Bis in die letzten Winkel der Stadt: „Dortmund entdecken!“

Was Tipps rund um Dortmund angeht, verfügt Katrin Pinetzki offenkundig über einen riesigen Datenbestand und daraus folgende Detail-Kenntnisse. Sie ist also prädestiniert, Stadtführer zu verfassen.

Erst vor rund zwei Jahren (Februar 2020) hat sie bei Klartext „Dortmund für Klugscheißer“ publiziert und (als gebürtige Gelsenkirchenerin, die es jedoch langwierig nach Dortmund verschlagen hat) selbst alteingesessene Dortmunder mit erstaunlichen Fakten überrascht. So heißt ja auch die – demnächst auslaufende – städtische Image-Kampagne: „Dortmund überrascht. Dich.“ Stimmt. Immer mal wieder. Mal so, mal so. Smiley.

Jetzt, da sich „nach Corona“ (na, warten wir’s mal ab) einstweilen wieder so ziemlich alles unternehmen lässt, bringt der Wartberg Verlag Katrin Pinetzkis Paperback-Band „Dortmund entdecken!“ heraus. Ich habe stichprobenartig darin geblättert. Den Untertitel mochte ich allerdings nicht durch Nachzählen überprüfen, er lautet „1000 Freizeittipps“.

Mit diesem Buch dringt die Autorin jedenfalls bis in die letzten Winkel der kommunalen Bezirke und Stadtteile vor. Selbst zum Dortmunder „Outback“ (Vororte Kruckel, Persebeck, Schnee) gibt es immerhin noch einen Eintrag, nämlich einen Sportverein. Die Konzentration auch auf entlegene Stadtteile bringt es mit sich, dass wahrhaftig etliche wenig bekannte Stätten auftauchen. BVB-Stadion, Reinoldikirche und Westfalenhalle kennen ja alle, aber wer weiß schon genauer in Ortsteilen wie Lanstrop oder Mengede Bescheid?

Generell bleibt so gut wie kein Bereich des Lebens zwischen „Natur, Kultur, Sport und Spaß“ außen vor. Ist man aus eigener Anschauung kundig, lassen sich trotzdem geringfügige Leerstellen finden. Zum Exempel fehlt ein ziemlich großer Reit- und Fahrverein in Asseln, Stichwort Eschenwaldstraße. Aber das ist im Gesamtzusammenhang wirklich nur eine Petitesse. Ansonsten könnte das Buch über weite Strecken „Dortmund komplett“ heißen. Tatsächlich steht kurz und knapp so ziemlich alles drin, was man von einem solchen Freizeitführer erwarten darf – und manchmal noch etwas mehr. Dass es in Dortmund die größte Gemeinde von Exil-Tamilen in Deutschland gibt (im Unionviertel), weiß bestimmt nicht jede(r).

Die Textlängen bemessen sich übrigens nicht nach Bedeutsamkeit der jeweiligen Einrichtung, sondern haben sich wohl aus Gutdünken oder auch Layout-Gesichtspunkten so ergeben. Beispiel: Das kleine Tanztheater Cordula Nolte bekommt etwa ebenso viele Zeilen wie das mindestens bundesweit bekannte Museum Ostwall im Dortmunder U.

Wie das solche Freizeit-Bücher meistens an sich haben, werden etwaige Negativpunkte ausgespart oder in Euphemismen verpackt, schließlich ist die Autorin hauptberuflich als Pressesprecherin der Stadt tätig. So bezeichnet sie etwa eine Großsiedlung, in der es durchaus soziale Probleme gibt, als Ausflugsziel für Leute, die an Städtebau interessiert sind. Und der Kaiserbrunnen wird empfohlen als „Treffpunkt, an dem man sich auch länger aufhält“. Das gilt allerdings zu manchen Stunden vorwiegend fürs stark alkoholgeneigte Publikum. Allerdings hängen dort nicht solche Menschenmengen ab wie an der Möllerbrücke, wofür sich gar das Wort „möllern“ eingebürgert hat.

Insgesamt ist der zwangsläufig kleinteilig, jedoch recht hübsch bebilderte Band durchaus geeignet, selbst Dortmund-Kennerinnen und Kenner auf bisher unbekannte Pfade zu geleiten. Wie lange die „1000 Freizeittipps“ aktuell bleiben, wird man sehen. Im Zweifelsfall gibt’s halt eine weitere Auflage. Oder man hangelt sich zusätzlich durchs Netz.

Katrin Pinetzki: „Dortmund entdecken!“ Wartberg Verlag, 176 Seiten, mit zahlreichen Farbfotos, Stadtteilregister und Stichwort-Verzeichnis. 16,90 Euro.

 

 




Am atomaren Abgrund: Buch über die Kubakrise 1962

Es waren wahrlich dramatische Tage – damals, im Oktober 1962. Wir („My Generation“) waren damals Grundschulkinder und haben kaum etwas von der Kubakrise mitbekommen. Die Medienwelt war noch längst nicht so unabweislich allgegenwärtig.

Man erschrickt noch 60 Jahre im Nachhinein zutiefst, wenn man sich das alles heute vergegenwärtigt; erst recht in Zeiten des europäischen Krieges in der Ukraine. Es ist, als wären wir wieder näher an „1962″ herangerückt.

Schon damals stand die Welt am atomaren Abgrund. Für die Vereinigten Staaten galt als Leitlinie noch nicht die später abgestufte „flexible response“, sondern das Prinzip der „massive retaliation“, also gleich der Griff ins ganze apokalyptische Arsenal.

Bloße Chronistenpflicht?

Rainer Pommerin (Jahrgang 1943), pensionierter Oberst und Geschichtsprofessor, schlägt nicht den großen Bogen einer etwaigen „Neudeutung“ der Kubakrise, sondern erzählt das Geschehen getreulich Punkt für Punkt und Tag für Tag nach, übrigens auch mit jenem Fokus auf Waffentechnik und Militärstrategie, wie er neuerdings wieder in den Vordergrund getreten ist. Der Autor berichtet, als sei’s seine reine Chronistenpflicht, so dass man sich gelegentlich fragt, welchen Standpunkt er eigentlich einnimmt. Pure Objektivität gibt es ja nun mal nicht, sie kann allenfalls ein Wunsch- und Näherungswert sein.

Die Kubakrise wird eingebettet in die Vorgeschichte – von der nahöstlichen Suezkrise sowie den Aufständen in Ungarn und Polen (alles 1956) über den „Sputnik-Schock“ am 4. Oktober 1957 (als die Sowjetunion einen weltraumtechnischen Vorsprung vor den USA erlangte) bis hin zum Berliner Mauerbau am 13. August 1961. Eine hochexplosive Gemengelage zwischen den Machtblöcken hatte sich aufgebaut und angestaut.

Als der Kalte Krieg alles prägte

Mit Fidel Castros kubanischer Revolution hatten die USA den von ihnen überaus gefürchteten Kommunismus seit 1959 sozusagen vor der Haustür. Hardliner argwöhnten, dass die Sowjets es via Kuba auf den gesamten amerikanischen Kontinent abgesehen hatten. Groß war das Entsetzen in Washington, als ein U-2-Aufklärungsflug am 14. Oktober 1962 ergab, dass die Russen insgeheim Abschussbasen und sonstige atomare Logistik auf Kuba installiert hatten – erstmals in Raketen-Reichweite zu US-Millionenstädten.

Bilder von damaligen Treffen der US-Präsidenten Dwight D. Eisenhower bzw. John F. Kennedy mit dem KPdSU-Chef Nikita Chruschtschow haben nahezu mythischen Status. Derlei persönliche Konfrontationen sind denn doch (in grotesk verzerrter Form) bis in manche Kinderzimmer vorgedrungen. Ich erinnere mich, wie wir Chruschtschows legendäre UNO-Wutrede (die mit seinem angeblich aufs Pult geschlagenen Schuh) mit Stoffbären nachgespielt haben. Kein Zufall, dass damals auch die James Bond-Filme aufkamen. Der Kalte Krieg prägten damals alles. Und jetzt? Das Vergangene ist offenbar nicht völlig vorbei. Es steht freilich unter anderen Vorzeichen.

Die „Falken“ hatten anderes im Sinn

Doch Überlegungen übergreifender Art stellt Reiner Pommerin überhaupt nicht an. Sein Buch liest sich so, als hätte es ebenso gut irgendwann in den letzten 20 oder 30 Jahren geschrieben worden sein können und als sollte es zum 60jährigen Gedenken nur noch einmal den Gang der Dinge rekapitulieren. Dennoch kann man daraus ein paar Erkenntnisse gewinnen – zum Beispiel die, dass beide Weltmächte (China war noch Nebendarsteller auf der globalen Bühne) sich gleichermaßen in die Krise verstrickt haben. Schließlich hatten die USA, bevor die Sowjetunion Atomwaffen nach Kuba brachte, bereits eine ähnliche Präsenz mit Jupiter-Raketen in der Türkei, die 1963 aufgrund einer Geheimvereinbarung zurückgezogen wurden.

Vielleicht hat es beim schließlich doch noch einigermaßen rationalen Umgang mit der Krise 1962 eine Rolle gespielt, dass Chruschtschow und Kennedy aus eigenem Erleben wussten, was Krieg bedeutete und sie sich offenbar vorstellen konnten, wie verheerend sich eine „nukleare Option“ auswirken würde – allen Drohgebärden zum Trotz. Sie reizten das Risiko bis zum Letzten aus, doch fanden sie gerade noch rechtzeitig einen Ausweg. Die „Falken“ beider Seiten hatten ganz anderes im Sinn. Vielleicht ließe sich heute etwas daraus lernen.

Ein verseuchter Neoprenanzug

Das Buch enthält einige geradezu bizarre Fakten, so etwa die US-Pläne, Fidel Castro und „Che“ Guevara aus dem Weg zu räumen. So sollte ein Unterhändler Castro als Geschenk einen Neoprenanzug (mit gefährlichem Hautpilz präpariert) und einen Schnorchel (mit Tuberkel-Bazillen) überreichen. Der Sendbote verweigerte jedoch die Mitnahme der „Gaben“, aus nachvollziehbaren Erwägungen.

Beinahe hätte es sich fatal und final ausgewirkt, dass im Verlauf der Kubakrise einmal  unterschiedliche Zeitzonen nicht berücksichtigt wurden. Zudem verzögerte sich der Austausch diplomatischer Noten durch umständliche Ver- und Entschlüsselung. Dabei war auf dem Höhepunkt der Krise doch allergrößte Eile geboten.

Kennedy durfte erst einmal ausschlafen

Kaum zu fassen auch, dass John F. Kennedy für die Mitteilung zum Berliner Mauerbau nur kurz einen Segeltörn unterbrach und dann sogleich wieder losschipperte. Von wegen „Ich bin ein Berliner“… Auch wurde ihm die Entdeckung der russischen Atombasen auf Kuba am 14. Oktober 1962 nicht sofort mitgeteilt. Die Krisengremien ließen ihn vielmehr erst einmal ausschlafen. Ergänzend hierzu erfährt man auch noch einmal, dass Kennedy keineswegs so viril war, wie er sich im siegreichen Wahlkampf gegen Nixon gegeben hatte. Der Mann war chronisch krank und benötigte ständig Schmerzmittel.

Nach dem Ende der Kubakrise wurden 1963 immerhin drei bedeutsame Schritte im Sinne einer besseren Beherrschbarkeit solcher Großkonflikte unternommen: Ab 6. Juli wurden endlich Geheimcodes für den Abschuss von Atomwaffen eingerichtet, die bis dahin bloß durch mechanische Schlösser „gesichert“ waren. Am 20. August wurde eine Fernschreiber-Verbindung zwischen Weißem Haus und Kreml als „heißer Draht“ installiert. Am 10. Oktober 1963 wurde ein Abkommen über das Verbot von Kernwaffenversuchen geschlossen.

Nachspann: Am 22. November 1963 wurde John F. Kennedy in Dallas erschossen. Am 14. Oktober 1964 wurde Nikita Chruschtschow entmachtet. Die Geschichte ging mit anderen Protagonisten weiter – und wurde auf Dauer nicht friedlicher.

Reiner Pommerin: „Die Kubakrise 1962″. Reclam, 160 Seiten. Paperback mit zahlreichen Schwarzweiß-Abbildungen. 14,95 Euro.

 




Erbarmen! „Die Expeditiven“ kommen – ins Ruhrgebiet

Expeditiv (?) oder wenigstens speditiv unterwegs im Ruhrgebiet – hier auf der B1, genauer: auf der Dortmunder Schnettkerbrücke. (Foto: Bernd Berke)

Kein sonderlich origineller, sondern ein altgedienter Befund: Noch immer hinkt das Revier vielen anderen deutschen Regionen in mancherlei Hinsicht hinterher. Die Scharte lässt sich aber fix auswetzen, indem man die Backen ganz voll nimmt und diesen pseudokreativen, neudeutsch verblasenen Imponiersound hören lässt.

Beispiele folgen sogleich, sie stammen von der Ruhr Tourismus GmbH (RTG), die just eine n e u e Tourismusstrategie für das Ruhrgebiet „ausgerollt“ hat, wie man in diesen hippen Kreisen vermutlich sagt. Laut Informationsdienst (idr) des Regionalverbands Ruhr (RVR) sollen nunmehr Tourist*innen aus einer n e u e n Zielgruppe angelockt werden, die so bezeichnet wird:

„Unkonventionell, digital, kosmopolitisch, neugierig – im Fachjargon ,expeditiv‘.“

Wisster schomma Bescheid, woll?! Oder au nich.

Digitaler „Reisekumpel“

Die Überschrift zur selbstverständlich millionenschwer geförderten n e u e n Imagekampagne (wie viele hatten wir davon schon im Ruhrgebiet, was haben sie gefruchtet?) lautet:

„Metropole Ruhr: Digitale Modelldestination NRW“

Wow! Es kommt aber noch geiler. Denn das Projekt mit n e u e m Corporate Design und dito n e u e r Homepage sowie Fotoshootings mit n e u e r Bildsprache verfügt über einen „regionalen Datenhub und eine Content-Datenbank“. Angestrebt wird mal wieder eine „systematische Vernetzung“ und das „Zusammenspiel der Akteure“. Merke: Vernetzung und Akteure sind in diesem F(l)achjargon stets ein Muss. Hierzu setzt die RTG – wie sich das gehört – „voll auf digitale Inhalte“. Da wir aber im Revier sind, heißen die digitalen Reiseführer wie? Nun? Ja, sicher: „Reisekumpel“. Leck mich fett!

Noch einmal zum Mitschreiben: Hauptsächlich angesprochen wird die „n e u e Hauptzielgruppe der Expeditiven“, doch man hat noch zwei weitere, etwas weniger wichtige Gruppen (wörtlich: „untergeordnete Produktzielgruppen“) „ermittelt“: die Adaptiv-Pragmatischen und die Post-Materiellen. Is‘ klar, ne?

Achtet also mal drauf, welche Gäste künftig so herrlich unkonventionell, neugierig, kosmopolitisch und digital durch unser Revier streunen werden. Es werden wahrscheinlich ausgesprochen expeditive Leute sein, andernfalls eben adaptive – oder post-materielle, die es übrigens mit Kultur haben sollen. Boaaah, glaubsse!

 




Höhepunkt zur Halbzeit – Angela Winkler und Joachim Meyerhoff begeistern das Publikum der Ruhrfestspiele

Angela Winkler und Joachim Meyerhoff in „Eurotrash“ (Foto: Fabian Schellhorn/Ruhrfstspiele)

Ja, was soll man sagen? Das Publikum im restlos ausverkauften Großen Haus war begeistert vom Stück, spendete stehend anhaltenden Applaus, und die anschließenden Publikumsgespräche im Foyer, so man ihrer in Fetzen teilhaftig werden konnte, waren gespickt mit Superlativen: großartig, grandios, einzigartig, einmalig.

Gemeint war damit in erster Linie sicherlich die Schauspielkunst dieses auf den ersten Blick so bizarren Paares, Sohn und Mutter, Joachim Meyerhoff als Ich-Erzähler Christian Kracht und Angela Winkler als seine alte, desolate Mutter, beide miteinander in Haßliebe verbunden.

Doch steht zu vermuten, daß auch dieser scheinbar so private Stoff die Sympathien des Publikums fand. Mit „Eurotrash“, einem Zweipersonenstück nach dem Roman von Christian Kracht in der Regie von Jan Bosse, haben die diesjährigen Ruhrfestspiele definitiv ihren Höhepunkt erreicht; ziemlich paßgenau zur Halbzeit übrigens, man muß dem Intendanten gutes Timing bescheinigen.

Frauenrollen

Grandios war, wie berichtet, der Auftakt mit „Sibyl“ von dem südamerikanischen Vielfachtalent William Kentridge. Bemerkenswert war auch „Bros“ von Romeo Castellucci, was zeitgleich im Kleinen Haus gegeben wurde. Eine Woche später folgte im Großen Haus nach etwas Talk und Kabarett „Annette, ein Heldinnenepos“ nach dem Roman von Anne Weber in der Regie von Lily Sykes, eine Produktion des Schauspiels Hannover.

Corinna Harfouch in „Annette, ein Heldinnenepos“ (Foto:Kerstin Schomburg/Ruhrfestspiele)

Immer im Widerstand

Was für ein Leben! Annette Beuamanoir, die es übrigens wirklich gibt und die mittlerweile 98 Jahre alt ist, tritt in ihrer Jugend der Résistance gegen die deutsche Besetzung Frankreichs bei; nach dem Krieg engagiert sie sich im Freiheitskampf der Algerier gegen die französische Kolonialmacht. Die Freiheit kommt, doch es ist die Freiheit der neuen Herren, die weiterhin das Volk terrorisieren. Desillusioniert zieht sich Anne Beaumanoir aus dem politischen Geschehen zurück, arbeitet als Ärztin in der Schweiz. Sie hat große Opfer gebracht, und nach Frankreich kann sie nicht zurück, weil sie dort polizeilich gesucht wird.

Warum spielt Frau Harfouch mit?

Die Lebensgeschichte von Annette Beaumanoir war als Buch ein großer Erfolg. Leider ist es nicht gelungen, ein kongeniales Bühnengeschehen aus dem Stoff zu machen. Als Stück muß man „Annette“ dem mittlerweile häufig vorzufindenden, irgendwie feministisch grundierten Deklamations- und Vorwurftheater zuordnen, das Schauspiel im wörtlichen Sinne weitgehend verweigert. Nun gut, Biographisches kann man ja auch vortragen. Doch leider versäumt es diese Inszenierung, zu pointieren und zu strukturieren. Alles, was Darstellerinnen und Darsteller zu berichten wissen, wirkt irgendwie gleich bedeutend, was besonders in der Algerien-Hälfte nach der Pause ärgerlich ist, weil man sich da in Deutschland nicht so gut auskennt. Ausnahmsweise mal Franzosenbashing („Kolonialherren“), sieht man ja sonst eher selten.

Die jungen Akteure zeigen, was sie können, und das ist, wenn vieles auch verpufft, nicht wenig. Wie sich allerdings Frau Harfouch in diese juvenile Darstellerriege verirren konnte, fragt man sich schon. Weder ist hier eine durchgängige Rolle für eine ältere Bühnenkraft erkennbar, noch wird das Können dieser Ausnahmekünstlerin auch nur ein einziges Mal durch die Inszenierung wirklich abgefordert. Und es reift der Verdacht, daß man sie nur des klangvollen Namens wegen auf die Besetzungsliste genommen hat.

Geld zu verteilen

„Eurotrash“, nur einmal wollen wir noch darauf zurückkommen, bezeichnet übrigens eine Geldanlage der Frau Mama (mit Betonung auf dem zweiten a), mit der sie etliche hunderttausend Franken Gewinn gemacht hat. Und dann ist sie auf die aberwitzige Idee verfallen, das Geld an die zu verteilen, die es gut gebrauchen können. Christian soll ihr dabei helfen. Und immer wieder fragt sich dieser erwachsene, vernünftige Sohn, warum er sich das antut, warum er seine Mama aushält, warum er sie zu einem gesünderen Leben verleiten will, warum er sich kränken und demütigen läßt. Jedes Mal, wenn sie sich treffen, macht ihn die Alte fertig, boshaft, hellsichtig und treffsicher. Aber irgendwie auch so, daß man ihr nicht böse sein kann, sieht man einmal von dem Groll ab, der wohl beiden Protagonisten innewohnt und stärker geworden ist in diesen Jahrzehnten wechselseitiger Mißachtung.

Bitte mehr davon

Es ist ja ein Wunder, daß sie überhaupt noch lebt, ernährt sie sich doch wesentlich von Wodka, Wein und Schmerztabletten, stürzt immer wieder schwer, hat Wunden und Narben im Gesicht. Eigentlich ist sie unmöglich – aber eben auch das Produkt eines konservativen Gesellschaftsmodells der Nachkriegszeit, das für geschiedene, gutbürgerliche Frauen mittleren Alters keine Rolle mehr vorsah – sofern sie nun nicht, wenig qualifiziert, für ihren Unterhalt arbeiten mußten. Daß Mama bei der Scheidung betrogen wurde (mit Kunst), versteht sich fast von selbst. Neben viel Biographie, Slapstick und Tragik ist „Eurotrash“ alles in allem auch ein (ausschnitthaftes) Sittenbild dieser Nachkriegszeit. Ein kluges, menschliches Stück mit glänzenden Darstellern. Man wünschte sich mehr Theater wie dieses, nicht nur in Berlin oder bei den Ruhrfestspielen.

Viel Gutes steht noch auf dem Spielplan

Schluß jetzt mit dem Nacherzählen. Mit „Tao of Glass“, der „Dreigroschenoper“ und Matthias Brandt in „Mein Name sei Gantenbein“ stehen in den nächsten Wochen noch einige Hochkaräter auf dem Theaterprogramm.

Wenn es hier vorwiegend um Sprech- oder bestenfalls Musiktheater ging, so liegt das an den persönlichen Vorlieben des Verfassers. Aus zweiter Hand – das wird jetzt ein arg krummes Sprachbild, aber egal – hörte (!) ich aber auch, daß „Colossus“ von der Stephanie Lake Company großartig gewesen sein soll. Und die Hofesh Shechter Company, die ab 27. Mai „Double Murder“ im Großen Haus spielen und tanzen wird, hat ebenfalls einen guten Ruf. In den kommenden drei Wochen bis 12. Juni, wenn die Ruhrfestspiele enden, gibt es also noch viele gute Produktionen zu sehen und zu hören. Der Blick ins Programmheft lohnt.

www.ruhrfestspiele.de




Abbilder der Verhältnisse – im „Atlas des Unsichtbaren“

Sinnreiche Visualisierung komplexer Sachverhalte ist eine Kunst, auf die sich nicht viele verstehen. Im Netz geht neuerdings der Auftritt „Katapult“ steil, der auch verwickelte Dinge auf möglichst simple optische Umsetzungen „herunterbricht“ – mit wechselndem Geschick: Manches, aber längst nicht alles gelingt. In den „Atlas des Unsichtbaren“ sollte man sich hingegen einigermaßen vertiefen. „Auf einen Blick“ erlangt man hier nicht viel.

Die Autoren James Cheshire und Oliver Uberti versprechen laut deutschem Untertitel recht vollmundig „Karten und Grafiken, die unseren Blick auf die Welt verändern“. Die Kapitelüberschriften („Woher wir kommen“, „Wer wir sind“, „Wie es uns geht“, „Was uns erwartet“) erweisen sich als wenig trennscharf und taugen nicht zur Sortierung. Also heran an die vielen Einzelheiten, die eben nicht in solche Schubladen passen.

Nach und nach zeigt sich, dass Kartographie und graphische Darstellungen weitaus mehr vermögen, als sich der Diercke-Schulatlas träumen ließ. Manches lässt sich veranschaulichen, was vorher undurchdringlich schien, verblüffende Ein- und Durchblicke werden möglich. Auch Statistiken und Tabellen sind kein leerer Wahn, wenn sie mit Verstand eingesetzt werden.

Da zeigt eine Schautafel ganz schlüssig, ob und wie sich die Gene über 14 Generationen hinweg (etwa seit 1560) noch vererben. Neue Klarheit verschaffen Karten zu den Strömen des Sklavenhandels oder über Walfänge seit 1761. Der Aufschlüsse sind viele: Migrations- und Pendlerrouten, Mobilfunkdaten oder eine Karte zur Lichtstärke in Städten und Regionen verdeutlichen soziale und wirtschaftliche Zusammenhänge. Sie können als Ergänzung zu wortreich differenzierten Betrachtungen sehr brauchbar sein.

Häufig wird der globale Maßstab angelegt, bevorzugt aus angloamerikanischer Perspektive: In welchen US-Staaten kommt Lynchjustiz besonders häufig vor? Inwiefern lassen Gebäudedaten auf künftige Gentrifizierung schließen, so dass Prognosen dazu einen höheren Wahrscheinlichkeitsgrad haben? Wo leisten Frauen im Verhältnis zu Männern die meiste unbezahlte Arbeit (Indien) und wo die wenigste, aber immer noch deutlich über 50 Prozent (Schweden)? In welchen Ländern erleiden Frauen die meiste physische Gewalt?

Durch graphische Umsetzung werden auch die Muster der US-Bombardierungen im Vietnamkrieg gleichsam „transparenter“. Übrigens hat Ex-Präsident Bill Clinton die zugrunde liegenden Daten freigegeben. Freilich wirken solche fürchterlichen Sachverhalte in atlasgerechter Aufbereitung leicht zu harmlos. Auf diese Weise können eben nur bestimmte Dimensionen des Geschehens vermittelt werden. Dessen eingedenk, blättern wir weiter.

Das letzte Konvolut („Was uns erwartet“) handelt – man durfte gewiss damit rechnen – überwiegend vom bedrohlichen Klimawandel, so gibt es etwa Karten über weltweite Hitzewellen und Stürme oder zur Eis- und Gletscherschmelze. Auch erfährt man zum Beispiel, auf welchen Flugrouten künftig erheblich mehr Turbulenzen bevorstehen dürften. Hilfreich jene Sonnenlicht-Karte, die quasi jeden Quadratmeter eines bestimmten Gebiets im Hinblick auf Sonneneinstrahlung (Intensität, Dauer, zeitlicher Verlauf) definiert, so dass im Winter das Streusalz praktisch punktgenau verteilt werden kann und nichts verschwendet wird. Viele Flächen tauen eben auch rechtzeitig ohne Salz auf.

Ein Buch zum gründlichen Durchsehen, lehrreich, hie und da von echtem Nutzwert, dies aber von begrenzter Dauer. Denn solche Datenbestände und folglich die Karten altern leider ziemlich schnell.

James Cheshire / Oliver Uberti: „Atlas des Unsichtbaren. Karten und Grafiken, die unseren Blick auf die Welt verändern.“ Aus dem Englischen von Marlene Fleißig. Hanser Verlag, 216 Seiten (Format 20 x 25,5 cm), 26 Euro.




Wie das Wort der Stunde lautet

Auch im Schein einer Taschenlampe werden mehr Dinge… (fehlendes Wort bitte nach Lektüre des Beitrags einsetzen). (Foto: Bernd Berke)

Bitte mal eben kurz herhören, Leute! Wie könnte wohl das Wort dieser Tage (Pressejargon: „das Wort der Stunde“) lauten? Jetzt mal ausnahmsweise abgesehen vom Militär-Sprech, das neuerdings Einzug gehalten hat und uns schon ganz geläufig von den Lippen geht. Wer könnte nicht den Unterschied zwischen Marder und Gepard darlegen?

Zur Erinnerung nur ein paar Beispiele: Zuletzt hatten wir unter anderem das Narrativ, das mittlerweile in jeden zwölften Satz eingebaut wird, so dass man seiner vollends überdrüssig ist. Außerdem nervten sie uns im gepflegten Diskurs ständig mit der Resilienz, also der fremdwörtlich imponierend aufgeplusterten Widerstandskraft. Ungefähr gleichzeitig hatte – zumal im Kulturbetrieb – vieles immersiv zu sein; man durfte also nicht nur distanziert betrachtend davorstehen, sondern sollte tief eintauchen. Im Geschlechterkampf brach sich derweil das Wörtchen toxisch Bahn, vorzugsweise mit Bezug auf alte weiße Männer oder wenigstens Boomer. Und natürlich, nicht zu vergessen, ging nahezu nichts mehr ohne das Zauberwort divers mitsamt allen Ableitungen wie Diversität. Demnach soll alles entschieden vielfältig und verschieden sein, aber nicht im Sinne von tot, sondern von unterschiedlich. So weit, so woke.

Und nun? Was haben wir jetzt? Welches Wort hat sich in letzter Zeit schleichend, aber im Ergebnis ziemlich deutlich eingestellt? Großer Trommelwirbel: die Sichtbarkeit! Achtet doch mal drauf, wie häufig das inzwischen vorkommt. Jedes kleinere oder größere Anliegen macht sich anheischig, künftig sichtbarer zu sein. Jede gesellschaftliche Gruppierung (und sei sie noch so randständig) möchte unbedingt sichtbarer werden. Wenn freilich alles zugleich immer sichtbarer sein würde, so wäre schließlich – einer alten Redewendung zufolge – der Wald vor lauter Bäumen nicht mehr zu sehen. Das ist doch offensichtlich.




Im Schnee auf den Spuren von Rimbaud – Jon Fosses grandioser Roman „Ich ist ein anderer“

Asle wohnt irgendwo an einem abgelegenen Fjord und blickt jeden Tag über die Nebel verhangene Landschaft. Seine Frau, Alse, ist längst gestorben. Manchmal kommt ein Nachbar vorbei und sorgt dafür, dass Asle etwas isst, den Kamin befeuert und den Hund füttert.

Ein Sessel im Wohnzimmer ist noch immer für Alse reserviert. Denn in Asles Gedanken lebt sie weiter. Er spricht unablässig mit ihr. Vielleicht ist sie es (und nicht die atemlos lauschenden Leser dieses sich in dunklen Erinnerungen verlierenden und in unzähligen Wiederholungen träge dahin fließenden Gedankenstroms), der er sein Leben beichtet.

Immer wieder erzählt er, wie seine Schwester urplötzlich verstarb, die Mutter an allem herummäkelte, der Vater dumpf vor sich hin brütete; wie er seine erste Zigarette rauchte, in einer Band Gitarre spielte, die Musik dann aufgab, um sich der Malerei zu widmen. Jetzt ist er Anfang sechzig. Er ist müde und weiß nicht, ob er noch jemals ein Bild malen kann. Er hat alles, was in ihm verborgen liegt, die Träume und Alpträume, die Verabredung mit dem Tod, den Glauben an Gott und das Gefühl, im Spiegel der Zeit nicht sich selbst, sondern einen anderen Menschen zu erblicken, auf die Leinwand gebracht:

Beredtes Schweigen, rasender Stillstand

„Und ich sehe mich dastehen und das Bild mit den beiden Strichen anschauen, einer ist lila, einer braun, sie kreuzen sich in der Mitte und ich denke, es ist so kalt in der Stube und es ist zu früh zum Aufstehen, also warum bin ich aufgestanden?“

Mit diesen Worten beginnt „Ich ist ein anderer“, der neue Roman von Jon Fosse, der im Titel die Sentenz von Rimbaud aufgreift, mit der die literarische Moderne ihr Verwirrspiel mit der erzählerischen Verunsicherung und der multiperspektivischen Sicht auf eine zerfaserte Welt begann. Fosse, ein Meister des beredten Schweigens und des rasenden Stillstands, wird oft als Kandidat für den Literaturnobelpreis gehandelt. Jetzt stapft er mit Rimbaud im literarischen Rucksack durch den norwegischen Schnee und die Gedanken eines Malers, der sich selbst immer fremder wird und in mehreren Versionen zu existieren scheint.

Derselbe Name, dasselbe Gesicht

Immer wieder muss Asle an den anderen Künstler denken, der denselben Namen trägt, genauso aussieht, ähnliche Bilder malt und den er gerade gestern in der Stadt getroffen hat. Da lag „der andere Asle“ betrunken auf der Straße und musste in die Notaufnahme gebracht werden. Aber nicht nur um den anderen, den alkoholsüchtigen Doppelgänger im Krankenhaus zum besuchen, fährt Asle heute wieder in die Stadt. Er will auch seinem Galeristen, mit dem er schon seit Jahrzehnten zusammenarbeitet, seine neuen Bilder bringen. Doch erst einmal muss er es schaffen, aufzustehen, sich das Bild mit den beiden Strichen anzuschauen, das vielleicht sein letztes sein wird. Dann erst wird er sich ins Auto setzen und während der Fahrt sein Leben Revue passieren lassen. An seine tote Schwester, seine unfähigen Eltern, seine schmerzlich vermisste Frau denken. Immer wieder. Die Zeit steht still, verliert sich in einer Endlosschleife aus Erinnerungen.

Bisher eröffnete die dreiteilige (und in sieben Abschnitte unterteilte) Roman-Serie immer wieder mit der gleichen, nur minimal veränderten Szene. Immer wieder drohte der Maler im eigenen Gedankenfluss zu ertrinken. Nirgendwo fand er einen rettenden Punkt. Jeder Satz und jedes Buch blieb ein offenes Rätsel. Nur zum Schluss eines jeden Teils und jeden Romans fand er Halt, nahm seinem Rosenkranz und betete das Vaterunser. Was mit „Der andere Name“ begann, mit „Ich ist ein anderer“ weitergeführt wird und mit „Ein neuer Name“ beendet sein soll will, ist eine literarische Meditation, eine zeitlose Reise durch die literarische Nacht. Verwirrend. Grandios. Einzigartig.

Jon Fosse: „Ich ist ein anderer“. Heptalogie III-V, Roman. Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel, Rowohlt Verlag, Hamburg, 368 Seiten, 30 Euro.

 




Klönschnack zum Kringeln: „Dittsche“ im Bochumer Schauspielhaus

„Biddä, biddä“: Olli Dittrich alias „Dittsche“ im legendären Bademantel beim Schlussapplaus im Bochumer Schauspielhaus. (Foto: Bernd Berke)

Vor ein paar Wochen hat sich hier die Frage erhoben, wie Comedians (oder wie man die höchst individuellen Meister ihres Fachs nun nennen soll) mit der gegenwärtigen Weltlage umgehen. Im Dortmunder Konzerthaus hat Helge Schneider eine erste Antwort gegeben und sich klugerweise jeder direkten „Stellungnahme“ enthalten. Statt dessen hat er das gemacht, was er am besten kann. Ihr wisst Bescheid.

Kurz darauf war – gleichfalls im Konzerthaus – Olli Dittrich alias „Dittsche“ angekündigt, auch er eine Kultfigur von hohen Graden. Aus Gründen habe ich seinen Auftritt versäumt. Doch jetzt hat sich noch einmal Gelegenheit ergeben, die Chose nachzuholen, und zwar im ehrwürdigen Bochumer Schauspielhaus.

Wie hat „Dittsche“ die Gemütslage der kriegerischen Zeiten „aufgegriffen“? Ebenfalls so gut wie gar nicht. Zwar stand seitwärts auf der ansonsten leeren Riesenbühne eine dittscheske Stellvertreter-Figur, der eine Ukraine-Fahne beigesellt war (gerade so, dass es nicht aufdringlich wirkte), doch gab’s einen zaghaften verbalen Hinweis erst ganz am Schluss des langen Abends. Da meinte Olli Dittrich beiläufig, man müsse eben auch mal wieder lachen, um das ständige Entsetzen auszuhalten. Womit er recht haben dürfte.

Erscheinung am Bühnenrand: Lookalike-Figur mit bekannter Flagge. (Foto: Bernd Berke)

Zum Lachen gab’s wahrhaftig viel. Streckenweise war’s zum Kringeln. „Dittsche“ war in Höchstform, sein Soloauftritt zog sich – mit kurzer Pause – über mehr als drei Stunden hin. Zum Abschluss seiner Tournee zeigte sich Olli Dittrich schließlich einigermaßen gerührt vom donnernden Applaus des Bochumer Publikums – und gab sich gar zu bescheiden: Dass „so ein Kasper wie ich“ auf diesen Brettern stehen dürfe, sei ja schon bemerkenswert, befand der Mann, der selbstverständlich im berühmten Bademantel, mit „Schumiletten“ und Aldi-Tüte auftrat. Auch das Bierchen („Ah, das perlt richtig…“) durfte nicht fehlen. Übrigens war in den Zuschauerreihen ein Hardcore-Fan auszumachen, der tatsächlich im Bademantel im Theater erschien.

„Dittsche“ griff tief in seine Geschichten-Kiste, erzählte von schreiend komischen Vorfällen, vor allem rund um „Herrn Karger“ (der Ex-Friseur aus der Wohnung unter ihm), doch auch von „Ingo-Mann“ und „Schildkröte“ selig. So redefreudig war Olli Dittrich, dass er dauernd herrlich abschweifte und sozusagen „von Hölzken auf Stöcksken“ kam. Es gibt ja bekanntlich diese schweigsamen Norddeutschen, die an ein paar wenigen Worten genug haben. Und es gibt z.B. jene Sorte von Hamburgern, die ohne Unterlass klönschnacken können. In Dittsche lebt auch dieser Menschenschlag auf. In diesem Sinne jagt denn eine „Weltidee“ aus seiner irrwitzigen Ideen-Werkstatt die andere – und immer wieder ist von Katastrophen mit tückischen Alltagsdingen die weitschweifige, aber niemals langweilige Rede. Man kann jeweils nur zu gut ahnen, dass Dittsche mal wieder fürchterlich Mist gebaut hat, doch schuld soll am Ende stets Herr Karger sein, der diesmal eine ganz andere Erzähl-Präsenz erlangte als in der Fernsehreihe, die zu kennen von unschätzbarem Vorteil war, wollte man allen Witz nachschmecken. Die Perspektive war freilich leicht verschoben, weil die anderen Serienfiguren eben nicht anwesend waren. Also konnte Dittsche nun mehr ü b e r sie reden. Und über den bärbeißigen Karger sowieso.

Später geht’s dann mehr um Promis und „Titanen“, als da zum Exempel wären: Olli Kahn, Dieter Bohlen, die Queen (mitsamt deren allergrößter Anhängerin: Frau Karger) und Dittsches hanseatisches Fußball-Idol Uwe Seeler. Im zweiten Teil spielt dann auch Olli Dittrichs aus dem wirklich wahren Leben gegriffene Offenbacher Großmutter eine zentrale Rolle. Allein ihre überlieferte Reaktion auf Eduard Zimmermanns „Aktenzeichen XY…ungelöst“ ist goldig genug, zumal in hessischer Mundart. Und wie Olli Dittrich zudem Ede Zimmermanns Standard-Mimik nach den stümperhaften Verbrechens-Filmchen nachmacht (ein schwerer Atemzug, bedenkliches Kopfwiegen, dann die ernsten Worte: „Kein Einzelfall.“), das ist einfach ziemlich göttlich.




Ein äußerst konservatives Verständnis von Kunst – Sammlung des Bundes zeigt ihre Neuerwerbungen in Bonn

„Question #2: When Are We Right“ und „Question #2: When Are We Wrong?“ von Isaac Chaong Wai (2021) (Foto: Mick Vincenz, 2022 © Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH)

Und anschließend überlegt man, was wirklich überwältigend war. Spontan eigentlich: Nichts. Oder vielleicht der große hölzerne Guckkasten von Dirk-Dietrich Henning, in dem er in großer räumlicher Tiefe Bildebenen montiert hat, Ausgeschnittenes überwiegend in Schwarzweiß, eine Fleißarbeit. Der französische Titel ließe sich in etwa mit „Schwäche der Leichtgläubigen“ übersetzen, und darunter kann man sich ja eine Menge vorstellen. Große Holzkiste also, eindrucksvoll. Aber sonst?

Der Titel dieses Bildes gab der Kunstschau den Namen: „Identität nicht nachgewiesen“ wurde, so der Ausstellungskatalog, einer Frau aus Afrika auf den Ablehnungsbescheid gestempelt, als sie versuchte, ein Bankkonto zu eröffnen. (Bild: Bussaraporn Thongchai, Courtesy the artist, Sammlung des Bundes)

Soeben wurde besichtigt, was zwei Auswahlgremien in den Jahren 2017 bis 2021 für die Sammlung des Bundes vorwiegend wohl auf Kunstmessen in Köln, Berlin und Basel zusammengekauft haben, 170 von insgesamt 360 Arbeiten. 4,5 Millionen wurden ausgegeben, was nicht zu kritisieren ist. Doch die Kunst selbst – oder sagen wir besser, der offenbar zugrundegelegte Kunstbegriff – wirkt doch ausgesprochen mager und ausschnitthaft. Kunst ist, daran läßt diese Kunstschau keinen Zweifel, was man an die Wand hängen, auf die Erde stellen, schlimmstenfalls auf die Wand projizieren oder über einen Fernsehbildschirm laufen lassen kann. Wand anmalen geht auch noch. Als inhaltlichen Anspruch formuliert Susanne Kleine, Kuratorin dieser Ausstellung, im Vorwort des Kataloges den Anspruch, den man an die Werke stellte: „Diversität, Toleranz und gesellschaftliche und persönliche Hinterfragungen sind Kriterien, nach denen die Werke ausgesucht worden sind“. Der Souverän, repräsentiert durch die Auswahlkommission, mag es demnach brav und handzahm.

Auch das könnte Kunst sein

Aber wenigstens fragen möchte man doch einmal, wo all die anderen Kriterien geblieben sind, die spannende, berührende Kunst ebenfalls ausmachen können -–Erotik beispielsweise, Wut, Spontaneität, Provokation, vielleicht aber auch Verspieltheit und Obsession, oder die Hingabe an Form und Material. Und natürlich das, was ein verbaler Kriterienkatalog eben nicht adäquat beschreiben kann, was ahnt und raunt und diffus bleibt.

Zuzanna Czebatul: „Siegfried’s Departure“ (2018) (Foto: CAC Futura Prag, Zuzanna Czebatul/Sammlung des Bundes)

Künstler und Werk

Der Kunstbegriff, auf den man hier stößt, ist extrem konservativ. Er kennt nur die Spielpaarung Künstler und Werk, gerade einmal Zweiergruppen sind im Teilnehmerverzeichnis noch auszumachen. Längst jedoch, es genügt ein Blick in die nähere Nachbarschaft, gibt es eine umfangreiche Kunstproduktion jenseits der hier übermäßig bemühten Schemata, die sich nicht sonderlich um die althergebrachten Fachabteilungen kümmert. Man denke da beispielsweise an Künstlergruppen wie „Rimini Protokoll“, der man mit Arbeiten wie „Urban Nature“ im Theater ebenso begegnen kann wie im Museum oder bei einem Musikfestival; oder an das „Zentrum für politische Schönheit“, dessen gewiß nicht immer geschmackvolle Aktionen doch nicht nur politische Demonstrationen sind, sondern eben auch Hervorbringungen mit ästhetischen Qualitäten. Erinnert sei auch an das indonesische Künstlerkollektiv ruangrupa, das in diesem Jahr die Documenta in Kassel kuratiert.

Die Rolle der Kuratoren

Hier wäre übrigens, ganz beiläufig, die Stelle, an der man sich zudem über den Einfluß der Kuratoren auf Kunstproduktion und –präsentation ein paar kritische Gedanken machen könnte, aber das führte im Moment wohl zu weit. Gleichwohl: Müßte man nicht auch für sie, die Kuratorinnen und Kuratoren, ein warmes Plätzchen in der Bundeskunsthalle reservieren?

Bild aus der Fotoserie „The Last Drop – Indien, Westbengalen“ von Anja Bohnhof (2019) (Bild: © Anja Bohnhof/Sammlung des Bundes)

Schließlich, und die Liste könnte durchaus noch länger werden, fehlt das, was mit eher unklarer Kontur als Computerkunst bezeichnet wird – mehr oder weniger geschickte Versuche, dem monströsen Thema IT (oder in letzter Zeit, schlimmer noch: KI) mit einer analog rezipierbaren künstlerischen Beschäftigung zu begegnen. Im Dortmunder Hartware Medienkunstverein im Kulturzentrum „U“, dies nur am Rande, ist in einer schön zusammengestellten Ausstellung zu sehen, wie sich vorwiegend jüngere Künstlerinnen und Künstler dem Thema annähern (Besprechung in den Revierpassagen). Nicht jeder Versuch ist Gold, doch schon der Versuch ist zu preisen. In Bonn gibt es zu diesem Thema nur weißes Rauschen.

„Hochdrücken“ von Kristina Schmidt (2018) (Bild: © Kristina Schmidt/Sammlung des Bundes)

Erwartet wird Haltung

„Es läßt sich beobachten, daß heute verstärkt Stimmen zu Wort kommen, Haltungen sich abzeichnen, Persönlichkeiten unterstützt werden, die sich besonders gut darauf verstehen, das fragile System unserer Gesellschaft, Demokratie und unseres Planeten zu durchleuchten“, schreibt Bundeskunsthallen-Intendantin Eva Kraus im Vorwort zum Katalog. Große Worte, kaum zu widerlegen. Aber natürlich läßt sich dieser Trend eben deshalb beobachten, weil entsprechend ausgesucht wurde. Blickt man auf den Kunstmarkt, wie er sich beispielsweise in Versteigerungen darstellt, erhält man ein gänzlich anderes Bild von Marktwert und Relevanz der Kunst – übrigens auch im drei- oder vierstelligen Euro-Bereich.

Man vermißt die prominenten Zeitgenossen

Kuratorinnen und Kuratoren kamen in der ersten Auswahlperiode vom Hamburger Bahnhof in Berlin, vom Kunstmuseum Stuttgart, der Kunsthalle Bielefeld, der Insel Hombroich und der Bundeskunsthalle selbst; im zweiten Durchgang von den Kunstsammlungen Chemnitz, dem Münchener Museum Brandhorst, dem Kunstverein für Mecklenburg und Vorpommern in Schwerin, dem Kunstverein Braunschweig, dem Westfälischen Kunstverein in Münster und der Städtischen Galerie im Münchener Lenbachhaus. Die Künstler sind dem Verfasser dieser Zeilen mit zwei, drei Ausnahmen unbekannt, und in 20 Jahren, so steht zu befürchten, werden sie dem Großteil des Publikum immer noch unbekannt sein. Warum gibt es in einer nationalen Kunstsammlung keinen aktuellen Neo Rauch? Oder einen Jonathan Meese? Oder einen anderen oder, nota bene, eine andere? Nur als Beispiel. Eine „Sammlung des Bundes“, deren Name auch Anspruch wäre, sollte über Werke der deutschen Künstlerprominenz verfügen können.

  • „Identität nicht nachgewiesen – Neuerwerbungen der Sammlung zeitgenössischer Kunst der Bundesrepublik Deutschland“
  • Bundeskunsthalle Bonn
  • Bis 3. Oktober 2022
  • www.bundeskunsthalle.de



Von Natur aus glücklich – „Katzen und der Sinn des Lebens“

Meiner Treu! Noch nie habe ich ein Buch gelesen, das dermaßen angefüllt ist mit Katzenlobpreisungen aller Art und Güte. Der britische Philosoph John Gray, Jahrgang 1948 und in olympischen Gefilden der Wissenschaften tätig (Oxford, Yale, London School of Economics), hat Dichtung und Geistesgeschichte auf katzenaffine Inhalte durchsucht und ist vielfach fündig geworden. Wir Menschen kommen in seinem Buch „Katzen und der Sinn des Lebens“ (Originaltitel: „Feline Philosophy“) weniger gut davon.

Einige Befunde, aus denen sich alles Weitere herleitet: Katzen sind offenbar prinzipiell zufrieden mit ihrem Leben, das Glück ist ihnen gleichsam angeboren, weil sie niemals an den Tod denken und nichts anderes sein wollen, als sie sind; weil sie schlicht und einfach ihrer Natur folgen und im Einklang mit den Instinkten leben, die ihnen nun mal gegeben sind. Nicht einmal Meister des Buddhismus oder Daoismus kommen ihnen an Gelassenheit auch nur annähernd gleich. Wer je eine Katze in ihren allfälligen Mußestunden länger beobachtet hat, wird dies kaum bezweifeln. Insofern führt das Buchcover in die Irre, auf dem eine grübelnde Katze dargestellt ist.

Gray zitiert Denker wie Pyrrhon von Elis und Michel de Montaigne (Seelenruhe als für den Menschen kaum dauerhaft erreichbares Lebensziel), er befragt Epikur und die Stoiker nach ihren Glücksvorstellungen, stellt uns die grundsätzliche Unruhe des Menschseins vor Augen, die Blaise Pascal im berühmten Diktum zusammenfasste, das Unglück der Gattung rühre daher, dass sie nicht ruhig in den Zimmern bleiben könne. Schlimmer noch: Der Mensch kann – nicht nur im Krieg – seine Menschlichkeit verlieren, die Katze bleibt jedoch immer eine Katze, mit allen Attributen.

Einbildung und Zerstreuung seien die flüchtigen Elemente, in denen die allermeisten Menschen sich bewegen. Auch die Philosophie, so Gray, weise letztlich keine Auswege aus unserer existenziellen Lage. Denken könne das Unglück nicht lindern, befand beispielsweise auch Samuel Johnson. Und weiter: Immerzu versuchten die Menschen, ihr Leben zur Geschichte zu machen, sich auf ein Ziel hin zu entwerfen. Daraus, aus der Angst vor dem Tod und aus der fortwährenden Sinnsuche entstehe ihr Leiden. Auch könne daraus Lebensfeindlichkeit nach Art eines Seneca erwachsen, der völlig ungebrochen den Selbstmord empfahl: „Es macht überhaupt nichts aus, an welcher Stelle Du aufhörst.“

Ganz anders die Katzen! Niemals käme es ihnen in den Sinn, für Ideen zu sterben. Wenn wir es nur vernehmen wollten, könnten sie uns Einblicke in ein anderes Sein geben, in ein Leben vor dem Sündenfall. Nun gut, das mag auf Tiere generell zutreffen, doch leben die wenigsten von uns mit einem Specht, Luchs oder Ameisenbär zusammen, viele hingegen mit Katzen, jenen Wesen also, die sich – im Gegensatz zu Hunden – niemandem unterordnen. Ihre Ethik (wenn man es denn so nennen will) sei – so paradox es klingen mag – eine des „selbstlosen Egoismus“. Sie haben kein „ungelebtes Leben“, nach dem sie sich in Sehnsucht verzehren könnten, auch werde ihre Seele nicht „vom Tod berührt“, den sie bejahend erwarteten, wenn sie sein Kommen fühlen. Woher John Gray das nur alles so genau wissen will? Sind es nicht auch wieder Zuschreibungen aus menschlicher Perspektive?

Auch grausame Details erspart uns der Autor nicht, so etwa die fürchterlichen Rituale von Katzenhassern früherer Jahrhunderte, die in Ausläufern beispielsweise bis zu René Descartes (Zitier-Hit: „Ich denke, also bin ich“) reichen, der fiese Experimente mit Katzen anstellte, um zu beweisen, dass sie keine richtigen Individuen seien. Weit gefehlt, ruft Gray aus, sie seien wahrscheinlich individueller als wir.

Der weit überwiegende Teil des Buches ist denn auch der Katzenverehrung und Katzenbewunderung gewidmet. Den alten Ägyptern galten diese Tiere als gottähnlich, ihnen wurden ganze Tempel gewidmet. Von Geschichte und Philosophie geht Gray sodann zur Literatur über und führt Texte vor allem von Autorinnen (Colette, Patricia Highsmith, Mary Gaitskill und Doris Lessing) auf, in denen Katzen den Menschen eindeutig überlegen sind. Den Katzen sei – bei allem Talent zur Ruhe – höchste Wachheit eigen, wenn es darauf ankommt, ihre Erfahrung sei intensiver als unsere, just weil sie ganz und gar sie selbst sind. Dagegen wir: so fragmentiert…

Wenn man das Buch nach der Lektüre sanft zuklappt, wird man versucht sein, sich vor der schnurrenden Spezies zu verneigen. Katzen machen uns vor, wie zu leben wäre. Doch wir können es nicht begreifen. Aber eins können wir auf jeden Fall tun: Unser Kater Freddy kriegt jetzt erst einmal eine Extraportion Futter!

John Gray: „Katzen und der Sinn des Lebens. Philosophische Betrachtungen“. Aus dem Englischen von Jens Hagestedt. Aufbau Verlag, 160 Seiten, 20 Euro.




„Ich gebe viel, ich bekomme etwas zurück“: Jessica Muirhead singt die „Arabella“ am Aalto-Theater Essen

Endlich wieder singen: Jessica Muirhead, seit 2015 am Essener Aalto-Theater fest engagiert, freut sich riesig, dass die Corona-Pandemie kein Hindernis mehr ist, auf die Bühne zurückzukehren. Ab 14. Mai singt sie die „Arabella“ in Richard Strauss‘ gleichnamiger Oper.

Jessica Muirhead. (Foto: Nanc Price)

Auch sie selbst hat ihre Infektion überwunden und stürzt sich in eine für sie neue, große Partie: Mit der lyrischen Komödie „Arabella“, dem letzten gemeinsamen Werk von Strauss und Hugo von Hofmannsthal, biegt am 14. Mai die Spielzeit 2021/22 am Aalto in die Zielgerade ein. Es ist die letzte Opernpremiere der Intendanz von Hein Mulders. Werner Häußner sprach mit der britisch-kanadischen Sopranistin, die 2018 auch den Aalto-Bühnenpreis erhalten hat, über ihre Karriere und blickt mit ihr auf die Zeit mit Mulders zurück.

Ab Samstag sind Sie am Aalto-Theater Essen die Arabella in Richard Strauss‘ wehmütig-ironischem Rückblick auf das „alte Wien“.

Ja, endlich ist sie da! Ich finde, jetzt ist der richtige Zeitpunkt für meine Stimme, mit Strauss zu beginnen. Vor drei Jahren sollte ich schon die Marschallin singen, aber das empfand ich noch als zu früh. Ich möchte mir die Strauss-Rollen langsam erarbeiten, zum Beispiel „Daphne“, die ich in Frankfurt gesehen habe – ein berührendes Stück und großartig für die Stimme geschrieben. Da bekomme ich Gänsehaut.

Aber Puccinis Suor Angelica im „Trittico“, die Sie gerade am Aalto-Theater gesungen haben, ist auch nicht ohne …

Aber ja. Ich bin am Ende komplett fertig, obwohl die Rolle kurz ist. In dieser Inszenierung von Roland Schwab bin ich die ganze Zeit im Spotlight.

Jessica Muirhead als Schwester Angelica in Giacomo Puccinis „Il Trittico“ am Aalto-Theater Essen. (Foto: Matthias Jung)

Endlich wieder auf der Bühne singen

Wie sind Sie durch die Zeit der Pandemie gekommen?

Es war keine gute Zeit für mich. Diese Unsicherheit um unsere Zukunft hat mich geradezu depressiv gemacht. Am Anfang war die Ruhe für die Stimme okay. Aber nach zwei Jahren brauche ich ein Publikum und eine Bühne. Wenn man in einer Wohnung singt, ist das Gefühl ein anderes. Es war auch schwierig, die Zeit zu nutzen, um neue Partien zu lernen. Meine Seele war traurig, doch man braucht die Seele, um zu singen. Ich habe einige Rollen gelernt, die dann abgesagt wurden, zum Beispiel aus Rossinis „Il Viaggio a Reims“. Gottseidank dürfen wir jetzt wieder spielen und das Publikum kommt. Das ist nicht überall so. Aber ich habe bemerkt, dass unser Publikum die Kunst braucht und genießt, so wie ich auch. Jetzt fühle ich mich besser, weil ich sehe: Es gibt eine Zukunft.

Haben Sie stimmlich eine Veränderung bemerkt, weil Sie lange nicht auf der Bühne singen konnten?

Es herrschte zu viel Ruhe. Das ist wie bei der Fitness: Spazieren gehen ist super, aber man braucht auch die Anstrengung. Ich habe gemerkt, dass meine Stimme häufig zu tief intoniert hat. Da war die Spannung weg und es fehlte mir die Kontrolle. Jetzt erst ist meine Stimme wieder voll da.

Was war die erste Partie nach der Pandemie?

Am Aalto-Theater war es die Dido in Henry Purcells „Dido und Aeneas“. Aber im Herbst 2021 konnte ich in Israel in einer Uraufführung mitwirken: „Kundry“ von Avner Dorman, inszeniert von der künftigen Volksopern-Direktorin Lotte de Beer an der Oper in Tel Aviv.

Das Aalto-Theater als echtes Zuhause

Sie sind seit 2015 am Aalto-Theater im Festengagement. Was hält Sie so lange in einem Ensemble? Sie hätten die Möglichkeit, an vielen großen Häusern frei zu singen.

Dafür gibt es viele Gründe. Ich bin die Schritte sozusagen umgekehrt gegangen – erst war ich zehn Jahre frei, dann ging ich ins feste Engagement. Ich wollte ein echtes Zuhause haben. Das habe ich im Aalto-Theater gefunden. Es ist schön, die familiäre Atmosphäre hier am Haus zu genießen. Das ist nicht selbstverständlich. Ich brauche den Kontakt, weil meine Familie in Kanada weit weg ist. Außerdem eröffnen sich hier so viele schöne künstlerische Möglichkeiten. In München hatte ich früher einen Residenzvertrag, aber ich konnte nur drei Rollen singen: Musetta in „La Bohème“, eine Magd in „Elektra“ und ein Blumenmädchen im „Parsifal“. Ich war ein „small fish in huge water“. Ich wollte mehr singen, vor allem mehr Hauptrollen.

Dann eröffnete Essen Ihnen viele Rollendebüts …

Das nächste Rollendebüt für Jessica Muirhead ist „Arabella“ von Richard Strauss. Ein Probeneindruck mit Heko Trinsinger als Mandryka. (Foto: Matthias Jung)

Intendant Hein Mulders hat mir diese Möglichkeit gegeben. Ich habe als Rusalka, Luisa Miller, Elsa, Rosalinde und Anna in Marschners „Hans Heiling“ debütiert und Rollen wie Violetta, die Gräfin in „Nozze di Figaro“, Donna Anna, Micaëla, Margarethe in Gounods „Faust“, die ich früher bereits gesungen hatte, aufgefrischt. Was ich gerne wieder machen würde, ist „Romeo und Julia auf dem Dorfe“ von Frederick Delius, ein wunderbares Werk. In der nächsten Spielzeit darf ich dann auch wieder Belcanto singen: die Lucrezia in Donizettis „Lucrezia Borgia“. Hier in Essen habe ich die Möglichkeit, das auszuprobieren.

Auf der anderen Seite muss ich nichts tun, was meiner stimmlichen Entwicklung schadet. Zum Beispiel habe ich die Elisabetta in Verdis „Don Carlo“ zurückgegeben, weil ich das Gefühl hatte, es sei noch zu früh für diese Partie. Das wird akzeptiert – was nicht an allen Häusern der Fall wäre – und ich fühle mich so als Künstlerin in meiner Verantwortung wahrgenommen.

„Die Vielfalt hat mir nicht geschadet“

Ein Vorteil ist auch die Verbindung von Aalto-Theater und Philharmonie. Im März hatte ich den Sopranpart in Rossinis „Stabat Mater“ übernommen, habe hier in Beethovens Neunter und zum ersten Mal in Brahms‘ „Deutschem Requiem“ gesungen. Die Vielfalt hat mir nicht geschadet, im Gegenteil: Eine Wiener Stimmspezialistin hat mir nach der Premiere der „Suor Angelica“ gesagt, meine Stimme sei so frisch wie damals, als sie mich zum ersten Mal gehört hatte.

Wann war das?

Das war 2006, als ich als Pamina in der „Zauberflöte“ an der Wiener Volksoper in der Inszenierung Helmut Lohners in Europa debütierte. Ich hatte in Kanada einen Wettbewerb gewonnen und Rudolf Berger, damals Direktor der Volksoper, war Mitglied der Jury. Er hat mich angerufen und mir Pamina angeboten. Ich bekam dann einen Residenzvertrag und habe noch Micaëla („Carmen“) und Agathe („Der Freischütz“) gesungen.

Was hat Ihnen diese Zeit in Wien gebracht?

In meinen ersten Jahren auf der Bühne habe ich viel gelernt! Ich hatte zuvor im Studium in Toronto nur in Mozarts „Idomeneo“ die Chance, szenisch zu agieren. Ich glaube, in dieser Wiener Zeit bin ich eine Schauspielerin geworden. Am meisten gelernt habe ich in der Arbeit mit einer Regieassistentin, Susanne Sommer. Ich habe bei meinem Debüt in Bizets „Carmen“ als Micaëla schlechte Kritiken bekommen. Ich war einfach zu langweilig. Bei der Wiederaufnahme habe ich mit ihr die Partie erarbeitet. Auch von Helmut Lohner habe ich viel gelernt, er war ein wunderbarer Künstler.

Was hat Sie dann bewogen, von Wien wegzugehen?

Ich bekam ein Angebot von München und an der Volksoper gab es eine neue Intendanz.

Und in Essen haben Sie sich von Anfang an wohl gefühlt?

Jessica Muirhead als Anna in Heinrich Marschners "Hans Heiling" am Aalto-Theater Essen. Foto: Thilo Beu

Jessica Muirhead als Anna in Heinrich Marschners „Hans Heiling“ am Aalto-Theater Essen. (Foto: Thilo Beu)

Ja, ich hatte das Gefühl, Hein Mulders schaut darauf, wie neue Sängerinnen und Sänger ins Ensemble passen, nicht nur von der Stimme, auch von der Persönlichkeit her. Was mich betrifft, fühle ich mich wertgeschätzt; ich gebe viel, ich bekomme etwas zurück. Ich hatte Intendanten, die waren nicht sichtbar. Hein kommt zu jeder Premiere. Es ist das Gefühl des Kontakts da. Er sagt auch offen, was er gut findet und was nicht. So ein ehrliches Feedback schafft eine Beziehung. Besonders für uns Sänger ist das wichtig. Ich fühle mich als Künstlerin wahrgenommen.

Außerdem hat Hein Mulders für die Sänger und für das Publikum ein tolles Repertoire von Purcell bis Marschner und Wagner aufgebaut. Er hat meine Stimme gut verstanden, weil ich nicht in ein Fach gehöre. Die Möglichkeiten, die ich vorher hatte, waren oft nur in einem Fach. Hein Mulders verstand, dass ich dramatischer Koloratursopran, jugendlich-dramatischer und manchmal lyrischer Sopran bin. Verdis „Luisa Miller“ zum Beispiel habe ich mir nicht zugetraut, aber er sagte: „Du kannst das“. Und am Ende war es mein Lieblingsstück und hat auch meine Stimme gesünder gemacht. Ich habe das Gefühl, er riskiert manchmal etwas, aber die Risiken nimmt er mit Erfolg auf sich. Auch bei „Rusalka“ war ich mir zuerst nicht sicher. Ich bin persönlich dankbar, dass er solche Schritte für mich bedacht hat. Vorher hätte ich nie gedacht, dass ich einmal Wagner singen würde.




„Nichts ist, das ewig sei“: Bewegender Film über Detroit, Bochum und die Vergänglichkeit

Verblasster Schriftzug – Als die Buchstaben auf dem geschlossenen Bochumer Opel-Werk nur noch schemenhaft sichtbar waren… (Foto/Filmstill: © loekenfranke Filmproduktion)

Kaum zu glauben, aber offenkundig: Das anno 1643 in deutscher Sprache verfasste, barocke Vergänglichkeits-Gedicht „Es ist alles eitel“ von Andreas Gryphius scheint sich staunenswert genau zur desolaten Situation in der einstigen US-Autometropole Detroit zu fügen. „Seems like he got it“, sagt einer von denen, die vor der Kamera ein paar Worte aus der englischen Übersetzung vorgelesen haben. Ja, er hat’s im Grunde wohl schon damals verstanden, dieser Herr Gryphius, der solche gültigen Zeilen geschrieben hat:

„Was itzund prächtig blüht, soll bald zertreten werden.
Was itzt so pocht und trotzt, ist morgen Asch und Bein.
Nichts ist, das ewig sei, kein Erz, kein Marmorstein.
Itzt lacht das Glück uns an, bald donnern die Beschwerden.“

Es ist ein famoser Einstieg in den Film „We are all Detroit. Vom Bleiben und Verschwinden“, der an diesem Donnerstag (12. Mai) in ausgewählten Programmkinos der Republik startet (siehe den Nachspann dieses Beitrags). Die fast zweistündige Dokumentation stellt die überaus missliche Lage in Detroit neben jene in Bochum, wo bekanntlich das Opel-Werk dicht gemacht wurde. Inwieweit sind die Verhältnisse vergleichbar? Können Bochum und das Ruhrgebiet etwas aus den Zuständen in Detroit lernen – und wäre es möglich, dass umgekehrt Bochumer Impulse auf Detroit einwirken?

Filmplakat zu „We are all Detroit“ (© loekenfranke Filmproduktion)

Cadillac und andere Legenden

In Detroit wurden Legenden wie der Cadillac gebaut. Doch seit die großen, früher so stolzen und weltweit renommierten Fabriken von General Motors (GM) bis Packard geschlossen haben, ist es ein Jammer um die einst prosperierende Stadt und ihre Bewohner.

Das in Witten ansässige Regie-Duo Ulrike Franke / Michael Loeken, das schon mit dem Film „Göttliche Lage“ (zum sozialen Wandel durch den Dortmunder Phoenixsee auf einem vorherigen Stahlwerks-Areal) beeindruckte, hat diesmal beiderseits des Atlantiks recherchiert und bei den einfühlsamen Sondierungen starke Bilder eingefangen. Bemerkenswert zumal, welche Valeurs sie den verfallenden Fabrikhallen und dem tristen Ödland abgewinnen. Stellenweise scheint es, als wären die Bauten beseelte Wesen. Mit Wehmut sieht man die kilometerweit sich erstreckenden Industrie-Wüsteneien mitsamt der ringsum maroden Infrastruktur. Sarkasmus geht auch: Von „ruin porn“ (Ruinen-Porno) spricht ein Fremdenführer in den einsturzgefährdeten Fabrikhallen. Aas lockt die Geier an.

Krise? Doch nicht bei General Motors!

Ein ehemaliger GM-Ingenieur erzählt, dass der Konzern die Signale des Niedergangs nicht an sich herankommen ließ. Krise? Doch nicht bei General Motors! Wir scheitern doch nicht. „We’re too good to fail.“ Mussten die Konzerne und ihre Manager sich für all die Misswirtschaft verantworten? Nichts da! Das Kapital ist einfach weitergezogen, um andernorts aufzublühen und sodann abermals Verheerungen anzurichten.

Helden des Alltags und erste Hoffnungsschimmer

Hüben wie drüben hat das Filmteam Menschen befragt, die seit Jahrzehnten in den Autofabriken gearbeitet oder deren Mitarbeiter verköstigt bzw. sonstwie versorgt haben; Menschen, die nun seit geraumer Zeit unter dem Verfall der Urbanität leiden, aber auch solche, die (allmählich) neue Hoffnung schöpfen oder sogar ein gänzlich neues Leben begonnen haben. So haben sich einige Bewohner Detroits auf Gartenbau und Pflanzenzucht verlegt, um durch dieses „Zurück zur Natur“ auch persönlich zu reifen und ihren vergammelten Stadtteil wieder ein Stück lebenswerter zu machen. Der Verkauf von Obst und Gemüse sichert ein bescheidenes Einkommen. Da scheint so etwas wie konkrete Utopie auf. Überhaupt ist es geradezu heroisch, wie manche Leute dem Niedergang, wie sie der jahrelang vorherrschenden Gewalt- und Drogenkriminalität etwas entgegensetzen. Tatsächlich zeigen sich nun endlich erste Hoffnungsschimmer, es kehrt wieder Leben in manche Quartiere ein. Freilich sind es überwiegend andere Leute, die da kommen: „Hipster“, sagt einer etwas ratlos. Sei’s drum? Oder keimt da bereits die nächste Verlustgeschichte? Wait and see.

Den Geldströmen ihren Lauf lassen

An vielen Ecken und Enden der US-Millionenstadt hat sich seit langer Zeit kaum etwas getan. Hunderttausende haben die Gegend verlassen. Grundstücke haben für Spottpreise die Besitzer gewechselt, aber die meisten Investoren blieben untätig, so gut wie nichts ist vorangekommen. Da möchte man den Bochumer Weg loben, wo millionenschwere öffentliche Fördermittel in die Herrichtung des vormaligen Opel-Areals fließen und wahrhaftig erste Neubauten entstanden sind, so etwa ein gigantisches DHL-Paketzentrum. Auch eine Reisegruppe aus Detroit bewundert in Bochum derlei Fortschritte und ersehnt Ähnliches für daheim. Doch in den Staaten läuft die Chose anders, dort lässt man den Geldströmen noch weitaus ungehemmter freien Lauf. NRW fördert den Umbau in Bochum, Michigan kümmert sich hingegen nicht ums Schicksal von Detroit.

Eine grässliche „Blechbüchse“

Doch Vorsicht! Die bei Pressekonferenzen und Eröffnungen skizzenhaft eingefangene Selbstbeweihräucherung der politisch Verantwortlichen in Bochum (Projekt „Mark 51.7″) hat offenbar eine Kehrseite. Da gibt ein DHL-Sprecher auf Nachfrage zu, dass zwar zunächst 600 Arbeitsplätze entstehen, man aber auch schon darüber nachdenke, wie Roboter mehr Aufgaben übernehmen könnten. Außerdem vertritt jemand eine nachvollziehbare Gegenposition: Der Bochumer Architektur-Professor Wolfgang Krenz findet die knatschgelbe DHL-„Blechbüchse“ grässlich. So etwas Durchschnittliches stehe doch überall herum, während eine rund 500 Meter lange und weltweit nahezu einmalige Opel-Fabrikhalle unbedingt erhaltenswert gewesen wäre – als mächtiges Zeichen und ebenso ästhetisches wie lebensweltliches Statement fürs unbeugsame Selbstbewusstsein des Reviers.

Zur Erinnerung: Das 1962 fertiggestellte Bochumer Opel-Werk verhieß dem Ruhrgebiet in der Zechenkrise sichere Arbeitsplätze anderer Sorte. Den jetzigen neuerlichen „Strukturwandel“ sehen Anwohner und frühere Opel-Arbeiter mit sehr gemischten Gefühlen, Zuversicht und Skepsis halten sich die Waage. Jedenfalls kann das zögerliche Vorgehen in Detroit wohl keine ernsthafte Alternative sein.

Menschen, die sich „irgendwie“ durchbringen: der Inhaber des Baumarktes (rechts) und ein befreundeter Kunde, der gerade seine behinderte Tochter verloren hat… (© loekenfranke Filmproduktion)

Begegnungen mit einem „anderen Amerika“

Eine ausgesprochene Stärke des in den US-Passagen deutsch untertitelten Films ist es, die betroffenen Menschen freimütig für sich sprechen zulassen. Daraus entstehen einige bewegende „Erzählungen“, so etwa die Geschichte(n) eines liebenswert kernigen Typen, der seit Jahrzehnten im Detroiter Autobezirk eine Art Tante-Emma-Baumarkt (Schraubenhandel & Artverwandtes) betrieben hat und nun den Laden schließen muss, weil alle Welt nur noch online kauft. Diesem auf seine ganz eigene Art lebensweisen Mann könnte man sehr lange zuhören. Solche Begegnungen sind vielleicht gar geeignet, in unseren Köpfen ein etwas anderes „Amerika“-Bild entstehen zu lassen. Das gilt auch für die Imbisskellnerin, die sich – zeitweise parallel mit zwei Jobs – mühsam über Wasser hält (Hungerlohn: 3,20 Dollar pro Stunde ohne Trinkgeld) und an der Heroinsucht ihres Sohnes verzweifelt: „It is the door to hell.“ Da möchte man heulen.

Generell zeigt sich, welche Verheerungen das mangelhafte US-Sozialsystem angerichtet hat. Massenhaft campieren Obdachlose unter den Brücken, der Film zeigt dieses Elend aus diskreter Distanz. Der Himmel oder was auch immer bewahre uns vor dem weiteren Fortgang solcher Entwicklungen.

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Der Film läuft u. a. hier:

Bochum, endstation (Wallbaumweg 108): endstation-kino.de
Bochum, Casablanca (Kortumstraße 11, im „Bermuda-Dreieck“): casablanca-bochum.de
Dortmund, Sweet Sixteen im „Depot“ (Immermannstraße 29): sweetsixteen-kino.de
Essen, Filmstudio Glückauf (Rüttenscheider Str. 2): filmspiegel-essen.de
Münster: Cinema/Kurbelkiste (Warendorfer Str. 45-47): cinema-muenster.de

…und vielleicht auch in Eurer Stadt.




Vom Verschwimmen des Privaten: Paul Hindemiths Satire „Neues vom Tage“ in Gelsenkirchen

Vor dem Bad noch schnell ein Selfie: Eleonore Marguerre in Paul Hindemiths „Neues vom Tage“ in Gelsenkirchen. (Foto: Monika Forster)

Die Badewanne war’s. Sie ließ Paul Hindemiths „Neues vom Tage“ zum Skandal werden. Eine Frau, die nackt und schaumbedeckt Männer empfängt, das erregte den wohlgesitteten deutschen Bürger der Weimarer Zeit: Ein bisschen gucken und sich empören.

In Berlin war die „Zeitoper“ zwar nicht sonderlich erfolgreich. Aber den nur 15 Wiederholungen an der Kroll-Oper folgten, so Hindemith selbst in einem Interview, „allenthalben zahlreiche Aufführungen, bis schließlich das nazistische Allerneueste vom Tage ihr vorläufig den Garaus machte“.

Jetzt setzt das Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen dem „Garaus“ etwas entgegen und bringt Hindemiths „lustige Oper“ mit einer leider mäßig besuchten, aber begeistert gefeierten Premiere wieder in die Diskussion. Und siehe da, die 92 Jahre alte Satire auf die großstädtische Gesellschaft von damals erweist sich als überraschend vital. Mag zwar sein, dass die Ehescheidungs-Problematik, aus der Kabarett- und Revueautor Marcellus Schiffer sein Libretto entwickelt, heute nicht mehr den prickelnden Ruch von damals mitbringt. Aber im Zeitalter von social media, Selfies und überwachten Räumen, medialer Allgegenwart und konstruierter Realität erweist sich als ungebrochen aktuell, wie Hindemith und Schiffer das Verschwimmen von Öffentlichem und Privatem, Authentischem und Inszeniertem mit den Mitteln karikierender Überspitzung aufs Korn nehmen.

Die inhaltliche Klammer über die Epochen hinweg spiegelt sich schon zu Beginn in der Bühne von Dirk Becker: In Hintergrund fahren Hochhäuser auf, wie sie Ende der zwanziger Jahre auch in deutschen Großstädten entstanden. Die Spielfläche wird abgegrenzt von Elementen aus der „Neuen Sachlichkeit“, dem Kubismus und der Konkreten Kunst, reduziert auf schmucklose Elemente aus geometrischen Formen. Sie bewegen sich wie Maschinenkunst von selbst oder brechen, von Statisten verschoben, die Illusion des Theaters. Aber die expressionistische Anmutung wird relativiert: Ein Fernseher flimmert, und später ziehen die Videos von Moritz Hils eine neue Ebene medialer Gegenwart ein, wenn sie private Smartphone-Kurznachrichten oder Instagram-Clips übergroß für das Publikum – also öffentlich – sichtbar machen.

Romantische Liebe? – Nein, danke.

Punkt Neun wird die Maschinerie der Bürokratie angeworfen … (Foto: Monika Forster)

Jula Reindells Kostüme bewegen sich zwischen Revuefummel der dreißiger Jahre, unauffälliger Büromode der Fünfziger und Boxershorts der Gegenwart und lassen so Zuschreibungen bewusst außen vor. Auch Sonja Trebes benutzt in ihrer Inszenierung Accessoires unterschiedlicher Epochen: Aufgezeichnet wird mal mit einer altmodischen Videokamera, mal mit dem Smartphone. Die berüchtigte Szene im Bad bleibt erst überaus diskret. Bis sie sich zu einem grotesken social-media-Event steigert: Wie bei so mancher digital bekannt gemachten Teenie-Geburtstagsparty locken Tweets allerlei Schaulustige an, die in bizarr überzogener Nacktheit das Bad füllen. Authentizität und Camouflage: Das Thema spiegelt sich im Kostüm. Einzig wirklich Nackter ist Tobias Glagau, der Laura, der kompromittierten Ehefrau im Bad, die Wanne streitig macht.

Wir nehmen heute wohl eher amüsiert wahr, was die Zuschauer von 1929 geschockt haben muss: Die Vorstellung einer romantischen Liebe wird gnadenlos dekonstruiert. Beklemmender ist, dass Emotion bedeutungslos ist, mit Menschen pragmatisch, geschäftsmäßig aus der Sicht des nur noch auf sich bezogenen Vorteils umgegangen wird. Laura und Eduard, frisch verheiratet, verlieren ihre gegenseitige Attraktion schon im ersten Krach; Herr und Frau M., zunächst lustvolle Voyeure der lautstarken Auseinandersetzung, zerstreiten sich ebenso flugs und keifen mit denselben Schimpfworten wie das junge Paar vorher aufeinander ein. Jetzt geht es nur noch darum, die Scheidung möglichst unkompliziert hinter sich zu bringen. Für den Scheidungsgrund sorgt ein eingekaufter Dienstleister, der schöne Herr Hermann – und nur zu diesem Zwecke liegt Laura im Bad.

Zu dumm, dass sich Gefühle nicht ausschalten lassen – doch Hindemith lässt kunstvoll in der Schwebe, ob Hermanns Liebesbeteuerungen echt sind oder zum Geschäft gehören. Inzwischen hat jedoch der Scheidungsskandal, medial befeuert, Fahrt aufgenommen und sich selbständig gemacht: Die Freiheit, ihre Beziehung zu regeln, haben Laura und Eduard verloren. Die Öffentlichkeit fordert die Fortdauer des Scheidungsdramas. Am Schluss flimmern nur noch Schlagzeilen über die Bühne.

Vereinnahmte Menschen

Sonja Trebes erzählt mit einigem Geschick, was sich tagtäglich an medial präsenten prominenten Paaren – Amber Heard und Johnny Depp lassen grüßen – durchexerzieren lässt. Sie zeigt, wie die Menschen selbst Privates in die Kanäle des Öffentlichen gießen, wie sie aber auch vereinnahmt, entmündigt und funktionalisiert werden. Sie mutieren zu einer unter anderen sinnlosen Headlines. „Ihr seid keine Menschen mehr, ihr seid das Neueste vom Tage“, heißt es im Libretto. Wahr oder vorgetäuscht, echt oder falsch, authentisch oder gekünstelt? Hindemith hebt lustig und lustvoll die Orientierung auf, und die nur manchmal etwas schüchtern zupackende Gelsenkirchener Inszenierung folgt ihm mit Vergnügen.

Schlagworte und Schlagzeilen bleiben: „Ihr seid keine Menschen mehr, ihr seid das Neueste vom Tage“, heißt es in Paul Hindemiths Oper. (Foto: Monika Forster)

Mit Spaß am satirischen Überschwang sind auch die Darsteller am Werk. Eleonore Marguerre darf ihren wohlklingenden Sopran an das saftige Pathos einer Tristan-Parodie verschwenden und die Vorzüge moderner Warmwasserversorgung preisen. Ihr Ehemann Eduard (Piotr Prochera) strengt sich an, Paragraphen zu zitieren und sich vibratosatt aufzuregen, weil er lieber einen Scheidungsgrund ohne Eifersucht gehabt hätte. Denn der „schöne Herr Hermann“ – natürlich ein Tenor (Martin Homrich) – gleitet bei seiner Dienstleistung, die Scheidung zu befördern, ins Private ab und gesteht seiner Mandantin „Liebe“. Das empört wiederum die frisch geschiedene Frau M.: Almuth Herbst sieht sich um ihre Hoffnungen betrogen und macht ihrem neuen Liebhaber in herrlich schrillem Outfit eine Szene. Adam Temple-Smith gibt sein Bestes, damit Herr M. im Scheidungs- und Versöhnungskarussell mithalten kann.

Der Chor ist von Alexander Eberle bestens präpariert, um Tippfräulein und Bürokraten darzustellen, deren vokale Mechanik auf die Sekunde genau Punkt neun Uhr in Gang gesetzt wird. Einen großen Tag hat die Statisterie des Musiktheaters im Revier: Sie kann sich, unterstützt von Andreas Langschs Choreografie, im Mob der Scheidungsshow-Zuschauer richtig austoben. Giuliano Betta hält die Neue Philharmonie Westfalen zu präziser Rhythmik an, die von einer Uraufführungs-Kritik gegeißelten „stechendsten und stachlichsten Staccati“ pieksen in Bettas verbindlicher Lesart die Ohren nicht gar zu schmerzhaft, die parodierte Wagner-Harmonik ist süffig ausgekostet und vom Piccolo über die Harfe und die damaligen „Mode“-Instrumente Banjo und Saxophon bis in die Bassregionen hinein perlen und purzeln die Soli behend und klangschön durch die rhythmischen Lücken der Partitur. Ein Abend, den man nicht verpassen sollte.

Weitere Vorstellungen: 14., 21., 29. Mai; 10., 25. Juni 2022. Info und Karten: https://musiktheater-im-revier.de/de/performance/2021-22/neues-vom-tage




Unermüdliche Suche nach Benachteiligung – „Cherchez la FemMe“ im Dortmunder Studio

Von links: Linda Elsner, Sarah Yawa Quarshie und Iman Tekle (Bild: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Angekündigt wird die Begegnung mit drei sehr unterschiedlichen Frauen, mit Claude Cahun, Josephine Baker und Eartha Kitt. Doch wenn das Spiel beginnt, läuft es ganz anders als geplant. Offenbar ist das Publikum zu früh gekommen, die auf der Bühne sind noch nicht fertig. Und das Licht ist auch noch nicht an.

Witzig? In Grenzen schon. „Cherchez la FemMe“ heißt das 75-minütige Spektakel im Studio des Dortmunder Theaters, das nach seinem verstolperten Anfang bald an Fahrt gewinnt. Und natürlich ist die orthographisch fragwürdige, selbstverständlich vieldeutige Schreibung des Titels absichtsvoll erfolgt.

„Kochshow“ mit (von links): Linda Elsner, Iman Tekle, Sarah Yawa Quarshie und Christopher Heisler (Bild: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Weibliche Identität

Recht offenkundig geht es, wie mittlerweile oft im Dortmunder Theater, um die geschlechtliche Identität, vor allem jedoch um vorgebliche Unterdrückung, Vermeidung, Diffamierung der weiblichen Anteile eines jeden Menschen. In einer „Kochshow“ ist zu sehen, wie weibliche Identität „seit 800 Jahren“ aus diskriminierenden, minderwertigen Zutaten entsteht, zusammengebraut (vermutlich) von weißen alten Männern. In Wirklichkeit aber soll es eine solche weibliche Identität gar nicht geben, ihre Definition sei lediglich ein Unterdrückungsmechanismus, behauptet diese Szene. Na gut.

Hier dreht es sich um Hannah Arendt. Szene mit (von links) Linda Elsner, Iman Tekle, Christopher Heisler und Sarah Yawa Quarshie (Bild: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Hannah Arendt

Es irritiert, dass wir nun jedoch Hannah Arendt begegnen, von der man zumindest weiß, dass sie eine bedeutende Geisteswissenschaft-lerin war, dass sie ein Verhältnis mit Martin Heidegger hatte, dass sie den Eichmann-Prozess verfolgte, ein Buch darüber schrieb und ihr Satz von der „Banalität des Bösen“ geradezu populär wurde. Auf der Bühne, wo eine Darstellerin Hannah Arendt spielt, während die anderen ohne Rollenzuweisungen bleiben, geht es aber offenbar vor allem um ihr weibliches Selbstverständnis im männlich dominierten Wissenschaftsbetrieb. Sie soll sich wohl nicht benachteiligt gefühlt haben, kann das denn stimmen? Letztlich bleibt die Antwort aus, sie wäre von der Anlage der Szenen her auch kaum möglich. Denn Schauspiel – mit der Betonung auf Spiel – findet an diesem Abend nicht statt. Statt dessen wird in Richtung Publikum deklamiert und monologisiert, meistens solistisch, gelegentlich aber auch im Chor, anklagend und vorwurfsvoll.

Zeigt komisches Talent: Christopher Heisler (Bild: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Zum Glück mit Spaßfaktor

Glücklicherweise haben die Autorinnen vom Kollektiv „Operation Memory“ (Julienne De Muirier, Alexandra Glanc und Maria Babusch, alle auch Regie) einen kräftigen Spaßfaktor in ihren Theaterabend eingebaut. „Cherchez la FemMe“ ist auch eine Bühnenshow, in der die Darsteller, drei Frauen und ein Mann, zu Titeln wie „New York, New York“ erheiternde Tanzeinlagen liefern. Bei Josephine Baker ginge es ja gar nicht ohne. Auch Eartha Kitt, von der man Titel wie „Santa Baby“ oder „C’est si bon“ im Ohr hat und die als gleichermaßen erotische wie wehrhafte Cat Woman Karriere machte, vollzieht ihren Bühneneinsatz höchst körperbetont. Von Leonard Cohen hört man dazu „I’m Your Man“ vom Band.

Eine Produktion mit erheblicher Flüchtigkeit

Textpassagen gelangen zum Vortrag, die die Frauen von „Operation Memory“ den beschriebenen Künstlerinnen biographisch zuordnen, mehr oder weniger jedenfalls, Texte voller Verlusterfahrung und Zorn. Ob das alles so stimmt, und ob das passt, wer weiß? Vielleicht ist der eine oder andere Satz durchaus bedenkenswert. Doch wohnt dieser Produktion erhebliche Flüchtigkeit inne, die ein gründlicheres Nachschmecken schwer macht.

Sehr unglücklich

Ein wenig anders verhält es sich lediglich bei der Fotografin und Schriftstellerin Claude Cahun (1894 – 1954), der sich dieser Abend mit etwas mehr Ernsthaftigkeit widmet und zu der es auch eine projizierte Bilderfolge zu sehen gibt. Sie soll, so legt das Stück uns nahe, mit ihrem Geschlecht, mit Geschlechtlichkeit schlechthin, sehr unglücklich gewesen sein. Und damit wäre man bei der zentralen Frage, nämlich, wie glücklich oder unglücklich Menschen in ihrer konkreten Existenz waren, sind oder sein könnten. Doch dieser Frage stellt sich dieser Abend, na sagen wir mal: kaum.

Fleißiges Bühnenpersonal

Die Schauspielerinnen heißen Sarah Yawa Quarshie, Linda Elsner und Iman Tekle. Einsatzfreude kann allen Darstellern attestiert werden, bei Christopher Heisler, dem einzigen Mann auf der Bühne, blitzt zudem immer wieder dezentes komödiantisches Talent hervor.

Gelangweilt hat man sich nicht, schlauer geworden ist man aber auch nicht. Anhaltender, naturgemäß begeisterter Uraufführungsbeifall.




Auf der Suche nach dem Schicksal – „Sibyl“ von William Kentridge bei den Ruhrfestspielen

(Foto: Stella Olivier/Ruhrfestspiele)

Papier spielt eine wichtige Rolle, Zettel, Blätter, Formulare. Der Film zeigt den südafrikanischen Künstler William Kentridge, wie er mit Kohle auf alten Blättern malt, handschriftlich geführte Listen offensichtlich, bei denen nicht klar wird, was aufgelistet ist.

Bald schon merken wir, daß dieser zunächst ganz real daherkommende Film mit hübschen Trickelementen garniert ist; gleich zweifach taucht der Künstler auf, der einerseits energisch den Stift schwingt, stäubt, tupft, andererseits sich kopfschüttelnd dabei beobachtet.

Was singen sie denn?

Die gezeichneten Figuren in seinen Bildern tanzen, laufen, schuften, und all dies wird sehr schön unterlegt vom Gesang einer – real existierenden! – fünfköpfigen Herrengruppe samt Klavierbegleitung auf der Bühne. Der Gesang hat Dynamik, hat Soli und auch so etwas wie eine Klimax. Leider erfährt das Publikum nicht, was die Herren singen, und das ist schade, aber vermutlich auch gewollt. Das Stück bleibt hier im Gefühlig-Ungefähren. Und schon ist der erste Teil zu Ende. Pause im Stück „Sibyl“, das im Programm der diesjährigen Ruhrfestspiele den Anfang macht.

Netter Trick: Gleich zweimal William Kentridge bei der Arbeit (Foto: Stella Olivier/Ruhrfestspiele)

20 Minuten mehr

„Sibyl“ wurde angekündigt mit einer Länge von einer Stunde 20 Minuten inklusive Pause, was nicht eben viel ist. Etwas länger dauert es dann aber doch, so um die 20 Minuten.

Der äußerst sparsam ausgestattete Programmzettel spricht von der zweiten Hälfte als einer „Kammeroper“ namens „Waiting for the Sibyl“. Und er wartet mit starken, intensiven Bildern auf, von denen viele durch ausgeklügelte Projektionen entstehen. Allerdings, hier zeigt sich Kentridge als Maler und Zeichner, werden sie in ihren strengen Kompositionen letztlich nicht verändert, obwohl mehrere Male viel szenische Bewegung in ihnen ist. Die Bilder entstehen und vergehen. Wunderschöner Gesang ist zu hören, kraftvoll, manchmal frech, manchmal auch sehr traurig. Gern würden wir sagen, wer die Sängerin war, die hier so herzzerreißend sang, doch geizt das Programm mit Informationen über Künstler und Texte.

Prophetin Sibyl von Cumae

Bevor wir jetzt weitere Ausstellungsdetails behandeln, muß wohl erzählt werden, worum es bei „Sibyl“ eigentlich geht. Sibyl hieß mit vollem Namen Sibyl von Cumae, war Prophetin von Beruf und schrieb, was sie in der Zukunft erblickte, auf Eichenblätter, die sie vor ihrem Höhleneingang stapelte. Der Wind aber mischte die Blätter kräftig durch, und wenn nun jemand so ein Sibyl-Blatt fand, konnte er keineswegs sicher sein, daß die Prophezeiung tatsächlich ihn betraf oder einen anderen Menschen. Es ist dies also ein Spiel mit der Geworfenheit, dem Zufall, dem unsinnigen Irrglauben der Menschen an ihre Bestimmtheit, wiewohl: In ganz bestimmten Konstellationen würden die Botschaften ja stimmen.

Schön gesungen, schön getanzt

Überwältigende, oft bewegliche Projektionen (bis auf einige akzentuierende Farbtupfer schwarzweiß) wechseln ab mit dunkelbunten Bühnenszenen, die, so könnte man es vielleicht deuten, Menschen in ihrem Streben nach Zukunftswissen zeigen. Doch vieles bleibt verschwommen, ahnungsvoll, doch unausgesprochen. So tanzt, sehr reizvoll anzusehen, eine Tänzerin aus Fleisch und Blut (Nhlanhla Mahlangu, auch Regie) wie in Trance mit einer projizierten, gezeichneten Kollegin lang anhaltend eine Art Duett.

Es gibt kräftige, aber uneindeutige Andeutungen von Handlungsorten wie einem Büro oder einer Straßenszene, in denen Personen laut und aufgekratzt  Blätter aufsammeln, herumtanzen, herumtaumeln. Und immer wieder, eigentlich permanent, gibt es (englischsprachige) Zettel, deren Inhalte dankenswerterweise übersetzt und über der Bühne projiziert werden: „Wait AGAIN for Better GODS“ wäre einer von ihnen, „Der Winter endet um 11 Uhr“ ein anderer. Was sagt uns das? Viele Zeilen strotzen vor Banalität und wären problemlos in einen Schlagertext von Roland Kaiser integrierbar. Oder gib es einen verborgenen Subtext?

Tragik des  Menschseins

Und ist das hier jetzt „typisch südafrikanisch“? Immer wieder hat William Kentridge, weißer Südafrikaner, sich in seiner Arbeit mit Apartheid, Unterdrückung und Ausbeutung in seinem Heimatland befaßt. Doch abgesehen von der Musik und davon, daß hier mit Ausnahme des Pianisten ausschließlich dunkelhäutige Personen agieren, ist ein ausschließlicher Südafrika-Bezug eigentlich nicht auszumachen. Prügelcops à la Romeo Castellucci (sein Stück „Bros“ lief parallel im Kleinen Haus) sind hier an diesem Abend nicht unterwegs. Eher fühlt man sich konfrontiert mit der Tragik des Menschseins an sich, egal wo auf diesem Planeten.

Unverwechselbare Stilmittel

Kentridge, in diesem Punkt gleichen seine Arbeiten denen etwa von Robert Wilson und manchen Tanztheatern, arbeitet mit einem großen Bauchladen unverwechselbarer Stilmittel, zu denen – natürlich – seine gezeichneten und häufig animierten Bildvorlagen auf „gebrauchtem“ Papier gehören, scherenschnitthafte Gestalten, archaische Megaphone, Hochsitze und ein bißchen Zahnrad- und Kettentechnik hier und da. Oft auch kennzeichnet seine Arbeit durchgängige Bewegung, wie es exemplarisch bei der Ruhrtriennale 2019 im Stück „The Head and the Load“ zu erleben war, wo eine nicht endende Figurenkarawane als Projektion und Schattenspiel über die Bühne zog. Eingefleischte Kentridge-Fans – doch, doch, die gibt es! – haben das in Recklinghausen vermißt.

Ungewöhnlicher Start

Letztlich ist es erstaunlich, daß die Ruhrfestspiele 2022 mit einem Gesamtkunstwerk wie „Sibyl“ beginnen, traditionell hätte es eher in die Jahrhunderthalle gepaßt. Doch warum nicht? In den nächsten Tagen geht es vergleichsweise traditionell weiter. In „Annette, ein Heldinnenepos“ (ab 12. Mai) begegnen wir in der Titelrolle der wunderbaren Corinna Harfouch, und „Eurotrash“ (ab 20. Mai) mit Angela Winkler und Joachim Meyerhoff wird ein Theaterfest. Da hat das Programmbuch nicht übertrieben.

  • Wahrscheinlich ist alles ausverkauft. Trotzdem, für alle Fälle, die Termine:
  • „Annette, ein Heldinnenepos“: 12., 13., 14. Mai
  • „Eurotrash“: 20., 21., 22. Mai
  • Tel. 02361 / 92180
  • www.ruhrfestspiele.de



„Wir haben kein Recht auf Ruhe“ – Peter Handke und seine traurigen Engel erzählen weiter

„Genug jetzt ins Leere geschaut“, murmelt der eine. Doch von Leere kann keine Rede mehr sein. Alles hat sich inzwischen bevölkert, die Unsichtbaren wurden sichtbar, die Engel verwandelten sich in Erdlinge.

Doch die Träumer, die einst durch den „Himmel über Berlin“ schwebten und die Wünsche und Hoffnungen der Menschen lenkten, wollen weiter spielen, sich immer wieder aufs Neue eine Welt aus Sprache bauen und eine Wirklichkeit aus Fantasie. „Wahr gesagt, alter Freund: Zwei besondere Narren sind wir, ein jeder auf seine Weise.“ Also beschließen die beiden untoten Mimen, die noch immer die Gedankenwelt ihres Schöpfers bewohnen: „Auf, spielen wir weiter die Narren“, erzählen wir uns und allen, die zuhören, was wir erlebt und erlitten, gesehen und erfunden haben.

Peter Handke schrieb einst das Drehbuch für „Der Himmel über Berlin“: ein Kult-Film, mit dem die Welt-Karriere von Wim Wenders Fahrt aufnahm. Bruno Ganz und Otto Sander taumelten als traurige Engel durch eine damals noch von der Mauer getrennte Stadt, spendeten Trost, verschenkten Liebe, stiegen hinab in die Abgründe des Vergessens.

In diesem literarischen Kosmos muss man sich auskennen

Jetzt sind sie wieder da. Literaturnobelpreisträger Peter Handke hat ihnen sein „Zwiegespräch“ gewidmet und sie als Mit-Erzähler ins Geschehen verwickelt. Aber was geschieht eigentlich? Wovon berichten die beiden reanimieren Engel? Schwer zu sagen, kaum zu entschlüsseln. Jedenfalls nicht für Leser, die sich nicht auskennen im weit verzweigten Handke-Universum. All die Erinnerungen und Bilder, die kurz aufscheinen und wieder verglühen, all die Reminiszenzen an ein vernebeltes Früher, all das Rumoren über literarische Kunstgriffe und filmische Tricks, schauspielerische Finessen und erzählerische Finten: nur zu verstehen, wenn man mit Handke das „Wunschlose Unglück“ ertragen, in der „Niemandsbucht“ geschlafen, das „Gewicht der Welt“ gestemmt, „Die „morawische Nacht“ erkundet, das Summen der „Hornissen“ vernommen, den „kurzen Brief zum langen Abschied“ studiert, die „Obstdiebin“ auf ihrem Weg ins Landesinnere begleitet hat.

Des Dichters Wanderung durchs eigene Gesamtwerk

Handke erinnert sich an ein Theaterbesuch in der Kindheit, nicht an das Stück, sondern nur an Dekor, Kulisse und die „Stunde der wahren Empfindung“, die das Schauspiel in ihm ausgelöst hat. Jetzt wandert er zusammen mit seinen beiden alten Weggefährten noch einmal durch sein Gesamtwerk, führt ein „Zwiegespräch“ mit all den Menschen, die er in Literatur verwandelt hat. Denkt an die Mutter und den Großvater, an die Kindheit als Kärntner Slowene, fantasiert noch einmal „Die winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina“.

Die schnatternden, spielenden Narren sind immer dabei, reden dazwischen, verschieben die Kulissen, halten alles für „Blödsinn“ und „Hirngespinste“. Hört man da etwa so etwas wie Selbstkritik heraus? Man weiß es nicht. Eigentlich weiß man gar nichts. Nur dass Handke und seine zwei zum Leben wieder erweckten Spießgesellen einfach nicht mit dem Spiel der Fragen und des Zweifelns aufhören wollen: „Wir haben kein Recht auf Ruhe. Unsereiner hat auf Ruhe kein Recht.“

Peter Handke: „Zwiegespräch“. Suhrkamp, Berlin 2022, 68 S., 18 Euro.




Fall ohne Fallhöhe in Gelsenkirchen: Gabriele Rech verpasst „Madama Butterfly“ ein neues Ende

Hochzeits-Show für den Fremden im ersten Akt von Puccinis „Madama Butterfly“ in Gelsenkirchen. (Foto: Björn Hickmann)

Irgendwann musste es so kommen: Am Ende von Giacomo Puccinis „japanischer Tragödie“ richtet Madama Butterfly den Dolch nicht gegen sich selbst, sondern sticht den hereinstürzenden Pinkerton ab. Damit macht Regisseurin Gabriele Rech das Opfer zur Täterin, nimmt ihr die Fallhöhe.

Tatsächlich ein „Schritt in Richtung Unabhängigkeit“, wie das Programmheft der neuesten Produktion des Gelsenkirchener Musiktheaters im Revier meint? Eher eine jener aufgesetzten Ideen, deren hervorstechender Wert die Neuheit ist.

Der Reihe nach. Dirk Beckers Bühne signalisiert von Anfang an: Hier wird „Japan“ für Touristen mit speziellen Interessen inszeniert. Papierwände und Kirschblüten als Deko, ein Podium, mit silbernem Glitter verhängt. Grotesk auf eine Wand vergrößert, gehört auch Katsushika Hokusais zum Kitsch verkommene „Große Welle von Kanagawa“ zum Inventar. Japanerinnen in bunten Folklore-Kostümen (Renée Listerdahl) trippeln herein. Ein paar Damen hängen an einer reichlich mit Flaschen ausgestatteten Bar ab. Der passend geschmeidig singende Goro (Tobias Glagau) vermittelt nicht nur Quartier, wird mit dem vergnügungswilligen B.F. Pinkerton schnell handelseinig. Immer wieder wechselt Geld die Hände.

Die Kolleginnen verfolgen interessiert die Show der Madama Butterfly. Die „Verwandten“ der arrangierten Hochzeit können ihr Kichern kaum verbergen. Und Michael Heine wirft sich als wütender Onkel Bonze mächtig ins Zeug. Wer für einen kurzen Moment glaubt, jetzt werde es ernst und die Galerie über der Szene repräsentiere eine Art inneres Gewissen der Cio-Cio-San, verliert diese Illusion schnell. Die „Bekehrung“ Butterflys zur Religion des Amerikaners gehört ebenso zum Spektakel wie das mit Gelächter verkündete Lebensalter von 15 Jahren. Zum Höhepunkt: Liebesduett mit falschen Papierampeln und Thomas Ratzingers Stimmungslicht.

Die tiefe Liebe an der Bar? In Puccinis „Madama Butterfly“ am Musiktheater im Revier bleiben Fragen offen. Ilia Papandreou (Cio-Cio-San) und Carlos Cardoso (Pinkerton). (Foto: Björn Hickmann)

Als die Show im zweiten Akt zu Ende ist, das Papier zerfetzt, die Bar geleert, stellt sich die Frage: Warum hängt „Madama Butterfly“ noch in diesem Ambiente herum, angetan mit der abgeschabten Uniformjacke ihres in die USA entschwundenen „Gatten“? Wie ist es möglich, dass ein professionelles Showgirl sich mit Haut und Haaren an einen Kunden verliert und seit fast drei Jahren auf die Rückkehr des Marineleutnants wartet? Woher ein solches fundamentales Missverständnis?

Calixto Bieito hat einst an der Komischen Oper – die Musik Puccinis bewusst missverstehend – Butterflys Strategie von Anfang bis Ende ausinszeniert: Ziel war es, mit einer Green Card rauszukommen aus ihren Milieu. Was Gabriele Rechs „Butterfly“ bewegt, aus Sehnsucht an der Flasche zu hängen, erschließt sich nicht. Und wenn sich im Duett „Bimba, dagli occhi pieni di malia“ der psychologische Schalter in Richtung schwärmerisch-radikaler Liebe umgelegt haben sollte, bleibt die Inszenierung diesen Moment schuldig.

Puccinis Oper über eine existenzielle Tragödie ließe sich wohl auch als soziales Drama erzählen, wäre da nicht die Perspektive des Komponisten, der alle Figuren auf Cio-Cio-San als Zentrum ausgerichtet hat. Rech entwertet die innere Katastrophe der Butterfly. Pinkertons Handeln erscheint in diesem Kontext durchaus verständlich und konsequent pragmatisch, wenn er mit der eingekauften Braut von früher nichts mehr zu tun haben will und bei seiner Rückkehr ein paar große Scheine als Kompensation hinterlässt. Er ist Geschäftspartner in einem Sex-Deal, nicht der gedankenlose Chauvi, der ein gewaltiges Missverständnis auslöst. Dass Butterfly am Ende zusticht, statt den Ehrenkodex ihrer alten Kultur im Suizid zu realisieren, ließe sich in der Tat als Chiffre für eine Befreiungstat lesen. Aber dazu müssten die Signale in der Inszenierung anders gesetzt werden.

Giuliano Betta am Pult der Neuen Philharmonie Westfalen unterstützt im ersten Akt die Atmosphäre der Vorspiegelung, indem er Puccinis Musik so unemotional wie möglich ablaufen lässt: kantig, bisweilen laut, mit wenig Raffinesse in Artikulation und Phrasierung, aber mit Sinn für Details, die das Orchester klarsichtig ausmusiziert. Später findet Betta das organische Pulsieren von Puccinis Metrum; die Lautstärke könnte jedoch subtiler geregelt werden. Den Solisten und dem trefflich agierenden Chor von Alexander Eberle wäre damit geholfen.

Ilia Papandreou hat als Cio-Cio-San den ironischen Tonfall des ersten Auftritts ebenso verinnerlicht wie die weiten Kantilenen ihrer sehrenden Sehnsucht. Wenn die Töne auf dem Atem ruhen, erschafft sie magische Momente intensiven Gesangs. Carlos Cardoso als Gast vom Aalto-Theater Essen bringt für den Pinkerton keinen warm strömenden, sondern einen wie Kristall strahlenden Tenor mit, besingt „America forever“ mit einiger Anstrengung und gestaltet „Addio fiorito asil“ eher kühl als – je nach Lesart – wehmütig oder larmoyant gefärbt. Butterflys Dienerin Suzuki bleibt in dieser Inszenierung eine Randfigur, mit ehrwürdigen Reifespuren gesungen von Noriko Ogawa-Yatake, die vor mehr als 20 Jahren, ebenfalls in einer Inszenierung von Gabriele Rech am Musiktheater im Revier, die Titelpartie verkörpert hatte. Zur Blässe verurteilt bleibt auch der Sharpless von Petro Ostapenko.

Könnte doch sein, dass  die unbändige kreative Energie künftiger Butterfly-Regieführenden zu noch originelleren Lösungen führt: Vielleicht ersticht Suzuki demnächst die abtrünnige Butterfly, oder gleich Pinkerton mit dazu? Könnte nicht Sharpless die beiden Frauen erschießen und über ihren Leichen die Hände Pinkertons schütteln? Oder werten wir mal die Randfigur der Kate Pinkerton auf (Scarlett Pulwey hätte sicher nichts dagegen gehabt) und lassen sie ihren unmöglichen Ehemann abknallen? Auf, auf ins Terroir der Deutungen, die gute alte Oper ist noch lange nicht am Ende!

Weitere Vorstellungen: 20., 22., 28. Mai, 18. Juni 2022. Info und Karten: Tel.: 0209/4097-200, www.musiktheater-im-revier.de