Louis Klamroth und das hitzige Klima beim WDR

Louis Klamroth, seit 9. Januar 2023 Moderator bei „hart aber fair“. (Foto: © WDR/Thomas Kierok)

Dies vorangeschickt: Ich bin froh, dass es im Westen den WDR gibt und wir nicht nur von privaten Dudelsendern beschallt oder beflimmert werden. Jedoch war ich mit dieser Präferenz früher deutlich mehr im Reinen als jetzt, hat sich der Westdeutsche Rundfunk doch vielfach mit seinem Niveau abwärts anbequemt.

So bangt man denn auch zusehends (nicht nur) mit diesem öffentlich-rechtlichen Sender, dass er sich mit seinem Gebaren bitte nicht noch angreifbarer mache und damit allerlei Populisten auf den Plan rufe, die ihm am liebsten gleich den Geldhahn zudrehen wollen.

Der neueste Vorfall in dieser unguten Richtung dreht sich um die montägliche TV-Sendung „hart aber fair“, genauer: um Louis Klamroth (33), der die Talkrunde kürzlich als Nachfolger des langjährigen Moderators Frank Plasberg übernommen hat und (nebenbei bemerkt) bei seiner Premiere recht handzahm zu Werke gegangen ist.

Liiert mit der „Aktivistin“ Luisa Neubauer

Na und? Ist nicht dennoch alles in bester Ordnung? Nicht ganz. Klamroth hat offenbar in der Einstellungsphase verschwiegen, was wohl nur Insidern bekannt gewesen sein dürfte: Er ist mit der Klima-„Aktivistin“ Luisa Neubauer liiert. Da mag der Verdacht keimen, dass er – zumindest bei bestimmten Themen – in Interessenkonflikte gerät. Gut möglich, dass ihm das auch selbst bewusst gewesen ist, sonst hätte er ja rechtzeitig aktiv darauf hinweisen können. So aber hat er die öffentliche Bekanntgabe seiner beruflichen Veränderung erst einmal abgewartet und erst danach verraten, was eventuell gegen die Regeln des Senders verstößt.

Gewiss: Louis ist nicht Luisa, er hat seinen eigenen Kopf und sein eigenes journalistisches Ethos. Dennoch bleibt ein mulmiges Gefühl: Warum hat er nicht zeitig für Transparenz gesorgt? Er hätte damit etwaigen Widersachern den Wind aus den Segeln nehmen können. Oder er hätte den lukrativen Job vielleicht gar nicht erst bekommen…

Das Ganze schlägt jetzt hohe Wellen, wenn man einem Bericht der springerschen „Welt“ glauben darf. Der Rundfunkrat des Senders scheint demnach bereit zu sein, in seiner nächsten Sitzung am Dienstag (31. Januar) die WDR-Chefetage (Intendant Tom Buhrow, Programmdirektor Jörg Schönenborn) frontal zu attackieren. Ein Teil, wenn nicht eine Mehrheit des Aufsichtsgremiums moniert nicht nur die verspätete Bekanntgabe der Beziehung Klamroth/Neubauer, sondern auch und vor allem die Tatsache, dass Buhrow und Schönenborn trotz allem unverdrossen (oder auch stur) an Klamroth festhalten.

Wann die Regeln gelten – und wann nicht

Die Einlassung der WDR-Spitze mutet grotesk und rabulistisch an. Laut „Welt“ machen die Bosse geltend: „Klamroth sei schließlich erst nach seiner Vertragsunterzeichnung Mitarbeiter des WDR geworden – vorher hätten die Regeln für ihn nicht gegolten.“ Aber vielleicht just m i t der Vertragsunterzeichnung? Welch schönes Thema für juristische Debatten!

Ungeschickt auch der Umgang des WDR mit einer weiteren Entgleisung, die der Rundfunkrat ebenfalls als Thema aufrufen will. Dabei geht es laut „Welt“ um den Fall eines anderen WDR-Moderators, der in seinem Instagram-Kanal ein Video mit der Titelzeile „Die CDU ist unser Feind“ eingestellt hat. Dazu der WDR an die Adresse der „Welt“: Der Sender übernehme „keinerlei Verantwortung für die privaten Äußerungen von wem auch immer.“ Da lässt sich nur noch mit Loriot antworten: „Ach was“.

Bliebe noch zu klären, welches Thema Louis Klamroth jetzt in „hart aber fair“ aufgreifen möchte. Doch nicht etwa…? Oh doch! Für den morgigen Montag (21 Uhr) angekündigt: „Letzte Abfahrt: Wie verändert die Klimakrise Alltag und Leben?“ *

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  • Auf der Gästeliste des Klima-Talks am Montag, 30. Januar 2023 (ARD, 21 Uhr):
  • Gitta Connemann, CDU-Bundestagsabgeordnete; Bundesvorsitzende der Mittelstands- und Wirtschaftsunion (MIT)
  • Sven Plöger, Meteorologe und ARD-Wetterexperte
  • Konstantin Kuhle, FDP, stellv. Fraktionsvorsitzender
  • Aimée van Baalen, „Aktivistin“ und Sprecherin der „Letzten Generation“

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Kurzer Nachtrag am Ende der Sendung:

Der Wahrheit die Ehre: Louis Klamroth hat sich keine Blöße gegeben und beim Klima-Thema die Neutralität – so gut es ging – gewahrt. Die „Aktivistin“ Aimée van Baalen musste es sich unter seiner Leitung gefallen lassen, dass sich die Mehrheit der Diskussionsrunde entschieden gegen sie und ihre kruden Ideen von einem „Gesellschaftsrat“ stellte. Ein solcher Rat aus Experten und „normalen Bürger*innen“ soll nach ihrer Auffassung in Klimafragen entscheidend sein – an allen gewählten parlamentarischen Gremien vorbei. Wer soll denn eigentlich die Zusammensetzung eines derartigen „Gesellschaftsrates“ bestimmen?

Noch’n Nachtrag

Nun wird eine etwas andere Version aus dem Hut gezaubert. Klamroth habe den WDR Ende August 2022 „über seine Beziehung informiert, deutlich vor Abschluss des Vertrages.“ (Zitat aus dem „Focus“)  Der WDR hatte freilich schon Mitte August seine Entscheidung für Klamroth veröffentlicht, jedoch seien die Vertragsgespräche erst zum Ende des Jahres abgeschlossen worden, heißt es vom Sender. So ähnlich muss es sich wohl anhören, wenn jemand rumeiert.

 




Schlüssige Psychologie: Verdis „Rigoletto“ in Wuppertal

Bereit zur Entführung der Tochter Rigolettos: die verkleideten Funktionäre von Mantua. (Foto: Wil van Iersel)

Die Hofnarren von heute sind die Berater und Medienmacher, die Duodzefürsten von damals findet man heute in Vorständen und auf Vorsitzendenposten. Dort lassen sie ihre grauen Männer nach Gusto tanzen. Im Wuppertaler „Rigoletto“ verformt Timofey Kulyabin, der mittlerweile im Exil lebende russische Regisseur, Mantua zu einem Zwergstaat der Nachsowjetära.

Das dunkel holzgetäfelte Machtzentrum, in diesem Fall eine Parteizentrale, erinnert mit protzigem Schreibtisch und Schummerlicht an den verblassten, altmodischen Repräsentationsstil, den jeder kennt, der zum Beispiel einmal in Josip Broz Titos Feriendomizil „Villa Bled“ in Slowenien genächtigt hat. Wie man in diesem Ambiente mit Frauen umgeht, macht schon die erste Szene klar. Dem Leitwolf gehören alle, und der beißt nicht eben sanft zu. Was die Gräfin Ceprano (Christiane Inhoffen) erwartet, ist kein Schäferstündchen, sondern eine Schändung.

Bis Sommer 2023 Intendant der Oper Wuppertal: Berthold Schneider. (Foto: Jens Grossmann)

Mit diesem „Rigoletto“ ist Kulyabin ein Coup gelungen, der heute vielleicht noch beklemmender wirkt als bei seiner Premiere 2016. Wuppertals zum Ende der Spielzeit scheidender Intendant Berthold Schneider hat also gut daran getan, die Produktion noch einmal aufzunehmen. Kulyabin analysiert die Figuren des Stücks scharfsichtig und überträgt ihre Eigenschaften in Verhaltensformen und Machtstrukturen der Gegenwart. So wird aus der körperlichen Entstellung des „buckligen“ Rigoletto eine seelische: Der Mann verkauft seine innersten Gefühle dafür, dazuzugehören, was am Ende in einer kurzen, hinzugefügten Szene verstörend offenbar wird.

Vittorio Vitelli schlängelt sich geschmeidig durch die Schar der Funktionäre, singt klar artikuliert mit schlankem Bariton und lyrischer Noblesse. Die Farben des Schmerzes, der Wut, der Zynismus gehen ihm ab, dazu fehlt der Stimme gestalterisches Potenzial. Dass sich in seiner Vaterliebe obsessive Züge mit einem Zwang zum Überbehüten mischen, macht Vitelli in der Begegnung mit seiner Tochter deutlich, die am Anspruch Rigolettos überfordert zerbricht.

Einmal Clown, einmal Sadist

Das Narrenkostüm trägt in dieser Version der Herzog; es ist eines der „costumi“, mit denen er seine Umwelt manipuliert. Später tritt er tatsächlich mit Herrschermantel und Kappe auf, um Gilda zu zeigen, wer er „wirklich ist“. Im vierten Akt deuten die Klamotten (Kostüme: Galya Solodovnikova) ein sadistisches Spiel mit Maddalena an, die von Iris Marie Sojer untadelig und entspannt gesungen wird. Nur ein wenig mehr Entspannung in der Stimme hätte man sich von Sangmin Jeon gewünscht: Der Tenor hat das präsente Draufgänger-Timbre für den Herzog, kann die Emission des Tones dosieren von unbekümmerter Leichtigkeit für „La donna é mobile“ bis zum offensiven Selbstbewusstsein von „Possente amor mi chiama“.

Der Boss (Sangmin Jeon, Mitte) hält Hof. (Foto: Wil van Iersel)

Auch szenisch gibt Jeon seiner Rolle – vom machtbewussten Chef über den brutal fordernden Verführer bis zum leichtfertigen Spieler – scharfes Profil. Das zeigt sich besonders in „Parmi veder le lagrime“, in der Kulyabins Regie eine Deutung ausschließt, die dem Herzog einen Anflug echter, tiefer Liebe zugesteht. Das faszinierend durchgestaltete Doppelspiel mit seiner erniedrigten Gattin – Hong-Ae Kim in der eingefügten stummen Rolle – verdächtigt die Musik Verdis der Täuschung und legt den wahren Charakter des Herzog jenseits seiner Verkleidungen frei. Insofern passt es zur Zeichnung dieser Figur, dass Jeon auf belcanteske Raffinesse verzichtet.

Der Tick ist kein Trick

Die kaum überwindbare Problematik, eine Person wie Gilda in einen heutigen Verständnishorizont zu übersetzen, löst Kulyabin nur scheinbar mit einem muffigen Trick des Regietheaters: Rigolettos Tochter lebt in der geschlossenen Psychiatrie, Giovanna (Ute Elisabeth Temizel) ist die fürsorgliche Ärztin, die dem in seine Welt versponnenen Mädchen mal ein nettes Abenteuer mit einem Studenten gewähren möchte und am Ende mit dem Tod bezahlt. Ralitsa Ralinova ist die hochgelobte Gilda – und demnächst die Violetta in „La Traviata“ – in Wuppertal, konnte aber am besuchten Abend ihre Stimme nicht klingen lassen.

Akiho Tsujii vom Mainfrankentheater Würzburg lieh ihr von der Seite Ton und Klang – und das auf sympathische, wohllautende und versiert gestaltende Weise. Dass Ralinova trotz Krankheit spielte, ist ihr hoch anzurechnen, denn die szenische Darstellung einer von Ticks und zeitweiligem Aussteigen aus der Realität gehandicapten Person lässt sich nicht in einer Stellprobe vermitteln. Aber so erklärt sich das Verhalten Gildas, die strikte Klausur, zu der Rigoletto seiner Tochter zwingt, sogar das Liebesopfer des Mädchens am Ende.

Kulyabin vermeidet jede metaphorische oder metaphysische Überhöhung. Seine auf psychologische Schlüssigkeit konzentrierte Personenanalyse ist bei Gilda wagemutig, aber gelungen durchgezogen. Von daher: Keine Regieverlegenheit, sondern Regiekonsequenz. Der Überwachungsmonitor des zwielichtigen Security-Mannes Sparafucile – Sebastian Campione gibt den „Fremden“ mit südlichem Aussehen, Salafistenbart und spröder Stimme – zeigt Gilda zur rechten Zeit für den Mord vor der Tür. Für solche Szenen hat Oleg Golovko auf der Bühne einen kahlen Nebenraum geschaffen: Dort verhandelt Rigoletto mit dem Auftragsmörder, beklagen die erniedrigten Frauen ihr Schicksal, lagert der Müllsack mit dem Mordopfer. Kulyabins Konzept, mag zunächst wie eine der übergestülpten „Subtext“-Erzählungen wirken, ist aber tatsächlich wie eine neue Haut, die sich geschmeidig über das Stück spannt und seine wahren Konturen offenbart.

Warten auf dramatischen Nachdruck

GMD Patrick Hahn. (Foto: Gerhard Donauer)

Im Graben waltet kein Geringerer als GMD Patrick Hahn, der sich mit „Rigoletto“ die italienische Oper geöffnet hat. Er nähert sich vorsichtig, in gemäßigten Tempi, gönnt dem kurzen Vorspiel keine drängende Dramatik. Auch im Lauf des Abends lässt dramatischer Nachdruck öfter auf sich warten – auf der anderen Seite hütet sich Hahn davor, Erregung durch Lärm vorzutäuschen. Das ist ein kluger Ansatz, der jedoch die mangelnde Markanz in den Violinen, die Formung einer energischen oder auf den Bogen achtenden Phrasierung, die Emanzipation von scheinbar begleitenden Figuren zu tragenden musikalischen Momenten nicht verhindern sollte. Schlüsselszenen wie Gewitter und Quartett im vierten Akt gelingen in sich, der große Entwicklungsbogen könnte noch eindringlicher geformt werden.

Nicht zu vergessen: Die Höflinge und der Chor der Wuppertaler Bühnen gefielen allesamt, weil sie sich auf die detaillierte Personenführung eingelassen und jeder ihrer Rollen damit Gewicht gegeben haben. Ein „Rigoletto“, der aus der Masse alltäglicher Aufführungen heraussticht und einen berührenden Zugang zum Schicksal der Menschen auf der Bühne eröffnet. Siehe da, das alte Melodrama lebt und Victor Hugos Personal erkennen wir auch in der Gegenwart wieder.

Weitere Vorstellungen: 5. und 18. Februar. Tickets: (0202) 5673 7666, www.oper-wuppertal.de




Lauter Sonderlinge – Hanns-Josef Ortheils „Charaktere in meiner Nähe“

Hanns-Josef Ortheil zählt zu den ganz wenigen deutschsprachigen Autoren dieser Zeit, die Milde walten lassen, die Hoffnung und Sympathie für ihr Romanpersonal hegen, aber dennoch nicht ins Seichte geraten. Damit nimmt Ortheil eine gewisse Sonderstellung in der ernstzunehmenden Literatur ein, in der allerlei Dystopien deutlich höher im Kurs stehen.

Ein ausgemachter Freund des Gelingens und Genießens, erkundet Ortheil in seinem neuesten Buch „Charaktere in meiner Nähe“ (Titel) einige Aspekte je besonderen Menschseins, die freilich ins Allgemeine der Gattung weisen. In 50 Miniaturen, jeweils nur ein bis drei Seiten umfassend, erkundet er ein Gebiet der Marotten, Spleens und Besessenheiten. Es ist kein leichtes Unterfangen, könnte der Schreibende doch geneigt sein, sich derlei Charaktere „zurechtzubiegen“, auf dass sie so recht ins typisierende Schema passen.

Alle leben in ihrer eigenen Welt

Wir begegnen jedenfalls lauter Leuten, denen eine „wesentliche Prägung“ eigen ist. Da sind zum Exempel: die „Aber-Sagerin“, die sich stets unter Vorbehalt äußert und Gegenreden parat hat; der „Appetitor“, den immerzu etwas Essbares lockt; das „Familientier“, das alles und jedes auf Kinder bezieht. Und so geht es fort und fort: Der „Hedomat“ ist allzeit auf die kleinen Freuden aus. Der „Codaist“ lebt im Bann permanenter Abschiede. Die „Ausreden-Virtuosin“ weicht in jeder Gesprächs- und Lebenslage aus. Der Neutrale entscheidet sich niemals eindeutig, der Kultivierte lässt nur das Erlesene gelten. Die Eilfertige ist allen Gelegenheiten und Gefahren voraus, sie hat immer schon „gegoogelt“, bevor es ernst wird. Die Italiensüchtige kennt eigentlich (nur) alles Italienische, die „Waldgängerin“ ist eine Puristin der Stämme, Äste, Zweige und Blätter. Ergo: Auf einem Felde sind sie alle unschlagbar, auf vielen anderen recht begrenzt. Jede(r) lebt in einer eigenen Welt.

Genug der Beispiele. Anhand der Worte wie „niemals“, „alles“, „immer“, „stets“ und „nur“ lässt sich schon ahnen, dass die Protagonisten samt und sonders von einer Passion (oder Abneigung) beherrscht werden, die sie am vollen Leben hindert. Auch ein Sprachkünstler und Könner wie Ortheil kann es nicht gänzlich vermeiden, dass solche stark geprägten Charaktere mitunter beinahe zur Karikatur geraten. So ergeht es auch Zeichnern, die das Typische hervorkehren wollen. Ortheil aber möchte gerade vermeiden, dass sich Verzerrungen ergeben.

Blinde Flecken, tote Winkel

Seine Figuren schildert der Autor freundlich, teilnehmend, manchmal sanft kopfschüttelnd, niemals jedoch verurteilend. Er breitet ein wahres Panoptikum, wenn nicht gar einen Zoo der Sonderlinge vor uns aus. Er skizziert, wie sich die Probanden in bestimmten Situationen gebärden. Seltsame, merkwürdige Wesen sind sie allemal. Alsbald keimt der Verdacht, dass ihre Eigenheiten zutiefst mit der allgemeinen Conditio humana zu tun haben. So darf man sich fragen, ob nicht alle Menschen an etwas hängen, was ihnen selbst nicht so sehr auffällt, wohl aber der Mitwelt, sofern sie aufmerksam und empfänglich ist. Die Sonderlinge bemerken oft weder blinde Flecken noch tote Winkel.

Ein wenig vermisst habe ich die an und für sich gängige Unterscheidung zwischen vorherrschenden, halbwegs fluiden Verhaltensweisen und ziemlich fest betoniertem „Charakter“. Es will mir scheinen, als spräche „man“ heute nicht mehr so über psychische Befindlichkeiten. Aber vielleicht irre ich mich auch gründlich und Ortheil belebt eine alte Schule der Menschenbetrachtung wieder, die nicht vernachlässigt werden sollte. Außerdem dürfte die Vermutung stimmen, dass sich in diesen 50 Kurzporträts Ansätze zu ungleich differenzierteren Erzählungen oder Romanen verbergen. Wir harren der Weiterungen, die da hoffentlich kommen werden.

Hanns-Josef Ortheil: „Charaktere in meiner Nähe“. Reclam. 128 S., 18 Euro.

 

 




Kunst kennt keine Zeit – Ausstellungen in Berlin und Potsdam

Monica Bonvicini: „I do you“, Ausstellungsansicht Neue Nationalgalerie (Courtesy the artist, Tanya Bonakdar Gallery, Galleria Raffaella Cortese, Galerie Peter Kilchmann, Galerie Krinzinger – Copyright © the artist, VG Bild-Kunst, Bonn, 2022 – Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin / Jens Ziehe)

Monica Bonvicini darf das. Und sie kann es. Die italienische Kunst-Rebellin, die seit vielen Jahren in Berlin arbeitet und eine der wichtigsten Bildhauerinnen der Gegenwart ist, hat sich diesmal vorgenommen, die vielleicht bedeutendste Kunst-Architektur der Moderne zu zu besetzen und neu zu definieren.

Wer sich der von Mies van der Rohe aus Glas und Stahl gebauten Neuen Nationalgalerie nähert, ist überwältigt. Eine riesige Spiegelfassade ist gegen den ikonischen Bau gelehnt, ragt vom Betonboden bis übers Dach hinaus und scheint den Eingang ins Innere des Kunst-Tempels zu verstellen. „I do you“ ist in großen schwarzen Lettern auf die verspiegelte Fläche geschrieben, in der Umwelt und Mensch miteinander agieren: „Ich mach dich“, gemeint als „Ich will dich“. Kampfansage an eine männlich dominierte Domäne und zugleich Liebeserklärung an einen Ort, der transparent und elegant durch das Berliner Alltags-Grau zu fliegen scheint und dessen gläsernes Foyer ungemein schwer zu erobern und zu bespielen ist.

Monica Bonvicini räumt sich den Weg frei. Die meisten ihrer überdimensionalen Arbeiten kann sie seit Jahren nicht zeigen, aber wenigstens herbeizitieren: In einer Wort-Collage erklingen um die 2000 Titel von Werken, die sie bisher geschaffen hat. Sprache wird Kunst, Kunst wird Sprache. Aber auch Erschütterung und Provokation, Rätsel und Geheimnis.

Portrait Monica Bonvicini, (Courtesy the artist – © Monica Bonvicini and VG-Bild Kunst, Bonn, 2022 – Photo: Olaf Heine)

In der verglasten Halle steht ein verspiegeltes Podest, in dem sich alles, Mensch und Kunst, Stadt und Museum, gegenseitig beäugt, reflektiert und überlagert. „DESIRE“ steht in großen Buchstaben darauf: Doch Sehnsucht und Begehren sind ohne ihre Negation und das Nicht-Erfüllen von Hoffnungen nicht zu haben. Die im Raum schwebende Lichtskulptur „Light me back“ ist so grell, das man die Augen schließen möchte. Die zu einer Weltkugel verknoteten Armband-Uhren („Time of my life“) sind hässliche Billig-Fälschungen. In der aus Stahlketten geflochtenen Schaukel („Chainswing bells“) möchte man lieber nicht Platz nehmen. Den auf den Boden gekippten Haufen Bauschutt hat Bonvicini bei der Sanierung der Alten Nationalgalerie abgezweigt. Jetzt liegen Reste der klassizistischen Fassade des Stüler-Baus als Flaschenpost aus der Vergangenheit in der Mies-Moderne herum. Kunst kennt keine Zeit.

Apropos Zeit: Die sollte mitbringen, wer sich auf der Suche nach den aktuellen Tendenzen zeitgenössischer Kunst in den „Hamburger Bahnhof“ wagt. Doch bevor man die in den Seitenflügeln auftrumpfenden Ausstellungen mit Neuerwerbungen („Under Construction“) und Sound-Arbeiten („Broken Music“) in Augenschein nimmt, lohnt ein langes Verweilen im riesigen Eingangsbereich: Wo früher die Dampfloks in dem mit Glaskuppel und Stahlstreben verzierten Kopfbahnhof ankamen und abfuhren, hat Sandra Mujinga einen großen schwarzen Kasten gestellt.

Zu rätselhaften Klängen scheint sich im Inneren des düsteren Monstrums etwas zu bewegen, zu atmen, zu leben. Manchmal flimmern Farben über die Oberfläche, versinken wieder ins Dunkle. Manchmal glaubt man, rissige Haut zu erkennen, Körperteile, die ihr Geheimnis nicht preisgeben wollen. „IBMSWR: I Build My Skin with Rocks“ nennt die Künstlerin ihre visuell-akustische Skulptur, die auf wundersame Weise Außenwelt und Innenleben miteinander verbindet. Immer wieder umkreist man das schwarze Mysterium, spürt die Magie des dunklen Körpers, möchte durch die Haut schlüpfen und auf unbekannte Reisen durch Resonanzräume gehen.

Sandra Mujinga: „I Build My Skin with Rocks“, 2022 (Ausstellungsansicht, Sandra Mujinga. IBMSWR: I Build My Skin with Rocks, 9.12.2022-1.5.2023, Hamburger Bahnhof, Nationalgalerie der Gegenwart – Foto: Jens Ziehe | Courtesy the artist Croy Nielsen, Wien/Vienna and The Approach, London)

Ins Unbekannte und Offene kann man auch im Martin-Gropius-Bau reisen. Im frei zugänglichen Lichthof des Kunst-Baus zeigt Wu Tsang seine großformatige Installation „Of Whales“ – eine Symbiose aus bizarren Wasserwelten und surrealen Klängen. Auf einer riesigen Leinwand schwappen Wellen, tauchen Meerestiere auf und wieder ab, Quallen schweben durch unergründliche Tiefen, Wale ziehen ihre Bahnen. Aus Lautsprechern ertönen rätselhafte, mit orchestraler Musik unterlegte Laute. Wahrnehmung und Wirklichkeit lösen sich auf, Imagination und Meditation fließen ineinander. Wer es sich auf den Liegen bequem macht, dem Meeresrauschen und den Walen zuhört und auf den Wellen surft, weiß irgendwann nicht mehr, ob er noch Mensch ist oder schon ein Wesen des Meeres. Grenzen verwischen sich, Gewissheiten lösen sich auf.

Verwischte Grenzen und aufgelöste Gewissheiten findet auch, wer noch nicht kunstsatt ist und den Weg von Berlins Mitte nach Potsdam einschlägt. Im Museum Barberini wird der Surrealismus aus einer neuen Perspektive gesehen, erforscht und gedeutet. Es geht um Psychoanalyse und Traumdeutung, Zauberei und Okkultismus: „Surrealismus und Magie: Verzauberte Moderne“ präsentiert über 90 Werke von Leonore Carrington und Max Ernst, Salvador Dalí und René Magritte, Leonor Fini, Yves Tanguy, Dorothea Tanning und vielen weiteren ikonischen Künstlern des Surrealen, lässt erahnen, wie tief sie eintauchten in okkulte Riten und magische Mythen, wie sie den Verstand ausschalteten und Denkverbote umgingen, das Verdrängte und Unergründliche zu künstlerischen Gegenwelten ausformten. Alchemie wird zu Kunst, öffnet Augen, Ohren und Sinne. Was will man mehr?

Neue Nationalgalerie: „Monica Bonvicini: I do you“, bis 30. 4. 2023, Mo-So 10-18 Uhr, Do 10-20 Uhr.

Hamburger Bahnhof: „Sandra Mujinga: IBMSWR: I Build My Skin with Rocks“, bis 1. 5. 2023, Sa und So 11-18 Uhr, Di, Mi und Fr 10-18 Uhr, Do 10-20 Uhr, Mo geschlossen.

Martin-Gropius-Bau: „Wu Tsang: Of Whales“, noch bis 29. Januar. 2023, Mo, Mi, Do, Fr 11-19 Uhr, Sa, So 10-19 Uhr, Di geschlossen.

Museum Barberini: „Surrealismus und Magie: Verzauberte Moderne“, noch bis 29. Januar 2023, täglich außer Di 10-19 Uhr, Di geschlossen.

 

 




Vor zehn Jahren starb die „Rundschau“ – ohne Rettungsversuch

Kurz vor Ende eines Spätdienstes entstanden und Jahre danach unversehens vielsagend: der leere Newsdesk der Westfälischen Rundschau in Dortmund – mit fertiggestellten Seiten auf der Bildschirmwand, aufgenommen im Jahr 2009. (Foto: Bernd Berke)

Beängstigend rasende Zeit: Zehn Jahre soll das schon wieder her sein, dass am 15. Januar 2013 die damalige WAZ-Gruppe (heute Funke-Mediengruppe) das faktische „Aus“ für die Westfälische Rundschau (WR) verkündet hat?

Zur Erinnerung: Danach ging alles ganz schnell – oder auch quälend langsam; je nach Perspektive. Denn die kurzerhand Entlassenen mussten noch volle zwei Wochen das totgesagte Blatt machen. Nach dem 31. Januar 2013 erschien die einst so stolze und weit verbreitete Dortmunder Zeitung nur noch als Phantom-Publikation oder „Zombie-Zeitung“, nämlich gänzlich ohne eigene Redaktion, wenn man vom zunächst einsam weiter (als „König Ohneland“) amtiert habenden Chefredakteur Malte Hinz absieht.

Die Seiten wurden fortan von der WAZ (Mantelteil) sowie, was Dortmund anbelangt, von den vormals konkurrierenden Ruhrnachrichten (Lokalteil) befüllt und nur noch kosmetisch auf WR-Look getrimmt. Bis dahin hatte die Rundschau auch mit den anderen Zeitungen der WAZ-Gruppe (Westfalenpost, Westdeutsche Allgemeine Zeitung) einigermaßen heftig im Wettbewerb gestanden. Seit der WR-Schließung war jedoch häufig dieser Effekt zu beobachten: Fehlt ernsthafte Konkurrenz, so verloddern mitunter die journalistischen Sitten. Man hat’s ja nicht mehr nötig.

Verlust für die publizistische Landschaft

Es war ein großer Verlust für die publizistische Landschaft (und somit für die demokratische Meinungsbildung) in Westfalen und eine persönliche Tragödie für manche Kolleginnen und Kollegen, die auf einmal ohne Job waren. Von Beruf, Berufung und Herzblut gar nicht erst zu reden. Es ging ja nicht nur um rund 120  festangestellte Redakteurinnen und Redakteure, sondern auch um etwa 180 freie Mitarbeiter(innen) zwischen Dortmund, Hagen, Lünen, Schwerte, Unna und Siegen, Lüdenscheid, Altena,  Gevelsberg, Arnsberg, Meschede und Olpe. Um nur einige Standorte zu nennen.

In früheren Zeiten hatte das Verbreitungsgebiet gar nordwärts bis ins Emsland, weit ins westliche Ruhrgebiet und – rings um Betzdorf – bis in einen nördlichen Zipfel von Rheinland-Pfalz gereicht. Da knüpfte die Westfälische Rundschau beinahe wieder an die große Tradition des Dortmunder Vorläufers „Generalanzeiger“ an, der vor 1933 die auflagenstärkste deutsche Zeitung außerhalb Berlins gewesen war – bis die Nazis ihn mundtot machten.

Aber kommen wir auf 2013 zurück. Gewiss, vor allem einige Jüngere haben sich nach der „Freisetzung“ beruflich neu erfunden, gelegentlich mit staunenswertem Erfolg. Doch wer bereits über 50 war, hatte meist zu kämpfen. Ich will nicht nachträglich unken, aber: Seit 2013 sind recht viele ehemalige WR-Leute verstorben; nicht auszuschließen, dass hie und da auch nagender Kummer über die abrupt abgerissene berufliche Laufbahn und die hinterrücks entwertete Lebensleistung übel mitgespielt hat. Niemand kann es wissen.

Die Redaktion als weit verzweigter Organismus

Es mag sein, dass ein Teil der Leserschaft sich ebenso rasch wie sang- und klanglos umorientiert hat. Es gab ja schon vorher diese Cleverles alias treulose Abo-Hopper, die in regelmäßigen Abständen die Zeitung wechselten und dabei jeweils Willkommens-Prämien einheimsten. Vielen aber war – auch, aber nicht nur aus politischen Gründen – die WR speziell ans Herz gewachsen. Ich persönlich (und nicht nur ich) halte immer noch dafür, dass „wir“ redaktionell insgesamt besser waren als z. B. die Ruhrnachrichten oder – weiter südwärts – als die „Siegener Zeitung“. Fragen der Wirtschaftlichkeit stehen freilich auf einem anderen Blatt.

Noch heute erfasst einen das Weh, wenn man über Jahrzehnte dabei gewesen ist und beispielsweise weiß, wie weit früher das eigene Korrespondentennetz der Rundschau gespannt war, wie denn überhaupt mit der Zeitung ein ganzer Organismus verendet ist. Die Westfälische Rundschau hat übrigens auch journalistische Prominenz hervorgebracht – vom nachmals fernsehbekannten Ernst Dieter Lueg über den späteren NRW-Ministerpräsidenten, Bundeswirtschafts- und Arbeitsminister Wolfgang Clement bis hin zu Hans Leyendecker, dem bundesdeutschen Investigativ-Reporter schlechthin. Mehr noch: Erste Schritte ins Leben als exponiert Schreibende haben bei der WR z. B. auch Navid Kermani (nun einer der wichtigsten Publizisten dieses Landes) und Anna Mayr (heute gefragte Autorin der „Zeit“) getan. Kermani hat in der Lokalredaktion Siegen angefangen, Mayr in der Lokalredaktion Unna. Da rede noch jemand von „Provinz“.

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Machtdemonstration der Konzernchefs?

Der nordrhein-westfälische Zweig des Deutschen Journalistenverbands (DJV-NRW) hat zum Jahrestag der WR-Schließung bzw. Redaktions-Entlassung einen Podcast produziert, in dem die eben erwähnte Anna Mayr sowie Barbara Merten-Kemper (langjährige Betriebsrätin der WAZ) und Lars Reckermann (in den finalen Jahren der WR stellvertretender Chefredakteur) Rückschau halten und Ausblicke wagen.

Eine Lesart läuft darauf hinaus, dass die schockierende Maßnahme wohl eine Machtdemonstration der Konzernleitung gewesen sei – ein Exempel mit Drohpotenzial gegen etwaige Rebellen. Als aufsässig hätten zumal die WR-Redaktionen gegolten, ein Geschäftsführer sei damals als notorischer Rundschau-Hasser verschrien gewesen. Reckermann wählte folgenden Vergleich: Die WR sei stets die linke „Malocher-Zeitung“ gewesen, sozusagen das Schimanski-Blatt, während die WAZ wie James Bond aufgetreten sei. Nun ja. Ich habe mir 007 immer ein klein wenig anders vorgestellt.

Die Auflage war gar nicht so schlecht

Einig war man sich in der Ansicht, dass die WR mit gutem Willen und Fortune durchaus hätte gerettet werden können. Zum Zeitpunkt der Schließung hatte sie immerhin noch eine Auflage von cirka 115.000 Exemplaren – eine ansehnliche Zahl, über die sich heute beispielsweise der bundesweit trommelnde „Tagesspiegel“ oder die „Welt“ freuen würden. Engagierte Verleger der alten Schule hätten unter solchen Voraussetzungen nichts unversucht gelassen…

Geradezu erschütternd ist, woran Barbara Merten-Kemper sich erinnert. Manfred Braun, zur fraglichen Zeit einer von drei Geschäftsführern der WAZ-Gruppe, habe ihr später – an seinem allerletzten Arbeitstag – gestanden, dass die WR-Demontage ein „Fehler“ gewesen sei. Eigentlich eine Ungeheuerlichkeit, dies erst zum Abschied zuzugeben. Merten-Kemper sagt, sie sei fassungslos gewesen und habe ihn gefragt, warum er all die Jahre über nichts getan habe, um die Entscheidung zu revidieren. Da musste er passen.

Medien brauchen die besten Leute  

Seinem vorwärts strebenden Naturell entsprechend, schlug Lars Reckermann (zwischenzeitlich Chefredakteur der Nordwest-Zeitung in Oldenburg, jetzt Chef bei der Schwäbischen Post) ein paar optimistische Töne an. Die Funke-Mediengruppe habe sich mit der Zeit ein besseres Image zugelegt als einst die WAZ-Gruppe – und überhaupt sei der Journalismus in den letzten Jahren generell deutlich besser geworden. Dem möchte ich nur bedingt beipflichten. Anna Mayr wünscht sich unterdessen noch mehr: Die allerbesten Leute der kommenden Jahrgänge sollten möglichst ins Zeitungsgewerbe gehen. Ein schöner Traum. Doch auch andere Branchen brauchen besondere Talente.
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P. S.: Dies ist beileibe nicht der erste Revierpassagen-Beitrag zur WR-Schließung. Früher sind beispielsweise schon erschienen:
https://www.revierpassagen.de/22807/ein-jahr-nach-schliesung-der-rundschau-redaktion-die-folgen-schmerzen-noch/20140115_2138

https://www.revierpassagen.de/28818/zwei-jahre-nach-dem-ende-der-rundschau-beaengstigende-zeiten-fuer-den-journalismus/20150115_1717

https://www.revierpassagen.de/36681/ein-bisschen-schwund-ist-immer-wie-die-erinnerungen-an-die-rundschau-verblassen/20160614_0957

https://www.revierpassagen.de/47988/heute-vor-fuenf-jahren-das-ende-der-rundschau/20180115_1637

Wird all das hintereinander gelesen, so mögen sich Redundanzen ergeben, aber was soll’s. Nehmt es als Chronologie eines allmählichen Verschwindens.

Hier noch ein Link zum Podcast des DJV-NRW (Moderation: die freie Journalistin Sascha Fobbe): https://www.youtube.com/watch?v=q0GTb3PbQkU




Gehen, gehen, gehen – aufschlussreiche Einblicke in Tagebücher von Peter Handke

Im Frühjahr 1978 bricht Peter Handke zu einer längeren Reise auf. Der Schriftsteller war mit der „Publikumsbeschimpfung“ in die Pose des rebellischen Wüterichs geschlüpft, hatte den arrivierten Autoren der „Gruppe 47“ wortwörtlich „Beschreibungsimpotenz“ attestiert und sich in den „Elfenbeinturm der Literatur“ zurückgezogen, um die Welt mit Hilfe von Sprache neu zu erfinden.

Von seinem Geburtsort Griffen in Kärnten war Handke hinausgezogen ins Offene, lebte in Salzburg, Berlin und Paris und eckte überall mit immer neuen sprachlichen Fantasiegebilden und literarischen Rüpeleien an. Jetzt kehrt er in seine Heimat zurück, versichert sich seiner Herkunft aus prekären sozialen Verhältnissen und der kulturell umkämpften Region, in der österreichische, slowenische und italienische Einflüsse sich durchmischen.

Nach kurzer Heimkehr bricht Handke auf, durchstreift vom 24. April bis 26. August zu Fuß, mit der Bahn und mit dem Bus das Dreiländereck, wandert durch verlassene Orte, schläft in abgelegenen Gasthöfen, badet in kalten Gebirgsbächen, erkundet den Karst bei Triest. In seiner Hosentasche hat er ein Notizbuch, in dem er seine Gedanken und Empfindungen, Eindrücke und Erlebnisse festhält. Ein wüstes Durcheinander aus Worten und Sätzen, angereichert mit Zeichnungen, die er am Wegesrand anfertigt. Eine Fundgrube für Ideen und Geschichten.

Handke, der sich in die Rolle des Odysseus hineinfantasiert, Zeiten und Räume wahllos ineinander fließen lässt, auf beschwerlichen Umwegen zu sich selbst finden und eine neue Form der Literatur erproben will, wird die Notizen brauchen und benutzen. Viele Einträge wird er, manchmal wortwörtlich, in seine nächsten Romane übernehmen: „Langsame Heimkehr“ und „Die Wiederholung“ basieren in weiten Teilen auf den realen Erlebnissen und literarischen Imaginationen der großen Wanderung.

Wie stark die „Langsame Heimkehr“ des Valentin Sorger von Amerika nach Europa und „Die Wiederholung“ der Kindheitstraumata und Sprachverwirrungen des von Kärnten nach Slowenien aufbrechenden Filip Kobal von Handkes eigener Reise beeinflusst sind, kann man erst jetzt richtig ermessen. Zum 80. Geburtstag gewährt Handke einen Einblick in seine Notizbücher, die er stets bei sich trägt. Das Konvolut umfasst über 35.000 Seiten, es ist das umfangreichste Werk, das er je geschaffen hat.

Handke würde wohl den Begriff „Werk“ dafür nicht gelten lassen, es sind ja „nur“ ein paar lose Gedanken, durcheinander gewürfelte Wörter, angefangene Geschichten, schnell hingeworfene Zeichnungen. Aber darin zu blättern, ist doch für jeden Handke-Leser ein Gewinn, erklärt es doch vieles, was bisher unverständlich war und zu Missverständnissen über Handkes Literatur- und Welt-Verständnis führte.

Wünschenswert wäre es, dass „Die Zeit und die Räume“, in dem alle Einträge und Zeichnungen der Reise von 1978 durchs Dreiländereck abgedruckt sind, den Auftakt zu einer Edition sämtlicher Notizbücher darstellt. Schon jetzt aber begreift man, dass Handke kein Tagebuch im klassischen Sinne führt, sondern das Gehen und Schreiben zu einer literarischen Symbiose verbindet; dass Wahrnehmung und Traum, Reflexion und Fantasie, Innen- und Außenwelt, Zeit und Raum sich auflösen.

Alles kann Gegenstand ästhetischer Formfindung werden, Licht und Schatten, Wind und Mond, Kaffeetasse, Tisch und Jukebox, alles kann eine poetische Form annehmen, alles dient der Spracherkundung und dem Weltverständnis. Handke geht es um ein zeitloses Raumgefühl: Das Gehen durch verschiedene Räume wird zur Poetik der Freiheit. Der Gehende befreit sich von sprachlichen Automatismen, biografischen und nationalen Begrenzungen: Ziel ist das Unterwegs-Sein, das Aufsammeln von Gedanken und Sprachsplittern wie „Allmählich wurde aus dem Nachdenken Sehnsucht“, „Endlich wieder einen ganzen Tag mit einem Traum der Nacht bestreiten“, „In der mondlosen Zeit“, „Totenblass erwachen“,„Endlich allein mit der Ordentlichkeit der Dinge“, „Durch das Gehen: ein Raumgefühl, von überall überall hin zu können.“

Ohne das Gehen, das Räume vermisst und Zeiten durchstreift, ist Handkes Werk kaum vorstellbar. Wenn er „Die Obstdiebin“ sucht, wandert er durch Frankreich, für seinen „Versuche über die Müdigkeit“ durch Spanien, „Die Morawische Nacht“ findet er in den Wäldern und Dörfern des Balkans. Dass er bei seinen Fußmärschen auch durch historisch vermintes Gelände kommt und zu politischen Fehlschlüssen neigt, kümmert ihn kaum.  Als Jugoslawien nach Titos Tod in Gewalt und Bürgerkrieg versinkt, will er sich ein Bild der Ereignisse machen und sich nicht auf die Berichte von Journalisten verlassen, die in Berlin, Paris und anderswo am Schreibtisch sitzen und aus der Ferne die fürchterlichen Massaker beschreiben.

Sein Buch „Die winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morowa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien“ bringt Handke den Vorwurf ein, ein Freund und Handlanger des blutrünstigen Serben-Führers Milosevic zu sein. Später wird Handke zum Begräbnis des Diktators anreisen und mit politischen wirren Statements auffallen. Ein Makel, der Handke bis heute begleitet und den Blick auf das schillernde Werk des Literatur-Nobelpreisträgers eintrübt. Vielleicht können seine Notizbücher, seine Reflexionen über „Die Zeit und die Räume“ dazu beitragen, Handkes Welt, die aus Sprache besteht und mit ihr erst geschaffen wird, ein bisschen besser zu verstehen.

Peter Handke: „Die Zeit und die Räume“. Notizbuch. 24. April – 26. August 1978). Hrsg: Ulrich von Bülow u.a., Suhrkamp Verlag, Berlin 2022, 312 S., 34 Euro.




Papsttochter am Aalto-Theater: Donizettis „Lucrezia Borgia“ öffnet den Blick auf psychische Extreme

Marta Torbidoni, die gastierende Premierensängerin, als Lucrezia Borgia in Ben Baurs atmosphärisch gelungenem Bühnenbau. (Foto: Bettina Stöß)

In Bergamo, dem Geburtsort Gaetano Donizettis, gibt es in jedem Herbst ein Festival, bei dem sich kaum gespielte Opern als überraschend gegenwärtig erweisen. So im Herbst 2022 zum Beispiel Donizettis „L’aio nell‘ imbarazzo“ („Der Hauslehrer in Verlegenheit“), eine skurrile Studie über extreme – heute würde man sagen – Verhaltensauffälligkeiten. Hin und wieder haben Opern Donizettis abseits des Mainstreams aber auch in Deutschland eine Chance.

Das Aalto-Theater Essen zeigt als zweite Premiere der Intendanz von Merle Fahrholz eine noch von ihrem Vorgänger Hein Mulders programmierte und wegen der Corona-Pandemie verschobene, selten zu sehende Donizetti- Oper: „Lucrezia Borgia“.

Hauptperson ist die uneheliche Tochter Papst Alexanders VI.: Borgia, deren – heute historisch entkräfteter – Ruf als verruchte, ausschweifende Giftmischerin im 19. Jahrhundert für schaudernde Faszination sorgte. Donizettis Oper von 1833 wurde für Deutschland eigentlich erst 2009 wiederentdeckt, als Edita Gruberova an der Bayerischen Staatsoper München in der Regie von Christof Loy als Lucrezia debütierte. Trotz gelegentlicher Neuinszenierungen – so vor einigen Jahren in Halle/Saale – bleibt das Werk eine Rarität.

Das dürfte nicht an der stupend ausgearbeiteten Musik aus einer Hochphase des Schaffens Donizettis liegen, sondern am Sujet. Ähnlich wie „Parisina d’Este“ (1833) oder „Maria de Rudenz“ (1837) ist „Lucrezia Borgia“ ein Stück der psychischen Extreme. Mit den nachtschwarzen Liebesgeschichten des romantischen „melodramma“ und seinen Opfer-Heroinen hat es nichts mehr zu tun. Eher weist die Oper in die Richtung, die Giuseppe Verdi später mit „Rigoletto“ eingeschlagen hat. Das ist kein Wunder: Beide Opern basieren auf Dramen von Victor Hugo, der seine „Lucrèce Borgia“ bewusst als Gegenstück zu „Le roi s’amuse“, der Vorlage für „Rigoletto“, konzipiert hat.

Geächtete Menschen

Beide sind Menschen, die gesellschaftlich geächtet sind – der eine wegen seiner körperlichen Entstellung, die andere aufgrund ihrer moralischen Verkommenheit. Und beide sollen Mitgefühl erzeugen, ja den Zuschauer laut Hugo „zum Weinen bringen“: Rigoletto durch seine Zärtlichkeit als Vater, Lucrezia durch die Qual, die sie über ihr verbrecherisches Vorleben empfindet, und durch ihre reine Mutterliebe. Die inneren Widersprüche der Existenz interessierten Hugo wie Donizetti; spätere Generationen hielten solche Sujets eher für widerlich.

Im Gegensatz zu „Rigoletto“ bleiben die Personen bei Donizetti aber in einer Sphäre zwischen Traum und Realität befangen. Lucrezia hat einen Sohn, Gennaro, von dem nur sie alleine weiß, nach dem sie sich sehnt, der aber in ihrem Leben tatsächlich keinen Platz haben darf. Gennaro, ein erfolgreicher Soldat ohne Wurzeln – Vater unbekannt, Mutter verschollen – ist abhängig von der Obsession für ein überhöhtes Mutter-Ideal. Die Mutter-Sohn-Beziehung zwischen Lucrezia und Gennaro bleibt bis zum Ende unausgesprochen, bestimmt aber den tödlichen Verlauf der von fatalen Zufällen bestimmten Handlung. Gennaro fühlt sich von der unbekannten Dame unerklärlich angezogen. Die rätselhafte Zuneigung schlägt in Hass um, als am Ende des als „Prolog“ betitelten ersten Teils der Oper ihre Identität aufgedeckt wird: Sie ist das Monster „Borgia“.

Mutter und Monster: Diesen Gegensatz hat Victor Hugo konstruiert, um im besten romantischen Sinn die Rätselklüfte des Lebens aufzureißen, Extreme zu markieren, die sich nicht besänftigen, sondern nur schaudernd aushalten lassen. Felice Romani, der Librettist Donizettis, hat sie fokussiert auf nur wenige Personen und so die extremen Spannungen betont, die das Stück so schwer inszenierbar machen. Eine Herausforderung für jeden Regisseur, aber eine mit dem eigenen Reiz, zu der brillanten Musik Donizettis eine adäquate szenische Lösung zu finden.

Surreale Regie-Elemente

Immer wieder bricht Ben Baur die Szene ins Surreale auf, so wie hier mit einem Zug von Klerikern. Links: Davide Giangregorio als Don Alfonso, rechts Marta Torbidoni als Lucrezia. (Foto: Bettina Stöß)

In Essen hat sich Ben Baur an das Experiment gewagt und sich dabei stark an Victor Hugo orientiert. Er verzichtet auf die Schauwert-Schauplätze Venedig und Ferrara, baut auf der Bühne einen monumentalen, an florentinische Renaissance erinnernden Saal mit Ziegelwand, einem dominierenden Kamin und einem Vorhang, der das Element des Theaters unterstreicht und Raum und Szenen gliedert. Die kostbare goldgelbe Robe für Lucrezia ist eine der wenigen Reminiszenzen an die historische Papsttochter, die mit Donizettis Figur kaum etwas zu tun hat, aber durch das Gewand gleichzeitig überhöht wird.

Uta Meenens Kostüme bewegen sich ansonsten im Spektrum von konkreten Anspielungen – Mönchskutten, Klerikergewänder oder biedermeierliche Nachthemdchen für die Kinderstatisterie, die ein surreales Element in die Inszenierung einbringen sollen – und einer uneindeutigen Phantastik wie in den queeren, androgynen Entwürfen für die jungen Menschen in der Entourage Gennaros oder dem wie ein Bustier gestalteten Brustpanzer von Lucrezias Gatten Don Alfonso.

Baur ist ein Meister solcher fluider Zeichen und setzt sie ein, um den Raum als eine Seelensphäre zwischen Wachen und Träumen zu kennzeichnen. Mehrfach tötet Gennaro im Lauf des Stücks Erscheinungen Lucrezias, ein Motiv, das surreal rätselhaft bleibt, vielleicht zu lesen als vergeblicher Versuch des jungen Mannes, sich von der Zwangsvorstellung seines Mutterbilds zu befreien. Wie sehr ihn dieses dominierende Ideal am Leben hindert, zeigt sich in der Szene mit seinem Freund Maffio Orsini im zweiten Akt. „Mit dir immer, ob lebend oder tot“ beschwören die beiden im melodischen Schwung eines Liebesduetts eine Verbindung, die unübersehbar homoerotische Züge trägt. In Baurs Inszenierung tritt Orsini im Gewand der Lucrezia Borgia auf – ein Signal für das verzerrte Gefühlsleben Gennaros, der Liebe offenbar nur mit dem inneren Bild der „Mutter“ verbinden und so nicht zu einem authentischen Verhältnis zu Orsini finden kann.

Das Problem bei Baurs überlegtem Regie-Zugriff ist, dass die szenischen Signale zu naturalistisch wirken und nur peripher mit der verlaufsgetreu erzählten Handlung korrespondieren können. Gestorbene Kinder Lucrezias, blutüberströmte Gemeuchelte, ein Zug von Kardinälen mit dem Papst an der Spitze: Wo Baur die Handlung im Sinne einer Zeichen- oder Traumlogik aufbrechen will, wirkt das Surreale nicht; wo Transzendierung wirksam werden sollte, bleibt die Handlung zu fasslich. Dennoch: Die Intention Baurs, das Stück aus dem Korsett eines schwer nachvollziehbaren Narrativs zu befreien, führt in die richtige Richtung.

Glanzvolles Debüt

Jessica Muirhead. (Foto: Nanc Price)

In Essen war jetzt erst die ursprünglich gedachte Besetzung zu erleben, mit der auch geprobt wurde: In der Premiere am 26. November mussten drei von vier Hauptrollen durch Gäste ersetzt werden. Auch jetzt grassiert die Krankheitswelle noch, wie sich vor allem im von Klaas-Jan de Groot einstudierten Chor bemerkbar macht. Endlich konnte aber Jessica Muirhead ihr Debüt als Lucrezia Borgia feiern – und sie hat die Anforderungen der Partie zwischen verträumter Lyrik („Com’e bello! Quale incanto …“), gefährlichem Auftrumpfen („Oh! A te bada … a te stesso pon mente“) und brennender Verzweiflung („Mille volte al giorno io moro“) glanzvoll ausgeschöpft. Muirheads leuchtender, bis auf ein paar Stützschwierigkeiten bei kurzen Noten in der Höhe sicher positionierter Sopran ist in der Lage, die emotionalen Spannungen in einer hinreißenden Gesangslinie auszudrücken. Das ist anders als die ziselierte Feinarbeit, mit der Gruberova die Schwächen ihrer Stimme in Expression verwandelte, anders auch als der dramatische Impetus, den Marta Torbidoni in der Premiere als Gast – sie hatte die Partie vorher in Bologna gesungen – mitgebracht hat.

Der giftige Wein der Borgia bringt den Tod. Marta Torbidoni (Lucrezia) und Francesco Castoro (Gennaro) im zweiten Akt der Oper. (Foto: Bettina Stöß)

Francesco Castoro als Gennaro kann in der jüngsten Vorstellung überzeugender punkten als in der Premiere. Er führt seinen Tenor bewusst leicht und mit einem unangestrengten Ton fern von dem oft als „italienisch“ missverstandenen Aplomb. Auch wenn man spürt, dass ihm manche Passage Mühe bereitet: Castoro vermittelt einen Eindruck davon, was Belcanto im Sinne Donizettis bedeutet. Alles andere als Schöngesang bot dagegen Davide Giangregorio bei seinem Deutschland-Debüt als Don Alfonso. Weit weg von der eleganten Linienführung und der unangestrengten Attacke eines Kavaliersbaritons dröhnte er mit undifferenzierter, auf bloße Außenwirkung getrimmter Kraft und unsteter Tonbildung. Ein Schönsänger ist die Hausbesetzung Almas Svilpa zwar auch nicht, aber in seiner bewussten Gestaltung kommt er den stilistischen Erfordernissen des Singens näher als der Premierengast aus Bologna. Vokal glänzend und als Darstellerin überzeugend: Liliana de Sousa als Maffio Orsini.

Farben der Melancholie

Dass auch die kleineren Rollen nicht ohne Anspruch sind, demonstrieren Mathias Frey (Rustighello), Tobias Greenhalgh und das Quartett der Kumpane Orsinis, Edward Leach (Liverotto), Lorenzo Barbieri (Gazella), Timothy Edlin (Petrucci) und Joshua Owen Mills (Vitelozzo). Andrea Sanguineti, designierter GMD von Essen, hat in der Januar-Vorstellung das Tempo merklich angezogen, lässt das Orchester akzentuierter spielen, gibt den Cabaletten drängende Energie und den lyrischen Momenten die Farbe der Melancholie, die – etwa in der Einleitung – an die zwei Jahre später entstandene „Lucia di Lammermoor“ erinnert.

Die vielen Krankheitsfälle im Ensemble gehen allerdings nicht spurlos vorüber: Die Präzision leidet, die Koordination mit der Bühne wankt öfter, die Geigen der Essener Philharmoniker klingen – im Gegensatz zu den warmen Celli – kreidig-scharf. So ganz ist der Versuch, Victor Hugos sperrige Thematik in unsere Gegenwart zu übertragen, in Essen nicht geglückt. Aber diese „Lucrezia Borgia“ zeigt, dass ein ambitionierter Regisseur aus anachronistisch wirkenden Stoffen überraschende Einsichten gewinnen kann. Das ist nicht neu, hat sich an so manchem Opernhaus aber noch nicht herumgesprochen. Und Donizettis Musik ist es allemal wert, von stilsicheren Sängern und Musikern (und *innen natürlich auch) verlebendigt zu werden.

Weitere Vorstellungen in dieser Spielzeit am 14. Januar, 4. und 15. Februar und 10. März. Karten (0201) 81 22 200 oder www.theater-essen.de

 




Josef Albers und Bottrop – Kunst im Weltmaßstab

Ein Künstler, der offenkundig auf Übersicht und Ordnung hielt, jedoch auf seine stille Weise passioniert war: Josef Albers auf einer Fotografie von John T. Hill. © John T. Hill

Alte Weisheit: Feste soll man feiern, wie sie fallen. In Bottrop gab und gibt es gleich mehrfachen Anlass. Hier gilt’s der Kunst!

Erstens wurde eine umfangreiche Ausstellung über den wohl berühmtesten Sohn der Ruhrgebietsstadt eröffnet: Josef Albers (1888-1976). Zweitens gibt es just einen gelungenen Erweiterungsbau zum Josef Albers Museum Quadrat, mit dem nun gleichzeitig Dauer- und Sonderschauen möglich sind. Und drittens hat sich ein kuratorisches Lebenswerk gerundet, nämlich das des langjährigen Bottroper Museumsleiters Heinz Liesbrock, der im Oktober 2022 in den wohlverdienten Ruhestand gegangen ist und die gegenwärtige Ausstellung noch verantwortet hat. Seine Nachfolgerin ist Linda Walther.

Heinz Liesbrock dürfte weltweit zu den besten Albers-Kennern gehören, auch verfügt das nunmehr deutlich erweiterte Haus auf diesem Gebiet über eine global bedeutsame Sammlung. Ein großes Konvolut verdankt Bottrop der Schenkung durch die Künstlerwitwe Anni Albers anno 1980. Daraufhin entstand 1983 das Museum. Schon 1958 hatte es eine Albers-Retrospektive in Bottrop gegeben, freilich in der örtlichen Berufsschule, weil die Stadt damals noch kein Museum besaß. Wie gut, dass sich das so grundlegend geändert hat. Bottrop hat seinen Platz auf der Landkarte der Künste.

Josef Albers: „Homage to the Square“, 1969, Öl auf Masonit (Josef Albers Museum Quadrat Bottrop – © The Josef and Anni Albers Foundation / Foto: Werner J. Hannappel; VG Bild-Kunst, Bonn 2022)

Die jetzige Ausstellung widmet sich mit rund 120 Exponaten in den acht Räumen des Neuanbaus dem nicht nur quantitativ beherrschenden Zyklus in Albers‘ Oeuvre, nämlich just den Quadraten. Unter dem generellen Titel „Homage to the Square“ (Huldigung an das Quadrat) sind von 1950 bis in Albers‘ Sterbejahr 1976 über 2000 dieser Ölgemälde entstanden. Mit Schattierungen von Grau, Weiß und Schwarz hatte es 1950 begonnen, als Albers bereits 62 Jahre alt war. In der Folge traten nach und nach die Farben hervor – und wie! Mit der prinzipiell unendlich fortsetzbaren Reihe hat Josef Albers ungemein viele Möglichkeiten der an sich eher unscheinbaren Quadratform erprobt – ebenso behutsam wie leidenschaftlich, wovon immer und immer wieder das geheimnisvoll verhaltene Leuchten, das intensive Aufglühen oder auch das sanfte Verblassen der Farben zeugen.

Lange ist der einstige Bauhaus-Lehrer Josef Albers, der 1933 vor der Nazi-Diktatur in die USA emigrierte, in erster Linie als Kunstpädagoge und Theoretiker verkannt worden. Das war er gewiss auch. Doch die Bottroper Zusammenstellung zeigt abermals, dass diese Auffassung viel zu kurz greift. Anhand der Quadrate hat Albers, als wenn es dessen noch bedurft hätte, Schritt für Schritt seine souveräne malerische Meisterschaft bewiesen. Mit strenger Disziplin, „bedachtsam und ruhig“, wie er selbst gesagt hat, erschloss er – feinstens differenzierend – auf Basis einer gleichbleibenden Grundform immer neue Farbräume. Staunenswert, wie die Farben dabei auch ungeahnte Charakteristika entfalten. Blau ist hier nicht unbedingt kühl, Rot nicht unbedingt offensiv. Wandelbarkeit waltet als Prinzip.

Bottroper Ausstellungsansicht mit Quadrat-Bildern von Josef Albers. (© Foto Laurenz Berges / VG Bild-Kunst, Bonn 2022)

Auch sollte man nicht dem Vorurteil aufsitzen, Albers habe sich mit den Quadrat-Bildern schlichtweg erschöpfend wiederholt. Genügend Zeit und Aufmerksamkeit beim Betrachten vorausgesetzt, werden Entdeckungen kaum ausbleiben: Eigentlich hat jedes Quadrat oder zumindest jede Bildergruppe andere Qualitäten, lässt Farben anders miteinander in Dialog und Interaktion treten. Allerdings können sich diese je individuellen Bilder auch zu gemeinsamer Wirkung summieren, so etwa in einem gelblich oder einem in allerlei Rottönen schimmernden Raum. Gerade in dieser Fülle an Ähnlichkeiten gilt es eben, noch genauer hinzusehen, um Übergänge und Unterschiede wahrzunehmen.

Heinz Liesbrock spricht von wechselndem Farbklima. Tatsächlich werden in jedem dieser Räume andere Valeurs und Gefühlsregungen aufgerufen. An mancher Stelle steigert und verdichtet sich dies zur Feier der Farben. Es ist freilich keine stürmische Leidenschaft, die sich da äußert, sondern innige Einfühlung. Typischer Albers-Satz zu seiner Arbeitsweise: „Ich will langsam einsinken.“ Expressive Gestik, vorübergehend auf dem Weltkunstmarkt dominant, war seine Sache nicht. Der Sohn eines Bottroper Malermeisters hielt indes viel auf solides Handwerk als Grundlage der Kunst.

Im Neubau, der sich durch eine Art Zeittunnel ans 1983 eröffnete Museum anschließt, kommen die Quadratbilder erst recht zur Geltung. Das Schweizer Architektenteam Gigon / Guyer (Annette Gigon, Mike Guyer) hat ein zweistöckiges Gehäuse mit 1400 Quadratmetern Fläche geschaffen, dass ganz unaufdringlich der ausgestellten Kunst dient. Bewusste Zurückhaltung prägt Baulichkeit und Kunstwerke gleichermaßen. Man beachte die subtile, kalkuliert gestaffelte Lichtführung, die den Werken ohne jede Effekthascherei ihren angemessenen „Auftritt“ ermöglicht. Josef Albers hat nach eigenen Worten die Stille von Ikonen im Sinn gehabt. Die Bottroper Auswahl kommt diesem Anspruch sehr nahe, nicht zuletzt mit diversen Fensterblicken in den umgebenden Stadtpark, welcher die erstrebte Ruhe zusätzlich befördert. Sonst glänzt Bottrop – gelinde gesagt – nicht gerade durchweg mit Schönheit. Hier aber wird sie Ereignis.

Grün und Architektur: Ausblick aus dem Bottroper Museum in den umgebenden Park. (Foto: Bernd Berke)

Hinzu kommt, was bisher nicht synchron möglich war. Im Bau von 1983 lässt die Dauerausstellung die bildnerische Herleitung sichtbar werden: Das Quadrat war demnach nicht plötzlich da, nicht gleichsam „in den Schoß gefallen“ oder kurzerhand willkürlich gewählt, sondern Josef Albers hat diese Form – in einer Art Inkubationszeit – allmählich quasi zur Serienreife entwickelt. Solch ein haltbares Langzeitprojekt hätte sich wohl kaum aus bloßem Zufall hervorbringen lassen.

Josef Albers hat nachhaltig wirksame Anregungen recht früh empfangen, zuvörderst in Hagen, wo er sich schon 1908 in Paul Cézannes Bild „Der Steinbruch Bibémus“ mit seinen geschichteten Farbzonen vertiefte. Damals gehörte es zur Sammlung von Karl Ernst Osthaus, nun ist es in Bottrop als Leihgabe des Essener Museums Folkwang zu sehen. Dorthin wurden nach Osthaus‘ Tod die Hagener Kunstschätze 1922 (also vor 100 Jahren) verkauft – eine bis heute aufs Hagener Museum Osthaus schmerzlich und in Essen wohltuend nachwirkende Entscheidung.

Und Albers‘ eigener Einfluss auf andere Künstler? Nach mancherlei Skepsis, die ihm zu Zeiten des gegenläufigen Abstrakten Expressionismus entgegengebracht wurde, hat er es vermocht, eine Generation von US-Künstlern für sich und seine Werke einzunehmen; beispielsweise Ad Reinhardt und Donald Judd, der sich – auch als versierter Kunstkritiker – aktiv für Albers‘ „Wiederentdeckung“ eingesetzt hat und mit einer markanten Objekt-Arbeit in dieser Ausstellung vertreten ist. Albers‘ Impulse für die Minimal Art sind ohnehin kaum zu überschätzen.

„Homage to the Square“ / „Huldigung an das Quadrat“. Josef Albers Museum Quadrat, Bottrop, Anni-Albers-Platz 1. Noch bis zum 26. Februar 2023. Katalog 64 Euro.

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Der Beitrag ist erstmals im Kulturmagazin „Westfalenspiegel“ (Münster) erschienen. 

 




Wo Bürokraten bräsig walten, pflanzt sich das Unvermögen fort

Ob die Weisheit all dieser Eulen ausreicht, um dieses Land voranzubringen? Beim Philosophen Hegel hieß es jedenfalls vielsagend: „Die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.“ (Foto: Bernd Berke)

Wer hat in letzter Zeit ähnliche Erfahrungen mit der kläglichen Unzulänglichkeit gewisser Unternehmen gemacht; besonders mit den Abkömmlingen früherer Staatsbetriebe: Post, Bahn, Telekom? Blöde Frage: natürlich wir alle.

Die Älteren erinnern sich: Post und Bahn hatten – bei aller Gängelung und piefigen Beschränkung – einst auch etwas Wohliges und ziemlich Verlässliches an sich. Heute aber bedeutet Bürokratie längst nicht mehr Ordnung und Sicherheitsgefühl, sondern es hat sich eine gewaltige Brems- und Verhinderungs-Maschinerie herausgebildet, die die gesamte Gesellschaft immer wieder fesselt und zurückwirft. Bizarre Beispiele lassen sich täglich in den Medien finden (bei denen es freilich auch nicht rundweg zum Besten steht).

Die raffinierten Fallensteller

Ich erspare es uns, detailliert von meinem neuesten Dauerärger mit der Telekom zu berichten, der sich bei genauerem Hinsehen als Kommunikations-Debakel der Hotline erweist. Ruft man z. B. drei „Berater(innen)“ an, hört man mindestens drei verschiedene, einander teilweise widersprechende Ratschläge. Sie schicken einen in die absurdesten Unsinns-Schleifen und sind ganz groß darin, immer wieder neue Hindernisse aufzubauen. Gar manche erweisen sich als raffinierte Fallensteller.

Damit verknüpft war u. a. das Versagen eines „Dienstleisters“ (nur in Anführungsstrichen) mit dem Namensbestandteil „Angel“, der für die Telekom Versandaufgaben übernehmen soll. Man ist versucht, in diesem Falle von „Hell’s Angels“ zu sprechen. Jedenfalls mochte ein Smartphone auch nach Wochen partout nicht eintreffen, doch die Telekom wollte es – nach einem rechtzeitigen Widerruf – gleichwohl als Retoure haben. Bring mir das Nichts!

Leider „in Verlust geraten“

Schließlich wurde dann doch ernsthaft nachgeforscht und es hieß, das Gerät sei – so wörtlich – „in Verlust geraten“. Also verschlampt, geklaut oder sonst etwas Unerfreuliches. Zusätzlicher schlechter Witz: Eine geringfügige Änderung war direkt nach Bestellung nicht mehr möglich, weil der Auftrag (so einer dieser Berater) „auch nach Sekunden“ schon nicht mehr rückholbar sei. Hört sich nach rasender Eile an. Umgekehrt wird ein Schuh daraus, ganz anders als bei den sprichwörtlichen „Kreuzberger Nächten“. Bei der Telekom heißt es offensichtlich: Erst fang’n se janz zackig an – aber dann, aber dann…

Nun muss man sagen, dass im Namen und im Auftrag der Telekom Vorort-Shops arbeiten. Und just in einem dieser Läden wurden alle Problem-Knoten fast wie von Zauberhand gelöst, ja beherzt zerschlagen wie nur je ein gordischer. Was die persönliche Beratung, sofern kompetent verabreicht, doch vermag! Und wie die anonymen Hotlines, auf deren sinnlose Einlassungen man schier endlos harren muss, einen so häufig verzweifeln lassen.

Ihr Hotline-Connaisseure und Connaisseusen fragt, welchen Song die Telekom diesmal in der ca. mindestens halbstündigen Warteschleife abgenudelt habe? Textprobe:

„Es wird mal wieder Zeit für ein’n Moment, der ewig bleibt.
Heut‘ sind wir alle gleich, wenn der Tag Geschichte schreibt…“ 

(Textzeilen aus Mike Singer „Es wird Zeit“)

Nein, wir wollen das jetzt nicht weiter interpretieren. Ohne Wirrwarr und Hirnverknotungen ginge das nicht vonstatten.

Düpiert in Diktaturen

Um zur Eingangs-Hypothese zurückzukehren: In gar zu vielen Bereichen des Geschäftslebens sackt diese Republik ab, als hätte sie sich die Fußball-Nationalmannschaft zum Vorbild genommen. Solche vermeintlichen Zusammenhänge werden ja stets gern konstruiert. So haben sich die einstmals gefürchteten Deutschen auf den Rasenflächen der letzten beiden Weltmeisterschaften (jeweils in Diktaturen abgehalten) u.a. von den „lösbaren Aufgaben“ Südkorea und Japan düpieren lassen.

Die seit vielen Jahren in Fensterreden beschworene Digitalisierung kommt derweil so schleppend voran, dass „wir“ (die einstige „Ingenieurs-Nation“) hinter ehedem belächelte Länder wie Albanien zurückgefallen sind; von Skandinavien, den Niederlanden oder dem Baltikum ganz zu schweigen. Hätte man die Wahl, irgendwo in Europa zu investieren – würde man es hier tun?

Mehr als sieben Brücken musst du bau’n…

Das Unvermögen pflanzt sich durch viele Bereiche fort. Wie furchtbar lange dauert der Bau einer einzigen Brücke, wo doch weite Teile des gesamten Bestandes marode sind?! Fragt mal beispielsweise in und um Lüdenscheid nach. Wie unterbesetzt sind gesellschaftlich notwendige Einrichtungen wie Schulen, Krankenhäuser oder die Pflegebetriebe? Wie oft werden rasche Änderungsversuche und zaghafte Impulse erstickt – beispielsweise auch durch maßlos übertriebenen Datenschutz, ein deutsches Steckenpferd par excellence? Warum konnten sich (trotz mancher Kontrollinstanzen) Korruption, Steuerhinterziehung und haltlose Bereicherung in Teile der Gesellschaft geradezu hineinfräsen?

Immerhin scheinen noch Rechtssicherheit und demokratische Gepflogenheiten zu walten. Mit kleineren Abstrichen hie und da. Da muss man sich eben gegen jeden kleinen Verlust stemmen. Sonst geht auch das noch den Bach hinunter. Man könnte Beispiele nennen; Beispiele diesseits und jenseits der großen Ozeane.




Heimkehr von den Irrfahrten – Christoph Ransmayr und Anselm Kiefer schufen ein Buch, das überdauern wird

Odysseus ist müde und ausgelaugt, viel zu lange war er unterwegs, hat unzählige blutige Schlachten geschlagen, sich auf der Suche nach der verlorenen Heimat heillos verzettelt und ist durch das Labyrinth der Menschheitsgeschichte geirrt. Die sich um ihn und seine endlose Reise rankenden Mythen und Märchen sind ihm nur noch schnuppe und können seine Sehnsucht nicht mehr stillen.

Ausgezehrt liegt der listenreiche Städteverwüster in irgendeinem Krankenhaus, lässt seine Blutwerte noch einmal checken, wartet auf seine Entlassungspapiere und seinen Pass, sieht bereits das Meer wieder vor sich „und auf seinem Spiegel / ein gleißendes Gespinst möglicher Routen, / ein Knäuel von Routen der Heimkehr, / die am Ende vielleicht / alle zurückführen / in die Ruinen von Troja.“

Mit einem durch Zeit und Raum, Realität und Utopie irrlichternden „Odysseus“ eröffnet Christoph Ransmayr seinen neuen Band mit Gedichten und Balladen, in dem Schönheit und Schrecken, Poesie und Politik, Dichtung und Malerei sich vermählen und zu einem göttlichen Kunstwerk vereinen. „Unter einem Zuckerhimmel“ lautet der fast idyllische Titel dieses schillernden Crossover-Projekts, zu dem der renommierte Künstler Anselm Kiefer zahllose Aquarelle beigesteuert hat.

Mit Tusche, Bleistift und Kohle hat Kiefer, dessen Werk schon oft um blutige Abgründe, verdrängte Kriege und vergessene Mythen kreiste, seine Farb-Fantasien den poetischen Visionen gegenübergestellt. Was Kiefer auf Gips und Karton getupft und gespritzt hat, bebildert und kommentiert nicht die Balladen und Gedichte, sondern spricht eine eigene künstlerische Sprache, lässt mal eisig blaue, mal blutig rote Farbe auf einen Malgrund tropfen, zieht schwarze Linien und kindlich gekritzelte Buchstaben durch die erdig und steinig wirkende Landschaft.

Christoph Ransmayr lebte Jahrzehnte aus dem Koffer, machte das Unterwegs-Sein zur Lebens-Philosophie, war stets auf der Suche nach einem überraschenden Gedanken und schönen Gedicht, durchquerte Wüsten, stieg auf hohe Berge und reiste zum Nordpol, war immer ein Reisender und Suchender, der „Die Schrecken des Eises und der Finsternis“ und „Die letzte Welt“ besang, „Eine kurze Geschichte vom Töten“ und den „Atlas eines ängstlichen Mannes“ beschwor.

Jetzt scheint Ransmayr zur Ruhe gekommen und lebt wieder in Wien. Doch umso dringlicher erinnert er an den ruhelos durch die Geschichte irrenden „Odysseus“, sendet uns „Nachrichten aus der Höhe“ und erzählt vom „Trost des Steinschleifers“, der sich oft stundenlang verliert in den Tiefen kristalliner Strukturen und in ihnen „ein geheimnisvolles, laut- und zeitloses Bild der Welt“ sieht, „das ihn alle Sensationen und Schrecken / der Geschichte des organischen Lebens / vergessen lässt / und ihm verspricht: / Etwas von dieser Arbeit / wird überdauern. / Nicht für immer, aber länger, / viel länger als alles, / was welken, faulen / und schmerzen kann.“

Der Dichter als Steinschleifer: Auch die Balladen und Gedichte des heimatlos durch Gedankenwelten reisenden Poeten werden überdauern, noch lange weiter leben und uns den Weg dahin zeigen, wohin wir doch alle immer wieder zurück kehren wollen: nach Hause. In der „Ballade von der glücklichen Rückkehr“ ist der ziellos um den Globus reisende Dichter das Unterwegssein leid:

„Genug! Genug. Eines Tages ist es genug. // So weit sind wir gegangen, / so hoch sind wir hinaufgestiegen, immer höher, / bis uns der nächste Schritt ins Blaue geführt hätte, / in die Wolken, nur noch ins Leere“.  Erduldet hat er „Orkan. Hunger. Wunden. / Höhenwahn. Fieber. Angst. / Die Erschöpfung oder das Heimweh.“

Doch jetzt reicht es: „Eines Tages kehren wir unseren Träumen / den Rücken / und machen uns auf den Weg in die Tiefe, / zurück zu den Menschen“, wollen nur noch „nichts wie weg. / Wir wollen nach Hause!“ Doch das Zuhause muss kein Ort, kann auch eine Erinnerung sein: an die „Buchstabensuppe, deren Lettern auf dem Tellerrand von meiner Mutter zu Zeilen angeordnet wurden“, den Gedanken, dass „Verse und gesungene Strophen die vollendete Form einer Geschichte“ sein und Balladen den Krieg besingen, aber nicht bannen können:

„Wir spielen / unter einem Zuckerhimmel / Krieg, // nennen flackernde / Strohfeuer / Ewigkeit // und jede Katastrophe / einen Sieg. // Was immer auf uns niederfährt: / Wir nehmen es gelassen, / heiter // und spielen / und spielen weiter / unter einem Zuckerhimmel Krieg.“

Dass Autor und Maler sich lange schon kennen und schätzen, Ransmayr dem Freund ein literarisches Denkmal setzte („Der Ungeborene oder Die Himmelsareale des Anselm Kiefer“), der sich jetzt sich mit zeitlos-schönen Bildern revanchierte, darf man getrost einen Glücksfall nennen. Ein Prachtband zum Verweilen und Träumen, ein Buch, das man immer wieder neu lesen und anders betrachten kann. Ein Buch, das überdauern wird.

Christoph Ransmayr: „Unter einem Zuckerhimmel. Balladen und Gedichte“, illustriert von Anselm Kiefer. S. Fischer Verlag, 208 S., 58 Euro.

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Infos:

Christoph Ransmayr, geboren 1954, lebt nach Jahren in Irland und auf Reisen wieder in Wien. Für seine Romane „Die Schrecken des Eises und der Finsternis“, „Die Letzte Welt“, „Morbus Kitahara“, „Der fliegende Berg“, „Cox oder Der Lauf der Zeit“, „Der Fallmeister. Eine kurze Geschichte vom Töten“ und „Atlas eines ängstlichen Mannes“ erhielt der Autor zahlreiche, auch internationale Auszeichnungen. „Unter einem Zuckerhimmel“ ist der zwölfte Band seiner Buch-Reihe „Spielformen des Erzählens“. (FD)

Anselm Kiefer, geboren 1945, zählt zu den bedeutendsten und innovativsten Künstlern der Gegenwart. Mit Malerei, Bildhauerei, Fotografie, Film und Installation versucht er immer wieder, sich der jüngeren deutschen Geschichte zu stellen, das „Nichtdarstellbare“ zu erfassen und Motive und Themen aus Philosophie und Literatur, Wissenschaft und Religion in Bilder zu verwandeln. 2008 erhielt er (als erster bildender Künstler) den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. (FD)