Auf dem weiten Feld der Online-Vorlesungen – zum Beispiel: über Pest und Klimawandel im 14. Jahrhundert

Blick in den (virtuellen) Hörsaal, Aufzeichnung einer Tübinger Vorlesung im Sommersemester 2008: Prof. Ellen Widder über die „Krise des Spätmittelalters – 14. Jahrhundert“ (Screenshot aus: https://timms.uni-tuebingen.de/tp/UT_20080508_001_14jhd_0001)

Auf der Suche nach sinnreichen Online-Auftritten bin ich dieser Tage nicht nur auf die zeitgeschichtlich hochinteressanten TV-Interviews von Günter Gaus gestoßen, sondern habe auch – abermals – die Möglichkeit wiederentdeckt, virtuelle Hörsäle zu besuchen, will heißen: aufgezeichnete (und oft auch ausgezeichnete) Uni-Vorlesungen aus etlichen Fachbereichen anzuschauen.

Da kann man sich probehalber in Wissensgebiete „verirren“, von denen man eigentlich partout keine Ahnung hat(te)! Nehmen wir als ein herausragendes Beispiel nur die Website der Universität Tübingen, die unter dem Kürzel „Timms“ rasch zu finden und per Suchmaske aufzuschlüsseln ist. Alles ist frei zugänglich.

Da kann man sich, sofern man denn möchte, in der Fakultät für Evangelische Theologie etwa eine insgesamt 44-stündige Vorlesung über die Psalmen zu Gemüte führen. Klingt krass. Eine Einführung in die Psychologie dürfte wohl etwas alltagstauglicher sein.

Nun aber zu den „Mint“-Fächern: Experimentalchemie I ist im Angebot, außerdem stehen Physik-Grundkurse (Mechanik, Wärme, Elektromagnetismus) oder auch – verheißungsvoll benannt – „10 Perlen der Mathematik“ im Verzeichnis. Letztere habe ich (nicht nur spaßeshalber) auf meine mittelfristige To-do-Liste gesetzt, obwohl oder gerade weil ich Mathe als Schüler so gar nicht gemocht habe. Auf dieser Liste der Vorhaben steht auch eine Einführung in die Astronomie, deren Unendlichkeiten mich schon immer fasziniert haben.

Von der Unfallchirurgie bis zum Strafprozessrecht

Auch bei den Medizinern kann man sich umsehen, beispielsweise anhand der Vorlesungen Anatomie 1 und 2 oder mit einer Einführung in die Unfallchirurgie. Wahrscheinlich nichts für allzu empfindsame Seelchen. Habe mal in eine ähnliche Vorlesung hineingeschnuppert – und es zeigte sich gleich, wie sehr die Chirurgie handwerkliche Anteile hat. Jetzt aber habe ich doch erst einmal Biologie vorgezogen: „Aufbau und Funktion der Pflanzen und Tiere“. Bei der aufgefächerten Fachbegrifflichkeit wollte ich allerdings alsbald kapitulieren. Mir gemäßer fand ich anfangs eine juristische Vorlesung über die Feinheiten des Strafprozessrechts, dessen irrwitzige Winkelzüge mich auf Dauer freilich auch irritiert zurückließen. Trotzdem gilt: Man wird nicht dümmer dabei.

So richtig zu Hause fühlt sich unsereiner dann aber doch in den Geisteswissenschaften. Also dort mal kreuz und quer geschaut, zumal bei Germanistik und Geschichte. Und da wurde ich gestern so passend fündig, dass ich vorerst gar nicht mehr aufhören wollte. Es ging um die „Krise des Spätmittelalters im 14. Jahrhundert“, eine im Sommersemester 2008 gehaltene Vorlesungsreihe von Prof. Dr. Ellen Widder, hörbar aus Westfalen stammend, aber nun eben – nach mancherlei Stationen und Gastprofessuren – in Tübingen wirkend. Ich habe ihr gebannt zugehört. Denn schon im zweiten Teil ging es nicht nur historisch, sondern sozusagen auch hochaktuell zur Sache: Klimawandel, Pest und Bevölkerungsentwicklung im 14. Jahrhundert.

Die Seuche kam aus China – in 14 Jahren über die Seidenstraße

Corona hin, Corona her. Bei der Pest, die eine medizinisch kaum geschulte Menschheit traf, reden wir von Mortalitätsraten von im Schnitt 60 Prozent, die Lungenpest zog praktisch in 100 Prozent der Fälle den Tod nach sich – manchmal binnen Stunden nach der Infektion. Ganze Landstriche wurden entvölkert und blieben als „Wüstungen“ zurück.

Aus China kommend, wo die Seuche um 1333 wohl begonnen hat, gelangte sie via Fernhandel (zu Schiff und über die Seidenstraße) um 1347 nach Europa. Sie verschonte  kaum eine Gegend in Italien, nur ausgerechnet die Landstriche um Mailand, was bis heute niemand schlüssig erklären kann. In deutschen Gefilden ging es derweil für Nürnberg ähnlich staunenswert glimpflich ab.

Schon vor der Pest hatte sich das Klima gewandelt. Es häuften sich die kühlen und nassen Sommer, so dass bei der damaligen, noch nicht vollends entfalteten Produktionsweise die Ernten viel zu gering ausfielen und es zu Hungersnöten kam. Seit dem Jahr 1000 hatte sich die mittel- und westeuropäische Bevölkerung etwa verdreifacht, nun stagnierte sie oder ging sogar regional zurück. Die Pest traf also auf eine ohnehin schon geschwächte Bevölkerung mit unzureichender Immunabwehr, wie Prof. Widder schlussfolgert.

Europa in immer neuen Schüben erfasst

Die furchtbare Seuche, die Europa schon einmal vom 6. bis ins 8. Jahrhundert heimgesucht hatte, kam seit dem 14. Jahrhundert in immer neuen, wenn auch nicht mehr gar so verheerenden Schüben wieder, als Epidemie und zeitweise als Pandemie blieb sie rund 400 Jahre auf dem Kontinent. Aber die Menschen hatten auch kein taugliches Gegenmittel. Erst 1894 (!) wurde der Pesterreger (Yersinia Pestis) entdeckt.

An den Anfang ihrer Überlegungen stellte Prof. Ellen Widder übrigens einen berühmten Text der Weltliteratur, nämlich die Einleitung in den Erzählkreis des „Decamerone“ von Giovanni Boccaccio, der die Pest erstaunlich detailreich beschreibt, übrigens aus der Perspektive einer außerordentlich privilegierten Gesellschaftsschicht. Aber an den Zusammenhang zwischen Epidemien und Klassenfragen wollen wir an dieser Stelle nicht auch noch rühren.

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Tausende Online-Vorlesungen in deutscher und englischer Sprache erreicht man z. B. über Links, die auf der folgenden Seite aufgeführt sind: https://www.fernstudi.net/magazin/10963




TV-Nostalgie (38): Mehr Zeit für Rückblicke – zum Beispiel auf die grandiosen Fernseh-Interviews von Günter Gaus

Der vielfach als „Studentenführer“ apostrophierte Rudi Dutschke 1967 als Gegenüber von Günter Gaus. (Screenshot aus: https://www.youtube.com/watch?v=U6X-ZeYC54E)

In den ungeheuren Weiten von YouTube verbirgt sich, bei Wohn- oder Arbeitszimmer-Licht betrachtet, (zu leider sehr geringen Teilen) auch eine famose „Volkshochschule“, die eigentlich einen eigenen Namen verdient hätte. So denke ich gelegentlich. So dachte ich nun wieder, als ich – beispielsweise – zunächst auf ein ausführliches Feature über die politische Rivalität zwischen Franz Josef Strauß (CSU) und Herbert Wehner (SPD) stieß, nach deren markanter Politik-(Darstellung) sich heute manche zurücksehnen. Es war lediglich ein Ausgangspunkt.

Da nun einmal jetzt mehr Zeit für derlei virtuelle Expeditionen ist, hangelte ich mich sodann weiter zu jenen grandiosen Interviews aus den frühen Jahren des bundesrepublikanischen Fernsehens, wie sie zumal von Günter Gaus („Zur Person“, „Zu Protokoll“) geführt worden sind. Welch eine zeitgeschichtliche und mediengeschichtliche Fundgrube! Was Fernsehen damals sich zutraute und was es zu allerbesten Sendezeiten vermochte! Wie konzentriert es dabei zuging und noch dazu sprachlich so ausgefeilt.

Trat mit Zigarre an: Franz Josef Strauß 1964 als Gast von Günter Gaus. (Screenshot aus: https://www.youtube.com/watch?v=OwGTvGIdEJQ)

Um allein bei Gaus zu bleiben: Er hat nicht nur besagten Franz Josef Strauß (1964) einvernommen und dabei dessen ebenso bullige wie schillernde Wesensart hervortreten lassen, sondern etwa auch Rudi Dutschke 1967 mit höchst unangenehmen Fragen konfrontiert. Er hat einen ebenso intensiven Dialog mit der Philosophin Hannah Arendt geführt wie mit dem Historiker Golo Mann oder dem Theatermenschen Gustaf Gründgens. Die gesamte damalige Polit-Prominenz hat Gaus seinerzeit gegenüber gesessen – von Ludwig Erhard (1963) über Willy Brandt, Herbert Wehner (beide 1964) und Konrad Adenauer (1965) bis Helmut Schmidt (1966).

Es waren prägende Jahre der Republik, in denen Weichen auf Jahrzehnte hinaus gestellt wurden. Und es sind Zeitdokumente sondergleichen, thematisch wie persönlich sehr verdichtet und – dazu passend – noch in konturstarkem Schwarzweiß. Die rund einstündigen Sendungen haben spürbaren Atem, es sind nicht so aufgeregte, angeblich „emotionale“ Zuspitzungen wie heute. Die Protagonisten erscheinen für die Dauer der Interviews wie aus ihrem sonstigen Umfeld herausgelöst oder herauspräpariert, gleichsam „auf sich gestellt“ und geradezu plastisch präsent. Natürlich konnte auch Gaus ihnen nicht alles entlocken. Aber man kann sich anschließend eine deutlichere Vorstellung von ihnen machen. Und das ist viel.

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Themen der vorherigen Folgen:

“Tatort” mit “Schimanski” (1), “Monaco Franze” (2), “Einer wird gewinnen” mit Hans-Joachim Kulenkampff (3), “Raumpatrouille” (4), “Liebling Kreuzberg” mit Manfred Krug (5), “Der Kommissar” mit Erik Ode (6), “Beat Club” mit Uschi Nerke (7), “Mit Schirm, Charme und Melone” (8), “Bonanza” (9), “Fury” (10).

Loriot (11), “Kir Royal” (12), “Stahlnetz” (13), “Kojak” (14), “Was bin ich?” (15), Dieter Hildebrandt (16), “Wünsch Dir was” (17), Ernst Huberty (18), Werner Höfers “Frühschoppen” (19), Peter Frankenfeld (20).

“Columbo” mit Peter Falk (21), “Ein Herz und eine Seele” (22), Dieter Kürten in “Das aktuelle Sportstudio” (23), “Der große Bellheim” (24), “Am laufenden Band” mit Rudi Carrell (25), “Dalli Dalli” mit Hans Rosenthal (26), “Auf der Flucht” (27), “Der goldene Schuß” mit Lou van Burg (28), Ohnsorg-Theater (29), HB-Männchen (30).

“Lassie” (31), “Ein Platz für Tiere” mit Bernhard Grzimek (32), „Wetten, dass…?“ mit Frank Elstner (33), Fernsehkoch Clemens Wilmenrod (34), Talkshow „Je später der Abend“ (35), „Stromberg“ (36), „Nachlese zur Internationalen Automobil-Ausstellung von 1963“ (37)

Und das meistens passende Motto:
“Man braucht zum Neuen, das überall an einem zerrt, viele alte Gegengewichte.” (Elias Canetti)




Die milde Form der Rache: Peter Handkes Geschichte „Das zweite Schwert“

„Auf zum Rachefeldzug, zu führen von mir als Einzelperson.“ So ermuntert sich selbst, vor dem Spiegel einen vielleicht bedrohlichen Singsang vollführend, das literarische Ich in Peter Handkes „Das zweite Schwert“. Was geht da vor sich? Droht tödliche Gefahr?

Man erschrickt unwillkürlich. Will der Literaturnobelpreisträger Handke (der sich in etlichen Passagen – kaum verhüllt – hinter dem Erzähler verbirgt) etwa noch einmal zum Rundumschlag gegen alle verhassten Widersacher in der unseligen Serbien-Debatte ausholen, will er sie final demütigen oder gar verbal erledigen; setzt er noch einmal zu einer „Publikumsbeschimpfung“ an? Oh nein, so platt geht es hier gewiss nicht zu! Vielmehr scheint abermals alles den Bewegungsgesetzen des mal mäandernden, mal stockenden, aber nie versiegenden Erzählflusses an sich zu folgen.

So viele Kommata! So viele Einschübe! So viele Gedankenstriche! All die Sätze sind eben nicht einfach da, sie müssen vielfach errungen werden, um manchmal zu erstrahlen. Obgleich es vermeintlich um dringliche „Rache“ geht, ergeht sich Handke zumeist und zunehmend in einer äußerst sanftmütigen und zartsinnigen Sprache, mit geradezu flehentlichen Aufrufen an sich selbst und an die Leserschaft: „Wieder siehe!“ – „Und hör“ – „Und da schau her“ – „Und so hör doch…“ Der Erzählende schreitet erneut auf den Pfaden der wahren Empfindung; es geht um genaueste, einlässlichste Wahrnehmung.

Diese ungeahnte „Ortsfreude“

Die Geschichte, in der äußerlich nicht allzu viel (oder aber alles) geschieht, spielt weiter draußen vor den Toren von Paris, in der Ferienzeit zwischen Ostern und Anfang Mai. Sie heißt denn auch im Untertitel „Eine Maigeschichte“. Der Erzähler ist für eine Zeit zurückgekehrt in sein abgelegenes vorstädtisches Domizil, er registriert dabei eine ungeahnte „Ortsfreude“, fühlt sich heimisch wie selten zuvor.

Wir vernehmen fortan das Lob der kleinen, unscheinbaren Dinge, Leute und Verhältnisse. In Betracht kommen verschiedene Formen des Grillrauchs, Wäscheleinen („steckvoll“), aber auch abendliche Aufenthalte in der nahen Bar, auf ihre bescheidene, unauffällige Art bemerkenswerte Menschen aus der Nachbarschaft. Bei all dem verspürt der Ich-Erzähler eine namenlose Freude am Nichtstun. Er betont, dass er kein (angestrengter) Betrachter und Beobachter sein wolle. Es ist ihm um ein absichtsloses Gewahrwerden zu tun – wie in einem Wachtraum.

Nicht „gleichsam“ und nicht „sozusagen“

Immer und immer wieder verleiht Handke mit seinen Lieblingswendungen sanften Nachdruck: „Noch und noch“ heißt es da beispielsweise. Oder „nicht und nicht“. Oder „oft und oft“. Demgegenüber hin und wieder auch Formeln des Offenlassens: „oder was das war…“ – „oder so…“ Hingegen ermahnt er sich häufig selbst, unscharfe Worte wie „gleichsam“ oder „sozusagen“ zu vermeiden. „Nicht dieses Wort…“

In einem jener Bar-Gespräche wird offenbar erwogen, zu Rachezwecken einen Killer anzuheuern. Denn da war eine Journalistin, die vor längerer Zeit die Mutter des Erzählers zutiefst und unauslöschlich beleidigt hat – mit der Unterstellung, die Mutter habe „damals“ die NS-Machthaber bejubelt und in Österreich willkommen geheißen. Ist der Sohn also, gefährlich bewaffnet, unterwegs zu jener Schreiberin? Und wie könnte man seine zwiegespaltene Geistesverfassung nennen? Vielleicht ein hellsichtiges Brüten?

Im Schreiben bleibe alles friedlich

Dann jedoch wieder die beinahe zaghafte Selbstbefragung in Sachen Gewalt. Ja, es habe in seinem Leben gewaltsame Taten gegeben, auch gewaltsam gesprochene Worte, aber nie geschriebene. „Seit jeher war mir solch ein Schreiben, Aufschreiben, Schriftlichwerden tabu.“ Die Literatur, das Schreiben überhaupt als Bezirk des Friedens, der Streitlosigkeit.

Die Erzählung mündet in ein langsames, aufmerksames Unterwegssein, vorwiegend mit einer neuen Vorort-Tram, die streckenweise unterirdisch fährt – durch eine Gegend, die vordem dschungelhafte Heimstatt einer geheimnisvollen Schlange gewesen ist, was archaisch und nahezu biblisch anmutet; wie denn auch der Titel des Buches auf einen Abschnitt im Lukas-Evangelium zurückgeht, der Handke als Vorspruch dient.

Von Eric Burdon zu Blaise Pascal

Und welche geheimnisvollen Szenen sich nun begeben – in dieser Bahn mit ihren seltsamen Passagieren. Ihr Dasein erscheint wie ein traumnahes Lebenstheater, es geschieht einfach. Und wie nun vieles fließend ineinander übergeht: der Dialog mit einem Taxifahrer über den Rocksänger Eric Burdon („When I Was Young“), ein geradezu andächtiger Tages-Aufenthalt in Port-Royal, nicht zuletzt in Gedanken an den Philosophen Blaise Pascal, dem Langeweile als die schändlichste Todesart gegolten habe. Ferner die Reflexion über das unverzeihliche Verbrechen des Rechtsmissbrauchs, des Übertreibens der eigenen Rechte („ohne jeden Milderungsgrund“). Überdies das Abwägen der (vom Erzähler eingestandenermaßen oft ignorierten) Menschheits-Katastrophen mit dem Überleben der Maikäfer… Und was der vielfältigen Dinge mehr sind. Wahrlich ein „Heiliges Durcheinander“, wie es einmal heißt.

In Wohlgefallen aufgelöst

Auch Port-Royal gerät zur Heimkehr: „Jetzt hatte ich ihn, meinen Platz, meinen Jetztplatz!“ Anflüge von Menschenscheu und Menschenhass scheinen sich im Erzählvorgang zusehends zu lindern, scheinen irgendwann umzuschlagen in eine milde, so ziemlich alles gelten lassende Betrachtungsweise. Der Zorn hat sich, wie man ehedem zu sagen pflegte, allmählich in Wohlgefallen aufgelöst. Hat sich damit gar alle Rache erübrigt? Nicht ganz. Aber sie hat sich grundlegend gewandelt.

Um in Handkes Manier zu reden: Und siehe, der Frau, die den Rachezorn auf sich gezogen hatte, wird schließlich schlichtweg kein Platz in der Geschichte gewährt: „Und das war meine Rache. Das war und ist Rache genug.“ Und auch das besagte Schwert war keineswegs aus Stahl, denn es war ja „das zweite Schwert“, jenes ganz andere…

Peter Handke: „Das zweite Schwert. Eine Maigeschichte“. Suhrkamp Verlag, 160 Seiten. 20 €.

 




Zum Beispiel Dortmund und Bochum: Nach Bühnenschließungen jetzt Theater-Angebote im Netz

Auch „Green Frankenstein“ kommt als Film ins Internet: Szenenbild aus der Dortmunder Inszenierung von Jörg Buttgereit. (Foto: © Birgit Hupfeld)

Die Bühnen lassen sich in der Corona-Krise notgedrungen einiges einfallen, um trotz der Theaterschließungen noch präsent zu sein, und zwar im Internet. Hier nur zwei Beispiele aus der Region, ansonsten am besten mal das oder die Lieblingstheater (bzw. Opern, Konzertstätten, Museen etc.) im Netz aufrufen und schauen, was sich dort so tut…

Das Schauspiel Dortmund hat seinen Spielplan sozusagen ins Netz verlagert und zeigt – als vielfaches Déjà-vu – eine kleine Retrospektive von Produktionen aus den letzten zehn Jahren. Täglich ab 18 Uhr geht eine weitere Inszenierung für mindestens 24 Stunden online. Gestartet wurde das Projekt gestern (23. März) mit Jörg Buttgereits Inszenierung „Green Frankenstein“ aus dem Jahr 2011. In dem Live-Hörspiel geht es um ein riesiges Monster, das Fischerboote angreift, um radioaktiv mutierte Wesen und allerlei bizarre Vorkommnisse. Der zweite Teil der Inszenierung (Titel: „Sexmonster“) soll in einer Woche folgen. All das ist zu finden unter www.tdo.li/dejavu oder via Theater-Homepage: www.theaterdo.de

Das Schauspielhaus Bochum startet unterdessen heute (24. März) ein neues Videoblog. Unter dem Titel „Schauspielhaus #HOMESTORIES“ produzieren Ensemblemitglieder täglich ein neues Video mit literarischen Texten, Monologen, Gedichten und Geschichten.

Video-Still: Bochumer Ensemblemitglied Dominik Dos-Reis beim Dreh seiner Homestory in den eigenen vier Wänden. (© Schauspielhaus Bochum / Dominik Dos-Reis)

Die Aufnahmen entstehen jeweils in der eigenen Wohnung der Darsteller(innen) mit der Handy-Kamera. Man darf also wohl – rein technisch besehen – keine Kino-Qualität erwarten. Inspirationsquellen der Videos sind der Bochumer Spielplan, aber auch diverse Ereignisse in der Welt. U. a. werden angekündigt: Kurzgeschichten von Tschechow, Auszüge aus Shakespeares „Hamlet“ (als Lesung) sowie Texte von Horváth, Kleist, Thomas Bernhard, Jandl, Jelinek, Susan Sontag usw. Für Kinder soll es in den nächsten Tagen ein Extra-Angebot geben. Das Videoblog wird täglich gegen 13 Uhr (Kinder-Reihe) und 18 Uhr aktualisiert, es ist auf der Theater-Homepage und über die Bochumer Schauspielhaus-Kanäle der wichtigsten sozialen Netzwerke zu sehen: www.schauspielhausbochum.de

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Weitere Online-Angebote u. a. bei:

„Theater total“, Bochum (www.theatertotal.de)

Theater Hagen (www.theaterhagen.de)

Acht freie Theater in Essen (Facebook- und Instagra-Profile der jeweiligen Bühnen): Das Kleine Theater Essen, only connect., Rü-Bühne, Studio-Bühne Essen, Theater Courage, Theater Essen-Süd, Theater Freudenhaus, Theater THESTH.

LWL-Archäologiemuseum Herne und LWL-Römermuseum Haltern (virtuelle Rundgänge)




Die Geburt des Kinos in Europa: Vor 125 Jahren markierte das Patent der Brüder Lumière den Beginn einer neuen Epoche

Zunächst sieht man nur ein Tor. Dann quellen Damen mit langen Röcken und Hüten daraus hervor. Ein Hund springt einem Radfahrer aus dem Weg. Schließlich, nach einer Dreiviertelminute, nähert sich ein Pferdegespann. Der erste öffentlich projizierte Film der Weltgeschichte hält eine scheinbare Alltagsszene fest, aufgenommen mit einem „Kinematographen“ am Tor der Fabrik seiner Erfinder, der Gebrüder Lumière in Lyon.

Historische Aufnahme der Brüder Auguste und Louis Lumière. (Wikimedia Commons / public domain / Institut Lumière)

Der Name der beiden erfolgreichen Unternehmer ist geradezu sinnbildlich, denn das Licht war ein entscheidendes Medium in ihrer Arbeit. Auguste und Louis Lumière stellten ab 1882 in der Firma ihres Vaters, eines Malers und Porträtfotografen, Fotoplatten her. Im Jahre 1894, ein Jahr vor ihrer epochemachenden Entwicklung, ließen die Lumières von 300 Arbeitern 15 Millionen dieser Platten produzieren.

Im Februar 1895 meldeten sie ihren neu entwickelten „Cinématographe“ als Patent an. Das Gerät war in der Lage, einen Streifen eines Bromsilbergelatine-Negativfilms zu belichten, zu entwickeln und das Positiv zu projizieren. Vor 125 Jahren, am 22. März 1895, zeigten die Unternehmer-Brüder erstmals vor den Mitgliedern der „Gesellschaft für die Förderung der nationalen Industrie“ in Paris zehn ihrer Kurzfilme: die „Geburt“ des Kinos in Europa.

Erträumt: Projektion bewegter Bilder

Das Lumière-Verfahren war neu im Vergleich zu den Versuchen anderer Pioniere des bewegten Bildes. Vorgänger waren etwa die drehenden Bildscheiben des Belgiers Joseph Plateau und des Österreichers Simon von Stampfer um 1830, das „Kinetoskop“ Thomas Alva Edisons und das „Bioskop“ der Gebrüder Max und Emil Skladanowsky, die am 1. Dezember 1895 im Berliner „Wintergarten“ erstmals öffentlich bewegte Filmbilder gegen Eintritt vorführten.

Ein paar Wochen später, am 28. Dezember 1895, ließen die Gebrüder Lumière im Salon „Indien“ im Keller des Grand-Café in Paris eine Reihe kurzer Filme vor einer kleinen Schar von rund 30 zahlenden Gästen vorführen. Erstmals wurde ein praktikables System der Filmprojektion kommerziell eingesetzt: Der Tag darf als die Geburtsstunde des kommerziellen Kinos in Europa gelten. Der 35-Millimeter-Film mit den perforierten Transportstreifen an beiden Rändern jedoch, wie wir ihn bis zur Digitalisierung des Kinos kannten, feierte seine Premiere bereits 1893 auf der Weltausstellung in Chicago, wo Edison den Prototyp vorführte.

Allerdings war Edison noch nicht von der Möglichkeit überzeugt, den Film zu projizieren. Diesen Traum erfüllten sich Louis und Auguste Lumière. Sie wollten einem größeren Publikum auf einer Leinwand bewegte Objekte und Personen wirklichkeitsgetreu zeigen. Auguste Lumière erinnerte sich später: Eines Morgens Ende 1894 sei er zu seinem Bruder ins Zimmer gegangen und habe das Bett verwaist vorgefunden. „Mein Bruder hatte über Nacht den Kinematographen erfunden.“ Entscheidend war der Mechanismus des Filmtransports, den sich Louis Lumière von der Nähmaschine abgeschaut hatte.

Erschreckend: Bilder jenseits der Foto-Realität

Von dem kurzen Film „Arbeiter verlassen die Lumière-Werke in Lyon“ existieren mehrere Versionen; eine davon zeigten die Unternehmer-Brüder  erstmals vor den Mitgliedern der „Gesellschaft für die Förderung der nationalen Industrie“. Bei der Pariser Premiere im Grand-Café war unter den zehn von den Lumières selbst gedrehten Kurzfilmen „Abbruch einer Mauer“, der auch rückwärts gezeigt wurde und den verblüfften Zuschauern schon damals die Möglichkeiten des Kinos jenseits der Foto-Realität veranschaulichte.

Der Kurzfilm „Die Ankunft eines Zuges auf dem Bahnhof in La Ciotat“ soll der Überlieferung zufolge einen Teil der Besucher in Panik versetzt haben: Die frontal auf die Zuschauer zurollende Lokomotive ließ die einen hinter den Bänken Zuflucht suchen, die anderen sollen den Salon fluchtartig verlassen haben. Der Schweizer Medienwissenschaftler Johannes Binotto nimmt allerdings an, nicht die Furcht vor dem Zug habe die Menschen erschreckt, sondern dessen offensichtlich irreales und zugleich doch erstaunlich realistisches Abbild.

Das Interesse an den Vorführungen wuchs rasant: Schon im Januar 1896 nahmen die Lumières mit 20 Aufführungen pro Tag 2500 Francs ein. Am 20. April 1896 ließ der Unternehmer Ludwig Stollwerck in Köln den „Cinématographe“ zum ersten Mal in Deutschland vorführen. Die „perfekte Illusion des wahren Lebens“ (so ein Pressebericht) wurde zur Attraktion des Tages. Allerdings steht am Beginn des modernen Films und des Kinos bereits die Inszenierung. Die Arbeiterinnen und Arbeiter, die auf der Minute Zelluloid das Lyoner Werktor verlassen, sind nicht etwa auf dem spontanen Weg in die Mittagspause aufgenommen. Sondern sie hatten sich auf ein Zeichen von Auguste Lumière in Bewegung gesetzt, während sein Bruder Louis an seinem Apparat zu „kurbeln“ begann.




„Daran muss man sich erst einmal gewöhnen!“ – die Corona-Krise aus Sicht einer Zehnjährigen

Als Gastautorin schreibt die zehnjährige Stella Berke über ihre Erfahrung mit der „Corona-Krise“. Hier der authentische, unkorrigierte Text:

Das Virus und ein weinendes Emoticon… (Schnellskizze: Stella B.)

Ich bin Stella, 10 Jahre alt. Ich beschäftige mich heute mit dem Thema: „Was hat der Corona-Virus für uns Kinder für Folgen?“

Diese Frage kommt hauptsächlich auf das Kind und seine Persönlichkeit an. Nehmen wir an, wir haben ein Kind, das eigentlich jeden Tag draußen spielt, Freunde besucht und umherzieht. Für so eines ist diese Fase eher schwer hinzunehmen. Würde nun auch noch die Ausgangssperre festgelegt, wäre es eine ganz schwierige Situation. Denn all die Möglichkeiten, all der Spaß wäre vorbei. Daran muss man sich erst einmal gewöhnen!

Für ein eher ruhiges, älteres Kind wäre es leichter einzusehen. So eines hat in den meisten Fällen ein Handy und kann so Kontakt zu Freunden haben. Ich dagegen vermisse meine Freunde sehr. Ja, ich kann sie anrufen, aber spielen gegen anrufen ist doch noch etwas anderes. Wir machen es so, dass wir uns jeden Tag einen kleinen Brief schicken. Und dazu gibt es noch eine Seite mit Rätseln und Aufgaben.

Wie ist es für uns Kinder mit der Schule? Meine Freunde und ich machen uns viele Gedanken über die Schule: Was passiert, wenn wir die nächste Arbeit schreiben? Wann müssen wir wieder in die Schule? Werden wir alle versetzt? All das sind noch ungeklärte, offene Fragen. Denn im Moment weiß keiner, wie es weiter geht, und wann es weiter geht.

Der Text im Faksimile, Nachname auf Wunsch der Autorin retuschiert.




In diesen Tagen der Langsamkeit

Eine ruhige Stelle. (Foto: BB)

Ich weiß ja nicht, wie es Euch geht. Mir fällt es (u. a. als einstigem Einzelkind) ziemlich leicht, mich auch über Stunden oder gar Tage selbst zu beschäftigen; zuvörderst mit Büchern. In Zeiten des äußerst ratsamen Abstandes ist das wohl ein unschätzbarer Vorteil.

Ich beneide schon sonst nicht, aber derzeit überhaupt nicht die Hyperaktiven aller Art, die ständig möglichst viele Leute um sich scharen müssen und immerzu im „Party“- oder Selbstverwirklichungs-Modus unterwegs sind. Auch die allgegenwärtigen „Aktivisten“ jeder Couleur zählen hinzu. Es mag Schwarmintelligenz geben, aber es gibt eben leider auch Schwarmdummheit.

Es ist keine gute Zeit für die Vergnügungssüchtigen und Hedonisten, die schnell vom Horror vacui befallen werden: Wie, du hast heute noch nichts vor? O je, da müssen wir sofort etwas losmachen, wenn noch nichts los ist. Wie dumpf derlei selbstzweckhafte Zeitfüllerei oft anmutet! Jetzt liegt man damit völlig neben der Spur.

Dann schon weitaus lieber diese heilsame, schon oft beschworene, aber selten praktizierte Entschleunigung, die jetzt gefragt ist und die häufig einhergeht mit einer beobachtenden, meditativen oder kontemplativen Lebensweise. Irgendwo in einem literarischen Werk steht der schlichte Satz geschrieben: „Ich schaue zu, wie die anderen leben.“ Das bedeutet ganz und gar nicht, dass man kein eigenes Leben habe. Es ist nur eine andere Daseinsform; eine, die es auch geben muss und der eben manche nachgehen – mehr oder weniger bewusst.

Es können nicht alle voranstürmen. Es müssen sich auch Menschen seitwärts oder in der Nachhut bewegen oder zeitweise dort verharren. Überdies die Wachenden, von denen Kafka literarisch in der Einzahl gesprochen hat: „Einer muss wachen, heißt es. Einer muss da sein.“

Doch nur nicht kläglich vereinsamen! Ich kann da, wie wir alle, nur für mich sprechen. Nicht am äußersten Rande des Geschehens halte ich mich am liebsten auf, sondern gleichsam an der Peripherie des Zentrums. Dort, wo man noch etwas erlebt, erfährt und mitbekommt. Und gewiss nicht ohne andere Menschen. In vollends unbevölkerter Umgebung hielte ich es wohl auch nicht allzu lange aus. Aber es müssen nicht die Vielen sein, die einen umschwirren. Schon gar nicht mag ich den Vielen besinnungslos nacheilen.

Und ja: Wir dürfen uns schon im Voraus auf die Tage freuen, an denen all diese gegenwärtigen Einschränkungen sich mildern werden und der Alltag sich langsam normalisieren wird. Dann werden wir dies oder jenes nachholen.




„Die Vertreibung aus der Hölle“ – Viel weiter als in Robert Menasses Roman könnte das Paradies kaum entfernt sein

Robert Menasse hat vor knapp 20 Jahren anlässlich des Erscheinens seines Romans „Die Vertreibung aus der Hölle“ einen Satz gesagt, dessen bittere Wahrheit auch angesichts der Corona-Pandemie zutreffend bleibt: „Im Buch geht es aber nicht vor allem um die Abgründe, sondern eher darum, wie unernst wir uns verhalten, wenn wir in die Abgründe schauen.“

Ein Satz, den Menasse damals jedoch nicht auf den Umgang des Menschen mit Natur oder Naturgeschichte münzte, sondern auf menschliche Geschichte – und ihn also so fortsetzte: Es gehe auch darum, wie „wir mit Geschichte umgehen, wie wir sie missbrauchen, was wir vorgeben aus ihr gelernt zu haben, was wir uns weigern aus ihr zu lernen, wie wir sie oft hilflos nachspielen.“

Unheils-Geschichte mit Lichtblicken

Die neuerliche Lektüre des – paradox gesagt – Menasse’schen historischen Gegenwartsromans bestätigt den damaligen Leseeindruck. Menasses Erzählen, sein literarisches Vexierspiel erschreckt, rührt an, lehrt und unterhält immer noch. Schmerzhaft reich ist der Roman an Unheils-Geschichten und Fakten, reich an Figuren, Menschen und Unmenschen, komplex und voller doppelter, dreifacher Böden.

Menasse erzählt da einmal die Geschichte um den Jungen Manoel Dias Soeira. Manoel ist Sohn zwangsgetaufter Neuchristen, sog. Marranen, die Anfang des 17. Jahrhunderts im Königreich Portugal und inmitten der Inquisition ihr heimliches Judentum praktizieren, verfolgt, gefoltert werden und nach Amsterdam flüchten müssen, wo Manoel als Samuel Manasseh zum angesehenen Rabbi und sogar zum Lehrer Baruch de Spinozas wird.

Was ist bloß aus uns geworden? Wer waren die, die unsere Lehrer waren?

Und dann gibt es die Handlung um den in der Gegenwart lebenden Historiker Viktor Abravanel, der ein Klassentreffen 25 Jahre nach der Matura platzen lässt, weil er NSDAP-Mitgliedsnummern der ehemaligen Lehrer verliest und sich danach im Gespräch mit einer einstigen Angebeteten vergeblich seiner eigenen Kindheit und Jugend zu vergewissern sucht. Viktor ist Kind von Nazi-Opfern und auf dem Weg zu einem Vortrag in Amsterdam, der den Titel tragen soll: „Wer war Spinozas Lehrer?“ – die Verbindungen zwischen Manoel und Viktor werden hier das erste Mal angedeutet.  Und wie Viktor wird uns auch Manoel zunächst über eine von ihm begangene Provokation, einen Tabubruch vorgestellt, dessen Folgen er nicht mehr unter Kontrolle hat.

Der Roman beginnt mit einer grotesken Szene, einem Trauerzug mordlustiger Bürger und der Inquisition im Städtchen Vila dos Começos, inszenierter Marsch eines antisemitischen Mobs, der eine zuvor vom achtjährigen Manoel gekreuzigte Katze zu Grabe trägt. Mit der symbolisch-antichristlichen wie boshaften Kreuzigung hatte sich Manoel zuvor für die Verhaftung des Vaters durchs Heilige Offizium rächen wollen.

Zersplittertes Leben

Robert Menasse komponiert die zum Roman geschnürten Bündel Lebenssplitter der beiden Antihelden Manoel und Viktor ebenso kunstvoll wie die Brüche in ihren Biografien, wie die Opfer-, Mitläufer- oder Tätermomente in ihrer beider Romanleben. Stimmungen, Figuren und Motive gehen ineinander über, ganze Sätze tauchen in beiden Handlungssträngen auf. Seite für Seite wird deutlicher, wie gekonnt Robert Menasse zwei Erzählebenen zu einem eigenwilligen durchgehenden Text über zwei Leben und Zeiten verknüpft.
Die drei Erzählperspektiven eines wissenden Erzählers, des Viktor Abravanel und Samuel Manasseh erlauben dem Autor dabei, ein Spiel mit Tragik und Frechheit, Komik und Formen des Wahns, mit Angst & Ängstlichkeit, Doppelleben und Identitätsverlust. Oft beiläufig, aber nie nebenbei wird das Ungeheuerliche erzählt, kleine und große Katastrophen ebenso wie das Scheitern im Alltag.

Der gemachte Jude

Mit den Figuren der Familien Soeira/Manasseh und Abravanel thematisiert Robert Menasse traumatische Verfolgungs- und Überlebensgeschichten. Immer wieder spürt er den pathologischen Beziehungsstrukturen von Juden und Andersgläubigen nach. Dabei wird eins zunehmend deutlicher: Es ist die Wahrnehmung der jeweils anderen, die einen erst – mehr als man es sich selbst wünschen kann und will – zum Juden macht. Um die bohrenden Blicke der anderen etwas weniger schmerzhaft zu erleben, tut man ihnen den Gefallen und verbiegt sich, versteckt sich, verleugnet sich, ohne dadurch dem Hass, auch dem auf andere und sich selbst entgehen zu können.

In Kürzestgeschichten und Personenportraits schreibt der Autor so vom trostlos-tragischen Leben zweier jüngerer Verlorener, die keine Verlierer sein wollen. Er zeigt uns aber auch die Innenansichten der älter gewordenen Außenseiter, die sich hinter Zynismus oder in ihrer Verzweiflung verstecken, weil sie ihre Einsamkeit kaum auszuhalten vermögen.

Kein Judentum, nur Judentümer

Wie ist und war es, als Mensch jüdischer Herkunft oder Glaubens inmitten oder ‚unter’ der Mehrheit zu leben? Der Text handelt von Fremdenfeindlichkeit, von offener und öffentlicher Brutalität und Fanatismus, aber eben auch von der utopischen Möglichkeit der Selbstbehauptung, des kritischen Denkens, den Versuchen zivilen Ungehorsams, die oft genug nur noch lächerlich scheinen und kläglich enden.

Der Rabbiner Leo Baeck hat einmal gesagt, es gebe kein Judentum, nur Judentümer. Und so viele Judentümer es gibt, so viele Abgrenzungen davon und Auseinandersetzungen damit gibt es auch, so viel Pluralität jüdischen Lebens so viele Möglichkeiten, ein subjektives Verhältnis zum Judentum zu leben.
Es ist Teil des literarischen Projektes zeitgenössischer mit dem Judentum verbundener Schriftstellerinnen und Schriftsteller, jüdische Identität immer neu zu reflektieren, zu entdecken oder zu entwerfen. In Robert Menasses Roman als subversiver Rekonstruktion oder Rückprojektion dessen, was vielleicht gewesen sein könnte, scheinen seine Recherchen und Fantasien zu Juden in Portugal, Amsterdam und Österreich, zu Manasseh und Abravanel vor allem zu sagen, dass überhaupt nicht sicher ist, wie man sich das vorstellen muss: Geschichte, Heimat, Fremde, Identität und Ich, Liebe oder Hass.

Hölle und Paradies – zwei Seiten derselben falschen Münze?

2001 bei einem Leseabend im Jüdischen Museum in Dorsten hat die damalige Leiterin, die Ursulinen-Schwester Johanna, als Moderatorin die Frage gestellt, wohin man denn eigentlich gelange, wenn man aus der Hölle vertrieben werde? Gute Frage. Und: Nein, Robert Menasses Antwort darauf werde ich nicht verraten. Sein Roman „Die Vertreibung aus der Hölle“ selbst dürfte sowieso die beste (weil komplexe) Antwort darauf sein.

Auf dem Rückseitencover meines Roman-Exemplars findet sich in zwei sarkastischen Sätzen immerhin eine Spur: „Die Hölle erkennen wir immer erst rückblickend. Nach der Vertreibung. Solange wir in ihr schmoren, reden wir von Heimat.“ Nach der Vertreibung aus der Hölle all dessen, was wir Heimat nennen, kämen also erst einmal das Elend und Glück der Erkenntnis? Das Paradies – so viel weiß ich aus eigener Erfahrung – wäre das jedoch ganz und gar nicht, auch wenn gelegentlich beim Nachdenken der Himmel aufreißt.

Robert Menasse: „Die Vertreibung aus der Hölle“. Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 2001. 493 Seiten, Hardcover.




Gerechtigkeit ist dem Schicksal fremd: „Kleiner Mann – was nun?“ nach Hans Fallada am Grillo-Theater Essen

Stefan Migge, Silvia Weiskopf, Philipp Noack (im Hintergrund) in der Inszenierung „Kleiner Mann – was nun?“ nach dem Roman von Hans Fallada – in einer Bühnenfassung von Thomas Ladwig und Vera Ring am Grillo Theater Essen. (Foto: Birgit Hupfeld)

Der Titel des Romans von Hans Fallada stellt eine Frage. Am Ende wird sie beantwortet durch die Liebe. Nicht durch politische Analyse, philosophische Systemkritik oder Revolution. In der letzten Premiere im Großen Haus vor der durch den Corona-Virus erzwungenen Spielpause zeigte das Essener Grillo-Theater Falladas „Kleiner Mann – was nun?“ in einer Adaption durch Regisseur Thomas Ladwig und Dramaturgin Vera Ring.

Was nun? Die Frage stellt sich für das junge Paar Johannes und Emma Pinneberg von Anfang an, als der noch ungeborene „Murkel“ eine überstürzte Heirat erzwingt. Zum Überleben reicht’s gerade so, aber Verlust der Arbeit, Verlust der Wohnung und geplatzte Träume von einer halbwegs auskömmlichen Existenz im Großstadtdschungel von Berlin lassen die jungen Leute mit ihrem Baby immer weiter nach unten rutschen.

Das Ende bleibt offen. Hans Falladas unbestechliche Beobachtung des Abstiegs hält einfach inne. Ist die Laube vor der Toren Berlins und die gesellschaftliche Ausgrenzung Pinnebergs die letzte Station? Oder geschieht, wie zwischendrin öfter, ein kleines Wunder? Kommt jemand vorbei wie Herr Jachmann oder der FKK-Anhänger und Verkäuferkollege Heilbutt, der irgendwie, irgendwo die Tür einen Spalt weit öffnet und wenigstens das Überleben möglich macht? Wir wissen es nicht.

Zusammenbruch als bürgerliches Subjekt

Fallada ist kein Brecht. Ihm geht es nicht um Entlarvung eines Systems, sondern um den Einzelnen im System. Was wir erfahren ist, dass die Liebe die Chance gibt, weiterzumachen. Nicht im Sinne des romantischen großen Gefühls, sondern als ein Wille, zusammenzustehen, sich der Ohnmacht entgegenzustemmen, sich zu weigern, einen bedrückenden Alltag als finales Lebensschicksal anzuerkennen. Sie seien doch anständige Leute, sagt Frau Pinneberg, das „Lämmchen“; da dürfte es ihnen doch eigentlich nicht schlecht gehen. Aber diese Art Gerechtigkeit ist dem Schicksal fremd.

Bei Fallada gibt es glückliche Zufälle, aber keinen Gott, der die Guten belohnt und die Bösen bestraft. Über alle walzen die großen Entwicklungen hinweg, und die Menschen verstehen nur ansatzweise, was passiert: Könnte man nur einmal eine Zeitung lesen, klagt Pinneberg irgendwann. Für ihn ist der Zusammenbruch als bürgerliches Subjekt, als Mitglied der Gesellschaft besiegelt, als ihn ein Polizist in der noblen Friedrichstraße von den Schaufenstern wegjagt: Stefan Migge macht mit bedrückend gewebter Empathie für seine Rolle deutlich, dass für den Arbeitslosen damit eine innere Welt zerstört wird, die seinem Leben, seinem Überleben bisher noch einen Rest von Sinn gegeben hatte.

Diese Geschichte von Abstieg und unverdrossenem Aufbäumen dagegen ist auch eine Geschichte starker Frauen. Wie Rieke Busch in Falladas „Ein Mann will nach oben“ ist Emma Pinneberg, geborene Mörschel, kein naives „Lämmchen“. Sie weiß, wie sie ihren „Jungen“ sanft, aber bestimmt immer wieder aufrichten kann, wie sie ihren geraden Weg geht, wie sie zäh am Überleben festhält. Silvia Weiskopf spielt sie zerbrechlich stark, pragmatisch im Alltag, aber treu ihren moralischen Maximen, standfest und sensibel. Erst am Ende, wenn sie eine Treppe in ein Souterrain hinabsteigt, kommt so etwas wie schmerzvolle Resignation auf. Eine Frauenfigur, die Fallada fern jeder Idealisierung, aber mit warmem Herzen entworfen hat, und die Silvia Weiskopf in ihrer anrührenden, bescheidenen Größe mit Distinktion und Herz verkörpert.

Wie in „Klimbim“ durch Leben segeln

Auf ihre Art eine starke Frau ist auch Pinnebergs Mutter Mia, eine Lebedame, die bessere Zeiten gesehen hat, aber beharrlich darauf besteht, die glamouröse Vergangenheit präsent zu halten. Eine Egoistin, der ihr Sohn wenig bedeutet, die mit der Fuchsstola jede Anmutung von Solidarität beiseite weht, die wie dereinst Elisabeth Volkmann in „Klimbim“ durchs Leben segelt, immer aufs Überleben bedacht. Ines Krug macht das angemessen mondän, wobei sie nicht nur den billigen Kern hinter der geschminkten Fassade sichtbar werden lässt, sondern auch die verzweifelt nach Zuneigung gierenden Seiten dieser alternden Frau nicht verleugnet, die auf tiefere Seelenschichten verweisen. Ines Krug ist auch Mutter Mörschel: eine gnadenlos realistische, abgearbeitete Frau aus dem Arbeitermilieu, auf das ihr Mann (Jan Pröhl) einen irrational verbissenen Stolz entwickelt hat – auch einer der Anker, die eine Gestalt am Rand der Gesellschaft noch am Leben hält.

Jan Pröhl zeigt seine Verwandlungskunst auch als Jachmann, eine zwielichtige Figur, der man dennoch eine Prise von Herzensgüte abnimmt. Als Kleinholz, Geschäftsmann im Landstädtchen Ducherow, quält Pröhl mit sadistischer Energie seine Angestellten. Der Verkäufer Heilbutt dagegen ist für seinen Kollegen Pinneberg im noblen Warenhaus Mandel wie ein barmherziger Samariter: Fallada führt an dieser Figur vor, wie ein Mensch mit Hilfe bigotter moralischer Empörung aus der Gesellschaft des „Normalen“ ausgestoßen wird: Stefan Diekmann spielt diesen abgeklärten Menschen facettenreich, lässt auch Homophobie und Antisemitismus anklingen – Motive, die aber nicht weiter ausgeführt werden.

Deformation des Menschen durch ein übermächtiges System

Ladwigs Inszenierung verlangsamt und konzentriert sich, wenn sich die apsisförmige Bühne von Ulrich Leitner mit dem rohen Holz ihrer Streben, Treppen und Galerien zum Kauftempel verwandelt. In diesem Raum wird verhandelt, was Fallada hauptsächlich interessiert hat, die Deformation des Menschen durch ein übermächtiges ökonomisches System. Ihm fällt der verzweifelt seinem Verkaufssoll hinterherhechelnde Pinneberg zum Opfer.

Die unbarmherzigen Gesetze lassen sich aber auch benützen, etwa um den Nonkonformisten Heilbutt zu entfernen, oder um in einem erniedrigenden Tribunal die Verkäuferin Fräulein Fischer (grandios in ihrer Hilflosigkeit: Lene Dax) systematisch fertig zu machen. Keine anonymen Kräfte sind da am Werk, sie haben ein Gesicht: Olga Prokot als eiskaltes Karriereweib – auch eine Facette der „starken“ Frau, Jens Winterstein als soigniert an anderen Schicksalen desinteressierter Chef und Philipp Noack als Empathie heuchelnder Spannfuß gelingen nicht nur als Charakterstudien, sondern lassen die Figuren Falladas unheimlich aktuell wirken.

Nicht nur in diesen Momenten erweist die Bearbeitung ihre Stärken, weil sie sich knapp fokussiert, den Darstellern viel Spielraum lässt und mit distanzierend erläuternden Zitaten aus dem Roman die Handlung immer wieder durchbricht und gleichzeitig weitertreibt. So gelingt dem Grillo-Theater eine tragfähige Alternative zu der bekannten und oft gespielten, 1972 in Bochum uraufgeführten Revue von Tankred Dorst und Peter Zadek, und ein bemerkenswertes Zeitstück zu einer derzeit von Erinnerungs-Hochkonjunktur verwöhnten Epoche, deren elende Ecken und düstere Winkel Hans Fallada mit nüchterner Empathie ausgeleuchtet hat.

Weitere Aufführungen hoffentlich nach der Corona-Schließzeit, die erste geplant am 30. April.
Info: https://www.theater-essen.de/spielplan/kleiner-mann-was-nun/4482/




Das Leben der Maler: „Kunst sehen“ von Julian Barnes

Durchs Coronavirus sind bekanntlich nicht nur alle Bühnenkünste stillgelegt, auch die Museen und Bildungseinrichtungen sind geschlossen. Uns bleiben aber – mehr denn je! – die Bücher. Daher an dieser Stelle nun öfter dieser oder jener Lesehinweis.

Julian Barnes befasst sich in seinem neuen Buch mit Kunst und – vor allem – mit den Künstlern. Der spannendste Text seines Bandes „Kunst sehen“ handelt von Théodore Géricault und seinem Gemälde „Das Floß der Medusa“. Er leitet (nach einem Vorwort) diesen Band ein und trägt hier den Titel „Aus Katastrophen Kunst machen“. Barnes-Leser kennen ihn bereits als Bestandteil des Romans „Eine Geschichte der Welt in 10 1/2 Kapiteln“. Dieser Auszug besteht auch für sich genommen, unabhängig vom Roman. In der Beschreibung des Bildes und seiner vielfältigen Beweggründe scheint nach und nach die gesamte Conditio humana auf. Ein großartiges Stück, das ein großartiges Gemälde aufschlüsselt, aber natürlich nicht völlig „erklären“ kann (was auch gar nicht der Anspruch ist)!

Ein wahrhaft furioser Text, der so gar nicht wichtigtuerisch oder gravitätisch daherkommt. Julian Barnes hat ja auch schon im Vorwort bekannt, dass er im Alter von 12 Jahren noch ein wahrhaftiger Banause gewesen sei, ohne jeden bildungsbürgerlichen Hintergrund, folglich auch ohne Dünkel. Erst ganz allmählich habe er sich den Künsten genähert, anfangs gleichsam von den Rändern her, als einsamer Besucher in eher schäbigen französischen Provinzmuseen. Vielleicht auch von daher sein angenehm unaufgeregter, unaufdringlicher „Plauderton“, der freilich auch ein angelsächsisches Erbteil sein mag.

Nun ist auch der Rest des Buches mancher Ehren wert. Und doch schien mir, als hätte ich mit den ersten Beiträgen schon das Allerbeste gelesen. Die weiteren Kapitel des Sammelbandes sind vorwiegend zuerst in Zeitungsbeilagen und Zeitschriften der Edelsorte erschienen – beispielsweise „Modern Painters“, „Times Literary Supplement“ oder „New York Review of Books“. Sie behandeln Werke und Werkabschnitte von Delacroix, Courbet, Manet, Cézanne, Degas, Redon, Bonnard, Vallotton, Magritte und anderen. Der Schwerpunkt liegt also eindeutig auf der französischen Kunst und dort wiederum auf der der Klassischen Moderne.

Man lernt auf jeden Fall einiges hinzu. Um nur wenige Stichpunkte zu nennen: Man erfährt vom erstaunlich krassen Gegensatz eines ausgesprochen ruhigen Lebens und einer exzessiven Kunstausübung bei Delacroix. Courbet wird als monströser Selbstvermarkter plastisch dargestellt, der neben sich allenfalls noch Victor Hugo gelten ließ. Odilon Redon hingegen, ein Vorläufer des Surrealismus, sei (entgegen allen Klischees und den Gepflogenheiten der Bohème) ein glücklich verheirateter Mann gewesen…

Man ahnt vielleicht schon den möglichen Schwachpunkt: Julian Barnes konzentriert sich oft gar nicht mehr so sehr auf die Werke, sondern auf deren Urheber; speziell darauf, wie so ein Künstlerleben verlaufen kann, ja, was eine Künstlerexistenz recht eigentlich ausmacht – wobei er natürlich auch sein eigenes Dasein als Schriftsteller stets mitbedenkt. Und so gerät er vielfach in Versuchung, beim Biographischen, ja mitunter auch beim Anekdotischen zu verharren.

Keine vollkommen ungetrübte Empfehlung also. Aber doch ein Buch, mit dem man gewiss keine kostbare Lebenszeit verschwendet.

Julian Barnes: „Kunst sehen“. Aus dem Englischen von Gertraude Krueger und Thomas Bodmer. Kiepenheuer & Witsch. 352 Seiten, 25 Euro.

 




Die „Essais“ des Michel de Montaigne und ihr deutscher Übersetzer – doppelte Ermutigung zum unzeitgemäßen Leben

Mit seinem singulären Übersetzungswerk wurde der unter dem messerscharfen Pseudonym „Hans Stilett“ veröffentlichende  Hans A. Stiehl in zwei Jahrzehnten zur kraftvollsten deutschen Stimme des Humanisten Michel de Montaigne (1533-1592). Ich hatte 2008 das Vergnügen, mit Hans Stilett bei seiner Lesung am Theater an der Ruhr ein Bühnengespräch zu führen. Der 86-Jährige beeindruckte dabei – wie sein Vorbild Montaigne – durch Geistesgegenwart, Humor und enzyklopädisches Wissen.

Stilett (1922-2015) lebte, schrieb und übersetzte in Bonn. Im Brotberuf war er jahrzehntelang als Fremdsprachenredakteur beim Bundespresseamt tätig. Nach dem Ende seiner Berufstätigkeit und neben eigener schriftstellerischen Arbeit wagte er einen couragierten Neuanfang und begann, an der Universität zu Bonn Vergleichende Literaturwissenschaft, Germanistik und Philosophie zu studieren. 1989 schloss Stiehl seine Dissertation über Montaignes „Reisetagebuch“ ab.

In deren Rahmen hatte er bereits mit der eigenen Übertragung einzelner Passagen des „Journal du voyage de Michel Montaigne en Italie“ begonnen. 1998 erschien dennoch zunächst seine Übertragung der „Essais“ Montaignes im Eichborn Verlag, die „erste moderne Gesamtübersetzung“. 2002 folgte dann die des vollständigen „Tagebuch(s) der Reise nach Italien über die Schweiz und Deutschland“. Für seine Arbeit wurde Stilett 2003 mit dem Schweizer Prix lémanique de la traduction ausgezeichnet. Seine „komparatistische“ Übersetzungsweise fand international Beachtung und seine deutsche Fassung des „Reisetagebuchs“ wurde gar der südkoreanischen Übertragung zugrunde gelegt.

„Relax, Baby, Deine Zeit ist begrenzt, bloß keinen Stress …“

Die Übersetzung der „Essais“ hatte bald phänomenalen Erfolg, sie wurde gerühmt als „die Wiedergeburt Montaignes in deutscher Sprache“ und viele Zehntausend Exemplare des Foliobandes konnten verkauft werden. Harald Schmidt schrieb dazu im Focus:
„Unsereins hat das Buch zum Beispiel gekauft, weil es so geil aussieht und sich so toll anfühlt, und plötzlich fängt man an drin rumzulesen und findet amtliche Äußerungen zu wirklich jedem Thema. Nach den ersten Lesestunden  (…) lässt sich Montaigne schon mal für alle zukünftigen Fans so weit vereinfachen: ‚Relax, Baby, Deine Zeit ist begrenzt, bloß keinen Stress, shit happens.‘ Irgendwie beruhigend, weil schon um 1580 erkannt.“

Nach der Übersetzung der „Essais“ und des „Reisetagebuches“ arbeitete Hans Stilett auch an verschiedenen Auswahlbänden zu Montaigne – vor allem aber am Opus magnum „Von der Lust, auf dieser Erde zu leben. Wanderungen durch Montaignes Welten“. Insgesamt sicher ein gutes Vierteljahrhundert beschäftigte sich Hans Stilett mit dem lebensweisen  Schriftsteller und Denker, übersetzte diesen frühen Mitbegründer einer Philosophie der Lebenskunst und rezipierte die weltweite Forschung über den Franzosen.

Hochachtung vor Lebewesen und Lebensweisen

„Lebendigem lebendig begegnen“ war das Motto, unter das Stilett seine Arbeit zu Montaigne gestellt hatte – denn Montaigne lebte zwar vor weniger als 500 Jahren, lebendig geblieben und hochaktuell sind sein Zugang zur Welt, sein Leben und Werk aber auch noch heute. Montaignes zeituntypischer Respekt vor Frauen und ihrem Intellekt, seine menschenfreundlichen Ideen zur Erziehung, seine tolerante Hochachtung vor anderen Lebewesen und Lebensweisen stechen heraus. Montaignes Leben und Denken auf großer Tour und im engeren Turm seines Schlosses sind, so Stilett, vor allem deshalb so reizvoll und der Beschäftigung wert, weil sie sich nicht auf einen Nenner bringen lassen, sondern voller Widersprüche sind – und weil Montaigne eben im Wissen dieser Widersprüchlichkeit lebte und schrieb.

„Dieses Buch, Leser, gibt redlich Rechenschaft“

Schillerndes Werk und Persönlichkeit, Erfahrungshunger und tiefes Nachdenken machen Montaigne so faszinierend – und natürlich sein enormes sprachliches Talent, seine Fähigkeit, Details und Zusammenhänge wahrzunehmen und auf den Punkt zu bringen. Montaignes Werk bietet einen Kosmos der Innenschau und mitfühlenden Welt-Anschauung – einen Kosmos, der immer neu erkundet werden will, obwohl Montaigne selbst in seiner „Essai“-Vorbemerkung „An den Leser“ kokett bescheiden genau davon abrät:

„Dieses Buch (…) ist meinen Angehörigen und Freunden zum persönlichen Gebrauch gewidmet, damit sie, wenn sie mich verloren haben (was bald der Fall sein wird), darin einige meiner Wesenszüge und Lebensumstände wiederfinden (…). Meine Fehler habe ich frank und frei aufgeschrieben, wie auch meine ungezwungene Lebensführung, soweit die Rücksicht auf die öffentliche Moral mir dies erlaubte. Hätte ich unter jenen Völkern mein Dasein verbracht, von denen man sagt, daß sie noch in der süßen Freiheit der ersten Naturgesetze leben, würde ich mich, das versichere ich dir, am liebsten rundum unverhüllt abgebildet haben, rundum nackt. Ich selber, Leser, bin also der Inhalt meines Buchs: Es gibt keinen vernünftigen Grund, daß du deine Muße auf so einen unbedeutenden, so nichtigen Gegenstand verwendest.“

Michel de Montaigne: Essais. Erste moderne Gesamtübersetzung von Hans Stilett. 7. korrigierte Auflage, Eichborn Verlag, Frankfurt am Main, Juni 2008




Nach all den Absagen: Helft den Kulturschaffenden – und den Leuten im freien Journalismus!

Leerer Zuschauerraum – hier im Bochumer Schauspielhaus. Aufnahme von November 2018, nach Schluss einer Vorstellung. (Symbolfoto: Bernd Berke)

Nachdem allerorten vermeldet wird, welche (Kultur)-Veranstaltungen nicht mehr ausgetragen werden; nachdem man sich dabei tendenziell immer kürzer fassen kann (Es findet ja praktisch nichts mehr statt) – nach all dem muss man in der Tat dringlich über die vielen Freischaffenden in der Kunst- und Kulturszene reden.

Nicht wenige von ihnen hängen von (teilweise ohnehin geringen) Honoraren bzw. Einzelgagen pro Auftritt ab und befinden sich sowieso häufig am unteren Rande des Ein- und Auskommens. Und da sprechen wir nicht nur von den zahlreichen Musikern, Comedians und Kabarettisten, wie sie speziell auch die Kulturlandschaft des Ruhrgebiets mitgestalten.

Wenn „wir“ (Steuerzahler) jetzt mal wieder Teile der Wirtschaft und womöglich auch erneut Banken retten sollen, so mag das in bestimmten Fällen und Branchen recht und billig sein. Nichts dagegen einzuwenden, sofern der Bedarf auch ernsthaft geprüft wird und keine Lobby-Interessen bedient werden.

Ein Unterstützungs-Fonds wird dringend gebraucht

Freilich sollte gerade dann auch ein ordentlich ausgestatteter und möglichst unbürokratisch gehandhabter Unterstützungs-Fonds für all jene aufgelegt werden, die die vielfältige Kultur stets alltäglich und allabendlich am Leben erhalten haben. Hier herrscht ja vielfach nicht nur Bedarf, sondern echte Bedürftigkeit.

Ein Dieter Nuhr, der sich neuerdings über Corona belustigt und weiterhin auftreten will, wird sicherlich mal ein paar Monate ohne zusätzliche Einnahmen klarkommen. Viele, viele andere haben allerdings nichts für solche misslichen Zeiten zurückgelegt. Was soll aus ihnen werden? Sollen sie jetzt allesamt in andere Berufe wechseln, so dass hernach – wenn sich die Lage hoffentlich schrittweise normalisiert – weite Teile der Szene brachliegen? Sollen sie sich mit Hartz IV durchschlagen? Erst haben wir ihnen gelauscht, sie hin und wieder auch bewundert, viel gelacht, uns oft prächtig unterhalten und überhaupt all das goutiert, was Kultur nun mal vermag – dann sollen sie ihre Schuldigkeit getan haben? Das kann ja wohl nicht angehen.

Nicht zu vergessen übrigens die zahlreichen freien Journalistinnen und Journalisten, die von heute auf morgen so gut wie nichts mehr zu schreiben oder sonstwie zu publizieren haben. Wo nichts stattfindet, kann nur anfangs ein- bis zweimal über den Schwund berichtet werden, doch das schleift sich ganz schnell ab. Und dann? Fehlen zumindest auf Wochen hinaus die Einnahmen. Und dann? Sollten wir auch ihnen helfen.

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P. S.: Dass der Appell auch den freien Journalismus umfasst, ist keineswegs pro domo gesprochen. Bei den Revierpassagen basiert sozusagen eh alles auf selbstausbeuterischem „Ehrenamt“. Also ist kein Eigeninteresse im Spiel.




Jetzt geht es um den ganzen Lebensstil

Wenig originelles Bild zu den „dunklen Wolken, die da heraufziehen“, aber ich hab‘ in eigenen Beständen auf die Schnelle nichts Besseres gefunden. (Foto: BB)

So. Wir sind an einem Punkt angekommen, an dem es nicht mehr um einzelne bzw. kollektive Absagen geht – sei’s auf kulturellem oder sportlichem Felde. Was soll’s denn, ob die Bundesliga-Saison nun unterbrochen oder ganz abgebrochen wird?

Es geht inzwischen um unseren ganzen Lebensstil, ja überhaupt ums Ganze. Wenn Bundeskanzlerin Merkel rät, die sozialen Kontakte auf nötigste Mindestmaß zu begrenzen, ist denn doch – bei aller scheinbaren äußeren Gelassenheit – eine ziemliche Anspannung spürbar.

Wir dachten schon, ein neues (Bionade)-Biedermeier habe sich in gewissen urbanen Vierteln längst etabliert, dabei steht erst jetzt der allgemeine Rückzug in die Stuben an. Gartenlaube revisited?

Endlich, endlich schließt auch NRW die Schulen und Kitas

Du meine Güte! Wie relativ lang hat Deutschland, hat speziell Nordrhein-Westfalen gebraucht, um sich zu Schul- und Kita-Schließungen ab kommenden Montag durchzuringen – und das im Fall von NRW als Bundesland mit den weitaus meisten Corona-Infektionen. Hätte man in diesem Sinne nicht spätestens heute gehandelt, hätte NRW-Ministerpräsident Armin Laschet wohl seine Ambitionen auf CDU-Vorsitz und nachfolgende Kanzlerkandidatur gleich aufgeben können. Vielen Beobachtern galt und gilt er als „Zauderer“. Gerade hierbei hätte sich das nicht bestätigen dürfen.

Eine solche Lage hat es seit Kriegsende nicht gegeben. Frankreichs Präsident Macron zieht den historischen Bogen noch weiter und spricht von der größten medizinischen Krise seit 100 Jahren. Gemeint ist die jetzt wieder oft herbeizitierte „Spanische Grippe“, die um 1918/19 weltweit unfassbare 50 Millionen Todesopfer gefordert hat und damit, was die bloßen Zahlen anbelangt, noch verheerender gewirkt hat als die Weltkriege.

Schwindet die frohe Weltzugewandtheit?

Gerade um die italienische Lebensart (Italianità) machen sich italophile Journalisten und andere, dem Süden herzlich zugeneigte Menschen neuerdings erhebliche Sorgen. „Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn?“ Nein, man erkennt es nicht mehr wieder. Stirbt hier auch schrittweise die Lebensfreude, schwindet nach und nach die frohe Weltzugewandtheit? Geht nun ausgerechnet Italien den Weg in die innere Einkehr? Oder wird all die Freude wiederkehren?

Und überhaupt: der Westen. Was wird aus der üblichen Event-Kultur, was ist mit der landläufigen Erlebnisgier, mit dem gewöhnlichen Hedonismus? Gab’s da nicht mal jenes Buch mit dem Titel „Wir amüsieren uns zu Tode?“ Lang ist’s her. Treibt es uns nun noch mehr in die vereinzelnde Digitalisierung? Oder wirkt sich die Krise gar als gesellschaftlicher Kitt aus, als Anstoß zum Zusammenhalt? Man möchte es hoffen, doch da bleiben auch große Zweifel. Wo so viele Leute ohne Sinn und Verstand Toilettenpapier horten oder sogar aus Kliniken Desinfektionsmittel klauen (in der Phantasie male ich mir passende Strafen dafür aus), ist Solidarität offenbar kein weithin praktiziertes Allgemeingut.

Drastische Maßnahmen und Galgenhumor

Trotz der (verspäteten?) Schulschließungen geht’s bei uns noch vergleichsweise moderat zu. Die Schweiz verbietet Veranstaltungen mit über 100 (nicht: über 1000) Teilnehmern, in Belgien werden auch die Restaurants geschlossen, in Österreich bleiben Geschäfte jenseits des Lebensbedarfs dicht, die Restaurants schließen um 15 Uhr; Polen und Dänemark riegeln ihre Grenzen ab. Als deutscher Staatsbürger darf man ohnehin längst nicht mehr in alle Länder des Erdballs reisen. Viele weitere drastische Beispiele ließen sich nennen. Und wer weiß, wer am Ende wirksamer gehandelt hat.

Auch Galgenhumor macht sich breit, wie eigentlich immer, wenn’s ungemütlich (oder schlimmer) wird: Just heute twittern Tausende zum Hashtag-Thema #CoronaSchlager, will heißen: Man dichtet bekannte Schlagertexte der letzten Jahrzehnte aufs Virus und seine Folgen um. Wenn’s denn der Entspannung dient und nicht ganz und gar zynisch wird…

Die Professoren Drosten und Wieler haben das Sagen

Die beinahe täglich live übertragenen Presskonferenzen von der Corona-Front lassen allmählich den Eindruck aufkommen, die Professoren Christian Drosten (Charité) und Lothar Wieler (Robert-Koch-Institut) seien inzwischen die eigentlich Regierenden im Lande. Sie haben buchstäblich das Sagen. Jedenfalls können die politisch Verantwortlichen in dieser Situation schwerlich ohne solche Fachleute auskommen. Prof. Alexander Kekulé (Uniklinik Halle) wäre demnach mit seinen deutlich abweichenden Meinungen so etwas wie die Opposition. Schon recht früh hat er gefordert, was jetzt geschehen ist: „Coronaferien“ in den Schulen und Absage größerer Zusammenkünfte.

Um nur nicht missverstanden zu werden: So weit man es als Laie und Medienkonsument beurteilen kann, machen Drosten und Wieler (mit ihren Teams) einen großartigen Job, sie bleiben angenehm nüchtern und sachlich, wobei man dennoch die Dringlichkeit ihrer Anliegen nicht verkennen kann. Das gilt übrigens auch für Bundesgesundheitsminister Jens Spahn, der selbst nicht die medizinische Expertise haben kann, es aber offensichtlich versteht, fähige Leute als Berater heranzuziehen.

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P. S. zum Fußball: Ohne Zuschauer im Stadion macht die Kickerei eh keinen Spaß mehr, Sky & Co. haben mit den „Geisterspielen“ sozusagen leblose Materie übertragen. Meinetwegen soll die Liga jetzt mit der Saison aufhören, die Bayern halt zum Meister erklären (das sage ich als Dortmunder) oder – besser noch – diese Spielzeit ganz ohne Titel beenden, die jetzigen Tabellenplätze nur für einen künftigen europäischen Wettbewerb zählen lassen etc. Auf- und Abstieg ließen sich auch regeln, indem z. B. die 1. Liga aufgestockt würde, also niemand ohne Spielentscheidung absteigen müsste. Das alles wird sich finden und ist ganz und gar nicht lebenswichtig.

Ganz abgesehen davon ist es vielleicht ein soziales Experiment: Wirkt sich das Fehlen des Vereinsfußballs gesellschaftlich aggressionshemmend oder aggressionssteigernd aus? Anders gewendet: Befördert oder kanalisiert der Fußball die Gewaltsamkeit?




Corona-Update: Alles dicht! – Dortmunder Kultur-Absagen und tägliche Ergänzungen aus dem Revier

Ein Blick in den Zuschauerraum des Dortmunder Konzerthauses, das 1500 Plätze hat und  selbstverständlich auch von Absagen betroffen ist. (Foto: Bernd Berke)

Hier am Anfang zunächst der Stand vom 11. März, ständige Aktualisierungen weiter hinten:

Ausnahmsweise werden hier zwei ausführliche Pressemitteilungen aus den Dortmunder Kulturbetrieben wörtlich und unkommentiert wiedergegeben – weil es hier vor allem auf die sachlichen Details ankommt und nicht auf diese oder jene Meinungen.

Im Anhang folgen weitere Informationen, auch aus anderen Revier-Städten. 

Zuerst eine ausführliche Übersicht zu städtischen Kulturveranstaltungen, die in den nächsten Wochen ausfallen werden, übermittelt von Stadt-Pressesprecherin Katrin Pinetzki.

Danach eine gleichfalls längere Aufstellung aus dem Dortmunder Mehrsparten-Theater, auch das Konzerthaus betreffend, übermittelt von Theater-Pressesprecher Alexander Kalouti.

Wir zitieren:

„Öffentliche Kulturveranstaltungen fallen bis Mitte April aus – Museen, Bibliotheken und U bleiben geöffnet – Unterrichtsbetrieb in VHS- und Musikschule läuft weiter

Die Kulturbetriebe der Stadt Dortmund, das Theater Dortmund und das Konzerthaus Dortmund sagen alle ihre öffentlichen Veranstaltungen bis Mitte April ab. Die Regelung gilt ab morgen (12. März) und ist unabhängig von der Zahl der erwarteten Besucherinnen und Besucher. Damit hofft die Stadt, Infektionsketten zu unterbrechen und die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen.

Es fallen aus:

  • Vorstellungen und Veranstaltungen im Konzerthaus Dortmund,
  • Vorstellungen und Veranstaltungen im Theater Dortmund: Oper, Ballett, Schauspiel, Kinder- und Jugendtheater, Konzerte, Akademie für Theater und Digitalität,
  • Veranstaltungen, Ausstellungseröffnungen und Führungen in den Städtischen Museen: Museum Ostwall im Dortmunder U, Museum für Kunst und Kulturgeschichte, Westfälisches Schulmuseum, Kindermuseum Adlerturm, Hoesch-Museum, Brauerei-Museum, schauraum: comic + cartoon,
  • städtische Veranstaltungen im Dortmunder U (z.B. auf der UZWEI, in der Bibliothek „Weitwinkel“, Veranstaltungen in der Reihe „Kleiner Freitag“),
  • Veranstaltungen und Festivals im Dietrich-Keuning-Haus (der Kinder- und Jugendbereich hat geöffnet!),
  • Lesungen und andere Veranstaltungen in den Bibliotheken und im Studio B,
  • Konzerte und Veranstaltungen der Musikschule (der Unterricht findet statt!),
  • Vorträge und andere Veranstaltungen der VHS (die Kurse und Workshops finden statt!),
  • Vorträge, Lesungen und andere Veranstaltungen in Stadtarchiv und in der Mahn- und Gedenkstätte Steinwache,
  • Konzerte und andere Veranstaltungen im Institut für Vokalmusik,
  • Spaziergänge und Fahrradtouren zur Kunst im öffentlichen Raum,
  • Veranstaltungen des Kulturbüros (Ausstellungseröffnungen im Torhaus Rombergpark, Gitarrenkonzerte in der Rotunde).

(…)

Der Kartenverkauf für Konzerte und Aufführungen in Theater und Konzerthaus für Vorstellungen nach Ostern läuft weiter.

Alle Theater- und Konzerthauskunden, die von den Vorstellungsausfällen betroffen sind, werden kontaktiert. Wenn möglich, werden ausfallende Vorstellungen nachgeholt. Die Kunden werden über mögliche neue Termine sowie die Rückgabe von Tickets benachrichtigt.“

Weitere Informationen gibt es auf den Webseiten von Konzerthaus und Theater und auf www.dortmund.de

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Blick aufs Dortmunder Schauspielhaus. (Foto: Bernd Berke)

Wichtige Informationen zu den Vorstellungen des Theaters Dortmund und des Konzerthauses Dortmund:

„Alle Vorstellungen bis einschließlich 15. April 2020 finden nicht statt.

Aufgrund des Erlasses der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen finden im Konzerthaus Dortmund und im Theater Dortmund bis einschließlich 15. April 2020 keine öffentlichen Veranstaltungen statt. Konzerthaus-Intendant Dr. Raphael von Hoensbroech und der Geschäftsführende Direktor des Theater Dortmund Tobias Ehinger unterstützen diese Vorgabe und bedauern zugleich, dass so viele erstklassige Konzerte und Vorstellungen abgesagt werden müssen.

Alle Kunden, die von den Vorstellungsausfällen betroffen sind, werden informiert. In den kommenden 14 Tagen arbeiten wir intensiv daran, für die ausgefallenen Vorstellungen Ersatztermine zu finden. Die Ticketingstellen beider Häuser haben weiterhin geöffnet und der Kartenverkauf für Veranstaltungen nach Ostern läuft weiter. Das Restaurant Stravinski und die Klavier & Flügel Galerie Maiwald am Konzerthaus Dortmund bleiben ebenfalls bis auf weiteres geöffnet.

Das Konzerthaus Dortmund bietet für seine Eigenveranstaltungen folgende Regelungen: Für Ersatztermine behalten Tickets ihre Gültigkeit. Sollten Kunden an dem neuen Termin verhindert sein, wenden sie sich bitte telefonisch an das Konzerthaus-Ticketing unter T 0231 – 22 696 200. Sollte kein Ersatztermin gefunden werden, sendet das Konzerthaus an die Kunden einen Gutschein über die Höhe des gezahlten Kartenpreises, der für alle kommenden Veranstaltungen im Konzerthaus Dortmund einlösbar ist. Bei weiteren Fragen zur Rückerstattung steht das Ticketing ebenfalls gerne zur Verfügung. Für Partnerveranstaltungen können abweichende Regelungen gelten.

Das Theater Dortmund bietet folgende Regelungen: Bei Nichtwahrnehmung des Ersatztermins können die Karten vor dem jeweiligen Ersatztermin umgetauscht werden. Darüber hinaus bietet das Theater Dortmund folgende Kulanzregelungen für die Kartenrücknahme an: Kunden können die für diesen Zeitraum im Vorverkauf bereits erworbenen Karten bis Ende der Spielzeit 2019/20 im Kundencenter unter Vorlage der Originalkarten in spätere Alternativvorstellungen eintauschen oder in Wertgutscheine umwandeln. Bei Abonnentinnen und Abonnenten können die Karten in Abo-Gutscheine innerhalb der jeweiligen Sparte umgewandelt werden, die aus Kulanz auch für die nächste Spielzeit einlösbar sind. Karten, die bei externen Vorverkaufsstellen erworben wurden, können nur an diesen zurückgegeben werden. Für Rückfragen steht das Ticketing des Theater Dortmund unter der Telefonnummer 0231 – 50 27 222 gerne zur Verfügung.

Wir stehen weiterhin in engem Kontakt mit den zuständigen Behörden und informieren auf unseren Websites über alle weiteren aktuellen Entwicklungen, die den Spielbetrieb unserer Häuser betreffen.“

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Ausgewählte Ergänzungen (ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit)

12. März:

Die Dortmunder Arbeitswelt-Ausstellung DASA hat die für 28./29. März geplante „Maker Faire Ruhr“ abgesagt, ein Erfinder- und Mitmach-Festival, das im Vorjahr einige Tausend Besucher(innen) mobilisiert hat. Nachtrag am 16. März: Die DASA schließt jetzt bis auf Weiteres ganz.

Die in Dortmund ansässige Auslandsgesellschaft streicht bis zum 15. April alle öffentlichen Veranstaltungen.

Das Szenetheater „Fletch Bizzel“ folgt dem Beispiel der städtischen Kultureinrichtungen und sagt alle Veranstaltungen bis Mitte April ab.

Auch im Fritz-Henßler-Haus gibt es bis Mitte April keine öffentlichen Auftritte.

Im Dortmunder Literaturhaus ist ebenfalls bis 15. April Veranstaltungs-Pause.

Die Messe „Creativa“ in den Dortmunder Westfalenhallen ist gleichfalls abgesagt und auf Ende August verschoben worden.

13. März:

Theater Dortmund: Alle Sparten haben ihre Spielpläne für diese und die kommende Saison gründlich umgeschichtet.

Schauspielhaus Bochum: Keine Veranstaltungen mehr (auch nicht mit weniger als 100 Personen). Sämtliche Aufführungen fallen aus – vorerst bis 19. April. Ähnliches gilt fürs Theater an der Ruhr in Mülheim, fürs Theater Oberhausen und das Westfälische Landestheater (WLT) in Castrop-Rauxel.

Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) streicht alle öffentlichen Veranstaltungen in seinen Einrichtungen und schließt ab morgen (14. März) seine insgesamt 18 Museen, darunter das LWL-Museum für Kunst und Kultur in Münster, das Westfälische Industriemuseum mit seiner Zentrale in Dortmund (Zeche Zollern) und das LWL-Museum für Archäologie in Herne.

Das Duisburger Lehmbruck-Museum bleibt ab Samstag (14. März) zunächst bis zum 19. April geschlossen.

Das Museum Folkwang in Essen und das Emil Schumacher Museum in Hagen setzen alle Veranstaltungen bis auf Weiteres aus.

Die Kunstmesse Art Cologne (geplant für April) ist abgesagt worden.

14. März:

Das „Dortmunder U“ und das Museum Ostwall (im „U“) haben alle Veranstaltungen gestrichen. (Inzwischen ist das Haus geschlossen).

Dortmund: Keinerlei öffentliche Veranstaltungen mehr

15. März:

In einer Sondersitzung hat der Verwaltungsvorstand der Stadt Dortmund gestern beschlossen, dass ab heute (Sonntag, 15. März) bis auf Weiteres keinerlei öffentliche Veranstaltungen mehr stattfinden dürfen. Gaststätten und Restaurants dürfen vorerst geöffnet bleiben.

Museen, Bibliotheken und Sportstätten geschlossen

Der Krisenstab der Stadt Dortmund hat heute (Sonntag, 15. März) getagt und angeordnet, Kultur- und Freizeiteinrichtungen zu schließen. In diesem Sinne werden bis auf Weiteres die städtischen Museen, die VHS, die Bibliotheken und die Musikschule sowie die städtischen Hallenbäder, Sporthallen und Sportplätze geschlossen.

Siehe dazu auch: www.dortmund.de

16. März

Auch anderorts bleiben ab sofort die Museen geschlossen, so z. B. in Essen (Folkwang), Bochum (Kunstmuseum) und Wuppertal (Von der Heydt).

Das Frauenfilmfestival Dortmund/Köln fällt aus.

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Aber machen wir’s kurz:

Jetzt sind alle Museen geschlossen. Und alle Kinos auch. Und alle Bühnen.

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Weitere Nachträge/Aktualisierungen

24. März

Das Dortmunder Festival Klangvokal (geplant ab 17. Mai) musste ebenfalls abgesagt werden. Möglichkeiten für Nachholtermine (September 2020 bis Juni 2021) werden derzeit geprüft. Das zugehörige Fest der Chöre soll vom 13. Juni auf den 12. September verschoben werden. Einzelheiten: www.klangvokal-dortmund.de

25. März

Die Ruhrfestspiele, die vom 1. Mai bis zum 13. Juni in Recklinghausen hätten stattfinden sollen, sind gleichfalls abgesagt. Teile des geplanten Programms sollen nach Möglichkeit im Herbst nachgeholt werden.

Das Klavierfestival Ruhr, ursprünglich ab 21. April geplant, soll nun erst am 18. Mai starten. Die vom 21. April bis 17. Mai geplanten 23 Konzerte sollen nach den Sommerferien und im Herbst nachgeholt werden.

Die Mülheimer Stücketage (geplant 16. Mai bis 6. Juni) sind abgesagt worden.

27. März

Neuester Stand beim Klavierfestival Ruhr: Sämtliche bis Ende Mai geplanten Konzerte werden auf die Zeit nach den Sommerferien bzw. in den Herbst 2020 verlegt. Der Spielbetriebwird voraussichtlich erst Anfang Juni (Woche nach Pfingsten) beginnen. Näheres unter www.klavierfestival.de/nachholtermine

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Nähere Infos auf den jeweiligen Homepages

 




Corona: Viele Absagen für Theater, Oper und Konzert in NRW – und auch jenseits der Landesgrenzen

Sagt bis 19. April alle Vorstellungen ab: das Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen. (Foto: Werner Häußner)

Für die Kulturszene in NRW hat das Corona-Virus bereits Auswirkungen. Hier ein erster Rundblick:

Die Maßnahmen, die eine weitere Verbreitung von Sars-CoV-2 – so heißt das tückische Kleinteilchen – hemmen sollen, führten bereits gestern, 10. März, zur Einstellung des Spielbetriebs des Musiktheaters im Revier in Gelsenkirchen bis voraussichtlich 19. April.

Soeben hat auch das Theater Hagen alle Vorstellungen im Großen Haus – nicht aber in den kleineren Spielstätten – abgesagt. In Dortmunder Konzerthaus sind der Auftritt von Bodo Wartke am heutigen 11. März auf den 23. Juni verschoben und alle öffentlichen Veranstaltungen bis 15. April abgesagt. Und nun hat auch das Beethovenfest Bonn alle Konzerte zwischen 13. und 22. März abgesagt,

Seit dem Erlass des Gesundheitsministeriums vom 10. März sollen die örtlichen Behörden Veranstaltungen mit mehr als 1.000 zu erwartenden Besucherinnen und Besuchern grundsätzlich absagen. Liegt die Zahl darunter, sei – wie bisher – eine individuelle Einschätzung der örtlichen Behörden erforderlich, ob und welche infektionshygienischen Schutzmaßnahmen zu ergreifen sind, heißt es auf der Homepage der Landesregierung.

Düsseldorf deckelt die Zahl der Besucher

Während bei der Theater und Philharmonie (TuP) Essen die Entscheidungsfindung noch im Gang ist, hat sich die Deutsche Oper am Rhein in Düsseldorf entschieden, vorerst weiterzuspielen, den Verkauf von Karten aber so zu deckeln, dass die Zahl von 1.000 Menschen im Raum (Besucher und Mitwirkende) nicht überschritten wird. Auch die Wuppertaler Bühnen führen momentan den Spielbetrieb weiter. Die Historische Stadthalle begrenzt ihren Kartenverkauf ebenfalls, damit die 1000er-Marke nicht überschritten wird.

Nicht – oder noch nicht – betroffen scheinen die Museen: Das Essener Folkwang Museum sagt zwar seine Ausstellungseröffnung zu Mario Pfeifer, Black/White/Grey (am 12. März, 19 Uhr) ab, hat aber ansonsten wie üblich geöffnet. Auch die Beethoven-Ausstellung in der Bundeskunsthalle Bonn bleibt unberührt.

In Sachsen spielt man vorerst weiter

Ein Blick über die Grenzen: In Bayern sind alle Staatstheater geschlossen, die Theater in Bamberg, Würzburg und Regensburg haben bereits nachgezogen und ihre Vorstellungen bis Mitte April abgesagt. In Wien schließen Burgtheater, Staats- und Volksoper. Auch in den drei Berliner Opernhäuser gibt es bis 19. April keine Vorstellungen. Sachsen dagegen meldet derzeit keine Absagen: Semperoper, Staatsoperette Dresden, Theater Chemnitz spielen, und auch die Landesbühnen Sachsen kündigen die Premiere von Heinrich Marschners „Der Vampyr“ in der Regie von Manuel Schmitt – erfolgreicher Regisseur von Bizets „Perlenfischern“ in Gelsenkirchen – weiterhin für den 14. März an.

Fatale Folgen haben die Schließungen und Absagen für freie Künstler, vor allem, wenn Verträge keine Ausfallhaftung vorsehen. Sechs Wochen ohne oder mit deutlich vermindertem Einkommen führen in solchen Fällen schnell in eine prekäre Lage. Es wird sich zeigen, ob die Institutionen bzw. die Geldgeber zu unbürokratischen und großzügigen Lösungen bereit sind. Der Präsident des Deutschen Kulturrats, Olaf Zimmermann, hat bereits einen Notfonds gefordert – „sehr schnell und mit wenig Bürokratie“.




Gespenstische Premiere: Revierderby ohne Zuschauer

Massenhaft so dicht beieinander? Muss ja nicht sein. Höchstens in der Ikea-Stofftierabteilung, wo die Aufnahme entstanden ist. (Foto: BB)

Nachträgliche Anmerkung, nur der Form halber: Das Spiel ist inzwischen bekanntlich ganz abgesagt worden – ebenso wie der gesamte Bundesliga-Spieltag und wie vielleicht noch der Rest der Saison…

Seit C. (ihr wisst schon) ist kaum noch etwas, wie es vorher war, auch nicht auf sportlichem Sektor. Gerade ein „Revierderby“ zwischen Borussia Dortmund und Schalke 04 war bislang ohne Zuschauer, ohne mehr oder weniger fanatische Fans schier undenkbar. Am Samstag (15:30 Uhr) wird dieses gespenstische Ereignis Premiere haben.

(Erst) heute ist die Entscheidung gefallen. Sie ist natürlich hundertprozentig richtig. Die Gesundheit geht vor – und sei das Ansteckungsrisiko im Westfalenstadion* auch (vermeintlich) „überschaubar“. Wer will das schon mit Gewissheit sagen wollen?

Und was ist mit den Kneipentreffs?

Freilich haben Fans u. a. auf Twitter bereits darauf hingewiesen, dass sich das Publikum dann eben nicht unter freiem Himmel im Stadion, sondern zu gewissen Anteilen in Kneipen versammeln wird, also dicht gedrängt in geschlossenen Räumen, wo man sich womöglich noch leichter infizieren kann. Überdies dürften sich Umarmungsverbote im Falle eines Tores drinnen wie draußen schwerlich durchsetzen lassen. Auch den Mannschaften wird man etwaigen Torjubel nicht untersagen können.

Fest steht allerdings auch, dass sich Übertragungswege nach einem Kneipenbesuch immerhin etwas leichter rekonstruieren ließen, als nach einem Besuch im größten Stadion Deutschlands mit seinen über 81.000 Zuschauerplätzen und der größten Stehplatztribüne von ganz Europa, wo schon gar nicht auszumachen ist, wer genau wo gestanden hat.

Entlastung für Polizei und Verkehrswesen

Ob Parkplätze oder öffentlicher Nahverkehr – nichts wird so strapaziert werden, wie es bei früheren Derbys üblich war. Auch wird die Polizei vermutlich weitaus weniger zu tun haben als sonst, wenn BVB und S04 aufeinandertreffen. Obwohl: Man weiß ja nie, was sich Ultras und sonstige Anhänger beider Seiten so einfallen lassen. Nicht ausgeschlossen, dass sich manches Geschehen nur verlagert – vielleicht gar in den Umkreis des Stadions? Es wäre wahnwitzig.

Die Anordnung zum „Geisterspiel“ dürfte jedenfalls streng gehandhabt werden. Wie man hört, werden längst nicht alle interessierten, sondern nur ein paar handverlesene Sportjournalisten zugelassen. Eine Fernsehübertragung wird es höchstwahrscheinlich nur gegen Bezahlung geben, also beim Pay-TV-Kanal Sky. Es mag zwar sein, dass dies dem Sender ein paar Abonnenten zusätzlich beschert. Fraglich ist jedoch, ob Sky beim zu erwartenden Massenansturm auf die Server eine nahtlose und pannenfreie Übertragung gewährleisten kann. Bisherige Erfahrungen lassen daran zweifeln.

Der Meinungs-Schwenk des Oberbürgermeisters

Zweifeln kann man auch am Orientierungssinn des Dortmunder Oberbürgermeisters Ullrich Sierau (SPD). Noch vor wenigen Tagen, als in Essen bereits erste Veranstaltungen abgesagt wurden, hat er witzelnd angemerkt: „Wenn man in Essen keinen Spaß mehr haben kann, kann man nach Dortmund kommen.“ Heute klang er absolut anders, allerdings wieder nicht nach Maß und Ziel. Maßnahmen wie das Revierderby als „Geisterspiel“, so Sierau diesmal, seien eine Frage von „Leben und Tod“. Ja, er wurde noch drastischer: „Das hier ist kein Spaß (…) Es geht hier darum, dass ihr das nächste Spielüberhaupt noch erlebt.“

Selbstverständlich ist das Revierderby längst nicht das einzige Spiel, das dieser Tage ohne Publikum stattfindet oder gleich ganz abgesagt wird. Alle Spiele in Nordrhein-Westfalen sind von der Regelung betroffen, auch in den unteren Spielklassen. Andere Bundesländer werden wohl folgen, wenn die Verantwortlichen bei Trost sind. Übrigens hat die Deutsche Eishockeyliga ihre Saison komplett abgebrochen, ohne dass ein Meister ermittelt worden wäre.

Unbeweisbare Vor- und Nachteile

Der Vollständigkeit halber sei noch eine andere, vergleichsweise nichtige Frage angerissen, nämlich die, ob ein „Geisterspiel“ sich vor- oder nachteilig für bestimmte Mannschaften auswirkt. Gewiss: Beim Revierderby (und bei der Begegnung mit Bayern München am 4. April) tritt der BVB zwar in Dortmund, aber quasi nicht wie sonst als Heimmannschaft an, zumindest fehlt das eigene Publikum als Faktor. Dafür „profitiert“ man am morgigen Mittwoch beim Auswärtsspiel in der Champions League vielleicht davon, dass keine Fans von Paris St. Germain zugegen sein werden. Doch das ist im Grunde herzlich nebensächlich. Messen und beweisen kann man es eh nicht.

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* vulgo: Signal-Iduna-Park

Das allzeit lesenswerte Fußball-Magazin „Elf Freunde“ hat jetzt aus gegebenem Anlass die Geschichte der „Geisterspiele“ nachgezeichnet.




Was macht Corona mit der Kultur?

Sorglos hat man eigentlich noch nie auf den inzwischen so globalisierten Globus blicken können. Jetzt sind mal wieder ein paar neue Sorgen hinzugekommen. (Foto: BB)

Und hier bekommt Ihr wieder ein Bonus-Paket der Revierpassagen, nämlich: Heute gibt’s k e i n e n laienhaften Aufsatz über Corona. Jedenfalls nicht über virologische Fragen oder Quarantäne. Wie denn auch?

Obwohl man da unendlich viel erwägen und bekakeln könnte, aus nichtfachlicher Sicht wohl überwiegend Nutzloses. Aber das geschieht schon andernorts zur Genüge und weit über Gebühr. Man schaue sich nur die Kommentare an, wenn etwa „Zeit“ oder „Süddeutsche“ mit Live-Schaltungen zu allfälligen Pressekonferenzen des Bundesgesundheitsministers und des Robert-Koch-Instituts aufwarten. All die vielen selbsternannten Fachleute im Publikum, die Besserwisser, Hassverspritzer und Paniker aus den Untiefen des Netzes. Und das bei Angeboten dieser seriösen Medien… Das seriöseste aller hiesigen Medien, „Der Postillon“, hat diesen Trend natürlich auch erkannt: „Zahl der Corona-Experten in Deutschland sprunghaft angestiegen“. Wohl irgendwie wahr.

So. Und jetzt, da Ihr Euch vielleicht in Sicherheit wiegt, kommen hier halt doch noch ein paar CoV-19-Absätze. Wir sind schon mittendrin. Aber halb so schlimm. Wir hamstern keine Zeilen. Wir desinfizieren auch nicht eigens die Tastatur. Tippen mit sorgsam gewaschenen Händen (20 Sekunden plus!) ist freilich die leichteste Übung.

Konzerthusten mit neuer Virulenz

Vielleicht erwischt es ja nach dem Sport mit seinen zuschauerlosen „Geisterspielen“ (so auch das Revierderby BVB – Schalke am kommenden Samstag) sehr bald auch Teile des Kulturbetriebs. Veranstaltungen mit mehr als 1000 Teilnehmenden, deren Absage nicht nur von Gesundheitsminister Spahn dringlich angeraten wird und in Frankreich bereits verfügt worden ist, haben wir schließlich auch in Philharmonien, Konzerthäusern und Opernhäusern, erst recht bei manchen Rock-Auftritten etc. Da sitzt oder steht man beim kulturellen Geschehen ziemlich dicht an dicht. Der Konzerthusten ist ja eh ein sprichwörtliches, heftiges und häufiges Phänomen im Bereich der E-Musik. Auch er hat allerdings schon einen bedrohlichen Bedeutungswandel hinter sich. Mit Hustinetten als Gegenmittel ist es nicht mehr getan.

…oder gar daheim zum Buch greifen

Von Veranstaltungen wie dem Literaturfestival Lit.Cologne, der Pariser oder der Leipziger Buchmesse (alle abgesagt) – letztere mit sonst Abertausenden von lesewilligen Hallenflaneuren – mal ganz abgesehen. Und noch mehr zu schweigen von den italienischen Zuständen, wo im ganzen Land Museen, Kinos und Theater geschlossen bleiben. Schon warnen besorgte Publizisten vor nachhaltigen Schäden an der „italienischen Lebensart“.

Just, als ich das schreibe, erreicht mich die Nachricht von der Absage der Museumsnacht im LWL-Museum für Archäologie in Herne am 27. März. Dort wird übrigens – ausgerechnet – noch bis zum 10. Mai die derzeit besonders aufschlussreiche natur- und kulturhistorische Ausstellung über die Pest gezeigt. Apropos: Wie man liest, erlebt zur Zeit auch Albert Camus‘ moderner Klassiker „Die Pest“ einen Auflagenschub sondergleichen.

Schon wird uns auf Feuilleton-Seiten wärmstens anempfohlen, öfter mal daheim zu bleiben und zwecks Kulturgenuss diverse Streamingdienste für Kino und Musik anzuwerfen. Oder gar: zum Buch zu greifen! Man denke nur…

„Inflation öffentlicher Zusammenrottungen“

Es sind keine günstigen Zeiten für kulturgeneigte Adabeis. Wenn ich nicht irre, war es die Neue Zürcher Zeitung, die vor ein paar Tagen geradezu erbittert gegen das ewig amüsierwütige Ausgehen zu Felde zog, und zwar mit einer solchen Formulierung: „Die hedonistische Eventkultur mit ihrer Inflation öffentlicher Zusammenrottungen zu unwesentlichen Zwecken“, hieß es da, solle endlich wieder durch „Vergnügungen in bescheidenerem, privaten Rahmen“ ersetzt oder wenigstens ergänzt werden. Sie raten freilich nicht direkt zum Brettspieleabend, sondern erst einmal zu Netflix-Filmen und Gruppen-Chats. Man will die Leute da abholen, wo sie sind. Mit möglichen Folgen einer zunehmend digitalisierten Kultur hat sich unterdessen auch die Süddeutsche Zeitung befasst. Wir sehen betroffen: Da ist einiges im Schwange.

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P. S.: Hat eigentlich schon mal wieder jemand nachgeschaut, was in den einst so umkämpften Notstandsgesetzen steht, die vor über 50 Jahren schon manchen „Achtundsechziger“ auf die Barrikaden getrieben haben? Kann uns da jetzt was blühen?

Nachtrag: Erstaunlich, dass laut Homepage heute (10. März) im Dortmunder Konzerthaus die Veranstaltung „Sinatra & Friends“ (Trio aus England) stattfinden soll. Sind da wirklich weniger als 1000 Plätze besetzt? Man wird ja mal fragen dürfen. Laut Landesgesundheitsminister Laumann gilt die 1000er-Grenze ohne Wenn und Aber. Bei Überschreitung müsste seit heute abgesagt werden.

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Absagen und Sonstiges

Das Gelsenkirchener Musiktheater im Revier (MiR) stellt den gesamten Spielbetrieb „bis auf weiteres“ ein.

Das Frauenfilmfest Dortmund/Köln (Programmschwerpunkt diesmal in Köln) soll nach jetzigem Stand vom 24. bis 29. März stattfinden. Pro Filmvorstellung soll die Zahl der Zuschauerinnen auf 100 begrenzt werden. Es werden Anwesenheitslisten geführt und auch sonst diverse Sicherheitsmaßnahmen ergriffen.

 




Reizender Scherz im Stimmenglanz: Richard Strauss‘ „Rosenkavalier“ kehrt ins Aalto-Theater zurück

Erstaunlich frisch für eine 15 Jahre alte Inszenierung präsentiert sich Anselm Webers „Rosenkavalier“ in der Wiederaufnahme am Aalto-Theater.

Traum im Museum: Der „Rosenkavalier“ in der Inszenierung von Anselm Weber aus dem Jahr 2004 ist wieder am Aalto-Theater zu sehen. (Foto: Saad Hamza)

Wiederaufnahme-Spielleiterin Marijke Malitius hat mit dem Ensemble ganze Arbeit geleistet. Kulinarik wird nicht negiert, aber Webers Traumlogik bricht Sentimentales und Nostalgisches konsequent auf. So wird etwa der Mummenschanz des dritten Aktes über die „Kreuzer-Komödi“ hinausgeführt und nicht nur für den genarrten großsprecherischen Baron Ochs auf Lerchenau, sondern auch für die Zuschauer zum unheimlich-skurrilen Theater.

„Ist ein Traum, kann nicht wirklich sein“: Die Distanz zum Geschehen hebt auch die Illusion einer ungebrochenen Rokoko-Rückerinnerung des ersten Aktes auf, steigen die Figuren doch aus den Vitrinen eines Museums: Rückwärtsgewandte Imagination eines spießigen Aufsehers, der fotografierende japanische Touristinnen scheucht und sich – eine echte österreichische Thomas-Bernhard-Figur – in eine bessere Vergangenheit zurückschwärmt, die ihn am Ende ungnädig gefangen nimmt. Der Ochs auf Lerchenau, den er im Traum verkörpert, war eben doch nicht die richtige Rolle für die anbrechende Moderne.

Der Essener GMD Tomas Netopil. Foto: Hamza Saad

Der Essener GMD Tomáš Netopil. (Foto: Hamza Saad)

Bei der Premiere 2004 ein Soltesz-Paradestück, liegt das „Getöse um einen reizenden Scherz“ jetzt in den gestaltenden Händen von GMD Tomáš Netopil. Er bevorzugt einen schlank-gefassten Ton, führt das Orchester präzise und hält es durchhörbar, hätte aber ruhig ausgeklügelter zupacken dürfen: Nicht in den ausladenden Lautstärkegraden, die manchem Sänger volle Kraft voraus abverlangen. Eher in der Flexibilität der Tempi und Metren, deren Wiener Charme immer wieder hinter die bewundernswerte Präzision zurücktreten. Und auch im Feinschliff der Klänge: Die Holzbläser im ersten Akt wirken unspezifisch, fast beiläufig, und die berühmte Überreichung der „silbernen Rose“ wird zu einem prosaischen Ereignis fern ihres impressionistischen Zaubers.

Das Ensemble kann sich hören lassen: Michaela Kaune als Feldmarschallin ist zu den schlank-transparenten Klängen des Orchesters zunächst eine mädchenhafte junge Frau, gewinnt im dritten Akt Reife und stimmlich opulenten Glanz. Karin Strobos als Octavian, anfangs mit Kratzern in der Mezzo-Lasur, kann sich ebenso profilieren wie Elena Gorshunova: Die Schulmädchen-Anmutung mit Matrosenkleid und Stofftier lässt sie schnell hinter sich zugunsten einer stimmlich standfesten, selbstbewussten Sophie. Karl-Heinz Lehner als träumender Museumswärter gibt den Ochs mit genießerisch ausgespieltem Wienerisch und probater Klang-Substanz.

Szene aus dem zweiten Akt mit Heiko Trinsinger als Faninal (Mitte). (Foto: Saad Hamza)

Heiko Trinsinger als pomadig frisierter neureicher Faninal tritt stets gequält von seinen Ambitionen auf; seine Tochter ist im Bühnenbild von Thomas Dreißigacker ein Ausstellungsstück im Vitrinenschrank, der im noch unfertigen Palais mit rauchenden Industrieanlagen an den Ursprung des Reichtums erinnert. Carlos Cardoso als Sänger mit Schmelz, aber auch Michal Doron als Annina und – wie schon 2004 – Albrecht Kludszuweit als Wirt und Rainer Maria Röhr als quirliger Intrigant Valzacchi tragen wie die vielen anderen Rollen nebst einem soliden Chor zum glücklichen Eindruck des Abends bei.

Weitere Vorstellungen am 22. März und 26. April, jeweils 16.30 Uhr. Karten: (0201) 81 22 200, www.theater-essen.de

 




Bloß nichts Erzählendes zeigen – eine Werkschau von Jobst Tilmann im Kunstmuseum Ahlen

Der Künstler Jobst Tilmann erläutert in Ahlen eines seiner Bilder. (Foto: Bernd Berke)

So kann’s gehen, wenn ein Künstler seine Retrospektive weitgehend selbst kuratiert: Der heute im ostwestfälischen Wiedenbrück lebende Jobst Tilmann (70) hat binnen zwei Jahren aus einem Fundus von rund 4000 Arbeiten fast 200 für die Werkschau im Kunstmuseum Ahlen ausgewählt – und sich dabei rückblickend die strenge Kernfrage gestellt: „Habe ich mein Leben verplempert?“ Oder ist Haltbares entstanden? Tilmanns trockene Bilanz nach der intensiven Selbstbefragung: „Es ist gut ausgegangen.“

Ausgegangen? Nicht im Wortsinne eines Aufhörens. Tilmann hat nach eigenem Bekunden „noch einiges vor“. Und seine Werkschau heißt ja auch vielsagend „Anfang ohne Ende“. Tatsächlich sind im Laufe der rund 35 Schaffensjahre, die diese Retrospektive umfasst, immer wieder Neuanfänge und neue Orientierungen zu erkennen. Von „Nullpunkt“ und „Reset“ an bestimmten Punkten seiner Biographie spricht der Künstler selbst. Doch es scheint auch so, als sei er sich und seiner Vorgehensweise durch all die Jahre letztlich treu geblieben. Oder mit der Zeit treu geworden, wenn man so sagen darf.

Wo der Blick des Betrachters zunächst einer Irrfahrt (wie einst bei Odysseus) gleicht: Jobst Tilmanns Bild „Ulysse“ (2008), Acryl auf Leinwand. (© VG-Bild Kunst, Bonn 2020)

Grundsatzentscheidung nach Gusto: Wer durch den Haupteingang das Museum betritt, somit von unten kommt und dann aufwärts geht, bewegt sich von neuesten Arbeiten bis in die 1980er Jahre zurück. Wer es lieber chronologisch vorwärts möchte, muss eben oben im zweiten Stockwerk beginnen. Das musste jetzt erst mal gesagt sein.

„Ich bin kein Malschwein“

Eine frühe Tätigkeit als „Kunsterzieher“ (Tilmann spricht das Wort beinahe angewidert aus) hat er rasch beendet und sich alsbald als freier Künstler eingerichtet, anfangs im zeitlichen Kontext der malwütigen „Jungen Wilden“, denen er sich freilich nie anschließen mochte. „Ich bin kein Malschwein“, stellt er unmissverständlich klar, einen ironischen Begriff jener Jahre verwendend, der ungefähr so klingt wie „Rampensau“ im Theaterwesen. Tilmann ist hingegen einer, der denkend, wenn nicht gar mitunter grübelnd zu Werke geht und fleißig an künstlerischen Problemen arbeitet. Man müsse in solchen Dingen konsequent sein und dürfe sich „keine Tricks“ gestatten, sagt er. Und außerdem: „Ich bin eben Niedersachse. Und Protestant.“ Aha.

Nach einem Kunststudium in Hannover und ersten, gar nicht mal erfolglosen Künstlerjahren mit Atelier in Springe/Hannover, hat Tilmann zu Beginn der 1980er Jahre gleichsam alle Brücken zum bis dahin geführten Leben abgebrochen – familiär und beruflich. Es war eine grundlegende Neuorientierung. Er zog bzw. es zog ihn 1982 nach Südfrankreich, in einen abseits der Touristenströme gelegenen Winkel der Provence, nach St. Restitut. Anderes Klima, andere Farben, anderer Menschenschlag. Als Künstler wecke man dort – auch in der einfachen Bevölkerung – ein wesentlich größeres Interesse als in Deutschland, befindet Tilmann. Sehr schnell habe er sich in der südfranzösischen Kunstszene vernetzen können.

Anregung durch Steinformationen

Eine wichtige Anregung waren seinerzeit die unterirdischen Steinbrüche der Region. Die in den Stein eingezeichneten Linien und Schnitte haben ihn fortwährend beschäftigt, auch hat er sich bis heute eine Neigung zum lichten Grau als einer Hauptfarbe bewahrt. Beides deutet nicht auf farblichen oder formalen Exzess, sondern eher auf Minimalismus hin. Tatsächlich fällt dieser Begriff gelegentlich, wenn von Tilmanns Werk die Rede ist. Doch natürlich verhält es sich vielfältiger, uneindeutiger und komplizierter. Jobst Tilmann selbst kann (anders als so manche seiner Berufskollegen) ausführlich, wort- und gestenreich über Beweggründe und Triebkräfte seiner Kunst sprechen.

Jobst Tilmann: „Marseille“ (1995), Tusche, Kreide und Tape auf Papier. (VG-Bild Kunst, Bonn 2020)

Sein Weg führte jedenfalls früh weg vom abbildhaften Realismus, hin zur entschiedenen Gegenstandsferne. Dem Begriff „Chaos“ kann Tilmann wenig abgewinnen, das sei nur ein hilfloses Wort für den Fall, dass wir etwas nicht begreifen und durchdringen. Tatsächlich walte im Chaos eine höhere Ordnung. Spontane Einfälle und Assoziationen (Sieht z. B. dies oder jenes Bild nicht aus wie eine Landkarte?) lässt er gelten, doch diese Sichtweise solle man möglichst schnell hinter sich lassen. Die Bilder sprächen durchaus für sich – ohne zusätzliche Sinnstiftung. Auch gebe es dafür keine Vor-Bilder in der Natur. Allerdings verlangten seine Arbeiten eine gewisse Einlässlichkeit und Zuwendung seitens der Betrachtenden. Welche Künstler würden sich das nicht wünschen?

Einhegung und Freisetzung

Auch „Themen“ sind bei Tilmann nicht gefragt, viele Bilder tragen keine Titel – und falls doch, dann manchmal eher belustigt klingende, nicht ganz ernst zu nehmende („Besserwisser“). Generell gilt: bloß nichts Erzählendes, bloß kein „Narrativ“. Stattdessen: stringente und strikte Arbeit an künstlerischen Problemen, ein nicht nachlassendes Bemühen, das oft genug ins Grundsätzliche mündet: Was ist überhaupt ein Bild? Wie kann man es aufbauen? Hat da jemand L’art pour l’art gesagt, also Kunst um der Kunst willen? Ganz falsch wäre es nicht.

Ein Strang, der sich durchs gesamte Werk in all seiner Vielfalt zu ziehen scheint, ist der beständige Wechsel zwischen Einhegung und Freisetzung von Formen. Der Spannungsbogen reicht von nahezu „mathematisch“ anmutenden Arbeiten bis hin zur tänzerischen Leichtigkeit. Nimmt das Eine überhand, wird das Andere bekräftigt. Und bald wieder umgekehrt. Oder es treten neue Elemente hinzu, wie in einer Phase die sogenannten „Störenfriede“. Das sind beispielsweise rundliche, klopsartige Formen, die den vorherigen Liniengerüsten etwas Spontanes und Eigenwilliges entgegensetzen. Und überhaupt: Sobald eine Reihe von Bildern gar zu „seriell“ zu geraten droht, sobald dem Künstler die Formalien allzu „beherrschbar“ und regelhaft erscheinen, braucht es wieder einen Entschluss und eine verändernde Tat.

Bei all dem kommt die Bewegung des Künstlers vor Leinwand und Papier, also das Gestische, wohl immerzu ins Spiel. Man muss nur sehen, wie Tilmann sich erklärend vor seinen fertigen Bildern bewegt, dann kann man sich den eigentlichen Malvorgang ein wenig vorstellen. Es ist, als würde er sich erläuternd noch einmal ans Werk begeben.

Um die Ecke gemalt: Ausstellungsansicht von Jobst Tilmanns Bild mit dem Titel „Besserwisser“, der freilich gar nichts über Machart und Texturen des Bildes besagt. (Foto: Bernd Berke)

Was sich aus dem „Sumpf“ erhebt

Ein neueres Verfahren besteht darin, anfangs eine Art urtümlichen farblichen „Sumpf“ (Tilmann) herzustellen, zuweilen auch mit Wischfeudel aufgetragen oder aus Eimern hingegossen. Daraus erwüchsen wie von selbst durchaus schöne Bilder. Aber: „Schöne Bilder interessieren mich nicht.“ Also ist es erst der Beginn. Hernach wird vorzugsweise jenes lichte Grau begrenzend eingesetzt, um aus den vorherigen Farbverläufen einzelne Formen (der Künstler nennt sie „Protagonisten“) individuell hervorzuholen. Es sei recht eigentlich keine Konstruktion, sondern es ergebe sich, wenn man die Formen in ihrem Eigenwert aufspürt und ihnen nachgeht.

Damit nicht genug: Im weiteren Prozess entsteigen just einige dieser Formen den Bildern und werden zu Skulpturen. Auch so eine Befreiung, eine Freilassung aus dem Bildgeviert. Ganz anders, gleichsam selbst-bewusster hängen diese Figurationen nun im Raum. Mit des Künstlers Worten eher philosophisch ausgedrückt: Es seien „neue Entitäten“ entstanden, es sind also – mag man paraphrasieren – neue Wesenheiten in die Welt geraten. Willkommen im Museum.

Tilmanns französische Zeit ist übrigens seit 2002 passé. Anno 2000 erhielt er einen Ruf an die HAWK (Hochschule für Angewandte Wissenschaft und Kunst) in Hildesheim. Da merkte er im Hinblick auf seine etwas älteren Tage, dass er denn doch im Hannoverschen besondere Heimatgefühle verspüre. Aus Ostwestfalen hat er’s ja nicht so weit dorthin.

Jobst Tilmann: „Anfang ohne Ende“. Kunstmuseum Ahlen, Kreuzung Museumsplatz 1 / Weststraße 98. Vom 8. März bis zum 24. Mai. Mi/Do/Fr 14-18 Uhr, Sa/So/Feiertage 11-18 Uhr, Mo/Di geschlossen. Begleitbuch 30 Euro.

 

 




Lyriker zwischen Revolution und Mystik – eine Erinnerung an Ernesto Cardenal

Ernesto Cardenal bei einer Lesung am 10. Oktober 2012 in der Frankfurter Katharinenkirche. (Foto: Wikimedia Commons / Dontworry) – Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/

Proppenvoll, bis auf den letzten Platz ausverkauft war das Ebertbad Oberhausen am 14. Oktober 2008, als Ernesto Cardenal auf Einladung des PoesiePalastes Ruhr bei seinem Canto a la vida-Abend aus seinen Gedichten las. Fast ehrfürchtig wirkten viele, die gekommen waren, um Ernesto Cardenal, dem Schauspieler Klaus Götte (Cardenals deutscher Stimme) und der Grupo Sal zuzuhören: in Ehren ergraute Altlinke, progressive Christen und deutlich mehr Lyrikliebhaberinnen als -liebhaber.

Für die meisten von ihnen war Ernesto Cardenal höchst vitales Vorbild, lebende Legende und Mythos zugleich. Selbst ihn nur kurz auf der Bühne vorzustellen, hieß für mich, zumindest eine Auswahl seiner Berufe und Berufungen aufzurufen. Der damals 83-Jährige vereinte in seiner Person viele Facetten menschlicher Neugier und intellektuellen Widerstands.

Cardenal war Priester und Gründer der christlichen Kommune Solentiname, war Befreiungstheologe und angeblich – so kursierte es im Internet – der Mann, der im Dom zu Managua die Stimme erhob und dem Papst zurief: „Viva la Revolución“. Dies allerdings bestritt Cardenal beim Abendessen nach seinem Oberhausener Auftritt heftig. Tatsächlich war es Papst Johannes Paul II., der im März 1983 in Managua öffentlich den vor ihm knienden Cardenal brüskierte und den Segen verweigerte. Johannes Paul II. forderte ihn auf, „seine Situation zu regeln“, womit der polnische Papst nicht weniger meinte, als dass Cardenal sein unbequemes politisches und befreiungstheologisches Engagement aufgeben solle. Keine zwei Jahre später suspendierte der Vatikan Cardenal von seinem Priesteramt. Erst 2019 hob Papst Franziskus diese Suspendierung wieder auf.

Streitbarer „Heiliger“

Ernesto Cardenal war als Sandinist Befürworter einer Revolution ohne Rache und später Kulturminister Nicaraguas, vor allem aber war er ein großer Poet und als solcher einer der wichtigen Autoren Lateinamerikas. Dass er in Deutschland quasi als Heiliger herumgereicht wurde, amüsierte ihn trotz aller sichtbaren Eitelkeit auch ein wenig. Im WDR sagte er dazu: „Etwas von mir scheint noch in Mode zu sein.“
In Oberhausen aber las er damals nichts Autobiografisches, keinerlei Prosa, sondern allein Gedichte – von den „Psalmen“ angefangen über die „Cántico cósmico“ bis hin zu Poemen aus seinem 2005 in deutscher Sprache erschienen Gedichtband „Transitreisender“. Darunter viele Verse der Art, die Ernesto Cardenal selbst einmal „wissenschaftliche Poesie“ oder „Poesie der Wissenschaft“ nannte.

Diesseitige Göttinnendämmerung

Cardenals pragmatischen Gott gab es übrigens immer nur im Doppelpack und durfte auch als Göttin vorgestellt werden. Liebe war für Cardenal nicht zu trennen von Sinnlichkeit, auch deshalb hat er nie ein jenseitiges Paradies beschworen. Die Theologin Dorothee Sölle schrieb einst an ihren Freund: „Du hast sie beieinander gelassen: Religion, Politik und Liebe, Deine Liebeslieder sind politisch, Deine Psalmen erotisch. Deine Bejahung, deine Feier des Lebens ist umfassend.“ Man hat Cardenal einen Lyriker zwischen Revolution und Mystik genannt und damit wohl die treffendste Kurzformel für diese schillernde Persönlichkeit geprägt.

„Der Künstler ist immer vollkommen in die Gesellschaft integriert – aber nicht in die seiner Zeit, sondern in jene der Zukunft.“ (Ernesto Cardenal)

Um diesem Mann des Wortes, diesem Homme de Lettres den Mund zu verbieten, versuchte das nicaraguanische Regime auch, die Integrität des Menschen Cardenal zu diskreditieren. Nach der offensichtlich manipulierten und unzulässigen Wiederaufnahme eines Verfahrens, das Cardenal zu großen Teilen bereits Jahre zuvor gewonnen hatte, drohte man ihm 2008 mit einem Bußgeld und bei Nichtzahlung mit einem längeren Hausarrest. Ein politisches Verfahren also, Cardenal hatte seinem früheren Weggefährten Daniel Ortega einen korrupten und undurchsichtigen Regierungsstil vorgeworfen, den Verrat der Revolution. Nicaragua werde inzwischen vom einem autokratischen Familienclan regiert. Wegen der Schikanen der Regierung Ortega gegen Cardenal hatten Ende September 2008 das PEN-Zentrum Deutschland und viele Autoren aus aller Welt protestiert.

Nach seiner Deutschland-/Europa-Tournee vermied Ernesto Cardenal zunächst die Rückkehr nach Nicaragua, auch weil das Gerücht umging, man werde ihn sowieso nicht wieder einreisen lassen. Von Cardenal war dazu nur zu hören: „Wir gehen den Weg der Befreiung weiter.“ Er selbst tat dies auch über seine schriftstellerische Arbeit, sein Engagement für das Kultur- und Entwicklungsprojekt Casa de los Tres Mundos und bei vielen Lesereisen. Einen Überblick über sein poetisches Schaffen findet man am besten in den 2012 erschienenen Lyrikbänden „Aus Sternen geboren. Das poetische Werk“.

Am 1. März 2020 starb Ernesto Cardenal 95-jährig an den Folgen einer Niereninsuffizienz in Managua.




Schau über den legendären Nachtclub „Studio 54″ – direkt aus New York nach Dortmund

Pat Cleveland auf der Tanzfläche des „Studio 54″ während des „Halston disco bash“, Dezember 1977 (Foto: © Guy Marineau / WWD / Shutterstock)

Würde eine solch mondäne Ausstellung nicht besser nach München oder Berlin passen? Egal. Sie kommt nun mal nach Dortmund, wo man eben zuerst beherzt zugegriffen hat.

Ab 14. August und bis zum 8. November 2020 soll demnach im Dortmunder U eine Ausstellung über den legendären New Yorker Nachtclub „Studio 54″ gezeigt werden, die direkt aus New York kommt. Im dortigen Brooklyn Museum hat sie in wenigen Tagen (13. März) Weltpremiere.

Der Coup erinnert ein wenig ans Zustandekommen der Dortmunder Schau über Pink Floyd, die zwar vom Publikumszuspruch her letztlich enttäuschte, aber Dortmund doch international in die eine oder andere Kultur-Schlagzeile bugsierte. Damals kamen die Exponate aus London (und via Rom), diesmal ist es eben New York. Dortmund hat sich die europäische Premiere gesichert. Immerhin.

Keine Agentur hat das Ereignis vermittelt, sondern die Dortmunder haben direkt mit dem Brooklyn Museum verhandelt. Kurator ist Matthew Yokobosky, in Brooklyn Abteilungsleiter für „Fashion and Material Culture“. Präsentiert und gesponsert wird die Chose übrigens vom Streamingdienst Spotify. Zum Fundus der Ausstellung gehören u. a. Fotografien, Mode-Objekte, Zeichnungen, Filme und Kostüm-Illustrationen.

„Studio 54: Night Magic“ (Arbeitstitel) blättert die nicht nur modisch, sondern auch gesellschaftlich folgenreiche Geschichte jenes (1977 eröffneten und 1986 endgültig geschlossenen) Clubs auf, in dem sich Pop- und Film-Prominenz zuhauf einstellte: beispielsweise Andy Warhol, Diana Ross, Liza Minnelli, Mick Jagger, Michael Jackson, Madonna, Salvador Dalí – und wie sie alle hießen. Zur Eröffnung am 26. April 1977 waren u. a. Frank Sinatra, Margaux Hemingway, Cher, Bianca Jagger und ein gewisser Donald Trump erschienen, damals noch ein ziemlich unbekannter Bauunternehmer. Ach, wäre es mal dabei geblieben…

Um es mal in klischeehaften Stichworten (nicht) zu fassen: Sex, Drogen, Punk und allseitige Toleranz kennzeichneten fortan das Klima des Clubs, dessen Ästhetik auch neue soziale Bewegungen beeinflusst hat. Manches wirkt womöglich bis heute weiter.

Ein Vorbehalt gilt noch: Der Dortmunder Stadtrat müsste dem Unterfangen in seiner Sitzung am 26. März zustimmen. Aber das wird er doch wohl tun.

 




Mammutprojekt zum Abschluss der Ära von Steven Sloane: Richard Wagners „Ring“ konzertant in Bochum

Nachdem Richard Wagners Tetralogie an der Deutschen Oper am Rhein in der Regie von Dietrich Hilsdorf seine ersten kompletten Zyklen überstanden hat und sich in Dortmund Peter Konwitschny erneut an den „Ring“ machen wird, will auch Bochum nicht hintanstehen.

Sie stellten das Bochumer „Ring“-Projekt bei einer Pressekonferenz vor: Steven Sloane und Norman Faber. Foto: Werner Häußner

In der letzten Spielzeit, in der GMD Steven Sloane die Bochumer Symphoniker leitet, will er die 27-jährige Zusammenarbeit u.a. mit einem konzertanten Nibelungen-Ring krönen. Vorgesehen sind die vier Vorstellungen zwischen 25. September 2020 („Das Rheingold“) und 22. Mai 2021 („Götterdämmerung“). Für eine „Visualisierung“ im Anneliese Brost Musikforum Ruhr in Bochum wurde der Opernregisseur Keith Warner gewonnen. Unterstützt wird das Projekt von der Familie Norman Faber und die Faber Lotto-Service GmbH. Bei der Pressekonferenz zur Vorstellung des Projekts war von einer „bedeutsamen sechsstelligen Summe“ die Rede.

Es soll „ganz, ganz anders klingen als sonst“

Steven Sloane nennt die geplante Umsetzung des „Rings“ mit seinem Orchester in Bochum „die Erfüllung eines Traums“. Er sieht in der Konzentration auf die musikalische Umsetzung der Tetralogie eine große Chance, viele Facetten herauszuarbeiten. Wagner wird nach Sloanes Worten in dem erst 2016 eingeweihten Bochumer Konzertsaal mit einer inzwischen oft gerühmten Akustik „ganz, ganz anders klingen als sonst“. Die Zuhörer hätten die Chance, Wagner als zentrale Figur des Musiktheaters nicht in der Distanz zwischen Bühne und Zuschauerraum, sondern „mittendrin“ in Kontakt mit dem Orchester auf dem Podium zu erleben. Auch Mäzen Norman Faber erhofft sich das Erlebnis eines „einzigartigen Klangs“.

Ergänzt wird der „Ring des Nibelungen“ durch einen „Kleinen Bochumer Ring“ für Menschen ab 10 Jahren. Dabei kooperieren die Bochumer Symphoniker mit Bochumer Schulen und Akteuren aus der freien Kulturszene. Von jeder „Ring“-Oper gibt es vier jeweils einstündige Vorstellungen, beginnend am 31. Oktober mit „Das gestohlene Rheingold“ und endend am 9. Mai 2021 mit „Die mächtige Götterdämmerung“.

Die Besetzung des Bochumer „Rings“ wird erst später bekanntgegeben; genannt wurden jedoch bereits Eva-Maria Westbroek (Sieglinde), Emily Magee (Brünnhilde), Claudia Mahnke (Fricka), Michael Weinius (Siegfried) und Simon Neal (Wotan).

Für den „Ring“ sind Abonnements erhältlich, die ab 3. Juni im Vorverkauf sind. Einzelkarten gibt es ab dem 17. Juni. Info: www.bochumer-symphoniker.de, Tel.: (0234) 910 86 66.