Immanuel Kant – auch am Billardtisch der Beste

Manchmal höre ich in den inspirierenden Podcast „ZEIT Geschichte: Wie war das noch mal?“ hinein. Die neueste Folge vom 27. Januar befasst sich mit der philosophischen Übergröße Immanuel Kant – zum Jubiläumsjahr (300. Geburtstag des Denkers) wahrlich keine Überraschung.

Titelblatt von Kants „Kritik der reinen Vernunft“ aus dem Jahre 1781. (Wikimedia Commons / gemeinfrei)

Zwei Leute aus der ZEIT-Redaktion haben mit dem Kant-Spezialisten Prof. Marcus Willaschek (Frankfurt) gesprochen. Selbstverständlich ging es vor allem um Hauptgedanken aus Kants denkerischen Kraftakten „Kritik der reinen Vernunft“, „Kritik der praktischen Vernunft“ und „Kritik der Urteilskraft“. Natürlich kam der kategorische Imperativ („Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“) ebenso zur Sprache wie die Bewunderung und Ehrfurcht, die Kant zufolge von zweierlei Phänomenen ausgelöst werden und immer wieder das Gemüt erfüllen: „Der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir“.

Zwischendurch erhob sich die Frage, ob Kant etwa Rassist gewesen sei. Vorsichtiges Fazit: Er habe einige zweifelhafte Sätze geschrieben, was aber der überragenden Bedeutung seines Gesamtwerks keinen Abbruch tue. Freilich genüge es nicht, ihm als „Kind seiner Zeit“ Generalabsolution zu erteilen. Das Für und Wider wollen und können wir an dieser Stelle nicht vertiefen. Hierzu sei beispielsweise Marcus Willascheks Buch „Kant. Die Revolution des Denkens“ (Verlag C. H. Beck, 28 Euro) empfohlen. Einen etwas leichteren Einstieg ermöglicht das neue Heft von „ZEIT Geschichte“, das gleichfalls um Kant kreist. Damit genug der gar nicht so schleichenden, sondern fast polternden Werbung. Smiley.

Ansonsten hangelte man sich durch ein paar Episoden aus dem Leben des weltberühmten Königsbergers, der vor 300 Jahren (22. April 1724) als Kind einfacher Handwerksleute geboren wurde und die Philosophie „grundstürzend“ verändert habe, wie es hieß. Entgegen gängigen Klischees, muss es dabei  phasenweise auch schon mal feuchtfröhlich zugegangen sein. Doch in etwas reiferen Jahren soll Kant – nach dem Vorbild des engen Freundes Joseph Green – gelebt haben wie ein Uhrwerk, nach dem die Bürger angeblich sogar ihr Zeitempfinden justierten. Wenn er aus dem Haus ging, war es hohe Zeit, um zu… Allerdings sprach Willaschek von einer Art Anekdoten-Übertragung, wie sie häufig vorkomme. Demnach soll sich das ungeheure, stadtbekannte Regelmaß des Alltags damals auf Green bezogen haben. Erst später habe man es Kant selbst zugeschrieben. Auch sei die gängige Behauptung, Kant habe zeitlebens niemals Königsberg verlassen, etwas übertrieben. In der umgebenden Region habe er sich gelegentlich schon bewegt.

Doch nun kommt’s, was trivial anmuten mag, aber vielleicht dennoch von Bedeutung ist. Hand aufs Herz: Wem ist denn schon geläufig, dass Immanuel Kant ein höchst versierter Billardspieler gewesen ist? Zeitweise habe er gar seinen Lebensunterhalt damit verdient, dass er mit anderen um die Wette spielte. Er soll dabei so überlegen gewesen sein, dass irgendwann keiner mehr mit ihm spielen mochte – jedenfalls nicht um Geld. Ob man daraus folgern kann, dass Billard ein besonderes Maß an Intelligenz erfordert?

Wer schreibt nun die Abhandlung darüber, ob sich das raffinierte Spiel mit den Kugeln auch in Kants Gedankenwelt abbildet? Gibt es wohl so etwas wie „Gedankenbillard“, gleichsam a priori über die Bande gespielt?

 




Schnoddrig unterwegs – Stefanie Sargnagels Reisebuch „Iowa“

Im US-Bundesstaat Iowa (kürzlich wegen einer betrüblichen US-Vorwahl in den Zeitungsspalten) spielen nicht allzu viele deutschsprachige Bücher. Sei’s Lockung oder Warnung: Die nicht nur im Fankreis vielgepriesene Stefanie Sargnagel stellt die geographische Bezeichnung gleich in den Titel: Schlichtweg „Iowa“ heißt ihr… ja, was eigentlich? Ein Roman ist es nicht. Vielleicht ein sehr subjektiver Reise- und Erlebnisbericht.

Jedenfalls liest sich das Ganze mal wieder weg wie geschmiert. Es bleibt nicht verborgen, dass die Autorin viele Jahre in sozialen Netzwerken erprobt hat, wie sich Leserinnen und Leser fix einfangen lassen. Nach der Lektüre sonnt man sich überdies in dem Glauben, nun tatsächlich einiges über Iowa zu wissen – im Grunde viel mehr, als ein noch so ambitionierter Reiseführer mit „Geheimtipps“ es vermitteln könnte.

Schwerlich mit Thomas Bernhard vergleichbar

Dennoch habe ich mich (auch angesichts einzelner, mitunter etwas geschwätzig wirkender Strecken) gefragt, ob es sich hier um Literatur im eigentlichen Sinne handelt. Findet Stefanie Sargnagel wirklich zu einer ureigenen Sprache und Form? Wenn ich lese, sie werde (von wem? warum? einfach wegen Österreich?) mit Thomas Bernhard verglichen, sträube ich mich unwillkürlich dagegen. Aber süffig und plastisch beschreiben kann sie wahrlich. Langeweile hat keine Chance. Und die unsinnigen Vergleiche stammen schließlich nicht von ihr.

Die Enddreißigerin Sargnagel ist in einem Alter, in dem sie sich noch einigermaßen auf Höhe des Zeitgeistes wähnen darf. Freilich wendet sie sich auch schon von etlichen Erscheinungen der Gegenwart überdrüssig und geradezu unwirsch ab. Genau das richtige Biotop für schnoddrige Betrachtungsweisen mit feministischer Grundierung. „Clean“ und nüchtern geht es nicht zu. Es wird viel geraucht und gesoffen in diesem von Weltschmerz und allerlei Ängsten durchzogenen Buch.

Grässliches Essen, bizarre Kneipen

Stefanie Sargnagel (Künstlername, gebürtige Wienerin vom Jahrgang 1986) hat sich mit ihrer deutlich älteren Freundin aus Berlin, der gleichfalls real existierenden Christiane Rösinger – bekannt durch ihre beachtlichen Bands „Lassie Singers“ und „Britta“ – auf den eher seltenen US-Trip in den abgelegenen Mais- und Rinderzucht-Staat Iowa begeben. In Grinnell, quasi im Niemandsland abseits der regionalen Hauptstadt Des Moines, soll sie an einem College auf Deutsch Creative Writing unterrichten, während Rösinger einen Konzertauftritt hat. Die Erledigung dieser Aufgaben bleibt hübsche, eher widerstrebend absolvierte Nebensache.

Schon das Bild auf dem Cover lässt es ahnen: Vertrödelte Tage gehören dazu. Doch zwischendurch erkunden die beiden ungleichen, aber einander hart-herzlich zugetanen Frauen kursorisch dieses „Outback“ der USA. Es kommen zur Sprache: das weit überwiegend grässliche Essen; die seltsamen Kneipen und Bars mit ihrem vielfach bizarren menschlichen Inventar; die zumindest im College-Dunstkreis bis in die Provinz wabernde Wokeness, allem Beharrungsvermögen der meisten Durchschnittsbewohner zum Trotz. Ferner die irrwitzigen Einkaufszentren und Ladendörfer, deren Angebote Sargnagel sehr detailfreudig schildert. Sodann der unverwüstliche Autokult. Die religiösen Gruppen, Grüppchen und Sekten, teils auch im Nachklang uralter deutscher oder niederländischer Einwanderungs-Traditionen. Aber auch schwerer greifbare Phänomene wie die eigentümlich ausgebleichte Farbpalette der Landschaft.

Freundliche Leute, aber bewaffnet

Ein Exkurs führt nach Fairfield/Iowa, wo das weltgrößte Meditations-Zentrum des berühmten Beatles-Gurus Maharishi Mahesh Yogi sich befand und wo noch zahlreiche Adepten leben. Schließlich der grassierende Waffenwahn, aber auch die staunenswert gelassene Freundlichkeit der allermeisten Einheimischen. Sie wollen einfach eine gute Zeit haben und gönnen auch Fremden alles Gute. Sargnagel fällt dies besonders auf, weil es sich so sehr von ihrem heimischen Wien mit seinen missgünstigen Grantlern abhebt. Auch Rösingers Berlin gilt ja nicht gerade als lieblich. Dennoch gibt es Passagen, in denen man sich mit den beiden Protagonistinnen nach Europa zurücksehnt. Daran ändern auch Abstecher nach Chicago und Kalifornien nichts.

Das alles und einiges mehr fügt sich zu einem vielfältigen und vielschichtigen Bild dieser gar nicht unbedingt erzkonservativen Gegend. Iowa gilt (Trump zum Trotz) als „swing state“, in dem mal die Republikaner, mal die Demokraten die Oberhand haben. Dieser Bundesstaat bescherte seinerzeit Obama die ersten Erfolge auf dem Weg ins Weiße Haus.

Die surreale Sache mit dem Pelikan

Ein nicht nur unterschwelliges Grundthema ist die liebevolle, ironisch unterfütterte Beziehung zwischen den beiden reisenden Frauen, mitsamt den Untiefen weiblicher Selbst- und Fremdwahrnehmung. Christiane Rösinger kommt zu Wort, indem ihr gelegentlich korrigierende oder ergänzende Fußnoten zu Sargnagels Haupttext eingeräumt werden, womit etwas schelmisch Dialogisches in das Buch Einzug hält. Beide Frauen schätzen den trockenen, ja zuweilen ruppigen Humor und geben sich keinen haltlosen Träumereien hin, doch eine Szene fällt aus dem Rahmen: Christiane, so scheint es, fliegt einmal unversehens auf dem Rücken eines Pelikans dahin. Oder war’s nur schöne Einbildung, ein wundersamer Flug der Phantasie, weg von aller Erdenschwere?

Stefanie Sargnagel: „Iowa“. Ein Ausflug nach Amerika. Rowohlt, Reihe „Hundert Augen“. 304 Seiten, 22 Euro.




Schönheit im Tanz, Elend der Epileptiker – „Voodoo Waltz“ von Janja Rakus in Bochum

Pierre Bokma (li.), William Cooper. (Foto: Carolin Saage, Schauspielhaus Bochum)

„Ich bin ein Mann“ sagt der Mann auf der Bühne. Mühsam erhebt er sich vom Boden, mühsam zieht er Hemd und Hose an. Es ist der erste gesprochene Satz an diesem Theaterabend, verzweifelt-trotzige Selbstverortung. „Ich bin keine Frau“ setzt er nach, und haarklein wird er uns späterhin berichten, was er damit meint.

Choreographen inszenierten

Der Mann, mittleres Alter, gebeugte Körperhandlung, heißt im Stück Orfan und wird gespielt von Pierre Bokma, einer lange schon festen Größe im Bochumer Ensemble. Das Stück heißt „Voodoo Waltz“, wurde geschrieben von der jungen Slowenin Janja Rakus und von den niederländischen Tänzern Imre und Marne van Opstal, Geschwister die beiden, als hybride Hervorbringung aus Schauspiel, Tanz und viel Deklamation zu einem intensiven Bühnenprodukt verarbeitet, zu sehen nunmehr im Bochumer Schauspiel.

Chloé Albaret, Ramon John (von links). (Foto: Carolin Saage, Schauspielhaus Bochum)

Ivana, Orfan und Wilhelm sind die schauspielerischen Hauptfiguren des Stücks; Ivana (Stacyian Jackson) war Rechtsanwältin in dem Land, das sie verlassen mußte (Slowenien vielleicht?) und hat mit manchen Fällen aus dieser Vergangenheit noch nicht abgeschlossen; Wilhelm (William Cooper) zieht es zum Göttlichen, Psalmen (aus dem Off) säumen seinen Lebensweg, Orfan schließlich (sein Name aus dem Englischen übersetzt bedeutet Waisenkind) ist ein unglücklicher Sexarbeiter, zu dessen regelmäßigen Aufträgen es gehört, dem „Oldie“ mit seinen bizarren Vorlieben zu Diensten zu sein. Schließlich wird er in ihm seinen Vater erkennen, der ihn schlug und mißbrauchte und beizeiten zu eben jenem gescheiterten, unglücklichen Menschen machte, den Pierre Bokma in dieser Inszenierung sehr berührend gibt.

Boston Gallacher, Chloé Albaret, Pierre Bokma, Emilie Leriche, Ramon John, William Cooper (v.l.). (Foto: Carolin Saage, Schauspielhaus Bochum)

Rotlichtviertel

Die Menschheit zwischen hemmungslosem Trieb und Göttlichkeit, gut küchenfreud-ianisch zwischen „Es“ und „Über-Ich“, dargeboten in drei Bühnencha-rakteren, das ist doch schon was. Aber anrüchig bleibt es auf allen Ebenen, weshalb der Spielort irgendwie – Kulissen gibt es eigentlich nicht, wenn man von den leise ab und zu ihre Position verändernden Stoffbahnen absieht – im Amsterdamer Rotlichtviertel angesiedelt ist. Als eine Art Fremdenführerin hat da Puffmutter Kinga Xtravaganza ihre auftrumpfenden Monologe, die ebenso wie die Ex-Anwältin Ivana von der bühnenmächtigen, dunkelhäutigen Stacyian Jackson gespielt wird. A propos: Vorwiegende Bühnensprache ist Englisch, aber die Übersetzungen in der Projektion auf den Oberrand der Bühne kommen da gut mit, Deutsch in Englisch, Englisch in Deutsch, die Technik ist uneingeschränkt zu loben.

Androgyne, kraftvolle Wesen

Etwas ärgerlich ist nur, daß alles in allem eben recht viel Text gesprochen (und visuell übersetzt) wird. Der unüberwindliche Lesedrang hindert einen daran, den Tänzern beim Tanzen zuzugucken. Drei Paare, androgyne, kraftvolle Wesen, geben dem Schauspiel so etwas wie eine zweite, unaufdringlich-präsente, körperliche Nachzeichnung, sind schwerelos, schemenhaft manchmal gar. In gewisser Weise sind diese jungen Tanzkünstlerinnen und –künstler – „internationaler Cast“, laut Presseinformation – in ihrer Enthobenheit geradezu der idealisierte Gegenentwurf zu den armseligen Epileptikern. Wenn man es denn so sehen will.

Choreographie und Tanz finden oft nicht zueinander

Denn daß die Kombination – diese Kombination – von Opstals Choreografie und Rakus’ Geschichte künstlerischen Mehrwert schüfe, kann man auch nicht unbedingt sagen. Choreographie und Schauspiel bleiben oft für sich, nehmen nicht wirklich Beziehung zueinander auf. Dabei mag dem einen im Zuschauerraum zu viel Theater im Tanzstück sein, dem anderen zu viel Tanz in einem Plot, den man ja auch ganz naturalistisch hätte anlegen können.

Eher grau in grau als Voodoo Waltz

Nüchtern besehen sind die Geschichten, die hier erzählt werden, weder Voodoo noch Waltz, eher kümmerliches grau in grau. Unbestreitbar aber auch reihen sich zwei Stunden lang bemerkenswerte Einzelleistungen aneinander. Auch soll nicht bestritten werden, daß wir hier Helden „auf der Suche nach einer neuen Identität in einer Welt, die nicht wirklich für sie gemacht zu sein scheint“ (Presseinformation) begegnen. Nun, die trifft man im Theater relativ oft, aber oft sind sie weniger schillernd oder bedauernswert, je nachdem, als jene in „Voodoo Waltz“ am Bochumer Schauspielhaus. Das Publikum applaudierte erwartungsgemäß frenetisch, weitere Aufführungen folgen.

 




Eleganz und Feuer: Stipendiaten brillieren bei der Matinee der Mozart Gesellschaft im Konzerthaus Dortmund

Der niederländisch-amerikanische Geiger Stephen Waarts muss sich für die Blumenübergabe klein machen. (Foto: Stephan Lucka)

Das kleine Blumenmädchen reicht ihm kaum bis zum Knie. Es wirkt beinahe skurril, wie tief sich der nahezu zwei Meter große Geiger Stephen Waarts bücken muss, um den Strauß entgegenzunehmen, den das Kind ihm zum Dank für seinen Auftritt im Konzerthaus Dortmund reicht.

Die Bratschistin Emma Wernig, die mit ihm gemeinsam das Doppelkonzert e-Moll op. 88 von Max Bruch aufgeführt hat, erhält ebenfalls Blumen. Sie ist aktuell Stipendiatin der traditionsreichen Mozart Gesellschaft Dortmund, die auch Stephen Waarts über Jahre gefördert hat. Mehr als 150 junge Musikerinnen und Musiker hat der gemeinnützige Verein seit 1961 auf dem harten Weg in den Musikbetrieb unterstützt.

Bei der jüngsten Mozart Matinee, die sechsmal pro Saison im Konzerthaus stattfindet, gelingt es Waarts und Wernig, selbst verwöhnte Vielhörer für sich einzunehmen. Technik und Tongebung verraten schon nach wenigen Takten, zu welcher Meisterschaft sie es auf ihren Instrumenten gebracht haben.

Mit Blick auf die Wettbewerbserfolge des niederländisch-amerikanischen Geigers, Absolvent des berühmten Curtis Institute of Music in Philadelphia, und auf die Auszeichnungen der deutsch-österreichischen Bratschistin, die seit 2021 bei Tabea Zimmermann an der Hochschule für Musik Hanns Eisler in Berlin studiert, kann das nicht überraschen. Gleichwohl nimmt die Verblüffung über das Spiel der beiden zu, wenn sie sich vom rhapsodischen Beginn des Bruch-Doppelkonzerts immer weiter freispielen. Ihr Ton ist reich und intensiv, ihr Legato wunderbar dicht, die Intonation treffsicher. Beider Musikalität steht völlig außer Frage.

Sich gegen das Orchester zu behaupten, gelingt ihnen ohne zu forcieren. Vorzüglich, wie filigran und quecksilbrig sie Läufe und Aufschwünge vor der Folie spätromantischer Opulenz zum Leuchten bringen. Dazu trägt auch die Begleitung durch das Württembergische Philharmonie Reutlingen bei, die die Solisten unter der Leitung von Ariane Matiakh einfühlsam unterstützt.

Stephen Waarts und Emma Wernig spielten bei der Mozart-Matinee das Doppelkonzert für Violine und Viola e-Moll op. 88 von Max Bruch. (Foto: Stephan Lucka)

Dass Waarts Violinton lange im Ohr bleibt, liegt an einer fabelhaften Mischung aus Feuer und luftiger, atmender Eleganz, die Vergleiche mit den berühmtesten Geigern unserer Zeit heraufbeschwört. Nach dem zupackenden Finale erhalten er und Emma Wernig Riesenbeifall.

Die Württembergische Philharmonie Reutlingen, bereits zum dritten Mal bei einer Matinee der Mozart Gesellschaft Dortmund zu Gast, hatte ihr Programm ganz auf den Anlass zugeschnitten. Sie legt mit der „Symphonie classique“ von Sergej Prokofjew los – und beweist in dieser respektlos-genialen Jonglage mit klassischen Formen erstaunliches Geschick.

Ariane Matiakh wählt für den Kopfsatz ein moderates Tempo, setzt mit klarer, unprätentiöser Zeichengebung Impulse, die das Orchester aufmerksam umsetzt. Alles ist delikat und luzide, silbrig im Klang. Im Finale (Molto vivace) gibt Matiakh dann Vollgas: Nun fliegen die Funken, die Geigen schlagen schier Kapriolen, die Holzbläser jagen im Affentempo durch Tonwiederholungen. Das schnurrt ab wie der geölte Blitz.

Jacques Ibers originelle „Hommage à Mozart“, ein 1955 komponiertes kurzes Stück in Rondo-Form, bereitet nach der Pause Hörvergnügen. Einerseits feierlich, andererseits verspielt, droht dieser Balanceakt auf dem Drahtseil der Wiener Klassik immer wieder aus der Tonart zu kippen. Das Orchester macht das fürs Ohr transparent und nachvollziehbar.

Die französische Dirigentin Ariane Matiakh (Foto: Stephan Lucka)

Den Schlusspunkt bildet Mozarts „Jupiter“-Sinfonie. Deren Beginn lässt Ariane Matiakh weniger demonstrativ aufstampfen, als man es sonst oft hört. Sie setzt auf einen eher sanglichen Tonfall, auf feine Triller in den Geigen, auf die delikate Zurücknahme des Klangs ins Pianissimo. Das „Andante cantabile“ strömt in jenen himmlischen Dur-Gefilden dahin, wie sie nur Mozart zu öffnen verstand. Dass das Tempo im anschließenden Menuett nicht sofort steht, bleibt eine Randnotiz.

Durch den Finalsatz fegt die Württembergische Philharmonie Reutlingen noch einmal mit hoher Konzentration und Spielfreude. Die Motivsplitter, die in der äußerst kühnen Durchführung umeinander wirbeln, und die sprühende Freude, die Mozart in strahlendem C-Dur durch Raum und Zeit schickt, wurden wohl erst durch Beethovens Götterfunken abermals übertroffen.




Entlustet und mohrifiziert – Wortverhunzung und Schlimmeres im Dunstkreis des Vereins Deutsche Sprache

Katzen, die sich anschicken, über Tastaturen zu laufen, sind hoffentlich gegen die Versuchungen des Denglischen gefeit… (Foto: Bernd Berke)

Mit dem „Verein Deutsche Sprache“ (VDS), 1997 aus der Taufe gehoben vom Dortmunder Statistik-Professor Walter Krämer, hat es von jeher seine erzkonservative Bewandtnis. Bereits zu Gründerzeiten war es zu ahnen. Ich hatte schon damals das zweifelhafte Vergnügen, dies und jenes über den zwiespältigen Zusammenschluss zu schreiben, der heute nach eigenen Angaben rund 36000 Mitglieder hat.

Manchmal, ob nun punktuell oder partiell, scheint das eh schon schillernde Gebilde auch in Richtung rechtslastiger Umtriebe zu kippen, neuerdings wohl auch begünstigt durch die gesellschaftliche Großwetterlage. So wurde jetzt offenbar, dass VDS-Vorstandsmitglied Silke Schröder – neben einigen AfD-Angehörigen und Neonazis – an jenem unsäglichen Treffen nahe Potsdam teilgenommen hat, bei dem über die massenhafte Vertreibung von Bürgern nichtdeutscher Abstammung schwadroniert wurde. Selbst die etwaige deutsche Staatsbürgerschaft sollte nicht vor insgesamt millionenfacher Ausweisung schützen. Auch Menschen, die sich für Flüchtlinge und deren Belange einsetzen, sollten demnach gleich mit verschwinden – am besten in ein eigens geräumtes nordafrikanisches Gebiet. Wahnsinn.

Umgehend distanzierte sich der Sprach-Verein, der die Teilnahme Schröders nicht autorisiert und schon gar nicht angestoßen haben wollte. Auch kündigte sogleich der prominente Philosoph Peter Sloterdijk seine Mitgliedschaft auf. Viele dürften erst auf diese Weise erfahren haben, dass er dem Verein überhaupt angehört hat. Überdies haben einige weitere Mitglieder den Vereinsausschluss Silke Schröders und eine deutlich klarstellende Positionierung des VDS gefordert. Unter anderem haben sich Dieter Hallervorden und Ehrenmitglied Bastian Sick („Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod“) in diesem redlichen Sinne geäußert. Just heute (15. Januar) ist Frau Schröder aus dem Verein ausgetreten. Nach wie vor ist es übrigens aufschlussreich, auf der VDS-Homepage (deutschtümelnder Vereinsjargon: „Heimseite“) die Rubrik „Bekannte Mitglieder“ aufzurufen.

Wenn man schon mal auf der „Heimseite“ ist…

Wenn man sich schon mal auf der Seite herumtreibt, kann man gleich schauen, wie es um die Anglizismen-Bekämpfung des nunmehr in Kamen bei Dortmund angesiedelten Vereins bestellt ist. Man kann hier ein mit derzeit 430 Seiten recht umfangreiches, aber keinesfalls vollständiges Wörterbuch durchblättern, mit dem etliche englische Begriffe aufgeführt und mehr oder weniger triftig erklärt werden. So weit die lexikalischen Anstrengungen, die freilich weit hinter jedem seriösen Wörterbuch zurückbleiben.

Keine Frage, dass es etwas für sich hat, eine allzu bereitwillige Preisgabe deutscher Ausdrucksformen zu kritisieren. Manchmal mutet der demonstrative oder auch nur gedankenlose Hang zum Englischen wirklich stark übertrieben an. Doch wie es so zu gehen pflegt, wenn man sich ein Feindbild erkoren hat: Hie und da finden sich in den VDS-Listen Vorschläge zur Eindeutschung, die unfreiwillige Komik in sich bergen oder gar vor sich hertragen. Es folgen ein paar Beispiele. Wir wünschen viel Vergnügen, falls es einem noch nicht im Halse steckt:

abgefuckt = entlustet
abhotten = sich (tanzend oder zappelnd) enthitzen
Actionthriller = Geschehnisreißer
blackfacing = mohrifizieren
Deostick = Gegenduftstift
Deutschied = deutscher Abschied (für einen etwaigen Austritt aus der EU – statt Dexit)
Disco = Zappelschuppen
eros center = Körperlustladen
Erdnuss-Flips = Erdnuss-Röstwürmer

Haarspray = Haarhaltgeber
Hacker = Programmparolenknacker
Handy = Telefönchen
iPad = Brettrechner

„Unerwachtes Sprachbewusstsein“

Insbesondere die technischen Begriffe aus dem Computerbereich dürften kaum noch ins Deutsche rückholbar sein. Während sich das Wortverzeichnis über weite Strecken einigermaßen neutral gibt, schleichen sich doch an manchen Stellen explizite Wertungen ein. Auf Seite 220 heißt es, eine an sich harmlose anglophone Wortverwendung („Kidney-Bohnen“) sei „ein Exempel unerwachten Sprachbewusstseins“. Nein, da steht (noch) nicht „Sprachbewusstsein, erwache!“ Bonus-Beispiel: Das englische Wort hookup verweist nach VDS-Lesart auf – so wörtlich mit Rufzeichen – „Triebauslebe-Unkultur (!)“. Schwingt da nicht einiges von der „Zuchtlosigkeit“ aus unguten Zeiten mit?

Apropos Triebe: Derbere sexuelle Konnotationen meidet man beim VDS tunlichst – oder man bemerkt sie erst gar nicht. So wird das englische „cock“ lediglich mit „Hahn“ übertragen, während „fisten“ nur der Faustabwehr des Fußballtorwarts zugeordnet wird. Ergänzende Erläuterung wohl überflüssig.

Die allermeisten „Anglizismen“ sind – streng genommen – eigentlich gar keine. Anglizismen im engeren Sinn sind englische Fügungen, die sich dem Deutschen aufprägen, wie etwa in der Formel „Es macht Sinn“ (von „It makes sense“) statt „Es ergibt Sinn“ oder neuerdings in „Da hast du einen Punkt“. In den allermeisten Fällen geht es allerdings schlichtweg um so genanntes „Denglisch“. Überdies handelt es sich bei vielen Übernahmen und Anverwandlungen aus dem Englischen unterschwellig um lateinisches oder griechisches Wortgut, das in manchen Kreisen immer noch eher mit höherer Bildung assoziiert wird. Jaja, es ist kompliziert – und selten so simpel, wie vom VDS verbreitet.




Zum Tod des Dortmunder Theatermachers Rolf Dennemann

Rolf Dennemann auf der Theaterbühne. (Foto: © Guntram Walter)

Der Dortmunder Theatermacher, Schauspieler und Autor Rolf Dennemann ist gestorben – viel zu früh mit 71 Jahren.

Ein einziges Mal hat Rolf Dennemann an einem Autorentreffen der Revierpassagen teilgenommen, doch kann ich leider nicht behaupten, ihn wirklich näher gekannt zu haben. Umtriebig, ja getrieben schien er an jenem Abend zu sein. Er hat sich denn auch vorzeitig verabschiedet. Rückblickend betrachtet, war es ein geradezu gespenstischer, ungemein betrüblicher Abend, denn auch einen anderen unserer Autoren, den schmerzlich vermissten Kulturkenner Martin Schrahn, habe ich damals zum allerletzten Mal gesehen. Wie nichtsahnend wir geplaudert haben…

Vor Jahren hat Rolf Dennemann hin und wieder für die Revierpassagen geschrieben. Vor allem ist mir seine dreiteilige Serie „Krankenhausreport“ in Erinnerung geblieben, in der er 2014 höchst eindrücklich seine teilweise bizarren Erfahrungen beim Klinik-Aufenthalt beschrieben hat. Daraus und aus weiteren Notizen ist einige Zeit später die Vorlage zu einem seiner Theaterprojekte geworden. Alles wurde ihm zur Szenenfolge.

Nachdem ein anderes Medium kurzerhand nur die Pressemitteilung der Stadt Dortmund als Nachruf auf Rolf Dennemann publiziert hat, erlauben wir uns mit den folgenden Absätzen ausnahmsweise ein ähnliches Verfahren, freilich in transparenter Darbietung. Hier also der (leicht gekürzte) Wortlaut der städtischen Würdigung:

„Rolf Dennemann war ein kreativer Geist in vielen Bereichen der regionalen und überregionalen Kulturszene. Er hat sie durch seine Ideen, Inszenierungen, Inspirationen und sein Engagement für die Kulturschaffenden sehr geprägt.

(…) Dennemann wurde in Gelsenkirchen geboren und lebte seit den 1990ern in Dortmund. Er war freischaffender Regisseur, Autor, Festivalleiter und Schauspieler. Außerdem war er als Gründungsmitglied und geschäftsführender Vorstand prägend für die künstlerischen Produktionen des Vereins „Artscenico“ in Dortmund. Er war langjähriger Leiter des internationalen Theaterfestivals „off limits“ und hat (…) bedeutende internationale Produktionen nach Dortmund geholt. Von 1996 bis 1998 leitete er den „Theaterzwang“ (jetzt „Favoriten“), ein (…) Festival der freien Theaterszene aus NRW in Dortmund (…)

Rolf Dennemann (…) war Spezialist für ortsspezifische Inszenierungen auf ehemaligen Industriegeländen – in Parks, Hotelzimmern, sakralen Räumen, Brachflächen oder Wohnblöcken. Mehr als 50 (…) performative Theaterstücke hat er produziert. Dabei war ihm nicht nur wichtig, sich der besonderen lokalen Bedeutung der Orte im Ruhrgebiet zu nähern, sondern damit auch andere Menschen anzusprechen, die nicht zum Stammpublikum im Theater gehören. (…)

Als Schauspieler war Dennemann nicht nur auf Bühnen präsent. Er arbeitete für Kino- und Fernsehproduktionen unter anderem mit dem Dortmunder Regisseur Adolf Winkelmann in seinen Filmen „Nordkurve“, „Eine einzige Tablette“ und „Junges Licht“. Auch andere deutsche Regisseure setzten auf den Schauspieler: Tom Tykwer („Der Krieger und die Kaiserin“), Fatih Akin („Solino“) und Detlev Buck („LiebesLuder“) zum Beispiel, auch für den „Tatort“ stand er schon als „Ruhrgebietsoriginal“ vor der Kamera. (…)

„Rolf Dennemann hat die Kulturszene auf vielfältige Weise geprägt. In der Region und hier in Dortmund hat er viele Spuren hinterlassen, er wirkte aber auch international auf Festivals und in Projekten und führte die Menschen zusammen. Als Mensch, als Künstler, als kreativer Querdenker wird er sehr fehlen“, so Kulturdezernent Jörg Stüdemann.“

 

 




„Jo, der Froonz“ – Zum Tod von Franz Beckenbauer

Haben soeben den WM-Titel 1974 gewonnen (von links): Gerd Müller, Franz Beckenbauer und Trainer Helmut Schön. (Wikipedia Creative Commons, Bert Verhoeff für Anefo) Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/nl/deed.en

Nein, wir wollen hier nicht seine gesamte (sportliche) Biographie herunterrattern, sie war imposant genug und in Fußball-Deutschlands Breiten unerreicht.

Es gab Zeiten, da hätte Franz Beckenbauer, der gestern mit 78 Jahren gestorben ist, durchaus Bundespräsident oder dergleichen Gewichtiges werden können – zumindest „gefühlt“. Boulevard-Medien krönten ihn gar zum „Kaiser“, nahezu alle Welt übernahm diesen Titel. Was sonst will man in einem Lande machen, das keine Monarchen mehr hat? Nun gut, manche kürten ihn auch zur geradezu erdenthobenen „Lichtgestalt“.

Ganz persönlich erinnere ich mich an einen unscheinbaren, aber vielleicht doch bezeichnenden Moment zur Mitte der 1960er Jahre im Dortmunder Stadion Rote Erde, dem Vorläufer des Westfalenstadions (vulgo Signal-Iduna-Park). Es gastierten die Bayern, damals noch Aufsteiger und Emporkömmlinge der Bundesliga. Franz Beckenbauer fing einen Dortmunder Angriff souverän ab und leitete einen eigenen ein. Da ertönte hinter uns Kindern eine sonore, bayerisch getönte Stimme: „Jo, der Froonz…“ Es lag das ganze Urvertrauen darin, das sie in ihren höchstbegabten Libero hatten und zu Recht haben durften.

Mit der WM 1990 den Zenit erreicht

Schon beim legendären Wembley-Endspiel 1966 ist er mit dabei gewesen, 1974 hat er als Spieler und 1990 als Trainer („Teamchef“) die Fußball-Weltmeisterschaft errungen. Sein stiller Gang übers Spielfeld inmitten des Triumphs ist zum Inbild geworden. Es war der Zenit seiner großen Laufbahn. Damals schien er über manche, wenn nicht alle Zweifel erhaben zu sein. Töricht allerdings seine Einschätzung, nach der deutschen Vereinigung werde die Nationalmannschaft „auf Jahre hinaus unschlagbar“ sein. Noch ungleich törichter dann einiges, was er auf Funktionärs-Ebene unternommen hat. Es soll nicht weiter vertieft werden. Nicht hier und heute. Wie er die WM 2006 nach Deutschland geholt hat? Sagen wir’s mit bedenklich wiegendem Kopfe und den Worten von Gerhart Hauptmann aus dem „Weber“-Drama: „Nu ja ja, nu nee nee“.

Stets tauglich für Gesprächsstoff und Parodien

Zusammen mit dem weitaus weniger eleganten Uli Hoeneß hat Beckenbauer die Grundlagen zur dauerhaften Dominanz des FC Bayern München gelegt. Selbst als Ruhrgebiets-Bewohner – und zumal Dortmunder – muss man solchem Wirken einen gewissen Respekt zollen, auch wenn von „echter Liebe“ in dieser südlichen Richtung natürlich keine Rede sein kann. Trotzdem fehlten die oft goldigen, manchmal auch schneidigen Meinungsäußerungen des sonnigen Gemüts Beckenbauer schon seit einiger Zeit, sie waren stets unterhaltsam und haben für Gesprächsstoff gesorgt. Dankbar haben die Medien jedes Wort aufgegriffen. Sprichwörtlich wurden auch Satzfetzen aus seinen Werbeauftritten – von „Kraft auf den Teller, Knorr auf den Tisch“ bis hin zu „Jo, is‘ denn heut‘ scho‘ Weihnachten?“

Nicht die geringste Qualität Beckenbauers hat sich eben darin gezeigt, dass er wunderbar parodiert werden konnte und also ein unverwechselbares Profil hatte. Allen voran hat dies Olli Dittrich (alias „Dittsche“) bewiesen, der für TV-Features in die Rolle des „Kaisers“ schlüpfte und sogar einen Doppelgänger desselben mimte.




Wie sich die Arbeitswelten wandeln (und was darüber geschrieben wird) – 50 Jahre Fritz-Hüser-Institut in Dortmund

Es waren andere Zeiten: Fritz Hüsers Büro in der Hauptverwaltung der Stadtbücherei Dortmund (damals Hohe Straße 100), sozusagen eine Keimzelle des Hüser-Instituts. (© Fritz-Hüser-Institut)

Wo soll man anfangen und wo aufhören? Wo beginnt die „Arbeitswelt“, wo endet sie? Solche Fragen drängen sich auf, wenn es um die Entwicklung des „Fritz-Hüser-Instituts für Literatur und Kultur der Arbeitswelt“ in den letzten 50 Jahren geht.

50 Jahre – das ist die Zeitspanne seit Gründung der in Dortmund ansässigen Einrichtung, die aus der Büchersammlung des Bibliothekars und vormaligen Werkzeugmachers Fritz Hüser (1908-1979) hervorgegangen ist und kürzlich Jubiläum feiern konnte. 1973 übergab Hüser seine seit den 1920er Jahren entstandene Sammlung, die bis heute auf rund 50.000 Bände sowie etliche literarisch Vor- und Nachlässe angewachsen ist, offiziell der Stadt Dortmund. Die Bestände sind im deutschsprachigen Raum, aber auch international ohne Beispiel. Doch sie sammeln in Dortmund nicht nur, sie forschen auch, veranstalten Fachtagungen, vergeben Stipendien – und so weiter.

Längst nicht nur industrielle Maloche

Freilich hat es zunächst gedankliche Begrenzungen gegeben: Unter „Arbeitswelt“ verstand man in den Anfangszeiten fast nur die knochenharte industrielle Maloche in Zechen und Stahlwerken. Wesentlich geprägt wurden solche Vorstellungen von der damaligen Realität des Ruhrgebiets, wie sie sich zumal in der Dortmunder „Gruppe 61“ und im 1970 gegründeten Werkkreis Literatur der Arbeitswelt abzeichnete. Doch unter sukzessiver Leitung von Fritz Hüser, Rainer Noltenius (ab 1979), Hanneliese Palm (ab 2005) und jetzt Iuditha Balint (seit 2018) wurde das Betätigungsfeld zusehends ausgedehnt.

Die jetzige Instituts-Leiterin Iuditha Balint. (© Roland Gorecki / Stadt Dortmund)

In all den Jahren hat der Begriff der Arbeitswelt einige Weiterungen erfahren. Iuditha Balint und ihr Team entdecken in der Literaturgeschichte und in Neuerscheinungen zahllose Werke, die den Themenkreis auf vordem ungeahnte Weise vergrößern. So haben z. B. auch Goethe („Wilhelm Meister“) oder Thomas Mann („Buddenbrooks“) recht eigentlich Arbeitswelten geschildert. Und wenn es um Bergbau geht, so war nicht erst Max von der Grün, sondern beispielsweise auch schon der Romantiker Novalis ein lebensweltlicher und literarischer Fachmann.

Prekäre Verhältnisse inbegriffen

Bereits in den 1920er Jahren fand – neben den „klassischen“ Arbeitern – das Leben der Angestellten Eingang in die Literatur. In den späten 70ern führte etwa Wilhelm Genazinos „Abschaffel“-Trilogie solche Ansätze beispielhaft fort. Ganzheitlich verstanden, definiert sich Arbeitswelt längst auch durch gegenläufige Biographien und Beschreibungen. Arbeitslosigkeit und prekäre Verhältnisse spielen denn auch in (auto)fiktionalen Texten eine wesentliche Rolle. Ferner wäre da die traditionsreiche Literatur über Vagabunden und Vaganten, wie denn überhaupt auch die Ablehnung von Arbeit innig mit der Arbeitswelt zu schaffen hat, gleichsam wie ein Negativ-Abdruck. Nebenbei bemerkt: Sprachgeschichtlich war Arbeit lange mit Mühsal und Qual verknüpft, verheißungsvolle Merkmale wie Sinnstiftung und Wohlstand wurden erst relativ spät damit verbunden.

Bis hin zum Workout und zur „Beziehungsarbeit“

Dass sich zuletzt viele Romane, Erzählungen, Stücke oder Gedichte um digitale Jobs (bis hin zu erbärmlich bezahlten „Clickworkerinnen“) drehten, versteht sich von selbst. Auch Selbstoptimierung im Fitness-Bereich („Workout“) darf bei weitherziger Auslegung als spezielle Form von Arbeit gelten, exemplarisch in John von Düffels Buch „Ego“. Spannend überdies, was sich derzeit in der Literatur begibt. Durch Beobachtung des Buchmarkts, Gespräche mit Autorinnen und Autoren sowie Jury-Arbeit bemerken sie beim Hüser-Institut aktuelle Tendenzen recht früh. Instituts-Chefin Iuditha Balint: „Wir bekommen ziemlich genau mit, was gerade entsteht.“ Nämlich?

Nun, es treten lange ignorierte oder zumindest unterschätzte Phänomene wie Hausarbeit, elterliche Arbeit und Pflege (so genannte „Care-Arbeit“) oder auch „Beziehungsarbeit“ in den Vordergrund – und damit zunehmend Frauen als Protagonistinnen. Und außerdem? Balint: „Es wird gerade erstaunlich viel über Solidarität geschrieben, über Widerstand, Streiks und Demonstrationen.“ Sollte sich die Literatur hier abermals als Seismograph erweisen? Sollte etwa eine neue Bewegung entstehen, so etwas wie eine außerparlamentarische Opposition neueren Zuschnitts? Wir werden sehen.

Staunenswerter Lebenslauf 

Staunenswert übrigens auch der Lebenslauf von Iuditha Balint. In Rumänien als Angehörige der ungarischen Minderheit zweisprachig aufgewachsen, kam sie erst ums Jahr 2000 nach Deutschland. Wie sich die einstige Kindergärtnerin seitdem die deutsche Sprache angeeignet, studiert, promoviert und wissenschaftliche Karriere gemacht hat, das macht ihr so schnell niemand nach.

Dortmund mit seiner vielfältigen freien Kulturszene dürfte unterdessen der ideale Standort eines solchen Instituts sein; erst recht in unmittelbarer Nachbarschaft der kathedralenhaften Zeche Zollern, der Zentrale des LWL-Industriemuseums. Hier und im ganzen Revier hat man sich stets als Arbeiter-Gegend verstanden. Wohl kein Zufall, dass ganz in der Nähe auch die an eine Bundesanstalt angegliederte DASA (vielbesuchte Arbeitswelt-Ausstellung) residiert. Ja, selbst im hiesigen, stets ungemein wichtig genommenen Fußball geht die Rede, dass selbiger vor allem „gearbeitet“ und nicht so sehr leichtfüßig gespielt werden solle.

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Fritz-Hüser-Institut für Literatur und Kultur der Arbeitswelt. Grubenweg 5, 44388 Dortmund. Öffnungszeiten Mo-Do 10-16 Uhr, Terminvereinbarung erforderlich. Tel.: 0231 / 50-23135. Mail: fhi@stadtdo.de

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Der Beitrag ist in ähnlicher Form zuerst im Kulturmagazin „Westfalenspiegel“ erschienen.