppe geht unter Gas vor" (Detail), 1924. Aus: "Der Krieg", Zyklen aus 50 Radierungen, 2. Mappe (Otto Dix Archiv, Bevaix / © VG Bild-Kunst, Bonn 2016 / Foto Kunstsammlung NRW)

Otto Dix: „Sturmtruppe geht unter Gas vor“ (Detail), 1924. Aus: „Der Krieg“, Zyklen aus 50 Radierungen, 2. Mappe (Otto Dix Archiv, Bevaix / © VG Bild-Kunst, Bonn 2016 / Foto Kunstsammlung NRW)

Der Veteran, zuletzt Vizefeldwebel, will nichts mehr beschönigen. In Dresden, wo er die Akademie besucht, propagiert Dix Wahrhaftigkeit: „Ich brauche die Verbindung zur sinnlichen Welt, den Mut zur Hässlichkeit, das Leben ohne Verdünnung.“ Das kommt bei den bürgerlichen Kunstfreunden nicht so gut an. „Ich kumm uff keinen grienen Zweich“, soll er 1920 gesächselt haben, „meine Malereien sind unverkäuflich.“ Doch der Kollege Conrad Felixmüller vermittelt ihm den Kontakt mit der Düsseldorfer Avantgarde-Gruppe Junges Rheinland – und empfiehlt ihn bei Johanna Ey, einer Bäckersfrau, die seit 1916 ein Galerie-Café in der Nähe der Düsseldorfer Akademie betreibt, mit Otto Pankok und Gert Wollheim arbeitet und schon viele Künstler durchgefüttert hat. „Großes Ey, wir loben dich …“, dichtet „Dada“-Max Ernst für sie.

Otto Dix: "Dienstmädchen am Sonntag", 1923. (Otto Dix Stiftung / © VG Bild-Kunst, Bonn 2016)

Otto Dix: „Dienstmädchen am Sonntag“, 1923. (Otto Dix Stiftung / © VG Bild-Kunst, Bonn 2016 / Foto Kunstsammlung NRW)

Beim Tanzen verliebt sich der Künstler

Mutter Ey lädt Dix im Herbst 1921 nach Düsseldorf ein, lässt ihn im Hinterstübchen übernachten und knüpft für ihn wichtige Kontakte. Durch sie lernt er den Arzt und Sammler Dr. Hans Koch kennen, der mit seiner mondänen, aber unzufriedenen Ehefrau Martha ein Graphisches Kabinett betreibt. Koch lässt sich von Dix porträtieren – und Dix tanzt Charleston mit der 26-jährigen Martha. Er ist betört von ihren Mandelaugen, dem vollen Mund, der kess geschnittenen Pagenfriseur und dem mondänen Stil. Und er tanzt verdammt gut. Die beiden verlieben sich schnell, und tatsächlich hat der Ehemann nichts dagegen, weil er seinerseits schon länger die Schwägerin Maria bevorzugt. Man ist nicht spießig im Düsseldorf der 20er-Jahre.

Martha, von Dix „Mutzli“ genannt, lässt sich flott scheiden und heiratet ihren schnieken Maler im Februar 1923. Er porträtiert sie stolz in Öl mit ihrem breitkrempigen roten Hut und dem schwarzen Pelz, das Bild ist eine dunkle Pracht. Im Juni kommt ihr erstes gemeinsames Kind zur Welt: Nelly. Papa Dix malt berückende Porträts von der molligen Kleinen. Auch den später geborenen Söhnen Ursus und Jan huldigt er künstlerisch und zeichnet Bilderbücher für sie.

Otto Dix: "Herren und Damen", 1922 (Aquarell und Bleistift - Private Collection, Courtesy Richard Nagy Ltd., London / © VG Bild-Kunst, Bonn 2016 / Foto: Kunstsammlung NRW)

Otto Dix: „Herren und Damen“, 1922 (Private Collection, Courtesy Richard Nagy Ltd., London / © VG Bild-Kunst, Bonn 2016 / Foto: Kunstsammlung NRW)

Schmeicheleien gibt es nicht

Man findet ihn in dieser Ausstellung also durchaus, den liebevollen Maler und Familienmenschen Dix. Kuratorin Susanne Meyer-Büser hat der weichen Seite einen Raum gegeben. Aber seine große Stärke zeigt sich, wenn er ohne innere Rücksicht arbeitet. „Wir wollten die Dinge ganz nackt, klar sehen, beinahe ohne Kunst“, erklärt er 1965 im Rückblick. Das akzeptierte auch seine Förderin Mutter Ey, von der er 1924 ein großes, repräsentatives Öl-Bildnis malt, auf dem sie in ihrem lila Seidenkleid und mit dem geliebten spanischen Kamm im schwarz gefärbten Haar vor einem roten Vorhang erscheint. Sie posiert wie eine barocke Königin. Aber die 60-jährige Frau Ey sieht eben aus, wie sie aussieht: fett, Doppelkinn, Falten um den Mund, starre Augen hinter runden Brillengläsern. Eins ist allerdings klar: Da steht eine unumstößliche Persönlichkeit.

Otto Dix: "Mieze, abends im Café", 1923 (Buchheim Museum der Phantasie, Bernried / Starnberger See / © VG Bild-Kunst, Bonn 2016 / Foto Kunstsammlung NRW)

Otto Dix: „Mieze, abends im Café“, 1923 (Buchheim Museum der Phantasie, Bernried / Starnberger See / © VG Bild-Kunst, Bonn 2016 / Foto Kunstsammlung NRW)

Lobhudelei gibt’s nicht von dem aufstrebenden Malerstar, der die abgetakelten Nutten und gierigen Freier, die Berliner Puffmütter und die Hamburger Matrosen mit gnadenloser Deutlichkeit festhält. Die subtile Farbigkeit seiner Aquarelle steht in krassem Kontrast zur Schärfe der Aussage. Und auch Freunde und Kunden werden nicht geschont. Wie ein insektenhaftes Männlein, bläulich und mager, gestikuliert Adolf Uzarski, Gründungsmitglied des Jungen Rheinlands. Der große Schauspieler Heinrich George hockt da wie ein wütender Ochsenfrosch. Paul Ferdinand Schmidt, der Direktor der Kunstsammlungen Dresden, erscheint klapprig und verknittert, während der (sicher sehr gut zahlende) Düsseldorfer Farbenfabrikant Julius Hesse im nüchternen Dreiviertelprofil zumindest einen lebendigen Teint haben darf.

Symphonie einer Großstadt

In zwei Ecken der raffiniert gebauten und farbig unterteilten Ausstellung flimmern Ausschnitte des Stummfilms „Berlin – Symphonie einer Großstadt“ von 1927. Unterlegt von Geräuschen und Musik wimmeln da die Bilder einer Zeit. Man sieht die Autos und Trambahnen, die Revuegirls auf den Bühnen, die Damen mit den kurzen Haaren und Kapotthüten. Die Welt war modern und chaotisch geworden – und Dix war ihr leidenschaftlicher Maler. 1925 zieht er in die Hauptstadt, 1927 wird er Professor in Dresden, die Welt beachtet ihn. Dann kommen die Nazis, entlassen Dix sofort aus seinem Amt und stellen ihn kalt. Mit der Familie zieht er sich zurück an den Bodensee, wo er versucht, nicht weiter aufzufallen. Es entstehen altmeisterliche Idyllen. Aber das ist eine andere Geschichte.

Information:

„Otto Dix – Der böse Blick“: bis 14. Mai in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen K20, Düsseldorf, Grabbeplatz. Geöffnet Di.-Fr. 10 bis 18 Uhr, Sa./So. 11 bis 18 Uhr. Jeden ersten Mi. im Monat bis 20 Uhr. Katalog 34 Euro. Die Schau wird anschließend von Juni bis Oktober in der Tate Liverpool in Großbritannien gezeigt: „Portraying a Nation: Germany 1919-1933“. www.kunstsammlung.de




Ein warmer, tragender Klang: Der Kammermusiksaal des Musikforums Bochum ist ein Glücksfall

Das „Viktoria Quartett“ mit Philipp Willerding-Bach, Jiwon Kim, Aliaksandr Senazhenski und Esiona Stefani (v.l.n.r.). (Foto: Christoph Fein)

Streichquartett-Abende sind immer einen Besuch wert. Darf sich das geneigte Publikum doch gewissermaßen auf einem Olymp der Kunst wähnen. Hier wird die reine Vierstimmigkeit zelebriert, geht es mithin um nicht weniger als die Königsgattung der Kammermusik.

Kein Komponist, der was auf sich hielt oder hält, der nicht für Streichquartett schrieb oder schreibt. Von Haydn und Vorläufern bis hin zu Wolfgang Rihm und Jüngeren – kaum ein Kanon kommt ohne Werke für die Kombination von zwei Geigen, Bratsche und Cello aus.

Was Wunder: Der große Goethe hat dazu, ganz im Geiste der Aufklärung, seinen Segen gegeben. „Man hört vier vernünftige Leute sich untereinander unterhalten, glaubt ihren Diskursen etwas abzugewinnen und die Eigentümlichkeiten der Instrumente kennen zu lernen.“ Da ist es zudem wenig verwunderlich, dass bis heute immer wieder neue Streichquartett-Ensembles sich der Herausforderung des rationalen musikalischen Gesprächs stellen wollen.

Bei den Bochumer Symphonikern haben sich im Laufe der Zeit zwei entsprechende Formationen gebildet. Zunächst „Bermuda4“ und später, genauer gesagt vor etwa drei Jahren, das „Viktoria Quartett“. Beide haben für diese Saison eine eigene Reihe eingerichtet. Allein, aktuell gestaltet ausschließlich das „Viktoria Quartett“ die Konzerte, „Bermuda4“ befindet sich in einer Phase der Neuorientierung. Selbstreflexionen dieser Art sind beileibe nichts Ungewöhnliches, auch berühmte Ensembles sind davor nicht gefeit. Über Binnenspannungen im Quartettbetrieb wurden schon Bücher geschrieben – und es bleibt nur der Wunsch, dass sich am Ende alles wieder aufs Beste einrenkt.

Nun also: Das „Viktoria Quartett“ hat den dritten Abend der Reihe übernommen, das wohl kurzfristig zusammengestellte Programm weist Prokofjews 1. (op. 50) und Beethovens 4. Quartett (aus op. 18) aus. Für uns ist es im übrigen die erste Gelegenheit, den Kammermusiksaal des neuen Bochumer Musikforums zu testen. Und es sei gesagt: Das Hörerlebnis ist außerordentlich.

Der Klang umfängt das Publikum mit angenehmer Wärme, wer die Augen schließt, mag kaum glauben, dass alle Töne doch von vorn kommen. Dazu verhelfen die reflektierenden Flächen der Seitenwände, wie andererseits zwei raumhohe schwere Vorhänge die prinzipiell trockene Akustik abmildern. Gleichwohl wird jede noch so filigrane Klangnuance bis in die hinterste Reihe getragen. Selbst das leiseste Pianissimo findet in kristalliner Klarheit jedes Ohr. Andererseits: Dissonante Schärfen, wie sie Prokofjew oft genug vorschreibt, versagen sich in hoher Lage jedes Klirren. Diese kleine Schuhschachtel, maximal auf 325 Plätze ausgerichtet, ist für Kammermusiker ein Glücksfall.

Gleichzeitig jedoch eine Herausforderung. Wo nichts ungehört bleibt, ist Präzision gefragt. Das fängt bei der Intonation an, ist in Sachen Tongebung von Bedeutung, betrifft nicht zuletzt die Kunst des Zusammenspiels. Der rationale Diskurs ist das eine, das konzentrierte Hören aufeinander die andere Seite der musikalischen Medaille. Wie schön, dass sich das „Viktoria Quartett“ als Organismus präsentiert, dessen Solisten nie in den Vordergrund drängen. Interessant ist vielmehr, dass kaum eine Führungsrolle auszumachen ist. Esiona Stefani (1. Violine), Jiwon Kim (2. Violine), Aliaksandr Senazhenski (Viola) und Philipp Willerding-Bach (Violoncello) verstehen einander ziemlich gut, intonieren äußerst sauber, nur hier und da fehlt es an präziser Tonfokussierung.

Bei Prokofjew gelingt die Balance zwischen akzentuierter Motorik und stimmungsvollem Legato-Ton überzeugend. Das Spiel des Quartetts ist energiegeladen, zielt aber vor allem auf die expressive Ausgestaltung des Finales, einem Lamento von erheblicher Dramatik. Beethovens Werk wiederum hätte insgesamt mehr Biss verdient, andererseits wird die Modernität des Stückes (frühe Anklänge an die Romantik) fein herausgearbeitet. Ja, der Besuch dieses Konzerts hat sich gelohnt.

 




Edwin Jacobs, neuer Chef im „Dortmunder U“: „Nicht nur gucken, sondern mitmachen!“

Bei null Grad auf der Dachterrasse des "Dortmunder U": der neue Chef Edwin Jacobs (vorn Mitte) mit Reginal Selter (stellv. Direktorin des Museums Ostwall, links neben ihm), Inke Arns (Leiterin des HMKV, rechts neben Jacobs) und weiteren Akteuren aus dem Team. (Foto: Bernd Berke)

Bei ungefähr null Grad auf der Dachterrasse des „Dortmunder U“: der neue Chef Edwin Jacobs (vorn Mitte) mit Regina Selter (stellv. Direktorin des Museums Ostwall, links neben ihm), Inke Arns (Leiterin des HMKV, rechts neben Jacobs) und weiteren Akteuren aus dem Team. (Foto: Bernd Berke)

Dieses viele Grün in der Stadt. Diese kreativen und aufgeschlossenen Menschen. Diese Offenheit für Zukunft. Diese positive Energie.

Nanu? Von welcher swingenden Metropole ist denn da die nahezu euphorische Rede? Haltet euch fest: von Dortmund! Die Stadt hat sich vor einiger Zeit den Slogan „Dortmund überrascht dich“ gegeben. Scheint ja mal wieder zu stimmen.

Nun aber die Zusatzfrage: Wer spricht denn da eigentlich? Oranje boven: Es ist Edwin Jacobs, der aus Utrecht kommende neue Direktor des „Dortmunder U“ und damit auch Chef des Museums Ostwall, der seit rund sechs Wochen hier ist, offenbar mit Feuereifer ans Werk geht und sein Lob für die Stadt natürlich nicht in atemlosen Stichworten formuliert hat.

Beispiellose Breite des Angebots

Jacobs macht auf Anhieb einen hellwachen und neugierigen Eindruck. Seine Wirkungsstätte preist er, mit charmantem niederländischen Akzent, in ziemlich hohen Tönen. Die Breite des kulturellen Angebots im „Dortmunder U“ sei in ganz Deutschland beispiellos, schwärmt er. Wobei er selbstverständlich auch weiß: „Wir sind hier nicht in Berlin. Auch nicht in München…“

Apropos breites Angebot: Tatsächlich gaben in der heutigen Programm-Pressekonferenz des „U“ nicht weniger als neun Verantwortliche fürs große Ganze und für die unterschiedlichen Sparten skizzenhaft Auskunft. Das auch etwas unübersichtliche Spektrum reicht vom Museum Ostwall (MO) über den Hartware MedienKunstVerein (HMKV) und Dependancen der Dortmunder Hochschulen (TU / FH) bis hin zur Abteilung für Kulturelle Bildung und zum eigenen Kino; nicht zu vergessen die trendige Gastronomie im „View“, diverse Veranstaltungsserien inbegriffen. Da blicke einer sofort durch.

In der Stadtgesellschaft verankern

Zu den Aufgaben von Edwin Jacobs wird es gewiss gehören, die Kräfte all dieser Gliederungen zu bündeln, ohne Vielfalt zu opfern. Ihm schwebt als Leitideal vor allem „Partizipation“ vor, das Publikum soll also „nicht nur gucken“, sondern – wo es irgend geht – auch zum Mitmachen ermuntert werden. Es gelte, rund ums „U“ eine Community zu schaffen und den gigantischen Kreativpalast, der immerhin schon ins (wohl nicht verflixte)  siebte Jahr geht, noch mehr in der Dortmunder Stadtgesellschaft zu verankern. Übrigens wird diese CommUnity in den Broschüren bereits gern mit großem „U“ in der Mitte geschrieben. Markenzeichen-Design muss halt sein.

Schon fast 10000 bei Niki de Saint Phalle

Von einer Pressekonferenz mit „Rückblick und Ausblick“ darf man erfahrungsgemäß nicht allzu viel Konkretes erwarten. So ist es Brauch: Das Bisherige erscheint füglich im vorteilhaften Licht, der Boden für Neues wäre also bereitet.

Ein golden eingefasster Buchstabe krönt das Dortmunder "U", die filmischen Installationen stammen von Adolf Winkelmann. (Foto von Dezeber 2016: Bernd Berke)

Ein golden eingefasster Buchstabe krönt das Dortmunder „U“, die „fliegenden“ filmischen Bilder stammen von Adolf Winkelmann. (Foto von Dezember 2016: Bernd Berke)

Besonders zufrieden zeigt sich der bisherige „U“-Geschäftsführer Kurt Eichler mit der MO-Ausstellung über Niki de Saint Phalle, die auch überregional große Aufmerksamkeit geweckt hat. In der Schau, die seit dem 10. Dezember 2016 läuft und noch bis zum 23. April dauert, wird man in wenigen Tagen den/die 10000. Besucher(in) begrüßen. Immerhin. Für (bisherige) Dortmunder Verhältnisse ist das schon achtbar.

Offenbar zahlt sich dabei auch schon die neue Eintrittspreis-Strategie aus: einmalig fünf Euro zahlen, danach beliebig oft in städtische Museen gehen. Schon nach fünf Wochen hört man von einer Verdoppelung der Besucherzahlen im Jahresvergleich, Genaueres wird noch ermittelt.

„Mindestens eine Top-Ausstellung pro Jahr“

Edwin Jacobs sieht sich derzeit sozusagen noch als DJ, der (allerdings schon etwas anders gemixte) Musik auflegt – und noch nicht als Songwriter oder Komponist. Er kann natürlich 2017 nicht gleich mit einer großen Kunstausstellung eigenen Zuschnitts aufwarten, derlei Unternehmungen brauchen längere Vorlaufzeit. Später möchte er allerdings „mindestens eine Top-Ausstellung pro Jahr“ zeigen.

Es ist nur folgerichtig, dass erst einmal die MO-Sammlung im Fokus steht. Ab 2. September sollen wesentliche Bestände in neuer Form präsentiert werden. Solche Befragungen der eigenen Kollektion dürfte es unter wechselnden Themenstellungen dann öfter geben. Von einer „Dynamisierung“ der Sammlung spricht Edwin Jacobs. Man wird sehen, was darunter zu verstehen ist.

„Warum sind wir hier?“

Die vielen Projekte, die fürs „U“ vorgesehen sind, können und wollen wir hier nicht stur aufzählen (siehe Info-Link zur Homepage des „U“ am Schluss), freilich fällt eines thematisch auf. Der Hartware MedienKunstVerein befasst sich ab April mit dem arg verschrienen „Brutalismus“ in der Architektur und schickt sich offenbar an, diese oft bereitwillig zum Abriss freigegebenen Brachial-Bauten vorsichtig aufzuwerten. Oha!

Womit wir – irgendwie und überhaupt – wieder in Dortmund angekommen wären. Man fragt sich ja schon, wieso Edwin Jacobs das urbane Grachten-Idyll von Utrecht just gegen das vielfach eher wildwüchsige Dortmund eingetauscht hat. Eben solche Sinnfragen will er künftig auch mit seinem Team erörtern: „Warum sind wir hier?“ Warum gerade Dortmund? Auf womöglich wegweisende Antworten darf man hoffnungsvoll gespannt sein.

Infos: www.dortmunder-u.de




Der teuerste Maler der Welt: Gerhard Richter wird zum 85. Geburtstag in Köln, Essen und Bonn ausgestellt

Gerhard Richter feiert heute, am 9. Februar 2017, seinen 85. Geburtstag. (Foto: Hubert Becker/Museum Folkwang, Essen)

Für die Kunstwelt ein großer Tag: Einer der prägenden Meister des letzten halben Jahrhunderts, Gerhard Richter, feiert heute, am 9. Februar, in Köln seinen 85. Geburtstag. Der in Dresden geborene Maler ist mit dem Rheinland seit mehr als einem halben Jahrhundert verbunden und lehrte bis 1994 als Professor an der Düsseldorfer Kunstakademie. Richter zählt zu den teuersten zeitgenössischen Künstlern auf dem Kunstmarkt; seit 2004 belegte er bis 2015 fast durchgehend den ersten Platz des „Kunstkompass“, einer Weltrangliste lebender Künstler.

Richter hatte sich 1961 nach dem Studium an der Dresdner Kunstakademie, ersten Arbeiten in Dresden, einem Besuch der Kasseler documenta 1959 und einer Reise nach Leningrad und Moskau zur Flucht in den Westen entschlossen, um für seinen künstlerischen Werdegang frei zu sein.

Hier begann er ein Studium an der Düsseldorfer Kunstakademie bei Ferdinand Macketanz und Otto Götz, wo Richter Freunde wie Sigmar Polke und Blinky Palermo fand. Mit großem Interesse verfolgte er das Informel und die beginnende Fluxus-Bewegung, für die Joseph Beuys‘ Berufung an die Akademie einflussreich war. Außerdem profitierte er von der lebendigen Kunstszene in Düsseldorf und Köln, wo Otto Piene und Heinz Mack mit der Gruppe ZERO wesentliche Impulse setzten.

1963 stellte Richter zum ersten Mal aus – mit Manfred Kuttner in Fulda. Gemeinsam mit Polke und Konrad Lueg (später Konrad Fischer) zeigte er seine Arbeiten in einem gemieteten Laden in der Düsseldorfer Altstadt. In diesem Ambiente fand Richter den Zugang zur Arbeit mit Pop Art und zu seinem großen Thema der nächsten Jahre, dem Zusammenhang von Fotografie und Malerei. Im Sommer 1964 verließ Richter die Akademie. Im September ermöglichte ihm der Galerist Alfred Schmela in Düsseldorf die erste Einzelausstellung. Eine Schau gemeinsam mit Lueg und Polke in der Galerie Parnass in Wuppertal machte die Kunstwelt auf die jungen Aufsteiger aufmerksam.

1967 erhielt Richter den Kunstpreis Junger Westen in Recklinghausen. Als Richter im Oktober 1970 erstmals im Museum Folkwang in Essen ausstellte, war er in den Zirkeln zeitgenössischer Kunst schon über die Grenzen Deutschlands hinaus bekannt. In Essen zeigte er Fotos, Skizzen, Zeitungs- und Illustrierten-Ausschnitte, aufgeklebt auf Karton, die 1972 zu seinem Atlas führten, einem mehrfach ausgestellten Schlüsselwerk, das 1997 auf der documenta zu sehen war und von der Münchner Galerie im Lenbachhaus erworben wurde.

Gerhard Richter: Abstraktes Bild (946-3), 2016. Öl auf Leinwand © Gerhard Richter 2016 (221116)

Gerhard Richter: Abstraktes Bild (946-3), 2016. Öl auf Leinwand (© Gerhard Richter 2016 (221116))

Richter, der 1971 zum Professor für Malerei an die Düsseldorfer Kunstakademie berufen wurde, lebte in dieser Zeit in Düsseldorf, zog aber 1983, nach der Hochzeit mit der Künstlerin Isa Genzken, nach Köln um. Ende der achtziger Jahre war Richter eine der prominentesten Künstlerpersönlichkeiten Deutschlands. Auf dem internationalen Markt war er spätestens seit seiner ersten umfassenden Retrospektive 1986 in der Kunsthalle Düsseldorf mit seinen Foto-Abmalungen, Landschaften und abstrakten Arbeiten sehr gefragt. Seit 1996 lebt Gerhard Richter in Hahnwald im Kölner Süden. Im Jahr 2000 erhielt Richter den Staatspreis des Landes Nordrhein-Westfalen, 2004 den Katholischen Kunstpreis Köln.

In diesem Jahr wird Richter in acht Einzel- und dreizehn Gruppenausstellungen gewürdigt. Am heutigen Tag seines 85. Geburtstags eröffnet das Museum Ludwig in Köln eine Ausstellung, die 26 abstrakte, im letzten Jahr entstandene Bilder zeigt. Parallel dazu werden wegweisende Werke Richters aus der Sammlung Ludwig gezeigt, darunter das zur Ikone gewordene frühe Werk Ema (Akt auf einer Treppe) von 1966, das abstrakte Bild Krieg von 1981 oder die Glasarbeit 11 Scheiben von 2003. Die Sammlungspräsentation ist von Richter selbst eingerichtet. Die Ausstellung ist bis 1. Mai zu sehen.

Gerhard Richter Kerze I, 1988. Offsetdruck und Kreide auf Papier, Courtesy Olbricht Collection © Gerhard Richter, 2017

Gerhard Richter Kerze I, 1988. Offsetdruck und Kreide auf Papier (Courtesy Olbricht Collection © Gerhard Richter, 2017)

Das Museum Folkwang in Essen widmet ab dem 7.April den Editionen Gerhard Richters eine Ausstellung. Erstmals werden sämtliche Editionen in einer großen Einzelausstellung zusammengefasst. Zu sehen sind über 170 Werke, darunter Gemälde, Objekte, Fotografien, Künstlerbücher und Drucke aus den Jahren von 1965 bis 2014. So bieten die Editionen, mit denen Richter seine Bilderfindungen verbreitete, aber auch neu interpretierte, einen Überblick des Schaffens eines halben Jahrhunderts. Die Ausstellung entsteht in enger Kooperation mit dem Leihgeber (Olbricht Collection) und wird bis 30. Juli gezeigt.

Thomas Olbricht besitzt nach Angaben des Museums Folkwang die weltweit einzige vollständige Sammlung aller Editionen Gerhard Richters. Editionen sind Kunstobjekte, die in einer – wechselnd hohen – Auflage hergestellt werden. Für die Verbreitung neuer Kunst spielten und spielen sie eine wichtige Rolle. Als „Kunst für alle“ sollen sie das Sammeln von Kunst für neue Käuferschichten möglich machen. Richter sieht seine Editionen als Anstiftung, sich mit Kunst zu beschäftigen: „Ich sah, und sehe immer noch, Editionen als einen willkommenen Ausgleich für die Produktion von Gemälden, die Unikate sind. Es ist eine großartige Möglichkeit, meine Arbeit einer größeren Öffentlichkeit zu vermitteln.“

Ab 15. Juni werden im Kunstmuseum Bonn rund 20 Schlüsselwerke aus dem frühen Œuvre Gerhard Richters ausgestellt. Bis 1.Oktober zeigt die Ausstellung vor allem Vorhang- und Fensterbilder aus den sechziger Jahren. Auch in Oberhausen wird Richter im größeren Kontext gezeigt: Die Ludwig Galerie thematisiert das Kaufen von Kunst, beginnend mit Albrecht Dürer, der als einer der Ersten seine Kunst zu vermarkten wusste, bis hin zu Andy Warhol, für den die Warenwelt künstlerisches Thema und zugleich Präsentationsort seiner Kunst gewesen ist. Gerhard Richter, der „teuerste Maler der Welt“ hat in diesem Zusammenhang mit seinem Bild Mutter und Tochter, das zwei Frauen beim Shoppen zeigt, seinen Platz.

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Ausstellungen:

Köln, Museum Ludwig: Gerhard Richter. Neue Bilder. 9. Februar bis 1. Mai 2017.

Essen, Museum Folkwang: Gerhard Richter. Die Editionen. 7. April bis 30. Juni 2017.

Bonn, Kunstmuseum: Gerhard Richter. Über Malen –  Frühe Bilder. 15. Juni bis 1. Oktober 2017.

Oberhausen, Ludwig Galerie Schloss Oberhausen: Let’s buy it. Kunst und Einkauf. Von Albrecht Dürer über Andy Warhol bis Gerhard Richter. Bis 14. Mai 2017.




Auch in der DDR gab es Spielräume – 66 Facetten eines Lebens in Matthias Biskupeks „Der Rentnerlehrling“

Gastautor Heinrich Peuckmann über einen Erzählband, der manchen Aufschluss über das Leben in der einstigen DDR gibt:

Wer mit 65 Jahren ins Rentenalter eintritt, beginnt eine neue Lehrzeit, meint der Rudolstädter Schriftsteller Matthias Biskupek, er wird nämlich ein „Rentnerlehrling“.

Als er selber in diesen Lehrlingsrang kam, hat Biskupek, wie Schriftsteller das eben tun, ein Buch geschrieben, um sich seines bisherigen Lebens zu vergewissern und von dieser Plattform aus die restlichen Schritte zu gehen.

In 66 Geschichten, die weitgehend Lebenserinnerungen sind, hat Biskupek sein Leben rekapituliert. Für jedes Jahr eine Geschichte, dazu als Einleitung ein kurzer Bericht über das, was er genau erlebt hat mit Bezügen zum allgemeinen Weltgeschehen.

Der sachliche Vorspann ist deshalb notwendig, weil Biskupeks Geschichten keine bloßen Berichte sind, sondern Erzählungen, mal ironisch, mal satirisch zugespitzt, mal literarisch verdichtet. Und dies ist eine glückliche Kombination, denn der Leser kann einerseits Biskupeks Lebensweg nachvollziehen, in den Geschichten andererseits sehr viel über den DDR-Alltag und über die Literaturszene des untergegangenen Landes insbesondere erfahren. Je mehr der Leser eintaucht in das Buch, desto mehr merkt er, dass er vieles über die DDR ungenau, undifferenziert oder gar nicht gewusst hat.

Die Schriftstellerszene, die Biskupek aus der Innensicht heraus genau gekannt hat, steht dabei als eine Art Gradmesser für die allgemeine Entwicklung. Natürlich hat die Stasi versucht, auch ihn als IM zu rekrutieren, es fanden Gespräche statt, von denen er erst nach der Wende erfahren hat, dass die Stasi sie als informelle Gespräche gewertet hat. Aber er ist dort nicht gelandet, sondern hatte, weil er nicht stromlinienförmig mitschwamm, ein gerüttet Maß an Nachteilen in Kauf zu nehmen.

Kleine Perlen sind in diesem Zusammenhang die Berichte über interne Kämpfe. Wer kennt im Westen noch den Magdeburger Schriftsteller Wolf Brennecke? Er leitete dort eine Gruppe junger Autoren an, zu denen auch Brigitte Reimann und Rainer Kunze gehörten. Brennecke hat den demokratischen Anspruch, den ja auch die DDR für sich in Anspruch nahm, bitterernst genommen. Einmal mehrheitlich gefasste Beschlüsse hat er eisern versucht durchzusetzen. Er war nicht gegen den Staat, er hat nur manches Mal seinen eigenen Anspruch gegen ihn selber verteidigt. Als Brigitte Reimanns Mann im Gefängnis saß, hat die Stasi sie erpresst und angeworben. Als Brennecke das erfuhr, ist er zu den Ämtern gestürmt, hat sie dort verteidigt und dem Staat vorgeworfen, dass er dabei sei, eine solche Autorin in den Westen zu vertreiben.

Solche Haltungen waren also möglich, es gab Spielraum und es lag an der Tapferkeit des einzelnen, ob und wie er sie nutzte. Natürlich gab es Grenzen, das darf nicht vergessen werden. Eine Zeitlang arbeitete Biskupek, der eigentlich ein Ingenieurstudium abgeschlossen und diesen Beruf auch ausgeübt hat, am Theater in Rudolstadt. Mit viel sanftem Humor schildert er die Erlebnisse der Schauspieler und Autoren untereinander, auch die regelmäßigen Mühen, dieses oder jenes Stück überhaupt auf die Bühne zu bekommen. Aber mit List und Tücke war eben doch manches möglich.

Es macht Freude, diesen Lebenserinnerungen zu folgen. Man nimmt etwas mit und man muss beim Lesen sehr genau aufpassen, wie Biskupek diese oder jene Passage wirklich meint. Seine Ironie ist gut dosiert, sie verwässert nicht, aber fordert den Leser.

Matthias Biskupek: „Der Rentnerlehrling. Meine 66 Lebensgeschichten“. Mitteldeutscher Verlag, Halle. 352 Seiten, 19,95 Euro.




Ein Stoff von ungebrochener Aktualität – Ibsens „Nora“ im Westfälischen Landestheater

Nora (Pia Seiferth) (Foto: Westfälisches Landestheater/Volker Beushausen)

Von Noras Puppenheim ist nicht viel übrig geblieben. Lediglich eine Spielfläche aus Eichenparkett in Fischgrätmuster, hüfthoch errichtet, füllt den Bühnenraum, erinnert entfernt an einen Boxring. Selbst dieser Rest ist für die Handelnden kein sicherer Ort. Im Verlauf des Abends werden zackenförmige Stücke aus dem Boden verschwinden, sich Abgründe auftun. Das Westfälische Landestheater (WLT) zeigt Henrik Ibsens skandalöses Erfolgsstück „Nora“ energiegeladen, laut, sportiv – und kommt dem Kern der Sache auf diese Weise erstaunlich nahe.

Jung und energisch

Im Laufe ihres langen Bühnenlebens hat „Nora“ etliche mehr oder weniger behutsame Um- und Neudeutungen erfahren. Gleichwohl ist die Frau den meisten Theatergängern als selbstverleugnendes, stets verzeihendes Gefühlswesen geläufig, der Liebe gänzlich hingegeben. Erst am Ende der Geschichte geht ihr auf, dass ihre grenzenlose Liebe kein Geschäft auf Gegenseitigkeit ist, dass sie, die Bilder sind wohlfeil, die Puppe im nämlichen Puppenhaus ist.

Die spontane Entscheidung der Bankiersgattin aus betuchtem bürgerlichen Milieu, nach abgrundtiefer Enttäuschung Mann und Kinder zu verlassen, war nicht nur im Jahr der Uraufführung, 1879, eine Ungeheuerlichkeit, sondern ist es für viele Menschen bis in unsere Tage, allen gesellschaftlichen Fortschritten zum Trotz.

Szene mit Nora (Pia Seiferth, rechts) und Frau Linde (Vesna Buljevic) (Foto: Westfälisches Landestheater/Volker Beushausen)

Von einem liebenden, passiven Puppenhauspüppchen hat die Nora in Markus Kopfs WLT-Inszenierung nichts. Pia Seiferth gibt sie als energische Immer-gut-drauf-Erscheinung, als Mitglied gleichsam der Generation Smartphone (natürlich ohne Smartphone), das sich sein Leben an der Seite seines Mannes Helmer (Maximilian von Ulardt) so und genau so ausgesucht hat. So aktiv passt sie eigentlich nicht so recht zu ihrem Gatten mit seinen steten, latent aggressiven Sprüchen und Unterwerfungsgesten. Aber wo die Liebe hinfällt ist es dann eben, wie es ist.

Erpressung

Auch zwischen diesen beiden Charakteren könnte es ja noch geschehen, „das Wunderbare“ (O-Ton Nora), diese grenzenlose Bestätigung ihrer Liebe. Die Bestätigung, dass sie wichtiger ist als jede gesellschaftliche Konvention, wichtiger auch als Helmers neuer gut dotierter Job, der vielleicht gefährdet wäre, wüsste man um den Betrug seiner Gattin. Sie hatte, um es kurz zu erwähnen, die Unterschrift ihres sterbenden Vaters auf einem Schuldschein gefälscht, um sich Geld leihen zu können. Das Geld brauchte sie, um sich und ihrem Mann einen langen, lebenserhaltenden Italienaufenthalt zu ermöglichen. Und nun wird sie erpresst, und fast kommt alles raus.

Nora (Pia Seiferth) am Boden. (Foto: Westfälisches Landestheater/Volker Beushausen)

Der Konflikt ist relativ zeitlos, egal ob Nora schließlich mit dem berühmten Türenschlagen abgeht oder nicht. In Castrop-Rauxel entfällt das Türenschlagen sowieso, mangels Tür. Hier entschied sich der Regisseur, auch lange noch, nachdem das Licht erloschen ist, den verlassenen Helmer auf der Bühne jammern zu lassen.

Tourneetheater

Sparsame Ausstattungen – diese stammt von Manfred Kaderk – sind sozusagen eine Spezialität des Westfälischen Landestheaters und dem Tourneebetrieb geschuldet. An allen vier Seiten der „Boxring-Bühne“ finden deshalb die Auftritte und Abgänge statt, meistens unspektakulär und zweckmäßig. Der Konzentration auf das Geschehen tut dieser uneitle Inszenierungsstil gut. Weil er überdies Zeit spart, trägt er sicherlich auch dazu bei, das Stück in gerade einmal zwei Stunden (plus eine Pause) mit großer Konzentration und Vollständigkeit auf die Bühne des Studios stellen zu können.

Nora (Pia Seiferth, links) und Doktor Rank (Bülent Özdil), der sich auf der Neujahrsparty amüsiert hat und nicht mehr lange leben wird. (Foto: Westfälisches Landestheater/Volker Beushausen)

Auf charakterliche Ambivalenzen lässt sich diese Inszenierung nur begrenzt ein. Bülent Özdil gibt den lebenslustigen, gleichwohl, wie sich erweisen wird, todgeweihten Doktor Rank vorwiegend laut und lustig. Vesna Buljevic – etwas verhärmt, etwas vorgealtert – ist auf überzeugende Art die mittellose, arbeitsuchende Witwe Linde, eine Art mahnender Gegenentwurf zum freiheitsuchenden, unvernünftigen, skandalösen finalen Frauenbild Noras. Guido Thurk schließlich raunt sich als verzweifelt-verschlagener Rechtsanwalt Krogstad durch das Geschehen, und sie alle tragen mit streckenweise bewunderungswürdigem Körpereinsatz zum Gelingen dieser Inszenierung bei.

Das Publikum applaudierte beigeistert.

  • Termine:
  • 12.2., 25.2., 26.2., 28.2. Castrop-Rauxel, Studio
  • 1.3. Radevormwald, Bürgerhaus
  • 7.4. Versmold, Aula der Hauptschule
  • 2.10. Recklinghausen Ruhrfestspielhaus
  • 29.11. Castrop-Rauxel, Studio
  • www.westfaelisches-landestheater.de
  • Ticket Hotline Tel. 02305 9780 – 20



Ein paar Erwägungen zur „Schande von Dortmund“ (Randale beim Spiel BVB gegen RB Leipzig)

Eigentlich wollte ich keine Zeile darüber schreiben, weil es sozusagen ums Gegenteil von Kultur geht. Aber: Man kann von den Dortmunder Fußball-Krawallen gar nicht absehen, wenn man hier lebt.

Also, ganz klar: Dass so genannte BVB-„Fans“ am letzten Samstag die Gäste aus Leipzig, darunter auch Frauen und Kinder, mit Steinen, Flaschen, Dosen, Feuerwerkskörpern und anderen Gegenständen beworfen haben, ist kriminell.

Transparent beim Pokalspiel gegen Hertha BSC Berlin am 8. Februar. (Screenshot / ARD)

Nachträgliches Statement: Transparent beim BVB-Pokalspiel gegen Hertha BSC Berlin am 8. Februar. (Screenshot / ARD)

Auch die teilweise extrem menschenverachtenden Hetz- und Hass-Transparente (Heda, BVB-Ordnungsdienst, wie konnten die in so großer Zahl ins Stadion gelangen?) und der versuchte Angriff auf den Mannschaftsbus der Leipziger sind schändlich und unverzeihlich.

Jeder feststellbare Einzelfall wird jetzt und in den nächsten Wochen zu untersuchen sein. Hoffentlich findet die Polizei die Schuldigen, hoffentlich werden sie von der Justiz angemessen zur Rechenschaft gezogen. Bundesweites Stadionverbot ist das Mindeste, im Falle entsprechender Taten sollten auch Paragraphen des Strafgesetzbuches greifen.

Es ist beschämend, dass das alles in Dortmund passiert ist, wo man sich rühmt, auf der Südtribüne die besten Fans Deutschlands, wenn nicht Europas oder gar der Welt zu haben. Leider können einige Dutzend oder hundert Vollidioten das alles an einem einzigen Tag zunichte machen – wenn man sie nicht hindert. Vielleicht lässt sich ja auch aufklären, aus welchem Umfeld diese Typen kommen?

Dortmunds Stadtobere und ihre Imagewächter sind bestimmt ebenfalls entsetzt. Die enthemmte Randale vom Samstag wird der Stadt und dem Verein noch lange als „Schande von Dortmund“ (andere Formel: „Schande für den Fußball“) nachhängen, die Boulevardpresse tut das Ihre, um es kräftig zuzuspitzen. Auch sind spürbare Strafen vom DFB zu erwarten, so etwa Heimspiele ganz ohne Zuschauer…

In den sozialen Netzwerken sind es keineswegs nur Leipziger und Schalker, die heftig (und zum Teil beklagenswert pauschal) über den BVB herziehen. Mag es auch ungerecht sein: Wenn man nicht aufpasst und entschieden gegensteuert, gelten hiesige Fans bald als Abschaum der Liga – auch die anständigen unter ihnen, die sicherlich bei weitem in der Mehrheit sind. Doch sobald sie die schwarzgelben Farben tragen, macht man vielleicht auswärts keine Unterschiede mehr. Da herrscht womöglich mal wieder ein „Generalverdacht“. Und es melden sich bereits BVB-Anhänger zu Wort, die künftig ganz auf Stadionbesuche verzichten wollen. Nicht, dass da etwas „kippt“…

Inzwischen weiß man bei Spiegel online, bekanntlich immer gaaaanz nah dran am BVB, schon genauestens Bescheid: Auch viele ganz normale Spießer, die anderntags mit ihrem Hund Gassi gehen, seien in Dortmund an den Ausschreitungen beteiligt gewesen. Beim Spiegel kennen sich offenbar besser aus als die zuständigen Ermittler. Oder etwa doch nicht?

Unterdessen wird BVB-Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke – mittlerweile auch von der Gewerkschaft der Polizei (GdP) – mitverantwortlich gemacht, weil er gegen RB Leipzig aufgewiegelt habe. Die paar Andeutungen über einen Verein, der ausschließlich zur Promotion eines Getränks („Red Bull“) gegründet worden sei, sollen also ein Aufruf zur Gewalt gewesen sein? Ach, nö. Soll jetzt jede Kritik am Geschäftsmodell der Leipziger verboten sein? Übrigens: Auch der börsennotierte BVB ist vielfach als durchkommerzialisiert verschrien. Dann wird man eben auch daran Kritik üben dürfen. Tradition hin oder her.

Wie aber müsste man (im Vergleich zu Watzkes Äußerungen) den Ausspruch eines gewissen Uli Hoeneß bewerten, der – seinerzeit kaum wieder auf freiem Fuß – im November ganz unverblümt von den „Feinden“ aus Leipzig und Dortmund gesprochen hat? Nun gut, er hat die saublöde Formulierung hernach zurückgenommen, und die Bayern-Anhänger haben sich gottlob bislang nichts zuschulden kommen lassen. Aber dennoch.

Eine Aktion zum Spiel gegen Hertha deutet sich schon an (Screenshot der Facebook-Seite von schwatzgelb.de)

Eine Aktion zum Heimspiel gegen die Hertha (8. Februar, 20:45 Uhr) deutete sich schon vorher an. (Screenshot der Facebook-Seite von schwatzgelb.de)

Jedenfalls gibt es etliche Leute, die just der Polizei vorwerfen, sie habe kein durchgängig tragfähiges Sichheitskonzept gehabt. Will die GdP mit ihren schnellfertigen Schuldzuweisungen etwa davon ablenken? Wenn man eine Antenne für die Stimmungslage der „Fans“ gehabt hätte, so hätte man vielleicht ahnen können, dass dies ein Hochrisikospiel sein würde. Man mag noch gar nicht daran denken, wie wohl die nächsten Begegnungen dieser Clubs verlaufen.

Schon morgen gibt es das nächste BVB-Heimspiel (im Pokal gegen die Hertha aus Berlin); ob wir da wohl irgend eine Form von Gegenreaktion aus dem Publikum erleben werden? Der nebenstehende Screenshot von der Seite www.schwatzgelb.de deutet darauf hin.

Ich war am Samstag nicht im Stadion, sondern habe das Spiel auf Sky gesehen. Dort war, zumindest während der eigentlichen Spielzeit, von den Vorfällen nicht die Rede. Man will sich beim Bezahlsender offenbar den schönen Kommerzsport nicht kaputt machen lassen. Vielleicht hat man ja vor der Partie, in der Halbzeitpause oder nach dem Abpfiff ein paar verschämte Worte eingestreut. Ich weiß es nicht, denn das haltlose Gelaber außerhalb der 90 Minuten tue ich mir schon lange nicht mehr an.

Und wenn das alles so weiter geht, habe ich irgendwann gar keine Lust mehr auf die Liga.

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P.S.: Bedenkenswerte Beiträge zum Thema finden sich übrigens im vereinsnahen Fanzine-Blog www.schwatzgelb.de – durchaus auch (selbst)kritisch und nicht etwa pressestellenfromm und nibelungentreu.

Nachtrag am 9. Februar: Wie die WAZ heute berichtet, habe die Geschäftsführung von RB Leipzig das NRW-Innenministerium ausdrücklich um verstärkten Schutz bei den Auswärtsspielen in Dortmund, Schalke und Mönchengladbach gebeten, ohne dass entsprechende Konsequenzen gezogen wurden. NRW-Innenminister Ralf Jäger (SPD) sitzt ohnehin schon recht unsicher auf seinem Sessel. Link zum WAZ-Bericht.




Soziale Miniaturen (17): Ich Vater. Hier. Jacke an!

Bei Playmobil ist alles ungleich idyllischer. (Foto: BB)

Im Miniatur-Kosmos von Playmobil ist alles ungleich idyllischer. (Foto: BB)

In einem Restaurant mittleren Anspruchs: Der Mann dürfte um die 30 Jahre alt sein. Er und seine Gefährtin (in dieser Reihenfolge) haben ein wenige Wochen altes Baby. Vielleicht sind sie das erste Mal wieder „draußen“ aus der vormals ungeahnten Elternschafts-Höhle. Nein, nicht „Hölle“.

Die Frau geht sehr natürlich und normal mit dem Kind um, als hätte sie es immer schon gehabt, sie macht kein Aufhebens. Doch dann erobert er die Szenerie. Er nimmt das Kind wie ein Handwerkszeug, demonstrativ fuhrwerkend. Er bleibt breitbeinig stehen und schwenkt es ausgiebig hin und her, als wollte er es allen mal so richtig zeigen. Betonter, gravitätisch ausagierter Vaterstolz. Potenzbeweis überdies.

Nun bringt die Kellnerin sein Essen, ein Pasta-Gericht. Mit ausgesprochen großspurigem Gehabe, als sei der Teller eine Baustelle, lädt er sich die Nudeln mit Begleitgedöns auf die Gabel und stopft sie – gröblich portioniert – stoßweise in sich hinein, geradezu animalisch. Auf vierschrötig eckige, buchstäblich anstößige Art. Dabei ist er kein „Proll“, sondern so ziemlich auf der Höhe des konsumierenden Zeitgeistes. Der Klischee-Tipp würde auf BWLer hinauslaufen.

Ganz egal, was er vollführt, er behält diese auffällige und unangenehme Großspurigkeit bei. In der Gestik beim Reden sowieso (er wird der Frau gewiss sagen, wo es lang geht), ja schon beim bloßen Nachsalzen; schließlich, wenn er sich einen Schal umlegt oder die Jacke überwirft. Entschieden ausgreifend und stets im Zeigemodus: Hier. Ich. Jacke an. Ihr. Hergucken. Hohooo!

Es ist das schiere Gegenteil von An-sich-Halten oder gar In-sich-Gehen. Er zieht mit den Händen stets weite Kreise um sich, beansprucht enorm viel Raum für seine geringsten Verrichtungen. Einer, der niemals eine Unsicherheit zugeben würde. Doch muss er nicht immerzu angestrengt wachsam sein?

Sie ist dermaßen anders, dass man schon den Vorschein einer baldigen Trennung zu ahnen meint. Und das Kind?

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Bisher in der losen Textreihe „Soziale Miniaturen“ erschienen:

An der Kasse (1), Kontoauszug (2), Profis (3), Sandburg (4), Eheliche Lektionen (5), Im Herrenhaus (6), Herrenrunde (7), Geschlossene Abteilung (8), Pornosammler (9), Am Friedhofstor (10), Einkaufserlebnis (11), Gewaltsamer Augenblick (12), Ein Nachruf im bleibenden Zorn (13), Klassentreffen (14), Zuckfuß (15), Peinlicher Moment (16)

 




Nashorn oder Fuchs: Städtische Symboltiere auf der Straße

Mit dem Bau des Konzerthauses in Dortmund fing es an: Überall in der Stadt wurden bunte Nashörner mit Flügeln aufgestellt.

Die wundersamen Fabelwesen sollten für den neuen Kulturtempel werben, und weil sie so zahlreich auftraten, wirkte ihr Erscheinen auch. Das Konzerthaus gilt als eine der Erfolgsgeschichten Dortmunds, und die Flügelhörner stehen immer noch in der Stadt herum – manche beschädigt oder beschmiert, aber sie sind da.

Der Fuchs als Symbolfigur in der Stadt Ennepetal. (Foto: HH Pöpsel)

In ähnlicher Weise hat sich die viel kleinere Stadt Ennepetal südwestlich von Dortmund eines Symboltiers erinnert, und dieser bunte Fuchs steht nun in Überlebensgröße in allen Stadtteilen auf Betonsockeln, und zwar nicht nur im öffentlichen Raum. Auch Privatleute, Vereine und Unternehmen haben jeweils einen der knapp zwei Meter großen Füchse erworben und aufgestellt. Eine Autolackiererei hat ihren Fuchs sogar aufs Firmendach gestellt und schmückt ihn dort je nach Jahreszeit als Nikolaus, Osterhase oder Karnevalsprinz.

Wie aber kam Ennepetal auf den Fuchs? Seit mehreren hundert Jahren gibt es die Sage, dass sich ein Wanderer in die Ennepetaler Kluterthöhle wagte und sich dort verirrte. Hilfe fand er nur in einem Fuchs, an dessen buschigen Schwanz sich der Mann klammerte, und weil der Fuchs entfliehen wollte, zog er den Wanderer mit sich zum Ausgang der Höhle in Hohenlimburg.

Vor dem Höhleneingang aber saß ein Riese, der das Menschenfleisch schon gerochen hatte. Als aber nun der freigelassene Fuchs in den Wald flüchtete, hetzte der Hüne – sich irrend in der Beute – hinter dem Fuchs her, und unser Wanderer konnte dadurch frohgemut seines Weges ziehen. Diese Sage lernt natürliches jedes Grundschulkind in Ennepetal und Umgebung kennen, und so hat auch jeder Einheimische sofort eine Beziehung zu den Fuchsfiguren.

Aril 2006, im Vorfeld der Fußball-WM: Die Dortmunder Nashörner gab's damals in den Farben aller Teilnehmerländer. (Foto: Bernd Berke)

April 2006, im Vorfeld der Fußball-WM: Die Dortmunder Nashörner gab’s damals in den Farben aller Teilnehmerländer. (Foto: Bernd Berke)

Zwar ist die Kluterthöhle in Ennepetal mit fast sechs Kilometern Ganglänge die größte Naturhöhle Deutschlands, aber bis Hohenlimburg im Lennetal reicht sie natürlich nicht. So ist das eben mit den Sagen. Die Menschen waren schon immer fasziniert von Höhlen und fürchteten gleichzeitig ihre Gefahren, und diese Kombination findet ihren Niederschlag in Erzählungen unserer Vorfahren wie der Fuchs-Sage, die es seit mehr als 150 Jahren auch in schriftlicher Form gibt, zum Beispiel in den „Westphälischen Volkssagen in Liedern“ aus dem Jahre 1841. In dieser gereimten Version hat der Wanderer sogar einen typisch deutschen Namen bekommen: Hans nennt ihn der Dichter.




Der ewige Zwiespalt: Gehört die Stadt Dortmund eher zu Westfalen oder zum Ruhrgebiet?

Vor einigen Tagen gab es ein mächtiges Rumoren im Ruhrgebiet. Oder war’s eher ein klägliches Jammern und Jaulen? Thomas Westphal, Chef der Dortmunder Wirtschaftsförderung, hatte es offenbar gewagt, am gelingenden Strukturwandel des Ruhrgebiets zu zweifeln.

Westfalen oder Ruhrgebiet? Impression aus der Dortmunder Innenstadt, rechts die von Mario Botta entworfene Stadt- und Landesbibliothek. (Foto: Bernd Berke)

Westfalen oder Ruhrgebiet? Impression aus der Dortmunder Innenstadt, vorn die von Mario Botta entworfene Stadt- und Landesbibliothek. (Foto: Bernd Berke)

Der übrigens in Lübeck geborene und also des hiesigen Stallgeruchs ermangelnde, jedoch namentlich für Westfalen prädestinierte Westphal belobhudelte (etwas penetrant pro domo) die von ihm mitverantwortete Entwicklung in Dortmund, das er als digitales Zentrum für Westfalen ausschilderte. Laut WAZ fuhr er in diesem distanzierenden Sinne fort: „…obgleich wir öffentlich immer gerne zum Bestandteil des niedergehenden Ruhrgebiets gemacht werden, sind wir in Wirklichkeit ein Motor der westfälischen Boomregion.“

Das böse Wort vom Niedergang

Oha! Niedergehendes Ruhrgebiet. Bei diesen Reizworten bekamen sie beim Regionalverband Ruhr (RVR), der es sich allzeit angelegen sein lässt, das Revier in günstigem Licht darzustellen, Anfälle von Schnappatmung: Und das uns! Und das vom Wirtschaftsförderer der größten Ruhrgebiets-Kommune, der noch dazu vorher selbst beim RVR gearbeitet hat. Roland Mitschke (Bochum), CDU-Fraktionschef im so genannten Ruhrparlament, sprach deshalb von „Mangel an nachlaufender Loyalität“. Eine hübsche Formulierung, fürwahr.

Besonders aus den Reihen der Ruhrgebiets-CDU wurde vom Dortmunder OB Ullrich Sierau (SPD) nicht nur sofortige, „öffentlich sichtbare Distanzierung“ von den garstigen Worten gefordert, sondern gleich auch noch Westphals Amtsverzicht. Kleine Münze wird da halt nicht ausgezahlt.

Der Westen ist nur eine Richtung

Gewiss, Westphals Sätze waren in der Tat unglücklich zugespitzt. Doch nun mal halb lang. Man schaue sich die Lage von Dortmund auf einer handelsüblichen Landkarte an. Im Westen geht die Stadt zwar ins Ruhrgebiet über, jedoch im Süden ins Sauerland, nordwärts in die Ausläufer des Münsterlandes, östlich nach Unna und ins Vorfeld der Soester Börde. An drei Seiten ist also nicht so sehr die industrielle, sondern vornehmlich eine ländliche Umgebung prägend. Das unterscheidet die Stadt sehr wohl von Gemeinden, die in drangvoller Enge mitten im Pott liegen. Und das wiederum hat Einfluss aufs lokale Bewusstsein.

Nicht zuletzt aus Imagegründen ist es daher langjährig geübte Dortmunder Praxis, sich weniger als Revierkommune zu gerieren, sondern in erster Linie als „Westfalenmetropole“, was sich freilich etwas geschwollen anhört. Hätte man gewisse Gebäudeensembles nach dem Krieg nicht abgerissen, so wäre der historische Zusammenhang vielleicht noch sinnfälliger. So aber hat der übliche sozialdemokatische Betonwust der „autogerechten Stadt“ auf hässliche Weise die Oberhand gewonnen. So richtig westfälisch sieht das nicht mehr aus. Auf dem Gebiet sammelt Münster eindeutig mehr Punkte.

Trotzdem: Immer wieder hat sich die vormalige Freie Reichsstadt und Hansestadt Dortmund gern westfälisch bespiegelt. Namen wie die Westfalenhalle, Westfalenstadion oder Westfälische Rundschau (*1946 †2013) und viele andere künden davon. Richtig, andererseits erscheinen in der Stadt die Ruhrnachrichten. Aber die gehören schon zu den Ausnahmen von der Regel.

Absetzbewegungen

Immer mal wieder hat es auch Absetzbewegungen vom Ruhrgebiet gegeben, um 2007/2008 drohte der damalige Dortmunder Oberbürgermeister Gerhard Langemeyer (SPD) gar brüsk mit dem Austritt aus dem Regionalverband Ruhr (RVR). Der Zwiespalt bewegte ihn auch noch im Herbst 2015. Da referierte der Ex-OB gemeinsam mit dem einstigen NRW-Städtebauminister Christoph Zöpel über das Thema „Heimat Dortmund – Großstadt in Westfalen oder Metropole Ruhr?“

Niemals hat man sich in Dortmund so mit dem „Pott“ als Ganzes identifiziert wie etwa in Essen, wo sie zwar weniger Einwohner haben als in Dortmund, sich aber gleichwohl als Revier-Kapitale sehen. Auch die Phantasien von einer künftigen „Ruhrstadt“ fielen in Dortmund am wenigsten auf fruchtbaren Boden.

Anzeichen eines „Niedergangs“ gibt es indessen nicht nur im mittleren und westlichen Revier. Da nützt alle geflissentliche Berufung auf Westfalen nichts: Auch Dortmund hat arge Probleme, die eben nicht mit landsmannschaftlich getönter Symbolpolitik zu bewältigen sind.




„Die halbamtliche Kairoer Zeitung…“ – Über gewisse Floskeln in den Nachrichten

Kleines Rätsel ohne Preis. Wie gehen denn wohl die folgenden Nachrichten-Floskeln weiter?

„Die halbamtliche Kairoer Zeitung…“

„Der drusische Milizenführer…“

„Autoexperte…“

Beispielsweise eine "Lichtgestalt"... (Zeichnung: Stella Marie Berke)

Beispielsweise eine „Lichtgestalt“… (Zeichnung: Stella Marie Berke)

Richtig, alles richtig. Applaus, Applaus!

Die gesuchten Ergänzungs-Wörter schnacken ja auch gleichsam automatisch ein. Die Zeitung aus Kairo heißt natürlich Al-Ahram. Der heute nachrichtlich nicht mehr so präsente Milizenführer nennt sich Dschumblatt (dieser satte Namensklang!). Der vielzitierte Autoexperte ist in rund 95 Prozent aller Fälle Ferdinand Dudenhöffer und wirkt als Professor an der Uni Duisburg-Essen. Mit den Terrorexperten verhält es sich hingegen anders. Davon gibt inzwischen Dutzende. Mindestens.

Weitere Beispiele dürften sich dennoch schnell finden. Aber die erwähnten sind schon besonders bewährte Exemplare. Ehedem gehörten zum Beispiel auch „Literaturpapst…“ (Reich-Ranicki) oder „Die Lichtgestalt…“ (Franz Beckenbauer) hinzu. *hüstel*

Ich finde solche Formeln hinreißend, weil sie fast schon etwas mathematisch Folgerichtiges zu haben scheinen. Dabei wurden und werden sie völlig unreflektiert in Texte eingestreut und erweisen sich bei näherem Hinsehen als unbegriffene Leerformeln. Man sagt und schreibt sie halt einfach so dahin. Und der Medienkonsument hat etwaige Details eh meist rasch vergessen. Vielleicht handelt es sich ja um beschwörende Zauberworte, die zu einem geheimen Ritual gehören.

Bitte sehr: Wer hat uns jemals erklärt, was es mit dem Etikett „halbamtlich“ auf sich hat? Wer beeinflusst denn wohl die andere Hälfte? Und welche Behörde ist für die ersten 50 Prozent zuständig? Sollen wir annehmen, dass die Zitate aus dieser Gazette ohnehin mit Vorsicht zu genießen sind? Dann könnte man sie sich und uns vielleicht auch ersparen.

Warum erfahren wie nie, dass dieser höchst ominöse, extrem antiisraelisch eingestellte Dschumblatt auch einen Vornamen hat (Walid)? Was müssen wir uns unter einem drusischen Milizenführer vorstellen, außer dem kläglichen Umstand, dass die bloße Nennung eine intime Kennerschaft vortäuscht, die der eilige Journalist nicht mit jedem hergelaufenen Hörer und Leser teilen mag?

Kann es Zufall sein, dass zwei unserer Beispiele aus Zusammenhängen des Nahen Ostens stammen? Muss da nicht der Verdacht keimen, dass ein weiteres Nachdenken über das dortige fortwährende Chaos sich angeblich sowieso nicht lohnt? Sind solche Formeln gar (nutzlose) Wegmarken im weiten Felde der Unübersichtlichkeit, die Orientierung lediglich vorgaukeln?

Fragen über Fragen, die wir uns endlich gern einmal von Floskel-Experten beantworten ließen. Aber ein bisschen dschumblatt!