Von Dortmund-Dorstfeld bis Donald Trump: der Geierabend 2017/2018

Auf Zeche Zollern feierte der 26. „Geierabend“ Premiere – Auftakt einer Session, in deren Verlauf weit über 10.000 Besucherinnen und Besucher aus dem ganzen Ruhrgebiet nach Dortmund-Bövinghausen kommen werden, um das Jahr kabarettistisch Revue passieren zu lassen – von Donald Trump bis Dortmund-Dorstfeld.

Alle Fotos in diesem Beitrag: © StandOut Tania Reinicke und Ekkehart Bussenius. www.standout.de

Alle Fotos in diesem Beitrag: © StandOut Tania Reinicke und Ekkehart Bussenius. www.standout.de

Im „Amt für entschwundene Kunst“ verwaltet die schwangere Vertretung der Schwangerschaftsvertretung die Lücken im Bestand, als Paul auftaucht. Paul hat viel Gerümpel im Keller und bringt das ahnungslose Fräulein vom Amt dazu, sein Waschbecken für eine verschwundene Installationen von „Villeroy Boch dem Älteren“ und seine alten Winterreifen für das Werk des Fluxus-Künstlers Michelin zu halten – und so die für ihn kostenlose Abholung zu veranlassen.

Der „Dortmunder Kunstschwund“ ist damit zweiten Mal Thema im Ruhrpott-Karneval „Geierabend“, diesmal in einer Nummer, die die Realität urkomisch-lakonisch auf den Punkt bringt: Das Schlimmste am vermeintlichen Skandal sind Menschen, die ihn für eigene Zwecke instrumentalisieren.

Die Kunstschwund-Nummer ist typisch für den 26. Geierabend, der am Donnerstagabend auf Zeche Zollern Premiere feierte: Randvoll mit aktuellen Anspielungen und bissigen Kommentaren aufs Zeitgeschehen, und dabei weder platt noch wirklich böse. Das war in den vergangenen Jahren schon mal anders, als Themen wie Flucht oder Rechtsextremismus verarbeitet wurden und das Lachen auch mal im Hals steckenblieb. Diesmal: intelligente Unterhaltung für politisch interessierte Ruhris – gemischt, natürlich, mit ausreichend Klamauk aus Schnöttentrop oder Kaninchenstall.

Martin F. Risse und Sandra Schmitz. Foto: StandOut

Der „Steiger“ wird hoffentlich bleiben

„Bye Bye Bottrop“ ist das titelgebende Motto diesmal – im Jahr 2018 endet mit der Schließung der Zeche Prosper Haniel in Bottrop die Steinkohleförderung im Ruhrgebiet und damit eine Ära. Es ist nur einer von mehreren Abschieden beim Geierabend: Das kreative Multitalent Günter Rückert gibt in dieser Session seinen Ausstand als Regisseur, und auch Ensemblemitglied Hans Martin Eickmann ist zum letzten Mal dabei. Dass dagegen der „Steiger“ dem Geierabend erhalten bleibt, darauf darf man trotz seiner traditionell anderslautenden Ankündigung wetten, es zumindest sehr hoffen: Neben der großartigen fünfköpfigen Band macht vor allem die blitzgescheite und pointierte Moderation von Martin Kaysh als „Steiger“ den Geierabend unverwechselbar.

Dafür steht zum Beispiel die Verleihung des „Pannekopp-Ordens“, die zum Ende der Session demjenigen winkt, der sich aus Sicht des Publikums am meisten um die 28,5 kg rostigen Stahlschrotts verdient gemacht hat. Nominiert sind in diesem Jahr NRW-Ministerpräsident Armin Laschet für seine Pläne, die Olympischen Spiele ins Ruhrgebiet zu holen („Wo das Stadion von Westfalia Herne nicht mal Rasen hat!“) , sowie das Literaturfestival lit.cologne, das in diesem Jahr mit dem Ableger „lit.RUHR“ die „Alphabetisierung vom Ruhrgebiet“ versucht hat – in der allzu offenkundigen Annahme, die Gegend zwischen Duisburg und Dortmund sei, literarisch gesehen, Diaspora.

„Der Steiger“ Martin Kaysh. Foto: StandOut

„Gebiet der Gebieter“

Überhaupt: Wenn andere versuchen, ein Selbstverständnis des Ruhrgebiets zu formulieren, schaut der Geierabend besonders genau hin. So gibt es Spott für die neue Standortmarketing-Kampagne der Metropole Ruhr, die mit dem Slogan „Stadt der Städte“ wirbt – Gegenvorschläge der Geier: „Gebiet der Gebieter“ – oder, noch besser, „Metropole der Polen“?

Es bleibt nicht bei der Kritik – der Geierabend liefert konstruktive Vorschläge zur Zukunft des Reviers. Was aus dem Ruhrgebiet werden soll, wenn die letzte Kohle gefördert ist? Zum Beispiel ein unterirdisches Endlager für all den Hass, der online gepostet, getwittert und getippt wird. In der Nummer „Prosper Haniel reloaded“ brodelt und dampft ein Leck geschlagener Hass-Castor, übervoll mit Kommentaren von „Wutbürgern, Reichsbürgern und ganz normalen Arschlöchern“. „Unter Adolf wär das nicht passiert“, entfleucht es, und die Grubenwehr steht hilflos daneben – bis die Heilige Barbara kommt. Auch diese Nummer hat einen ernsten Hintergrund: In Essen beschäftigt Facebook hunderte Mitarbeiter damit, Hass-Kommentare zu erkennen und zu löschen.

Die mächtigsten Tänzer der Welt beim „Pas de Doof“: Kim Jong-Un (Murat Kayi) und Trump (Martin F. Risse). Foto: StandOut

Dirty Dancing mit Kim Jong-Un

Die Spannungen zwischen Nordkorea und den USA bringt der Geierabend in einem herrlichen „Pas-de-Doof“ auf die Bühne: Trump (Martin F. Risse) und Kim Jong-un (Murat Kayi) praktizieren „Dirty Dancing“ und liefern sich einen tänzerischen Schlagaustausch, der die Absurdität der gegenseitigen Provokationen wortlos umso deutlicher macht. Auf der Bühne endet die Eskalationsspirale in der berühmten Hebefigur – allerdings mit Hilfe einer kleinen Leiter.

Ein depressiver Bundesadler (Sandra Schmitz) macht SPD-Witze („Was liegt am Boden und kann trotzdem noch fallen? Die SPD auf dem Weg zur Großen Koalition“) und wünscht sich, Angela Merkel würde mit der AfD regieren – bislang habe sie schließlich alle Koalitionspartner in Grund und Boden regiert.

Angela Merkel (Franziska Mense-Moritz) beim ausgelassenen Singen mit dem depressiven Bundesadler (Sandra Schmitz). Foto. StandOut

Respekt verdient Franziska Mense-Moritz, die nach ihrem Wadenbeinbruch humpelnd auftritt – ein absoluter Bühnen-Profi, die es schafft, ihre Krücke überzeugend in die Nummern einzubauen, sei es als eine der „Zwei vonne Südtribüne“, die diesmal gegen die Ausweitung der Spieltage und den „Kommarz“ im Fußball ansaufen, sei es als genervte Brautjungfer, als „Sonne“ in Tommy Finkes anspruchsvollem Klimasong oder als heiserer „Wemser“. Der entwickelt gemeinsam mit seinem Bruder „Missgeburt“ (Sandra Schulz) die Idee, die nach Hannibal-Räumung wohnungslos gewordene Mutter zu verprügeln, damit sie im Frauenhaus unterkommen könne. Was aus dem Hannibal werden könnte, auch dazu gibt es eine Idee: Dort könnten die Dorstfelder Nazis unterkommen. Die zündeln doch so gerne…

Geierabend noch bis 13. Februar im LWL Industriemuseum Zeche Zollern, Eintritt 37 Euro (ermäßigt 20.90 Euro)




Wie sich Menschen verfehlen können: Tina Lanik inszeniert Tschaikowskys „Eugen Onegin“ in Dortmund

Einsame Menschen: Tatjana (Emily Newton), Fürst Gremin (Luke Stoker) und Onegin (Simon Mechlinkski) im dritten Akt der Oper "Eugen Onegin" in Dortmund.

Einsame Menschen: Tatjana (Emily Newton), Fürst Gremin (Luke Stoker) und Onegin (Simon Mechlinkski) im dritten Akt der Oper „Eugen Onegin“ in Dortmund. (Foto: Björn Hickmann/Stage Picture)

Sehr viel Glück hatte die Oper Dortmund mit den Regiearbeiten der letzten Jahre nicht. Trotz mancher hoch gehandelter Namen war einiges Mittelmaß dabei: Repertoire-Bestseller, die unter mangelnden Einfällen, lustlosem Handwerk oder überinszenierter Originalität ächzten. Und dann kam Tina Lanik, im Musiktheater eine Neue, und bot mit Verdis eigentlich längst ins Nirwana inszenierter „La Traviata“ einen präzisen, bewegenden Opernabend, nicht in jedem Detail durchgestaltet, aber deutlich versierter als ihr erster Versuch im Musiktheater, Vincenzo Bellinis auch für erfahrene Regisseure heikle „La Sonnambula“ in Frankfurt.

In ihrer neuen  Dortmunder Inszenierung, Peter Tschaikowskys „Eugen Onegin“, wiederholt sie, was in Verdis Meisterwerk zum Erfolg geführt hat. Lanik schaut eingehend auf Konstellationen. Sie errichtet keinen Ideen-Überbau, sondern schafft Beziehungsgeflechte, zeigt, wie Menschen aneinander vorbeigehen, wie sie aneinander scheitern. Tschaikowskys Entwicklungs- und Beziehungstragödie ist dafür das geeignete Sujet.

Wer ist diese Regisseurin, die sich ihre Stoffe nicht nur genau anschaut (das sollten eigentlich alle tun), sondern auch immer wieder behutsam stilisierte Szenen und Bilder findet, die in einem Moment so klug vorbereitet, aber doch wie eine Eingebung überraschend zeigt, worum es geht?

Tina Lanik. Foto: Thomas Dashuber

Regisseurin Tina Lanik. (Foto: Thomas Dashuber)

In Paderborn geboren und in Stuttgart aufgewachsen, kam Tina Lanik eher zufällig als 22-jährige Studentin zu einer Regiehospitanz für Tschechows „Iwanow“ bei Elmar Goerden, ging dann als Assistentin zu Luc Bondy nach Lausanne und machte erstmals überregional auf sich aufmerksam, als sie 2001 beim Steirischen Herbst in Graz die Uraufführung von „Tintentod“ von Josef Winkler inszenierte.

Schauspiel-Inszenierungen in Bochum

Ein Jahr später arbeitete sie schon am Bayerischen Staatsschauspiel, wurde von der Zeitschrift „Theater heute“ zur Nachwuchsregisseurin des Jahres gewählt und hat seither viel in München, aber auch an anderen Häusern inszeniert – so 2005/2006 in der Intendanz Goerdens Sophokles‘ „Antigone“ und Lessings „Emilia Galotti“ in Bochum.

In Tschaikowskys Adaption des Versromans von Alexander Puschkin sieht Lanik eine Abfolge von drei Tragödien: In jedem Akt „wird eine Figur so lange abgebaut, bis nur noch ein Haufen Elend von ihr übrig ist“, schreibt sie im Programmheft. Aber das ist nicht alles. Fast unmerklich zunächst, im dritten Akt aber durch das Bühnenbild von Jens Kilian glasklar deutlich, macht Lanik aus „Eugen Onegin“ auch eine Studie über die Wandlungen der Zeit.

Im ersten Akt baut ihr Kilian einen Kubus aus Brettern, entfernte Erinnerung an russische Holzbauten, in erster Linie aber ein geschlossener Raum, in dessen Zentrum ein Teenager mit Brille und Jane-Austen-Kleidchen auf einem Stapel Bücher kauert. Tatjana, die Leseratte, existiert in ihrer eigenen Imagination, kommt kaum aus der hintersten Ecke dieser Kastenwelt heraus. Aber ein langer Blick des fremden Besuchers – es ist der junge Beau Onegin – bringt unaufhaltsam eine Lawine der Gefühle ins Rutschen.

Johanna Hlawica hat alle in wunderschöne Kostüme des 19. Jahrhunderts gesteckt – nur die Larina von Almerija Delic trägt einen modernen Hosenanzug. Die Frau, die das Gut „schmeißt“ und sich mit Filipjewna (Judith Christ) schon mal eine Zigarre gönnt, greift aus in die Moderne: selbständig, selbstbewusst, illusionslos. Ihre Roman-Jahre, so erklärt sie der aufgewühlten Tatjana, habe sie längst hinter sich.

Weltentwürfe, die nicht zusammenpassen

Die großen, heißen, eher auf sich selbst als auf einen anderen Menschen bezogenen Gefühle! Bei Tatjana führen sie schon nach einer durchschriebenen Nacht – die Briefe hängen wie Wäschestücke an der Leine – in die Katastrophe, als ihr Onegin mit der gönnerhaft wirkenden Überlegenheit des rational gesteuerten Lebemanns Bescheid gibt. Weltentwürfe, die nicht zusammenpassen.

Bei Olga und Lenski dauert es länger: Er, ein versehrter, nicht mehr ganz junger Mann, überschüttet sie mit Blättern voll poetischer Ergüsse. Auch er entwindet sich schnöder Realität, zelebriert seine mit Schönheit und Schwärmerei aufgeladene Innenwelt. Auf Olga reagiert er, wenn sie dazu passt. Die Lebensphilosophie des unbekümmerten „Kindes“ nimmt er nicht wahr.

So kann er im zweiten Akt weder mit den spielerischen Provokationen seiner Braut – sympathisch locker singend: Ileana Mateescu – noch mit dem aus Laune und Überdruss gezeugten Spiel Onegins umgehen. Lanik nimmt diese Katastrophe in riesigen Schattenbildern während der von Thomas Paul sensibel gestalteten Arie vorweg; die innere Sprachlosigkeit zwischen den Kontrahenten, das zeigt die Regisseurin in genau abgezirkelten Bewegungen und Gesten, führt ins Ausweglose.

Der dritte Akt vollendet das Zeit-Konstrukt der Inszenierung: Denn jetzt ist Onegin derjenige, der zurückgeblieben ist. In seinen Biedermeierkleidern streift er um einen Glaskubus, der unbezweifelbar ins 20. Jahrhundert gehört. Die Gesellschaft, die sich zur Polonaise unbewegt gibt – nur der Pavillon dreht sich –, trägt moderne Couture. Tatjana hat sich zur blonden Dame mit rotem Kleid im übertriebenen Chic osteuropäischer Oligarchen gewandelt, bewegt sich souverän auf dem Parkett der Gesellschaft, die sich um eine Luxuskarosse – aus später sowjetischer Produktion? – schart. Eine Welt, in der die verzweifelt leidenschaftlichen Liebesausbrüche Onegins anachronistisch wirken.

Empfindsame Schattierungen in der Musik

Angesagt ist Coolness: Luke Stoker singt Gremins eigentlich großherzige Arie kühl und unbewegt, Tatjana posiert dazu auf dem Kühler des Wagens. Hier wird keine Liebe gezeigt, sondern die gesellschaftlich adäquate Demonstration des potenten Mannes und seines Weibchens. In dieses Ambiente passt auch Emily Newtons oft hart getönte, silbersprühende Stimme besser als zu den Gefühlsgluten des Teenagers im ersten Akt. Jetzt zeigt – ganz im Sinn der Anlage der Figur – auch Simon Mechlinski, dass seine Stimme Farben kennt; im ersten Akt hat er Onegin noch eindimensional, entschieden voluminös und ohne emotionales Kolorit gesungen.

Das Dortmunder Orchester zeigt sich den empfindsamen Schattierungen in Tschaikowskys Musik gewachsen, folgt vor allem dem lyrischen Ausschwingen, das Philipp Armbruster am Pult in weit konzipierten Phrasierungen fordert, mit fein gestalteter Sensibilität. Armbruster nimmt den Begriff des „Lyrischen“ offenbar als leitendes Kriterium für seine musikalische Interpretation: Brennende Leidenschaften, etwa in der großen Szene der Tatjana, lässt er nur gebremst auflodern. Das Couplet des Monsieur Triquet im zweiten Akt singt Fritz Steinbacher mit einiger Finesse, aber das Tempo ist so verzogen, dass der ironische Anklang an Auber oder Offenbach verloren geht. Komisch, sentimental oder beides? Die Figur findet kein überzeugendes Profil.

Mit Laniks „Eugen Onegin“ hat die Oper Dortmund eine ansprechende Produktion in ihrem Repertoire. Sie dringt nicht so schmerzhaft tief in die Seelenschichten der Protagonisten vor wie Dietrich Hilsdorfs phänomenale Inszenierung in Köln 2013. Aber sie beobachtet klug, wie sich Menschen verfehlen können und wie furchtbar scharf sie aneinander vorbei in ihre einsamen Tragödien fliegen.

Tina Lanik sollte wiederkommen – Dortmund kann eine solche Handschrift brauchen. Die Dortmunder müssen nur noch merken, was sie an diesem „Eugen Onegin“ haben: Die Vorstellung war nur mager besucht.

Die nächsten Vorstellungen sind am 30. Dezember 2017, am 5., 21. und 28. Januar 2018.
Info: https://www.theaterdo.de/detail/event/eugen-onegin/




Parabel über die Narrheit der Macht: „Hamlet“ als Opern-Rarität von Ambroise Thomas in Krefeld

Einsam in sich selbst gefangen: Rafael Bruck als Hamlet in der gleichnamigen Oper von Ambroise Thomas in Krefeld. Foto: Matthias Stutte

Einsam in sich selbst gefangen: Rafael Bruck als Hamlet in der gleichnamigen Oper von Ambroise Thomas in Krefeld. Foto: Matthias Stutte

Der Thron schwebt über der Szene. Unter ihm kauern Lemuren, weisen mit ausgestreckten Armen auf den Sessel, kriechen auf einen undefinierbaren Gegenstand im Zwielicht zu. Sobald der erste zuschnappt, erkennen wir: Es ist eine Krone. Wie mit einer Waffe hält der schwarze Mensch die Menge mit dem Reif in Schach. Fanfaren. Ein Königsmantel. Eine Frau, die mit hartem Griff in Besitz genommen wird. Der Thron gleitet herab, der Hof von Dänemark feiert sein neues Königspaar.

Wenig später kriecht ein dünner, junger Mann mit wirren Haaren auf einen anderen Gegenstand zu, begleitet von einer schwermütigen, fragmentierten Cello-Kantilene: eine Aschenurne. Ein Narr hat das Symbol des Todes, der Vanitas gebracht. Ein Narr, der immer wieder durch die Szene Hermann Feuchters huschen, geistern, schreiten wird. Andrew Nolen verkörpert eindrucksvoll diese – bei Thomas so nicht vorgesehene – Figur der Weisheit, aber auch der Nichtigkeit aller irdischen Gewissheiten. Seine Zweifel, sein Witz löschen alles, was Endgültigkeit für sich beansprucht. Auch die Macht.

Und dass es in Ambroise Thomas‘ selten gespielter, vor fast 150 Jahren in Paris uraufgeführter Oper um Macht geht, daran lässt Helen Malkowsky in Krefeld keinen Zweifel. Die Regisseurin ist in der Region nicht unbekannt. Sie hat in Essen an der Folkwang Universität der Künste mit Brittens „Turn of the Screw“, in Krefeld-Mönchengladbach mit „Stiffelio“ und „Mazeppa“, in Bielefeld mit „Peter Grimes“ ausgezeichnete Arbeiten vorgelegt. Szenisch virtuos deutet sie die düstere Geschichte über Königsmord, unschuldige Opfer, Rache, Angst und Wahnsinn als eine Parabel über die Narrheit und Vergeblichkeit der Macht.

Surreales Arrangement von Chiffren der Macht: Andrew Nolen als Geist und Rafael Bruck als Hamlet. Foto: Matthias Stutte

Surreales Arrangement von Chiffren der Macht: Andrew Nolen als Geist und Rafael Bruck als Hamlet. Foto: Matthias Stutte

Der Thron des Anfangs, reduziert auf einen noblen Stuhl, setzt in grellem Licht den Schlusspunkt des Dramas. Die Symbole der Macht, Thron und Königsmantel, in ein surreales Bild drapiert, spucken den Geist von Hamlets Vater aus. Er fordert den Sohn zur Rache an seinem Bruder Claudius auf, der ihn ermordet, Herrschaft und Gattin usurpiert hat. Ein jenseitiger Bote? Eine Stimme aus dem Inneren des bleichen, hohläugigen jungen Mannes, dessen psychische Verletzungen wir nur erahnen und in seiner Musik erlauschen können?

Hamlet jedenfalls „macht“ sich sein Bild, worauf in Hermann Feuchters shakespearianisch klug reduzierter, spielfreundlicher Bühne ein goldener Rahmen im Hintergrund hinweist. In ihm materialisiert sich nicht nur der Geist, aus ihm quellen auch die Gestalten, die den „Mord des Gonzaga“ in der Schlüsselszene im zweiten Akt spielen sollen – eine Pantomime, die König Claudius durch Konfrontation als Mörder seines Vorgängers entlarven soll.

Später vervielfältigen sich die Bilderrahmen und kippen in die Schräge – Zeichen des fortschreitenden inneren Abrutschens Hamlets. Sterben, Schlafen … oder Träumen, so singt der Bariton Rafael Bruck in der Titelrolle in seinem großen Monolog. Dass sich aus einem schräg gestellten Portal eine Gestalt löst wie ein Schatten Hamlets, ist nur folgerichtig: Es ist der König. Schwer trägt er an seinem Thron, schleppt ihn hinter sich her – ein gebrochener Mann. Matthias Wippich singt von der Qual, die Seele dem ewigen Tod preisgegeben zu haben. Das Englischhorn, das Hamlets innere Melancholie begleitet, lässt in einem kurzen Moment die Elegie des drei Jahre vor Thomas‘ Oper in München uraufgeführten „Tristan“ erahnen.

Sophie Witte als Ophèlie in Krefeld. Foto: Matthias Stutte

Sophie Witte als Ophèlie in Krefeld. Foto: Matthias Stutte

Mit besonderer szenischer Sorgfalt widmet sich Helen Malkowsky den Frauen des Stücks: Ophélie ist keine Shakespeare-Figur, sondern ganz femme fragile des 19. Jahrhunderts. Mit ihrer kindlichen Gestalt, den nackten Füßen, den gelösten blonden Haaren und den im Licht undefinierbaren Pastellfarben ihres Hemdchens erinnert sie schon beim ersten Erscheinen an die „Willis“, jene Wasserwesen, bei denen sie im Tode aufgenommen werden will. Im herrschaftlichen Kleid, das ihr Susanne Hubrich im Rot der Schauspielertruppe geschneidert hat, unternimmt sie einen letzten Versuch, den liebesunfähigen Hamlet umzustimmen. Im vierten Akt, bevor sie ins Wasser gleitend verlischt, lässt sie das Gewand in die Requisite hinaufziehen. Sophie Witte als beste Stimme des Krefelder Opernabends zeigt alles andere als einen fragilen Sopran. Sie stützt sicher, agiert mit dem klanglichen Kern, schattiert von anrührender Leichtigkeit bis erfülltem dramatischem Impetus und trägt die Phrasierung unverbrüchlich auf dem Atem.

In psychologischen Facetten durchdacht gestaltet Malkowsky auch die Konfrontation zwischen Hamlet und seiner Mutter Gertrud. Im intensiven Spiel und den Farben seiner kühlen, in den exorbitanten Höhen der Partie überaus geforderten Stimme zeigt Rafael Bruck, wie ihn der Zwiespalt innerlich zerreißt: Mutter und Mörderin, Anziehung und Ablehnung, Respekt und Rache – die Pole der Begriffe, die Hamlet sich von dieser Frau macht, sind extrem. Bruck kann auch in seiner Körpersprache mit schauspielerischer Bravour ausdrücken, was in der Seele Hamlets vorgeht.

Janet Bartolova gibt der Gertrude beinahe die Züge einer Klytämnestra, wenn sie, hochfahrend und zerknirscht, angstvoll und liebesbettelnd allmählich erkennen muss, welch ungeheure Andeutungen ihrem Sohn über die Lippen kommen. In diesen Momenten passt der zum Schrillen neigende Ton des dunkel gefärbten Soprans, an anderen Stellen muss Janet Bartolova kämpfen, die Stimme weit und den Ton flüssig zu halten.

Ambroise Thomas auf einer historischen Fotografie von Antoine-Samuel Adam-Salomon, entstanden zwischen 1876 und 1884.

Mit den Niederrheinischen Symphonikern setzt GMD Mihkel Kütson weniger auf die elegante Seite der Musik von Ambroise Thomas, sondern schärft die expressiven Kanten. Das bedeutet auch die Sänger gefährdende Wucht aus dem Graben, ist aber ein Gewinn: Zupackend musiziert, ist die Klangsprache aus schönfärbendem Lyrismus befreit. Bei Kütson haben etwa die Einsätze der Hörner Kontur, die vortrefflichen Holzbläser (Klarinette) ziehen ihre melodischen Linien unverzärtelt durch, das sfumato der Stellen, die an Gounod erinnern, ist spröde gelichtet.

Momente wie die gruslige Spannung der Ouvertüre, der fahle Pomp der Staatsszenerie oder die orchestralen Verzweiflungsschreie Hamlets gelingen ausdrucksstark und zeigen, dass Thomas‘ Musik nicht in die Untiefen lyrischer Belanglosigkeit schwappen muss. Kütson trägt auch den von Michael Preiser einstudierten Chor und die Sänger – unter ihnen Haik Dèinyan als Mord-Mitwisser Polonius und Carlos Moreno Pelizari als herausgeputzten Laertes in goldener Brünne.

Das Theater Krefeld-Mönchengladbach hat stets eine glückliche Hand bei seinen Ausgrabungen und Trouvaillen (am 12. Januar etwa läuft zum letzten Mal Gian-Carlo Menottis „Der Konsul“) und macht mit diesem „Hamlet“ der letzten, psychologisch klugen und bildstarken Inszenierung von Andrea Schwalbach 2015 in Bielefeld kraftvoll Konkurrenz.

Vorstellungen in Krefeld am 29. Dezember, 9., 14., 28. Januar und 7. Februar 2018. In der nächsten Spielzeit ab 24. November 2018 in Mönchengladbach.
Info: http://theater-kr-mg.de/spielplan/inszenierung/hamlet/




Frohe Weihnachten und ein gelingendes neues Jahr wünschen Euch die Revierpassagen – auf Wiederlesen 2018 !

Drei BIlder aus der Reihe "Mäuse-Weihnacht" von Stella (8). (© Stella Berke)

Drei Bilder aus der Reihe „Mäuse-Weihnacht“ von Stella (8). (© Stella Marie Berke)

Mit geradezu finsterer Entschlossenheit trägt die Maus den Tannenbaum bzw. den kleinen Tannenzweig eilends ins Mauseloch.

Gilt es etwa, eine allseits geregelte deutsche Weihnacht im ernsthaften Sinne der Mäuse-Leitkultur zu verbringen? Ach, Quatsch! Wahrscheinlich liegt es einfach nur am üblichen Weihnachtsstress, der eben alle Kreatur erfasst hat.

Folget dem Käsestern

Bei den Mäusen, so lernen wir weiter, bestehen die Weihnachtssterne weder aus Stroh noch aus Goldflitter, sondern naturgemäß aus Käse, der ebenfalls schön goldgelb leuchtet. Und die Kugeln am Tannenzweig sind halt grellrote Tomaten, weil die in der Familienküche zuerst zu finden waren. Ist doch klar, nicht wahr?

Die aufgeregten Mäusekinder schließlich beruhigt man am besten mit einer (altersgemäß eigenwillig geschriebenen) „Tehlepon-Spieluhr“. Wie die Kleinen da mit pumpernden Herzchen in ihren Handschuh-Betten liegen! Auch Mäusekinder warten wohl ungeduldig aufs Christkind. Oder muss es Christmaus heißen?

Warum denn nicht?

Dies soll bei weitem kein Ersatz für die Predigt bei einer Christmette werden. Aber lasset mich trotzdem noch einen frommen Wunsch äußern:

Möge die Generation der Zeichnerin dereinst eine bessere Welt gestalten, als es uns Heutigen und unseren Vorfahren gelungen ist.

Habe ich da eben bei mir selbst einen Anklang von „Glaube, Liebe, Hoffnung“ vernommen? Ja, warum denn eigentlich nicht?

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P.S.: Wollt ihr die Bilder größer seh’n, so müsst auf diese Seit‘ ihr geh’n:

https://www.revierpassagen.de/wp-admin/post.php?post=39647&action=edit




Das nahezu Unmögliche wagen mit Girl Crazy und Lulu – Barbara Hannigan dirigiert in Dortmund und singt dazu

Barbara Hannigan dirigiert stets ohne Taktstock. Foto: Pascal Amos Rest

Sie dirigiert ohne Taktstock, ihre Arme reichen weit in den Raum hinein, in ständiger, oft rotierender Bewegung, als drehe sie an einem großen, imaginären Klangrad. Ein wenig hemdsärmelig wirkt das bisweilen, doch überwiegt der Eindruck des steten Fließens im Fortgang der Musik, gespeist aus tänzerischer Körpersprache.

Wenn Barbara Hannigan, exzellente Sopranistin und seit 2010 auch Dirigentin, sich der tönenden Emotionalität hingibt, wird ihre Zeichengebung entsprechend ausladender. Gezielte Einsätze für bestimmte Instrumentengruppen müssen dann der Wirkmacht des Ganzen weichen. Der Sinn für Details ist gleichwohl ausgeprägt, wie auch Hannigan bei stark rhythmisierten Passagen verbindlicher führt, mit kleinteiligerer Gestik.

Im Konzerthaus Dortmund hat nun die kanadische Künstlerin mit der Wunderstimme fürs moderne Fach, mit Sinn fürs Wagnis, ohne klassische Dirigierausbildung für sich das Pult zu erobern, das große Staunen entfacht. Weil Barbara Hannigan den Takt vorgibt und gleichzeitig singt, und dies mit einer kessen Selbstverständlichkeit, die an Chuzpe grenzt. Und weil sie, im Falle von George Gershwins „Girl Crazy“-Suite, reichlich Showtalent beweist, um das Publikum von den Stühlen zu holen. Wobei dringend hinzugefügt werden muss, dass das niederländische Orchester namens Ludwig, ein Klangkörper von gehöriger Qualität, daran beherzt mitwirkt.

„Ludwig”, erst 2012 gegründet, hat in seinem Bestreben, mit außergewöhnlichen Programmen, ja ausgefeilten Konzepten den konzertanten Routinebetrieb aufzubrechen, in Hannigan eine risikofreudige Mitstreiterin gefunden. Und so erklingt in Dortmund zunächst „Syrinx“ für Flöte solo von Claude Debussy, Arnold Schönbergs „Verklärte Nacht“ in der Streichorchesterfassung sowie die „Lulu“-Suite Alban Bergs, ehe Gershwins vertraute Songs aufblitzen. Freilich: Alle Werke blicken auf Frauengestalten und deren Geschichten in verschiedenster Couleur, wobei es nicht um Nacherzählung, sondern um die Darstellung emotionaler Befindlichkeiten geht. Und am Ende wissen wir, „Girl Crazy“ ist eines von Hannigans markanten Markenzeichen. Ja, ein wenig verrückt wirkt dieser Abend.

Dabei beginnt alles sehr sanft, geschmeidig, wohltuend ruhig. Ingrid Geerlings gestaltet wunderschön, mit langem Atem und in feiner Differenzierung Debussys Flötenstück um die Nymphe Syrinx, die vor den Nachstellungen Pans flieht, sich in ein Schilfrohr verwandeln lässt, das Pan wiederum zur Flöte formt. Die Musik fließt frei, gewinnt an Dringlichkeit, um sich allmählich zu verlieren. Ganz dunkel ist der Saal, um die mythische Wirkung des Klangs zu verstärken. Magisch, bei aufkeimender Helligkeit, gelingt sodann der nahtlose Übergang zu Schönbergs „Verklärter Nacht“.

Singen und dirigieren zugleich: Barbara Hannigan gibt alles. Foto: Pascal Amos Rest

Auch hier sanfter Beginn, mit einer absteigenden Figur, die indes ziemlich finster wirkt. Abrupte dynamische Wechsel, zunehmendes Tempo, bisweilen aggressiv flirrende Tremoli und harsche Klänge geben dem Stück enorme Dramatik. Dann plötzlich lichtet sich die Szenerie, feine Silberfäden ertönen, eine zunehmend (ungebremste) emphatische Stimmung gewinnt die Oberhand.

Schönberg komponierte pure Emotion, noch weit entfernt von seinen 12-Ton-Konstrukten, im Sinne des Dichters Richard Dehmel. Dessen Versvorlage schildert die Beichte einer Frau, die ihrem Geliebten gesteht, von einem Fremden schwanger zu sein. Ihre Angst schwindet indes, als der Geliebte versichert, das Kind wie sein eigenes aufziehen zu wollen. Das Orchester wiederum kann diesen Schwebezustand zwischen Bangen und Hoffen stark umsetzen, wenn auch mit kleinen rhythmischen Schwächen. „Ludwig” schwelgt in satten und fahlen Streicherfarben, der letzte Zauber der Verklärung aber bleibt uns das Ensemble schuldig.

Umso wuchtiger, von elementarer Kraft, tritt es uns, erweitert um Bläser, Harfe und Schlagwerk, mit Bergs „Lulu“-Suite entgegen. Das fünfteilige Extrakt aus der gleichnamigen Oper atmet sowohl hymnische, dekadente Sinnlichkeit als auch die Düsternis des katastrophischen Finales (Lulu wird von Jack the Ripper erstochen). Inmitten das Lied der Lulu, von Barbara Hannigan mit elastischer, höhensicherer Stimme gesungen.

Doch sogleich wird evident, dass singen und dirigieren eine nahezu unmögliche Kombination ist. Die Bewegungen der Frau am Pult wirken unschlüssig in ihrer Mischung aus Orchesterleitung und Rollencharakterisierung. Mit zumindest einer gravierenden Folge: „Ludwig” ist zu laut, die dynamische Balance stimmt nicht. Das gilt auch für die Gershwins-Songs, obwohl Hannigan sich inzwischen mit Mikroport verstärkt hat. Das Ensemble ist einfach zu pompös besetzt. Bergs Suite kommt im übrigen etwas pauschal daher, manche motivische Facette bleibt unterbelichtet, die Eruptionen überwältigen nicht, sind vielmehr demonstrativ wuchtig.

Aber letzthin läuft sowieso alles auf die Gershwin-Show hinaus, mit dem finalen Hit „I got rhythm“. Dann stilisiert sich die singende Dirigentin zur triumphierenden Hollywood-Ikone, die Hand zum Himmel gestreckt. Fixe Rhythmik, Lautstärke und Pose – das hat noch immer gereicht, das Publikum aus der Reserve zu locken.

Ungeachtet dessen ist Barbara Hannigan eine nicht unbedeutende Symbolfigur für die stärker als zuvor ins Bewusstsein rückende Tatsache, dass viele Frauen entschlossen und mit Erfolg Kurs nehmen auf das Pult vor dem Orchester. In Wuppertal ist Julia Jones Chefin, Joana Mallwitz wird Generalmusikdirektorin am Staatstheater Nürnberg, Mirga Grazinyté-Tyla hat jüngst im Konzerthaus Dortmund mit dem City of Birmingham Symphony Orchestra eine außergewöhnliche „Pastorale“ dirigiert. Um nur eine klitzekleine Auswahl zu nennen.




Musik aus den Nachkriegsjahren: Sir Simon Rattle und das London Symphony Orchestra im Konzerthaus Dortmund

Sir Simon Rattle ist seit der Saison 2017/18 Music Director des London Symphonic Orchestra (Foto: Pascal Amos Rest)

Tiefer Zweifel und innere Heimatlosigkeit klingen aus mancher Musik, die kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs entstand. Richard Strauss, verstrickt mit dem nationalsozialistischen Regime, komponierte seine „Metamorphosen“ 1945 in der Schweiz. Seine Heimatstadt München, sein geliebtes Wien, sein verehrtes Dresden lagen da bereits in Schutt und Asche.

Im Sommer 1947 las Leonard Bernstein ein Gedicht von Wystan Hugh Auden, das seiner 2. Sinfonie Inhalt und Titel gab: „The Age of Anxiety“, das Zeitalter der Angst, nahm Gestalt an.

Im Konzerthaus Dortmund spielt das London Symphony Orchestra unter seinem neuen Chefdirigenten Sir Simon Rattle zudem Auszüge aus Richard Wagners Oper „Tristan und Isolde“. Brennende, aber unerlöste Sehnsucht, umrahmt vom grüblerischen Pessimismus der beiden Nachkriegswerke: So rundet sich ein intelligent durchdachtes Programm, das der inflationären Flut weihnachtlicher Barock-Konzerte einen wuchtigen Akzent entgegen setzt.

Wehmut ohne jede Süße

Im Stehen spielen die Geiger und Bratscher der Londoner Symphoniker die Strauss-Metamorphosen. Sir Simon dirigiert inmitten der 23 Solo-Streicher, ohne Podest und ohne Taktstock, formt die Musik mit bloßen Händen. Mit den ersten, weltabgewandten Takten der Celli beginnt die Musik zu strömen, transparent und fragil bis zur Brüchigkeit. Uns tönt eine morbide Textur entgegen, eine Wehmut ohne jede Süße, denn die verweigern Simon Rattle und seine Musiker mit bitterer Konsequenz. Aus ist es mit dem Arabella-Schmelz, vorbei jede Rosenkavaliers-Süße. Das alles hat diese Musik weit hinter sich gelassen.

Sir Simon Rattle bei seinem Auftritt im Konzerthaus Dortmund (Foto: Pascal Amos Rest)

Dann leuchtet der Tristan-Akkord auf, schwebt rätselhaft und unerlöst im Raum, jede Bindung an die Tonalität abweisend. Das Orchester, jetzt in großer Besetzung, erfüllt Wagners mystische Nachtmusik mit dunklem, sattem Streicherklang, den die Holzbläser zuweilen durch ein silbernes Leuchten krönen.

Nicht alle Musiker scheinen sofort mitzukommen, als Simon Rattle dieses Drängen und Schmachten mit furios angezogenem Tempo zum nachgerade manischen Höhepunkt treibt. Aber wen kümmert das angesichts dieser schier endlosen Brandung, die schließlich in eine harfenumrauschte Verklärungsmusik mündet, in den Liebestod der Isolde.

Glückssuche in Krisenzeiten

Indes hört die Menschheit auch in Krisenzeiten nicht auf, nach ein wenig Glück und Glaubensgewissheit zu suchen. Davon erzählt Leonard Bernstein in seiner 2. Sinfonie, die sich an diesem Abend als unterschätztes, viel zu selten gespieltes Meisterwerk entpuppt.

Krystian Zimerman spielte im Konzerthaus Dortmund den Klavierpart in Leonard Bernsteins 2. Sinfonie mit dem Titel „The Age of Anxiety“ (Foto: Felix Broede/DG)

Punktgenau und intensiv zeichnet das London Symphony Orchestra ein Psychogramm von vier Personen, die sich während des Krieges in einer New Yorker Bar kennen lernen und versuchen, den miserablen Zeiten zu trotzen. Mäuschenstill wird es im Saal, wenn die Musik in die Abgründe der Seele steigt, wenn wenige Töne genügen für einen großen Trauergesang. Aber es gibt auch kraftvolle Ausbrüche mit Pauken und Blech und Tamtam, eine faszinierende Palette von Klangfarben, die von den Musikern virtuos bedient wird.

Krystian Zimerman, der an diesem Abend den Klavierpart übernimmt, will erkennbar nicht als Solist glänzen. Der polnische Pianist, der das Werk bereits 1986 unter der Leitung von Leonard Bernstein spielte, hat die Partitur ohne Zweifel vollkommen verinnerlicht. Bestechend die tiefe Wahrhaftigkeit seines Ausdrucks, Ehrfurcht gebietend die Grandezza, mit der er Akkorde aufrauschen lässt, hinreißend die fingerfertige Nonchalance, mit dem er durch das jazzige Finale tänzelt. Zimerman, der Purist, der Perfektionist, der Klangfarbenzauberer, sucht den Dialog mit dem Orchester, stellt sich ganz in den Dienst der Sache. Mit einer Zugabe lächelnd an Leonard Bernstein erinnernd, verneigt er sich als Großer vor einem Künstler, der unvergessen bleiben wird.

(Der Text ist zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen).

Informationen zum Programm des Konzerthauses Dortmund unter https://www.konzerthaus-dortmund.de/de/programm/konzertkalender/




Prägende Gestalt der Nachkriegs-Jahrzehnte: Vor 100 Jahren wurde der Schriftsteller Heinrich Böll geboren

 „Freiheit wird nie geschenkt, immer nur gewonnen“ (Heinrich Böll)

Heinrich Böll 1983 bei einer Pressekonferenz in Heerlen/Niederlande. (Foto: Marcel Antonisse / Anefo - Nationaal Archief, NL - Wikimedia Commons) Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/

Heinrich Böll 1983 bei einer Pressekonferenz in Heerlen/Niederlande. (Foto: Marcel Antonisse / Anefo – Nationaal Archief, NL – Wikimedia Commons) Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/

Seine Erzählungen und Romane prägten die Literatur der jungen Bundesrepublik, sein politisches Engagement ließ ihn zum Feindbild und Hoffnungsträger werden. Am 21. Dezember 1917 kam in Köln einer der bedeutendsten Schriftsteller deutscher Sprache zur Welt: Heinrich Böll.

Bölls 100. Geburtstag wurde in diesem Herbst mit Lesungen, Ausstellungen, Tagungen und Neuausgaben seiner Werke begangen. Beim Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienen unter dem Titel „Man möchte manchmal wimmern wie ein Kind“ Bölls bisher unbekannte Kriegstagebücher aus den Jahren 1943 bis 1945. Knapp und stellenweise geradezu lyrisch notierte Böll darin, was ihn in den letzten Kriegsjahren quälte und am Leben hielt. Stichwortartig hielt er hier fest, was den einzelnen Tag innerhalb der grausamen Kriegsroutine an der Front zu etwas Besonderem machte. Aber man kann auch ahnen, wie die Erlebnisse in den Schützengräben der Front den jungen Heinrich Böll traumatisierten.

Kaum einen Schüler gibt es im Nachkriegsdeutschland, der nicht mit seinen Werken konfrontiert wurde, etwa mit der bissigen Groteske „Nicht nur zur Weihnachtszeit“ oder mit „Doktor Murkes gesammeltes Schweigen“. Nach sieben Jahren Arbeitsdienst, Krieg und Gefangenschaft hatte Heinrich Böll einen illusionslosen, oft schmerzhaften Blick auf die deutsche Gesellschaft der Nachkriegszeit. Wie die Menschen den Aufbruch in eine neue Zeit erkauften, indem sie die Schrecken von Krieg und Nazi-Herrschaft verdrängten, ließ ihm keine Ruhe.

Gegen den Konformismus in der jungen Republik

Bölls Kriegstagebücher sind zum 100. Geburtstag erschienen. Cover: Kiepenheuer & Witsch

Bölls Kriegstagebücher sind zum 100. Geburtstag erschienen. (Cover: Kiepenheuer & Witsch)

Böll hatte viel Verständnis für die „kleinen Leute“, denen er literarisch und in zahllosen Vorträgen und Reden eine Stimme lieh. Aber ihre geistige Enge, Geschichtsvergessenheit und bigotte Moral lehnte er ebenso deutlich ab. In den Außenseiter-Figuren seiner Bücher, die vom Krieg geprägt waren und die schrecklichen Jahre nicht vergessen konnten, spiegelt sich der Autor selbst: Die Menschen, die sich eilfertig dem beginnenden Wirtschaftswunder anpassten, betrachtete er mit tiefer Skepsis.

Bölls Auftritt bei der „Gruppe 47“ verschaffte ihm einen Autorenvertrag, der ihn von seinen bisherigen Aushilfstätigkeiten unabhängig machte. In schneller Folge erschienen nun Werke wie „Wo warst du, Adam?“ (1951), „Und sagte kein einziges Wort“ (1953) bis hin zum in zahllosen Auflagen nachgedruckten Bestseller „Irisches Tagebuch“ (1957). Als sein wichtigster Roman gilt „Gruppenbild mit Dame“, in dem er 1971 ein Panorama der schicksalhaften Jahre von 1922 bis 1970 entwirft.

Böll, eher ein scheuer, zurückhaltender Mensch, geriet so in Opposition zu den herrschenden gesellschaftlichen Leitbildern, die ihm Schmähungen und Feindschaften einbrachte. 1972 griff er die Springer-Presse wegen ihrer Berichterstattung über die RAF-Terroristin Ulrike Meinhof scharf an. Daraufhin musste Böll eine Hausdurchsuchung über sich ergehen lassen und wurde als geistiger Sympathisant des Terrorismus verunglimpft. Kritik übte der bekennende Katholik Böll auch an seiner Kirche, die er 1976 demonstrativ verließ, ohne sich vom Glauben abzuwenden.

Literarisch verarbeitete Gegenwart

In den bedeutenden Werken der siebziger Jahre, „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ oder „Fürsorgliche Belagerung“, sind die turbulenten Jahre der deutschen Gegenwart von damals literarisch verarbeitet. „Einmischung ist die einzige Möglichkeit, realistisch zu bleiben“, ein bekanntes Zitat Bölls, prägte sein Leben.

Der moralisch-katholisch geprägte Denker fand sich in der politischen Opposition, die er mit einer aus tiefem Misstrauen gegen Obrigkeiten und Autoritäten gespeisten Leidenschaft unterstützte. Ob in Reisen in die Tschechoslowakei, wo er 1968 das Ende des Prager Frühlings erleben musste, ob bei Besuchen in der Sowjetunion oder in Lateinamerika oder bei Demos der Friedensbewegung: Böll mischte sich ein, wurde zu einem der bekanntesten Köpfe des linken Widerstands in der Bundesrepublik.

Cover: Kiepenheuer & Witsch

Neue Böll-Biographie (Cover: Kiepenheuer & Witsch)

Nach dem Tod Heinrich Bölls am 16. Juli 1985, vor allem aber in den letzten zwanzig Jahren, scheint es stiller geworden zu sein um sein literarisches Erbe. In den achtziger Jahren war sein moralischer, antiautoritärer Impetus – wie ihn der Literaturkritiker Helmut Böttiger beschreibt – gesellschaftlich nicht mehr gefragt.

Sein 100. Geburtstag könnte den Literaturnobelpreisträger von 1972 wieder in Erinnerung rufen und sein Schaffen auf aktuelle Bezüge hin befragen. Dazu zählen nicht nur die frühen, der „Trümmerliteratur“ zugeordneten Werke wie „Wanderer, kommst du nach Spa…“ von 1950 oder die Kriegserzählung „Der Zug war pünktlich“. Seine genauen Analysen der Gesellschaft der Nachkriegszeit würden wohl auch Mentalitäten und Denkmuster zutage fördern, denen wir heute (wieder) begegnen.

Aus Anlass von Heinrich Bölls 100. Geburtstag erschien bei Kiepenheuer & Witsch die Biografie des Böll-Spezialisten Ralf Schnell: „Heinrich Böll und die Deutschen“. Im Theiss Verlag publiziert Jochen Schubert, Mitarbeiter der Heinrich Böll Stiftung, eine Biografie, die sich auch auf unveröffentlichte Quellen und Fotos stützt. Der Deutsche Taschenbuch Verlag (dtv) legt fünf Schlüsselwerke in einheitlich gestaltetem Einband neu auf.




Abscheu vor dem Krieg – Heinrich Bölls Front-Tagebücher

Wenn man den Titel liest „Kriegstagebücher von 1943 bis 1945“ und der Autor den Namen Heinrich Böll trägt, dann mag man als Leser ein Werk erwarten, in dem der Literaturnobelpreisträger, der am heutigen 21. Dezember 100 Jahre geworden wäre, den Widersinn und das Grauen des Krieges wortmächtig zur Sprache bringt.

Doch wer den Band, den jetzt sein Sohn René Böll herausgegeben hat, zur Hand nimmt, wird schon nach wenigen Seiten feststellen, dass es sich fast ausnahmslos um kurze Notizen und Bemerkungen handelt, mitunter ist es nur eine Zeile oder ein einziges Wort, das Heinrich Böll an einem Tag niedergeschrieben hat. Gleichwohl erlauben die Eintragungen einen Einblick in das Seelenleben eines Soldaten, der bei Kriegsbeginn 21 Jahre alt war.

Die drei von insgesamt sechs Kriegstagebüchern (die übrigen sind verschollen) hat der gebürtige Kölner dann ab den Zeiten geführt, als er erstmals in den Osten verlegt wurde. Bis dahin hatte ihn der Kriegsdienst über Osnabrück in die Niederlande und nach Frankreich geführt. In der Schreibstube, in Werkstätten und auf dem Kasernengelände war aber die Front weit entfernt. Das sollte sich im Herbst 1943 ändern, als er zunächst auf der Krim, später in Transnistrien und danach in Rumänien eingesetzt wurde.

Schon gleich zu Beginn bringt er in dem Tagebuch seine ihn bedrückenden Gefühle zum Ausdruck, schreibt er beispielsweise von „der absoluten Verlorenheit der Infanterie“. Aus anderen, ganz knappen Eintragungen wird das Elend deutlich, das ihn umgibt: „Blut Dreck, Schweiß und Elend: Das Gejammer der Verwundeten und Sterbenden, der Platz beim Essenholen.“

Wie schwierig und lebensgefährlich es war, überhaupt an Essen zu kommen, weil man auf dem Weg dorthin von einer Granate getroffen werden konnte, lässt sich aus Bölls Bemerkungen ganz deutlich herauslesen. Häufig spricht er von seinem eigenen Leiden, von Nächten, in denen er keinen Schlaf findet, beklagt sich über die Läuse, die ihn immer wieder heimsuchen. Manches erscheint auch wie ein Ausruf, wenn es heißt „diese entsetzlichen Stukas.“ Das Wort Arzt versieht Böll an einer Stelle mit Ausrufe- und Fragezeichen, denn der Schriftsteller wurde mehrfach während des Krieges schwer verletzt.

Ganz häufig taucht auch der Eintrag „Gott“ auf, den er um Hilfe bittet oder dessen Existenz er hervorhebt. Bekanntlich hatte Heinrich Böll ein sehr kritisches Verhältnis zur katholischen Kirche, verstand sich aber durchaus als ein gläubiger Mensch. Noch viel öfter aber schreibt er – in großen Lettern – den Namen seiner Frau Anne-Marie, die er auf einem Heimaturlaub 1942 heiratete. Sie ist, wie es Böll zum Ausdruck bringt, „sein Leben“ und dem kleinen Heft vertraut er auch an, wie sehnsüchtig er sie vermisst.

Die Gedanken an Anne-Marie geben ihm ganz offensichtlich Kraft, die Grausamkeit des Krieges zu ertragen, die Böll aber nicht nur auf der Krim erlebt. Auch später, als er nach Rumänien kommt, hält sein Entsetzen über das brutale Geschehen an, Worte wie „Jammer, Blut, Feuer, Not, Dreck und Elend“ sprechen für sich. Eine Gegenwelt scheinen ihm seine Träume zu bieten, die er ganz offenherzig schildert, vom Auswandern phantasiert oder gemeinsam mit seinem Bruder unterwegs ist und badende Mädchen trifft.

Die Qualen der Realität holen Böll schnell wieder ein, durch seine Verletzungen ist er gesundheitlich schwer angeschlagen. Er kann zwar zwischenzeitlich wieder nach Köln und zu seiner Frau zurückkehren, doch eben nur für wenige Wochen. Als er zu Ende des Krieges in Gefangenschaft gerät, muss er einmal mehr großes Leid ertragen: „Hitze, Elend, Kälte, Hunger“ notiert er in sein Tagebuch, das der einstige Germanistikstudent so lange führt, bis er am 15. September 1945 im Bonner Hofgarten aus der Gefangenschaft entlassen wird.

Sicherlich stellt sich die Frage, ob diese Tagebücher, die Heinrich Böll seiner Familie überlassen hat, neue Erkenntnisse über das Leben und das Werk des bedeutenden Schriftstellers erbringen. Eine eindeutige Antwort zu geben erscheint durchaus schwierig, aber eines lässt sich gewiss festhalten: Schon in jungen Jahren hat Heinrich Böll Abscheu gegenüber dem Krieg zum Ausdruck gebracht und durch seinen Einsatz an der Front wusste er, wovon er sprach.

Heinrich Böll: „Man möchte manchmal weinen wie ein Kind. Die Kriegstagebücher 1943 bis 1945“. Kiepenheuer & Witsch, Köln. 352 Seiten, 22,00 Euro.




Zwischen Goethe, Mafia und Mercedes – Andreas Rossmanns sizilianisches Tagebuch „Mit dem Rücken zum Meer“

Meine Lieblingsgeschichte aus dem sizilianischen Tagebuch ist die mit der Brücke: Wenn der Bürgermeister von Villarosa nach Caltanissetta in die Hauptstadt der Nachbarprovinz möchte, benutzt er dafür zwei Autos. Mit dem einen fährt er bis zur Brücke über den Salso, die seit einem Erdrutsch für Pkw gesperrt ist, geht zu Fuß auf die andere Seite und steigt dort in den geparkten Zweitwagen. So spart er 116 Kilometer.

Der Bürgermeister ist nicht der Einzige, der das so macht – viele Einwohner des Städtchens im Landesinnern (von den Studenten bis zum Apotheker) behelfen sich auf diese Weise.

Die Anekdote aus dem Jahr 2015 ist typisch für Andreas Rossmanns etwas anderes Reisetagebuch „Mit dem Rücken zum Meer“ über Sizilien. Denn es beschreibt pragmatisches Improvisationstalent, organisatorische Schwächen der Behörden und eine Unbeirrtheit von alledem, die die Mentalität der Sizilianer ausmacht – oder die Vorstellung davon aus der Sicht der Deutschen.

Allerdings kann man sich diese Praxis an der schon ewig in Reparatur befindlichen Autobahnbrücke auf der A 57 zwischen Düsseldorf und Köln hierzulande wirklich nicht vorstellen – den schlechtgelaunten Stau, den das hervorrufen würde, hingegen nur allzu gut.

Anekdote vom 29. April 1787

Tatsächlich hatte schon Goethe, der das deutsche Italienbild begründete bzw. prägte, Probleme mit genau diesem Fluss, erzählt Rossmann, der seine Reiserlebnisse gerne mit historischen Anekdoten verknüpft. Und zwar am 29. April 1787: „Regenwetter war eingefallen und machte den Reisezustand sehr unangenehm, da wir durch mehrere stark angeschwollene Gewässer hindurchmussten. Am Fiume Salso, wo man sich nach einer Brücke vergeblich umsieht, überraschte uns eine wunderliche Anstalt. Kräftige Männer waren bereit, wovon immer zwei und zwei das Maultier mit Reiter und Gepäck in die Mitte fassten und so durch den tiefen Stromteil hindurch (…) führten“.

Mehr als 200 Jahre später reist Andreas Rossmann, der Feuilletonredakteur der FAZ für Nordrhein-Westfalen, nicht mit der Kutsche, sondern mit dem Flugzeug nach Sizilien – zwischen 2013 und 2017 jedes Jahr – und beginnt schon an Bord, die Geschichten seiner Reisegenossen zu recherchieren. Denn nicht wenige dieser Sizilianer lebten oder leben in Deutschland, arbeiten hier und urlauben dort und betrachten nüchtern die Vor- und Nachteile beider Länder.

„Das Städtchen Mirabella Imbaccari“ schreibt Rossmann, „ist der Ort mit der höchsten Mercedes-Dichte, wenn nicht von ganz Italien, so doch von Sizilien. In den Siebzigerjahren sind mehr als die Hälfte der siebentausend Menschen, die damals hier lebten, nach Deutschland ausgewandert, um bei Daimler-Benz zu arbeiten.“

Neue Wege der Migration

Doch seitdem haben sich die Wege der Migration verändert: In Sizilien arbeiten viele Nordafrikaner, Rossmann unterhält sich mit den Putzfrauen im Agriturismo, wo er auf seinen Rundreisen quer durchs Land immer absteigt – meist familiär geführte Unterkünfte mit hervorragender Küche. Eine der Frauen stammt aus Marokko, Fremdenfeindlichkeit erlebe sie in Italien eigentlich wenig.

In Trapani, nördlich von Marsala an der Küste, trifft Rossmann ein Ehepaar aus Turin auf Urlaub: „Früher sind wir immer nach Lampedusa gefahren. Die Isola die Conigli ist der schönste Strand, den ich kenne. Aber, wenn ein Flüchtlingsboot gekentert ist, liegen dort hundert Leichen. Da kann man nicht mehr Urlaub machen.“

Griechisches Amphitheater in Syrakus

Natürlich besucht der Theaterkritiker aus dem Westen auch auf Sizilien ein Theater und zwar das Griechische Amphitheater in Syrakus. „Die Frösche“ von Aristophanes stehen auf dem Spielplan: Xanthias und Dionysius werden von Valentino Picone und Salvo Ficarra gespielt, politischen Kabarettisten aus Palermo, die zu den „bekanntesten Komikerpaaren Italiens gehören.“ Und der Mond ist nicht aus Pappe und die Bäume sind echte Bäume – jetzt weiß man, warum Rossmann sich nach seinem ersten Buch übers Ruhrgebiet „Der Rauch verbindet die Städte nicht mehr“ als Sujet für das zweite eine südlichere Gegend ausgesucht hat. Die Fotos im Band sind allerdings wieder von der FAZ-Fotografin Barbara Klemm. Sie zeigen ein schwarz-weißes, ungeschöntes Sizilien, dunkle Ecken, karge Landschaften, verfallenen Charme.

Corleone und die Mafia

Und die Mafia? Was ist aus der eigentlich geworden? Rossmann fragt viel und erhält ausweichende Antworten. Nein, in diesem Dorf gebe es keine Mafia, im Nachbarort schon…Corleone ist ein adrettes Städtchen, von amerikanischen Touristen auf den Spuren des „Paten“ bevölkert. In Sizilien sei die Mafia auf dem Rückzug, zitiert Rossmann Thomas Grüßner, den Leiter einer Sprachenschule in Bagheria bei Palermo. „Von den fünfzig meistgesuchten Mafiosi sind 49 im Gefängnis. Mitte der 80er Jahre gab es in Sizilien zwei- bis dreihundert Mafiamorde im Jahr, 2013 sind es drei oder vier.“

Trotzdem werden an Touristen Stadtpläne der Anti-Mafia-Initiative „Addiopizzo (Tschüss, Schutzgeld) verteilt, die auf Lokale und Geschäfte hinweist, die sich weigern, Schutzgeld zu bezahlen und sich offen dazu bekennen.

Im Krankenhaus

Mit einem weiteren Vorurteil räumt Rossmann gründlich auf: Mit dem über das italienische Gesundheitssystem. Wegen einer Unpässlichkeit von der Ärztin an seiner Seite zum EKG geschickt, erlebt der Autor einen Tag im Ospedale Sant’Antonio Abate in Trapani. Die technische Ausstattung ist auf dem „allerneusten Stand“, er wird von äußerst kompetentem Personal komplett durchgecheckt und erhält zur Entlassung zwei engbedruckte Seiten mit Rundumdiagnose. Kaum zu glauben, das alles kostet nichts. „Sie bezahlen gar nichts“, belehrt ihn die behandelnde Ärztin, „solche medizinischen Leistungen sind in Italien kostenlos“.

Die Klimaanlage bei 45 Grad Hitze funktioniert tadellos. „Es gibt weniger angehnehme Möglichkeiten, den ersten heißen Sommertag zuzubringen“, schreibt Rossmann. Kultur, Geschichte und vor allem der Alltag Siziliens werden in seinen Reisereportagen plastisch – man hat nicht übel Lust, ins Flugzeug zu steigen und dem trüben Winter ebenfalls zu entfliehen.

Andreas Rossmann:Mit dem Rücken zum Meer. Ein sizilianisches Tagebuch.“ Mit Fotografien von Barbara Klemm. Verlag Walther König, Köln. 195 Seiten, 18 Euro. Lesung am 24.1. in Essen.




Operetten-Passagen (8): Emmerich Kálmáns Rarität „Die Faschingsfee“ in Mönchengladbach

"Die Faschingsfee" am Theater in Rheydt: Szene aus dem ersten Akt. Foto: Matthias Stutte

„Die Faschingsfee“ am Theater in Rheydt: Szene aus dem ersten Akt. Foto: Matthias Stutte

Das Theater Krefeld-Mönchengladbach besinnt sich auf eine gute Tradition und greift wieder einmal in die stillen, dunklen Räume, in denen abseits des bis zum Überdruss ausgeleuchteten Mainstreams vergessene Werke einer Wiedergeburt auf der Bühne entgegenschlummern.

Während allein in Deutschland in dieser Spielzeit fünf Theater eine neue „Csardasfürstin“ herausbringen, wagen sich nur zwei an Unbekanntes aus der Feder von Emmerich Kálmán. Das Stadttheater Gießen spielt seine frühe Operette „Ein Herbstmanöver“ von 1909. Und in Mönchengladbach widmet sich der Regisseur und Sänger Carsten Süss im Theater Rheydt einer Operette, die vor genau 100 Jahren entstand, als der Erste Weltkrieg schon absehbar zum Zusammenbruch Europas führen sollte: „Die Faschingsfee“.

Seit der Nazizeit – Kálmán musste 1938 emigrieren – aus den Spielplänen verschwunden, feierte die flotte Reminiszenz an die Fünfte Jahreszeit in der letzten Spielzeit ein Comeback, für das Münchner Gärtnerplatztheater bearbeitet von dessen Intendant Josef E. Köpplinger. Mönchengladbach hielt sich enger an das Original von Alfred Maria Willner und Rudolf Österreicher. Süss schrieb neue Dialoge und bereinigte das personalreiche Stück um einige Nebenfiguren. Dennoch wurde der Abend, auch wegen der zwei Pausen, mit drei Stunden ziemlich lang.

Ohne flotte Wendigkeit und Selbstironie

Der Grund liegt auch im Werk selbst: Köpplinger hatte in München ein hohes Tempo vorgelegt und sein Ensemble auf rasche Reaktionen und geschliffene Pointen trainiert. Süss hat Darsteller, denen die flotte, wendige Art der Komödie, das Arbeiten auf einen zündenden Punkt hin nicht geläufig ist.

Der Regisseur und Sänger Carsten Süss. Foto: Theater Mönchengladbach/privat

Der Regisseur und Sänger Carsten Süss. Foto: Theater Mönchengladbach/privat

Wenn die unbekannte Schöne, die sich später als eine hochadelige Dame entpuppt, in der verlotterten Souterrain-Kneipe (atmosphärisch stimmige Bühne: Siegfried E. Mayer) auftaucht, zeigt Debra Hays weder die leicht genervte Arroganz gegen eine Welt, die sie sonst nie betreten würde, noch die zögerliche Verlegenheit angesichts fremder Menschen einer kaum vertrauten sozialen Schicht. Sie tritt vielmehr, nicht einmal besonders spektakulär oder gar selbstironisch, als Operettendiva auf.

Zudem konzentriert sich die Regie auf das (künftige) Liebespaar. Der Maler Victor Ronai (Mark Adler, alternierend mit Michael Siemon) hat soeben einen Preis gewonnen, der mit einem Haufen Geld dotiert ist, und freut sich in einem flotten Song („Heut flieg ich aus“) auf eine zünftige Faschingsfeier, zu der ihm die attraktive fremde Frau gerade recht kommt. Ein romantisches Auftrittslied, ein Duett im Walzertakt – und schon ist man sich sicher: „Seh’n sich zwei nur einmal, ist’s beinahe kein Mal …“. Doch das Milieu der Künstler-Bohème konkretisiert sich nicht. Chor und Statisterie liefern ihre Szenen wacker ab, aber das Bild einer Zeit von Mangel und Depression will sich nicht einstellen.

Rüde sexuelle Belästigung fegt den harmlosen Spaß beiseite

So bleiben wir in szenischen Abläufen, wie sie aus standardisierten Operetten-Arrangements bekannt sind und längst Inszenierungs-Geschichte sein sollten. Aber Halt: Wenn sich plötzlich ein öliger Schnösel unter die feiernde Gesellschaft mischt und die unbekannte Dame auf rüde Weise sexuell belästigt, verlassen wir den (stets scheinbar) harmlosen Spaß. Juan Carlos Petruzziello zeigt mit dem nötigen, auch schneidend stimmlichen Nachdruck, dass die Übergriffe nicht als Galanterie oder frivole Anspielung gemeint sind, sondern einen Mann charakterisieren, der sich wie selbstverständlich anmaßt, über andere Menschen zu verfügen.

Konfrontatin im Atelier: Fürstin Alexandra (Debra Hays) und ihr Bräutigam, Rittmeister von Grevelingen (Michael Grosse). Foto: Matthias Stutte

Konfrontation im Atelier: Fürstin Alexandra (Debra Hays) und ihr Bräutigam, Rittmeister von Grevelingen (Michael Grosse). Foto: Matthias Stutte

Leider bricht diese Exposition im zweiten Akt wieder zum – ob der vielen Dialoge – langwierigen Operettenspaß zusammen. Inzwischen wissen wir, dass die Dame der höheren Gesellschaft angehört und einen älteren Rittmeister ehelichen soll. Ihr Chauffeur nämlich ist mit einer der Bohème-Künstlerinnen liiert und weckt durch seine verzweifelten Bemühungen, das Abenteuer seiner Herrschaft nicht ausarten zu lassen, das Misstrauen seiner Lori: Gabriela Kuhn als eifersüchtiges Fräulein Aschenbrenner und Markus Heinrich als ihr der Untreue verdächtiger Favorit ziehen alle Register, um ihre turbulenten Szenen mit Charme und Schmiss über die Bühne zu bringen. Aber um die beiden herum fehlen das Tempo und der messerscharfe Schliff der Pointen. Das Fest zieht sich bis zum Finale, in dem das „hohe Paar“ nach einer Liebesnacht im Atelier, den Konventionen der Operette entsprechend, getrennt wird.

Den dritten Akt spitzt Regisseur Süss entschieden deutlicher zu: In einem muffigen Ambiente der Fünfziger Jahre – die einfallsreichen Kostüme von Dietlind Konold verorten das Werk in der Nachkriegszeit – soll die Hochzeit zwischen Fürstin Alexandra und dem Rittmeister (mit sonorer Würde: Intendant Michael Grosse höchstselbst) gefeiert werden. Unter röhrenden Hirschen taucht im Hintergrund – eine makabre Prophetie künftigen Ehelebens – ein Zitat an „Dinner for one“ auf, die Stolperfalle Eisbärfell eingeschlossen. Blond bezopfte Mädels in Höschen im SS-Schwarz tanzen auf der Tafel zu Kálmáns Schlager „Wenn die Garde schneidig durch die Stadt marschiert“ aus der „Herzogin von Chicago“.

Braune Schatten hinter konservativ-bürgerlicher Fassade

Der schmierige Typ aus dem ersten Akt, inzwischen bekannt als Staatssekretär Dr. Lothar Mereditt, schwadroniert in konservativ-grauem Cutaway von Leitkultur, Vorsehung und tausendjähriger Zukunft. Am Ende rutscht ein Wagner-Gemälde von der Wand und legt für Sekunden ein Hitlerbild frei. Süss hebt den Spiel-Realismus auf, um die Tiefenschichten einer Mentalität offen zu legen, die heute wieder alles andere als ein historisches Phänomen der Adenauerzeit ist. Hinter Wagner als Inbegriff einer bürgerlichen Kunstreligion verbirgt sich der braune Schatten; in den erstarrten Konventionen gesellschaftlichen Lebens tarnt sich ein Ungeist, der Menschen, Menschlichkeit und Moral verachtet.

Auch wer die Symbolik für zu dick aufgetragen hält, wird zugestehen müssen, dass der Versuch, die Operette aus belangloser Seligkeit zu befreien, mit konzeptionellem Ernst unternommen wurde. Die ideensprühenden Melodien Kálmáns, die das Orchester unter Diego Martín-Etxebarría sängerfreundlich und flexibel, aber manchmal auch konturenarm spielt, bekommen so einen zwiespältigen, melancholischen, sogar leise resignierten Unterton. Mit Sicherheit nicht der schlechteste Beitrag, den Krefeld mit der „Faschingsfee“ zur ausgedünnten Operetten-Landschaft der Rhein-Ruhr-Region leistet.

Vorstellungen: 21. und 31. Dezember, 4. und 16. Februar in Mönchengladbach-Rheydt; in der Spielzeit 2018/19 dann im Theater Krefeld. Info: http://theater-kr-mg.de/spielplan/inszenierung/die-faschingsfee/




Das Schöne muß sterben: „Übergewicht, unwichtig: Unform“ von Werner Schwab im Dortmunder Theater

Leichenschmaus. Szene mit (von links) Christian Freund, Andreas Beck, Marlena Keil, Frank Genser, Amelie Barth und Uwe Rohbeck. (Foto: Theater Dortmund/Birgit Hupfeld)

„Übergewicht, unwichtig: Unform“: Das alliteriert sehr schön und sollte einen auf keinen Fall zu einem Deutungsversuch verleiten. Was nicht bedeutet, daß diesem Stück und seinem Titel kein Sinn innewohnte, doch der erschließt sich besser im Zusammenhang, und dann auch eher assoziativ. Am Sonntag war Premiere von Werner Schwabs „Übergewicht…“ auf der Dortmunder Studiobühne.

Schwab, der 1994 mit gerade einmal 36 Jahren starb, schrieb Erfolgsstücke wie „Die Präsidentinnen“, „Volksvernichtung oder Meine Leber ist sinnlos“ und eben „Übergewicht…“ in seinen letzten Lebensjahren. Er galt unter den Theaterautoren als Enfant terrible, Provokateur und Punk, in seinen Stücken wird viel gekotzt, geprügelt, geblutet, gemordet und gestorben, gesellschaftliche Fallanalysen sind sie mit maximaler Negativwertung.

Kneipenszene mit (von links) Wirtin (Amelie Barth), Karli (Frank Genser) und Schweindi (Andreas Beck). (Foto: Theater Dortmund/Birgit Hupfeld)

Nüchterne Kneipe

Da ist es geradezu erstaunlich, in welchem vergleichsweise nüchternen Setting Regisseur Johannes Lepper sich dem Schwabschen Kosmos der Abgründigkeiten nähert. Spielort – Lepper sorgte auch für das Bühnenbild – ist eine auch auf den zweiten Blick noch ganz anheimelnde Kneipe, in der ein Fernseher unbeachtet vor sich hin flimmert, zwei Paare an Tischen hocken, ein graues Männchen über gesellschaftliche Verhältnisse doziert und ein Mensch namens Fotzi mit obszön kurzem Kleid in der Ecke hockt.

Verkommene Gesellschaft

Lehrer Jürgen (Uwe Rohbeck) und Fotzi (Christian Freund) sind auf ihre Art auch so etwas wie ein Paar, „Es“ und „Über-Ich“ könnte man in trivial-freudianischer Terminologie vielleicht sagen, einander bedingend. Das Paar zur Linken sind Karli und Herta (Frank Genser und Friederike Tiefenbacher), er schlägt sie, wenn er sie vögelt, und auch, wenn er sie nicht vögelt.

Die anderen beiden sind Schweindi und Hasi (Andreas Beck und Marlena Keil), beide adipös. Beide stricken Strampler, doch mit der Elternschaft will es nichts werden, weil Schweindi bei Hasi keinen hochkriegt, er scheint eher pädophile Neigungen zu haben. Amelie Barth schließlich ist die Wirtin und als solche zunächst in einer Art Moderatorenrolle, kurzum: ein repräsentativer Querschnitt durch Werner Schwabs verkommene, verrohte, verlogene (europäische?) Gesellschaft.

Ach ja, nicht zu vergessen das dritte (bzw. vierte) Paar: Verliebt hocken sie lange Zeit weiter hinten, haben Augen nur füreinander (Edith Voges Nana Tchuinang und Raafat Daboul).

Karli (Frank Genser, stehend) ist gewalttätig. Szene mit Herta (Friederike Tiefenbacher, vorn), Wirtin (Amelie Barth, hinterm Tresen) und dem verliebten namenlosen Paar (Edith Voges Nana Tchuinang und Raafat Daboul, im Hintergrund (Foto: Theater Dortmund/Birgit Hupfeld)

„Schwabisches“ Schwafeln

Nun, Schwabsches Kneipengeschwafel weist in Schwabs kunstvollem, an eigenen subtil-treffsicheren Wortneubildungen reichen „Schwabisch“ durchaus einige Leckerbissen für Sprachverliebte auf, ist aber für sittenstrenge Theatergänger auch eine Last. Denn ebenso ist „Schwabisch“ grob sexualisierte Fäkalsprache. Beleidigungen, Entwertungen und Entwürdigungen reihen sich, und irgendwann fragt man sich auch als hartgesottener Theatergänger, warum sie nicht endlich mal aufhören mit dem ätzenden Streß, wenn doch endgültig, endgültig alles gesagt, geflucht, geschrieen und herausgekotzt ist.

Gleichzeitig empfindet man Mitleid mit diesem Autor, der nicht lassen kann von seinen Obsessionen und dem auch die Sprache nicht zur Überwindung hilft, so kunstvoll sie ist.

Der Leib des Herrn

Ein Thema zum mindesten gibt es bei alledem schon, und das nicht erst, wenn die Kneipenbande das verliebte Paar im Hintergrund massakriert und auffrißt. Der Untertitel weist den Weg. „Ein europäisches Abendmahl“ hat Schwab sein Stück da genannt, und tatsächlich kreisen die wüsten Phantasien und Gewaltexzesse, weihnachtlich passend, relativ konstant um das christliche Motiv der Hingabe des Leibes zum Zwecke der Erlösung und um die Inkorporation desselben – hier nur eben nicht in Gestalt der Abendmal-Oblate, sondern entschieden realistischer.

Das wirft die Frage auf, warum das unschuldige Opferpaar dran glauben muß, aber wahrscheinlich ist eben gerade ihre (gemutmaßt) unschuldige Liebe dem Kneipenvolk so unerträglich, und von der geringen Lebenserwartung schöner, wilder Rosen weiß man nicht erst seit Nick Caves Lied. Schönheit muß sterben; warum soll man immer nur Toastbrotscheiben essen, wie Schweindi nicht müde wird zu postulieren, wenn man es auch in echt haben kann?

Und so läßt sich recht mühelos assoziativ einiges weiterspinnen von dem, was im Stück angelegt ist und was Johannes Lepper mit dieser Einrichtung übersichtlich und notabene nur mit den traditionellen Mitteln des Sprechtheaters (ohne Video) auf die Bühne stellt.

Fotzi (Christian Freund) provoziert das namenlose Paar (Edith Voges Nana Tchuinang und Raafat Daboul). (Foto: Theater Dortmund/Birgit Hupfeld)

Herta hat nicht mitgemacht

Herta übrigens hat nicht mitgemordet, um auch das noch zu erzählen, sondern nur vom Kneipentresen aus das kannibalische Gemetzel mit angesehen und kommentiert. Mit dem Fortgang der Handlung macht sie das nun zur Heiligen im Brautkleid, der die anderen die Füße küssen müssen. Die derben Anspielungen auf Schweißfüße und flutschigen Hundekot, in den Herta so gerne tritt, sind nur schlichte Ablenkungsmanöver und verfangen nicht; tatsächlich sind wir auch hier wieder mittendrin in der christlichen Schuld-Unschuld-Erlösungs-Mythologie, die dem Autor offenbar keine Ruhe gibt. Vielleicht, weil sie nicht funktioniert und nichts Schreckliches verhindert hat in den zweitausend Jahren ihres Bestehens. Da hätte er natürlich recht mit seiner unstillbaren Wut.

Doch im Jahr 1991 ist Schwab damit eigentlich spät dran, 20, 30 Jahre früher hätte man sich trefflicher und letztlich auch überzeugender über diese Dinge echauffieren können. Man denke da nur an Thomas Bernhards bebende Wut auf Pfaffen, Lungenärzte und Bürokraten, die trotz eindrucksvoller Sprachgewalt nie zu besiegen, höchstens für einige Zeit zu bändigen war.

Wiederauferstehung

In der letzten Szene ist das nette Paar dann wieder da, sitzt jetzt sogar an einem Tisch in der Mitte der Bühne und tritt entschieden offensiver auf als zuvor. Über die anderen Gäste, hilflos und lächerlich in ihren Obsessionen verfangen, lachen sie, und schließlich gehen sie wie Sieger aus der Kneipe. Das Motiv der Wiederauferstehung hat Schwab ähnlich auch in der „Volksvernichtung“ bemüht, alles nur Theater, man mag seine Schlüsse daraus ziehen.

Fazit: Johannes Leppers Inszenierung vermag in Dortmund mehr zu überzeugen als das mit seinen 26 Jahren schon etwas angestaubt wirkende Stück. Eine Freude ist die Wiederbegegnung mit geschätzten „alten“ Ensemblemitgliedern: Uwe Rohbeck, Andreas Beck, Marlena Keil, Frank Genser und Friederike Tiefenbacher.

Doch auch einige neue Gesichter bleiben in guter Erinnerung: Amelie Barth, Edith Voges Nana Tchuinang und Raafat Daboul. Christian Freund schließlich ist seit dieser Spielzeit Mitglied des Dortmunder Ensembles.

  • Weitere Termine „Übergewicht, unwichtig: Unform“:
  • 23.12.2017 — 7., 10., 21., 26.1., 18.2., 8.3. und 10.6.2018
  • www.theaterdo.de



Zwei magere Jahre sind vorbei – nach Renovierung spielt das Theater Dortmund endlich wieder im angestammten Haus

Das Leben kehrt zurück. Nach fast zweijähriger Umbaupause wird im Dortmunder Theater endlich wieder Theater gespielt, auf großer und auf kleiner Bühne, und einen leichten Anflug von Freude darüber kann der Verfasser dieser Zeilen nicht verhehlen. Der Mensch braucht eben sein Stadttheater, das auch deshalb so heißt, weil es in der Stadt ist (und nicht im Gewerbegebiet).

Ansicht des Dortmunder Schauspielhauses - Aufnahme von 2009. (Foto: Bernd Berke)

Ansicht des Dortmunder Schauspielhauses – Aufnahme von 2009. (Foto: Bernd Berke)

Trotzdem darf natürlich auch an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben, daß sich das Theater in seiner Ausweichspielstätte „Megastore“ wacker behauptet hat und daß dem Intendanten Kay Voges dort mit der „Borderline Prozession“, die Inszenierung ebenso wie Rauminstallation und Video-Arbeit war, definitiv Außergewöhnliches gelungen ist.

Doch im „eigenen Haus“ mit aufgefrischter Technik und optimiertem Brandschutz kann man einfach mehr machen. Und im übrigen auch mehr Publikum bespielen. Eine bange Frage für den Rest der Spielzeit wird daher sicherlich sein, ob das Publikum jetzt wieder in so reicher Zahl wie vordem strömen wird, oder ob es sich möglicherweise anderswo hin, nach Bochum beispielsweise, orientiert hat. Das hängt natürlich auch von dem ab, was geboten wird.

Warten auf den „Theatermacher“

Als erste Produktion gelangte am Samstag „Biedermann und die Brandstifter“ von Max Frisch zur Aufführung, sinnfällig kombiniert mit Ray Bradburys düsterer Zukunftsvision „Fahrenheit 451“, wo es ebenfalls um Feuer und Verbrennen (von Büchern) geht. Regie führte Gordon Kämmerer.

Kurz vor Jahresende steht das nächste Premierenwochenende in Dortmund an. Tschechows „Kirschgarten“ kommt als Studio-Produktion in der Regie von Sascha Hawemann am 29. Dezember heraus. Und erst am 30. Dezember wird der Chef selbst Regie im frisch renovierten Schauspielhaus führen. Der Theatermacher inszeniert den „Theatermacher“: In der Regie von Kay Voges gelangt Thomas Bernhards bittere Komödie zur Aufführung, mit Andreas Beck (wem sonst!) als Theatermacher Bruscon und Uwe Rohbeck als Wirt. Auch am Silvesterabend läuft die Produktion, und sie ist fast schon ausverkauft.

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Pressemitteilung des Dortmunder Schauspiels vom 27.12.2017:
Premiere „Der Theatermacher“ wird verschoben
„Das Schauspiel Dortmund muss die für den 30. Dezember geplante Premiere von „Der Theatermacher“ aufgrund von Erkrankungen im Ensemble verschieben. Der neue Premierentermin wird noch bekannt gegeben. Die Silvester-Vorstellung muss leider ersatzlos entfallen. Aufgrund des späten Spielzeitbeginns nach dem Rückzug aus dem Megastore kann das Schauspiel keine Ersatzvorstellung anbieten. Bereits gekaufte Karten können an der jeweiligen Vorverkaufskasse zurückgegeben oder umgetauscht werden. Das Schauspiel Dortmund bedauert den kurzfristigen Ausfall und die Unannehmlichkeiten für das Publikum sehr.”
Nachtrag:
Neuer Premierentermin ist Samstag, 3. März 2018 (Schauspielhaus, 19.30 Uhr).




So also standen damals die Dinge – Bilder schlürfen, Dialoge trinken auf filmischen Zeitreisen in die 60er und 70er Jahre

In den letzten Wochen und Monaten habe ich zuweilen Streaming-Dienste wie vor allem den auf deutsche Filme spezialisierten Auftritt alleskino.de in Anspruch genommen, um mich auf cineastischem Wege in die späten 60er und frühen 70er Jahre zurückzuversetzen. Warum nur?

Tableau aus Rudolf Thomes Kinofilm von (Screenshot)

Weitwinkel-Tableau aus Rudolf Thomes Kinofilm „Fremde Stadt“ von 1972. (Screenshot)

Es war die Zeit, in der man sein bisschen Bewusstsein herausbildete, in der man sich aber stark und gelegentlich sogar unbesiegbar fühlte, was natürlich auch den einen oder anderen „Kater“ nach sich zog.

Wie sehr ist das alles mit der Zeit geschwunden! Wie kopfschüttelnd und zugleich verständnisinnig sieht man heute die Jungen sich am Weltenlauf abarbeiten.

Nun trinkt, schlürft und inhaliert man geradezu die Signaturen jener alten Zeiten, in denen man selbst so sehr nach vorne schaute. Musikalisch sowieso. Doch auch im Lichtspiel: Man scannt gleichsam jedes einzelne Bild. So also haben die Lichtschalter und Hinterhöfe ausgesehen. So die Möbel. So die Kleidungsstücke. So die Tapeten. So die Autos. So die Straßen und Gebäude. Wie man damals redete und sich gab…

Deutlicher und dringlicher als heute

Und man war ja selbst mitten darin, wohl deutlicher und dringlicher als heute. Eigentlich unfassbar. Es war Botho Strauß, der gegen Ende des Jahrzehnts in seinem Theaterstück  „Groß und klein“ (1978) den nachmals legendären Satz prägte: „In den siebziger Jahren finde sich einer zurecht!“

Es war ein anderes Deutschland damals. Es war anscheinend alles noch so einfach und vergleichsweise übersichtlich verteilt. Wie war das denn noch ohne Handy, Computer und all das Zeug? Wie war das mit den Schreibmaschinen? Man weiß ja kaum noch, wie das gegangen ist. Und was hat man damals versäumt? Wie wirklich und unwirklich hat man gelebt; keineswegs so, wie es einem im Kino vorkommt.

Auf den Spuren von Rudolf Thome

Besonders die Filme von Rudolf Thome („Tagebuch“, „Fremde Stadt“) haben es mir angetan. Nicht, weil sie besondere Meilensteine des Kinos wären, sondern weil sie so viel von dem Lebensgefühl jener Jahre enthalten und bewahren. In all ihrer Unbeholfenheit und Naivität. Oder gerade deshalb. Wie quälend in „Tagebuch“ – mit gesuchtem Bezug auf Goethes „Wahlverwandtschaften“ – Beziehungen durchkonjugiert wurden, jaja, so schrecklich verkopft war das mitunter in den Siebzigern. Und wie Thome beispielsweise versucht hat, amerikanische Gangsterfilme nachzubilden… Mit heißem Bemüh’n, jedoch teilweise mit untauglichen Mitteln, mit unzulänglichen Darstellern. Und dennoch: Respekt! Das damals in diesem Lande so gewagt zu haben, ist ein bleibendes Verdienst.

…und natürlich Wenders, Herzog, Fassbinder

Sogar May Spils‘ „Zur Sache Schätzchen“ habe ich mir noch einmal angetan. Und tatsächlich: Die impulsive Rebellion, das Andersseinwollen ist auch in diesem Film gültig aufbewahrt. Auch Ulrich Schamonis „Alle Jahre wieder“ habe ich mir abermals angeschaut, in dem das altbekannte Spießertum der westfälischen Provinz (Münster) und seine noch zaghaften Gegenkräfte wieder aufleben. Kein Wunder, dass der Streifen alljährlich zur Weihnachtszeit am Hauptdrehplatz wieder und wieder gezeigt wird, wie andernorts nur „Das Leben des Brian“.

Auch Wim Wenders‘ „Alice in den Städten“ und Werner Herzogs „Stroszek“ zählen zum Umkreis der Filme, die mich zuletzt wie magisch angezogen haben. Und ich weiß schon, dass demnächst die üblichen Verdächtigen wieder an der Reihe sein werden: mehr von Wenders, Herzog und Fassbinder. Lieber noch wär’s einem auf der Kinoleinwand, doch zeigt mir bitte das Lichtspielhaus im Ruhrgebiet, in dem nennenswerte Arthouse-Retrospektiven laufen. Dabei wäre das Publikum der passenden Jahrgänge durchaus vorhanden.

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P.S.: Der obige Screenshot kommt erst in Vergrößerung richtig zur Geltung. Ein Hinweis zu Vorgehen:  https://www.revierpassagen.de/groessere-bilder




„Wir leben in geheimnislosen Städten“ – Durs Grünbeins neuer Gedichtband „Zündkerzen“

Wollen wir einem Dichter das Sprachvertrauen schenken, der solche Reime verfertigt: „…in ihren Booten / Vor den Lofoten.“ Einem, der zudem wohnen auf Ikonen reimt, Basar auf Gefahr, Verkehr auf Maschinengewehr?

Nein, wir befinden uns dabei nicht in der satirischen Überlieferung oder in der Nonsens-Tradition. Besagte Reimpaare irritieren auf den ersten Blick umso mehr, als sie von einem der höchstdekorierten Lyriker deutscher Sprache stammen: von Durs Grünbein, dem Träger des Nietzsche-, des Hölderlin- und des Büchner-Preises sowie etlicher anderer Auszeichnungen. Von ihm erwartet man folglich nichts Geringeres als das Außerordentliche.

Besonderes Formbewusstsein

Und tatsächlich finden sich hier viele, viele Texte, die gerade von besonderem Formbewusstsein, metrischer Meisterschaft und Rhythmusgefühl zeugen, wie sie heute längst nicht mehr selbstverständlich sind. Hierzu nur ein einziges, ganz kurzes Beispiel, dem man schon etwas ablauschen kann:

Wir leben in geheimnislosen Städten,
In Straßen ohne Gnade und Grandezza…

Jemandem, der so schreibt, „unterlaufen“ vermeintlich schwächere Reime nicht einfach, er setzt sie vielmehr willentlich ein; beispielsweise just, um (im Gedicht „Die Reise nach Jerusalem“) die touristische Banalisierung der heiligen Stätten schmerzlich fühlbar werden zu lassen.

Durs Grünbeins neuer Gedichtband heißt schlichtweg „Zündkerzen“. Wie alle anspruchsvolle Poesie, so muss man auch diese mehrfach lesen – um sich anfangs womöglich übersehene Feinheiten zu erschließen, um zu erkunden, welche thematischen oder sonstigen „Fäden“ durchs Ganze gewoben sind. Und überhaupt, um alle Fügungen genauer nachzuempfinden.

Flüchtigkeit der Existenz

Was also zeigt sich da? Welche Gefühlsvaleurs und Gedankenfiguren kehren wieder? Nun, den gesamten Band durchzieht Wehmut übers Vergehen, die Flüchtigkeit der Existenz, die menschliche Einsamkeit im unendlichen All und im Alltag, die ungestillte Sehnsucht (nicht nur im „Sumpf der Paarungen“), das grundsätzliche Ungenügen der Worte. Zitat:

Nicht viel wird gehoben mit Worten, nicht viel.
Der größere Teil eines Menschenlebens bleibt schattenhaft
Unterm Wasserspiegel, undeutbar für immer.

Aus dem Gedicht „Decolleté“, angesichts eines offenbar zauberhaften, die Sinne verwirrenden Schlüsselbeins:

Und Schmerz flammt auf
Über allen Verzicht und Verlust
In einem Menschenleben.
Nun zeigt sich: Es ist sehr kurz,
Gleich vorüber die Hauptsaison.
Vergeben die Chancen, Avancen.
„Letzte Runde“, ruft der Kellner…

Wenn Worte schon wenig ausrichten, versagen auch die Gerätschaften, auf die der Mensch so unsinnig viel hält:

Technik, der kleine titanische Irrtum, ist
Nichts, was den Menschen vor sich bewahrt.

Der Alltag und die Katastrophen

Hin und wieder klingt das tiefe Erschrecken vor dem unentwegten weltweiten Tauschhandel an, der sich alles gespenstisch einverleibt und es entleert. Und so manche(r) langjährige Angestellte kann sicherlich diesen Seufzer nachvollziehen:

Wer ersetzt mir die lichtarmen Jahre,
In den Büroetagen vergeudet? Der Tag
Begann dann immer, wie er geendet hatte,
Mit grauen Bilanzen, aussichtslosen Vakanzen.

Grünbein lässt sich jedoch „inhaltlich“ nicht so leicht festlegen, dazu sind seine Gedichte selbst aus zu flüchtigem und filigranem Stoff. Freilich ist hier auch der gewöhnliche Alltag gegenwärtig, in den häufig – schleichend oder rasend – kleine und große Katastrophen eindringen. Ein Gedicht handelt von einem Autounfall und trägt den schon fast unverschämt knappen Titel „Peng!

Vielfach setzen die Texte bei ganz einfachen Dingen an, der Buchtitel „Zündkerzen“ lässt es schon ahnen. Allerdings sind derlei Objekte Anstoß für ungeahnte Weiterungen, das Vorhandene wird entschieden überschritten oder gar transzendiert. Doch wird eben auch die soziale Wirklichkeit aufgerufen, etwa das Dasein entwurzelter Migranten und Bettler in den Städten. Grünbein hat keineswegs die Bodenhaftung verloren. Ein Gedicht heißt ja auch ganz explizit „Der Sturz aus dem Elfenbeinturm“. Übrigens: Bildungspartikel werden gelegentlich in die Zeilen gestreut, aber sorgsam und sinnvoll; niemals so, dass es penetrant wäre.

Ein Lyriker durch und durch

Um auf die „geheimnislosen Städte“ zurückzukommen: Grünbein lebt überwiegend in Rom und Berlin, Metropolen also, die denn doch die eine oder andere Anregung bereithalten dürften. So finden sich vor allem auch einige römische Impressionen in diesem Gedichtband. Es lastet dort aber dermaßen viel Vergangenheit auf den gar nicht so Gegenwärtigen („Vielleicht gibt es uns nicht“), dass schier alles vorbei und vorüber zu sein scheint. Mit den Worten des Dichters: „In einer Stadt, verwüstet von Wiederkehr“. Noch dazu wird dieses Rom – wie so viele Flugziele – überflutet von chinesischer Billigware.

Überhaupt machen Orts- und Reisebilder einen nicht unwesentlichen Teil der Sammlung aus. So gibt es auch Exkurse nach Locarno, Ljubljana, Piräus und Israel. Die staunenswerte formale Vielfalt reicht sodann bis hin zur Gedichtsequenz „Sieben Pinien“, in der sich der Autor vergnüglich in spielerischen, geradezu parodistisch anmutenden Alliterationen ergeht.

Durs Grünbein ist Lyriker durch und durch. Das wird umso deutlicher, wenn er einmal nicht in gebundener Sprache spricht. In wenigen Passagen des Bandes verfällt er in Prosa und sinniert etwa über unsere Vorfahren, die Menschenaffen. Doch ohne die spezifischen Mittel des Gedichts scheint er nicht so weit zu gelangen. Da klingt seine Stimme gelegentlich gar tonlos, ein wenig nach bravem Aufsatz.

Kulturpessimistische Ängste

In einem Langgedicht („Das Photopoem“) ist die Rede von Lyrik als bedrohter, wenn nicht bereits verschwundener Gattung:

Am Ende des letzten Jahrhunderts
War Lyrik ein Unwort geworden, Bezeichnung
Für eine Nichtigkeit, ein Nebenprodukt,
Schlimmstenfalls ein soziales Minus.

Nicht nur dieser Lyrikband wendet und stemmt sich – schon durch seine bloße Existenz – naturgemäß gegen solche kulturpessimistischen Befürchtungen.

Merkmale eines guten, gediegenen oder auch großartigen Gedichtbandes sind, dass man gern sehr viel zitieren möchte (was nicht nur seine urheberrechtlichen Grenzen hat) und: dass man nach und nach Passagen findet, die einen in Sonderheit ansprechen. Einstweilen sind dies bei mir „Monatsblut“ über das schier geisterhaft spurlose menschliche Leben und „Sperlingssommer“, ein einfacher, schmuckloser Gesang auf wilde Tage einer längst verwehten Pubertät. Bei fortgesetzter Dritt- und Viertlektüre werden sicherlich noch einige kostbare Texte hinzukommen.

Durs Grünbein: „Zündkerzen“. Gedichte. Suhrkamp Verlag. 144 Seiten. 24 Euro.




Wenn der Hass triumphiert: Giuseppe Verdis „Troubadour“ als Bürgerkriegsstück im Essener Aalto-Theater

Manrico (Gaston Rivera, r.) zielt auf den Grafen Luna (Nikoloz Lagvilava. Foto: Matthias Jung)

Optimistische Sichtweisen sind Mangelware, wenn es um die Zukunft der Menschheit geht. So viele Endzeit-Szenarien haben Bücher und Kinofilme bereits durchgespielt, dass etwas anderes als der Untergang kaum noch denkbar scheint. Im Essener Aalto-Theater schnuppert jetzt Giuseppe Verdis „Troubadour“ an der Apokalypse.

Das französisch-niederländische Regieteam Patrice Caurier und Moshe Leiser deutet den von Verdi vertonten Bruderzwist als Bürgerkrieg und zitiert, dazu passend, aus dem Song „The Future“ von Leonard Cohen: „Ich habe die Zukunft gesehen, Bruder: Sie ist Mord.“

Vom Krieg traumatisierte: Azucena (Carmen Topciu) und ihr Sohn Manrico (Gaston Rivera. Foto: Matthias Jung)

Über den gesichtslosen Wartesaal oder Transit-Raum, in den die flüchtlingsgleich gewandeten Zigeuner stolpern, kommt das Geschehen lange nicht hinaus. Dort warten schon die fiesen Anzugträger rund um den Grafen Luna, um die Neuankömmlinge zu peinigen und zu erschießen. Azucena, eine vom Krieg traumatisierte Frau, wird im Bett liegend in die Szene geschoben. Statt auf den Amboss hämmert der sie umgebende Zigeunerchor auf das eiserne Bettgestell. Auf diese Weise umgeht die Regie die Folklore, aber der öde Amtsgeruch haftet der Inszenierung lange an.

Dann der Knalleffekt: Hubschrauber-Lärm, Suchscheinwerfer, das Heulen von Geschossen. Der Krieg bricht im Wortsinne herein, sprengt die Wände des Wartesaals auf. Die Bühne (Christian Fenouillat) verwandelt sich in ein Schlachtfeld voller Gerümpel und Stacheldraht. Die Mannen von Graf Luna sind nun verrohte Soldaten, die Bier saufen und sich mit der Vergewaltigung einer Gummipuppe vergnügen.

Leonora (Aurelia Florian) sucht in der vom Krieg verwüsteten Gegend nach ihrem Manrico (Foto: Matthias Jung)

Zwischen Leichen und Trümmern irrt Leonora herum, auf der Suche nach ihrem Manrico, dessen Tod bereits besiegelt ist. Die menschliche Seite der Tragödie droht vom drastischen Kriegsszenario freilich erdrückt zu werden. Immerhin sind es nicht einfach verfeindete Warlords, die gegeneinander kämpfen, sondern zwei Männer, die bis zum bitteren Ende nicht ahnen, dass sie Brüder sind.

Gottlob triumphiert an diesem Abend nicht nur der Hass, sondern auch Verdis Musik. Das Aalto-Theater bietet ein starkes Gesangsquartett auf, das in den zahlreichen Duetten und Terzetten bemerkenswert ausgewogen klingt.

Leonora (Aurelia Florian) fleht den Grafen Luna (Nikoloz Lagvilava) um Gnade für Manrico an (Foto: Matthias Jung)

Der Rumänin Aurelia Florian gelingt als Leonora ein eindrucksvolles Rollendebüt. Ihr klarer Sopran besitzt Geläufigkeit und Wärme, greift zunehmend schwärmerisch aus, findet Schmerzensklänge der Verzweiflung und schließlich auch himmelwärts gewandte, wie von weißem Licht erhellte Töne der Weltabkehr.

Ihr zur Seite steht der als Manrico allseits herum gereichte Gaston Rivera, dessen Tenor hell und kraftvoll strahlt, ohne zu protzen. Es ist eine Wohltat, wie Rivera die Eleganz wahrt: auch in der von Rachegelüsten durchbebten Bravourarie „Di quella pira“, die ihm kaum Probleme bereitet.

Azucena (Carmen Topciu), hier bedrängt vom Grafen Luna (Nikoloz Lagvilava, rechts) und dessen Hauptmann Ferrando (Baurzhan Anderzhanov. Foto: Matthias Jung)

Eine weitere Rumänin triumphiert in der Rolle der Azucena. Carmen Topciu leiht der von traumatischen Erinnerungen gequälten Frau die vibrierende Energie ihres Mezzosoprans, der mal in düstere Tiefen hinab steigt, mal beschwörend in die Höhe steigt, mit vehementer Attacke, zuweilen nicht ohne Schärfe.

Als neues Ensemblemitglied muss Nikoloz Lagvilava aus Georgien sich mühen, den Grafen Luna nicht monochrom zu zeichnen. Gleichwohl kennt sein Bariton neben galligen, hassverzerrten Töne auch balsamisches Strömen, wo er die Liebe zu Leonora besingt.

Tod im Stacheldraht: Für Leonora (Aurelia Florian) und Manrico (Gaston Rivera) gibt es keine Zukunft mehr (Foto: Matthias Jung)

Wann immer im Libretto Flammen erwähnt werden, lassen die Essener Philharmoniker diese musikalisch aus dem Graben lodern, dass es eine Pracht ist. Unter der Leitung des Italieners Giacomo Sagripanti, der mit dem „Troubadour“ 2018 an der Deutschen Oper Berlin debütieren wird, präsentieren sich die Musiker in großartiger Spiellaune. Sie unterstützen die Sänger mit größter Flexibilität und entwickeln in vielen Szenen mitreißenden rhythmischen Drive. Opern- und Extrachor des Aalto-Theaters stehen dem nicht nach: statt Brüllorgien anzustimmen, wahren die Chöre bei allem Schmiss die Leichtigkeit, oft auch nachgerade tänzerischen Schwung.

Buhs und Bravos am Ende für das Regieteam, das die eigentlich ins Mittelalter weisende Handlung in eine nahe Zukunft versetzt. Vom neuen „Troubadour“ am Aalto zeigt das Premierenpublikum sich hörbar polarisiert.

Informationen und Termine unter http://www.aalto-musiktheater.de/vorschau/premieren/der-troubadour-il-trovatore.htm).

(Dieser Text ist zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen.)




Zumutung und Faszination – Frank Castorf inszeniert „Die Elenden“ nach Victor Hugo am Berliner Ensemble

Berlin ohne Castorf? Unvorstellbar. Wohl auch deshalb hat Oliver Reese, der Nachfolger von Claus Peymann am Berliner Ensemble, den Bühnen-Berserker eingeladen, seine Version von Victor Hugos monumentalem Roman „Les Misérables/Die Elenden“ auf die Bretter zu donnern.

Szene mit (v. li.) Valery Tscheplanowa, Aljoscha Stadelmann und Stefanie Reinsperger. (Foto: Matthias Horn)

Szene mit (v. li.) Valery Tscheplanowa, Aljoscha Stadelmann und Stefanie Reinsperger. (Foto: Matthias Horn)

Wenn Castorf sich die großen Romane der Weltliteratur vornimmt, sind das immer abgründige Theater-Odysseen. Die von politischen Debatten und philosophischen Exkursen geprägte, von banalen Blödeleien und hanebüchenen Slapstick-Nummern aufgelockerte Inszenierung dauert schockierende, den Körper folternde und den Geist in Geiselhaft nehmende sieben Stunden. Eine lange Reise in die Nacht, die ermüdet und langweilt, aber auch zutiefst aufwühlt und fasziniert.

Sich um Kopf und Kragen quasseln

Castorf animiert seine Schauspieler, alles zu riskieren, sich furios um Kopf und Kragen zu quasseln und sich die Seele aus dem Leibe zu spielen. Doch immer wieder gibt es seltsam lustlosen Dellen, in denen Castorf die Luft ausgeht und die Inszenierung in gähnende Leere abtaucht, durchhängt und man sich ein Ende dieser schauderhaft-schönen, grandios-irrlichternden Theater-Zumutung sehnlichst herbei wünscht.

Es geht um das soziale und psychologische Elend der von kapitalistischer Ausbeutung und staatlicher Willkür, Ungleichheit und Ungerechtigkeit gedemütigten Kreatur Mensch. Victor Hugo verarbeitet in „Die Elenden“ (1862) die Epoche der Restauration: Die hehren Ziele der Französischen Revolution sind längst mit Füßen getreten, überall Unterdrückung und Armut, der Staat reagiert auf jede Form des Widerstands mit unnachgiebiger Härte.

Der Verrat wirkt bis heute nach

Jean Valjean saß 19 Jahre im Knast, weil er ein Stück Brot gestohlen hat. Nun versucht er, sich Bildung anzueignen, ein guter Mensch zu werden. Unter falschem Namen wird er Bürgermeister einer Kleinstadt, kümmert sich um Cosette, die Tochter einer an Schwindsucht gestorbenen Prostituierten.

Doch weil Polizeiinspektor Javert ihn für einen notorischen Kriminellen hält, taucht Jean Valjean ab, baut sich in Paris mit Ziehtochter Cosette, die sich in einen jungen Brausekopf und Revolutionär verliebt, eine neue Existenz auf. Das Spiel um Macht und Elend, Revolte und Verrat kulminiert im Pariser Juniaufstand von 1832: Die Hoffnungen auf ein besseres Morgen werden blutig zertrampelt, die Weichen gestellt für kommendes Elend, das bis heute weiterwirkt.

Sperrmüll-Bühne rotiert durch Zeit und Raum

Castorf benutzt den Roman als Steinbruch, vermischt die Fundstücke mit brachialem Alltagsjargon und politischen Tiraden, konterkariert das Ganze mit „Drei traurige Tiger“, einem karibischen Sittengemälde von Guillermo Cabrera Infante, sowie mit Heiner Müllers „Der Auftrag“, einem Abgesang auf den im Verrat endenden Versuch, die Französische Revolution in die Karibik zu tragen.

Szene mit Sina Martens und Andreas Döhler. (Foto: Matthias Horn)

Szene mit Sina Martens und Andreas Döhler. (Foto: Matthias Horn)

Die von Aleksandar Denic gebaute Sperrmüll-Bühne rotiert sich durch Zeiten und Raum, ist Bordell und Polizeikäfig, zeigt armselige Hinterhöfe in Paris und verräucherte Bars in Havanna. Verdoppelt und verfremdet werden das grotesk überzeichnete Spiel und die absurd überkandidelte Rhetorik mit filmischen Elementen, Leinwand-Projektionen, musikalischen Verzerrungen, atonalen Einsprengseln.

Siebenstündiger Wahnsinn

Andreas Döhler (Jean Valjean) gibt den brachialen Wüterich mit Berliner Schnauze und romantischer Sehnsucht nach Gerechtigkeit, Valery Tscheplanowa schwankt (als Prostituierte Fantine und Tochter Cosette) zwischen zärtlich-zerbrechlich und derb-prollig. Stefanie Reinsperger und Aljoscha Stadelmann balancieren als geldgierig-amoralisches Ehepaar Thénardier auf dem schmalen Grat zwischen schnöder Witzelei und großem Drama. Wolfgang Michael zeichnet den fanatischen Javert als intellektuellen Miesepeter und schlampiges Genie.

Der betagte Jürgen Holtz sorgt als menschenfreundlicher Bischof für die leisen Töne: kauzige Monologe nahe am Verstummen. Die BE-Mimen spielen sich aufmüpfig frei, stopfen die Leerläufe mit herrlichen Solo-Auftritten, zeigen, wie frisch und frech, politisch unkorrekt und theatralisch innovativ ein siebenstündiger Castorf-Wahn immer noch sein kann.

Castorfs Lust, sich selbst, die Schauspieler und die Zuschauer bis zur Erschöpfung zu quälen, ist ungebrochen. Vielleicht können aber nur so Erkenntnisse entstehen und es kann das Theater nur so seine verlorene geglaubte Dringlichkeit beweisen.

Berliner Ensemble: „Les Misérables/Die Elenden“ (nach Victor Hugo). Nächste Vorstellungen am 15., 16., 28., 29. Dezember.

Karten unter 030/28 408 155




Knochenbrecher und geile Gans – Die im Revier gemachte Zeitschrift „Ruhrgebeef“ feiert das Fleisch mit jeder Faser

Lange keine Zeitschrift mehr gesehen, die mit so viel Wumm aufgetreten ist: „GANS. SCHÖN. LECKER.“ rufen einem die Versalien auf dem Cover der weihnachtlichen Ausgabe lauthals zu. Darüber prangt das Titelfoto einer kross gebratenen Gans in denkbar fleischiger Weise.

Titelseite der Zeitschrift "Ruhrgebeef", Ausgabe 5. (© Überblick Medien GmbH & Co. KG, Bochum)

Titelseite der Zeitschrift „Ruhrgebeef“, Ausgabe 5. (© Überblick Medien GmbH & Co. KG, Bochum)

Ja, entgegen allen Trends zum vegetarischen oder gar veganen Essen zelebriert diese Illustrierte das Fleisch mit virilem, manchmal geradezu beißwütigem Gestus. Die Postille erscheint im Revier und nennt sich wortspielerisch „Ruhrgebeef“.

Saftiger Braten in Nahaufnahmen

Im besagten Stil geht es auch im Heftinneren weiter beherzt zur Sache. Immer und immer wieder sieht man saftige Fleischstücke von jedwedem Getier, bevorzugt in Großaufnahmen, die jede Faser erkennen lassen und zuweilen beinahe schockierend wirken.

Ein Veganer dürfte beim bloßen Anblick schnell in Schnappatmung verfallen. Fehlen nur noch kernige Sprüche wie „Wir wollen sein ein einzig Volk von Metzgern“. Oder auch „Das Schlachten ist des Ruhris Lust“. Naja, jetzt geht meine Phantasie durch. Aber die haben angefangen!

Die „Ruhrgebeef“-Macher lassen es ja auch verbal nicht an Entschiedenheit fehlen. Die empfehlende Vorstellung einer Geflügelschere wird mit der nur bedingt empfindsamen Überschrift „Der Knochenbrecher“ versehen. Die Titelgeschichte über Gänse bekommt diese Zeile, abermals in brüllenden Großbuchstaben, diesmal mit frivolem Beiklang: „DIE GEILE GANS AUSM KRANZ“. Gemeint ist das Hattinger Landhaus-Restaurant „Kranz im Katzenstein“. Illustriert ist das wiederum sehr detailfreudig mit Fleisch-Nahansichten, die überhaupt das ganze Blatt dominierend durchziehen. Und nicht jedes dieser Bilder ist geeignet, den Appetit anzuregen.

Ratschläge vom „Fleischflüsterer“

Die nächsten Storys befassen sich mit den Gans-Zerlegungstipps von Christoph Grabowski, eines Fleisch-Sommeliers (es muss nicht immer „Metzger“ heißen) aus Castrop-Rauxel, der zuweilen auch bewundernd „Fleischflüsterer“ genannt wird. Unter dem Motto „Wild geworden“ geht’s ferner um Schwarz- und Rotwild. Einige Seiten zuvor musste „Beef Bacon“ gegen „Pork Bacon“, also Rind gegen Schwein, zum „Duell“ antreten. Großer Sport.

Außerdem wandelt man über etliche Seiten mit arg wiederholungsträchtiger Fotoauswahl auf den rauchigen Spuren des Bochumer Grill-Weltmeisters Oliver Sievers, der den Titel in Limerick (Irland) geholt hat und nach eigenem Bekunden daheim zehn verschiedene Grills hat. Der Mann verwendet übrigens auch schon mal Gemüse als Grillgut, was einem im Kontext von „Ruhrgebeef“ seltsam fremd vorkommt.

Besonderer Mix für die Männlichkeit

Ein Abstecher nach Dortmund verströmt einen speziellen Duft von Männlichkeit und (prothesenhafter?) Potenz. Folgender Themenmix (nein, nicht Thermomix, Sie haben falsch gelesen) wird da angerichtet: In einer „Tuningschmiede“, in der halt Autos tiefergelegt und aufgemotzt werden, gibt es auch knackige Burger. Fleisch und Motoren, das ist eine Kombi, wie sie die „Ruhrgebeef“-Macher Macher wohl besonders schätzen.

Direkt danach sind wir zu Gast bei einem Duisburger Wurstmetzger, außerdem bei einem Metzger aus Essen, es folgen u. a. ein Testbericht über Waygu-Rinder, um die inzwischen weit über Japan hinaus ein Kult entstanden sein soll, ein längeres Stück über den „Steak-Patriarchen“ Eugen Block sowie eine Hymne auf den „Schinkenhimmel“ am Essener Großmarkt. Vom münsterländischen Iberico-Schweinezüchter gar nicht erst zu reden.

Themenfeld wohl noch lange nicht abgegrast

Puh! Doch damit noch nicht genug. Ein Besuch im Grillzentrum der Dortmunder Firma S & E lässt erneut ahnen, dass (auch) auf diesem Felde redaktionelle Berichte und Werbung nicht immer in wünschenswerter Deutlichkeit getrennt werden (können). Mehrfach wird man Inserate von Gastro-Betrieben finden, denen auch ein Beitrag gewidmet ist.

Sodann wird noch dem Whisky als Fleischbegleiter gehuldigt (ein edles Destillat kommt gar aus dem Sauerland), und es werden einige der besten Pommesbuden im Ruhrgebiet genannt – Stichwort „Currywurst“. Keine ganz taufrische Idee. Unter dem sportiven Begriff „Trainingslager“ werden uns schließlich noch ein paar Rezepte schmackhaft gemacht.

Angesichts des einschlägigen Themenspektrums, das ja auch in dieser fünften Nummer schon wieder so manches abdeckt, fragt man sich, was die Redaktion des Überblick-Verlags (Bochum) eigentlich in den nächsten Ausgaben präsentieren will. Aber wir zweifeln natürlich nicht daran, dass das Team um Chefredakteur Tom Thelen auch weiterhin noch jede Menge Fleischiges aus der Region anrichten und servieren wird.

„Ruhrgebeef“ (hier: Ausgabe 5). Zeitschrift. 6,50 Euro.




Untiefen der Liebe – frank und frei dargeboten in Doris Knechts Roman „Alles über Beziehungen“

Ist dieser Viktor einfach sexsüchtig oder treibt er es nun mal gerne mit einer Vielzahl an Frauen, weil es seinem Naturell entspricht? Der Theatermann jedenfalls nimmt, wenn man so will, was ihm vor die Füße kommt und gelangt schließlich an einen Punkt, an dem er ein bisschen nachdenklich wird.

Auch wenn er den Gang zum Psychologen antritt, darf man sich die Hauptfigur in dem Buch „Alles über Beziehungen“ von Doris Knecht nicht als einen Typ vorstellen, der ständig an sich selbst zweifelt. Es sei denn, man versteht ein Leben, wie er es führt, als einen Ausdruck von der Suche nach dem eigenen Ich.

Zwei Ehen, fünf Kinder, etliche Liebschaften

Nun hat dieser Viktor, der kurz vor Vollendung seines 50. Lebensjahres steht, schon einiges geschafft. Dazu gehört nicht nur, dass er gerade Leiter eines Festivals wurde, dazu zählen auch zwei (gescheiterte) Ehen, eine aktuelle Beziehung mit Lebensgefährtin Magda und fünf Kinder, die aus der einen oder anderen Liaison hervorgegangen sind.

Eine stramme Leistung, mag man denken, wobei dem Nachwuchs in seinem Dasein wohl eher eine Nebenrolle zugedacht ist. Zumindest erfährt man weniger über die Sprösslinge, dafür aber mehr von ihm als Kunstschaffenden, der kaum eine Gelegenheit auslässt, sich mit einer Gespielin zu vergnügen.

Die in Wien lebende Autorin erzählt offen, gern auch frivol von den Frauengeschichten, die teils schon passé sind. Als im wahrsten Sinn umtriebiger Mensch ist die Hauptfigur ohnehin oft unterwegs, hat viele Termine, viele Kontakte. Da bleibt kaum noch Zeit für seine Partnerin Magda, die von all den amourösen Abenteuern Viktors nichts ahnt. Ab und an gönnt er sich allerdings auch Zeit mit ihr, doch Erfüllung scheint er nicht zu finden.

Was ist denn eigentlich Untreue?

Während die Autorin, die mit ihrer Erstveröffentlichung „Gruber geht“ (2011) für den Deutschen Buchpreis nominiert wurde, frank und frei über das Liebesleben, durchaus auch mal à trois, erzählt, spricht sie ebenso offen über die Fährnisse der Liebe. Sie erhebt dabei keineswegs den moralischen Zeigefinger, sondern schildert, wie sich Menschen gegenüber denen verhalten, die ihnen doch so unheimlich viel bedeuten. Aber ist ein Viktor denn untreu, wenn er doch eigentlich Magda nie verlassen würde? Oder müssten etwa die Frauen, die sich auf ihn freiwillig einlassen, ein schlechtes Gewissen gegenüber ihren Lebensgefährten haben? Sie gönnen sich doch nur mal was…

Es ist ein weites Feld, das Viktor auch mit seinem Psychologen bereden will. Ob das nun wirklich ein Gespräch ist, das die zwei da führen, mag dahingestellt sein. Auf jeden Fall lässt es der Theatermann an Wortschwall nicht fehlen und ist schließlich mit sich im Reinen. Inwieweit die Therapie nun tatsächlich etwas bewirkt oder nicht – er hat es zumindest versucht…

Doris Knecht: „Alles über Beziehungen“. Roman. Rowohlt Verlag, 288 Seiten, 22,95 €




Suche nach dem Gral – Peter Handke (75) und sein neues Werk „Die Obstdiebin oder Einfache Fahrt ins Landesinnere“

Gastautor Frank Dietschreit über das neue Buch von Peter Handke, der gestern (6. Dezember) 75 Jahre alt geworden ist:

Er weiß um „Die Angst des Tormanns beim Elfmeter“ und wie schwer „Das Gewicht der Welt“ wiegt. „Wunschloses Unglück“ hat er erfahren und „Die Stunde der wahren Empfindung“ durchlebt. Wenn er sich nicht gerade der „Publikumsbeschimpfung“ widmet und sich zum „Bewohner des Elfenbeinturms“ stilisiert, fließt ihm „Der kurze Brief zum langen Abschied“ aus der Feder.

Peter Handke, seit gestern 75 Jahre alt, hier eine Aufnahme von 2006. (GFDL Free Documentation License / Wikipedia - © Wild + Team Agentur UNI Salzburg - Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/)

Peter Handke, seit gestern 75 Jahre alt, hier eine Aufnahme von 2006. (GFDL Free Documentation License / Wikipedia – © Wild + Team Agentur UNI Salzburg – Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/)

Selbst wer nie einen Roman von Peter Handke gelesen oder eines seiner Theaterstück gesehen hat, kennt die zu poetischen Gemeinplätzen und literarischen Sprichwörtern gewordenen Titel seiner Werke.

Peter Handke, am 6. Dezember 1942 in Kärnten geboren, zählt, auch wenn er seit vielen Jahren in einem verwunschenen Haus in der Nähe von Paris lebt, zu den bekanntesten deutschsprachigen Schriftstellern der Gegenwart. Lange Zeit war er, der zusammen mit Filme-Macher Wim Wenders den „Himmel über Berlin“ engelsgleich erstrahlen ließ, so etwas wie der Lieblingsautor der linken Kultur-Schickeria.

Mit vielen Leuten hat er es sich verscherzt

Doch seit er eine „winterliche Reise“ auf den von blutigen Bürgerkriegen zerstörten Balkan unternahm, gar „Gerechtigkeit für Serbien“ forderte und beim Begräbnis von Massenmörder Milosevic als Grabredner auftrat, hat Handke, der gern gegen den politischen Mainstream anschwimmt und auf politische Korrektheit pfeift, es sich mit den meisten ehemaligen Fans und Freunden gründlich verscherzt. Nur mit spitzen Fingern werden seine Bücher noch zur Kenntnis genommen.

Aber das dürfte dem fröhlich in seiner weltabgewandten „Niemandsbucht“ hockenden Handke ziemlich schnuppe sein, hat er seinen Kritikern und vielen Kollegen doch immer schon eine notorische „Beschreibungs-Impotenz“ attestiert und ihre Literatur als „idiotisch“ und „läppisch“ beschimpft. Dass Handke sich nun zu seinem 75. Geburtstag mit einem Buch beschenkt, das vollgepackt ist mit literarischen Anspielungen und poetischen Fantasien, die nur er selbst wirklich verstehen und genießen kann, liegt auf der Hand.

Märchen, Meditation, Gebet und Gesang

„Die Obstdiebin oder Einfache Fahrt ins Landesinnere“ trägt Züge eines Alterswerks und wirkt, als wolle Handke seinen Nachlass sichten. Die zwischen Märchen und Meditation, Gebet und Gesang angesiedelte Geschichte beginnt „an einem jener Mittsommertage, da man beim Barfußgehen im Gras zum ersten Mal im Jahr von einer Biene gestochen wird.“

Der Erzähler, Handke selbst, bricht von Chaville bei Paris auf zu einer dreitägigen Reise ins Umland, in die Picardie, die Kornkammer Frankreichs. Doch bis er sein Haus aufgeräumt, das Gartentor verschlossen und sein Bahnticket gekauft hat, sind schon fast 100 Seiten vergangen. Alles was er erlebt, sieht und denkt, muss noch schnell aufs Papier.

Und kaum sitzt er im Zug, glaubt er sie unter den Mitreisenden zu erkennen, Alexia, die Obstdiebin, auf deren Spuren er sich begeben, die er beobachten und begleiten möchte auf ihrem Weg zu einem Familientreffen. Der mit dem Handke-Kosmos vertraute Leser kennt sie aus dem Theaterstück „Die Unschuldigen, ich und die Unbekannte am Rand der Landstraße“: Dort huschte sie einmal als „Parzivals Schwester“ und „im Gewand einer Obstdiebin“ durch die an Wolfram von Eschenbach erinnernde Szenerie.

Am Wegesrand alles Vorhandene aufsammeln

Wolframs Geschichte von der Gralssuche spielt auch jetzt wieder eine mit kulturgeschichtlichen Querweisen verkomplizierte Rolle und ergibt reichlich Stoff für viele neunmalkluge Seminararbeiten. Schauen wir lieber auf die Diebin, die alles aufsammelt, was sie am Wegesrand so findet, Obst, Blumen, Menschen und Gedanken. Kaum hält der Zug auf freier Strecke, eilt sie über die Stoppelfelder davon. Der Erzähler hinterher. Er hört jetzt auf, von sich und seinen Befindlichkeiten zu sprechen, sondern denkt sich ganz in die junge Frau hinein und beschreibt nur, was sie sieht und fühlt.

Mal übernachtet sie in einer aus der Zeit gefallenen trostlosen Herberge, mal gabelt sie einen melancholischen Jungen auf und rettet ihn vorm Selbstmord. Mal sitzt sie am Rande eines Dorfplatzes und beobachtet das Treiben, als wären wir in Handkes Schauspiel über „Die Stunde, da wir nichts voneinander wussten“. Sie ist eine Wahlverwandte von Handkes Tochter Léocadie, die einmal in der Erzählung von der „morawischen Nacht“ auftrat und nun für den Rapper Eminem schwärmt. Überhaupt spielt Handke auf der Klaviatur der Pop-Musik, zitiert, wie in seinem „Versuch über die Jukebox“, die Beatles herbei, Janis Joplin und Johnny Cash.

„Der Schuh im Straßengraben war ein Schuh im Straßengraben“

Die Geschichte der streunenden Obstdiebin, die vielleicht nicht den Gral, aber dafür in tiefster Provinz Vater, Mutter und Bruder wiederfindet, kennt keine Begründung und ihre Figuren haben keine Psychologie. Auf die Frage „Warum?“ antwortet der Erzähler: „Kein Warum“. Für die Obstdiebin wie für Handke gilt: „Alles war, was es war. Der Schuh im Straßengraben war ein Schuh im Straßengraben. Und das jetzt ist das, und das jetzt das, und so fort.“

Eigentlich unterscheidet sich der von unzähligen Frage- und Ausrufezeichen, Gedankenstrichen und Reflexionen unterbrochene Erzählstrom kaum von all seinen Vorgängern. Doch dann schwappt der Terror, die allgegenwärtige Bedrohung und Verunsicherung immer mal wieder ans Ufer der Realität. Nachrichten flackern durchs Bild, bewaffnete Polizisten sichern das Terrain, verschleierte Frauen verbreiten Furcht.

Nch drei Tagen Fahrt ins Landesinnere ist alles erlebt und alles gesagt, ist „jede Stunde dramatisch gewesen, auch wenn sich nichts ereignete.“ Jetzt aber schnell zurück nach Hause, in die „Niemandsbucht“. Oder doch lieber woandershin, gar etwas Neues wagen?

Peter Handke: „Die Obstdiebin oder Einfache Fahrt ins Landesinnere.“ Suhrkamp, Berlin 2017. 560 Seiten, 34 Euro.

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Stichworte zur Vita:

Geboren wird Peter Handke am 6.12.1942 in Griffen/Kärnten. Einen Teil seiner Kindheit verbringt er im zerbombten Berlin.

1966 wird Handke mit seinem Roman „Die Hornissen“ und dem von Claus Peymann uraufgeführten Stück „Publikumsbeschimpfung“ schlagartig bekannt. Im selben Jahr beleidigt er bei einer Tagung der Gruppe 47 die anwesenden Kritiker und Kollegen, polemisiert gegen politisch engagierte Literatur und erklärt sich zum Bewohner des Elfenbeinturms.

Mehrfach arbeitet er mit Filmemacher Wim Wenders zusammen („Die Angst des Tormanns bei  Elfmeter“, „Der Himmel über Berlin“, „Die schönen Tage von Aranjuez“).

Als er 1996 „Gerechtigkeit für Serbien“ fordert, fällt er bei vielen Kritikern und Kollegen in Ungnade.

Zweimal ist Handke mit Schauspielerinnen verheiratet, zuerst mit Libgart Schwarz, dann mit Sophie Semin.

Seit 1990 wohnt Handke in einem Haus in Chaville bei Paris und unternimmt von seiner „Niemandsbucht“ aus literarische Wanderungen durch europäische Landschaften und Kriegsgebiete.




Soziale Miniaturen (18): Herrscher im Supermarkt

Nikolaustag. Im Supermarkt sind heute alle Mitarbeiter gehalten, Nikolausmützen zu tragen. Man fragt sich, was geschieht, wenn jemand dieser Anweisung nicht Folge leistet.

Über das Gehabe mancher Machthaber können diese Nikoläuse nur lächeln. (Foto: Bernd Berke)

Über das Gehabe mancher Chefs können diese Nikoläuse nur milde lächeln. (Foto: BB)

Möglich, dass manche bei diesem Mummenschanz gern oder wenigstens achselzuckend mitspielen. Es kann aber auch sein, dass es einigen unangenehm ist oder dass es gar auf eine kleine Demütigung hinausläuft. Es wirkt ja auf den ersten Blick nicht gerade souverän, wenn jemand die tagtägliche Arbeit vor aller Kundschaft mit einer solchen Mütze zu verrichten hat. Müsste man darauf nicht Rücksicht nehmen?

Jetzt aber aufgemerkt! Auf einmal ist zwischen den Regalen eine weithin dröhnende Stimme zu vernehmen, die allseits einen guten Tag wünscht. Sie gehört einem Mann, der buchstäblich großspurig daherkommt. Sogleich bemerken auch Kunden, die ihn nicht kennen: Das ist der Chef. Das muss er sein. Und er ist es.

Eine Assistentin (?) folgt ihm diensteifrig auf Schritt und Tritt. Das Ganze wirkt wie ein Kontrollgang, der Konsequenzen haben könnte.

Sein “Guten Tag!” klingt zunächst einmal leutselig, doch kann man sich sehr gut vorstellen, wie diese offenbar befehlsgewohnte Stimme im Nu ins Bedrohliche umschlagen kann. Denn der Mann ist in seinem Supermarkt-Reich ein Herrscher, wie er im Buche steht. Auf diesem Level kann das Gehabe eines Machtmenschen freilich leicht ins Lächerliche kippen.

Von einer Nachbarin hatte ich einige Wochen zuvor dies gehört: Sie habe sich im besagten Supermarkt über angegammeltes Bio-Hackfleisch beschweren wollen, und zwar beim Geschäftsführer. Da kam also der Herr gravitätisch daher, stellte sich namentlich vor, bewegte seine Hand im großen Kreis und teilte erst einmal mit, dass ihm “dies alles hier” gehöre. Der Nachbarin hat das nicht übermäßig imponiert. Ihre Antwort: “Das mag ja sein, aber mir geht es jetzt um dieses Hackfleisch…” Gut gegeben.

Auf jeder einzelnen Plastiktüte seiner Supermärkte (jawoll, er hat in mehreren Läden die Hoheit) lässt sich der Machthaber fotografisch als alles überragender, behütender Patriarch abbilden. Er hält ein Herz in den Händen, und in diesem Herzen drängeln sich wie auf einem Wimmelbild nahezu 200 seiner Angestellten. Ich werde mich hüten, die Illustration hier zu verwenden und bleibe lieber unverfänglich.

Warum aber hatte ich vorhin das dumpfe Gefühl, dass sich bei seinem leibhaftigen Erscheinen diese oder jene Mitarbeiterin ein klein wenig geduckt hat? Es war sicherlich nur ein Hirngespinst. Vergesst es.




Der Nikolaus und die Phantasie, die wir so dringend brauchen

Gastautor Heinrich Peuckmann über den Nikolaus und seine bleibende Bedeutung:

In letzten Jahr habe ich nach vielen Jahren Pause anlässlich des Besuches meiner Nichte und ihrer beiden kleinen Töchter das Nikolauskostüm aus dem Schrank geholt. Während meine Frau und einer meiner Söhne unsere Gäste im Wohnzimmer begrüßten, hielt ich mich versteckt.

Nicht der Verfasser dieses Beitrags, wohl aber der Blogbetreiber Bernd Berke in früheren Jahren mit dem Nikolaus. (Foto: Berke / Privat)

Besuch vom Nikolaus vor etwas längerer Zeit. (Foto: B. Berke / Privat)

In einem passenden Moment schlich ich mich in den Keller, zog mir das Kostüm an, schaute in einen Spiegel und erkannte mich selbst nicht mehr. Kein Zweifel, das war er, der mir da im Spiegelbild entgegen lächelte, der Nikolaus mit seiner Knollennase. Über die Terrasse ging ich offen auf unser Haus zu, die beiden Mädchen entdeckten mich sofort und kamen auf die Tür zugelaufen.

Ein skeptischer Grundschüler

Die Kleinere hat mich zwar sofort erkannt, aber das machte nichts. Bevor der Nikolaus die Geschenke aus seinem Sack holte, haben beide brav ein Gedicht aufgesagt und natürlich nicht mit der Rute Bekanntschaft gemacht. Wo kämen wir da hin? Die bekam sanft einer meiner Söhne zu spüren, weil der seinen Vater im verflossenen Jahr geärgert hatte. Der Nikolaus hatte irgendwie davon erfahren.

Nachher, um die Zweifel der Kinder zu mehren, ging der Nikolaus für alle sichtbar an unserem Haus vorbei zur Nachbarstraße, drehte sich noch ein paarmal um und winkte ihnen zum Abschied zu. Was der Nikolaus nicht wusste, im Nachbarhaus packten gerade zwei Kinder ihre Stiefel aus, in die der Nikolaus etwas hineingelegt hatte, und der Größere, ein Grundschuljunge, erklärte selbstbewusst, den Nikolaus gäbe es gar nicht, es sei seine Oma gewesen, die die Stiefel gefüllt hätte. Hatte sie auch und wusste deshalb keine Antwort. Aber dann schaute sie zufällig aus dem Fenster und rief: „Aber da ist er ja, der Nikolaus. Kommt schnell, dann könnt ihr ihn noch sehen.“

Die Welt mit anderen Augen sehen

Die Kinder stürmten zum Fenster und tatsächlich, da stand ein kleiner dicker Nikolaus mit Knollennase vor ihnen auf der Straße. Und noch besser, er winkte ihnen sogar zu, jedenfalls glaubten sie das. Selbst der Skeptiker, der Grundschuljunge, staunte mit offenem Mund und winkte, zur Freude seiner Oma, zaghaft zurück.

Kindheit braucht Geheimnisse, an denen sich Phantasie entzündet. Gerade der uralte Mythos liefert sie und gibt Anstoß, die Welt anders zu sehen, als sie gerade erscheint. Kinder nehmen das mit ins Leben, haben Freude an weiteren Geheimnissen und empfinden es als Anstoß, die Welt mit Phantasie immer neu zu sehen.

Und nebenbei schult es die Sozialkompetenz. So können die Kinder sich besser in die Lage ihres Nächsten versetzen, können Probleme, Ängste und Freuden nachempfinden und rücksichtsvoll darauf eingehen. Eine Fähigkeit, die sie mitnehmen ins Erwachsenenleben und dann vielleicht noch mehr benötigen.

Wider das zweckrationalistische Menschenbild

Wie traurig, dass pseudoaufklärerische Eltern  diese Gelegenheit nicht nur verstreichen lassen, sondern ihren Kindern auch noch vermeintlich rationale Erklärungen geben, warum das alles Humbug sei. Sie merken nicht, wie sie dabei einem Menschenbild Vorschub leisten, das sowieso schon den größten Teil unseres Lebens beherrscht. Einem Menschenbild der Zweckmäßigkeit, der bloßen Tätigkeit zur Gewinnmaximierung, des klaren Kalküls. Ein Weltbild insgesamt, das alles unter den Vorbehalt der Berechnung und Berechenbarkeit stellt.

Phantasie, und das heißt allemal, sich eine Welt vorstellen zu können, die anders ist als jene, die uns gefangen nehmen will und die, wer weiß, vielleicht sogar Wirklichkeit werden könnte, stört da nur. Sie ist, man muss das deutlich sagen, systemkritisch. Nackte Fakten, angeblich unumstößlich, sollen unser Denken prägen und jenen, die davon bestens profitieren, ihre Gewinne sichern und ihre Gier stillen.

Börsenmakler missbrauchen den Begriff

Das Wort Phantasie taugt da nur noch in der Verwendung der Börsenmakler. Diese oder jene Aktie, verkündigten sie lauthals, lasse noch „Phantasie“ nach oben offen und meinen damit nichts anderes als weiteren Gewinn und Abzocke. Das arme Wort, angetan, sich neue, ganz andere Welten vorzustellen, kann sich gegen den Missbrauch nicht wehren. Unbarmherzig wird es in jene Welt eingebaut, gegen die es eigentlich steht. Ihm geht es da nicht besser als dem Nikolaus, der nicht als Beglücker der Kinder für ein barmherziges Leben stehen soll, sondern der im Kaufhaus Anreiz für Konsum schaffen muss, der zum Weihnachtsmann mutiert und ganz Konsumgeist wird.

Geheimnisse erleben, Phantasie entwickeln, wie wichtig in allen Zeiten. Und wie schnöde und gedankenlos kaputt gemacht für ein Weltbild, das viele Erwachsene nicht einmal durchschauen. Wie denn auch? Wie sollten sie genug Phantasie entwickeln, sich die Welt anders vorzustellen als sie gerade ist, wenn sie schon gedankenlos jene ihrer Kinder unterdrücken.

Unser Nikolaus war jedenfalls zufrieden mit seinem Auftritt. Er hat keine Kinder geängstigt, wie das oft als Argument gegen den Mythos verwendet wird, sondern er hat ihre Vorstellungen von Leben erweitert und Zweifel an der rein rationalen Zweckmäßigkeit gestreut. Unser Nikolaus soll, als er heimlich in den Keller zurückkehrte, laut gelacht haben. Aber ob das stimmt, muss man ihn am besten selber fragen.




Irrwitz grinst aus jeder Zeile – Schelmische Kurztexte von Guido Rohm liegen „An und Pfirsich“ als Buch vor

Dies vorausgeschickt: Den Autor Guido Rohm aus Fulda kenne ich durch Facebook, ich bin dort virtuell mit ihm befreundet. Aha, dann ist dies also eine abgekartete Gefälligkeits-Besprechung?! Nicht ganz.

Guido Rohm ist einer, auf dessen schelmisches Schaffen in gewisser Weise Brechts Satz zutrifft: „In mir habt ihr einen, auf den könnt ihr nicht bauen“. Bei ihm kann man eigentlich keine einzige Zeile für bare Münze nehmen, so unablässig beliebt er alles in vielen Windungen zu verdrehen und quasi zuschanden zu scherzen. Aber hallo!

Sinnzerstäubende Dramolette

Mit dem Band „An und Pfirsich“ (der Titel hätte ein originelleres Sprachspiel verdient) hat er jetzt „Texte für alle 117 Tage des Jahres“ vorlegt. Jaja, so isser. Selbst Vita oder Klappentext („Guido Rohm, der Erfinder des gleichnamigen Küchengeräts“) sind allemal lustig erstunken und erlogen.

Der satirisch gestählte „Eulenspiegel“-Mitarbeiter Rohm hat’s hier vor allem mit Dramoletten, also kurzen Dialogfolgen, bei denen kein Wort auf dem anderen bleibt und jeder landesübliche Sinn zerstäubt. In welcher Tradition er damit stehen könnte (vornehmlich Dada? Karl Valentin? Loriot? Gernhardt & Kumpanen? Monty Python?), wollen wir hier nicht weiter erörtern. Sucht euch was aus. Dies und das passt vielleicht. Doch manchmal ist Guido Rohm einfach nur albern. Auch gut.

Dialoge schrauben sich ins Leere

Da liest man abstruse Beziehungs- und Trennungs-„Gespräche“, falls man die stets ins Leere drehende Nicht-Kommunikation denn so nennen mag. Da gibt’s eine TV-Sendung, in der lediglich jemand begrüßt wird (nach dem „Guten Tag“ ist auch schon Schluss). Ganoven treffen irrwitzig unlogische Absprachen oder räumen lieber die Einbruchswohnung nach ihrem erlesenen Geschmack um, statt dort etwas zu klauen.

Ein unverschämter Schnorrer luchst den Leuten teure Fahrkarten ab, ein Schriftsteller verfasst nur Postkarten und braucht Tage für einen Satz. Überhaupt geht es auf dem Buchmarkt drunter und drüber, ein fiktiver Verlag druckt beispielsweise nur Vorschauen (rund 1700 an der Zahl) – und keine Bücher. Derweil sind Beerdigungen oftmals für hämisches Gelächter gut, über die Toten nur Fieses… Und was Kommissar Tourette (nomen est omen) so von sich gibt, wollen wir hier lieber nicht zitieren.

Abwärts mit Demotivationstrainerin Birgit

Manches ergibt sich, weil Sachverhalte allzu wörtlich genommen werden, so etwa, wenn jemand lauter Hamster kauft, in der Annahme, er habe damit die Hamsterkäufe erledigt, von denen alle sprechen. Oder: Das Restaurant „Napoli“ liefert den Tisch, den man „bestellt“ hat, schnurstracks nach Hause. Missverständnisse, wohin man auch blickt. Die thematischen Vorgaben hören sich vielleicht simpel an, aber auf die „verrückten“ Dialoge, die daraus erwachsen, muss man erst einmal kommen.

Tja, und dann wäre da noch die „Demotivationstrainerin Birgit“, eine herbe Antwort auf alle bodenlos optimistischen Coaches dieser Welt. Sie bringt einen gezielt ‚runter, predigt „pure Lebensunlust“ und hat auch sonst feste Prinzipien: „Sag dir jeden Tag: Ich schaffe das nicht.“ Oder: „Es wird alles noch viel schlimmer.“ Wer danach keine nachhaltig schlechte Laune hat, dem ist wirklich nicht zu helfen.

Die Lektüre klug dosieren

Kurz und gut: Alles, aber auch wirklich alles wird auf irrlichternde Weise ad absurdum geführt, jede Alltags-Situation verbal verzwirbelt. Bei Facebook, wo Guido Rohm seine sprühenden Einfälle tagtäglich ausprobiert, ist das in munteren Perspektivenwechseln immer wieder erheiternd und zuweilen erhellend. Auf Buchlänge kann es zwischendurch stellenweise schon mal genug sein. Wer will, mag den Band also nach und nach in wohldosierten Portionen lesen, um das Vergnügen nicht zu schmälern.

Ach so, ja: Gar hübsch wäre es übrigens gewesen, den einen oder anderen Text noch etwas sorgfältiger zu redigieren. (Rezensent geht mosernd, aber freundlich winkend ab).

Guido Rohm: „An und Pfirsich. Texte für alle 117 Tage des Jahres“. Taschenbuch im Schrägverlag, 86949 Windach. 200 Seiten, 11,77 Euro. (Vertrieb ohne ISBN über den Verlagsshop).




Abstraktion macht den Kopf frei – Carmen Herrera im Düsseldorfer K20

Die Lady ist inzwischen 102 Jahre alt. Sie lebt immer noch in ihrem Wohnatelier in Manhattan und arbeitet täglich an ihrer Kunst – wenn auch mit Hilfe eines Assistenten, der für sie Linien abklebt und Farben mischt.

Porträt Carmen Herrera, um 1961. (© Fotografie von Ralph Llerena, George Perruc Staff Photographers - Foto: Kunstsammlung NRW)

Porträt Carmen Herrera, um 1961. (© Fotografie von Ralph Llerena, George Perruc Staff Photographers – Foto: Kunstsammlung NRW)

Carmen Herrera, 1915 auf Kuba geborene Malerin mit amerikanischem Pass, hat verdammt lange auf ihre Anerkennung warten müssen. Die Boys ihrer Generation, von Jackson Pollock bis Ellsworth Kelly, waren einfach zu dominant. Doch sie hat alle überlebt. Und jetzt ist ihre Zeit. Das coole New Yorker Whitney Museum hat Carmen Herrera 2016 eine Ausstellung gewidmet, die nun, repräsentativ erweitert, im Düsseldorfer K20 zu sehen ist: „Lines of Sight“.

Man wird sich dran gewöhnen müssen, dass Susanne Gaensheimer, die Biennale-erprobte neue Direktorin der Kunstsammlung NRW, unsere Sehgewohnheiten auf die Probe stellt. Ihr Ehrgeiz gilt nicht den geliebten Heiligen der klassischen Moderne, Picasso, Klee, Max Ernst, Modigliani, mit denen Werner Schmalenbach das Haus groß machte. Sie will den Blick des Publikums öffnen – zum Beispiel für Entdeckungen wie Carmen Herrera, deren Namen bisher nur Eingeweihte kennen. Dabei hat die Kubanerin, wie die klare Schau im Erdgeschoss zeigt, durchaus ihren Rang in der Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts.

Im Salon der Neuen Realitäten

Carmen Herrera war das siebte Kind eines angesehenen Journalistenpaares in Havanna, malt schon früh und besucht Kunstkurse. Amerikanische Touristen kaufen ihr 1935 ein paar Landschaften in Öl ab – aber das Gegenständliche wird sie später nicht mehr interessieren. Auf der Suche nach der modernen Form beginnt sie 1938 in Havanna ein Architekturstudium, das sie wegen politischer Unruhen allerdings bald abbricht.

1939 heiratet die madonnenhafte Schönheit ihren Verehrer Jesse Loewental, einen jüdischen Amerikaner deutscher Herkunft, und zieht mit ihm nach New York. Bis zu seinem Tod im Jahr 2000 werden sie zusammen bleiben – unzertrennlich. Loewental ist Lehrer, unterstützt seine Frau in ihren Ambitionen und baut nebenher die Rahmen für ihre Bilder.

Ansicht der Herrera-Ausstellung im Düsseldorfer K 20. (Foto: Achim Kukulies / © Carmen Herrera / Kunstsammlung NRW)

Ansicht aus der Herrera-Ausstellung im Düsseldorfer K 20. (Foto: Achim Kukulies / © Carmen Herrera / Kunstsammlung NRW)

Er ist auch an ihrer Seite, als Carmen 1948 für einige Jahre nach Paris gehen will. In New York fühlt sie sich fehl am Platze. Die männliche Avantgarde erregt Aufsehen mit dem Abstrakten Expressionismus, und sie kann kaum Englisch. Französisch hingegen spricht sie fließend, und Paris kennt sie von früheren Aufenthalten. Das alte Europa nimmt sie freundlich auf, sie wird Mitglied der Gruppe „Salon des Réalités Nouvelles“ (Salon der Neuen Realitäten), lernt viele Künstlerkollegen kennen und experimentiert mit der Abstraktion.

Die Eroberung der Luft

Noch mag sie das Raue, Ungestüme, mischt Sand in ihre Acrylfarben, malt auf Sackleinen. Aus der freien Hand gesetzte geometrische Formen zeigen Spuren der Leidenschaft, die „Conquête de l’air“, die „Eroberung der Luft“ von 1950 ist sogar eine wilde, informelle Zeichnung.

Wie Kuratorin Susanne Meyer-Büser glaubt, befreit sich Carmen Herrera mit diesen Gesten endgültig von den kubanischen Farben und Formen, von der Vergangenheit. Nach Besuchen in der Heimat beklagt sie sich über Hitze und Moskitos, die Mutter geht ihr auf die Nerven. Nach deren Tod 1963 wird Carmen Herrera nie wieder nach Kuba zurückkehren. Sie zieht einen Schlussstrich.

Carmen Herrera: "Verticals", 1952, Acryl auf Leinwand. (Privatsammlung Portugal / © Carmen Herrera)

Carmen Herrera: „Verticals“, 1952, Acryl auf Leinwand. (Privatsammlung Portugal / © Carmen Herrera)

Ohne die hitzige Sinnlichkeit der Karibik kann sich Carmen Herrera viel besser auf eine Kunst konzentrieren, die nichts Erzählerisches mehr hat, die ganz streng bei sich bleibt. In einer ganzen Reihe von Bildern arbeitet sie nur mit Schwarz und Weiß, setzt Streifen so raffiniert gegeneinander, dass ein optisches Flirren entsteht – wie später auf den Bildern von Victor Vasarely. Um genauere Effekte zu erzielen, arbeitet sie fortan mit Klebebändern wie ein sorgfältiger Handwerker.

Die Kraft von Weiß und Grün

1954 kann sich Jesse Loewental nicht länger vom Schuldienst befreien lassen, das Paar kehrt zurück nach New York. Dort, im Zentrum der gespritzten und gekleckerten Ausdruckskunst, entsteht Carmen Herreras formal sparsamste Serie: „Blanco y Verde“, Weiß und Grün. Schmale Keile erscheinen da auf leerer Fläche und markieren mit subtilen, aber kraftvollen Effekten die Grenzen der freien Malerei. Und während die Pop-Art in den 1960er- und 70er-Jahren ihre auffälligen Späße macht und Warhols Factory die Tabus bricht, bleibt Carmen Herrera der Reduktion treu.

Carmen Herrera: "Verde de Noche", 2017, Acryl auf Leinwand. (Courtesy Lisson Gallery / © Carmen Herrera)

Carmen Herrera: „Verde de Noche“ („Grün der Nacht“), 2017, Acryl auf Leinwand. (Courtesy Lisson Gallery / © Carmen Herrera)

Schlicht wie gute Architektur ist ihre Arbeit. Als Hommage an die Baukunst kann man ihre „Estructuras“ sehen, Wand- und Bodenobjekte aus je zwei, in klaren Farben bemalten Sperrholzformen, die in reizvoller Spannung zueinander arrangiert sind. Carmen Herrera mit ihrem Werk ist, wie die Ausstellung beweist, den Heroen der Minimal Art wie Donald Judd oder Sol LeWitt durchaus ebenbürtig. Aber trotz aller Konsequenz wird die Meisterin in ihrer Wahlheimat USA lange nur im Rahmen von „Latin Art“ (lateinamerikanischer Kunst) oder Frauenforen wahrgenommen.

Symmetrie kann sexy sein

Doch Carmen Herrera gibt nie auf. 1975 komponiert sie schwarze Felder und leuchtende Farben zu kraftvollen „Wochentagen“ („Days of the Week“). Unbeirrbarkeit ist ein wichtiger Teil der künstlerischen Haltung.

Und siehe da: Ende der 1980er-Jahre bezeichnet der einflussreiche Kritiker Stephen Westphall in der Zeitschrift „Art in America“ ihr Werk als „a particularly sexy sort of geometric symmetry“, eine besonders scharfe Art der geometrischen Symmetrie. Stimmt: Man ist angezogen von diesen Bildern, die das Erdgeschoss der Kunstsammlung beherrschen, als hätten sie schon immer dazugehört.

Prof. Susanne Gaensheimer, Direktorin der Kunstsammlung NRW. (Foto: Andreas Endermann)

Prof. Susanne Gaensheimer, Direktorin der Kunstsammlung NRW. (Foto: Andreas Endermann)

In der Tat will Susanne Gaensheimer ein älteres sowie ein aktuelles Werk von Carmen Herrera für die Sammlung erwerben. Eines wie das klare „Grün der Nacht“ („Verde de Noche“) von 2011. Man wird sehen. Obwohl die Künstlerin erst mit über 80 Jahren nennenswerte Verkäufe erzielt hat, sind die Preise jetzt bereits über die Millionengrenze gestiegen. Am Ende wird es Carmen Herrera noch schaffen, neben den Boys zur Klassikerin der Moderne zu werden. Passt doch zu K20.

„Carmen Herrera – Lines of Sight“. Bis 8. April in der Kunstsammlung NRW, K20, Düsseldorf, Grabbeplatz. Geöffnet Di.-Fr. 10 bis 18 Uhr, Sa./So. 11 bis 18 Uhr. Eintritt: 12 Euro. Katalog 36 Euro. www.kunstsammlung.de

Parallel zeigt die Choreographin Maria Hassabi vom 9. Dezember bis 21. Januar in der Grabbehalle die Performance „Staging: Solo #2“. Wechselnde Tänzer werden sich dabei minimal bewegen und „skulpturale Körperlichkeit“ präsentieren. Der Eintritt zu der Performance ist frei.




Operetten-Passagen (7): Bei Paul Abrahams „Ball im Savoy“ in Koblenz tanzt der braune Schatten mit

Szene aus "Ball im Savoy" von Paul Abraham am Theater Koblenz. Foto: Matthias Baus

Szene aus „Ball im Savoy“ von Paul Abraham am Theater Koblenz. Foto: Matthias Baus

Berlin, Februar 1933: Drinnen im Großen Schauspielhaus bejubelt die Menge der Zuschauer die neueste Operette „Ball im Savoy“. Draußen am Bühneneingang steht ihr Autor, Paul Abraham. Nazi-Schläger bedrohen den jüdischen Komponisten und hindern ihn mit Gewalt, das Theater zu betreten. Ein paar Tage später lässt Abraham den Ort seiner Triumphe hinter sich, flieht aus Berlin. „Die werden doch keinen Krieg gegen die Operette führen?“, soll er noch kurz zuvor ungläubig gefragt haben. Oh doch, haben sie geführt, und zwar mit unheimlicher Konsequenz.

Koblenz, November 2017: In der Villa des Marquis Aristide de Faublas tanzen eine Menge Gäste in den Morgen, an dem das junge Paar soeben ein pikantes amouröses Problem gelöst hat. Zunächst kaum bemerkt mischen sich zwei Männer im Schwarz der SS unter die Nachtschwärmer, zwei weitere schieben sich nach vorne.

Die Uniformierten beginnen im Takt der Musik zu marschieren. Hinter ihnen formieren sich die Feiernden zur Front. Das Licht wird fahl, Abrahams schmissige Klänge mutieren, ohne sich zu verändern, zum bedrohlichen Kampflied. Der Gleichschritt vertreibt das Paar: Mit seinen von den Flitterwochen noch nicht ausgepackten Koffern eilt es hinaus.

Inszenierung zeigt Brisanz der Zeit

Mit dieser Szene hat Regisseur Ansgar Weigner in Paul Abrahams „Ball im Savoy“ am Theater Koblenz die ganze Brisanz der Zeit des „tragischen Königs der Operette“ – wie ihn sein Biograf Klaus Waller nannte – eingefangen. Abraham versucht 1933 in Wien und Budapest, weiterzumachen, als habe sich in Europa nichts verändert, rettet sich 1939 in die USA, verkraftet den tiefen Fall und die Erfolglosigkeit nicht und kehrt psychisch zerrüttet erst 1956 nach Deutschland zurück.

Seine Musik wird nach den Krieg verharmlost und ironiefrei für den Heile-Welt-Kitsch verwendet, mit dem die „gesunde“ Operette gemäß der Kulturideologie der Nazis das Volk unterhalten sollte. Weigner macht deutlich, wie schnell der Vulkan ausgebrochen ist, auf dem man frivol und scheinbar unberührt von Politik getanzt hat.

Schon vor dem Finale des Operettenabends deutet sich an, dass der nächtliche Tanz im noblen Hotel nicht so harmlos unbeschwert ist, wie der temporeiche Schwank um die Ehe des Ex-Lebemanns und seiner zunächst arglosen Frau vermuten ließe. Da schleichen Gestalten durch das pragmatisch aus ein paar Hängern gebaute Bühnenbild von Kristopher Kempf und haben Augen und Ohren weit offen. Da wird am Rande ein Transvestit verhaftet und ein Kellner zusammengeschlagen.

Schon zu Beginn mischt sich ein Brauner unter die Gäste, die das Paar bei seiner Rückkehr aus dem Hochzeitsurlaub begrüßen. Aber Weigner lässt die Gelegenheit ungenutzt, an dieser Stelle dem bewusst zuckersüßen Postkarten-Kitsch der Introduktion schon den Schatten der untergründigen Gefahr an die Seite zu stellen. Das holde Venezia, das Abraham mit allen bewusst eingesetzten Klischees ausstaffiert und auf das Kempf eine herzförmige Reiseroute projiziert, bleibt zunächst unbehelligt.

Der junge Paul Abraham auf einer historischen Fotografie.

Der junge Paul Abraham auf einer historischen Fotografie.

Dann widmet sich Weigner dem ganzen kosmopolitischen Personal von Abrahams Operettenwelt: Dem französischen Roué Aristide, dem Michael Siemon seine angenehm entspannte und klangvolle Stimme leiht und der nur zu dankbar für jede Ausrede ist, um sein altes Leben wenigstens für eine Nacht weiterzuführen. Dem beflissenen Kammerdiener Archibald, den Sebastian Haake nicht an die ausgeleierten Klischees des alten Komödianten verrät. Der Madeleine von Désirée Brodka, die sich bei ihrem sensibel vorgetragenen Song „Was hat eine Frau von der Treue“ wie geistesabwesend ein Männer-Sakko überzieht, die aber im dritten Akt ihre Enttäuschung über den Treuebruch ihres Mannes etwa zu melodramatisch zelebriert.

Ihren großen Auftritt hat die Ursache aller Verwicklungen, die spanische Schautänzerin Tangolita, die einen Scheck auf ein nächtliches Mahl zu zweit einlösen will. Die dramaturgisch im Original Abrahams seltsam isolierte Szene ist mit ihren metrosexuellen Boys dem Vorbild der Inszenierung an der Komischen Oper nachempfunden. Anne Catherine Wagner spielt jedoch nicht so selbstironisch wie Agnes Zwierko in Berlin mit ihrer Körperlichkeit; ihr Dialog wirkt wie vorgelesen, und erst im Lauf des Abends gewinnt die Rolle Konturen, die aber von der Regie nicht deutlicher nachgezeichnet werden.

Temperament und darstellerisches Format

Wie Weigner überhaupt seine Figuren im Stich lässt, wenn es auf pointierten szenischen Witz oder auf genaues Interagieren ankommt. Verschenkt ist etwa die Szene des Mustapha Bey mit seinen geschiedenen Frauen, bei der es auf Timing und Schlagfertigkeit ankäme. Für diese schillernde Figur aus dem imaginierten Morgenlande bräuchte es einen versierten Komiker, der Christof Maria Kaiser (aus dem Schauspielensemble) nicht ist. Da er keine Singstimme hat und die Töne durch die Zähne presst, bleibt er den attraktiven Songs des türkischen Attachés den musikalischen Humor schuldig.

Anders die Amerikanerin Daisy Darlington, die am Ende ihrem schwerreichen Vater zum Trotz den elegant-durchtriebenen Galan heiratet: Haruna Yamazaki ist zwar nicht „dirty“ im Timbre, hat aber das Temperament für den „Känguru“-Tanz und darstellerisches Format für ihren Auftritt als Komponist „Pasodoble“. Auch Christopher Menk als unglücklicher Célestin macht gute Figur.

Dass in den Schlagern die Stimmen verstärkt werden, ist ambivalent und zeigt, dass das Aussterben der Operetten-Ensembles an den Theatern künstlerisch nicht folgenlos ist. Die durchsetzungsfähige, leichte Nonchalance einer Diva, eines Buffo-Paares, eines Sing-Schauspielers ist von einer Opernstimme eben nicht ohne weiteres zu erwarten.

Daniel Spogis am Pult der Rheinischen Philharmonie lässt sich mit den Musikern auf den Schwung der Schlager ein. Auch wenn der eine oder andere Bläser seinen Einsatz verwackelt oder den Ton zerdrückt, auch wenn manchen Momenten das Brio und eine Spur frecher Unbekümmertheit fehlt – der Biss und das Sentiment der musikalischen Ideen Abrahams sind getroffen. Der Chor, einstudiert von Ulrich Zippelius, bemüht sich erfolgreich, der tranig-zähen Statik „lebendiger Bilder“ zu entgehen und wird dabei von Ballett und Statisterie in Choreografien von Luches Huddleston jr. unterstützt.

Ein unterhaltsamer Beitrag zum Genre der Operette, genau richtig platziert zum 125. Geburtstag von Paul Abraham.

Vorstellungen am 12., 23., 31. Dezember, 11., 12., 14. Januar, 11., 12., 19. Februar, 12., 18. März 2018. Info: www.theater-koblenz.de




Große Autoren im kleinen Format, eine Fleißarbeit und ein Ärgernis – Buchvorstellungen, nicht nur für die Weihnachtszeit

Bitte um die geschätzte Aufmerksamkeit: Es folgen sechs kompakte Buchvorstellungen – vor allem für versierte Vielleser(innen) mit weiter reichenden Interessen und gehobenen Ansprüchen. Es sind übrigens nicht durchweg Neuerscheinungen, denn dieses saisonale Gehechel, bei dem nach einem halben Jahr die allermeisten Bücher schon aufgegeben und als Remittenden behandelt werden, nervt zusehends.

Zu Beginn ein kleines Bekenntnis in Sachen einer gar nicht so bedeutungslosen Äußerlichkeit: Schon immer habe ich das besondere Klassiker-Format des Zürcher Manesse-Verlages gemocht. Die Bände mit den kleinen Maßen 9,8 mal 15,5 Zentimeter liegen wunderbar in der Hand und sind stets solide bis liebevoll ausgestattet.

Von den Texten ganz zu schweigen. Nehmen wir nur die Neuerscheinung von Essays des unsterblichen Dichters Charles Baudelaire. Die von Melanie Walz aus dem Französischen übersetzte Auswahl enthält luzide Ausführungen etwas zur damals noch unerhörten und heftigst umstrittenen Musik Richard Wagners, zu Flauberts Roman „Madame Bovary“, aber auch ganz handfeste „Ratschläge für junge Literaten“ oder eine Abhandlung über Kinderspielzeug – und natürlich ebenso kluge wie sinnliche Gedanken über die Liebe. Das alles in einem funkelnden Stil, der sich auch noch in der deutschen Übertragung mitteilt.

Ein Gipfelglück des Buches ist jener sozusagen süffige Vergleich zwischen zwei Rauschmitteln,  der dem Band den verlockenden Titel gegeben hat: „Wein und Haschisch“. Wir wollen hier nicht verraten, welchem der beiden Mittel Baudelaire den Vorzug gibt. Man kann es sich freilich auch so denken. Und es ist auch beinahe zweitrangig, angesichts der kundigen und inspirierten Beschreibungen von Zuständen, in die einen Wein und Haschisch versetzen können. Baudelaire erweist sich abermals als erfahrene Fachkraft für Räusche aller Art. Auch Wagners Musik zählt ja für ihn gleichsam zu den berauschenden Substanzen.

Das Büchlein macht einen geradezu kostbaren Eindruck, als stamme es aus früheren Zeiten und leicht dekadenten Zusammenhängen, als hätte es gar zu Baudelaires Tagen auf dem oder jenem Tisch liegen können. Der Einband ist tatsächlich mit handschmeichlerischem Samt überzogen, wodurch er freilich auch ein bibliophiler Staub- und Flusenfänger von spezieller Güte ist. Irgend etwas ist halt immer.

Charles Baudelaire: „Wein und Haschisch“. Essays. Übersetzt von Melanie Walz. Nachwort von Tilman Krause. Manesse-Verlag, Zürich. 224 Seiten, 22,95 Euro.

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Weil ich mich bei der Baudelaire-Lektüre gerade wieder so schön ans Manesse-Format gewöhnt habe, reiche ich gleich noch einen Klassiker nach, der dort (schon vor einiger Zeit) ebenfalls erschienen ist: „Das Buch der Snobs“ von William Makepeace Thackeray, das selbstverständlich in England verfasste, unerreichte Standardwerk zu diesem Thema schlechthin.

Thackeray (1811-1863), bekanntlich auch Autor des einschlägigen Romans „Jahrmarkt der Eitelkeiten“ (und der legendären Satirezeitschrift „Punch“), war ein Meister der trefflich-süffisanten Gesellschafts-Beobachtungen. Und siehe da: So manches, was er den Snobs seiner Zeit abgelauscht hat, findet man – unter veränderten Vorzeichen – auch heute noch wieder. Manches gesellschaftliche Gehabe ist eben nicht nur zeitbedingt, sondern gehört ganz offenkundig zur menschlichen Grundausstattung; zumindest im bürgerlichen Kontext.

Trotzdem versteht sich natürlich längst nicht jede Bemerkung oder Anspielung Thackerays für uns Heutige von selbst. Der von Gisbert Haefs sehr geschmeidig übersetzte Band ist denn auch mit etlichen Anmerkungen versehen, die manchen höheren und tieferen Sinn erst so recht erschließen.

William Makepeace Thackeray: „Das Buch der Snobs“. Übersetzt von Gisbert Haefs. Manesse Verlag, Zürich. 464 Seiten, 22,95 Euro.

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Wenn wir schon mal in Zürich sind, können wir auch gleich „nebenan“ beim Diogenes-Verlag vorbeischauen, der zuweilen ebenfalls das kleine Buchformat pflegt – beispielsweise mit einem jetzt noch einmal in neu bearbeiteter Übersetzung vorgelegten Band von Voltaire. „Stürmischer als das Meer“ versammelt die Briefe des Franzosen aus dem erzwungenen englischen Exil.

Die insgesamt 25 philosophischen und politischen Briefe, in denen Voltaire eine kritische Außenansicht auf Frankreich wagt, wurden in Paris bei Erscheinen in Buchform sofort verboten und verbrannt.

Aus englischer Perspektive, wo die gesellschaftlichen Verhältnisse seinerzeit schon ungleich moderner waren  als im Ancien Régime, hat Voltaire mit machtvollen Worten an den Grundfesten der französischen Gesellschaft gerüttelt. Es waren nicht zuletzt diese Briefe, die die Französische Revolution geistig angestoßen haben.

Das thematische Spektrum zeugt von Voltaires regem Interesse an mancherlei Phänomenen. So handeln die Briefe vom Regieren, vom Parlamentarismus, von Wirtschaft und vom anglikanischen Glauben, sie befassen sich mit den Ideen von Locke, Descartes, Pascal und Newton, keineswegs nur in geistesgeschichtlicher, sondern auch in naturwissenschaftlicher Hinsicht. Tragödie und Komödie im Theater werden ebenso besehen wie die Zustände an den Akademien. Auch hat der umtriebige Denker Voltaire eine briefliche Abhandlung mit dem Titel „Vom Unendlichen und der Zeitrechnung“ verfasst.

Voltaire: „Stürmischer als das Meer“. Briefe aus England. Übersetzung und Nachwort Rudolf von Bitter. Diogenes-Verlag, Zürich. 224 Seiten, 14,99 Euro.

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Damit wären die buchhändlerischen Kleinformate aber nun abgetan? Nichts da! Auch im Kunstmann-Verlag erscheinen derlei griffige Editionen, zum Exempel Gedichte von F. W. Bernstein, der vor allem mit Robert Gernhardt und F.K. Waechter selig die legendäre „Neue Frankfurter Schule“ des parodistischen Humors bildete. Das grandiose Trio steigerte sich mit „WimS“ („Welt im Spiegel“, Beilage der Satirezeitschrift „Pardon“) in wunderbaren Nonsens hinein, den man bis dahin in Deutschland nicht kannte. Bernstein höchstpersönlich verdanken wir beispielsweise auch den unverwüstlichen Zweizeiler: „Die schärfsten Kritiker der Elche / waren früher selber welche.“

Als „Mein Programm“ stellt Bernstein (bürgerlich: Fritz Weigle) seiner Gedichtsammlung diese Zeilen voran: „Ihr sucht / Verse von schnatternder Wucht? / Ihr findet sie hier: / Alle von mir“.

Bei Bernstein kommt unter Garantie niemals auch nur die Spur von Pathos oder Weihe auf. Ein hoher Ton wird nicht geduldet. Kein Thema ist ihm zu gering. Vieles wird auf die elementaren Dinge des Alltags zurückgestutzt, gepflegter Nonsens liegt dabei stets auf der Lauer. Markantes Zitat: „Sinnverlust ist Lustgewinn“.

Unter dem Titel „So möcht ich dichten können“ heißt es über ein in diesem Sinne offenbar vorbildliches Oktett von Mendelssohn: „Das geht so froh über alle Zäune und umhuscht all / die üblen Möbel, die in der Lyrik herumstehen: / Tiefentisch, Bedeutungshocker, Sesselernst, / das Symbolbüffet, das Vertiko für Relevanzen“.

Kein Wunder, dass sich Bernstein gerade an Rilke reibt, der nicht einmal über Wurzelbürsten gedichtet habe. Auch Büstenhalter, Hosenträger und Wasserhähne habe kein Dichterfürst gebührend besungen. Rilke wird derweil so ernüchtert parodiert: „Wer jetzt kein Geld hat, der kriegt keines mehr.“ Rilke also ganz und gar nicht. Hingegen könnte man meinen, bei Bernstein zuweilen einen leisen Nachklang von Heinrich Heine zu vernehmen. Nein? Na, dann eben nicht.

Der Mann gibt sich jedenfalls so nonchalant, dass manche es stellenweise für Larifari halten mögen. Doch dahinter verbirgt sich bei näherem Hinsehen und Hinhören ungleich mehr, melancholisches Leiden am Zustand der Welt inbegriffen. Apropos: „Weltende“ klingt bei Bernstein so gar nicht gravitätisch: „Die Zeit ist um. Es ist so weit. / Wir sind schon in der Nachspielzeit. / Schlusspfiff! Jetzt wird auferstanden! / Skelette raus, soweit vorhanden; / auf die Bühne zum Finale! / Weltgericht!“

Doch er kann es auch zum Heulen schön und anrührend. Man lese sein bewusst schmuckloses „Nachruf“-Gedicht zum Tod von Robert Gernhardt – und schweige andächtig still.

F.W. Bernstein: „Frische Gedichte“. Verlag Antje Kunstmann, München. 208 Seiten, 18 Euro.

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Nun aber zu einem ganz anderen Format, das – rein physisch gesprochen – einiges mehr auf die Waage bringt: „Vagabunden“ von Beate Althammer ist mit eng bedruckten 716 Seiten eine (kultur)historische Fleißarbeit mit umfassendem wissenschaftlichem Anspruch. Dem etwas umständlichen Untertitel zufolge wird die „Geschichte von Armut, Bettel und Mobilität im Zeitalter der Industrialisierung (1815-1933)“ aufgearbeitet.

Von der Titelseite abgesehen, hat man (leider) auf historische Illustrationen verzichtet, nur ein paar wenige Tabellen lockern den Text unwesentlich auf. Man kann mit Fug von einer „Bleiwüste“ sprechen, die wohl eher ein eh schon fachkundiges Publikum ansprechen wird.

Mobilität gilt heute als eine Voraussetzung für beruflichen Erfolg und Karriere. Hier allerdings geht es um größtenteils erzwungene Mobilität als Armuts-Phänomen, das oftmals kriminalisiert und mit Repression bekämpft wurde.

Andererseits prägten gewisse Formen des Vagantentums auch antibürgerliche Freiheitsvorstellungen. Überdies erwies sich das wechselnde Terrain der Vagabunden als weites Feld für frühe sozialpolitische Versuche der Eingrenzung. Dass sich dieser Themenkreis auch heute noch längst nicht „erledigt“ hat, kann man Tag für Tag in unseren Städten sehen.

Beate Althammer ist ausgewiesene Spezialistin auf dem erwähnten Gebiet. Von ihr und Christina Gerstenmayer gemeinsam herausgegeben, liegt – ebenfalls im Klartext Verlag – seit 2013 die Quellenedition „Bettler und Vaganten in der Neuzeit“ (1500-1933) vor. Hier ist das Wort „Gründlichkeit“ wahrhaftig angebracht.

Beate Althammer: „Vagabunden.“ Klartext Verlag, Essen. 716 Seiten, Paperback, 34,95 Euro.

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So. Jetzt haben wir uns mit Klassikern und einer geschichtswissenschaftlichen Arbeit vorwiegend in der Vergangenheit bewegt. Wie wär’s denn mit noch einigen Prisen Gegenwart, die schon im Buchtitel verheißen werden?

Nun, auch diese Gegenwart ist nur bedingt heutig zu nennen, denn der oft so umstrittene französische Schriftsteller Michel Houellebecq begibt sich diesmal auf eine ziemlich sichere Seite, hat er sich doch mit dem deutschen Philosophen Arthur Schopenhauer auseinandergesetzt oder richtiger: Er hat einige von dessen Gedanken nachvollzogen.

Da haben wir also wieder eine womöglich produktive geistige Annährung zwischen  beiden Ländern – weiter oben war von Baudelaire und Wagner die Rede, diesmal sind es eben Houellebecq und Schopenhauer.

Und jetzt wird geschimpft: In dem eh schon sehr schmalen Band stammt geschätzt beinahe die Hälfte des gesamten Textes von… Schopenhauer. Seite um Seite zitiert Houellebecq – kursiv gedruckt – aus dessen Werken und paraphrasiert sodann in vergleichbarer Länge, was der Meister gesagt und gemeint hat. Schön für ihn, wenn er sich auf diese Weise Schopenhauer gleichsam anverwandelt haben sollte. Aber muss er uns so umständlich daran teilhaben lassen? War es wirklich nötig, dass Schopenhauer posthum das Buch von Houellebecq quasi zu großen Teilen honorarfrei vollschreiben musste?

Via Schopenhauer lässt uns Houellebecq u. a. wissen, dass die wahre Kunstbetrachtung stets in interesseloser Kontemplation und Versenkung bestehe. Sicherlich finden sich da auch weitere an- und aufregende oder gar großartige Gedankengänge. Aber sie stammen eben weit überwiegend vom deutschen Philosophen.

Der Aufsatz hätte gut und gern in einer Essay-Sammlung oder dergleichen Platz finden können. Ein eigenes Buchprojekt ist er nicht unbedingt wert. Immerhin bringt einen der Band auf die gute Idee, Schopenhauer mal wieder im Original (ohne mitunter lästige Houellebecq-Unterbrechungen) zu lesen.

Michel Houellebecq: „In Schopenhauers Gegenwart“. Aus dem Französischen von Stephan Kleiner. Dumont Verlag, Köln. 76 Seiten, 18 Euro.

 




Münster: Picasso-Museum feiert die Impressionisten in der Normandie

Gustave Courbet, Marine, gros temps, 1871, Öl auf Leinwand. (c) Collection Peindre en Normandie

Gustave Courbet, Marine, gros temps, 1871, Öl auf Leinwand. © Collection Peindre en Normandie

Landschaften – ob natürlich oder von Menschen gestaltet – faszinierten von Anbeginn die Künstler eines neuen, später „impressionistisch“ genannten Malstils. Das Spiel des Lichts, die Nuancen der Farben, Atmosphäre und Stimmungen waren für sie entscheidende Elemente der Natur, die sie in ihren Bilderfindungen einzufangen suchten.

Führende Impressionisten wie Claude Monet und Pierre-Auguste Renoir fanden sie im Schauspiel der Natur in der Normandie. Sie stellten ihre Staffeleien unter freiem Himmel an den Stränden der Normandie auf, an malerischen Orten wie Pourville, Étretat oder Deauville, um Licht und Atmosphäre des französischen Nordens in ihren Bildkompositionen zu bannen.

In seiner bisher größten Gemäldeausstellung zeigt das Kunstmuseum Pablo Picasso in Münster derzeit rund 80 Gemälde, die die Küsten Nordfrankreichs als Wiege des Impressionismus vorstellen. Unter dem Titel „Die Impressionisten in der Normandie“ sind Bilder von Monet, Renoir, Alfred Sisley, Gustave Courbet und anderen zu sehen.

„Wir zeigen die großen Entwicklungen der französischen Freiluftmalerei in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts“, so Museumsleiter Markus Müller. Romantische Seestücke von Eugène Isabey und Eugène Modeste Edmond Le Poittevin, die für die Freiluftmalerei wegweisende Schule von Barbizon sowie maritime Landschaftsgemälde Johan Barthold Jongkinds und Eugène Boudins beleuchten die Ursprünge des Impressionismus.

Claude Monet, Bateaux sur la plage à l'Etretat, 1883, Öl auf Leinwand, Fondation Bemberg, Toulouse. (c) RMN-Grand Palais, Mathieu Rabeau

Claude Monet, Bateaux sur la plage à l’Etretat, 1883, Öl auf Leinwand, Fondation Bemberg, Toulouse. © RMN-Grand Palais, Mathieu Rabeau

Die Schau vereint über 60 Gemälde aus der Sammlung „Peindre en Normandie“. Sie zeige „die Schönheit dieser Region mit den Augen von Künstlern“, erklärt Alain Tapié, Kurator der Ausstellung. Er ist Mitbegründer der im Laufe der Jahre gewachsenen Gemäldesammlung im Conseil régional de Normandie.

Im Rahmen von Sonderausstellungen waren die Werke bereits in den USA, in Japan, Südkorea, Osteuropa und Skandinavien zu sehen. In Deutschland wird die Sammlung erstmalig in Münster gezeigt. Werke aus dem Musée des Beaux-Arts in Rouen, dem Pariser Musée Marmottan Monet, der Fondation Bemberg in Toulouse, dem Musée Eugène Boudin in Honfleur, dem Rijksmuseum Twenthe in Enschede sowie einer in Paris beheimateten Privatsammlung ergänzen die Kollektion.

„Impressionisten in der Normandie“. Bis zum 21. Januar 2018 im Kunstmuseum Pablo Picasso Münster. Täglich 10 bis 18 Uhr, freitags 10 bis 20 Uhr. Eintritt 10 Euro, ermäßigt 8 Euro. Katalog 26,90 Euro.

Info: www.kunstmuseum-picasso-muenster.de