Ein ganz besonderes Abenteuer in der urbanen Dunkelheit: Unfassbare 247 Dates hintereinander!

(…und was sich dahinter verbirgt)

Schier unglaubliche Abenteuer in der urbanen Nacht: „Du, die Stadt und 247 Dates.“ So steht es in großen weißen Lettern auf einem dunklen Großstadtfoto mit flirrenden Lichtern. „Bright Lights, Big City gone to my Baby’s Head“, wie es im verheißungsvoll lockenden Blues-Klassiker heißt.

Die WAZ in der Zeitungsrolle unterm Briefkasten... (Foto: BB)

Funke-Produkt: die WAZ in der Zeitungsrolle unterm Briefkasten… (Foto: BB)

Vor sich sieht man außerdem einen Fahrradlenker, den man imaginär selbst in den Händen hält. Man bewegt sich auf einem wunderbar breiten, bestens markierten Fahrradweg, wie er in der Republik (und erst recht im Ruhrgebiet) wahrlich selten anzutreffen ist. Besser noch: Von Autoverkehr ist links und rechts so gut wie nichts zu sehen. Freie Fahrt! Was will man mehr?

In welche herrliche Welt entführt man uns denn da?

Es geht um einen Job. Offenbar um einen Top-Job. Wörtlich um „…einen fair bezahlten, sicheren und verantwortungsvollen Job in einem traditionsreichen Unternehmen“. Wow! Da dürfte ja wohl eine ordentliche Vergütung drin sein.

Doch dann die gelinde Enttäuschung, die ernüchternde Realität: Es geht darum, dass man sich als Zeitungs-Zusteller für die Funke-Gruppe bewerben soll. Das hat es also auf sich mit der Stadt und 247 aufregenden „Dates“: Man soll – in aller Herrgottsfrühe, bei Wind und Wetter, an sechs Tagen pro Woche – 247 Adressen mit Zeitungen des Essener Konzerns beliefern. Beispielsweise. Vielleicht sind es ja auch ein paar Exemplare mehr. Oder weniger. Egal. Jedenfalls ist es ein Knochenjob.

Und die „faire Bezahlung“? Nun ja. Mindestlohn plus Nachtzulage. Für ein paar Stündchen. Ein kleines Zubrot halt. Mehr nicht. Und das Fahrrad? Weiteres Zitat aus der Annonce: „Du bist… mobil – ein eigener PKW wünschenswert“. Ach so. Und die verantwortungsvolle, „eigenverantwortliche“ Tätigkeit? Tja, man muss halt zusehen, wie man klarkommt. Und wenn etwas schief läuft, ist man eben verantwortlich. So einfach ist das. Und die aufregende Großstadt? Naja, es sind halt nicht die Tageszeiten, in denen das Leben pulsiert. Und die Haushalte in Datteln oder Castrop-Rauxel müssen eben auch beliefert werden. Jedenfalls die, die überhaupt noch Print-Produkte abonniert haben.

Übrigens haben es die Zeitungshäuser im Ruhrgebiet gar nicht gern, wenn man ihre Zusteller bei der Arbeit begleitet – jedenfalls dann nicht, wenn man es im Auftrag eines anderen Mediums tun möchte. Da werden Anfragen zuallermeist abschlägig beschieden, wie man hört.

Generationen von „hauseigenen“ Volontären haben hingegen frühe Reportage-Erfahrungen sammeln dürfen, indem sie einmal mit den Leuten mitgegangen sind, die früher „Boten“ genannt wurden und seit etlichen Jahren Zusteller heißen – ganz ähnlich, wie Lehrlinge irgendwann zu Auszubildenden mutiert sind und Volksschulen zu Grundschulen. Was natürlich alles ändert.




„Das Buch von der fehlenden Ankunft“ – Verlust, Fremdheit und Aufbegehren in den Gedichten Lina Atfahs

Die 30-jährige Syrerin Lina Atfah lebt heute in Herne und genießt in Deutschland vor allem die wiedergefundene Meinungsfreiheit, zu der die unzensierte Publikation ihrer Lyrik sicher gehören dürfte. Mit einer Sammlung 23 meist langer Gedichte hat sie jetzt auch hierzulande nachdrücklicher auf sich aufmerksam gemacht, nachdem die  schriftstellerische Arbeit der Newcomerin seit längerem gefördert wird und eines ihrer Gedichte bereits in die Frankfurter Anthologie der FAZ aufgenommen wurde.

Aus Syrien nach Herne gekommen: Lina Atfah (Foto: © Osman Yousufi)

Lina Atfah erhielt zudem den Kleinen Hertha-Koenig-Literaturpreis, sie schrieb für die ZEIT, erhält bundesweit Einladungen zu Podien und Lesungen, sie liest ihre Gedichte per YouTube-Channel, ist gefragte Interviewpartnerin und namhafte Lyriker übersetzen ihre Texte. Von „fehlender Ankunft“ dürfte – was ihre Biografie angeht –  also weniger zu reden sein als von den dennoch bestehenden Schwierigkeiten des Ankommens und den Traumata der Herkunft.

Zu den Schwierigkeiten einer jeden Migrantin jedenfalls gehören Asylbürokratie, das Sich-Zurechtfinden in einer anderen Kultur ebenso wie die Teilnahme an oft wenig erwachsenengerechten Deutschkursen. „Auf Arabisch kann ich die Sprache am Nacken greifen, aber auf Deutsch bin ich ein Kind“, merkte Atfah bei den RuhrNachrichten an. Allerdings geht es deutschsprachigen Lesern mit Atfahs Gedichten nicht so viel anders. Atfahs anspielungsreiche und arabischen Traditionen verpflichtete Gedichte muss man mindestens zweimal lesen und selbst dann bleiben sie einem in großen Teilen fremd, wie auch Lina Atfah selbst das Syrien des Assad-Regimes und des Krieges immer fremder wurde.

„… der Abschied verlief wie ein Verkehrsunfall“ (Lina Atfah im Gedicht „Am Rande der Rettung“)

2014 endlich reiste Atfah aus, über Beirut nach Deutschland, ihrem Mann nach, der bereits ein Jahr in Deutschland lebte. Vorläufige Schlussszene einer Geschichte, die lange zurückreicht: 2006 hatte man der begabten Sechzehnjährigen in einem Verhör dringlich angeraten, nicht einmal indirekt weiter über Diktatur oder Religion zu schreiben. Die Vorwürfe lauteten: Gotteslästerung und Staatsbeleidigung, sie erhielt Auftrittsverbot. Atfah, die auch für Zeitungen und Kulturmagazine schrieb, wusste, dass sie irgendwann  Syrien würde verlassen müssen. In ihrem Gedicht „Die Katze des Propheten“ finden sich Zeilen, die nicht zuletzt für sie selbst gegolten haben dürften: „Ich ließ die Vögel in meiner Kehle frei, um nicht an ihren Federn zu ersticken.“

Projekt „Weiter Schreiben“

In Deutschland fand Lina Atfah trotz aller Hindernisse bald auch jene Momente der Ermutigung, die sie als junge Autorin dringend benötigte. So konnte sie seit 2017 auch am Projekt „Weiter Schreiben“ teilnehmen, das sich der Unterstützung exilierter Autorinnen und Autoren verschrieben hat:
„Für Schreibende ist es elementar, dass der Prozess des Schreibens nicht abbricht. (…)
Weiter Schreiben ist das literarische Projekt von WIR MACHEN DAS, in dem Autor*innen aus Kriegs- und Krisengebieten weiter veröffentlichen und sich mit in Deutschland ansässigen Autor*innen vernetzen können. Es ist eine Plattform, die mit Übersetzungen auch das Gelesenwerden ermöglicht. Denn weiter schreiben zu können, bedeutet auch weiter gelesen zu werden.“

Nachdichtung als Verfälschung?

Lina Atfah veröffentlichte in Deutschland zunächst einzelne Gedichte in Anthologien wie „Deine Angst – dein Paradies“. Im kürzlich vorgelegten Lyrikband „Das Buch von der fehlenden Ankunft“ finden sich diese Gedichte wieder und alle 23 Gedichte des Bandes können in deutscher wie in arabischer Sprache gelesen werden. Zwölf namhafte Übersetzer und Dichter haben die Übertragung ins Deutsche besorgt.

Von fünf Gedichten gibt es jeweils zwei Übersetzungen, weil sich je zwei Übersetzerteams für jedes der fünf Gedichte interessierten. Diese Doppelübersetzungen lesend, wird irritierend deutlich, wie sehr Übersetzung immer auch Nachdichtung ist. Man liest die unterschiedlichen Deutungen der Poeme Atfahs mit einer gewissen Verblüffung. Der arabischsprachige Islamwissenschaftler Stefan Weidner kritisiert in der FAZ gar, dass die Nachdichtungen die Verse Atfahs zu oft verhüllen als ins rechte Licht rücken. Die Folge ist – laut Weidner –, dass Atfah im Deutschen nicht wirklich eine eigene Stimme erhält. Ein Vorwurf, der allerdings jede Übersetzungsarbeit im innersten Kern angeht.

Was man aber von Atfahs Stimme trotz oder eben doch auch wegen der Übersetzungen zu hören bekommt, beeindruckt nachhaltig. Zwar kündigt der Untertitel des Gedichtbandes an, man lese im Buch allein „Gedichte aus Syrien“ („Gedichte einer Syrerin“ träfe es besser), doch schon das erste Gedicht „Das Navi“ erzählt von der Gerichtsstraße in Herne und davon, dass für einen Flüchtling das sonore Navi-Versprechen „Sie haben ihr Ziel erreicht“ etwas unerhört Zynisches hat.

Lina Atfah „findet Worte für die, die sie verloren haben. Sie sucht nach einer Sprache inmitten der Sprachlosigkeit.“ (Nino Haratischwili)

Doch wie kann es anders ein: Im „Buch von der fehlenden Ankunft“ überwiegen jene Gedichte, die eindringlich vor Augen führen, was der Krieg für jene Menschen bedeutet, die ihn miterleben mussten oder noch müssen. Das Massaker einer für das syrische Regime „arbeitenden Miliz“ im Dorf Al Mabujah kommt ebenso zur Sprache wie die Ermordung zweier fünfjähriger Cousinen Lina Atfahs in „Lin und Leila und der Wolf“.

Dass solche Gedichte nirgendwo zum platten Lamento geraten, nie ins Sturzbetroffene abrutschen, sondern hellwaches Erschrecken und Mitgefühl erzeugen, liegt sicher auch an der eindringlichen Bilderwelt, den Metaphern und Fakten, die Atfah aufruft. Sie machen schmerzhafter und anders als alle Nachrichten sichtbar, wie bösartig Krieg en gros und en détail ist. Etwas, das wir gern verdrängen würden, obwohl wir mitverantwortlich sind, auch hier im Ruhrgebiet, nur wenige Kilometer entfernt vom Standort eines der weltgrößten Waffenexporteure Rheinmetall.

„(…) lass der Fantasie der Liebenden freien Lauf“

„‘Ich habe auch viel über meine Träume geschrieben‘, sagt Atfah. ‚Hier in Deutschland kann ich das nicht mehr. Hier geht es um das, was ich verloren habe.‘ Und um die Liebe, ein Thema, das in Syrien tabu war.“
So finden sich im „Buch von der fehlenden Ankunft“ nicht nur Verse über Sterben und Tod, über Ohnmacht und Abschied, Verlust der Heimat und der Liebsten. Lina Atfah reflektiert poetisch auch die Dilemmata ihres eigenen Schreibens, denkt nach über ihr Unperson-Sein im neuen Land, ihr weibliches Selbstbewusstsein, führt Zwiegespräche mit arabischen Dichtern und wagt Erotisches. „(…) lass der Fantasie der Liebenden freien Lauf“, fordert sie programmatisch im Gedicht „Nach der Asche“ und löst im Gedicht „Obst auf Stoff“ ihre eigene Forderung gleich auch selbst poetisch ein:

„ich bin ein rollender Pfirsich
ich bin ein Apfel auf der Suche nach Lust und Sünde
ich bin eine Aprikose, die mein Verlangen süß macht, weich
werde ich und klebrig wie Marmelade
und diese Metapher stellt mich unter Anklage
ich bin Trauben wenn alle Wege zum Meer führen
schwer beladen mit Zeit, gefärbt von der Abendröte
und ich bin Datteln
ich bin die Beeren der Myrte und, wenn ich mich ärgere, eine Zitrone
wie ein Granatapfel warte ich auf das Unwahrscheinliche
ich löse mich auf aus List
in Pflaumen, Erdbeeren, Kirschen
jedes Mal wenn das Wasser brennt und meine Wollust hochragt wie Weizen“

Mit der Dichterin Lina Atfah ist ihr Heimatort, das syrische Salamiyah, jetzt auch in Herne, genauer: in Wanne-Eickel angekommen. Man darf für uns, für Atfah wie für die 85.000 Syrerinnen und Syrer, die im Ruhrgebiet leben, vielleicht beharrlich darauf hoffen, dass sie nicht selbst gefangen bleiben und als ewige Fremde nicht länger gefangen gehalten werden im elend-migrantischen Zwischenreich, so, „als sei ihr Anteil am Leben die Flucht“ (aus dem Gedicht „Am Rande der Rettung“).

Lina Atfah: „Das Buch von der fehlenden Ankunft“. Gedichte aus Syrien. Mit einem Nachwort von Nino Haratischwili. Aus dem Arabischen übersetzt und nachgedichtet von: Dorothea Grünzweig, Mahmoud Hassanein, Brigitte Oleschinski, Hellmuth Opitz, Christoph Peters, Annika Reich, Joachim Sartorius, Suleman Taufiq, Julia Trompeter, Jan Wagner, Kerstin Wilsch, Osman Yousufi. Pendragon Verlag, Bielefeld 2019. 152 Seiten, 22 Euro.




Revolution bis zum Exzess: Schauspielhaus Düsseldorf eröffnet nach langer Renovierungsphase mit „Dantons Tod“

Szenenbild aus „Dantons Tod". (Foto: Thomas Aurin)

Szenenbild aus „Dantons Tod“. (Foto: Thomas Aurin)

Verstrickt und gefangen: Eingeschnürt hängen Danton und seine Parteifreunde wie in einem großen Spinnennetz auf der schiefen Ebene der Bühne, die Guillotine wartet schon auf ihre Köpfe.

Dabei wollten sie doch nur für eine gerechte Welt kämpfen, für „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit.“ Doch über den Weg dahin waren sich die französischen Revolutionäre zuletzt nicht mehr einig: Danton möchte das Morden beenden, das Erreichte festigen. Robespierre reicht das nicht, er will die totale Herrschaft des Volkes, nicht nur die der Bürger, dazu ist ihm jedes Mittel recht, auch der Terror. Und so frisst die Revolution ihre eigenen Kinder.

Immer noch eine Baustelle

1970 wurde das Düsseldorfer Schauspielhaus mit „Dantons Tod“ von Georg Büchner eröffnet, nun zieht das Schauspiel nach einer längeren Renovierungsphase wieder ins Haus am Gustaf-Gründgens-Platz und startet nach fast 50 Jahren ebenfalls mit „Dantons Tod“, diesmal in einer Inszenierung von Armin Petras. Damals begleiteten studentische Proteste die Eröffnung: „Bürger in das Schauspielhaus, schmeißt die fetten Bonzen raus“.

Diesmal gab es dort keine Demonstrationen, das wäre auch schwierig gewesen, denn es stehen überall noch Bauzäune, auch innen ist bei weitem noch nicht alles fertig: In der Garderobe hängen Kabel aus der Wand, das Kassenhäuschen residiert im Container. Aber der Teppich ist bereits neu, der Zuschauerraum in Schuss und bis auf den letzten Platz besetzt.

Lebensfroher Kriegsveteran

Wie eine überdimensionale Skaterbahn wirkt das Bühnenbild von Olaf Altmann, auf der die Akteure brüllend herumrutschen, der revolutionäre Furor äußert sich in viel Geschrei und man hat als Zuschauer zunächst Mühe, dem dichten Text inhaltlich zu folgen. Doch mit der Zeit findet die Inszenierung ihren Rhythmus, ohne den Drive zu verlieren. Dann, wenn sie sich auf die Personen konzentriert, allen voran Wolfgang Michalek als Danton, der hier als lebensfroher Kriegsveteran inszeniert wird, der vom Morden, Sterben und Töten die Nase voll hat. Großartig, wie er sich in seiner schicksalhaften Aussprache mit Robespierre langsam und beiläufig, fast spielerisch entkleidet, erst Schuhe, Jacke, Strümpfe, dann den Rest. Nackt steht er da und will sagen: Ich habe nichts zu verbergen, ich fürchte dich nicht. Ich sage, was ich denke und bin dennoch dein Freund.

Robespierre mit weiblichem Furor

Lieke Hoppe als Robespierre kann damit gar nichts anfangen, sie ist im Tugendwahn: Armin Petras Kunstgriff, ihn und seine Anhänger mit Frauen zu besetzen, geht dabei gut auf. In Anlehnung an die 70er Jahre wirken sie wie eine fanatische RAF-Clique, unerbittlich in ihrem Hass gegen Abweichler, gleichsam berauscht von ihrer Macht und zugleich so überzeugt von ihren Zielen, zu deren Durchsetzung sie die Gewalt als adäquates Mittel keine Sekunde in Frage stellen. Besonders unerbittlich agiert dabei Cathleen Baumann als St. Just, die in silberner Disco-Hose und Lederstiefeln den Deutschen-Herbst-Look auch als modisches Statement begreift.

In der Video-Sequenz aus den Katakomben des Verlieses, die Petras auf die Bühne projiziert, treibt St. Just zu immer größerer Eile, in immer rascherem Tempo sollen die Delinquenten aufs Schafott gebracht werden, möglichst ohne Prozess. Robespierre dagegen wird gegen Ende dünnhäutiger: Sie muss morden, weil sie das für richtig hält, aber ihr Geist, ihr Körper wehren sich; Lieke Hoppe sind die Qualen anzumerken, die sie zurückdrängen will, aber die sie nicht verdrängen kann.

Bogen zu den heutigen Diskursen

Dramaturgisch haben Petras und sein Team den Büchner-Text um einige andere Schriften erweitert, beispielsweise um Olympe de Gouges „Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin“, aber auch Antoine de Condorcets „Für die Abschaffung der Sklaverei und des Sklavenhandels“, in denen soziale Fragen in den Fokus geraten, die leicht vergessen werden, weil sie nicht im Zentrum der Revolution standen. So spannt sich auch der Bogen zu heutigen Diskursen.

Insgesamt schafft die Aufführung spektakuläre Bilder in rot-weiß-blau, gemalt mit Licht und Nebel, Blut und Schweiß, den die Schauspieler beim Klettern und Kämpfen auf der Rampe lassen. Ein bisschen Mundart wird auch gebabbelt, eine Reminiszenz an Büchners Flugschrift „Hessischer Landbote“, wegen der er aus seiner Heimat floh. Rosalie (Madeline Gabel), die Frau aus dem Volk, schimpft in breitem Hessisch auf das Elend ihrer Klasse, die nach Brot schreit, das auch die Revolution ihr nicht geben kann. Nur abgeschlagene Köpfe…

Karten und Termine: www.dhaus.de




Herausforderung glänzend bestanden: Essener Philharmoniker gastierten in Prag und Dresden mit einem Dvořák-Programm

Leichter Regen besprüht die monumentale Fassade des Rudolphinums am Ufer der Moldau. Nobel gekleidete Damen und Herren streben die Stufen empor, Fahnen wehen, die Portale sind geschmückt. Drinnen legen Musikerinnen und Musiker ihre Konzertkleidung an, Notenpulte und Stühle auf dem Podium werden zurechtgerückt. Üblicher Betrieb in einem Konzerthaus – und doch ist die Stimmung anders, festlicher, gespannter.

Das Rudolphinum, Prags historischer Konzertsaal und Auftrittsort der Essener Philharmoniker. Foto: Werner Häußner

Das Rudolphinum, Prags historischer Konzertsaal und Auftrittsort der Essener Philharmoniker. Foto: Werner Häußner

Es ist Festivalzeit in Prag, und ein Orchester wartet auf seinen Auftritt, das nicht zu den üblichen Verdächtigen bei den internationalen Aufmärschen bekannter Klassikstars in Europa gehört: Die Essener Philharmoniker gastieren beim Internationalen Festival Dvořákova Praha, das seit seiner Gründung 2008 eine ganze Reihe Orchester aus der ersten Reihe nach Prag geholt hat: die beiden großen Londoner Orchester, das Orchestre Nationale de France, das City of Birmingham, das Israel Philharmonic – und eben jetzt, zum zweiten Mal nach 2017, die Essener Philharmoniker.

Schlüsselfigur: Chefdirigent Tomáš Netopil

Die sind nun nicht gerade ein zweitrangiges Orchester: Zwei Mal „Orchester des Jahres“, haben sich die Musiker unter Stefan Soltesz eine Spitzenstellung als Opernorchester unter den nicht wenigen Ensembles in Nordrhein-Westfalen errungen, gestalten in der 2004 wiedereröffneten Philharmonie Essen in erstklassiger Konzertsaal-Akustik begehrte Sinfoniekonzerte, haben beachtliche CD-Aufnahmen vorgelegt. Seit 2013 besetzt Tomáš Netopil den Posten des Chefdirigenten. Der Generalmusikdirektor konnte an die Arbeit von Soltesz anknüpfen und die Qualität des Orchesters systematisch weiter ausbauen. Er brachte viel – und nicht nur gängiges – tschechisches Repertoire in Konzerte und Oper ein und will diese Linie auch bis 2023 beibehalten. So lange steht er in Essen unter Vertrag, obwohl oder trotz er an großen Häusern, so auch an der Wiener Staatsoper und der Dresdner Semperoper, regelmäßig gastiert.

Tomas Netopil dirigiert die Essener Philharmoniker in der Frauenkirche in Dresden. Foto: Hamza Saad

Tomas Netopil dirigiert die Essener Philharmoniker in der Frauenkirche in Dresden. Foto: Hamza Saad

Netopil ist auch der Mann, der das erste Prager Gastspiel eingefädelt hat. An der Moldau ist der ehemalige Musikdirektor des Nationaltheaters (bis 2012) beliebt und ein häufiger Gast auch beim renommiertesten Klangkörper, der Tschechischen Philharmonie. Das erste Konzert der Essener Philharmoniker 2017 schlug derart erfolgreich ein, dass sie samt ihrem Chef gleich für 2019 wieder unter Vertrag genommen wurden. Und für dieses Konzert ging Netopil aufs Ganze: Ein tschechischer Dirigent spielt mit einem deutschen Orchester Antonín Dvořák, jenen unter den tschechischen Komponisten, der anno 1896 im Rudolphinum das erste Konzert der Tschechischen Philharmonie dirigiert hatte und dessen Namen der gut 1000 Plätze fassende Saal heute trägt.

Der Umgang mit dem „böhmischen“ Klang

Auch vor dem Hintergrund der Geschichte, von der kulturellen Benachteiligung der Tschechen in der Habsburger Zeit bis hin zu den Barbareien der deutschen Besatzer in den dunklen sieben Jahren, darf ein solches Konzert also eine gewisse Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Außerdem: Wie würden die Essener Philharmoniker mit der Herausforderung des Klangs umgehen, mit jenem „böhmischen“ Ideal, das mit weicher, leuchtender Streicherintonation und schmeichelnden Bläsern identifiziert wird? Netopil hat, wie er im Gespräch verrät, in den Proben auf diesen Klang hingearbeitet, ohne ihn den Musikern überstülpen zu wollen: keine Imitation, aber eine Annäherung.

Probe im Rudolphinum in Prag. Foto: Werner Häußner

Probe im Rudolphinum in Prag. Foto: Werner Häußner

Dieses Konzept verträgt sich besonders mit dem sinfonischen Hauptwerk, der Siebten von Dvořák. In diesem für London geschriebenen Werk zeigt sich Dvořák eben nicht als „böhmischer Musikant“, verwendet keine Folklore-Anklänge, sondern demonstriert, dass er sinfonische Musik auf europäischem Niveau komponiert, die jedem Vergleich standhält. Die Eigenprägung der vier Sätze, drei davon in Moll, ihre formale Balance ist ebenso auf höchstem Niveau wie die dichte Satzarbeit besonders im Finale, und verbindet sich mit formaler Klarheit und einem leidenschaftlichen, energischen Puls.

Klarheit und Blick in die Tiefe

Genau so, mit Passion und Blick in die Tiefe, gehen die Essener Philharmoniker das Werk an. Die düster-unwirschen tiefen Streicher, der erste Ausbruch in den Trompeten, die ein lichtes Tongewölbe aufspannende Oboe, der markante Rhythmus, der unverkrampfte Fluss von Motiven und Themen: das Orchester spielt nachdrücklich und energisch. Die Bläser-Einleitung des zweiten Satzes gelingt gelöst und schwingend, im dritten Satz lebt der Rhythmus markant und locker zugleich. Netopil fordert Saft in den Tönen und zupackende Kraft, nimmt aber das Orchester auch zurück, wenn es den hohen, aber relativ kurz gebauten Saal zu überfordern droht. Keine leichte Aufgabe für die Musiker, die sonst in der offenen, freien Akustik der Essener Philharmonie spielen.

Die Essener Philharmoniker in der Frauenkirche Dresden. Foto: Hamza Saad

Die Essener Philharmoniker in der Frauenkirche Dresden. Foto: Hamza Saad

Im beliebten H-Dur-Nocturne op. 40 zu Beginn lässt der Saal den verhaltenen Klang der Geigen wärmer leuchten als in Essen; die trefflich aufeinander hörenden Musiker sichern die Balance, der Schluss schwebt leicht und leuchtend. Bei den beiden Sinfoniekonzerten in Essen und bei dem auf Prag folgenden Konzert in der Frauenkirche in Dresden stand das g-Moll-Violinkonzert von Max Bruch mit Arabella Steinbacher in der Mitte des klassischen Konzertprogramms. Was in Essen noch zögerlich im Zugriff und matt im Ton erklang, hatte in der Dresdner Frauenkirche spürbar Freiheit und Frische gewonnen.

Unterschätztes Klavierkonzert

In Prag spielte Ivo Kahánek das Dvořák’sche Klavierkonzert g-Moll. Die rhythmisch bewusst gestaltete, temperamentvolle Darbietung Kaháneks in geglückter Interaktion mit dem Orchester erweist dieses Konzert als unterschätzt. Dvořák schreibt auch hier Musik, die jenseits „nationaler“ Zuneigung oder Vorliebe auf internationalen Podien bestehen kann. Die enge Verknüpfung des solistischen und des orchestralen Materials, die poetische Schwermut des langsamen Satzes und der hinreißende rhythmische Bravour des Finales lohnen es, sich dieses Konzert genauer anzusehen.

Die Essener konnten mit den beiden Konzerten in Prag und Dresden einen erheblichen Erfolg für sich verbuchen. Die Kritiken in Prag waren ausgezeichnet, lobten die Tonqualität, die intensiven Farben, die flexible, kammermusikalische Begleitung des Pianisten. Die Planungen für weitere auswärtige Gastspiele der Philharmoniker laufen – für die Stadt Essen ist das Orchester zweifellos ein Kulturbotschafter erster Güte.

 




Was wollt ihr: Kreuzfahrt oder nach Wanne-Eickel radeln?

Inkognito beim Fahrradfahren – aber nicht nach Wanne-Eickel. (Schattenriss-Selfie: BB)

Inkognito beim Fahrradfahren – aber nicht nach Wanne-Eickel. (Schattenriss-Selfie: BB)

Heute steht in der FAZ-Sonntagszeitung (FAS) ein Beitrag über Klassenfahrten, die im Schnitt zusehends teurer geworden sind.

Warum das so ist? Weil u. a. Agenturen eingeschaltet werden, die kostspielige Erlebnistouren zu Komplett-Paketen schnüren, damit die geplagten Lehrer organisatorisch entlastet werden und verwöhnte Schüler halbwegs zufrieden sind. Die Eltern bezahlen den Aufwand ja, wenn auch wohl vielfach mit Murren.

Mit dem Fahrrad nach Wanne-Eickel? Dann aber auch mit der richtigen Klingel! (Foto: BB)

Mit dem Fahrrad nach Wanne-Eickel? Dann aber auch mit der richtigen Klingel! (Foto: BB)

Aber darauf wollte ich eigentlich gar nicht hinaus. Es kommt im selben Artikel nämlich noch besser. Dieser Tage gab’s Zoff und allfälligen Shitstorm, weil ruchbar wurde, dass zwei Leistungskurse eines Frankfurter Gymnasiums nach Oslo und Kopenhagen aufbrechen werden, und zwar per Kreuzfahrtschiff… Ein beteiligter Lehrer begründete das enorm klimaschädliche Vorhaben laut FAS im Gespräch mit dem Hessischen Rundfunk so: „Mit dem Fahrrad nach Wanne-Eickel fahren – das wollen die Schüler nicht.“

Da sagen wir mal: „Setzen! Sechs!“

Nun hätte der Lehrer auch die seinem Standort viel näher liegenden, pulsierenden Metropolen Offenbach oder Darmstadt-Wixhausen als Beispiele nehmen können, aber nein: Der studierte Mann hat sich wohl gedacht, größtmöglichen Abscheu vor Piefigkeit mit einer Ortsbezeichnung aus dem Ruhrgebiet ausdrücken zu können. Und also gibt’s mal wieder dümmliches Revier-Bashing – ausgerechnet noch, um völlig unnötige Kreuzfahrten zu verteidigen. Ob zu den Leistungskursen wohl auch Schülerin(innen) gehören, die bei „Fridays for Future“ mitmachen? Sehr wahrscheinlich.

Und jetzt? Damit der besagte Lehrer auch mal was lernt, gibt’s noch eine kostenlose Lektion mit einem uralten Kalauer: Wie heißt Wanne-Eickel auf Lateinisch? – Na, Castrop-Rauxel natürlich!

Der weiß aber auch nix.

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Hier noch ein Ruhrgebiets-Quiz für Hessen, Schwaben, Bayern etc.: Zu welcher Revierstadt gehört eigentlich Wanne- Eickel?

a) Essen
b) Bottrop
c) Herne
d) Gelsenkirchen




Der Struwwelpeter, der Suppenkasper und ihre Wirkung auf die Kunst – eine Ausstellung in Oberhausen

Der Struwwelpeter in seiner allseits bekannten Gestalt. (© Heinrich Hoffmann)

Der Struwwelpeter in seiner allseits bekannten Gestalt. (© Heinrich Hoffmann)

„Sieh einmal, hier steht er, pfui! der Struwwelpeter!“ – Diese irrwitzig lang abstehenden Haare und dito Fingernägel. Rings um seine bizarre Gestalt ist es auch nicht ordentlicher bestellt: die permanente Suppen-Verweigerung, das unentwegte Daumenlutschen. Weit schlimmer noch: die leuchtend roten Schuhe, die von Paulinchen nach ihrem Zündel-Inferno als einzige Relikte übrig bleiben. Die beiden Katzen, die sie vor dem Feuer gewarnt haben und nun Sturzbäche von Tränen vergießen. Der unverwechselbare Riesenschritt, mit dem Han(n)s Guck-in-die-Luft in sein Verderben stürzt…

Diese und viele andere Bilder aus Heinrich Hoffmanns „Struwwelpeter“ gehören seit etlichen Generationen zum kollektiven Gedächtnis und haben höchsten Wiedererkennungswert. Sie blitzen immer mal wieder auf und reizen häufig zum Fortspinnen der alten Geschichten. Oder zum Widerspruch. Also sind sie immer wieder aufgegriffen, variiert, parodiert, paraphrasiert oder auch konterkariert worden.

Damit und natürlich mit dem nachwirkenden Original befasst sich jetzt anhand von weit über 200 Exponaten die Ludwiggalerie Schloss Oberhausen. Ausstellungs-Kuratorin Linda Schmitz spricht von lauter „Struwwelpetriaden“. Gar manche stammen vom spezialisierten Sammlerpaar Nadine und Walter Sauer.

Das weltweit berühmteste deutsche Kinderbuch

„Der Struwwelpeter“ ist schlichtweg das berühmteste aller deutschen Kinderbücher, das weltweit in zahllosen Ausgaben erschienen ist. In Oberhausen finden sich etliche Exemplare als Belege, die erschröcklichen Geschichten sind in fast allen denkbaren Welt- und Regionalsprachen zu lesen, vom Chinesischen bis zum Ruhrdeutschen. Auch ein Mark Twain hat zum breiten Strom der globalen Rezeption eine Übersetzung ins Englische beigesteuert.

Heinrich HOffmann: Struwwelpeter im Urmanuskript von 1844. (© Germanisches Nationalmuseum Nürnberg)

Heinrich Hoffmann: Struwwelpeter im Urmanuskript von 1844. (© Germanisches Nationalmuseum Nürnberg)

In Oberhausen lassen sich die verschiedenen Fassungen seit dem Urmanuskript von 1844 (heuer ist’s 175 Jahre her) miteinander vergleichen. Tatsächlich unterscheiden sie sich deutlich. Erst nach und nach sind die Bilder so entstanden, wie wir sie kennen. Die Aussagen verdichten sich zusehends, Gestalten und Abläufe werden immer prägnanter und kraftvoller ausgeführt, neue Figuren kommen hinzu.

Damit man sich einen Begriff von der raschen Verbreitung machen kann: Ende 1859 erschien bereits die 27. „Struwwelpeter“-Auflage. Übrigens sind die frühen Blätter in der Ludwiggalerie nur als – sorgsam erstellte – Faksimiles zu sehen, die Originale (besonders im Germanischen Nationalmuseum zu Nürnberg) sind so empfindlich, dass sie nicht ausgeliehen werden dürfen.

Drastische Konsequenzen des Tuns

Der Frankfurter Hoffmann, im Brotberuf Arzt und als zeichnender Dichter ein begabter Laie, hat die bis dahin üblichen Kinderbücher nicht gemocht. Was sollten die ewigen belehrenden Abbildungen aus der Dingwelt? Ein Stuhl, eine Jacke, ein Apfel… War es nicht besser, wenn die Kinder statt dessen sinnlich die fassbare Wirklichkeit entdeckten? Und was half es, die Kleinen unentwegt zum Bravsein anzuhalten? War es nicht weitaus wirksamer, ihnen in aller Drastik die Konsequenzen von Handlungen zu zeigen, die als vernunftlose Missetaten gewertet wurden? Also erfand Hoffmann beispielsweise den anfangs kerngesunden Suppen-Kasper, der nun freilich Tag um Tag trotzig die Nahrungsaufnahme verweigert („Nein, meine Suppe ess‘ ich nicht“) und immer mehr zum kläglichen Gerippe abmagert. Gruselige Schlusszeilen: „Er wog vielleicht ein halbes Lot – / Und war am fünften Tage tot.“

Friedrich Karl Waechter: Bild aus dem „Anti-Struwwelpeter" (Geschichte vom Suppen-Kasper), 1970 (© Wilhelm Busch – Deutsches Museum für Karikatur und Zeichenkunst, Hannover)

Friedrich Karl Waechter: Bild aus dem „Anti-Struwwelpeter“ (Geschichte vom Suppen-Kasper), 1970. (© Wilhelm Busch – Deutsches Museum für Karikatur und Zeichenkunst, Hannover)

Sodann der denkbar vielfältige Umgang späterer Künstler mit der Vorlage. Hans Witte hat nur typographische Aspekte herausgegriffen, hat einzelne Worte und Buchstaben aus dem „Struwwelpeter“ umgestaltet. Im antiautoritären Geist der Achtundsechziger hat hingegen F. K. Waechter in seinem ebenfalls schon legendären „Anti-Struwwelpeter“ (1970) die seinerzeit als Schwarze Pädagogik verschrienen Ansichten Hoffmanns gegen den Strich gebürstet.

Frühe Kritik am Rassismus

Heute geht man nicht mehr gar so hart mit dem angeblichen „Kinderschreck“ Hoffmann ins Gericht. Pädagogisch waren seine Einfälle und der beherzte Themenzugriff teilweise gar nicht so verkehrt. Zudem: Mit seiner ärztlichen Haltung, psychische Krankheiten als nicht selbstverschuldet und als heilbar aufzufassen, stand er zu seiner Zeit an der Spitze des Fortschritts. Und seine mahnende Geschichte über weiße Rabaukenknaben, die sich über einen „Mohren“ lustig machen, kann als antirassistisches Musterstück gelten.

Doch weiter mit den Nachfolgern: In einer Bilderserie von Matthias Kringe wird der „Struwwelpeter“ kreativ mit Star Wars überblendet. Plötzlich taucht mittendrin Darth Vader auf. Andere, wie etwa Manfred Bofinger, erzählen im Gefolge Hoffmanns von gewaltsamen Umtrieben der Neonazis. Schon in den 1940er Jahren gab es einige Hitler-Parodien in Struwwelpeter-Optik, allen voran der britische „Struwwelhitler“ („A Nazi Story Book by Doktor Schrecklichkeit“) von 1941.

Angela Bugdahl: „Die Geschichte mit dem Feuerzeug (Paulinchen", 2004 (© Angela Bugdahl)

Angela Bugdahl: „Die Geschichte mit dem Feuerzeug (Paulinchen)“, 2004 (© Angela Bugdahl)

Die Künstlerin Angela Bugdahl hat einzelne Momente aus Hoffmanns Geschichten herausgegriffen und stellt etwa das Daumenlutschen als durchaus natürlichen Vorgang dar, der eben nicht unterdrückt werden sollte. Den Suppen-Kasper lässt sie unterdessen mit den Mitteln der Pop Art wieder aufleben. Ein Junge mag nicht die durch Andy Warhol kunstberühmt gewordene Campbell’s-Dosensuppe essen. Vielleicht hat er ja seine nachvollziehbaren Gründe?

Eine hoffnungslose Welt

David Füleki treibt derweil die „schwarzen“ Geschichten Hoffmanns auf die Spitze, indem er auf entschieden anarchistische Weise die Dystopie einer hoffnungslosen Welt mit grundsätzlich verzweifelten Kindern entwirft.

Eben daran erkennt man wahre Klassiker: Sie sind sozusagen universell „anschließbar“, letztlich auch für einen Hersteller, der mit „Struwwelpeter“-Shampoo auf den Markt kam. Für die Musik, in der der Struwwelpeter gleichfalls Spuren hinterließ, bleiben angesichts so vieler Verzweigungen nur ein paar Seitenblicke.

Anno 2018 kommt der kaum vermeidliche Jan Böhmermann bildlich auf den Struwwelpeter zurück, um auf seine erhellend irrlichternde Weise etwa von Eltern im heutigen Bionade-Biedermeier zu erzählen. Auch diesen Film kann man in der  Ausstellung sehen.

„Ruhestörung“ in der Biedermeier-Zeit 

Apropos: Hoffmanns „Struwwelpeter“ gehört ursprünglich in den Kontext des Biedermeier um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Ein in Oberhausen gezeigtes Original-Zimmer aus jener Zeit steht für den betulichen Rückzug ins (klein)bürgerliche Dasein, man könnte auch sagen: in verlogene Gemütlichkeit fernab aller politischen Zumutungen. In solcher Zeit dürften „Struwwelpeter“ und Konsorten als „Ruhestörer“ Furore gemacht haben.

ATAK/Prof. Georg Barber: „Der Struwwelpeter, Konrad und Schneider", 2009 (© ATAK und Kein & Aber Verlag, Rürich, 2009)

ATAK/Prof. Georg Barber: „Der Struwwelpeter, Konrad und Schneider“, 2009 (© ATAK und Kein & Aber Verlag, Zürich, 2009)

Zur Genese des „Struwwelpeter“ befragt, hat Heinrich Hoffmann in der Zeitschrift „Gartenlaube“ geschrieben, er habe die Geschichten für seinen damals dreijährigen Sohn gereimt und gezeichnet, weil nirgendwo sonst etwas Passendes im Angebot gewesen sei. Mag sein, dass der einfallsreiche Mann damit auch an der eigenen Legende stricken wollte.

„DER STRUWWELPETER. Zappel-Philipp, Paulinchen und Hanns Guck-in-die-Luft. Zwischen Faszination und Kinderschreck von Hoffmann bis Böhmermann“. 22. September 2019 bis 12. Januar 2020. Geöffnet Di-So 11-18 Uhr. Eintritt 8 Euro, ermäßigt 4 Euro. Katalog 29,80 Euro. Weitere Infos: www.ludwiggalerie.de

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Vom 29. September 2019 bis zum 19. Januar 2020 ist im Kleinen Schloss der Ludwiggalerie zusätzlich die Ausstellung „Simon Schwartz – Geschichtsbilder. Comics & Graphic Novels“ zu sehen. Gleiche Öffnungszeiten wie beim Struwwelpeter, aber Eintritt frei.




„Vaterschaftstest“ – In Markus Behrs märchenhaft optimistischem Roman blüht ein Hagestolz auf

Eigentlich hält der Mittdreißiger Fabian Weinert sich selbst für eine männliche Jungfrau. Bis die eineiigen Zwillinge Ronja und Leonie ihm telefonisch eröffnen: „Wir sind wahrscheinlich mit Ihnen verwandt.“ In einer Ruhrpott-Eisdiele wird das kesse Duo präziser und verblüfft mit ihrer Version eines Glückskeks-Zettels, dessen Botschaft lautet: „Sie sind unser Vater.“

Dabei schien Fabian Weinerts Leben so wohlgeordnet. Weinert ist Single, Lehrer an einem Berufskolleg; seine oft neugierigen Eltern mögen ihn, versuchen beharrlich, den früher überbehüteten Sohn mehr ins Offene zu locken. Immer noch geplagt, aber eben durchaus gewöhnt an leichte Neurodermitis, gelegentliches Asthma und seine Kiel- sprich: Hühnerbrust, macht Fabian als gesellig-sympathischer Einzelgänger dennoch sein Ding.

Gegen seine Neigung zu „Sicherheitsverhalten“ und „Verkrampftheit“ treten an: Jugendfreund Uwe, das befreundete Pärchen Tom und Norah sowie die lässige Therapeutin „Frau Goncalvez“. Fabian selbst schreibt Comictexte, spielt Amateur-Theater, schlägt sich bei Kleinkunstabenden respektabel als Liedermacher mit Gitarre und Loop-Station.

Eine komische Figur mag Fabian zwar sein, ein Loser aber ist er nicht. Dass Fabian – so skizziert – an Figuren Nick Hornbys erinnert, ist sicher kein Zufall. Hornby selbst, sein Buch „31 Songs“, wird im Roman sogar erwähnt. Und wie die Figur Will aus Hornbys Roman „About a boy“ (im Film dargestellt von Hugh Grant) lebt Fabian sein Insel-Dasein, sehnt sich nach einer Frau, wobei es dem oft Zauderndem mehr um Zärtlichkeit als um Sex geht. Die daraus erwachsende Stippvisite bei einer Kölner „Kuschelparty“ gehört sicher zu den komischsten Szenen in „Vaterschaftstest“.

Mutter: Isabella. – Vater: ???

Das plötzliche Auftauchen seiner sechzehnjährigen „Töchter“ aber zwingt Fabian dringlicher denn je, aus seinem Kokon zu schlüpfen. Dabei hilft ihm auch „Frau Goncalvez“, die stets gut gelaunte Therapeutin, die ihm sowieso längst ein Achtsamkeitstraining rund ums Schöne im Leben verordnet hatte.

Der Essener Autor Markus Behr (Foto: © Thomas Tietze)

Behrs Erzählung gewinnt an Tempo, als Fabian über Google und Gespräche zu recherchieren beginnt, was wirklich geschehen sein könnte: vor siebzehn Jahren während einer Gartenparty, nach einer Schülertheater-Aufführung von Kleists „Amphitryon“. Darin spielte der sonst Unbeholfene als Publikumsliebling den beredten Diener Sosias, und die sechzehnjährige Isabella, spätere Mutter der Zwillinge, interessierte sich sichtlich für ihn. Beließen es beide dabei, zu feiern und auf einem Teppich „Vier gewinnt“ zu spielen oder war da etwa mehr?

Auf der Suche nach verlorener Zeit

Obwohl Fabian das Treiben während der Gartenparty minutiös zu rekonstruieren versucht,  findet er nicht mit endgültiger Sicherheit heraus, ob er es war, der Isabella in jener Nacht geschwängert hat oder doch einer der Mitschüler. Hagen Rennebart vielleicht, mittlerweile Anwalt mit Tochter und einer Frau, die aussieht wie Debbie Harry in den besten Jahren. Unterm Strich helfen die eigenen Erinnerungen nicht weiter, kein altes Tagebuch, nicht die Google-Recherchen zu Mitschülern oder die Treffen mit Hagen und der schönen Jasmin, für die Fabian einst schwärmte, auch sie ein Mitglied der Schülertheater-Truppe früherer Tage.

Doppelter Blackout?

Weil also alle Nachforschungen keine Klarheit bringen, macht Fabian sich schließlich auf, um mit den Zwillingen nach Basel zu reisen, wo Isabella mittlerweile wohnt und als Gesangslehrerin arbeitet. Doch auch die – so der nicht ganz überzeugende Trick des Erzählers Behr – ist sich unsicher, was einst wirklich geschah zwischen Euphorie, Rausch und Erfahrungshunger:

„‘Wie gesagt, ich hab auch viel getrunken. (…). Und irgendwas geschluckt. Ich weiß, dass ich in einem dunklen Raum gelegen hab. Und dass ich alles, was passiert ist, auch wirklich wollte. Genau so. Ohne richtig zu wissen, wie es passiert. Und ohne an die Folgen zu denken. (…) Und ohne viel zu sehen.‘“

Immerhin, der aufkeimende Verdacht des Lesers, dass da K.-o.-Tropfen und eine Vergewaltigung das dunkle Geheimnis eines Abends der Erinnerungslücken sein könnten, wird gänzlich entkräftet. Irgendwann im Verlaufe des Romans verliert auch die bohrende Frage nach dem wahren leiblichen Vater der Zwillinge ihre zentrale Bedeutung. Viel wichtiger und lebendiger werden dafür jene Erlebnisse und Erfahrungen – und seien sie noch so verkorkst –, die Fabian, Ronja, Leonie und Isabella bei ihren aktuellen Annäherungsversuchen miteinander machen.

Schöne neue Stimme aus dem Ruhrgebiet

Ob ein Vaterschaftstest je gemacht wird, bleibt zum Ende des Romans offen. Eigentlich ist er auch nicht mehr nötig. Die Zwillinge haben Fabian längst durchgecheckt, getestet, sich auf ihn als ihren Wunschvater eingelassen und suchen nach mehr als nur Wahlverwandtschaft in Gesten und Marotten, Wehwehchen und Begabungen. Fabian selbst hatte schon zuvor im Gespräch mit Jasmin auf die Frage nach seiner Haltung zur möglichen Vaterschaft bekannt:

„Ja, (…) sonst wäre das ja bald alles wieder vorbei.“ (…) „Wenn das wirklich meine Kinder sind, das ist dann doch was Besonderes.“

Habe ich zu viel verraten? Weit gefehlt. Die feine Dialogführung Behrs, seine Figurenporträts, eine Sprache, die mit ihren zärtlichen, komischen, melancholischen Mitteln die Abgründe der menschlichen Komödie nicht leugnet, kann eine Rezension kaum wiedergeben. Der Essener Markus Behr – so viel ist sicher – ist eine neue schöne Stimme aus dem Ruhrgebiet, deren warmherzige Tonlage uns auch deshalb tröstet, weil Happy Ends anderswo nur noch selten möglich scheinen.

Markus Behr: „Vaterschaftstest“. Roman. Wagenbach Verlag, Berlin 2019. 189 Seiten, 12,90 Euro.
(Buchvorstellung am kommenden Samstag, 21. September, um 19 Uhr in der Essener Buchhandlung „proust“)




Brillante Solistin, beirrtes Orchester: Sol Gabetta und die Sächsische Staatskapelle Dresden im Konzerthaus Dortmund

Sol Gabetta wurde als Tochter französisch-russischer Eltern 1981 im argentinischen Villa María geboren (Foto: Petra Coddington)

Die Maske eiserner Konzentration tragen manche Musiker, sobald sie die Konzertbühne betreten. Ganz auf den Augenblick fokussiert, wirken sie dabei wie Hohepriester ihrer Kunst: ernst, nach innen gekehrt, beinahe streng. Nicht so Sol Gabetta. Sobald die in Argentinien geborene Cellistin die Bühne betritt, erfasst ihre lebensbejahende Ausstrahlung den gesamten Saal. Ihr strahlendes Lächeln spricht, bei aller Professionalität, unverstellt von der Freude am Augenblick und an der Musik.

Mit dieser positiven Energie war sie nach neun Jahren endlich wieder im Konzerthaus Dortmund zu erleben, wo sie erstmals 2008 in der Nachwuchsreihe „Junge Wilde“ auftrat. Wie stark Sol Gabetta seither zu souveränem Format gereift ist, zeigte jetzt ihre Rückkehr mit der Sächsischen Staatskapelle Dresden unter der Leitung von Daniele Gatti. Sie ist als Interpretin klug genug, das Cellokonzert Nr. 1 des Franzosen Camille Saint-Saëns nicht mit romantischer Emphase aufladen zu wollen, sondern einen objektiveren, mehr auf Geist und Feinheit zielenden Ton anzuschlagen.

Sol Gabetta spielt auf einem Cello von Matteo Goffriller aus dem Jahr 1730. (Foto: Petra Coddington)

Dieser Ansatz kommt dem oft nervös vorwärts drängenden, leuchtend lyrischen und zuweilen vertrackt virtuosen Cellokonzert von Saint-Saëns sehr entgegen. Sol Gabetta setzt ihr Vibrato sparsam ein, lässt Töne zuweilen gar ins Aschfahle erblassen. Aber sie zieht lange sangliche Bögen, ernst und innig, alles Süßliche streng meidend. Energisch packt sie in den kaskadenartig herabstürzenden Triolen des Hauptthemas zu. Aber sie kennt auch Traumverlorenheit, wenn sie das zart hingetupfte Menuett der Streicher mit langen Trillerketten begleitet. Die fingerbrecherischen Tücken im Finale bereiten ihr, der brillanten Virtuosin, offenkundiges Vergnügen. Ins Nachtdunkle lässt sie die „Elegie“ von Gabriel Fauré abgleiten, die sie dem begeisterten Publikum als Zugabe gönnt.

Daniele Gatti interpretierte mit der Staatskapelle die monumentale 5. Sinfonie von Gustav Mahler (Foto: Petra Coddington)

Zwiespältig fällt die Bilanz für die Sächsische Staatskapelle Dresden aus, die nach der Pause Gustav Mahlers 5. Sinfonie spielt. Unter der Leitung von Daniele Gatti nimmt der Edelklang des Orchesters zuweilen überraschend imperiale Züge an. Von Zerknirschung, gar von einem „glühend Messer“ ist im Kopfsatz wenig zu spüren: Gattis Mahler ist feierlich groß, oft schönheitstrunken, aber auch unter Dauerspannung, weil der Dirigent zuweilen eigenwillig mit den Tempi verfährt.

Natürlich bewährt sich die Staatskapelle als das tönende Wunderhorn, das Mahlers komplexe Welt – wie manche Karikatur es trefflich darstellt – eindrucksvoll heraus posaunt. Selbstredend ist an der hohen Qualität der Instrumentengruppen nicht zu zweifeln. Indessen lässt ein zu früh ertönender Beckenschlag im zweiten Satz aufhorchen. Er kündet von Irritationen zwischen Dirigent und Orchester, die sich im weiteren Verlauf dieser Monstremusik steigern.

Gatti nimmt das berühmte Adagietto, das leider viel zu oft verkitscht wurde, in so zügigem Tempo, dass niemand in Versuchung geraten kann, in Sentiment zu baden. Im Gestrüpp des gewaltigen Scherzo, vor allem aber im Finalsatz kommt es dann jedoch zu mancher Konfusion. In den polyphonen Verdichtungen nimmt das Chaos auf eine Weise überhand, die deutlich anzeigt, dass hier mehr schwankt als nur das Tempo. Dass etwas insgesamt nicht mehr rund läuft. Die traditionsreiche Staatskapelle hinterlässt, im doppelten Wortsinn, an diesem Abend keinen durchweg glücklichen Eindruck.

(Der Beitrag ist in ähnlicher Form zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen.)




In diesem Jahr kein Nelly-Sachs-Preis – Jury zieht Entscheidung für Kamila Shamsie zurück

Der befürchtete Skandal um den Dortmunder Nelly-Sachs-Preis (siehe unseren Bericht vom 11. September) ist gerade noch einmal abgewendet worden. Der Ausweg erinnert rein äußerlich ans Verfahren beim (aus ganz anderen Gründen) ins Zwielicht geratenen Literaturnobelpreis, der 2018 nicht vergeben wurde: Es wird also in diesem Jahr kein Nelly-Sachs-Preis verliehen. Kamila Shamsie, die ursprünglich als Preisträgerin ausgewählt worden war, wird die Auszeichnung doch nicht erhalten. Und auch sonst niemand.

Problematische Preisträgerin? Kamila Shamsie. (Foto: Mark Pringle)

Wird den Nelly-Sachs-Preis doch nicht erhalten: Kamila Shamsie. (Foto: Mark Pringle)

Wir geben die Pressemitteilung der Stadt Dortmund mitsamt einer Stellungnahme der Jury des Nelly-Sachs-Preises, die uns heute um 14:43 Uhr per Mail erreicht haben, kommentarlos wieder. Wortwörtlich:

„Die Stadt Dortmund wird ihren Literaturpreis, den Nelly-Sachs-Preis, in diesem Jahr nicht vergeben. In einer Sitzung am Wochenende entschied die achtköpfige Jury, ihre am 6. September getroffene Entscheidung über die Preisvergabe an die Autorin Kamila Shamsie zu revidieren. Gleichzeitig wurde beschlossen, für das Jahr 2019 keine andere Preisträgerin zu benennen. Damit wird der Nelly-Sachs-Preis erst wieder im Jahr 2021 vergeben.

Die Jury des Nelly-Sachs-Preises nimmt dazu wie folgt Stellung:

„Mit Ihrem Votum für die britische Schriftstellerin Kamila Shamsie als Trägerin des Nelly-Sachs-Preises 2019 hat die Jury das herausragende literarische Werk der Autorin gewürdigt. Zu diesem Zeitpunkt war den Mitgliedern der Jury trotz vorheriger Recherche nicht bekannt, dass sich die Autorin seit 2014 an den Boykottmaßnahmen gegen die israelische Regierung wegen deren Palästinapolitik beteiligt hat und weiter beteiligt.

Der § 1 der Satzung des Nelly-Sachs-Preises bestimmt, dass auch ,Leben und Wirken‘ einer Persönlichkeit bei einer Juryentscheidung einzubeziehen sind. Aufgrund der bekannt gewordenen Sachverhalte über die Autorin Kamila Shamsie trat die Jury am 14. September nochmals zur Beratung zusammen.

Die Jury fasste den Beschluss, ihr ursprüngliches Votum aufzuheben und die Preisvergabe an Kamila Shamsie zurückzunehmen. Die politische Positionierung von Kamila Shamsie, sich aktiv am Kulturboykott als Bestandteil der BDS-Kampagne (Boykott-Deinvestitionen-Sanktionen) gegen die israelische Regierung zu beteiligen, steht im deutlichen Widerspruch zu den Satzungszielen der Preisvergabe und zum Geist des Nelly-Sachs-Preises.

Mit dem kulturellen Boykott werden keine Grenzen überwunden, sondern er trifft die gesamte Gesellschaft Israels ungeachtet ihrer tatsächlichen politischen und kulturellen Heterogenität. Auch das Werk von Kamila Shamsie wird auf diese Weise der israelischen Bevölkerung vorenthalten. Dies steht insgesamt im Gegensatz zum Anspruch des Nelly-Sachs-Preises, Versöhnung unter den Völkern und Kulturen zu verkünden und vorzuleben.

Die Jury bedauert die eingetretene Situation in jeder Hinsicht.“




Weltstädte, Technik und Jazz als Triebkräfte – die energetische Bildwelt des K. R. H. Sonderborg

K. R. H. Sonderborg: „12.4.66, 16h31-17h12", 1966. Eitempera auf Fotokarton über Leinwand. Leihgabe Osthaus Museum, Hagen (© Galerie Maulberger, 2019)

K. R. H. Sonderborg: „12.4.66, 16h31-17h12″, 1966. Eitempera auf Fotokarton über Leinwand. Leihgabe aus dem benachbarten Osthaus Museum, Hagen. (© Galerie Maulberger, 2019)

Als junger Mann vom Jahrgang 1923 lebte Kurt Rudolf Hoffmann, dem von Geburt an der rechte Arm fehlte, im Hamburg der NS-Zeit bewusst als Außenseiter. Statt in der Hitlerjugend mitzumachen, pflegte er im ganzen Auftreten einen britischen Stil. Der Sohn eines Bigband-Posaunisten (im damals sehr renommierten Telefunken-Swingorchester) hörte vorzugsweise Jazzmusik und galt daher als sogenannter „Swing Boy“.

Jemand, der so eigensinnig war, stand damals unter Beobachtung. 1941 holte ihn die Gestapo ab und inhaftierte ihn vier Monate lang im Konzentrationslager Fuhlsbüttel. So war es nur konsequent, dass er sich nach Kriegsende von deutscher Herkunft distanzierte, seinen eigentlichen Namen auf die Initialen K. R. H. zurückstutzte und statt dessen seinen dänischen Geburtsort Sonderborg hervorhob.

Bildnis des (späteren) Künstlers als junger Mann: K. R. H. Sonderborg als 17-Jähriger in Hamburg, An der Alster bei „Tante Loh", 1940/41. (in: K. R. H. Sonderborg, Arbeiten auf Papier, schwarz/weiß, Graphische Sammlung Staatsgalerie Stuttgart 1985/85, Seite 13)

Bildnis des (späteren) Künstlers als junger Mann: K. R. H. Sonderborg als 17-Jähriger in Hamburg, An der Alster bei „Tante Loh“, 1940/41. (aus: K. R. H. Sonderborg, Arbeiten auf Papier, schwarz/weiß, Graphische Sammlung Staatsgalerie Stuttgart 1985/86, Seite 13)

Unterschiede zu Emil Schumacher

Als K. R. H. Sonderborg also wurde er seit den 1950er Jahren mit informeller Malerei bekannt. Er gehörte damit im Grunde der gleichen oder zumindest verwandten Stilrichtung an wie der Hagener Emil Schumacher. Eine Sonderborg-Schau im Emil Schumacher-Museum zu Hagen (ESMH) erscheint mithin folgerichtig. Doch wie verschieden waren die beiden!

Nun gut, sie malten abstrakt und gestisch, ihre Werke setzen jeweils ungeahnte Energien frei. Doch der 1912 geborene Schumacher musste sich zunächst mühsam von Vorkriegs-Einflüssen befreien, während der über zehn Jahre jüngere Sonderborg sich gegen Ende der 1940er Jahre gleich aufs Abenteuer der Abstraktion einlassen konnte.

Der Unterschied zeigte sich auch im malerischen Duktus. Schumachers in die dritte Dimension geschichtete, durchgrabene, zumeist pastose Bilder tragen die Spuren und gleichsam die Wundmale eines unablässigen Ringens mit dem Material. Sonderborgs flächige Darstellungen wirken hingegen weniger erkämpft, sie sind sozusagen „selbstverständlicher“ vorhanden. Was beiderseits noch gar nichts über die Qualität besagen muss.

Überdies hatte Schumacher stets eigene, recht geräumige Ateliers, während Sonderborg ruhelos unterwegs war, vielfach in Hotelzimmern arbeitete und daher schon aus praktischen Gründen kleinere Bildformate vorzog. Auch das ist keine reine Äußerlichkeit, sondern hat Folgen für die Kunstausübung.

Im legendären Chelsea Hotel

Für die jetzige Ausstellung mit dem etwas lauen Allerwelts-Titel „Bilder von Zeit und Raum“ hat ESMH-Leiter Rouven Lotz einige prägnante Arbeiten versammeln können. Somit lassen sich gewisse Grundlinien des Oeuvres ziemlich gut verfolgen. Es ist seit über 15 Jahren die erste umfangreichere Auseinandersetzung mit Sonderborg.

K. R. H. Sonderborg im Jahr 1987 (© Foto: Manfred Hamm)

K. R. H. Sonderborg im Jahr 1987 (© Foto: Manfred Hamm)

Der über längere Zeitstrecken umtriebig in Weltstädten lebende und deren Eigenarten geradezu inhalierende Sonderborg (über Jahre hinweg im Winter New York, im Sommer Paris, später in Chicago) logierte in den 1960ern im legendären New Yorker Chelsea Hotel, das durch viele Pop-Größen wie Bob Dylan, Nico, Leonard Cohen und Janis Joplin berühmt wurde. Sonderborg war dort Nachbar und Freund zweier Heroen der Pop Art, Claes Oldenburg und James Rosenquist. Er selbst hat später nur episodische Ausflüge in Gefilde der Pop Art unternommen, beispielsweise im bleiernen deutschen RAF-Herbst 1977 mit dem hyperrealistischen Bild einer Maschinenpistole, das in Hagen zu sehen ist. Sarkastischer Titel: „Peacemaker“. Doch vermutlich war es Sonderborg sogar hierbei vornehmlich ums Bildliche und nicht so sehr ums Politische zu tun.

Immer freiere Bildauffassung

Ansonsten aber waltet allemal die Abstraktion. Um 1948 kann man noch eine Orientierung an Paul Klee vermuten. Auch bezieht sich ein frühes Bild von 1950 zwar noch deutlich auf Kran- und Stahl-Strukturen im häufig aufgesuchten Hamburger Hafen, doch derlei Lineaturen verselbständigen sich zusehends.

Während anfangs noch Hintergründe als eine Art perspektivischer Halt im Bildgeviert auszumachen sind, lebt sich alsbald die malerische Energie im gänzlich freien Bildraum aus. Kalligraphische Studien und ab 1953 der intensive Kontakt zur Künstlergruppe ZEN (u. a. Rupprecht Geiger, Willi Baumeister) dürften das geistige „Loslassen“ im Sinne der Zen-Philosophie begünstigt und zu jener freieren Bildauffassung beigetragen haben.

K. R. H. Sonderborg: „3. VII. 58, 16.11-17.23 h, 1958. Eitempera auf Fotopapier, auf Leinwand aufgezogen. Sammlung Grässlin, St. Georgen (© Galerie Maulberger, 2019)

K. R. H. Sonderborg: „3. VII. 58, 16.11-17.23 h, 1958. Eitempera auf Fotopapier, auf Leinwand aufgezogen. Sammlung Grässlin, St. Georgen (© Galerie Maulberger, 2019)

Sonderborg (1923-2008) muss in seinen besten Jahren recht lebenshungrig gewesen sein, er mochte nicht viel Zeit verlieren, oft nicht einmal fürs Malen. Nicht selten hat er seinen Arbeiten als Titel lediglich Tagesdaten und Uhrzeiten zwischen Beginn und Vollendung des Malprozesses gegeben, beispielsweise so: „3. VII. 58, 16.11-17.23 h“. Fertig in gerade mal 72 Minuten. Viele andere Künstler tun sich da ungleich schwerer.

Eine bevorzugte Arbeitsweise Sonderborgs war denn auch die Verwendung schnell trocknender Eitempera-Farben auf Fotokarton. Diese Materialien kamen der spontanen gestischen Aktion entgegen, die mitunter ungeheure Energien erzeugte, welche dann auch den Bildern einbeschrieben sind.

Die bleibende Liebe zum Jazz

Die seit jeher gehegte Liebe zum Jazz ging K. R. H. Sonderborg naturgemäß auch in den USA nicht verloren. In New Yorker Jazzkellern erlebte er mitreißende Konzerte von Thelonious Monk oder Charles Mingus. Wenn er malte, liefen häufig Platten von Ornette Coleman, Charly Parker und Miles Davis – „dieser ganze City Sound“, wie er es nannte. In bestimmten Bilderreihen sind Anklänge an Notenschriften und Partituren unverkennbar. Sie werden zu bildnerischen Zeichenfolgen ohne unmittelbaren Realitätsbezug, wenn auch in ungefährer Analogie zu musikalischen Schöpfungen.

Fotovorlage mit abgelegtem Rucksack: Foto vom 11. Dezember 1990, Schloss Solitude, Stuttgart (aus: K. R. H. Sonderborg, Manfred de la Motte/Georg Nothelfer, Berlin 1991)

Fotovorlage mit abgelegtem Rucksack: Foto vom 11. Dezember 1990, Schloss Solitude, Stuttgart (aus: K. R. H. Sonderborg, Manfred de la Motte/Georg Nothelfer, Berlin 1991)

Doch nicht nur Musik hat ihn inspiriert, sondern – siehe schon die Frühzeit mit dem Hamburger Hafenbild – vielfach auch technische Strukturen, zumal mit Energie geladene, so etwa Stromspulen, elektrische Leitungen, Hochspannungsmasten, Wassertürme auf Hochhäusern in New York und Chicago. Eher eine bildräumliche Rarität sind zwischendurch jene dynamisch schwingenden Saloon-Flügeltüren auf einzelnen Bildern. Sie eröffnen eine imaginäre Tiefendimension.

Was aus einem Rucksack wurde

Die vielleicht verblüffendste Malvorlage des mehrfachen Biennale- und documenta-Teilnehmers ist ein Foto, das Sonderborg selbst aufgenommen hat. Es zeigt einen Rucksack, der anscheinend (oder nur scheinbar?) achtlos in einer Fensternische des Stuttgarter Schlosses Solitude abgestellt worden war. Doch man schaue, was daraus auf Büttenpapier geworden ist! Dem Gegenstand ward ungeahntes, geisterhaftes Leben eingehaucht.

Künstlerischer Ertrag des Rucksack-Fotos: K. R. H. Sonderborg, Ohne Titel, Schloss Solitude, 1991, Tusche auf Bütten (© Galerie Geeorg Nothelfer)

Künstlerischer Ertrag des Rucksack-Fotos: K. R. H. Sonderborg, Ohne Titel, Schloss Solitude, 1991, Tusche auf Bütten (© Galerie Georg Nothelfer)

Das malerische Gesamtwerk Sonderborgs, so auch diese Ausstellung, setzt sich im Wesentlichen aus kraftvollen Schwarz- und Weiß-Tönungen zusammen. Allenfalls kommt akzentuierendes Rot hinzu. Das war’s. Ob das in der Summe auch schon mal eintönig werden kann? Berechtigte Frage. In Hagen darf man sich zuallermeist vom Gegenteil überzeugen lassen.

K. R. H. Sonderborg – Bilder von Zeit und Raum. Emil Schumacher Museum,  Hagen, Museumsplatz 1 (Navigation: Hochstraße 73). Di-So 12-18 Uhr. Katalog (Kettler Verlag, Dortmund) in der Ausstellung 29,90 Euro, im Buchhandel 34,90 Euro. Tel.: 02331 / 207 31 38. www.esmh.de




Was ist denn wohl ein Aminaschlupferle? – Neues Buch über „Wörter, die es nicht auf Hochdeutsch gibt“

Keine Frage: Dialekte und Mundarten bereichern die Hochsprache seit jeher. Ein schmales Buch versammelt nun rund fünfzig Ausdrücke, die im Hochdeutschen (angeblich) überhaupt keine direkte Entsprechung haben.

Die sammelfreudige Herausgeberin Sofia Blind berichtet im Vorwort von Hunderten von Wörtern, die auf ihren Vorschlagslisten gestanden haben. Da hieß es gründlich aussortieren: Schimpf- und Kraftworte (schon wegen der ungeheuern Vielzahl) schob sie gleich ganz beiseite; ebenfalls alle Wendungen, die hochsprachlich leidlich ersetzt werden können. Außerdem: Wenn etwas unentwegt vorkommt und sozusagen alles oder nichts bedeuten kann („Schmäh“ aus dem Wienerischen, „fei“ in Bayern, „Allmächd!“ im Fränkischen), so war es für ihre Zwecke auch nicht tauglich.

Nun überzeugt die schließlich getroffene Auswahl allerdings nicht rundweg. So fragt man sich, warum „boofen“ (Sächsisch für „unter freiem Himmel schlafen“ – vergleiche das allbekannnte „poofen“/„pofen“), hudeln, Leiberl oder Plörre aufgenommen wurden, die sich doch ebenso breit durchgesetzt haben wie Berliner Worte (Bammel, mittenmang, jottwede) – letztere kommen in diesem Buch überhaupt nicht vor, und zwar just just mit der Begründung, sie seien halt im gesamten deutschen Sprachraum vertraut. Außer der mitunter so großmäuligen Hauptstadt werden aber eigentlich alle deutschsprachigen Gegenden berücksichtigt. Mehr oder weniger.

Es gibt einige sehr schöne Fundstücke in dem Band, den man sich gerade deshalb etwas umfangreicher gewünscht hätte. So aber erreicht er gerade mal etwas mehr als ein mittelprächtiges Mitbringsel-Format.

Vollends überzeugt hat mich beispielsweise das Wort Aminaschlupferle, das auf der dritten Silbe betont wird, also Aminaschlupferle. Will heißen: „an mich heran“. Die Gesamtbedeutung meint ein kleines Kind, das sich gern bei jemandem ankuschelt. Gebräuchlich im Allgäu.

Eher im entspannten Plauderton und nicht belehrend oder gar wissenschaftlich werden auch alle weiteren Wörter kurz erläutert. Mir haben es einige Exemplare aus dem Schweizerischen angetan, beispielsweise „heimlifeiss“ aus dem Berner Dialekt. Es bedeutet, dass jemand seinen Wohlstand bewusst n i c h t zur Schau stellt, also nur „heimlich feist“ ist und somit im gewissen Gegensatz zum gefallsüchtigen hessischen „Gasseglänzer“ steht. Mal eben zurück nach Bern: Auch die „Hundsverlochete“, ein Hundebegräbnis, hat was für sich – als drastische Kennzeichnung einer „wenig lohnenden Veranstaltung“, wie es mit schönem Understatement heißt.

Gar hübsch auch das „Fluchtachterl“, das letzte Glaserl Wein vorm Aufbruch in Wien. Nebenher abgehandeltes Pendant in und um Hamburg: das „Auf und zu“, ein finales Bierchen, für das der Zapfhahn nur ganz kurz aufgedreht wird.

Als Dortmunder habe ich selbstverständlich nachgesehen, ob auch das Westfälische vertreten ist. Ist es. Mit „Dönekes“ und „fisseln“. Bedeutungen bitte im Buch nachschauen, falls nicht ohnehin bekannt. Wir wollen hier nämlich nicht den ganzen Inhalt verraten.

Doch halt! Eins noch: Gar nicht vergessen darf man die schönen Illustrationen von Nikolaus Heidelbach. Sie sind ein Vergnügen für sich, lassen so manches kostbare oder kuriose Wort so recht anschaulich hervortreten und machen sicherlich mindestens die Hälfte vom Reiz des Buches aus.

Sofia Blind/Nikolaus Heidelbach: „Wörter, die es nicht auf Hochdeutsch gibt“. Dumont, 112 Seiten, 18 Euro.

 




Das israelische Klassenzimmer: „Kind of“ bei der Ruhrtriennale

Szene aus Kind of. Foto: Gianmarco Bresadola/ruhrtriennale

Szene aus „Kind of“. (Foto: Gianmarco Bresadola/Ruhrtriennale)

Der eigentümliche Klang der fremden Sprachen ist an sich schon ein Erlebnis: Hebräisch, Arabisch und Jiddisch wird in diesem Klassenzimmer auf der Bühne von PACT Zollverein in Essen gesprochen. „Kind of“ heißt das Stück der israelischen Autorin und Regisseurin Ofira Henig, das die Ruhrtriennale jetzt in Kooperation mit der Schaubühne Berlin herausbrachte.

Doch es geht nicht um den Hörgenuss für Auswärtige, sondern um die Machtstrukturen der Sprache: Wie Kinder in ihrer Erziehung gelenkt, ja indoktriniert werden, dafür findet Henig eindrückliche Bilder. Die Schüler in braver Montur von weißen Blusen, schwarzen Hosen bzw. Röcken und altmodischen Lederranzen marschieren im militärischen Takt und skandieren dabei Befehle aus der Armee.

Stolz liest die Schwester aus den Briefen des Bruders beim Militär vor, zu wehrhaften Israelis soll diese Generation erzogen werden, dass sie nie wieder Opfer seien, wie einst die „Ghettojuden“. Historisch verständlich, zeigt Henig die Kehrseite der Medaille dieser Erziehung auf: Wenig Empathie, wenig Toleranz gegenüber denjenigen, die nicht zum auserwählten Volk der Hebräer gehören. Beispiel Arabischunterricht: „Setzt dich hin, zeig deinen Pass, Hände hoch oder ich schieße“ – das sind die Vokabeln, die die Schüler hier lernen.

Wo John Lennons „Imagine“ unerwünscht ist

Arabisch spricht auch der Hausmeister der Schule im Blaumann, aber er hat ein anderes Hobby, nämlich Hundedressur. Putzig, wie er dabei die Hunde imitiert, die ihm gehorchen sollen. Doch auch diesem Monolog wohnt etwas latent Gewaltbereites inne: Zum Schluss träumt er von Kampfhunden, mehr Waffe denn Haustier.

Ebenfalls eine Wissenschaft für sich ist die Benennung und Umbenennung von Straßen, je nachdem, ob man sich in jüdisch bzw. arabisch bewohnten Gegenden befindet. Da wird die Bezeichnung zum Besitzanspruch. Auch die Wahl des Purim-Kostüms wird den Kindern nicht freigestellt, es müssen schon akzeptierte Helden sein. Ebenso verpönt ist alleine tanzen und dann auch noch nach dem Song „Imagine“ von John Lennon: Ein Schulstreich lässt die Musik über den Hof schallen, die Ächtung der Lehrerin folgt auf dem Fuß.

Die Szenen sind in den 60er und 70er Jahren angesiedelt, rund um den Sechstagekrieg von 1967; eine andere Zeit – und doch bedingt sie die Probleme von heute.

Die Machtstrukturen im Regietheater thematisiert Henig ebenfalls mit ihrem Lieblingssong „Imagine“: Der arme Klavierspieler wird gebissen und gewürgt, um die Töne herauszubringen, schluchzend. Dabei hat das Lied doch eine so positive Botschaft. „Imagine all the people/Living life in peace.“

Weitere Informationen:
ruhrtriennale.de
ruhr3.com/kindof




Charakterstärke und sonstige Vorzüge: „Vorbilderbuch“ mit anregenden Texten aus dem Ruhrgebiet

Ist es nicht angesichts von so vielen YouTube-Stars, Influencern und Promis ein bisschen antiquiert, ein Buch über Vorbilder auf den Markt zu bringen? Der Verlag Henselowsky Boschmann hat genau das getan. Und er hat gut daran getan.

Herausgekommen ist eine lesenswerte, anregende und angenehme Lektüre. Über 30 Autoren schreiben sehr persönlich über ihre Vorbilder und darüber, wo vielleicht auch Trennlinien zu ziehen sind. So nimmt für die Pädagogin Margret Martin ihr Ausbildungslehrer im Referendariat wegen seiner Offenheit und sozialen Einstellung einen besonderen Stellenwert ein. Vieles habe sie für den eigenen Unterricht übernommen, schreibt sie, doch am Ende müsse man selbst seinen eigenen Weg suchen.

Es gibt sie auch nebenan

Die Geschichte steht aber noch für ein weiteres Merkmal dieses Bandes: Vorbilder müssen nicht z. B. Nelson Mandela oder Mutter Teresa heißen, es gibt sie auch nebenan. Ludger Claßen erzählt von einer Tante, Kosename Tanmaria, die immer half, wenn es erforderlich war. Ihre Gelassenheit, aber ebenso die Skepsis gegenüber manchen Neuheiten haben den Autor nachhaltig beeindruckt. Den Beat-Club im Fernsehen, den durfte er damals dennoch bei ihr – und nur bei ihr – sehen, der Vater lehnte die Sendung ab.

Apropos Musik: Pete Townshend von den Who ist für Zepp Oberpichler einer, zu dem er bis heute aufschaut. Dessen Shows und Songs sind für ihn unübertroffen. Ähnlich denkt René Schiering über Christoph Schlingensief, wenn er sich dessen Wirken vor Augen führt. „Was er jetzt wohl tun würde?“, fragt sich der Autor und spielt dabei insbesondere auf das gesellschaftskritische Bewusstsein des 2010 verstorbenen Künstlers sowie dessen Selbstreflexion an.

Fair und frei von Skandalen

Wie man mit Charakterstärke überzeugen kann, dafür sind in dem Band zahlreiche Beispiele zu finden. Hans Tilkowski und Norbert Nigbur gehören dazu. Der eine, der einst für den BVB und 1966 beim WM-Endspiel in Wembley für Deutschland im Tor stand, imponiert den Autor bis heute durch Fairness und gesellschaftliches Engagement, der andere, früherer Torhüter auf Schalke, beeindruckte seinerzeit nicht zuletzt, weil er am Bundesligaskandal 1971 n i c h t beteiligt war.

An Menschen, die sich aus ihrem Selbstverständnis heraus für Andere engagieren, erinnern eine Reihe von Verfassern. Da gab es den Missionar, der soziale Projekte voranbrachte, den Altkommunisten in Bottrop, der als Anwalt des „kleinen Mannes“ erst spät im Leben Anerkennung fand, und den Dortmunder Pfarrer, der sich auf die Seite von Kirchenbesetzern geschlagen hat. Beeindruckend ist auch die Geschichte über die Unternehmerin, die als Kind jüdischer Eltern von diesen 1939 nach England geschickt wurde, schon früh eine Technologiefirma aufbaute und sich bis heute dafür stark macht, dass Autisten in der IT-Branche unterkommen.

Saboteur des Alltags

Wie schwierig, aber vor allem wie bereichernd der Umgang mit Autisten sein kann, davon berichtet Gerd Herholz, der vor Jahren eine Zeitlang einen Jugendlichen betreut hat. Er ist ihm bis heute ein „flackerndes Vorbild“ geblieben, hat er ihn doch als „professionellen Dulder und Alltagssaboteur“ erlebt. Dass destruktives Verhalten auch ein „Vorbild“ im negativen Sinn sein kann, davon erzählt Margit Kruse. Der Junge aus ihrer Nachbarschaft hatte ob seiner Diebstähle einen zweifelhaften Ruhm, als er ins Gefängnis kam, war dann wohl die abschreckende Wirkung vollendet.

Wenn die Autoren auf ihre Vorbilder eingehen, vermitteln sie nicht nur Biografisches, sondern erzählen auch immer ein Stück Zeitgeschichte. Da es sich häufig um das Ruhrgebiet als Schauplatz handelt, lädt der Band auch zu einer regionalen Zeitreise ein. Denjenigen, die sich gern etwas grundsätzlicher mit dem Thema Vorbilder auseinandersetzen wollen, bietet das Buch auch genügend Stoff, beispielsweise durch Zitate namhafter Literaten wie Erich Kästner.

Die Geschichte, die wohl am meisten berührt, findet sich gegen Ende des Buches: Ein Vater beschreibt den Menschen, der ihm einen ganz anderen Blick auf das Leben geöffnet hat: Es war sein Sohn, der mit 17 Jahren an einer unheilbaren Krankheit starb.

„Vorbilderbuch – Kleine Galerie der Menschlichkeit“. Verlag Henselowsky Boschmann, Bottrop. 240 Seiten, 9,90 Euro.




Rossini aus Konventionen befreit: An der Oper Frankfurt eröffnet ein fulminanter „Otello“ den Reigen der Premieren

Otello (Enea Scala) und Jago (Theo Lebow) in der Frankfurter Inszenierung von Gioachino Rossinis "Otello". Foto: Barbara Aumüller

Otello (Enea Scala) und Jago (Theo Lebow) in der Frankfurter Inszenierung von Gioachino Rossinis „Otello“. Foto: Barbara Aumüller

Und wieder einmal ist die Oper Frankfurt Vorreiterin: Mit der szenischen Realisation von drei kaum gespielten Werken Gioachino Rossinis durchbricht sie in der neuen Spielzeit 2019/20 die eintönige Kette immer wieder „neu befragter“ Aufführungen des „Barbier von Sevilla“ in deutschen Opernhäusern, befreit Rossini aus dem Dunstkreis verdienstvoller, aber begrenzt wirksamer Festivals und stellt ihn einem städtischen Theaterpublikum im Rahmen eines Repertoirebetriebs vor.

Endlich wird so auch der „ernste“ Rossini gewürdigt: Die Fachwelt ist sich längst einig, dass nicht die sicherlich genialen und öfter gespielten Opern wie „La Cenerentola“ oder „Der Türke in Italien“, sondern Rossinis Seria-Opern den bedeutenderen Platz in seinem Schaffen beanspruchen können.

Gioachino Rossini. Historische Aufnahme von Nadar (eigentlich Gaspard-Félix Tournachon)

Gioachino Rossini. Historische Aufnahme von Nadar (eigentlich Gaspard-Félix Tournachon)

So hat die Ehre der ersten Premiere der Frankfurter Spielzeit Rossinis „Otello“. Die 1816 – im Jahr des „Barbiere“ – uraufgeführte Version von Shakespeares Drama, durch die Brille italienischer Bearbeitungen gesehen, war trotz der anspruchsvollen Besetzung mit fünf Tenören ein nachhaltiger Erfolg und wurde gespielt, bis ein gewandelter Geschmack und Giuseppe Verdis moderne Version von 1887 das Werk verdrängten. Das Problem der Besetzung ist letztlich auch das größte Hindernis auf dem Rückweg des „Otello“ auf die heutige Opernbühne. Nur große Theater schaffen es, drei erstklassige Belcanto-Tenöre und einen Koloraturmezzo vom Schlage der Uraufführungs-Sängerin Isabella Colbran zu gewinnen.

Ein anderes Problem ist das Sujet. Es bedarf schon eines entschiedenen und durchdachten Zugriffs, wie ihn jetzt Damiano Michieletto für diese Produktion, einer Kooperation mit dem Theater an der Wien und dort 2016 gezeigt, entwickelt hat. Dann aber wird das viel gescholtene Libretto von Francesco Maria Berio gerade wegen seiner Unzulänglichkeiten und seiner dramaturgisch offenen Stellen zur Vorlage für szenische und konzeptionelle Kreativität.

Ein venezianisches Familiendrama

Michieletto hat diese Chance genutzt und „Otello“ als ein Familiendrama konzipiert. Die geschlossene Gesellschaft zweier Clans, für die der venezianische Doge und der Vater Desdemonas, Elmiro Barberigo, stehen, das vergebliche Werben eines Fremden um Aufnahme in die hermetischen Kreise von Macht und Einfluss, der Mangel an Empathie und Liebe in den Beziehungen und das schlechthin Böse, für das mehr als Metapher denn als psychologisch fundierte Person Jago steht, hat Michieletto nach allen Regeln zeitgemäßer Regiekunst ausinszeniert und damit für einen reflektierten Abend gesorgt. Vom „albernen“ Umgang mit dem Thema, den noch ein Rossini-Kenner wie John Osborne bemängelte, war in diesen schlüssig gefügten drei Stunden nichts zu spüren – sicher auch ein Verdient der frisch wirkenden szenischen Einstudierung von Marcin Lakomicki.

Nino Machaidze als Desdemona. Foto: Barbara Aumüller

Nino Machaidze als Desdemona. Foto: Barbara Aumüller

Die Bühne von Paolo Fantin signalisiert mit üppigen Marmorwänden, einem Murano-Glaslüster und schweren Möbeln den Reichtum, aber auch die Kälte dieser gehobenen Gesellschaft und gibt den Sängern einen akustisch günstigen Entfaltungsraum. Denn auf die Sänger kommt es an: Sie sind in Rossinis musikalischer Konzeption am kreativen Entstehungsprozess der Komposition mit beteiligt. Ihnen obliegt es, durch Verzierungen und Variationen die Musik auf der Bühne zu aktualisieren. Zudem ist es für diese Form der Belcanto-Oper entscheidend, Traditionen der Gestaltung zu beherrschen, mit denen das gesungene Wort erst seine musikalische Vollendung findet.

Vieles davon, früher vergessen oder nicht beachtet, ist heute wiedergewonnen und wurde in Frankfurt vom Dirigenten Sesto Quatrini und einem im Ganzen hervorragenden Ensemble eingesetzt. Quatrini, Generalmusikdirektor im litauischen Vilnius, lässt den Sängern den erforderlichen Raum, koordiniert sie stilsicher mit dem Orchester und schäumt die Dramatik nie so auf, dass ihnen der Primat genommen oder der Stimmklang beeinträchtigt wird. Das Orchester besteht diese ungewohnte Bewährungsprobe glänzend – „Otello“ ist eine Frankfurter Erstaufführung und trotz einer ausgezeichneten „La gazza ladra“ vor einigen Jahren haben die Musiker bisher mit dem ernsten Rossini keine Erfahrung sammeln können.

Alle Farben des Klangprismas

Reynaldo Hahn beschrieb den für Rossini erforderlichen Gesangsstil einmal so: Der Belcantist müsse seine Stimme „endlos modulieren und sie durch alle Farben des Klangprismas filtern können“. Diese Forderung erfüllt am ehesten Jack Swanson als Rodrigo, der sein Paradestück im zweiten Akt („Ah, come mai non senti“) nach allen Regeln der Kunst ausziert, mit furiosen Spitzentönen aufwartet, aber auch die Momente lyrischen Innehaltens mit einwandfrei gebildetem Klang erfüllt.

Die Titelrolle fordert von dem seit einem guten Dutzend Jahren im Rossini-Fach tätigen Tenor Enea Scala einen ungewöhnlichen Stimmumfang, der bis in die Lage eines modernen hohen Baritons hinabreicht. Scala bewältigt die fiebrige, auch für Rossinis Otello nötige Dramatik mit ambitionierter Präsenz; seine Tiefe allerdings neigt zu ausgeprägtem Vibrato und vernachlässigt die Färbung mancher Vokale. Im Duett mit Theo Lebow als in niederträchtiger Blässe angelegten Jago allerdings zeigt sich Scala als intensiver Gestalter. In dieser ausgedehnten Szene wird deutlich, wie sehr es in Rossinis Drama auf die Sänger ankommt: Von Farbe und Klang der rezitativischen Rede sind Sinn und psychologische Wirkung der Worte abhängig; gestaltendes Singen wird zum Schlüssel des Verstehens.

Experimentelle Musik jener Zeit

Nino Machaidze kann als Desdemona in ihrem ersten Auftritt in einem Duett mit der jugendlich strahlend singende Emilia von Kelsey Lauritano das Profil einer realistisch beobachtenden Frau entwerfen, die zwischen Liebe und Angst ratlos nach einem Ausweg sucht, während ihr fremdenfeindlicher Vater Elmiro (Thomas Faulkner) längst beschlossen hat, seine Tochter dem Sohn des Dogen, Rodrigo, zur Frau zu geben, nicht ahnend, dass diese bereits heimlich mit Otello verheiratet ist. Der Höhepunkt ihrer Partie ist allerdings der dritte Akt, beginnend mit der schwermütigen, von der Harfe eingeleiteten Lied von der Weide („Assisa a’pie d’un salice“), ihrem Gebet und der tödlichen Konfrontation mit Otello – Szenen von romantischem Reiz, die etwa Giacomo Meyerbeer als „göttlich schön“, aber auch als „ganz und gar antirossinianisch“ bezeichnet hat.

Er hat Recht: Rossini schreibt in diesem dritten Akt eine für seine Zeit in ihrer Konsequenz experimentell moderne Musik, die er Jahre später in „Semiramide“ und schließlich in „Guillaume Tell“ perfektionieren sollte. Machaidze singt die Rossini-Desdemona mit nobler Brillanz und dem Selbstbewusstsein einer venezianischen Patriziertochter, bleibt aber mit unruhiger Tongebung, unscharfer Artikulation und einer fast unverständlichen Diktion der Partie die Präzision und Klarheit des Singens schuldig. Die Oper Frankfurt hat mit diesem „Otello“ die Trias der diesjährigen Rossini-Entdeckungen fulminant eröffnet.

Als nächste Premiere ist „La Gazzetta“ am 2. Februar 2020 im Bockenheimer Depot angekündigt, gefolgt von „Bianca e Falliero“ am 5. April im Opernhaus.




Der Zeit voraus in allen Wissenschaften – Hagener Ausstellung auf den Spuren des Universalgenies Leonardo da Vinci

Von Leonardo exakt mit Feder und Tinte erfasst: „Der Mensch des Vitruv" (um 1490). (Galleria dell'Accademia, Venedig / Institut für Kulturaustausch, Tübingen)

Auch so ein berühmtes Bild, von Leonardo exakt mit Feder und Tinte erfasst: „Der Mensch des Vitruv“ (um 1490). (Galleria dell’Accademia, Venedig / Institut für Kulturaustausch, Tübingen)

Eigentlich muss man das nicht klarstellen, doch sei’s drum: Tayfun Belgin, Direktor des Hagener Osthaus-Museums, hält also spaßeshalber fest, dass in seinem Haus weder die „Mona Lisa“ noch die „Anna selbdritt“ oder „Das Abendmahl“ zu sehen sind, obwohl die neue Ausstellung doch von Leonardo da Vinci handelt.

Na, sicher: Solche weltberühmten Bilder könnte man nimmermehr ausleihen, auch wenn man weder Mühen noch Kosten scheut. Außerdem ist die Malerei gar nicht Leonardos Hauptbeschäftigung gewesen, heute werden ihm lediglich rund 20 Gemälde zugeschrieben. Den Großteil seiner Zeit auf Erden (1452-1519) hat er mit teilweise visionären Erkundungen und Erfindungen zugebracht, die ihrer Zeit sehr weit voraus waren. Genau damit befasst sich die Schau – anhand von 119 handkolorierten Faksimile-Skizzen und von 25 Modellnachbauten, die recht exakt Leonardos Entwürfen folgen.

Das Ausstellung-Konvolut stammt vom Tübinger „Institut für Kulturaustausch“ (Leitung: Maximilian Letze). Anlass des Hagener Gastspiels der Wanderschau ist der 500. Todestag Leonardos. Der Aufbau der Ausstellung wirkt nur auf den ersten Blick womöglich etwas dröge. Sobald man sich aufs Thema einlässt, entsteht ein Sog.

Nach einer Leonardo-Skizze von 1495 gebaut: Modell eines Hubschrauber-Vorläufers. (Foto: Bernd Berke)

Nach einer Leonardo-Skizze gebaut: Modell eines Hubschrauber-Vorläufers. (Foto: Bernd Berke)

Der 1485 skizzierte Fallschirm funktioniert tatsächlich

Und siehe da: Die allermeisten Ideen des Universalgenies funktionieren tatsächlich, sie sind staunenswert ausführbar; so etwa auch ein Fallschirm, der einen sicher zu Erde bringt. Der Fallschirmspringer Adrian Nicholas hat es anno 2000 am eigenen Leibe ausprobiert, die Ideenskizze stammt von 1485!

Leonardo hat sich seinerzeit auch Gedanken über einen Hubschrauber-Vorläufer und eine Art Flugdrachen gemacht. Wahrlich, das waren Gedankenflüge sondergleichen, wenn auch die beiden zuletzt genannten Apparaturen sich zu Leonardos Zeit noch nicht dauerhaft in die Lüfte erhoben haben. Immerhin wandelte das Genie auch hierbei auf den richtigen Wegen. Unter anderem hatte Leonardo dafür intensive Studien zum Vogelflug absolviert. Pendant im anderen Element: Bevor er sich mit Schiffen befasste, widmete er sich genauesten Untersuchungen zur Wasserströmung.

Hin und her zwischen vielen Projekten

Die Ausstellung ist zwar thematisch recht säuberlich gegliedert, doch das täuscht über die wohl ziemlich chaotische, demiurgische Arbeitsweise Leonardos hinweg, der stets an einigen Projekten zugleich arbeitete, gar vieles ergriff und zwischendurch manches beiseite legte. Es ist ja überhaupt kaum zu glauben, über welche verschiedenen Gegenstände Leonardo da Vinci fundiert nachgedacht und dabei immer wieder geistiges und technisches Neuland entdeckt hat. In der Anatomie machte er ebenso bahnbrechende Fortschritte wie im Schiffs-, Brücken- und Kanalbau. Eine weit geschwungene Brücke, die im heutigen Istanbul von Europa nach Asien führen sollte, ist freilich nie gebaut worden, sie erschien dem Sultan gar zu visionär und wohl auch zu kostspielig. Sie war übrigens so konstruiert, dass sie Erdbeben überstanden hätte.

Leonardo zeichnete sich zudem als ebenso ebenso kühner wie umsichtiger Stadtplaner aus, u. a. für Mailand, wo er ein Kanalsystem ersonnen hat, das die gar zu eng gebaute Metropole hätte entlasten sollen. Auch Müllabfuhr und Gesundheitsvorsorge gehörten zum weitsichtigen Planungsumfang. Doch er kam mit seinen vielfältigen Ideen nicht zum Zuge.

Auch die Arterien-Verkalkung entdeckt

Müßig zu erwähnen, dass Leonardo auch als Architekt und Ingenieur Maßstäbe setzte. Die damals noch nicht so exakte Zeitmessung (mit Sonnen- und Sanduhren) reizte Leonardo zur Konstruktion ausgefeilter Uhrmechanik. Sein geradezu besessener, offenbar nie ermüdender Wissensdurst trieb ihn auch zu anatomischen Studien, die etwa zur ersten Entdeckung der Arterien-Verkalkung führten, also auch die Medizin voranbrachten. Seine Zeichnungen vom menschlichen Körper und dessen Innenleben sind von bis dahin unerreichter Präzision. Gruselige Kehrseite: Er sezierte dafür gelegentlich auch die Leichen vormaliger Strafgefangener.

Modellnachbau eines „Automobils" mit Zahnradgetriebe und Differenzialgetriebe für die Hinterräder – nach einer Leonardo-Skizze von 1493. (Foto: Bernd Berke)

Modellnachbau eines „Automobils“ mit Zahnradgetriebe und Differenzialgetriebe für die Hinterräder – nach einer Leonardo-Skizze von 1493. (Foto: Bernd Berke)

Für Leonardo bestand kein grundlegender Unterschied zwischen Wissenschaft und Kunst, eins geht ersichtlich ins andere über. Erfindungen werden nicht zuletzt in ästhetischer Weise erwogen, geglückte Funktion erfüllt sich sozusagen auch im Anblick. Wenn er etwas Vorgefundenes aus der Natur zergliederte, diente dies auch der Verbesserung im Malerischen.

Ebenfalls keinen prinzipiellen Unterschied sah Leonardo zwischen Mensch und Maschine. Aufs „Funktionieren“ kam es beiderseits an. Wer weiß: Mit solchen Gedanken stünde er heute vielleicht an der Spitze einer Bewegung, die mit Nachdruck Künstliche Intelligenz erforscht und Mensch-Maschinen-Konstrukte in allerlei Abstufungen für denkbar oder gar für wünschenswert hält.

Eine Frühlingsgöttin auf dem „Automobil“

Die Modelle aus Holz und Metall, die auf der Basis von Leonardos Skizzen entstanden sind, kann man zum Teil selbst erproben, beispielsweise auch den Nachbau eines frühen „Automobils“, dessen Original sich per Federspannung (gespeicherte Kraft) immerhin rund 30 Meter weit selbsttätig fortbewegen konnte. Mit großem Pomp hatte das von den Medici in Auftrag gegebene Fahrzeug seine öffentliche Premiere, spektakulär beladen mit einer „Frühlingsgöttin“. Jammerschade, dass es davon keine Filmaufzeichnung gibt. Die entsprechende Erfindung (oder wenigstens Vorarbeiten dazu) hätte man Leonardo beinahe auch noch zutrauen dürfen. Nun gut, das ist vielleicht etwas übertrieben. Generell nahmen übrigens die Zeitgenossen manche seiner Erfindungen nicht ernst, weil sie die Tragweite nicht erkannt haben.

Je elf Läufe in drei Lagen: Modell eines Orgelgeschützes nach einer Skizze (1482) Leonardo da Vincis. (Foto: Bernd Berke)

Ein zwiespältiges Kapitel sind Leonardos Forschungen für militärische Zwecke. Obwohl im Herzen wohl eher Pazifist, erfand er beispielsweise martialische Belagerungsmaschinen oder einen fürchterlichen Sichelwagen, der durch die Reihen feindlicher Kämpfer rasen und sie massenhaft niedermähen sollte wie Gras oder Getreide. Allerdings hätten sich auch die Zugpferde schwer verletzt.

Furchtbar raffinierte Militärtechnik

Ein schon neuzeitlich anmutendes Orgelgeschütz konnte aus vielen Rohren zugleich feuern, die Geschützbatterien sollten sich durch Drehung rasch auswechseln lassen. Sogar ein trutziger Panzer, ebenfalls rundum mit Geschützen ausgestattet, zählte zu Leonardos Ideen-Arsenal. Derlei Kriegsgerätschaften beeindruckten so manchen italienischen Fürsten, der in jenen unruhigen Zeiten im Hader mit anderen lag. Auf lukrative fürstliche Aufträge war Leonardo angewiesen.

Die Skizzen sind oftmals dermaßen kleinteilig ausgeführt, dass man als Laie zumindest sehr lange hinschauen muss, um daraus halbwegs schlau zu werden – von der winzigen Beschriftung ganz zu schweigen. Verständnishilfe gibt’s an sechs Multimedia-Stationen, wo man mit mehr als 8000 Bildern etliche Einzelheiten über Leonardo und seine Zeit aufrufen kann. Mit einem allzu kurzen Aufenthalt im Museum sollte es also nicht getan sein. Erst recht nicht, wenn man am Schluss noch ein paar heutige Patente aus Hagen und Südwestfalen in Augenschein nehmen will. Erfindergeist regt sich noch, wenn auch nicht mehr im Sinne von Originalgenies.

Im Verlauf des Rundgang fragt man sich, woran ein Leonardo wohl heute arbeiten würde. Ob er sich mit Klimafragen beschäftigen würde? Oder mit etwas ganz anderem, was uns Heutigen noch gar nicht in den Horizont gerückt ist? Genügend Nahrung für Phantasie.

Leonardo da Vinci – Erfinder und Wissenschaftler. Osthaus Museum, Hagen, Museumsplatz 1 (Navigation: Hochstraße 73). 15. September 2019 bis 12. Januar 2020, geöffnet Di-So 12-18 Uhr. Eintritt 10 Euro, ermäßigt 7 Euro. Katalogbuch erhältlich. Tel.: 02331 / 207 3138. www.osthausmuseum.de

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Direkt nebenan, im selben Kunstquartier, zeigt das Emil Schumacher Museum vom 15. September 2019 bis zum 9. Februar 2020 eine Sonderausstellung mit abstrakten Bildern von K. R. H. Sonderborg. Darauf werden wir in den nächsten Tagen zurückkommen. Infos: www.esmh.de

 

 

 




Israel-Boykotteurin sollte Nelly-Sachs-Preis erhalten – Nimmt Dortmunder Jury die fragwürdige Entscheidung zurück?

Die pakistanisch-britische Autorin Kamila Shamsie sollte den mit 15.000 Euro dotierten Nelly-Sachs-Preis der Stadt Dortmund erhalten. Doch nun sieht es so aus, als werde die Entscheidung rückgängig gemacht.

Die alle zwei Jahre verliehene Literatur-Auszeichnung ist der (bislang noch) renommierteste Kulturpreis, den die Stadt zu vergeben hat. Und was ist daran jetzt verkehrt?

Problematische Preisträgerin? Kamila Shamsie. (Foto: Mark Pringle)

Problematische Preisträgerin: Kamila Shamsie. (Foto: Mark Pringle)

Diesmal liegt man mit der Kandidatenkür leider völlig „daneben“. Wie diversen Quellen zu entnehmen ist, zuvörderst den Ruhrbaronen, beteiligt sich die Autorin Kamila Shamsie offenbar ganz bewusst und entschieden am Kulturboykott gegen Israel – im Kontext der so genannten BDS-Kampagne, um die es bereits bei der RuhrTriennale heftigen Streit gegeben hat. Triennale-Intendantin Stefanie Carp musste sich einen unglücklichen, chaotischen und sehr widersprüchlichen Umgang mit dem Thema vorhalten lassen.

Die naturgemäß apologetische Jury-Begründung für die jetzige Dortmunder Entscheidung zum Nelly-Sachs-Preis findet sich hier. Die etwas verschwurbelte Diktion deutet darauf hin, dass man sich von rein literarischen Erwägungen hat (ver)leiten lassen – ganz ohne Rücksicht auf politische Aspekte, was in diesem Falle wenigstens naiv ist. Oder waren da gewisse Zusammenhänge gar nicht bekannt? Dann wäre es fahrlässig zu nennen. Inzwischen hat die Stadt recht unmissverständlich Stellung bezogen (siehe unten).

Der jetzige Vorfall (oder wohl treffender: Skandal) ist mindestens so gravierend wie die erwähnten Vorgänge bei der RuhrTriennale, wurde doch mit der allerersten Preisträgerin und zugleich Namensgeberin Nelly Sachs (1891-1970) im Jahr 1961 in Dortmund eine herausragende Dichterin geehrt, die mit ihrem Werk auch und vor allem für jüdische Traditionen und Belange einsteht, jedoch niemals platt parteilich, sondern in höchst einfühlsamem Geiste.

Nelly Sachs als junge Frau im Jahr 1910. (Wikimedia Commons / gemeinfrei / Fotograf(in) nicht namentlich bekannt) - Link: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Nelly_Sachs_1910.jpg

Nelly Sachs als junge Frau im Jahr 1910. (Wikimedia Commons / gemeinfrei / Fotograf(in) nicht namentlich bekannt) – Link: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Nelly_Sachs_1910.jpg

Die in Berlin geborene Nelly Sachs war eine deutsch-schwedische Schriftstellerin jüdischer Herkunft. Sie war eine Angehörige des gebildeten jüdischen Bürgertums, das einst in Deutschland tief verwurzelt war und damals das gesamte Kulturleben nachhaltig geprägt hat – bis die Nazis die Macht an sich rissen. Vom NS-Regime wurde Nelly Sachs drangsaliert, so dass sie 1940 nach Schweden flüchtete; gerade noch rechtzeitig, um dem Abtransport in ein Lager zu entgehen.

Den Dortmunder Nelly-Sachs-Preis erhielt sie 1961, 1966 bekam sie den Literaturnobelpreis „für ihre hervorragenden lyrischen und dramatischen Werke, die das Schicksal Israels mit ergreifender Stärke interpretieren“.

Wie verhält sich zu all dem der Israel-Boykott der jetzigen Preisträgerin? Steht er nicht dem Geist und dem Sinn des Werkes von Nelly Sachs völlig fern oder gar diametral entgegen? Muss man die Preisvergabe nicht einen eklatanten Fehlgriff nennen?

Noch mehr Fragen: Ob es Proteste bei einer etwaigen Preisverleihung am 8. Dezember geben würde, zu der die Autorin nach Dortmund anreisen wollte? Ob aus den Reihen früherer Preisträger vielleicht gar jemand die Auszeichnung zurückgeben wird? Wüste Spekulation, sicherlich. Aber auch nicht auszuschließen.

Jedenfalls muss man sich schon darauf gefasst machen, dass Dortmund in den politisch hellhörigen Feuilletons zumindest bundesweit, wenn nicht international ins Zwielicht gerät. Man kann auch in diesem Sinne nur inständig hoffen, dass die Preis-Entscheidung schnellstens revidiert wird.

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Stellungnahme der Stadt Dortmund:

Preisvergabe überdenken

Inzwischen liegt eine Stellungnahme der Stadt Dortmund vor. Im Wortlaut:

„…Zum Zeitpunkt der Entscheidung war keinem der Jurorinnen und Juroren bekannt, dass Kamila Shamsie in der Vergangenheit die Kampagne BDS (Boycott, Divestment and Sanctions) unterstützt hat. In der Vorbereitung der Jury ergaben sich keinerlei Hinweise auf Aussagen, die mit BDS in Verbindung stehen. BDS hat das Ziel, Israel wirtschaftlich, politisch und kulturell zu isolieren.

Die Autorin hat am Mittwoch, 11. September, persönlich Stellung bezogen und ihre Unterstützung für BDS bekräftigt.

Die neunköpfige Jury des Nelly-Sachs-Preises wird vor dem Hintergrund dieser veränderten Ausgangs- und Informationslage in den nächsten Tage zusammentreten, um ihre Entscheidung im Rahmen eines satzungsgemäßen Verfahrens (zu) überdenken. Über das Ergebnis werden wir schnellstmöglich informieren.

Der Rat der Stadt Dortmund hat sich im Februar 2019 klar positioniert und eine „Grundsatzerklärung des Netzwerkes zur Bekämpfung von Antisemitismus in Dortmund“ beschlossen. Darin heißt es u. a., dass „…Organisationen, Vereine(n) und Personen, die etwa (…) zu antijüdischen oder antiisraelischen Boykotten aufrufen, diese unterstützen oder entsprechende Propaganda verbreiten (z. B. die Kampagne ‘Boycott – Divestment – Sanctions (BDS)‘ keine Räumlichkeiten oder Flächen zur Verfügung gestellt werden.“




Regionale Erdung, weiter Horizont – Buch und Ausstellung zum Thema „Mensch & Tier im Revier“

Der Titel „Mensch & Tier im Revier“ wirkt anheimelnd. Doch dieses Buch kommt vor allem anfangs auch mit gewichtigem theoretischen Unterbau und gesellschaftskritischem Besteck daher. Anlässe gibt’s ja genug.

Und so erfahren wir eingangs, dass das menschengeprägte Erdzeitalter, das Anthropozän, sich in der bisherigen Form dem Ende zuneige und dass wir endlich in eine – Achtung, Neologismus! – „humanimale Sozietät“ eintreten sollen. Sprich: Mensch und Tier mögen gleichsam auf Augenhöhe existieren, dem Tier wird eine Art „Inklusion“ zuteil und es sieht seinen so ganz anderes gearteten Geist (jawohl: Geist) gleichberechtigt gewürdigt. Eine ferne Utopie? Oder eine dringliche Notwendigkeit? Jedenfalls eine Sichtweise, die sich mit herkömmlichen Zoos oder zirzensischen Attraktionen nicht mehr vereinbaren lässt.

Grubenpferd, „Taubenvatta“ und Bergmannskuh

In fünf Hauptkapiteln greift der hochinteressante Band (und die zugehörige Ausstellung im Essener Ruhr Museum mit über 100 Exponaten und mehr als 100 Fotografien) die Aspekte seines vielfältigen Themenkreises auf, der nach Möglichkeit mit prägnanten Belegstücken aus der Geschichte des Reviers illustriert wird. Und ja: Auch der früher so allgegenwärtige „Taubenvatta“ sowie die Ziege als „Bergmannskuh“ kommen natürlich ebenso vor wie Gruben- oder Brauereipferde.

Der Horizont des Buches wie der Schau reicht allerdings weit über die Region hinaus, er erstreckt sich zugleich ins Existenzielle und Universelle. Man darf getrost von einem Standardwerk zum Thema sprechen, wobei es in den Texten häufig deutlich ernster zur Sache geht als in den Illustrationen.

Die Kapitel-Überschriften lauten:

1.) Tiere töten
2.) Tiere nutzen
3.) Tiere lieben
4.) Tiere ordnen
5.) Tiere deuten

Der Mensch handelt, das Tier erduldet und erleidet

Da gibt es, allen Differenzen zum Trotz, Gemeinsamkeiten: Immerzu ist nämlich der Mensch der Handelnde, das Tier erduldet und erleidet zu allermeist die Aktionen und Emotionen des Homo sapiens. Das biblische „Macht euch die Erde untertan“ wirkt lange und vielfach schrecklich nach.

Ganz unverhüllt und explizit zeigt sich das Gewaltverhältnis zu Beginn: „Tiere töten“ handelt vornehmlich von Jagd und Schlachtung, aber auch von rabiater Insektenvernichtung oder massenhaft überfahrenen Tieren. In den Blick gerät selbst ein Bildschirmspiel wie „Moorhuhn“, bei dem die Comic-Tierchen halt bedenkenlos abgeknallt werden. Befinden wir uns hier im Grenzgelände zwischen berechtigter Mahnung und humorfreier Spaßbremsung?

Auch in der Abteilung „Tiere nutzen“ verhält es sich nicht gerade zu wie auf dem sprichwörtlich idyllischen Ponyhof: Da geht es etwa um barbarische Tierversuche, erbärmlich ausgebeutete Grubenpferde, Brieftauben im Militärdienst, rücksichtslose Elfenbein-, Pelz- und Leder-Gewinnung, wobei im Ruhrgebiet das vielzitierte „Arschleder“ der Bergleute nicht fehlen darf.

Objekte der sortierenden Wissenschaft

„Tiere lieben“ klingt demgegenüber harmlos und versöhnend, doch auch die oftmals übertriebene Vermenschlichung und Verniedlichung der Tiere wird deren Wesen keinesfalls gerecht. Die herablassende Haltung schließt etwa die Zurschaustellung in Varietés und Zirkuszelten mit ein. Auch der vermeintliche „Schutz“ von Tieren hat furchtbare Kehrseiten: So wurden in Kriegszeiten Pferde in die Schlachten geschickt, notfalls mit Gasmasken versehen. Das war natürlich alles andere als mitfühlend.

„Tiere ordnen“ bezieht sich auf die Systematik der wissenschaftlichen Betrachtung, die im Tier vor allem ein Objekt sieht. Ausgestopfte Exemplare in naturkundlichen Sammlungen sind nur ein Ausdruck dieses herrschaftlich sortierenden und zergliedernden Zugriffs auf die Schöpfung, zu dem sich die Menschen selbst ermächtigen. Überdies umfasst der „Ordnungs“-Gedanke auch die ideologische Indienstnahme der Tiernatur – bis hinab zur 1935 in Essen gezeigten Ausstellung „Mensch und Tier im deutschen Lebensraum“, die unterm überdimensionalen Hitlerbild und unter Schirmherrschaft des „Reichsjägermeisters“ Göring rund 350.000 Besucher anzog.

Mit Blattgold überzogener WM-Krake

Schließlich „Tiere deuten“. Hier erfährt man von mancherlei Zuschreibungen symbolischer oder religiöser Art, mit denen der Mensch sich das Tier gedanklich für seine emotionalen Bedürfnisse zurechtlegt. Das Spektrum reicht hier vom putzigen Zigaretten-Igel bis zum Amulett und Wappentier, vom Tierkreiszeichen bis zum prolligen Fuchsschwanz am Auto-Rückspiegel.

Sogar der Oberhausener Fußball-Krake Paul, der bei der EM 2008 und bei der WM 2010 so manches Match mit deutscher Beteiligung richtig „vorhersagte“ und posthum mit Blattgold überzogen wurde, wird in diesem Zusammenhang noch einmal dargeboten. Das Exponat stammt übrigens aus dem Deutschen Fußballmuseum in Dortmund und zeugt auf bizarre Weise von einem obsoleten Blick auf die Tierwelt.

Das Buch

Heinrich Theodor Grütter / Ulrike Stottrop (Hrsg.): „Mensch & Tier im Revier“. Klartext Verlag, Essen. 304 Seiten Katalogformat, fester Einband, über 230 Abbildungen. 29,95 Euro.

Die gleichnamige Ausstellung

„Mensch & Tier im Revier“. Bis zum 25. Februar 2020 im Ruhr Museum auf Zeche Zollverein, Essen. Mo bis So 10-18 Uhr. 24., 25. und 31.12 geschlossen. Eintritt 3 Euro, ermäßigt 2 Euro. Welterbe Zollverein, Areal A (Schacht XII), Kohlenwäsche (A 14), Gelsenkirchener Straße 181. www.ruhrmuseum.de 




„text & talk“, Gedicht und Gebäck – ein sonntäglicher Ausflug zur NRW-Messe der unabhängigen Buchverlage

Büchermarkt - Foto: Herholz

Büchermarkt am Kulturgut Haus Nottbeck – Foto: Herholz

Etwas Melancholie lag bereits über diesem Sonntag, bevor meine Frau und ich uns gestern aufmachten, um im münsterländischen Oelde das Kulturgut Haus Nottbeck zu besuchen. Diese traurige Nachdenklichkeit wollte sich auch kaum auflösen, als wir unter grau verhangenem Himmel mittags in Nottbeck ankamen.

Und das obwohl dieses Kulturgut ein rundum schöner Ort ist, Architektur und Kultur eingebettet in kleinhügelige Obstwiesenlandschaft. Obst, dem man zu dieser Jahreszeit hier nirgends entgehen kann: In Oelde dreht sich Anfang September alles um die markengeschützte Stromberger Pflaume, der Pflaumenmarkt lockt und die neue Pflaumenkönigin heißt Annika I. Asseburg.

Buchmessenzelt – Foto: Herholz

An diesem Sonntag ist auf Haus Nottbeck nicht nur das Kulturcafé dauerhaft geöffnet. Man kann auch draußen unter Sonnensegeln  resp. Regendächern  Gegrilltes erstehen oder eben Pflaumenkuchen, weitgehend wespenfrei.

Der Blick aufs Museum ist von den Sonnenschirmen des Büchermarktes leicht verstellt, vollkommen verdeckt ist das Gartenhaus durch eben jenes weiße Zelt, in dem die Buchmesse logiert. „Buchmesse“ – ein ziemlich groß geratenes Wort für eine Art Partyzelt, in dem 27 Verlage und einige wirklich große Kleinverleger Platz genommen haben. Aber warum soll nicht auch dies hier als „Buchmesse“ firmieren, wo doch heute jeder gewöhnliche Literaturabend gleich Event ist und Gala heißt?

Hier in der Diaspora

Dass hier auf dieser Messe in der Diaspora allerdings Lizenzgespräche stattfänden, Auslandsrechte verkauft, Übersetzungen eingestielt oder Filmrechte verscherbelt würden, dergleichen war nirgendwo zu hören oder zu sehen. Allein einige Autorinnen/Autoren auf Verlagssuche versuchten da und dort ihre Manuskripte loszuschlagen, und nur kurz ihrem eitlen Self-Marketing lauschend schlichen wir uns lieber davon – aus diesem wunderlichen Potemkinschen Zelt in herbstlicher Literaturlandschaft.

Frantz Wittkamp am Stand der Galerie Wittkamp – Foto: Herholz

Bewunderswert umso mehr die Verleger, Mitarbeiter und Freunde, die an ihren Tischen beharrlich auf verständige Leserinnen und Leser warten, vielleicht sogar auf Käufer der ausliegenden Druckerzeugnisse. An einem der belebteren Tische hatte ich Frantz Wittkamp erkannt, dessen Vierzeiler ich so mag:
„Ich möchte etwas Schönes schreiben.
Es müsste auch bedeutend sei.
Ich weiß, man soll nicht übertreiben.
Mir fällt auch Gott sei Dank nichts ein.“
(aus: frantz wittkamp: tage und gedichte. Coppenrath Verlag, Münster 2006)

An anderen Tischen die wackeren Verleger/Herausgeber der münsterschen Literaturzeitschrift „am erker“ oder der Grafiker und Lyriker H.D. Gölzenleuchter (Edition Wort und Bild), der eigene und fremde Texte mit seinen beeindruckenden Holzschnitten illustriert. So gäbe es noch viele zu nennen, die auf diesem heterogenen Marktplatz anwesend waren oder eben leider nicht (wie etwa der Bottroper Verlag Henselowsky Boschmann oder der Rigodon Verlag mit seinem solitären „Schreibheft“). Auch Verleger und Grafiker aus den Niederlanden waren zu Gast und anscheinend kurzerhand nach NRW eingemeindet wurden auch der Chemnitzer Eichenspinner Verlag sowie der Satyr Verlag Berlin.

Zu lesen beginnen

Das gemischte Kulturgut-Publikum aus Radlerpulks, Familienausflüglern, Flohmarktstöberern allerdings bevorzugte an diesem Sonntagmittag eher den Rundgang über den Büchermarkt in Innenhof und Saal, talkte (vulgo: plauderte) lieber ausgiebig an den Tischen vor dem Kulturcafé. Auch meine Frau und ich ließen uns schließlich zu Krakauer/Bratwurst/Pommes hinreißen und genossen den aufklarenden Himmel, die laue Wärme, das ruhige Treiben im Innenhof. Muße, Leute schauen, Kaffee trinken, zu lesen beginnen.

Verlagstisch – freundlich & hochroth – Foto: Herholz

Während meine Frau sich alsbald in Michael Klaus‘ Roman „Tage auf dem Balkon“ vertiefte (eben erst am Tischchen des Ardey Verlags erstanden), las ich mich fest in „Ein symphonischer Text“ von Leon Skottnik, erschienen im hochroth Verlag. Als europäisches Kollektiv und digitales wie reales Netz vertreibt hochroth mit Standorten u. a. in Bielefeld/München/Wien/Paris weitgehend unbekannte Lyrik aus Skandinavien, darunter auch „Minderheitenlyrik“ wie die der Sámi.

Meine aus dem Ruhrgebiet mitgeschleppte Melancholie allerdings wollte auch lesend nicht wirklich verfliegen, wurde aber immerhin gelindert und befeuert zugleich mit diesen Versen Skottniks:

„Du trinkst deinen Kaffee/ in einem kleinen Restaurant mit großen Fenstern/ Draußen hatte man Galgen aufgestellt/ und knüpfte/ knüpft/ wird die Verlierer aufknüpfen/ Du sitzt vor dem Fenster/ bis du endlich blind wirst/ und die Häuser und Kirchen/ mit einer Kraft zerschlägst/ die nur dir zu eigen ist/ Und mit einer Kraft/ die seinesgleichen sucht/ schleppst du Stein für Stein/ und alle Eidechsen, die darin wohnen/ auf den Felsen zum Brunnen/ eine Stadt errichtend/ In der Hoffnung/ dass Menschen kommen werden um hier zu leben“.
(aus dem Text „Durchführung“. In:  Leon Skottnik: Ein symphonischer Text. hochroth Bielefeld 2018)

 




Wenn ungeheure Wassermassen aus den Wänden brechen – „Evolution“ als grandiose Vision bei der Ruhrtriennnale

Probenbild der Produktion „Evolution" (Foto: Heinrich Brinkmöller-Becker)

Probenbild der Produktion „Evolution“ (Foto: Heinrich Brinkmöller-Becker)

Eine Produktion der Ruhrtriennale in Kooperation mit dem Proton Theater Budapest ist der Höhepunkt des diesjährigen Festivals, wenn nicht gar ein Glanzlicht des seit 2003 stattfindenden Festes in ehemaligen Räumen der Industrie überhaupt. „Evolution“ ist auch ein positives Beispiel für die nicht austauschbare Nutzung der Jahrhunderthalle in Bochum.

Die Inszenierung wurde von Kornél Mundruczó auf der Grundlage von György Ligetis „Requiem“ für Sopran solo, Mezzosopran solo, gemischten Chor und Orchester (Uraufführung: 1963/65) erarbeitet und ist wahrlich ein visionärer Geniestreich. Mundruczó, Jahrgang 1975, gehörte seit Anfang der 2000er zur freien Szene Budapests. Ich sah seine ersten Inszenierungen in Leerständen und anderen Behelfsbühnen. Nach seinen Erfolgen beim Filmfestival in Cannes wurde er quasi über Nacht berühmt und inszenierte dann u.a. Hamburg und Hannover. Seit 2009 arbeitet er immer mit der von ihm gegründeten, unabhängigen Theaterkompanie Proton Theater aus Budapest zusammen, die auch diesen Abend darstellerisch prägt.

„Evolution“ ist dreigeteilt. Teil 1 („Éva“) zeigt, wie drei Männer mit Eimern einen Raum betreten, eine verlassene Gaskammer. Ihre Aufgabe ist es, diesen Raum zu reinigen, von Vergangenem zu befreien. Es misslingt. Stattdessen ziehen sie aus allen Ritzen und Ausgüssen Abflussschnodder heraus, der aussieht wie lange Haarsträhnen, manchmal gar wie Perücken.  Im Hintergrund verstärkt die Musik Ligetis die Szene. Unter der Leitung von Steven Sloane wird auf hohem Niveau musiziert. Der mächtige imposante Chorgesang ertönt vom Staatschor Latvija (Lettland) unter der Leitung von Maris Sirmais. Allein das Umschlagen der Notenseiten hat etwas Unheimliches. Das Requiem ist in dieser Form, in diesem Zusammenhang mit Mundruczós Inszenierung zu einer Einheit geworden.

Ein Baby schreit. Die drei Männer finden es unter einem Gitter. Aus allen Untergründen sprudelt Wasser. Durch die Bögen schreiten die drei mit dem Baby „Éva“ in die Zukunft.

Weitere Impression aus der Inszenierung. (Foto: Heinrich Brinkmöller-Becker)

Weiteres Szenenbild der Inszenierung. (Foto: Heinrich Brinkmöller-Becker)

Es folgt eine von Kata Wéber für die Inszenierung geschriebene Theaterszene. Anderer Stil – andere Ästhetik. „Léna“ ist der Titel von Teil 2. Spielort ist eine Küchenwohnung. Dort wohnt sie, die in einem Konzentrationslager (Auschwitz) geboren wurde, das Baby aus Teil 1. Links und rechts sieht man Kamera-Close-Ups aus dem Zimmer. Es erscheint ihre Tochter. Die beiden (großartig gespielt von Lili Monori und Annamária Láng) wollten eigentlich zu einer Preisverleihung gehen, bei der die alte Frau geehrt werden soll. Éva will nicht, sie scheint bereits ein wenig tüdelig. Es kommt es zu einer Aussprache zwischen Mutter und Tochter, die realistisch gespielt zeigt, wie sich Wunden über Generationen wiederholen. Es gibt keinen Ausweg. Leben steckt in einer Wiederholungsschleife. Am Ende brechen auch hier ungeheure Wassermassen aus den Wänden, der Decke und den Schränken hervor, ein Bild, das man von Bill Violas Video „Electronic Renaissance“ kennt. Ungeheuerlich.

Es folgt Teil 3 – „Jonas“. Am Bühnenrand schaut ein Junge auf sein Smartphone. Die Leinwand zeigt Chats mit allem, was „so läuft“. Die Wand zur Zukunft öffnet sich. Nun sehen wir 13 Kinder an der Rampe und im Hintergrund tut sich ein Bild auf, dass unvergesslich ist. Mit Hilfe von Lasertechnik betreten wir virtuellen Raum. Von fern treten zwei Frauen näher, dann der Chor, unendliche Weite und Tiefe. Kurz bevor sie auf die Gegenwart treffen, driften die Menschen ab, verschwinden im Vielleicht der Zukunft.

Weitere Aufführungen vom 12. bis 14. September (20.30 Uhr) in der Jahrhunderthalle Bochum. www.ruhrtriennale.de




Andris Nelsons in Essen: Bruckners Achte mit einem grandiosen Orchester zum perfekten Produkt aufpoliert

Andris Nelsons beim Konzert in der Philharmonie Essen. Foto: Saad Hamza

Andris Nelsons beim Konzert in der Philharmonie Essen. Foto: Saad Hamza

Bleiben wir zunächst beim Orchester, auch wenn es das Marketing vielleicht gerne anders hätte: Es ist die reine Freude, dem Leipziger Gewandhausorchester zuzuhören. Ein vollkommener Genuss, könnte man sagen, wäre dieser Begriff nicht untertrieben, weil er heute nicht im klassischen Sinn als eine Übereinstimmung des Wahren, Guten und Schönen aufgefasst wird, sondern eher als Umschreibung einer sinnlich-hedonistischen Überwältigung.

Nun eignet sich Anton Bruckner nur bedingt dazu, klippenlos strömenden musikalischen Genuss zu bereiten; dazu sind seine aufgetürmten Akkordgebirge dann doch zu störrisch, seine Lyrismen zu wenig eingängig, und zum Mitsingen hat zumal die Achte Sinfonie wenig Material zu bieten. Die kontrapunktischen Verschachtelungen sind eine Sache für passionierte Analytiker, die auch in der Frage, wie sich formale Zäsuren begründen lassen, bis heute uneins sind. Mit seinen Kontrasten, seinen Schroffheiten und seiner komplexen formalen Detailarbeit rückt Bruckner hier im Jahr 1890 nahe an Gustav Mahler, der ihn – und seine Misserfolge – noch vor seinem Tod mit seinen ersten beiden Sinfonien beerben sollte.

Das Licht, mit dem das Leipziger Spitzenorchester Bruckners Gefilde überzieht, ist das eines strahlenden, glanzvollen Sommertags. Schon das erste Thema in den tiefen Streichern strebt nicht aus herbstnebligem Dunst hervor, sondern sonnt sich in samtigem Glanz. Ideal ausbalanciert steigert sich das Orchester in den ersten klanglichen Triumph. Hörner und Oboe leuchten, der Einsatz der Tuben gelingt ohne eine Spur von Härte, beglückend frei schweben die Stellen, an denen Bruckners Satz sich auflichtet. Groß und klar das erste Auftürmen, organisch pulsiert das Metrum. Das Blech breitet Wagner-Samt aus, keine Fehlfarbe, keine ungeschickte Naht stört den Zauber. Im zweiten Satz artikulieren die Violinen im Piano so leicht, so luftig und dennoch so genau, dass sie die blühende Schönheit, die verhaltene Delikatesse dieser leisen Momente mit purem Glück erfüllen. Und wenn sie im dritten Satz auf die tiefen Saiten gehen, klingen die Töne wie dunkel funkelndes Öl. Man möchte auf Kundry anspielen: Hilft dieser Balsam nicht, dann birgt die Musik nichts mehr zum Heile.

Unerhörte Transparenz und Präzision

Was für ein Klangkörper also, mit dem die Philharmonie Essen gleich zu Saisonbeginn – und nach einem ersten Höhepunkt mit Bruckners Sechster und dem Gustav Mahler Jugendorchester unter Herbert Blomstedt– wieder ein Glanzlicht aufsteckt! Nicht umsonst zählt dieses 1743 gegründete älteste bürgerliche Sinfonieorchester der Welt unter das Dutzend weltweiter Top-Orchester. Nach Essen hat es seinen seit 2018 amtierenden, also durchaus noch „neuen“ Gewandhauskapellmeister mitgebracht: Andris Nelsons, internationaler Dirigierstar aus Riga, gleichzeitig Musikdirektor des Boston Symphony Orchestra, mit dem er 2016 schon in der Philharmonie zu erleben war. Als Exklusivkünstler des Dortmunder Konzerthauses war er dort 2018/19 vier Mal mit dem Gewandhausorchester zu erleben. Kein seltener Gast also an der Ruhr.

Nelsons ist der Garant für unerhörte Transparenz und eine Präzision, die sich selbst in Momenten extremer Verdichtung, wenn Bruckner in der Coda des letzten Satzes vier Hauptthemen übereinander schichtet und miteinander verwebt, nicht erschüttern lässt. Er ist auch der Meister der Tempi, die sich weder in einer langgezogenen, falschen Feierlichkeit noch in gerne für zeitgemäß verkaufter Hast verlieren. Nelsons steht aber auch für einen musikalischen Stil, der an eine Photoshop-Ästhetik erinnert: bearbeitet unter der Maxime einer makellosen Politur, überzogen mit fleckenloser Schönheit, wohlgeformt in der Proportion, mit reiner, ungestörter, idealer Oberfläche.

Und so klingt sein Bruckner auch, berührungslos über allen Schründen des Lebens schwebend, in perfekter Schönheit sich ergießend, widerstandsfrei strömend. Das ist auf seine Weise transzendent, von allem Irdischen ungerührt. Nelsons liefert ein perfektes Produkt, das Bruckners Erdung vergisst, ja verleugnet. Da fährt nichts dazwischen, da gibt es keine Irritationen, da geraten schmerzende Abbrüche nicht zum Ereignis. Und die Steigerungen haben nichts Bohrendes, keine Anspannung, keinen dramatischen Biss. Wenn sich Flöte und Kontrabass treffen, reißt kein Spannungsraum auf; es bleibt alles wohliger Klang. Und der Glanz der Blechbläser strahlt auch im Finale unverstört. Bruckner, in makelloser Perfektion misslungen.




Rundschauhaus und Krügerhaus – zwei Dortmunder Gebäude gaukeln Tradition vor

Das Dortmunder Rundschauhaus, in dem sich keine Rundschau mehr befindet. (Foto: Bernd Berke)

Sterile Anmutung: das Dortmunder Rundschauhaus, in dem sich keine Westfälische Rundschau mehr befindet… (Foto: Bernd Berke)

Dies fiel mir kürzlich bei einem Gang durch die Dortmunder Innenstadt auf:

Es gibt seit Anfang 2013 keine Westfälische Rundschau mehr, jedenfalls keine mehr mit eigener Redaktion. Es gibt auch keine Buchhandlung Krüger mehr. Es gibt aber immer noch ein Rundschauhaus (am Brüderweg) – und es gibt ein Krügerhaus (am Westenhellweg). So ganz kommen die Nachfolger ohne die lokalen Traditionen doch nicht aus. Einstweilen.

Während der Schriftzug des Krügerhauses noch einigermaßen authentisch anmutet, ist derjenige des Rundschauhauses nur noch eine vage Reminiszenz ans Original. Er wirkt steril und blutleer.

Diverse Branchen haben sich in den beiden anderweitig angestammten Bauten niedergelassen – von Anwaltskanzleien bis zum Modehändler. Im Sinne einer Wiedererkennbarkeit haben sie sich jedoch kollektiv für die althergebrachten Namen entschieden. Sie segeln also sozusagen unter fremder, wenn nicht gar unter falscher Flagge. Nun gut, von Markenpiraterie wollen wir lieber nicht reden, sonst wird’s am Ende noch justiziabel… Dass hier etwas vorgegaukelt wird, lässt sich freilich behaupten.

Übrigens hingen die Buchhandlung Krüger und die Westfälische Rundschau historisch zusammen, es gab zumindest einige Berührungspunkte. Aber das ist eine andere Geschichte, die hier nicht erzählt werden soll.

Das Dortmunder Krügerhaus, in dem sich keine Buchhandlung Krüger mehr befindet. (Foto: Bernd Berke)

…und das Dortmunder Krügerhaus mitsamt Passage, in der sich keine Buchhandlung Krüger mehr befindet. (Foto: Bernd Berke)




„Opus Klassik“: Zwei Preise gehen nach Düsseldorf

Im Vordergrund: die Trophäe des Opus Klassik. Foto: Monique Wüstenhagen

Im Vordergrund: die Trophäe des Opus Klassik. Foto: Monique Wüstenhagen

Unser Gastautor Robert Unger (Geschäftsführender Vorstand des Internationalen Kurt Masur Instituts Leipzig) über die Verleihung des Musikpreises „Opus Klassik“:

Gleich zwei Preise des zum zweiten Mal vergebenen Opus Klassik gehen nach Nordrhein-Westfalen, genauer: in die Landeshauptstadt Düsseldorf.

Das musische sozial-integrative Projekt SingPause in Düsseldorf erhält den Preis in der Kategorie „Nachwuchsförderung“. In der Kategorie „Sinfonische Einspielung des Jahres für Musik des 19. Jahrhunderts“ zeichnete die Jury die Düsseldorfer Symphoniker unter der Leitung von Ádám Fischer für ihre Interpretation der Dritten Sinfonie Gustav Mahlers aus.

Der Opus Klassik ist der Nachfolger des Echo Klassik: Diesen Preis hatte der Vorstand des Bundesverbands Musikindustrie (BMVI) 2018 eingestellt, nachdem es für die Verleihung des Echo Pop an die Rapper Kollegah und Farid Bang anhaltende Kritik gegeben hatte. Nicht wenige Kritiker hatten die Texte auf dem prämierten Album „JBG3“ als gewaltverherrlichend, sexistisch und antisemitisch eingestuft.  Der Preis solle nicht als „Plattform für Antisemitismus, Frauenverachtung, Homophobie oder Gewaltverharmlosung wahrgenommen“ werden, begründete der BVMI seinen Schritt. Das Album landete später auch auf dem Jugendschutz-Index.

Ausrichter des Opus Klassik Preises ist der Verein zur Förderung der Klassischen Musik e. V., in dem Labels, Veranstalter, Verlage und Persönlichkeiten aus der Klassik-Welt vertreten sind. Dieser zeichnet außerordentliche Künstler und Leistungen aus dem Genre Klassik aus. Eine unabhängige Jury wählt nach Nominierungen in verschiedenen Kategorien die Preisträger aus. Der Opus Klassik soll dabei „ein Preis von der Klassik für die Klassik sein“, so der Vorsitzende des Vereins zur Förderung der klassischen Musik Dr. Clemens Trautmann, Präsident der Deutschen Grammophon. Die Preisverleihung findet am 13. Oktober im Konzerthaus Berlin statt und wird dann vom Partner ZDF um 22.15 Uhr ausgestrahlt.

Die SingPause als sozial-integratives Bildungsangebot hat das Ziel, ganzen Jahrgängen von Grundschulkindern die Musik zurückzubringen. Sie startete erstmals 2006 und ist heute die größte Singbewegung für Kinder in Europa. Zwei Mal in der Woche besucht in 69 Grundschulen ein in der amerikanischen WARD-Methode ausgebildeter Sänger eine Grundschulklasse und macht mit den Schülern eine SingPause. Durch den gemeinsamen Gesang lernen die Kinder, dass die Stimme ein wunderbares Instrument ist, während sie durch den Gesang selbstbewusst und stark werden sollen. Die Düsseldorfer SingPause ist ein Projekt des vor mehr als 200 Jahren gegründeten Städtischen Musikvereins zu Düsseldorf.

Ausgezeichnete Aufnahme: Mahlers Dritte Sinfonie mit den Düsseldorfer Symphonikern und dirigiert von Ádám Fischer. Cover: Avi music

Ausgezeichnete Aufnahme: Mahlers Dritte Sinfonie mit den Düsseldorfer Symphonikern und dirigiert von Ádám Fischer. Cover: Avi music

Seit 2015 führen Ádám Fischer und die Düsseldorfer Symphoniker in einem Zyklus alle Sinfonien Gustav Mahlers gemeinsam mit Sinfonien von Joseph Haydn auf. Die Aufnahme von Gustav Mahlers Dritter Sinfonie vom November 2017 aus der Tonhalle wurde nun mit dem Opus Klassik ausgezeichnet. Der Mitschnitt unter Mitwirkung der Altistin Anna Larsson, dem Clara-Schumann-Jugendchor und den Damen des Städtischen Musikvereins entstand in Kooperation mit dem Deutschlandradio und ist erschienen beim Label Avi Music.

Die Aufnahme setzte sich in der Kategorie „Sinfonische Einspielung / Musik des 19. Jahrhunderts“ gegen 16 weitere Nominierte durch. Dies ist bereits die zweite renommierte Auszeichnung für einen Mitschnitt des Mahler-Zyklus: Die 2018 erschienene Sinfonie Nr.1 unter Ádám Fischer erhielt im Januar den BBC Music Magazine Award. Der Zyklus wird am 28. Februar sowie 1. und 2. März mit Mahlers Sechster in der Düsseldorfer Tonhalle vollendet; zum Abschluss dirigiert Ádám Fischer am 15., 17. und 18. Mai 2020 Joseph Haydns „Die Jahreszeiten“.

Die Preise sind ein Achtungszeichen für die Kulturvielfalt in der Rhein-Ruhr-Region, die sich sonst im nationalen Feuilleton neben Metropolen wie München, Berlin, Hamburg oder Frankfurt schwer tut, Aufmerksamkeit zu erzielen. Für die Kommunen, die unterstützenden Institutionen und die erfreulich ausgebaute Kulturförderung der Landesregierung mögen die Auszeichnungen ein Signal sein: Es lohnt sich, in Kultur zu investieren.




Lieb* Schül*

Alles nur eine (sprachiche) Luftblase? (FFoto: Bernd Berke)

Alles nur eine (sprachliche) Luftblase? (Foto: Bernd Berke)

Es ist schon ein Kreuz mit dem Gendern. Sagt „man“ was dagegen, findet „man“ sich womöglich schnell auf der zur Rechten neigenden Seite des politischen Spektrums wieder. Und doch erscheint manch eine sprachliche Verrenkung im angeblichen Dienste der Geschlechtergerechtigkeit ziemlich lächerlich.

Zwei neuere Beispiele fürs Gendern auf Biegen und Brechen:

Kürzlich auf einer Pressekonferenz. Eine Kulturschaffende mit mehr als einem Anhauch von Feminismus und mit ausgesprochenem Hang zur „Diversität“ ließ es sich nicht nehmen, jedes Mal mitten im Wort kurz innezuhalten, um die Gender-Linien akustisch zu markieren. Es klang arg abgehackt. Sie sagte beispielsweise Schauspieler-Innen; ganz so, als handle es sich um Menschen, die innen und nicht außen tätig sind. Ob man Alexa und Siri wohl auch auf solche automatenhaften Sprechweisen trimmen kann?

Welche verbalen Blüten das Bemühen sonst noch so treibt, zeigt sich in der offenbar bereits eingeschliffenen Gewohnheit an einem Dortmunder Gymnasium. Da werden die Schülerinnen und Schüler bzw. die Lernenden ungelogen wie folgt angeschrieben:

Lieb* Schül*

Ja, ihr habt wirklich richtig gelesen. Ist das nun halbwegs humorig oder lediglich hilflos? Bleibt denn nur noch Gestammel, wenn sich gefälligst (nach Möglichkeit) alle gemeint fühlen sollen? Da verschlägt es einem tatsächlich die Sprache.

Jou, das war’s dann auch schon, lieb* Les*.

_______________________________________________________

Das heißt nee, es folgt noch ein P. S.:

Vorschlag zur Güte: Wie wär’s denn eigentlich mit Anreden wie „Liebe Leute“? Oder gar mit „Liebe Mitmenschen“?




Bruckner unter Spannung, Mahler weltabgewandt – Herbert Blomstedt und Christian Gerhaher setzen in Essen Maßstäbe

Herbert Blomstedt, der jung gebliebene Senior unter den Dirigenten. Foto: Martin Lengemann

Zuallererst muss vom Dirigenten die Rede sein. Von Herbert Blomstedt, der mit 92 Jahren noch immer am Pult steht, hoch aufgerichtet, mit kleinen, gleichwohl intensiven Bewegungen sowie punktgenauen Einsätzen. Der nichts von Strenge hat, vielmehr natürliche Autorität ausstrahlt. Der also ein Orchester verlässlich zu führen versteht. Dem Manier, Theatralik oder gar Egozentrik völlig fremd sind.

Blomstedts Auftritt in der Philharmonie Essen ist außerordentlich, ein kostbares Geschenk, das sich, zur Eröffnung der neuen Saison (2019/20), als Paukenschlag erweist. Weil der Dirigent, gehüllt in eine Aura väterlicher Güte, dem Gustav Mahler Jugendorchester betörende Klangschönheit entlockt, es atmen lässt und so der Musik, den fünf Rückert-Liedern Mahlers, zudem Anton Bruckners 6. Sinfonie, teils Größe verleiht, teils fragile Intimität zuordnet. Blomstedt formt mit Bedacht, das junge Ensemble spielt mit Liebe, in höchster Konzentration und außerordentlich präzise. Ein Glücksfall.

Als wäre dies alles nicht genug, gesellt sich Christian Gerhaher, bester Bariton seiner Generation, dessen Stimme sich auf jede Gefühlsnuance von Mahler einlässt, zu den Interpreten. Todesfahl kann das klingen oder kantig und harsch, bisweilen bittersüß. Manche Ansätze tragen etwas von Sprechen in sich – dem Kunstlied wird gewissermaßen ein kerniger Realismus übergestülpt. Anderes gewinnt nahezu opernhafte Kraft, wenn der Solist die dynamische Entäußerung sucht. Und seine Registerwechsel können gespenstische Wirkmacht entfalten.

Mahler hat die Lieder eher sparsam instrumentiert, in transparentem Satz, bisweilen asketisch klar. Gleichwohl hören wir, vom Orchester luzide aufbereitet, den typischen, mal schlichten, mal resignativen oder schmerzhaften Mahlerton. Der Komponist wendet sich ganz nach innen, feiert die Ruhe, die sich indes zu bestürzender Leere ausweiten kann. Dies alles kulminiert im 5. Lied, dem berühmten „Ich bin der Welt abhanden gekommen“, eine stille Abkehr von irdischen Mühen hin zum Eremitendasein, letztlich zur erlösenden Transzendenz. Das „Ewig, ewig…“ aus dem „Lied von der Erde“ lässt grüßen.

Bariton Christian Gerhaher kostet bei Malers Rückert-Lieder jede emotionale Nuance aus. Foto: Sony Classic/Jim Rakete

Christian Gerhaher, der hier den Fluss der Zeit gleichermaßen einfriert, damit eine Stimmung herbeizaubert, die zwischen grenzenloser Traurigkeit und wärmender Friedfertigkeit pendelt, wählt als Zugabe das kurze „Urlicht“ aus Mahlers Auferstehungssinfonie. Jede Phrase davon ist sorgfältig, ja geradezu skrupulös gestaltet, mündend in die leidenschaftliche Aufwallung „Ich bin von Gott…“. Ein Bekenntnis, das nicht zuletzt auf den durch und durch religiösen Anton Bruckner verweist, dessen 6. Sinfonie ebenfalls vom weltlichen Mühen und Plagen weiß, von Leere wie von der Inbrunst des Glaubens.

Bruckner bedient sich freilich anderer musikalischer Mittel, schon die opulente Besetzung steht in harschem Kontrast zum spärlichen Mahler-Klang. Zudem das Orchester an diesem Abend mit einem massigen Streicherkorpus aufwartet, der über alle Maßen glänzt und funkelt, schroffe Markierungen setzt oder feurig glüht; der den (nervösen) Puls der vier Sätze vorgibt, andererseits die lyrischen Themen schwelgerisch aussingt. Darüber türmen sich bisweilen die Blechbläser in faszinierenden Schichtungen. Holzbläser, bisweilen auch Horn und Trompete, steuern kantige Einwürfe bei. Jedes Solo ertönt mit gewissermaßen offenem Visier. Brüche tun sich auf und gehörige Spannungsfelder.

Herbert Blomstedt setzt eher auf dezente Tempi, um eben jene Spannung zu transportieren. Doch fällt er damit nicht in musikalische Blockbildung. Wichtig ist ihm der stete musikalische Fluss, die organische Entwicklung. Mag auch der gottesfürchtige Bruckner stets mitgedacht werden, zelebrieren Dirigent und Orchester gleichwohl kein Hochamt. Hymnische Höhepunkte ergeben sich aus dem Vorherigen. Prachtvoll sind sie trotzdem.

Am Ende Jubel, jede Menge Glücksgefühle. Das Orchester der Jungen und der Senior unter den Dirigenten geben allen Grund dazu. Die Saison hat gerade erst begonnen, und schon ist ein erster Höhepunkt zu vermelden. So schnell kann das gehen.