Auf Fehmarn und Kreta, zwischen Hendrix und Dylan: Plötzlich drängen sich Erinnerungen an die 60er und 70er Jahre auf

Es war nicht geplant, es hat sich einfach so ergeben. Auf meinen/unseren letzten beiden Reisen hat sich eine gewisse Andacht auf Popmusik-Größen vergangener Zeiten gerichtet bzw. auf diese vergangenen Zeiten selbst. Der Geist der Orte war freilich nicht mehr ohne weiteres spürbar, er waberte nicht von selbst, man musste ihn schon willentlich beschwören.

Mit bescheidenen Mitteln "Love and Peace" beschwören: Jimi-Hendrix-Gedenkstein auf Fehmarn. (Foto: Bernd Berke)

Gemeißelte Gitarre mit eingelassener Blumenvase und knapper Inschrift – mit solch bescheidenen Mitteln wird „Love and Peace“ beschworen: Jimi-Hendrix-Gedenkstein auf Fehmarn. (Foto: Bernd Berke)

Kommen wir zur Sache.

Im Sommer ging es hinauf nach Fehmarn. Was nicht jeder Rockfan weiß: Dort hat einst der geniale Gitarrist Jimi Hendrix das allerletzte Live-Konzert seines Lebens gegeben – exakt datiert: am Sonntag, dem 6. September 1970. Nur zwölf Tage später ist er in London gestorben.

„Woodstock an der Ostsee“?

Laut Reiseführer und anderen Quellen hatten seinerzeit drei – in derlei Dingen völlig unerfahrene – Kieler Jungspunde ein dreitägiges Festival aus dem insularen Boden gestampft und dafür nicht „nur“ Hendrix, sondern mal eben auch Ten Years After, Canned Heat, Taste und andere Spitzenbands jener Jahre engagiert. Sie wollten quasi ein „Woodstock an der Ostsee“ stemmen.

Das Ganze scheiterte freilich nicht nur am stürmischen Regenwetter, sondern vor allem am organisatorischen Chaos mit Hamburger Rockern als „Ordnungs“-Kräften, die am Schluss das Festivalzentrum abfackelten, weil es nicht sofort Geld für ihre zweifelhaften Dienste gab.

Regen damals, Regen jetzt

Trotz alledem überwog bei vielen Besuchern die Sehnsucht nach „Love & Peace“, die sich später zusehends in Nostalgie verwandelte. So nimmt es nicht Wunder, dass heute ein recht unscheinbarer Gedenkstein (unsere Tochter, generationsbedingt von keinerlei Hippietum angekränkelt: „Der ist aber ipsig“) auf dem früheren Festival-Gelände am Flügger Strand wehmütige Erinnerungen weckt. Gar manche(r) pilgert hin, so auch wir. Übrigens bei heftigem Regen, der just einsetzte, als wir uns dem Steine näherten. Ein Zeichen, ein Zeichen! Aber wofür bloß?

Auch hier ist "Love and Peace" angesagt: Wandbild in der Nähe der Höhlen von Matala/Kreta. (Foto: Bernd Berke)

Auch hier ist „Love and Peace“ angesagt: Wandbild in der Nähe der Höhlen von Matala/Kreta. (Foto: Bernd Berke)

In den Herbstferien lag jetzt noch eine kurze letzte Sonnenwoche auf Kreta an. Licht schöpfen für den langen Winter. Und siehe da, ob nun Zufall oder nicht: Wiederum manifestierten sich die 60er und 70er Jahre an einer bestimmten Stätte auf unseren Wegen, nämlich in Matala. Kreta-Kenner haben sicherlich zumindest von den dortigen Felshöhlen gehört oder sie aufgesucht, die in frühchristlicher Zeit als Gräber genutzt wurden.

Hippies in den Höhlen

In den späten 60er und frühen 1970er Jahren kamen dann Hippies aus aller Welt hierher, darunter im Gefolge auch Bob Dylan und Cat Stevens, der damals eine Größe war, sich aber leider längst aus dem Olymp des Rock verabschiedet hat. Ja, das musste mal wieder gesagt werden.

In den Höhlen von Matala gab es, wie man sich denken kann, keinerlei sanitäre Einrichtungen, so dass… Nun ja, auch das kann man sich sozusagen olfaktorisch vorstellen. Doch man mag es nicht tun. Lieber blumig erinnert als erstunken.

Im milden Licht des Spätnachmittags: Blick auf die Felshöhlen von Matala. (Foto: Bernd Berke)

Im milden Licht eines Spätnachmittags: Blick auf die Felshöhlen von Matala. (Foto: Bernd Berke)

Heute jedenfalls sind die meisten Geschäfte rings um die Höhlen auf Touristennepp ausgerichtet. Man sollte ihnen nicht auf den Leim gehen. Ein paar Kilometer weiter normalisieren sich Freundlichkeit und Preise.

Und wo bleibt der ästhetische Mehrwert?

Auch in Matala sucht man, noch deutlich unbeholfener und naiver als auf Fehmarn, ausdrücklich „Love & Peace“ zu beschwören. Doch angesichts der beiden Gedenkorte im Norden und Süden wage ich melancholisch zu behaupten: So sehr diese Musik einmal befreiend und belebend gewirkt hat; bei Licht und nüchtern aus der Distanz betrachtet, zeitigt die bloße Erinnerung an große Zeiten von Rock und Pop ästhetisch nicht unbedingt fruchtbareren Mehrwert als die heimelige Tümelei vorheriger Generationen. Beweist mir doch bitte das Gegenteil!




Der unerbittliche Stachel des Todes: Uraufführung von „L’Invisible“ von Aribert Reimann an der Deutschen Oper Berlin

Szene aus dem dritten Teil der Oper "L'Invisible" von Aribert Reimann an der Deutschen Oper Berlin, mit Annika Schlicht und Gelmer Reuter. Foto: Bernd Uhlig

Szene aus dem dritten Teil der Oper „L’Invisible“ von Aribert Reimann an der Deutschen Oper Berlin, mit Annika Schlicht und Gelmer Reuter. Foto: Bernd Uhlig

Tod, wo ist dein Sieg?, fragt die christliche Osterbotschaft. Sie relativiert den endgültigen Ernst des Todes nicht, aber sie hebt seine Allgültigkeit auf. Aribert Reimann, mit seinen 81 Jahren der Doyen der international renommierten deutschen Komponisten, führt in seinem neuesten Bühnenwerk den Sieg des Todes unerbittlich vor Augen: Sein Triumph ist unbestreitbar in den drei Kurzdramen des Symbolisten Maurice Maeterlinck, die Reimann für seine „Trilogie lyrique“ selbst zusammengefasst hat. „L’Invisible“ feierte an der Deutschen Oper Berlin eine warmherzig aufgenommene Uraufführung.

Der Tod lastet in unsichtbarer Präsenz auf diesen drei, zwischen 1890 und 1894 als Teil einer Serie von Kurzdramen erschienenen Stücken. Er steckt, wie Rilke formulierte, im Leben wie der Kern in der Frucht. Das erste und das mittlere lassen die Ahnung des Unausweichlichen im realistischen Setting eines Gesellschaftsstücks zur Gewissheit werden: In „L’Intruse“ (Der Eindringling) ringt eine Frau im Kindbett mit dem Tod. Die Familie wartet auf einen weiteren Verwandten; der blinde Großvater bemerkt das Kommen eines unsichtbaren Fremden. Die Frau stirbt und das Neugeborene stößt seinen ersten Schrei aus.

In „Intèrieur“ hat der Tod sein Werk bereits vollendet: Ein Mädchen ist im Fluss ertrunken, hat sich möglicherweise selbst das Leben genommen. Ein alter Mann und ein Fremder beobachten die Familie des Kindes und zögern, ihre Harmonie durch die Todesnachricht zu zerstören.

Das dritte der Dramen, „La mort de Tintagiles“ geht dagegen in die märchenhafte Richtung, die Maeterlinck mit „Pelléas et Mélisande“ ausgeformt hatte. Tintagiles – der Name mag an Tintagel, den sagenhaften Sitz König Artus‘ erinnern – ist der Enkel einer geheimnisvollen Königin, die ihm als möglichen Rivalen um die Herrschaft nach dem Leben trachtet. Wie bei zwei Brüdern vorher ist der Kampf seiner beiden Schwestern um sein Leben erfolglos: Tintagiles wird in die Labyrinthe des Schlosses entführt und stirbt. Die Königin bleibt unsichtbar – es ist nicht einmal klar, ob sie real oder nur als Vorstellung oder Gespenst existiert.

Klappernder Rhythmus, knöcherne Laute

Musikalisch setzt Reimann den Tod von Anfang an präsent: In einem seltsam klappernden Rhythmus, in den bereits von Gustav Mahler eingesetzten knöchernen Lauten, wenn die tiefen Streicher mit dem Holz des Bogens auf die Saiten schlagen. Im ersten Stück lässt Reimann nur die Streicher klingen, nutzt ihre Farben und den Tonumfang vom raunenden tiefsten Bass bis zu gläsern schneidenden Violinen voll aus.

Auch der harmonische Raum wird mit vielfach geteilten Streichern intensiv gefüllt: Zu Gruppen zusammengefasst, stehen sie in Akkorden, und Clustern in herben Reibungen gegeneinander oder verschmelzen zu rauchig-filigranen Klangfeldern.

Das „ganz Andere“ bricht in diese musikalische Szenerie mit dem Tod der Mutter des Kindes ein: Der verstörende, scharf dissonante Bläserakkord, der den Einbruch des Todes markiert, wird auch in den beiden folgenden Stücken, mehrfach verarbeitet und verändert, als Signal für das Unerbittliche dienen. Mit ihm, aber auch mit melodischen Elementen aus dem Streichersatz schafft Reimann einen musikalischen Zusammenhang zwischen den Stücken.

Trügerische Idylle: Szene aus "L'Invisible" von Aribert Reimann. Foto: Bernd Uhlig

Trügerische Idylle: Szene aus „L’Invisible“ von Aribert Reimann. Foto: Bernd Uhlig

Ein anderes Mittel des Zusammenbindens sind die Zwischenspiele, die Reimann drei Countertenören anvertraut. Sie singen eine Art Madrigal, unterstützt von Harfen und gespeist aus einer melodischen Linie der Celli in Vierteltönen, die der Komponist – so erzählt er im Interview im Programheft – eines Nachts beim Aufwachen gehört hat.

Die drei Sänger, zunächst hinter den Bühne, dann über dem Geschehen sichtbar, treten im dritten Teil explizit als Todesboten auf. Auch der Todesakkord der Bläser kehrt wieder; in der kunstvollen, tiefgründigen Polyphonie des Orchesters meint man, eine Ahnung der Heideszene aus Reimanns „Lear“ zu vernehmen – nur jetzt nicht mehr so wild und rasend, sondern gleichsam abgeklärt, ein Widerhall der emotionalen Stürme, die vor vierzig Jahren den ausweglos ausgesetzten alten König umtobten.

Den Mittelteil gestaltet Reimann als größtmöglichen Kontrast nur mit fünfzehn Holzbläsern, deren tiefste Vertreter, Bassklarinette, Kontrafagott und das tief klingende Heckelphon aus der Oboenfamilie prominent eingesetzt sind. Der Klang ist kammermusikalisch transparent, die Kombination der Instrumente provoziert den Schauder des Unheimlichen, Dämonischen, Abgründigen. Er steht in spannungsvollem Kontrast zur Szene, auf der sich die Familie des ertrunkenen Mädchens auf den Weihnachtsabend vorbereitet.

Die Regie fasst das ahnungsvoll Unbestimmte in unheimliche Bilder

Die Deutsche Oper setzt für die Inszenierung auf keinen der bekannten Namen, sondern vertraut sie dem 34-jährigen Russen Vasily Barkhatov an, der sich mit Berlioz‘ „La Damnation de Faust“ 2015 in Mannheim vorgestellt und mit Mussorgskys „Chowanschtschina“ in Basel und Bernd Alois Zimmermanns „Die Soldaten“ bei den Wiesbadener Maifestspielen 2016 für Furore gesorgt hat.

Der große junge blonde Mann setzt auf den Kontrast: Die zunächst lapidar wirkende Bühne von Zinovy Margulin – eine Hauswand, aufgerissen von einem breiten Fenster – entwickelt sich in den drei Teilen zu einem faszinierend variablen Gestaltungselement, das geheimnisvoll heran- und in die Ferne rücken kann, das Einblicke freigibt und Wege verschließt.

Die Innen-Außen-Wirkung ist vor allem in „Intèrieur“ frappant, wenn die Familie wie in einem Schutzraum den Christbaum schmückt, während draußen die Beobachter riesige Schatten werfen und das Licht (Ulrich Niepel) unwirkliche, unheimliche Räume entstehen lässt.

Hier fasst Barkhatov das ahnungsvolle Unbestimmte, das Changieren zwischen fassbarer Wirklichkeit und ihrem unbestimmten Hintergrund in Eindrücke, wie sie aus symbolistischen Bildern, aus surrealen Szenerien oder aus expressionistischen Filmen vertraut sind. In „Der Tod des Tintagiles“ dagegen hebelt er das Märchenhafte aus, indem er detaillierte realistische Elemente auf die Bühne holt: Ein Krankenzimmer mit Personal der Gegenwart, ein brennendes Auto mit hochtechnisiert ausgerüstete Feuerwehrleuten – Olga Shaishmelashvili hat gründliche Kostüm-Arbeit geleistet. Das kranke Kind ist dem Tode nah – das Spielzeug wird bereits im Müllsack entsorgt – und der Arzt spielt mit dem Jungen noch einmal ein Ritterspiel aus dem Bilderbuch nach.

Aber Barkhatov bricht die Konkretion des Sterbens, indem er den Tod des Kindes vervielfacht. Zu den Klagen des im Labyrinth der Königin eingeschlossenen Tintagiles sehen wir es erhängt, im Autowrack erstickt, mit seinem Fahrrad überfahren: der sinnlose Tod, wie ihn unser Alltag in unserer Zivilisation für Kinder bereithält und wie er selbst durch den intensiven Einsatz medizinischer Technik nicht aufzuhalten ist.

Die ungreifbare, böse Königin wird zur Chiffre eines ebenso ungreifbaren Schicksals, das verstörend in unser Leben einschlägt und uns ohnmächtig sein lässt wie die Schwestern, die vergeblich um das Leben ihres Bruders kämpfen: Konkretion einer metaphorischen Ebene, die ganz hart an einer platten Aktualisierung vorbeischrammt, aber in ihrer Bildgewalt und vor allem in ihrer anti-realistischen Brechung doch dem Stoff angemessen bleibt.

Großartige Ensembleleistung

Während Reimann in seinen Opern stets prominenten Rollen für die Sänger geschaffen hat (man denke an Melusine, Lear und seine Töchter oder Medea), haben die Solisten in „L’Invisible“ kaum Gelegenheit, sich zu profilieren. Nur Rachel Harnisch als Ursula, Marie und Tintagiles‘ Schwester Ygraine kann ihren Sopran strahlen lassen. Aber Stephan Bronk (Großvater/Alter) oder Thomas Blondelle (Fremder) haben unspektakuläre, jedoch entscheidende Momente gesanglich-sprachlicher Charakterisierung. Und Salvador Macedo aus dem Kinderchor der Deutschen Oper muss das hilflose Verschwinden Tintagiles stimmlich ausdrucksstark realisieren.

Donald Runnicles und das Orchester der Deutschen Oper haben Tempi und Klangbalancen gefunden, die beim ersten Hören einer neuen Partitur rundweg überzeugen; den Solisten aus dem Orchester gelingen die expressiven Momente, aber auch die introvertierten Töne mit Bravour.

Die Deutsche Oper hat sich mit dieser Uraufführung – es ist das fünfte Bühnenwerk Reimanns im Auftrag des Hauses – in der Konkurrenz der drei großen Berliner Musiktheater glänzend positioniert. Das Haus von Dietmar Schwarz setzt sich deutlich vom Repertoire-Mainstream und der vom Einsatz „großer Namen“ gekennzeichneten Politik von Barenboims Staatsoper Unter den Linden ab.

Mit Giacomo Meyerbeers „Le Prophète“ wird im November die Reihe der großen Opern des Berliner Kosmopoliten fortgesetzt; mit einem neuen „Frankenstein“-Projekt in der „Tischlerei“ im Januar 2018 und dem vergessenen Hauptwerk „Das Wunder der Heliane“ von Erich Wolfgang Korngold stehen weitere spannende Vorhaben auf dem Spielplan.

Aribert Reimanns „L’Invisible“ wird noch am 31. Oktober gespielt. Info: www.deutscheoperberlin.de




Komponist Paul Hindemith als Zeichner: Ausstellung zur Premiere von „Mathis der Maler“ in Gelsenkirchen

Paul Hindemith, Trio, o. J., Tinte/Buntstifte auf Papier, 18,5 x 14,0 cm, © Fondation Hindemith, Blonay (CH)

Paul Hindemith, Trio, o. J., Tinte/Buntstifte auf Papier, 18,5 x 14,0 cm, © Fondation Hindemith, Blonay (CH)

In Gelsenkirchen hat am Samstag, 28. Oktober am Musiktheater im Revier Paul Hindemiths Oper „Mathis der Maler“ Premiere. Hindemith schrieb selbst das Libretto und thematisiert an der Hauptfigur, dem Maler Matthias Grünewald, die Verantwortung des Künstlers in Zeiten politischer Umbrüche.

Der Komponist arbeitete unter dem unmittelbaren Eindruck der Machtergreifung der Nationalsozialisten an dem Entwurf. Die fertiggestellte Oper durfte nicht mehr uraufgeführt werden und kam erstmals in Deutschland erst 1946 in Stuttgart auf die Bühne. Die Uraufführung fand 1938 in Zürich statt, nachdem Hindemith sich dem Druck des NS-Regimes durch Emigration entzogen hatte.

Dass Paul Hindemith auch ein talentierter Zeichner war, zeigt anlässlich der Premiere das Kunstmuseum Gelsenkirchen in einer Ausstellung. Im Kunstraum des Museums sind über 50 der überwiegend kleinformatigen Zeichnungen des 1963 gestorbenen Komponisten zu sehen.

Paul Hindemith, Milk, o. J., Tinte/Buntstifte auf Papier, 9,7 x 9,7 cm, © Fondation Hindemith, Blonay (CH)

Paul Hindemith, Milk, o. J., Tinte/Buntstifte auf Papier, 9,7 x 9,7 cm, © Fondation Hindemith, (CH)

Manches davon wirkt naiv, vieles spontan hingeworfen. Andere Bilder sind humorvoll, satirisch, sogar grotesk. Hindemith hielt seine Eindrücke und Ideen oft auf zufällig vorhandenen Materialien fest, etwa auf Papierschnipseln oder linierten, karierten oder mit Notenlinien bedruckten Blättern.

Hindemith plante nie, die Zeichnungen zu veröffentlichen. Er und seine Frau sammelten über 400 davon in Alben für den privaten Gebrauch. Sie zeigen aber, so Katharina König vom Kunstmuseum Gelsenkirchen, dass Hindemith ein talentierter Zeichner und sensibler Beobachter war.

Die Ausstellung Die gezeigten Werke entstammen sämtlich dem Nachlass der Sammlung des Hindemith Instituts in Frankfurt/Main. Realisiert wurde die Schau in Kooperation mit dem Musiktheater im Revier (MiR). Ein 1995 erschienener Katalog „Der Komponist als Zeichner“, herausgegeben von Susanne Schaal-Gotthardt und Angelika Storm-Rusche, ist im Museum zum Sonderpreis von 26 Euro erhältlich.

„Paul Hindemith – Einblick in das zeichnerische Werk“. Bis 3. Dezember 2017 im Kunstmuseum Gelsenkirchen. Dienstag bis Sonntag 11 bis 18 Uhr.

Am 1. November findet vor der Vorstellung von „Mathis der Maler“ im MiR (18 Uhr) um 15 Uhr im Museum eine Führung statt. Anmeldung erbeten unter Tel.: (0209) 169 4130.

Weitere Aufführungen von „Mathis der Maler“ in Gelsenkirchen sind am 9., 12. (15 Uhr), 26. (18 Uhr) November sowie am 10. (18 Uhr) und 30. Dezember. Info: www.musiktheater-im-revier.de




Gebäude und Gesichter: Das Museum Ludwig Köln wirft einen Blick auf den Fotografen Werner Mantz

Gesichter und Fassaden: Für Werner Mantz waren sie künstlerisch einander ähnliche Herausforderungen. Der 1901 geborene Fotograf begann seine Laufbahn 1921 in Köln als Porträtist.

Werner Mantz Porträt einer jungen Frau, Familie Huyben, Maastricht, 1968. Gelatinesilberpapier. Nederlands Fotomuseum, Rotterdam. © VG Bild-Kunst, Bonn 2017, Werner Mantz/Nederlands Fotomuseum. Foto: Nederlands Fotomuseum, Rotterdam.

Werner Mantz Porträt einer jungen Frau, Familie Huyben, Maastricht, 1968. Gelatinesilberpapier. Nederlands Fotomuseum, Rotterdam. © VG Bild-Kunst, Bonn 2017, Werner Mantz/Nederlands Fotomuseum. Foto: Nederlands Fotomuseum, Rotterdam.

Bald kamen Aufträge zum Fotografieren von Architektur hinzu. Mantz lichtete Bauten von Wilhelm Riphahn, Peter Franz Nöcker, Caspar Maria Grod und anderen bekannten Protagonisten modernen Bauens ab und wurde so zum Chronisten der architektonischen Avantgarde im Köln der Zwanziger und beginnenden Dreißiger Jahre.

1932 eröffnete Mantz in Maastricht ein zweites Atelier, wohin er 1938 auch umsiedelte. Dort kam er auf die Porträtfotografie zurück und spezialisierte sich auf Kinderbildnisse. Für ihn waren seine Porträts ebenso bedeutend wie seine Architekturaufnahmen.

Erstmals ermöglicht nun das Museum Ludwig in Köln mit einer Ausstellung, beide Aspekte des Schaffens des 1983 verstorbenen Fotokünstlers zusammen zu sehen: In der bis 21. Januar 2018 gezeigten Schau werden Architekturfotos und bisher nie ausgestellte Porträts miteinander in Bezug gesetzt.

Die Ausstellung ist ein Gemeinschaftsprojekt mit dem Nederlands Fotomuseum in Rotterdam, das den Bestand von Mantz‘ Aufnahmen in den Niederlanden bewahrt.

Werner Mantz: Haus Am Botanischen Garten, Köln, um 1929. Bromsilberdruck. © VG Bild-Kunst, Bonn 2017. Foto: Rheinisches Bildarchiv Köln.

Werner Mantz: Haus Am Botanischen Garten, Köln, um 1929. Bromsilberdruck. © VG Bild-Kunst, Bonn 2017. Foto: Rheinisches Bildarchiv Köln.

Zur Ausstellung erscheint ein Katalog, herausgegeben von der Werner Mantz Foundation. Die 151 Abbildungen mit Texten in Deutsch, Englisch und Niederländisch ergänzt ein Gespräch zwischen den Kuratoren Frits Gierstberg und Miriam Halwani. Der Katalog kostet 19,50 Euro.

Die Ausstellung „Werner Mantz. Architekturen und Menschen“ ist im Museum Ludwig in Köln bis 21. Januar 2018 zu sehen. Geöffnet ist das Museum von Dienstag bis Sonntag von 10 bis 18 Uhr und an jedem ersten Donnerstag im Monat bis 22 Uhr. Der Eintritt kostet 11 Euro, ermäßigt 7,50 Euro.

 




Zum Tode verurteilt: Stefan Herheim verlegt Wozzeck an der Rheinoper in die Todeszelle

Fotos: © Karl Forster/Deutsche Oper am Rhein

Ein drastisches Szenario hat sich Regisseur Stefan Herheim für seinen Wozzeck an der Rheinoper Düsseldorf/Duisburg ausgedacht: Er verlegt Alban Bergs Oper nach dem Schauspiel von Georg Büchner in die Todeszelle.

Doch der Ansatz scheint folgerichtig, denn die tragische Geschichte des Woyzeck bzw. Wozzeck (ein banaler Lesefehler war wohl der Grund für die unterschiedliche Schreibweise von Schauspiel und Oper) geht auf einen authentischen Fall zurück: „Der 45jährige Johann Christian Woyzeck wurde öffentlich am 27. August 1824 auf dem Marktplatz zu Leipzig durch das Schwert hingerichtet – drei Jahre nachdem er seine fünf Jahre ältere Geliebte Johanna Christiane Woost abends um halb zehn im Hauseingang ihrer Wohnung mit einer abgebrochenen Degenklinge erstochen hatte, an die er nachmittags noch einen Griff befestigen ließ“, erläutert Alexander Meier-Dörzenbach, Dramaturg der Inszenierung im Programmheft.

Das Besondere an dieser historischen Gerichtsverhandlung allerdings war, dass unter Erstellung verschiedener medizinischer Gutachten nahezu zum ersten Mal auch die Frage der verminderten Schuldfähigkeit durch psychische Instabilität erörtert wurde. Woyzeck selbst half das nichts mehr, denn der Richter konnte damals nicht überzeugt werden, doch die Gesellschaft war sich der Legitimität einer Tötung von Staats wegen nicht mehr ganz sicher. Und wie sieht das heutzutage aus? In Zeiten, wo beispielsweise in der Türkei die Wiedereinführung der Todesstrafe droht?

Fotos: © Karl Forster/Deutsche Oper am Rhein

Stefan Herheim nimmt sich als Vorbild allerdings die USA: Der Bühnen- und Kostümbildner Christof Hetzer hat einen klinischen Hinrichtungs-Raum mit dem charakteristischen Sichtfenster für die Zeugen auf die Bühne gestellt, in der Mitte Wozzeck festgeschnallt auf der Todespritsche. Er, Marie und sein Freund Andres tragen rote Häftlingskleidung. Der Hauptmann sowie der gesamte Militärapparat sind zu Gefängniswärtern geworden, während sich der Doktor als Gefängnisarzt nahtlos in die Tötungsmaschinerie einfügt. Die Opernhandlung entfaltet sich dann in einer Art Rückblende, die erzählt, wie es zu dem Verbrechen kam, dessen Strafe nun vollstreckt werden soll.

Alban Bergs Musik, grandios gespielt von den Düsseldorfer Symphonikern unter der Leitung von Axel Kober, spiegelt die ganze Zerrissenheit, Gehetztheit und Zuspitzung des psychischen Ausnahmezustands der Hauptfigur wieder: Herumgeschubst vom Hauptmann und vom Arzt zu unangenehmen medizinischen Versuchen gedrängt, muss der arme Soldat Wozzeck auch noch mit ansehen, wie seine Verlobte Marie mit dem geckenhaften Tambourmajor fremdgeht. Da dreht er durch: Er ermordet Marie und ertrinkt selbst bei dem Versuch, die Tatwaffe aus dem See zu fischen.

Fotos: © Karl Forster/Deutsche Oper am Rhein

Die Titelpartie gestaltet Bo Skovhus musikalisch und schauspielerisch hervorragend und wird dafür mit Standing Ovations belohnt: Doch auch Camilla Nylund als Marie und Matthias Klink als Hauptmann sowie Sami Luttinen als Arzt spielen ihre Rollen psychologisch dicht und singen so eindringlich, dass all die Seelennöte, Abgründe und Getriebenheiten offen zutage treten – bis an die Schmerzgrenze.

Die Todeszelle sollen sie dabei die ganze Zeit nicht verlassen; selbst Maries Vergewaltigung durch den als Cowboy ausstaffierten Tambourmajor (Corby Welch) findet auf der Pritsche des Verurteilten statt. Erst gegen Ende räumen die Zeugen hinter der Glasscheibe ihren distanzierten Platz und kommen nach vorne an die Rampe. Doch der Sündenbock steht ohnehin schon fest: An Wozzeck wird das Exempel statuiert, da kann er noch so wüten in seinem Knast, er ist zum Tode verurteilt und alle anderen sehen bei seiner Hinrichtung zu.

Karten und Termine:
www.operamrhein.de




Spannende Seelenschau bei Kerzenschein – Händels „Giulio Cesare in Egitto“ konzertant in der Essener Philharmonie

Das ausgezeichnete Ensemble Accademia Bizantina hat sich auf die Musik des 17. und 18. Jahrhunderts spezialisiert. Foto: Giulia Papetti

„Alte Musik bei Kerzenschein“ ist ein über die Jahre gewachsenes und beliebtes Konzertformat der Essener Philharmonie, das vor allem den Kompositionen des Barock ein Podium bietet. Dass Werke zwischen Gregorianik und Renaissance eine eher kleine Rolle in der Programmgestaltung spielen, mag bedauerlich sein. Doch die meisten Spezialensembles, die besonders in den letzten Jahren wie Pilze aus dem Boden geschossen sind, widmen sich eben vornehmlich der Musik des 17. und 18. Jahrhunderts.

Wenn dann große Namen wie etwa Cecilia Bartoli, Magdalena Kožená oder Joyce DiDonato sich als Ausgräberinnen barocker Raritäten präsentieren, ist der Zuspruch des Publikums gewiss. Die Sängerinnen, und viele andere mehr, haben gewissermaßen den zweiten Hype um die Barockmusik ausgelöst – nach der ersten großen Welle, die den Pionieren der Originalklangbewegung zu danken ist, wie etwa den Dirigenten Nikolaus Harnoncourt, Christopher Hogwood oder Trevor Pinnock.

In Essens Philharmonie hat nun die „Kerzenschein“-Reihe mit einer der schon seinerzeit beliebtesten Händel-Opern begonnen, dem „Giulio Cesare in Egitto“. Die konzertante Aufführung, in italienischer Sprache mit deutscher Übertitelung, ganz ohne trendige Regieeinsprengsel, geschickt komprimiert auf drei Stunden Spieldauer, entpuppt sich als äußerst spannende, musikalisch ziemlich hochkarätige Angelegenheit.

Die Gesangskunst und mimische, teils auch körperbetonte Gewandtheit der Solisten illustriert disparateste Seelenzustände aufs Feinste. Und die Accademia Bizantina unter Leitung von Ottavio Dantone musiziert auf historischem Instrumentarium so gefühlvoll wie zupackend. Nur gelegentlich vermissen wir den kernigen Impuls, die vorwärtsdrängende Dramatik. Andererseits verfügt das Ensemble über einen sehr homogenen Klang, gibt sich elastisch in der Phrasierung.

Impulsiv in der Rolle des Caesar: Der Countertenor Lawrence Zazzo. Foto: Justin Hyer

Händels Oper, 1724 in London uraufgeführt, erzählt von Julius Caesar, der in Ägypten ein Reich und das Herz der Königin Cleopatra gewinnt. Das können auch ihr intriganter Bruder Tolomeo und dessen willfähriger Lakai Achilla nicht verhindern.

Caesar will den besiegten Feind Pompeo eigentlich großmütig begnadigen, der allerdings von Tolomeo bereits gemeuchelt wurde. Pompeos Frau Cornelia und beider Sohn Sesto schwören blutige Rache. Über drei Akte spannt sich ein dichtes Geflecht aus Drohungen, Kampf, Todessehnsucht – und Liebesschwüren. Händels Figuren sind alles andere als schematisch geformte Charaktere, vielmehr menschliche Wesen mit Stärken und Schwächen.

Entsprechend entgeht die Musik des barocken Meisters jedweder Gleichförmigkeit, keine Arie ist wie die andere, es herrscht die fantasievollste Vielfalt. Sei es, dass Soloinstrumente die menschliche Stimme unterstützen, sei es, dass Rezitative und Arien zu größeren Szenen ausgeweitet werden.

Verzichtet hat Händel hingegen auf den Einsatz von Chören und einkomponierten Exotismen. Würde dieser „Caesar“ auf der Bühne szenisch reduziert gegeben, ohne Ausstattungspomp und Massenaufzüge von Statisten, hätte er als ein solches Kammerspiel durchaus seinen Reiz. Dafür ist die konzertante Essener Aufführung, in der es auf die Agilität der Stimmen, Mimik und Gestik ankommt, jedenfalls kein schlechtes Beispiel.

Emöke Paráth singt die Cleopatra gleichermaßen kokett, stolz und melancholisch. Foto: TUP

Dabei wirkt der Countertenor Lawrence Zazzo in der Titelrolle fast schon zu impulsiv. Andererseits gibt er aufs Schönste den verliebten Schmeichler und findet wunderbar verschattete Töne als ein Zweifler, der weiß, dass auch ein Mächtiger sterblich ist.

Die Sopranistin Emöke Baráth entpuppt sich als so kokette, stolze wie charmante Cleopatra, deren Auftrittsarie einen Hauch von Chanson versprüht. Mit großer Leichtigkeit meistert sich die Koloraturen. Und als Gefangene ihres tyrannischen Bruders Tolomeo formt sie ein ergreifendes Lamento. Den Erzschurken singt Filippo Mineccia, ebenfalls ein Counter, mit überbordender Energie. Ihm zur Seite, mit markantem Bariton, Riccardo Novaro (Achilla).

Auch das Racheduo Sesto/Cornelia ist mit Julie Boulianne/Delphine Galou stark besetzt. Boulianne besticht mit furiosem Mezzo, während Galous Alt zwar ein wenig zu fein klingt, ihre sanften Arien aber durchaus berühren. Mitreißend hingegen die Gestaltung der Rezitative, voller Emotionen. Alles im übrigen zur Begeisterung des Publikums, das jede große Arie lustvoll beklatscht.




Bochumer Ausstellung „Umbrüche“: Wie Fotokünstler den stetigen Wandel des Ruhrgebiets gesehen haben

Das Ruhrgebiet kann man auf sehr verschiedene Arten betrachten – auch und gerade mit künstlerisch inspiriertem Sinn. Diese an sich nicht allzu überraschende Weisheit wird jetzt in einer Bochumer Fotografie-Ausstellung sehr entschieden bekräftigt. „Umbrüche“ heißt die anregende Schau im „Museum unter Tage“ („MuT“), das im allseits durchgrünten Ambiente des Schlossparks von Bochum-Weitmar gelegen ist.

Rudolf Holtappel: "Die letzte Schicht", Oberhausen, 1964, späterer Abzug (2009), 31 x 30 cm (© Stiftung Situation Kunst, Bochum)

Rudolf Holtappel: „Die letzte Schicht“, Oberhausen, 1964, späterer Abzug (2009), 31 x 30 cm (© Stiftung Situation Kunst, Bochum)

Der Titel lässt ahnen, dass es abermals um den Wandel der Industrielandschaft geht, der sich schon seit etlichen Jahrzehnten vollzieht. Dennoch ist es keine regionalgeschichtliche Themen- und Überblicksausstellung, sondern eine genuin künstlerische, die just unterschiedliche ästhetische Positionen markiert.

Anlass zum Innehalten

Gewichtiger Anlass zum Innehalten: 2018 wird mit Prosper Haniel in Bottrop die letzte aktive Zeche des gesamten Ruhrgebiets den Betrieb einstellen. Da lohnt sich erst recht der Blick zurück, der womöglich auch Perspektiven für die Zukunft eröffnet. Denn die Frage, wie man den viel beschworenen Strukturwandel gestalten soll, ist ja immer noch nicht hinreichend beantwortet. Wie denn auch? Es ist eine bleibende Aufgabe.

Den Schwerpunkt und den Auftakt des Ausstellungs-Rundgangs bildet ein famoses Konvolut mit rund 110 Fotografien von Rudolf Holtappel. Selbst Ruhrgebietsbewohner, hat der als Reportage-, Theater- und Unternehmensfotograf tätige Holtappel Wesen und Wandel dieser Region besonders in den 60er und 70er Jahren festgehalten. Trotz weltweiter beruflicher Reisen sind die vorwiegend in Duisburg und Oberhausen entstandenen Revier-Bilder der Kern seines Lebenswerks.

Weit entfernt von Revier-Klischees

Tatsächlich formieren sich geradezu monströse Industrieanlagen in seinen Aufnahmen zu „Landschaften“ ganz eigener Art, die sich übermächtig in ursprünglich agrarisch genutzte Areale gefräst haben. Diese Fotografien sind freilich weit entfernt von Ruhrgebiets-Klischees. Mit den Begriffen Wirklichkeit und zumal Wahrheit soll man bekanntlich vorsichtig sein, doch hier leuchten Momente auf, die dem Ideal einer wahrhaftigen Essenz wohl sehr nahekommen.

In Bochum sind ausschließlich eigenhändige Abzüge Holtappels zu sehen, nach weniger guten Erfahrungen mit Profi-Laboren („Das sind nicht mehr meine Bilder!“) hat er seinerzeit den ganzen Herstellungsprozess an sich gezogen. Und siehe da: Auch anhand seiner relativ kleinformatigen Abzüge (er wollte die Betrachter nicht mit schierer Größe überwältigen), die vorwiegend für den Druck und nicht für Museumswände gedacht waren, kann man dennoch der Textur der Dinge und den feinsten Nuancen von Grautönen nachspüren. Nie und nimmer könnte man solche ästhetischen Valeurs mit Digitalfotografie erzielen.

Verwurzelung und ungebrochene Vitalität

Der Fotokünstler hat nicht nur Industrieanlagen und den damals noch so rußigen Himmel auf Bilder gebannt, sondern auch einprägsame Momente des Ruhrgebiets-Lebens – von Bergarbeiterstreiks gegen die ersten Zechenschließungen in den 1960er Jahren bis hin zu Kleingarten-Refugien und prallen Kneipenszenen, die von Verwurzelung und unverfälschter Vitalität künden.

Rudolf Holtappel ist 2013 mit 90 Jahren in Duisburg gestorben. Seine Witwe Herta hat der Bochumer Stiftung „Situation Kunst“ (zu der das Museum unter Tage gehört) etwa 150 Ruhrgebiets-Fotografien als Schenkung überlassen. Von den Arbeiten, die nun zu sehen sind, ist die Hälfte noch nie öffentlich gezeigt worden.

Bernd und HIlla Becher: "Hochofen", Gutehoffnungshütte-Ost, Oberhausen (1972), Modern Print, 40 x 30 cm (© LVR Industriemuseum, Oberhausen)

Bernd und Hilla Becher: „Hochofen“, Gutehoffnungshütte-Ost, Oberhausen (1972), Modern Print, 40 x 30 cm (© LVR Industriemuseum, Oberhausen)

Gespür für kulturhistorischen Wert

Wie grundlegend anders erscheinen Revier-Ansichten im Oeuvre von Bernd und Hilla Becher! Fast schon steril und blutleer muten ihre Aufnahmen der Oberhausener Gutehoffnungshütte seit Mitte der 60er Jahre an. Doch es ist eben eine andere, ebenso schlüssige Herangehensweise.

Als monumentale Denkmäler ihrer selbst erscheinen hier die gigantischen Industriebauten. Spuren von Alltag und Arbeit scheinen sich verloren zu haben. Schon früh entwickelten die Bechers offenkundig ein weit vorausschauendes Gespür für den kulturhistorischen Wert solcher Anlagen, den sie möglichst „objektiv“ dokumentieren wollten. Wenn man weiß, dass die Gutehoffnungshütte bereits damals von Schließung bedroht war, so könnte die fotografische Serie auch den (hilflosen) Gestus eines Rettungsversuchs haben.

Verletzungen der Stadtlandschaft

Bis hierher hat man Schwarzweiß-Aufnahmen gesehen, jetzt beginnt die Farbzeit, allerdings in verhaltenen Tönen: In den 80er Jahren hat sich der in Dülken/Niederrhein geborene Joachim Brohm (Jahrgang 1955) fotografisch im Revier umgetan. In nahezu verblichen wirkenden Farben hat er vor allem schmerzliche „Verletzungen“ in Randzonen der Stadtlandschaften aufgesucht.

Joachim Brohm: "Ruhr", Essen, 1981 (2007). C-Print, 24 x 24 cm (© Joachim Brohm / VG Bild-Kunst, Bonn 2017)

Joachim Brohm: „Ruhr“, Essen, 1981 (2007). C-Print, 24 x 24 cm (© Joachim Brohm / VG Bild-Kunst, Bonn 2017)

Es sind bestürzende Hinterlassenschaften der Industrie und brachialer Umgestaltung: veritable Wüsteneien und öde Orte der Tristesse, in denen kaum noch etwas zu geschehen scheint. Eine ganze Region, so der Eindruck, ist gleichsam entleert worden und liegt brach. Darüber ist man heute noch nicht überall hinweg.

Bis zum Rand der Abstraktion

Jitka Hanzlová, 1982 ohne jegliche deutsche Sprachkenntnis aus der Tschechoslowakei ins Ruhrgebiet „verweht“, wie sie sagt, setzt die beinahe abstrakten Schlussakzente der Ausstellung. Fast schon Hassliebe sei es, was sie ans Ruhrgebiet binde, sie könne nur sehr subjektiv ans Sichtbare herangehen. Mit ihrer zuweilen radikal ausschnitthaften Sichtweise begibt sie sich an unscheinbare Stellen, die unter ihrem besonderen Blick freilich mit rätselvoller Magie aufgeladen werden. Ob es ein böser oder guter Zauber sei, verraten diese Bilder gewiss nicht.

„Umbrüche: Industrie – Landschaft – Wandel“. Museum unter Tage („Situation Kunst“, Schlossstr. 13, Bochum, Parkgelände Haus Weitmar). Geöffnet Mi-Fr 14-18 Uhr, Sa/So/Feiertage 12-18 Uhr. In Bochum noch bis zum 25. März 2018 (anschließend im Willy-Brandt-Haus, Berlin: 5. April bis 27. Mai 2018). Vierteiliger Katalog im Schuber 32 Euro.

Infos: www.situation-kunst.de

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Der Beitrag ist zuerst im Kulturmagazin „Westfalenspiegel“ erschienen: www.westfalenspiegel.de




Akte und Architekturen: Essener Museum Folkwang würdigt den Schweizer Fotografen Balthasar Burkhard

Balthasar Burkhard: Normandie 01,1995. Silbergelatineabzug 115 x 115 cm. Museum Franz Gertsch, Burgdorf © Estate Balthasar Burkhard, 2017.

Balthasar Burkhard: Normandie 01,1995. Silbergelatineabzug 115 x 115 cm. Museum Franz Gertsch, Burgdorf © Estate Balthasar Burkhard, 2017.

Einen der bedeutenden Fotografen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts würdigt das Museum Folkwang in Essen mit einer Ausstellung: Die 150 Werke und Werkgruppen umfassende Retrospektive für Balthasar Burkhard ist die erste große museale Würdigung des Schweizers in Deutschland und zeichnet das facettenreiche Schaffen des Fotografen etappenweise nach. Die Palette der Werke reicht von frühen Schwarzweiß-Aufnahmen aus den sechziger Jahren bis zu Architektur- und Landschaftsfotografien aus dem Spätwerk des 2010 gestorbenen Fotokünstlers.

Der 1944 geborene Balthasar Burkhard lernte bei Kurt Blum, einem der bekanntesten Schweizer Fotografen seiner Generation. 1965 eröffnete er ein eigenes Studio in Bern und fotografierte im Auftrag der Kunsthalle Bern die Künstler, die der bekannte Kurator Harald Szeemann damals ausstellte.

1966 und 1968 fotografierte Burkhard auf der Biennale in Venedig, 1972 dann auf der documenta Kassel. 1969 zeigte er erstmals die gemeinsam mit Markus Raetz geschaffenen großformatigen Fotoleinwände, mit denen er international beachtet wurde. Erstmals sind in der Essener Ausstellung Burkhards Fototagebücher dieser Zeit in einer umfassenden Zusammenschau zu sehen.

Balthasar Burkhard: Der Körper I (Installationsansicht Ausstellung Kunsthalle Basel 1983), 1983. Silbergelatineabzug 30,7 x 45,5 cm © Estate Balthasar Burkhard, 2017.

Balthasar Burkhard: Der Körper I (Installationsansicht Ausstellung Kunsthalle Basel 1983), 1983. Silbergelatineabzug 30,7 x 45,5 cm © Estate Balthasar Burkhard, 2017.

Auch in den USA, wo er einen Lehrauftrag an der Universität von Illinois annahm, arbeitete er weiter an monumentalen Leinwand-Tableaus und hatte 1977 in Chicago seine erste Einzelausstellung.

Ab 1983, zurück in der Schweiz, entdeckte Balthasar Burkhard zunehmend den menschlichen Körper. Es entstanden riesige Akte, etwa ein dreizehn Meter langer liegender Akt. Aber Burkhard interessierte sich auch für Details, Fragmente und Mikrostrukturen. Die Essener Retrospektive widmet sich dieser Werkgruppe anhand des erhaltenden Materials in Form von Studien und Skizzen und mit Hilfe von Nachdrucken. Gezeigt werden auch Architekturfotos, die seit Mitte der neunziger Jahre entstanden, und Burkhards großformatige Luftaufnahmen von Städten und Wüsten.

Balthasar Burkhard: Mexico City (Vulkan), 1999. Silbergelatineabzug auf Barytpapier 136,7 x 267,7 cm. Fondation Cartier pour l'Art contemporain, Paris © Estate Balthasar Burkhard, 2017.

Balthasar Burkhard: Mexico City (Vulkan), 1999. Silbergelatineabzug auf Barytpapier 136,7 x 267,7 cm. Fondation Cartier pour l’Art contemporain, Paris © Estate Balthasar Burkhard, 2017.

Die Ausstellung entstand in Kooperation des Museums Folkwang mit dem Fotomuseum Winterthur, der Fotostiftung Schweiz und dem Museo d’arte della Svizzerra italiana.

Essen, Museum Folkwang, 20. Oktober bis 14. Januar 2018. Öffnungszeiten: Di, Mi, Sa und So 10 bis 18 Uhr, Do und Fr 10 bis 20 Uhr. Eintritt 8 Euro, ermäßigt 5 Euro. Katalog (Steidl Verlag, Göttingen) 28 Euro.




Wenn Vater von der Zeche kam, sagte er nur „Na, Sohnemann“ – Kindheit im Revier, geprägt von Liebe und Begrenztheit

Unser Gastautor, der Schriftsteller Heinrich Peuckmann, mit einer Kindheitserinnerung aus dem Revier von damals:

Da ist ein Bild, ganz tief in mir gespeichert, das mich nicht loslässt mein Leben lang. Ich bin noch Kind, nicht mal zehn Jahre alt. Die Schule ist aus, wir spielen Fußball auf dem großen, freien Platz, dem Kamener Schützenhof, direkt vor unserer Haustür.

Wie aus einer anderen Zeit: in einer Wasserlache gespiegelter Zechenturm. (Foto: Christian Evertsbusch / pixelio.de)

Zeugnis einer anderen Zeit: in Wasserlache gespiegelter Zechenturm. (Foto: Christian Evertsbusch / pixelio.de)

Wir wollen Tilkowski werden, Fritz Walter oder dieser neue, dieser Uwe Seeler. Wir spielen selbstvergessen, eingetaucht in eine Welt, die ganz uns gehört und niemand sonst. Und wenn wir im Spiel auch erbitterte Gegner sind, sind doch vor allem eines, nämlich Freunde, teilweise bis heute.

Fußballbilder in Tüten vom Kiosk

Wenn die Glocken der Pauluskirche mit dem schiefen Turm dreimal läuten, schaue ich hinüber zum Ende des Platzes, von dem aus man die Geschäftsstraße unserer Stadt erreichen kann. Die alte Politz hat dort an der Ecke ihr Kiosk. Sprudel können wir dort kaufen, wenn wir völlig verschwitzt sind und vor allem die Tüten mit den Fußballbildern. „Die Politz“, sagt meine Oma, „ist deine Sparkasse.“

Gleich, um kurz nach drei, das weiß ich, wird mein Vater dort auftauchen. Er ist Bergmann und kommt immer gegen drei Uhr von Zeche Heeren mit dem Bus nach Hause. Wenn ich ihn dann sehe, unterbreche ich mein Spiel, laufe hin zu ihm und merke, wie er lächelt, wenn er mich entdeckt. „Na, Sohnemann“, sagt er, wenn ich ihn erreiche und streichelt mir über den Kopf. Immer nur dies, „Na, Sohnemann“, dazu das Streicheln mit der Hand und sein Lächeln. Sonst nichts. Ein paar Schritte gehe ich neben ihm her, fasse ihn an der Hand, dann renne ich zurück zum Fußball, wo meine Freunde, deren Väter auch Bergleute sind, auf mich warten.

Ein tief erschöpfter Mann

Meine Mutter, das weiß ich, wartet schon mit dem Essen auf ihn, Gemüse, Kartoffeln aus dem Garten hinter unserem Haus, wir haben nicht viel Geld für Lebensmittel. Und anschließend, wenn er gegessen hat, raucht er Zigaretten in der Küche, zwei, drei. Immer zu viel. Er sitzt dann weit vorgebeugt auf seinem Stuhl, raucht und stöhnt zwischendurch leise. Ein tief erschöpfter Mann, für den die Arbeit vor Kohle viel zu schwer ist. Kaufmann hatte er gelernt, aber keine Arbeit gefunden, bis er dann dahin gekommen war, wohin alle Väter meiner Freunde im Ruhrgebiet gekommen waren. In den Pütt oder ins Loch, wie meine Mutter immer sagte.

Dieses Bild begleitet mich, mein Vater, wenn er von der Zeche kommt, wenn ich ihn begrüße und er nach Hause geht. Und unser selbstvergessenes Spiel mit meinen Freunden. Eine Kindheit, geprägt von Liebe und Begrenztheit.

„Wer so eine große Zahnlücke hat…“

Manchmal, wenn ich durch unser Haus lief, hielt meine Oma mich fest.
„Mach mal den Mund auf“, sagte sie und schaute auf die Zahnlücke zwischen meinen Schneidezähnen.
„Du kommst noch mal weit rum in der Welt“, sagte sie dann.
„Warum komme ich weit rum, Oma?“
„Wer so eine große Zahnlücke hat, der kommt weit rum“, antwortete sie.

Zwei Bäume aus jener Zeit stehen noch

Was das eine mit dem anderen zu tun hat, habe ich damals nicht verstanden und weiß es bis heute nicht, aber meine Oma hat recht gehabt. Ich bin in vielen Ländern gewesen und habe dort teilweise sogar Vorträge über deutsche Literatur und Lesungen gehalten, in Ländern, die sie sich nicht vorstellen konnte.

Den Platz meiner Kindheit gibt es noch, er sieht ganz anders aus als zu meiner Zeit. Vierstöckige Gebäude, Flachdach, unten Geschäftsräume, darin inzwischen viele Leerstände, darüber Wohnungen. Zwei Bäume stehen noch aus meiner Kindheit, zwei Bäume. Eine Platane, die zum Schulhof unserer Schule gehörte, die direkt neben dem Schützenhof lag, und eine Kastanie, die im Garten des Pfarrhauses, der Schule gegenüber stand. Ich habe ein Gedicht über diese letzten Zeugen meiner Kindheit geschrieben.

In diesem Bild lebt die Liebe meiner Eltern fort, die mir Kraft gab, große Schritte zu gehen und die Enge, die mich umgab, zu überwinden. Doch da ist auch die Trauer, dass sie, meine Mutter und mein Vater, die eine Begrenztheit, die geographische, nur sehr spät und auch das nur ein wenig, überwinden konnten. In dem anderen, in ihrer Liebe, aber waren sie grenzenlos.




Wer fliegt denn da einfach mal so nach Zypern?

Also bitte, reden wir nicht mehr drüber. Über das ärgerliche Spiel gestern Abend. Schon während der BVB-Blamage beim erschröcklichen Giganten Apoel Nikosia (da steckt das reviertypische „Pöhlen“ quasi schon im Vereinsnamen, hoho) schweiften meine Gedanken ab.

Schwarzgelbe Fankurve an der Grenze zur Abstraktion. (ARD-Screenshot vom Pokalfinale in Berlin)

Schwarzgelbe Fankurve an der Grenze zur Abstraktion. (ARD-Screenshot vom Pokalfinale in Berlin)

Als es dann eh nichts mehr zu deuteln gab, habe ich mich ablenkungshalber gefragt: Was sind das wohl eigentlich für Leute – diese sangesfreudigen Fußballfans, die an einem gewöhnlichen Dienstag einfach mal so nach Zypern fliegen und dort ins Stadion strömen? Allgemeines Gemurmel: „Billigflieger“. Trotzdem muss man schon ein paar Mark mitbringen und genügend Muße haben. Sie fahren oder fliegen ja auch nicht nur einmal.

Ja, sie scheinen immerhin Zeit u n d Geld für derartige Exkursionen übrig zu haben, eine wahrhaft beneidenswerte Kombination also. Als man jung war, hatte man deutlich mehr Zeit als Geld, später denkt man vielleicht von Fall zu Fall, es sei umgekehrt. Aber lassen wir das. Es führt zu nichts und füllt keine Kassen.

Bezahlen etwa die Eltern dem Ultra die kontinentalen Ausflüge, die ja theoretisch schon mal bis nach Kasachstan oder Israel führen können? Damit er nicht noch mehr Randale macht. Oder damit er sie halt woanders macht als daheim. Vielleicht ist er ja auch der schon zum Klischee geronnene Sparkassen-Angestellte, der außerhalb seines Instituts schon mal gepflegt die Sau `rauslässt. Oder er macht am Ende überhaupt keine Randale. Das wäre ja ein Ding. Womöglich stimmt ja keine schnellfertige Mutmaßung.

Laut TV-Kommentator sind fürs gestrige Match immerhin rund 1500 Leute mit dem BVB nach Nikosia aufgebrochen. Nicht wenige von ihnen dürften durch Champions League und Europa League etliche Länder „kennen gelernt“ haben. Oder vielleicht eher deren Getränkekarten. Obwohl: Braucht’s für trinkfeste Gesellen eine Getränkekarte? Fragen über Fragen.




Hoch lebe die Nuss!

Pssst, jetzt weiß ich, wie ich demnächst schnell reich und prominent werde. Ich verfasse mal eben einen Ernährungsratgeber, der alle bisherigen Theorien über den Haufen wirft und neue Horizonte aufreißt. Auf diese Weise haben sich doch schon etliche Leute dumm und dämlich „verdient“.

Oh, so nussig... (Foto: BB)

Oh, so nussig… (Foto: BB)

Wir kennen das zur Genüge. Alle paar Monate wird eine weitere Sau durch die Küchen getrieben, natürlich nur redensartlich. Gestern galten Eier mitsamt Cholesterin als verwerflich, heute sind sie angeblich gar nicht mehr so schlimm. Ähnliches widerfuhr dem Salz, von dem zwischenzeitlich ernsthaft abgeraten wurde. Heuer darf man’s offenbar wieder nehmen. Oder habe ich die allerneueste Kehrtwende verpasst?

Kohlenhydrate auf der Achterbahn

Manche Nahrungsmittel haben achterbahnhafte Karrieren und Abstürze sondergleichen hinter sich, sie könnten einem geradezu leid tun. Ernährung mit Kohlenhydraten wird mal verteufelt, mal rehabilitiert oder gleich rundweg empfohlen. Fett wurde generell verworfen, jetzt ist es – um nochmals ein schiefes Sprachbild zu verwenden – „im Aufwind“. Ich verrate Euch was: Die viel zitierten „Experten“ wissen oft auch nicht richtig Bescheid.

Egal. Ich kenne mich da auch nicht so furchtbar gut aus. Zu allermeist esse ich nach Appetit, nach Lust und Laune. Damit fährt man wahrscheinlich nicht schlecht, sofern keine ernstlichen Erkrankungen vorliegen. Amen.

Was in den Supermärkten dümpelt…

Jetzt aber zu meinen Sachbuch-Ambitionen, von denen ich mir hübsche Sümmchen erhoffe. Es kommt sicherlich gut, ein Nahrungsmittel zu verdammen, das bisher unverdächtig zu sein schien. Oder umgekehrt: eines ans Licht zu ziehen, das – einem Mauerblümchen vergleichbar – in den Supermärkten unscheinbar vor sich hin dümpelte. Nein, diese Sprachbilder aber auch!

Aus dem "Studentenfutter" geklaubt... (Foto: BB)

Aus dem „Studentenfutter“ geklaubt… (Foto: BB)

Nehmen wir einfach mal aufs Geratewohl die Nuss. Wollen wir sie auf gut Glück als allein seligmachend preisen oder als quasi-giftig in den Orkus stoßen? Soll das Buch nun „Nie wieder Nüsse!“ oder „Alles heilt die Nuss“ heißen? Oder noch besser: „Nuss dich gesund!“

Ganz nach unserem Belieben

Nun, das steht ganz in unserem Belieben. Besser wär’s wohl, man ginge das Ganze positiv an. Dann kann auch die nussverarbeitende Industrie nicht vor Gericht ziehen (da gäb’s womöglich was auf die Nuss). Und sollten wissenschaftliche Studien existieren, so biegen wir sie zurecht, bis sie uns in den nussophilen Kram passen.

Jetzt haltet Euch fest: Übrigens ist auch die Erdbeere eine Nuss. Das glaubt ihr nicht? Ha! Ihr werdet schon sehen. In Kürze in Euren Buchhandlungen. In diversen Talk-Formaten. Und auf Euren Tellern. Hoch lebe die Nuss! Und das nicht nur zur Weihnachtszeit.

Bin mal eben weg. Neues Sonderkonto einrichten.

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P.S.: Verleger, bitte melden!

P.P.S.: Dieser Beitrag kann Spuren von Nüssen enthalten.




Romantischer Zauberklang und impressionistische Fehlfarben – der russische Pianist Arcadi Volodos zu Gast in Essen

Arcadi Volodos, Meister des Klangs und Virtuose. Foto: Marco Borggreve

Arcadi Volodos sahen und hörten wir zuerst im Jahr 2001. Damals eröffnete der russische Pianist die groß angelegte Reihe „The Next Generation“, die der Dortmunder Verleger und Kunstliebhaber Bodo Harenberg ins Leben gerufen hatte. Es war ein gleichermaßen aufregendes wie denkwürdiges Konzert.

Denn da präsentierte sich ein kraftvoll zupackender Virtuose, ein flinker Fingerakrobat, dessen Raserei am Klavier das Publikum taumeln ließ. Volodos, zu jener Zeit 28 Jahre jung, war schon kein gänzlich Unbekannter mehr, doch sein künstlerischer Reifeprozess sollte erst noch folgen. Ja, der Russe zählte gewiss zu jener Generation, die das 21. Jahrhundert pianistisch prägen würden.

Doch Volodos, den findige PR-Strategen sofort als neuen Horowitz anpriesen, war von Beginn an mehr denn ein kraftstrotzender Tastenlöwe. Sein subtiler Klangsinn bestach mindestens genauso, und sein Dortmunder Konzert bestand ja nicht nur aus Liszt’schem Furor, sondern etwa auch aus der Annäherung an Brahms’ Tiefsinn. Fortan jedenfalls wollte Volodos weg vom Effekt, hin zur reflektierenden Deutung.

Wir erlebten den russischen Pianisten dann oft, nicht zuletzt als Gast des Klavier-Festivals Ruhr, und jetzt wieder in der Essener Philharmonie, in der Reihe „Piano solo“. Er wirkt gelassen, die Musik fließt ihm wie von selbst aus den Fingern, und die vor allem leisen Zauberklänge, die er seinem Instrument entlockt, sind von enormer Sogkraft. Im Saal ist es auffallend still, wenn Volodos im diffusen Dämmerlicht die Melodien modelliert, wenn sich nahezu impressionistische Momente auftun, und das bei Werken von Robert Schumann, Johannes Brahms und Franz Schubert.

So offenkundig also des Solisten Stärke in klangvoller Gestaltungsmacht liegt, so ohrenfällig offenbart sich zugleich seine Schwäche. Volodos kann ein Legato derart verdichten, dass jegliche Trennschärfe verloren geht. In Schumanns „Papillons“ erscheinen diese aparten Charakterstücke als teils martialisch aufgeplusterte Gebilde, exaltiert in ihrer Art, künstlich dramatisiert durch seltsame Tempoverzögerungen. Der kindlich naive Geist, den Schumanns Miniaturen oft prägen, ist vertrieben. Stattdessen spricht hier bereits der ernste, vergrübelte Brahms.

Bei dessen Klavierstücken op. 76 ist Volodos in seinem Element. Der Pianist wühlt sich ins dichte Klanggeflecht dieser Musik hinein, gibt den je vier Capriccios und Intermezzi ihr eigenes dramatisches Gewand, mal extrovertiert, mal ganz intim klingend. Volodos erzählt und reflektiert, hier tatsächlich ohne seinem Hang nachzugeben, sich allzu lang auf Inseln des Klangs zu verlieren. Dann nämlich entstehen jene pointillistisch-impressionistischen Effekte, die im Gefüge der musikalischen Romantik wie Fremdkörper wirken.

Frei davon ist auch Volodos’ Deutung von Schuberts später A-Dur-Sonate nicht. Die oft schlicht gewebten Melodien, ihre vielbeschworenen „himmlischen Längen“ können sich bisweilen nicht in aller Ruhe ausbreiten, wirken klanglich überfrachtet. Nur in zweiten Satz gelingt es dem Interpreten, das stille, kleine Thema als traurige Weise aufklingen zu lassen, im schärfsten Kontrast zur abrupt folgenden, wie improvisiert dahingeworfenen Raserei, kulminierend in hämmernden Schmerzakkorden. Welch’ ein Albtraum!

Am Ende aber, im Rahmen der sechs (!) Zugaben, besinnt sich Arcadi Volodos seiner spieltechnischen Wurzeln. Ernesto Lecuonas „Malagueña“, in des Pianisten Arrangement, sprüht und funkelt, grollt und lodert flammenhell. Zirzensik auf höchstem Niveau – Jubel!

 




Künftiger Ruhrfestspiel-Chef heißt Olaf Kröck

Hier mal ein dürre Nachricht, einstweilen noch ohne allzu viel „Fleisch“, wie man so sagt: Der kommende Intendant der Ruhrfestspiele heißt Olaf Kröck, ist derzeit (Interims)-Intendant des Bochumer Schauspielhauses und wird sein Amt in Recklinghausen am 1. August 2018 antreten.

Wird Intendant der Ruhrfestspiele: Olaf Kröck. (Foto: © Knotan)

Wird Intendant der Ruhrfestspiele: Olaf Kröck. (Foto: © Knotan)

Der 45-jährige Kröck tritt die Nachfolge von Frank Hoffmann (63) an, der den Ruhrfestspielen seit 2004 nur selten ästhetische Offenbarungen, jedoch hervorragende Auslastungszahlen beschert hat.

Mit Kröck, der ein Studium der Angewandten Kulturwissenschaften und ästhetischen Praxis an der Universität Hildesheim absolviert hat, entscheidet man sich nicht für einen etablierten großen Namen der Theaterzunft, sondern eher für ein Versprechen auf die Zukunft. Die Zusammenarbeit dürfte wunschgemäß langfristig angelegt sein.

Der in Viersen geborene Olaf Kröck wird seinen jetzigen Bochumer Posten, den er gerade erst eingenommen hat, im Sommer 2018 für Johan Simons, den bisherigen Chef der RuhrTriennale, räumen.  Simons` Triennale-Nachfolge wiederum wird aus einer „Doppelspitze“ mit Stefanie Carp und Christoph Marthaler bestehen.

Die Karten in der Theaterlandschaft des Reviers werden also gründlich neu gemischt.

Der neue Ruhrfestspiel-Mann Kröck war bisher vorwiegend als Dramaturg tätig, und zwar in Hildesheim, Luzern, am Schauspiel Essen und (vor seiner jetzigen Kurz-Intendanz) am Schauspielhaus in Bochum, wo er wesentliche Inszenierungen der letzten Jahre mitgeprägt hat.

Die Entscheidung für den neuen Ruhrfestspielchef wurde im Aufsichtsrat des traditionsreichen, 1947 gegründeten Festivals einstimmig getroffen. Gesellschafter der Ruhrfestspiele sind der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) und die Stadt Recklinghausen.

Am 27. Oktober soll Olaf Kröck in Recklinghausen offiziell vorgestellt werden. Mal schauen und hören, welche konzeptionellen Vorstellungen er dann womöglich schon im Gepäck hat.

 




Erhellendes Experiment: Ulrich Peters verschneidet in Münster Verdis „Don Carlo“ mit Schnittkes „Requiem“

Einsamer König (Stephan Klemm) im Raum des Todes. Foto: Oliver Berg

Einsamer König (Stephan Klemm) im Raum des Todes. Foto: Oliver Berg

Giuseppe Verdi war kein Freund der Kirche. Mit beißendem Hohn kritisierte er klerikale Doppelmoral, mit bitterer Schärfe zerlegte er die politische Rolle des Vatikans in Italien. Aber er hatte Priester unter seinen engsten Freunden, respektierte die Frömmigkeit seiner Frau Giuseppina Strepponi und äußerte sich nach allem, was wir wissen, nie gegen das christliche Glaubensbekenntnis.

So liegt es nicht fern, in der Figur des Großinquisitors in seiner Oper „Don Carlo“ eine szenische Verkörperung von Verdis Antiklerikalismus zu sehen. Kaum ein anderer Komponist hat eine kirchliche Figur mit derart verstörend fahlen Klängen eingeführt; in kaum einer anderen Oper wird in wenigen Sätzen die unmenschliche Ideologie eines in sich erstarrten Systems so präzis umrissen. „Perché un uom‘?“ – Wozu ein Mensch?“ schleudert der uralte Priester-Greis dem König entgegen, fordert den Kopf des Rodrigo Marchese di Posa, in dem der zutiefst einsame Philipp endlich eine lautere Seele gefunden zu haben glaubt.

Für den Großinquisitor verzichtet Regisseur Ulrich Peters in seiner Neuinszenierung in Münster auf klerikale Konnotationen: Er ist kein Bischof und kein Mönch, sondern ein stolzer spanischer Grande in einem historisch anmutenden steifen Justaucorps. Nur eine Art Handrosenkranz mit Kreuz deutet das religiöse Moment an.

Den Zusammenhang zwischen Religion und Politik verlegt Peters mit einer wagemutigen musikalischen Lösung aus dem direkten Handlungsstrang des Stückes auf eine übergeordnete Meta-Ebene: Verdis düster-beeindruckender Rahmen – der Mönch, der die Vergeblichkeit menschlichen Strebens im Angesicht von Tod und Ewigkeit besingt – ist gestrichen. Dafür beginnen und beschließen Peters und sein Dirigent Golo Berg die Oper mit dem „Requiem aeternam“ aus Alfred Schnittkes „Requiem“ (1977), ursprünglich gedacht als Bühnenmusik für Schillers „Don Carlos“.

Das Theater in Münster, ein ästhetisch gelungener Bau aus den Fünfziger Jahren. Archivfoto: Häußner

Das Theater in Münster, ein ästhetisch gelungener Bau aus den Fünfziger Jahren. Archivfoto: Häußner

„Don Carlo. Ein Requiem“ ist folglich der Titel der ambitionierten Münsteraner Aufführung, für die Peters und sein Team am Ende kräftige Missfallensbekundungen einstecken müssen. Bei allen Vorbehalten gegen eine musikalische Lösung, die Verdis meisterhafte, formal genau ausgewogene Musik immer wieder empfindlich stört: Das Konzept hat etwas für sich. Wo der Kontext der katholischen Kirche in den Verläufen auf der Bühne einer auf die Psyche Philipps konzentrierten Lösung weichen muss, wird der christliche Glaube auf der Meta-Ebene als Horizont neu eingesetzt.

Schon die Glocken und die düsteren Stimmen von Schnittkes „Requiem“ machen zur Eröffnung deutlich, in welchem Koordinatensystem der spanische König seine göttlich begründete Macht auf Erden ausübt. Es ist der Horizont des Todes. Doch der relativiert die politische Macht und setzt ihren unmenschlichen Folgen eine Vision von Hoffnung entgegen – mag man sie für bloß projiziert oder im christlichen Glauben abgesichert halten.

Am Ende, wenn alle tot sind, die Philipp etwas bedeuteten, und er die Leichen mit Herbstblättern bedeckt hat, kehren die Worte des „Requiem“ wieder. Ein berührender, mehrdeutiger Schluss: Einsam schreitet der König aus dem Raum des Geschehens, lässt den statuenhaft erstarrten Großinquisitor zurück. Der dominiert nun den Raum des Todes. Die jenseitige Ruhe, die der Text in seiner Bitte an Gott benennt, ist den befreiten Seelen verheißen. Ob Philipp das „ewige Licht“ erreichen wird, bleibt offen.

Schmerzhafte Schnitte in die Musik Verdis

Andere Teile des Schnittke-Requiems schneiden manchmal schmerzhaft in die Szenen der Oper ein, verstärken aber ihre Aussage: das „Kyrie eleison“, die Bitte um Erbarmen, als Carlo im Kloster vom König und seiner früheren, geliebten Braut Elisabeth überrascht wird – eine Szene, die sich auf diese Weise zu einer halbrealen Imagination wandelt. Das „Sanctus“, das den König im Kopf quält, als er seine Macht an der hilflosen Gräfin Aremberg demonstriert hat. Das „Dies irae“ nach der bedrückenden Szene des Autodafés – das an dieser Stelle als viel zweideutigeres Signal wirkt als Verdis gestrichene Stimme vom Himmel. Und das Glaubensbekenntnis, das „Credo in unum Deum“ zum Aufstand des Volkes – Bestätigung der Macht des Großinquisitors, der durch sein drohendes Auftreten allein den Aufruhr ohnmächtig zusammenfallen lässt, oder trotziger Kontrast zur entfalteten, aber morschen Dominanz der irdischen Großen? Die Signale sind stark, ihre Deutung lässt Spielräume zu, die in diesem Fall dazu neigt, den Zorn Gottes denjenigen anzukündigen, die glauben, seine Sache mit Mord und Macht zu vertreten.

Stumpfe Farben, bedrückende Stimmung: Die Bühne von Rifail Ajdarpasic für "Don Carlo. Ein Requiem" in Münster. Foto: Oliver Berg

Stumpfe Farben, bedrückende Stimmung: Die Bühne von Rifail Ajdarpasic für „Don Carlo. Ein Requiem“ in Münster. Foto: Oliver Berg

Auf der Bühne von Rifail Ajdarpasic lässt Ulrich Peters den idealistischen Feuerkopf Posa als einzigen in der lebensvollen Farbe Rot auftreten. Alle anderen hüllt Ariane Isabell Unfried in Kostüme zwischen strahlendem Weiß (Elisabetta) und düsteren Grau-, Schwarz und Silbertönen. Der Raum ist ein bleiern-zwielichtiger Kasten. Nur von oben oder von außen dringt Licht ein, das hin und wieder grelle Schatten schneidet, nie aber Wärme spendet.

Der Tod regiert diese Welt: Graue Baumstämme streben nach oben, doch sie sind in kaminartigen Schächten gefangen. Ihre Blätter sind längst verwelkt; sie bedecken einen Todeshügel, schweben hin und wieder verloren von oben herab. Ein Sarg thront im Zentrum des ersten Bildes, ein Schwert steckt wie ein Grabkreuz im Boden. Wenn der König seine brüchige politische Macht entfaltet, steht ein Ledersessel an der Stelle des Leichengehäuses. Ein Bild, das die bedrückende Atmosphäre des Stücks lastend depressiv einfängt.

Peters lässt keinen Zweifel, wer in diesem Verhängnis das Opfer ist: Philipp II. Gedankenverloren stützt sich Stephan Klemm auf den Sarg. Als Don Carlo (Garrie Davislim) sich in seiner ersten Arie in den glücklichen Moment der ersten Begegnung mit Elisabetta in Fontainebleau versetzt, schleicht der König wie ein materialisiertes Omen um seinen Sohn.

Zu Beginn des dritten Aktes, vor seiner zentralen Szene „Ella giammai m’amó“, ist der König nicht allein auf der Bühne – und dennoch unendlich einsam, wenn er die stummen, starren Gestalten seines Lebens umschreitet: Elisabeth, deren geplante Verbindung mit Carlo er aus politischen Gründen verhindert hat. Eboli, die schon im Lied vom Schleier im ersten Akt als seine Mätresse eingeführt wird und deren Leben daran zerbricht. Carlo, den er unglücklich gemacht hat, weil er seiner Liebe zu Elisabetta aus politischer Räson jede Chance verbaut hat. Posa, dessen hochfliegende politische Pläne er zu spät erkennt.

Ganz in Weiß und auch als Opfer der politischen Ranküne selbstbewusst: Kristi-Anna Isene als Elisabetta. Foto: Oliver Berg

Ganz in Weiß und auch als Opfer der politischen Ranküne selbstbewusst: Kristi-Anna Isene als Elisabetta. Foto: Oliver Berg

Stephan Klemm versucht, der tragischen Gestalt mit leisen Tönen, mit fragilen, ungestützt gesungenen Klängen beizukommen – musikalischer Ausdruck einer verlorenen Seele. Klemm setzt seinen wohlgeformten Bass ein, als glaube er nicht an Seelen-Expression durch Belcanto. Dieser Filippo ist nur scheinbar ein machtvoller Akteur, in Wirklichkeit ein existenziell verunsichertes Opfer einer diffusen, allgegenwärtigen Macht, die sich ein einziges Mal in der Gestalt des Großinquisitors konkretisiert. Allerdings fehlen seinen Schlüsselszenen die letzte psychologische Konsequenz: Regisseur Peters hat es offenbar nicht geschafft, dem Darsteller über den panischen Griff beider Hände an die Schläfen oder das steife Anlegen der Arme hinaus subtilere Reaktionen seelischer Pein zu vermitteln.

Leider gelingt es ihm auch nicht, aus dem steif agierenden Garrie Davislim (Carlo) und der anfangs markant und selbstbewusst auftretenden Kristi-Anna Isene (Elisabetta) prägnant gezeichnete Charaktere zu formen. Szenen wie die Konfrontation Elisabeths mit dem König im dritten oder dem Abschied von Carlo im vierten Akt kommen nicht auf den Punkt und wirken eher routiniert arrangiert als szenisch durchdrungen. Auch das Gespräch des Königs mit Posa entbehrt des Spannungsbogens – immerhin versucht Filippo Bettoschi, dem flammenden Idealismus, aber auch der mutigen Ehrlichkeit Posas ein Gesicht zu geben.

Monika Walerowicz (Eboli) und Stephan Klemm (König Philipp). Foto: Oliver Berg

Monika Walerowicz (Eboli) und Stephan Klemm (König Philipp). Foto: Oliver Berg

Für die packendsten Momente der Inszenierung sorgt Monika Walerowicz als Eboli:  Sie ist nicht nur eine vorzügliche Sängerin, die mit Stimmfarben gestalten kann, sondern lebt als Darstellerin in ihrer Rolle: Ein Blick, eine Geste schafft Beziehung und baut Spannung auf. Ihr Bekenntnis, Elisabetta verraten und dem König zu Willen gewesen zu sein, gefolgt von der grandios ausgeleuchteten Arie „O don fatale“ ist einer der Höhepunkte des Abends. Der König spürt, dass er beide Frauen verloren hat, legt seinen Kopf an die Schulter der sich demütigenden Eboli, bevor er geschlagen den Raum verlässt: In diesem Moment hat man Mitleid mit dem Monarchen und seiner gefangenen Seele.

Keine vokalen Muskelspiele

Der neue Münsteraner Generalmusikdirektor Golo Berg befreit Verdis Musik gründlich von dröhnender Vordergründigkeit und dem lautstarken Stimmprotz, der sich im Gefolge des Verismo zum Teil bis heute hält. Vor allem Garrie Davislim als Don Carlo kann entspannt und mit vielen Mezzoforte-Schattierungen gestalten, missbraucht etwa das Freundschaftsduett mit Posa im ersten Akt nicht für vokales Muskelspiel. Auch Kristi-Anna Isene überzeugt als Elisabetta ungeachtet einiger schriller Spitzentöne mit einem leuchtend abgerundeten Zentrum und lyrischer Noblesse.

Filippo Bettoschi kontrolliert als Posa meist erfolgreich die Tendenz zu einem rauen Vibrato, wie es in der neueren italienischen Schule leider oft zu erleben ist. Probleme beim Aussingen eines gelösten, klangvollen Legato kann er nicht ganz vermeiden. Christoph Stegemann formt seine Phrasen und den polierten Klang seines Basses edel aus, doch die düstere Autorität des Inquisitors stellt sich nicht ein. Das mag auch an der Auffassung von Golo Berg liegen, der die sich steigernde Dramatik der Szene nicht einfordert.

Dass Berg einen zwiespältigen Eindruck hinterlässt, liegt vor allem an den Eingriffen, die er in Verdis Musik erlaubt. Schon vor gut zehn Jahren hat er als GMD in Dessau rabiate Streichungen in „Don Carlo“ mitgetragen, weil Regisseur Johannes Felsenstein die fixe Idee umsetzen wollte, Verdis Oper so weit wie möglich an Schillers Dramentext anzunähern. Jetzt lässt er streichen, um Schnittkes Requiem-Teile in Verdis Musik einzupassen.

Es mutet seltsam an, zu lesen, wie er im Programmheft jedes Wort, jeden dynamischen Hinweis und jede Artikulationsanweisung Verdis für verbindlich erklärt, aber keine Hemmungen hat, an Verdis Szenenkomplexen zu schnippeln. Das tut weh – aber das Experiment in Münster deswegen für gescheitert zu erklären, wäre nicht angemessen. Dazu zeigt Peters‘ Konzept zu überzeugend, welche zerstörerische Wirkung eine – zumal sich religiös begründende – Macht entfaltet, aber auch, welches machtkritische Potenzial ein ernst genommener christlicher Glaube einzubringen hat.

Weitere Vorstellungen: 12./15./18./31.10. — 5./11./17.11. — 12./22./25.12.2017; 05.01. und 02.02.2018. Info und Karten: www.theater-muenster.com




Am Abgrund: Robert Wilsons „Der Sandmann“ nach E.T.A. Hoffmann – zwischen lauter Baukränen in Düsseldorf

Es ist dieser Tage nicht leicht, das Düsseldorfer Schauspielhaus zu erreichen, so umstellt ist es von Baukränen und Zäunen. Fast hat man Angst, es stürze in die riesige Baugrube hinein, die an seiner Frontseite klafft und vorher der Theatervorplatz war.

Langwierige Großbaustelle am Düsseldorfer Schauspielhaus. (Foto: es)

Wie kleine Zahnstocher stehen die runden Betonsäulen der Außenfassade am Abgrund und sehen nackt und verletzlich aus. Dennoch strömen Scharen von Menschen an der Baustelle vorbei dem Hintereingang zu und betreten das Haus von der Hofgartenseite her durch die Terrassentür. Denn für eine einzige Inszenierung öffnet das Schauspielhaus derzeit provisorisch seine Pforten: „Der Sandmann“ von Robert Wilson.

Keine Lust mehr auf Ausweichquartiere

Es ist ebenfalls nicht leicht, für diese Koproduktion mit den Ruhrfestspielen  Karten zu bekommen, was bestimmt auch mit der Sehnsucht der Düsseldorfer nach ihrem Schauspielhaus zu tun hat, die schon eine ganze Weile mit einem Ausweichquartier in der Nähe des Hauptbahnhofs vorlieb nehmen müssen.

Auch ich habe es vermisst, merke ich, als ich mit meinem Getränk im weitläufigen Foyer auf rosafarbenem Marmorboden stehe und auf den Gong warte: Das ist doch mal eine der darstellenden Kunst angemessene Architektur im Charme der späten 60er Jahre. Irgendwie habe ich keine Lust mehr auf diese ganzen Ausweichquartiere, nur weil die Politiker allüberall die Renovierung verpennt oder verschoben haben, um ihren Nachfolgern im Amt irgendwann die Kosten aufzubürden.

Erst der Spendenaufruf, dann der Spielplan

Blöderweise ist „irgendwann“ jetzt und in die meisten Häuser (Köln, Düsseldorf, Dortmund etc.) kommt man gar nicht mehr rein, über die Renovierungskosten wird gestritten. Inzwischen haben sich Düsseldorfer Bürgerinnen und Bürger bereits zusammengeschlossen, um Spenden für ihr Theater zu sammeln. Ruft man die Website des Theaters auf, ploppt einem als erstes der Spendenaufruf entgegen, bevor man noch auf den Spielplan schauen kann, was man überhaupt sehen möchte…Dabei ist eine Theaterrenovierung doch eigentlich eine öffentliche Aufgabe, oder?

„Der Sandmann“.
Regie, Bühne, Licht: Robert Wilson
(Foto: Lucie Jausch/Düsseldorfer Schauspielhaus/Ruhrfestspiele)

Altmeister Robert Wilsons Sandmann jedenfalls hat es durch die Hintertür auf die Bühne geschafft und mit ihm ein herzzerreißendes, poetisches, unheimliches, kitschiges und skurriles Theatermusical – Kreuzung zwischen Zauberer von Oz, Ziggy Stardust und Gespenstern der schwarzen Romantik à la E.T.A. Hoffmann.

Eine Art kindlicher Verzückung

Die obligatorischen Wilson-Stühle schweben bei Neonlicht durch die Luft, doch die Story wird durch dramaturgisch klug ausgewählte Schlüsselsätze und grandiose Darsteller so hintergründig und zugleich leicht erzählt, dass man in eine Art kindliche Verzückung gerät, begleitet von schauriger Angstlust, wenn der Sandmann den schlafunwilligen Kindern die Augen stehlen will.

Für die Wilson-Inszenierung jetzt nur ausnahmsweise geöffnet: das angestammte Schauspielhaus. (Foto: es)

Das vollbesetzte Haus tobt beim Schlussapplaus und es ist keineswegs nur Abopublikum 60 plus, sondern jede Menge junges Volk gekommen, womit die für Lokalpolitiker so wichtige Zielgruppenfrage bei der Hochkultur auch beantwortet wäre.

Doch statt einer Hausbesetzung wie in der Berliner Volksbühne (das wäre mal eine Idee!!!) trollen wir uns alle brav wieder durch die Hintertür und gehen durch den Garten in die Nacht. Vorsicht, nicht in die Baugrube fallen, sonst gibt es noch Verzögerungen und das Ganze wird nie fertig…

Wegen der großen Nachfrage gibt es am 27. und 28.10 zwei Zusatztermine für „Der Sandman“, weitere Infos: www.dhaus.de




A ledert gegen B, der nagelt heftig zurück – die unerträgliche Dauer-Aggression im Boulevard-Journalismus

Man mag sie nicht mehr lesen, diese schnellfertig vorgestanzte, vermeintlich coole und trendige „Berichterstattung“ gewisser Nachrichtenportale. Doch was heißt hier „Nachrichten“? Wissenswerte Neuigkeiten erfährt man da nur sehr bedingt.

Konfrontation als Normalzustand. (Foto: BB)

Konfrontation als Normalzustand. (Foto aus dem wahren Leben: BB)

Nehmen wir nur mal diese allzeit auf Steigerung angelegte Inszenierung von Konflikten oder bloßen Meinungsverschiedenheiten, ob nun im Politikbetrieb, unter Chichi-Promis oder im Fußball. Da schreit’s einem dann schon die Überschrift entgegen – hier ein frei erfundenes Beispiel, natürlich ganz ohne Bezug aufs wirkliche Leben, oder sollte die Zeile wirklich irgendwo so ähnlich gelaufen sein?

„Rummenigge geht auf Lewandowski los“

Wahlweise auch umgekehrt. Klingt fast nach Schlägerei, ist aber oft nur eine relativ harmlose Äußerung. Wer immer seinen Standpunkt einigermaßen deutlich darlegt (also „klare Kante“ zeigt), muss mit derlei Überschriften rechnen. Ein Widerpart zur Konfrontation findet sich immer.

Nur in Anführungszeichen

Nach ähnlichem Übertreibungs-Muster heißt es dann gern „Völler tobt über…“, wahlweise auch „wütet gegen…“, „poltert gegen…“ oder – um mal nicht gar so persönlich zu werden – „X ledert gegen Y“. Dieses „Ledern“ gehört offenbar unumstößlich zum Sprachgebrauch des gängigen Boulevard-Journalismus, wobei das Wort Journalismus eigentlich ebenfalls zwischen Anführungszeichen gehören würde. Statt „ledern“ heißt es gelegentlich auch, noch eine Spur heftiger, „X nagelt gegen Y“. Heiliger Strohsack!

Kennzeichnend für dieses Deppendeutsch ist nicht nur schiere Dämlichkeit, sondern zuvörderst ein dauerhafter, so gut wie nie nachlassender Grundton der stets sprungbereiten Aggression. Adrenalin, Testosteron & Co., wie ein branchenüblicher Dreiklang lautet. Denn merke: Bei nicht weiter fortgeführten Aufzählungen heißt es am Ende stets „& Co.“

Weggeballert und abgeschossen

Immer attackiert jemand oder greift an, wobei diese Formulierungen noch die harmlosesten sind. Immerzu gibt es Zoff, ständig wird jemand verhöhnt und mit Häme übergossen. Und wenn’s um Sieg und Niederlage geht, so ist der Unterlegene allemal ein Loser, er wird – zumal im Sport – weggeballert, abgeschossen, zerlegt, pulverisiert, vernichtet. Ab einem Fußball-Ergebnis von 3:0 oder 4:0 redet der „Spocht-Repochter“ zudem gern von einer „Klatsche“.

Anschließend, so die Sprachregelungen, watscht jemand jemanden ab, dann ist Feuer unterm Dach und es brennt der Baum. Auch werden immerzu „Messer gewetzt“. All das, der ganze elende „Aggro“-Tonfall wirkt sich – schreiend oder schleichend – nicht nur auf den Pausenhöfen der Republik aus. Wen wundert’s noch, dass Fußballer neuerdings vereinzelt auch schon mal obszöne Masturbations-Bewegungen auf dem Platz vollführen. Und ins Politsprech ziehen derweil Kraftausdrücke wie „in die Fresse“ ein.

Guck mal, was deine Tussi tut…

Auf den „bunten“ Klatschseiten hat es sich unterdessen längst eingebürgert, nicht von Trennung zu sprechen, sondern (wer hat den Stuss nur erfunden?) von „Liebes-Aus“. Selbiges wird von Boulevardpresse und Yellow-Blättchen mitunter selbst herbei gefaselt, indem sie z. B. ein Promi-Männchen hämisch auffordern: „Guck mal, XY…, was deine YZ gerade tut!“ Natürlich rekelt sich die halbnackte Tussi mit einem anderen Typen am Pool, was auch sonst? So sind se halt. Die Mario Barths der Nation lachen sich ins Fäustchen.

Und wenn sich ein C-Promi oder D-Sternchen blamiert, heißt es immer mal wieder gern: „Ganz Deutschland lacht über…“ Ein paar Tage später darf sich das Objekt des Spotts äußern und sich dabei am liebsten noch tiefer `reinreiten. Dann lautet die Zeile vorzugsweise so: „Jetzt spricht…“

„Alles, was du jetzt wissen musst“

Betrüblich sind nicht nur die üblichen Verdächtigen des Gewerbes, sondern auf seine provinzielle Weise auch ein regionales Portal im Ruhrgebiet, das die User bedenkenlos duzt und sie mit jedem News-Geschrei halbschräg von der Seite her anmeiert. Sie machen einen auf soziales Netzwerk bzw. auf gute Freunde und blasen jedes Skandälchen auf mit Lebenshilfe à la „Alles, was du jetzt wissen musst“ oder gleich „Was du jetzt tun musst“. Sie sagen es einem. Besser wär’s, man pfiffe drauf.

 




Abwarten statt Arztbesuch: Autorenduo empfiehlt mehr Gelassenheit bei körperlichen Beschwerden

Da möchte der Patient so schnell wie möglich einen Arzt aufsuchen, doch er muss eine Wartezeit von mehreren Wochen in Kauf nehmen. Vorher ist kein Termin mehr frei. Frust macht sich breit, vielleicht auch Angst um die Gesundheit. Doch nach Lektüre des Buches „Fragen Sie weder Arzt noch Apotheker“ kommt man als Leser wohl unweigerlich zu dem Schluss, dass es vielleicht sogar besser ist, auf einen Arztbesuch ganz zu verzichten.

Drei mögliche Szenarien: 1. Die Beschwerden verschwinden schneller als gedacht. Dann wäre der Termin reine Zeitverschwendung. 2. Es erfolgt eine medizinische Behandlung, aber der Gesundheitszustand verbessert sich nicht. 3. Die Therapie, die der Arzt empfiehlt, schadet dem Patienten mehr als sie nützt, denn beispielsweise verträgt sich das verschriebene Medikament nicht mit einer anderen Arznei.

Auf der Basis umfangreicher Recherchen

Wer nun meint, solche Szenarien seien doch eher die Ausnahme als die Regel, den belehren die Medizinjournalisten Dr. med. Ragnhild Schweitzer und Jan Schweitzer eines Besseren, wobei das Autorenduo keineswegs mit erhobenem Zeigefinger daherkommt. Ihr Anliegen besteht schlichtweg darin, die Auswüchse des Gesundheitssystems zu hinterfragen, wobei sie ganz klar hervorheben, dass es „Leiden gibt, die unbedingt in die Hände eines Arztes gehören, der sie mit schulmedizinischen Methoden behandelt“.

Aber beide Ehepartner haben selbst in Krankenhäusern gearbeitet, beide haben umfangreiche Recherchen zu Untersuchungsmethoden, Krankheitsbildern sowie Behandlungserfolgen (und Misserfolgen) betrieben, um für eine „gewisse Gelassenheit und Zurückhaltung“ bei vielerlei Symptomen zu plädieren. Eine große Verantwortung sehen sie auf Seiten der Ärzte, die bei Kniebeschwerden nicht gleich eine Spiegelung veranlassen, bei Rückenbeschwerden auf sofortiges Röntgen verzichten und auch bei einem Leistenbruch nicht zwingend operieren sollten, um nur einige Beispiele zu nennen.

Oft mehr Schaden als Nutzen

Denn: Die Gefahr, dass das Knie beschädigt wird, ist unter Umständen nicht weniger groß als die Röntgenstrahlenbelastung, der der Patient trotz aller heutigen Sicherheiten ausgesetzt ist. Und auch beim Leistenbruch kommt man gegebenenfalls auch um eine OP herum, die dem Körper enorme Strapazen abverlangt. Mehr Vorsicht sollte auch im Umgang mit Antibiotika herrschen, so die Autoren. Bei Erkältungskrankheiten, die durch Viren ausgelöst werden, helfen sie nämlich nicht wirklich.

Nun könnte man meinen, dass akute Beschwerden und ernsthafte Erkrankungen vermeidbar sind, wenn sich der Patient frühzeitig Check-ups und Früherkennungen unterzieht. Aber auch da sind die Aussagen der Autoren ernüchternd: Der Patient kann von den Möglichkeiten Gebrauch machen, er muss es aber nicht, lautet die Quintessenz. Umfangreiche Auswertungen von Statistiken haben gezeigt, dass sich die Sterblichkeitsrate derer, die regelmäßig zur Kontrolle gehen, nicht von der jener Menschen unterscheidet, die auf solche Untersuchungen verzichten. Der einzige Unterschied: Die Check-ups fördern meist bestimmte Auffälligkeiten zu Tage, z.B. erhöhte Cholesterinwerte, die dann auch behandelt werden. Ob aber ein Zusammenhang mit der späteren Todesursache besteht, lässt sich statistisch kaum nachweisen.

Wenn die Untersuchung Probleme erst erzeugt

Ausführlich, detailliert und auch sehr persönlich geschrieben, setzen sich die Autoren mit dem Thema der Früherkennung von Krebs auseinander. Dabei wird ihr Verständnis für den Wunsch der Menschen deutlich, über eine Tod bringende Gefahr in ihrem Körper alles wissen zu wollen. Doch die Zahlen, die in dem Buch beispielsweise zum Mammographie-Screening genannt werden, lassen durchaus Zweifel aufkommen, ob die Reihenuntersuchung zum Aufspüren von Brustkrebs wirklich als Erfolg zu werten ist.

Nicht anders sieht es beim Prostatakrebs aus, der mit der PSA-Wert-Bestimmung frühzeitig erkannt werden soll. Auch hier äußern die Journalisten Bedenken, ob diese Methode wirklich den Männern hilft. Richtig kritisch wird es bei Früherkennungsuntersuchungen allerdings, wenn eine Überdiagnose eintritt. Es wird zwar ein Krebs festgestellt, er hätte aber wohl nie Probleme gemacht, wenn man nicht nach ihm gesucht hätte. Dazu liefern die Verfasser ein besonders krasses Beispiel aus Südkorea: Frauen und Männer haben sich, weil es empfohlen wurde und preislich günstig war, in großen Scharen auf Schilddrüsenkrebs untersuchen lassen.

Erklärungen ohne medizinisches Kauderwelsch

Es kam, wie es kommen musste: Bei vielen Patienten wurde ein Tumor entdeckt, die Schilddrüse wurde ganz oder teilweise entfernt. Doch die Probleme fingen jetzt erst an: Die Menschen mussten nun ständig ihren Hormonhaushalt kontrollieren lassen und bei vielen waren durch die OP die Stimmbänder dauerhaft beschädigt.

Eingehend befassen sich die Journalisten mit den „Individuellen Gesundheitsleistungen“, kurz IGeL, und geben dem Leser Hilfen an die Hand, Nützliches von Überflüssigem zu unterscheiden. Überhaupt ist das Buch an vielen Stellen ein (flott geschriebener) Ratgeber. Die Leserinnen und Leser werden nicht mit medizinischem Kauderwelsch konfrontiert, sondern die Autoren erklären allgemeinverständlich, dass beispielsweise die Funktionsweisen des menschlichen Organismus nicht – wie es manche Ärzte versuchen – mit einem Auto vergleichbar sind. Der Körper reagiert oft anders als man denkt. Übrigens: Zur Ehrenrettung der Ärzte sei gesagt, dass nachweislich ein mit Bedacht geführtes Gespräch schon die Hälfte des Behandlungserfolgs ausmacht.

Dr. med. Ragnhild Schweitzer, Jan Schweitzer: „Fragen Sie weder Arzt noch Apotheker – Warum Abwarten oft die beste Medizin ist“. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2017, 272 Seiten, 14,99 Euro.