Die hohe Kunst der Heuchelei: Das Opernstudio NRW zeigt seine Abschlussarbeit in Gelsenkirchen

Der Wundertheaterdirektor (Christopher Hochstuhl) und seine Gefährtin (Rina Hirayama). (Foto: Sascha Kreklau / Musiktheater im Revier)

Die Komponistenfreundschaft zwischen Karl Amadeus Hartmann und Hans Werner Henze verband zwei ungleiche Charaktere. Hartmann, gebürtiger Münchner, war bodenständig und familienbezogen, gewann aus seiner gesellschaftlichen Position Sicherheit im Auftreten. Henze, früh auf der Flucht aus dem westfälischen und kleinbürgerlichen Milieu, fühlte sich eher als Außenseiter, versteckte sich gerne hinter Luxus und Masken.

Wie gut beide trotzdem harmonieren können, zeigt die Abschlussproduktion des Opernstudios NRW, die auf der kleinen Bühne des Musiktheaters Gelsenkirchen Premiere hatte. Unterstützt durch Gäste, verbinden die acht Mitglieder des aktuellen Jahrgangs Henzes Kurzoper „Das Wundertheater“ mit Hartmanns fünfteiligem „Wachsfigurenkabinett“, das erst durch Henzes Ergänzungen vollständige Form annahm.

Hinter der vermeintlich kleinen Produktion verbirgt sich ein großer Aufwand. Es braucht ein äußerst variables Bühnenbild, minutiöse Arbeit mit dem Orchester und jede Menge Kostüme, um die Miniaturen zur Bühnenreife zu bringen. Obwohl Dirigent Gregor Rot kurzfristig einspringen musste und die Probenarbeit durch Corona-Ausfälle immer wieder torpediert wurde, ist das Ergebnis erstaunlich gelungen. Das junge Gesangsensemble findet einen sorgsam präparierten Boden vor, auf dem es seine Stärken ausspielen kann.

Der ukrainische Bassist Yevhen Rakhmanin als Gobernadór. (Foto: Sascha Kreklau / Musiktheater im Revier)

In der turbulenten, aber nie nervig überdrehten Regie der Budapesterin Zsófia Geréb zeigen die Sängerinnen und Sänger hingebungsvolle Lust an der Farce. Die Kunst, sich selbst und andere zu belügen, feiert dabei fröhliche Urständ: zunächst in Henzes „Wundertheater“, das angeblich nur von jenen Zuschauern gesehen werden kann, die in einer rechtmäßigen und christlichen Ehe gezeugt wurden.

Im Bühnenbild von Ivan Ivanov, einer doppelseitigen Showtreppe mit mittig eingebautem Theatervorhang, wird bald geheuchelt, dass sich die Balken biegen. Die Rokoko-Kostüme (ebenfalls von Ivanov) unterstreichen die aufgeblasene Moral der Figuren. Auch das Orchester setzt Ausrufungszeichen: Paukenschläge, Trompeten-Signale und affektiert gedrechselte Instrumentalsoli machen die Ironie des Spiels zum Vergnügen. Die Neue Philharmonie Westfalen ist unter Gregor Rots Dirigat herrlich punktgenau.

In Hartmanns „Wachsfigurenkabinett“ setzt sich dieser Esprit fort. Wanderprediger, Trunkenbolde, eine allzu rasch trostbereite Witwe und amerikanische Idole wie Charlie Chaplin und Henry Ford paradieren vorbei. Mögen Orte und Szenen auch gleitend wechseln, der Opportunismus, der hier satirisch aufgespießt wird, bleibt eine Konstante. Für die guten Gesangsleistungen seien einige exemplarisch genannt: der elegante und doch kraftvolle Bariton des Ukrainers Oleh Lebedyev, der durchschlagskräftige Sopran der Südkoreanerin Heejin Kim und der lyrische Tenor des Amerikaners Christopher Hochstuhl.

In einem Bogen führt die Regie den Ausgang des Spiels zum Anfang zurück. „Jetzt schnell ein Liebesduett und dann ins Bett“, hatte Hartmanns „Witwe von Ephesus“ kurz zuvor noch gewitzelt. Dass das nicht so platt ankommt, wie es beim Lesen klingt, sagt einiges über den fein gemachten Abend.




Bochumer Theaterpläne: Fleischfabriken, Abstieg in die Unterwelt – und endlich der „Macbeth“

Eingehende Beschäftigung mit Euripides, Büchner und Shakespeare: Intendant Johan Simons, hier bei der heutigen Bochumer Programm-Pressekonferenz. (Foto: Daniel Sadrowski)

Kürzlich kursierte im Netz das Schaubild über Anteile der vielfältigen Todesarten bei Shakespeare. Erdolchen stand mit 30 Fällen weit vorn, Ableben durch Schlangenbiss kam nur einmal vor, das finale „Einbacken in Kuchen“ immerhin zweifach. Wie ich darauf komme? Weil heute bekannt wurde, wann in Bochum eines der schaurigsten Shakespeare-Dramen, der wegen Corona immer wieder verschobene „Macbeth“ (Regie: Johan Simons), endlich Premiere haben soll: am 12. Mai 2023. We hope so.

Zur heutigen Spielplan-Pressekonferenz zogen Intendant Simons und Chefdramaturg Vasco Boenisch Zwischenbilanz. Auch nach (vorläufigem?) Abebben der diversen Corona-Wellen sei nicht das gesamte Publikum ins Theater zurückgekehrt. Offenbar hätten manche Menschen immer noch Angst vor Ansammlungen, hätten vielleicht keine Lust auf Kultur mit Maske – oder sie seien unsicher, ob man sich auch wirklich auf die Termine verlassen kann. Leider sei bei manchen Leuten das Bedürfnis nach Kultur doch nicht ganz so groß, wie man gehofft hatte, so Dramaturg Boenisch. Außerdem müssten nicht wenige verstärkt darauf achten, wofür sie ihr Geld ausgeben.

Ein wahrer „Tsunami“ der großen Themen

Dennoch sei eine große Sehnsucht nach Geschichten und Emotionen spürbar, wie sie so nur das Gemeinschaftserlebnis Theater bieten könne. Johan Simons beschwor die erhabenen Momente einer unglaublichen Stille, die es in besonders guten Aufführungen geben könne, wenn die Zuschauer gleichsam den Atem anhalten. Ansonsten, so Simons weiter, gebe es keine Ruhe mehr. Er sprach von einem wahren „Tsunami“ an ganz großen Themen, der (auch) auf die Theater einstürme – „wie eine Heimsuchung“: Krieg in der Ukraine, Pandemie, Klimawandel und so weiter. Mit welchen Produktionen reagiert das Bochumer Schauspiel darauf? Nun, wir wollen hier nicht alle 21 neuen Vorhaben nennen, sondern nur eine Auswahl. Here we go:

Titelseite des neuen Bochumer Programmheftes für die Spielzeit 2022/2023. (© Schauspielhaus Bochum)

Die erste Premiere der nächsten Saison wird für den 9. September angekündigt: die Uraufführung der Roman-Adaption „Dem Freund, der mir das Leben nicht gerettet hat“ nach Hervé Guibert (Regie: Florian Fischer). Am Beispiel der Aids-Epidemie in den 1980er Jahren geht es um existenzielle Fragen zwischen Liebe, Leben und Tod, wobei auch die Rolle der Pharma-Industrie in den Blick gerät. Parallellen zur Corona-Pandemie? Möglich wär’s.

„Alkestis“ vor 14000 Menschen – und dann im Schauspielhaus

Tags darauf, am 10. September, kommt eine deutsch-griechische Koproduktion auf die Bochumer Bühne, die zuvor in Athen Premiere hat, und zwar in einem Amphitheater für 14.000 (!) Zuschauerinnen und Zuschauer. Johan Simons setzt Euripides‘ Drama „Alkestis“ in Szene, wobei er in dem Riesenrund ganz anders zur Werke gehen muss als in Bochum, wo das Ganze auf menschliches Maß zurückgeführt wird. Hört sich sozusagen nach einer Herkules-Aufgabe an. Im Stück geht es jedenfalls darum, dass einzig und allein die Frau des Königs (Simons: „Ein Macho“) bereit ist, sich für ihn aufzuopfern, damit er weiterleben kann. Den Stoff hat Simons, der von einem Satyrspiel spricht, bereits als Oper (von Gluck) für die Ruhrtriennale behandelt.

Maxim Gorkis „Kinder der Sonne“, tragikomische Beschreibung einer gespaltenen Gesellschaft, kommt ab 7. Oktober ins Programm, zuständig ist die aus Slowenien stammende Regisseurin Mateja Koležnik. Es geht um elitäre Zirkel, die großspurig die Zukunft der Menschheit planen, aber nicht wahrnehmen, welche Dramen sich in der ärmeren Bevölkerung abspielen.

„Der Bus nach Dachau“ und eine „schamanistische Oper“

Am 5. November präsentiert die Toneelgroep Amsterdam (früher „De Warme Winkel“) das Kooperations-Projekt „Der Bus nach Dachau“. Niederländische KZ-Überlebende schicken sich an, den Ort des Schreckens Jahrzehnte später aufzusuchen. Dabei sollen deutsche Darsteller die Rollen von Holländern spielen – und umgekehrt. Daraus sollen sich (selbst bei diesem ernsten Thema der Erinnerungskultur) auch komische Momente ergeben. Johan Simons, der auch die Kunst des Rühmens wunderbar beherrscht, bescheinigt dem Toneelgroep-Kollektiv vorab „große kluge Ironie“.

Noch mehr Impulse aus den Niederlanden: Suzan Boogaerdt und Bianca van der Schoot (zusammen: BVDS) arbeiten an der Kreation „Underworld – A Gateway Experience“, die am 20. Januar 2023 in den Kammerspielen Premiere haben soll. Elemente der Performance und der Installation überschreiten bei ihnen die üblichen Mittel des Theaters ebenso, wie sie eine „transhumane Ästhetik“ jenseits des Menschlichen anstreben. Ihre Produktion fußt auf dem Mythos von Amor und Psyche und simuliert einen Abstieg in die Unterwelt – nicht zuletzt mit „feministischen Ritualen“. Vielleicht werden wir dann ahnen, was es damit auf sich haben könnte, ebenso wie mit der rätselhaften Gattungsbezeichnung „Schamanistische Oper“…

Am Fließband der Fleischindustrie

Weitaus alltäglicher muten die beiden folgenden Stoffe an: Am 4. März 2023 ist „Das Tierreich“ von Jakob Nolte und Michel Decar zu entdecken, ein Wort- und Bilderbogen des Erwachsenwerdens anhand eines Sommers, den eine Gruppe Jugendlicher erlebt. Regisseurin Friedrike Heller mag über die Koproduktion mit der Folkwang Universität der Künste nicht allzu viel verraten, eigentlich nur dies: Das zehn Jahre alte Stück gewinne erstaunliche neue Aspekte, so komme zum Beispiel ein Leopard-Panzer vor. Wundersames Tierreich, fürwahr.

In scheußliche Untiefen der Arbeitswelt führt das Stück „Am laufenden Band“ (Premiere am 24. März 2023) – alles andere als Unterhaltung à la Rudi Carrell, dessen Erfolgssendung einst so hieß. Vielmehr geht es um Fließbandarbeit in Fleischfabriken. Bestimmt kein Fehler, dass sich das Theater auch wieder einmal solchen Themen widmet.

Weitere Stücke werden noch gesucht. In der Findungsphase ist u. a. eine Produktion, in der Sandra Hüller und Gina Haller (die den Bochumer „Hamlet“ geprägt haben) gemeinsam auftreten sollen. Der Termin steht schon fest: 3. März 2023.

Büchners „Woyzeck“ noch mehr fragmentieren

Wir steuern die Schlusskurve an – und finden einen Giganten des Theaters: Georg Büchner, dessen „Woyzeck“ erstmals am 9. April 2023 auf dem Spielplan steht. Auch diese Inszenierung hatte schon andernorts Premiere – in Wien, mit dessen Burgtheater man kooperiert und wo es zwei der begehrten Nestroy-Preise für die Regie (Johan Simons) und Steven Scharf als besten Schauspieler gab. Es ist bereits Simons‘ dritte Auseinandersetzung mit dem schier unergründlichen Fragment. Oft sei versucht worden, die recht kurzen Bruchstücke mit anderen Texten „anzureichern“. Simons hingegen will einen gegenläufigen Weg einschlagen: noch mehr fragmentieren, noch mehr weglassen – und dafür langsamer spielen, auch mit deutlichen Pausen. Die unvergleichliche Kraft von Büchners Sprache (Simons: „Er schreibt Sätze, mit denen man sich tagelang beschäftigen kann.“) trage auch über Wartezeiten hinweg. Schauplatz des eigentlich todtraurigen Stückes ist eine Zirkus-Arena. Woyzeck agiere darin wie jener Clown, der vorne mit den Händen aufbaut und mit dem Hintern wieder einreißt. Simons: „Bei ihm geht alles schief.“

Der Kartenvorverkauf für die nächste Spielzeit beginnt am 10. August 2022. Ausführliche Infos: www.schauspielhausbochum.de

 

 

 




Wir sind Helden: Das Theater Hagen inszeniert ein Rock-Konzert zum Mitfeiern

Trio infernale: Vanessa Henning, Patrick Sühl und Hannes Staffler heizten die Stimmung im Theater Hagen mächtig an. (Foto: Matthias Jung)

Zum Finale lässt das Theater Hagen es noch einmal richtig krachen. Bringt die große Show auf die kleine Bühne. Feuert kurz vor Spielzeitende am 12. Juni alles heraus, was seine Abteilungen zu bieten haben, inklusive Bühnentechnik, Kostümabteilung, Beleuchtungsmeister, Tänzer, Sänger, Musiker und Sound-Designer. „Heroes“ heißt dieses theatralische Rock-Konzert zum Mitfeiern, in Anlehnung an den gleichnamigen Hit von David Bowie.

Thilo Borowczak, Disponent und Oberspielleiter des stets von Unterfinanzierung bedrohten Theaters, setzt damit ein Erfolgsformat fort. Schon die von ihm inszenierte Undergroundparty „Take a Walk on the Wild Side“ sorgt seit der Premiere im Jahr 2018 für ausverkaufte Vorstellungen. Mit „Heroes“ folgt jetzt eine Neuauflage, in der die Besucher ein Stück ihrer eigenen musikalischen Sozialisation wiederfinden: von den Rolling Stones bis zu Adele, von The Doors bis Pink.

Was dabei herauskommt, ist mehr als eine Hitparade, mehr auch als eine Ranschmeiß-Orgie an das Publikum. Das liegt an der durchdachten Abfolge der Songs, die oft gesellschaftskritisch sind, aber auch von den individuellen Nöten der Jugend erzählen. Es geht um Sehnsucht, Sex, Liebeskummer und Einsamkeit, manchmal auch um schieren Hedonismus, wie ihn Robbie Williams‘ Ohrwurm „Let me entertain you“ prototypisch zelebriert.

Hannes Staffler als „Englishman in New York“ von Sting. (Foto: Matthias Jung)

Selbstredend surft der Abend auf der Erfolgswelle berühmter Songs. Aber die fließenden Übergänge schmieden aus einzelnen Titeln ein größeres Ganzes. Dabei helfen die Drehbühne und Videobilder, die für Stings „Englishman in New York“ die passende Skyline herbeizaubern, aber auch Zeitgeschichte Revue passieren lassen. Das ist nicht immer ungefährlich. Wenn die Regie zu John Lennons „Imagine“ einen Drohnenflug über zerstörte ukrainische Städte einblendet und im direkten Anschluss Freddy Mercurys pathetisches „The Show must go on“ folgen lässt, bleibt die Botschaft irritierend unklar.

Die Bühnenshow ist aber sondergleichen. Hans-Joachim Köster entfesselt ein verschwenderisches Spektakel aus Scheinwerfer-Effekten, Kunstnebel, Pyrotechnik und Glitzer-Konfetti. Lena Brexendorff ergänzt das durch einen Kostümrausch, der immer neue Überraschungen bietet. Bis zur Erschöpfung verausgaben sich neben den Tänzern drei Sänger, die authentisch bleiben, obwohl sie in die Fußstapfen von Superstars treten.

Bühnenspektakel: Die Show „Heroes“ lädt zum Mitfeiern ein. (Foto: Matthias Jung)

Vanessa Henning, Hannes Staffler und Patrick Sühl rocken im Wortsinne das Haus. Ihre stimmliche Flexibilität reicht für phonstarke Exzesse von Nirvana, aber auch für den erotischen Blues von Amy Whinehouse und den Gentleman-Sound von Sting. Unter der musikalischen Leitung von Andres Reukauf heizen sie die Temperatur im Saal kontinuierlich auf. Im Parkett und auf den Rängen feiern die jung Gebliebenen, die sich gerne an die Revolten von einst erinnern, mit Kissenschlacht und Klatschmärschen.

(Weitere Termine: 16. Juni, 31. August, 25. September, 30. Oktober, 26. November. Karten unter Tel 02331/207-3218 oder unter www.theaterhagen.de)




Die Comedians sind los oder: Was doch noch für Netflix sprechen könnte

Der britische Comedian James Acaster bei einem Auftritt am 1. November 2018. (© Wikimedia Commons, by Raph_PH – Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/)

Was den Medienkonsum angeht, habe ich ein neues Hobby, nein, man muss schon sagen: eine neue Liebhaberei. Und ich habe sie da gefunden, wo ich sie eigentlich nicht vermutet hätte. Netflix setzt nämlich auch bei uns zunehmend auf englischsprachige Stand-up-Comedians, deren Auftritte im Original mit deutschen Untertiteln gestreamt werden. Ja, gewiss doch: Wenn manche dieser Leute so richtig loslegen, ist man schon mal dankbar für schriftliche Hilfestellung. Kann ja nicht jede(r) in Oxford oder Harvard studiert haben.

Zuerst habe ich mir Sketche des mächtig „inkorrekten“ Ricky Gervais zu Gemüte geführt. Sein Humor ist mir manchmal eine Spur zu rabiat und rücksichtslos. Auch röhrt und kichert er nicht wenig über seine eigenen Gags, aber Vorsicht: Sie haben mindestens doppelten Boden. Es gibt (zwischen Trans-Ideologie und behinderten Kindern) nichts, worüber er sich nicht belustigen würde – außer über Tierschutz, da kennt der vehemente Naturfreund und Veganer auf einmal keinen Spaß mehr.

Vor allem aber habe ich den wahrhaft grandiosen James Acaster für mich entdeckt. Der Mann ist ein Original sondergleichen, obwohl in der Erscheinung zunächst mal völlig „normal“ (was immer das heißen mag). Er gewinnt noch der kleinsten Nichtigkeit enorm viel Komik ab, ja, es ist phänomenal, wie er scheinbar abseitige thematische Nischen aufspürt. Zum Glucksen seine Etüden über Gratis-Bananen (und die perfiden Ausnahmen). Zum Gackern seine Version von Promi-Tratsch, die durch absurde Nicht-Promi-Gefilde im chilenischen Bergbau führt. Zum Brüllen seine Parodie auf das Gehabe von Streetgangs in London. Und welcher andere Spaßvogel beendet seine Performance schon mit einer solch finsteren Ansage ans wiehernde Publikum: „Death comes to us all.“ Der Tod kommt zu uns allen. Überhaupt scheint es, als ziehe Acaster seinen speziellen Humor nicht zuletzt aus deprimierenden Befunden, was ja eh ein fruchtbarer Nährboden ist. Nicht wenige Spaßmacher könnten es persönlich bezeugen.

Ein wenig Name-dropping, es ließen sich noch Dutzende andere aufzählen: Der Streamingdienst hat u. a. auch noch Taylor Tomlinson, Dave Chappelle*, Bill Burr, Tom Segura (alle USA, mit unterschiedlichen Akzenten), Jim Jefferies* (Australien) und Daniel Sloss (Schottland) im Angebot. Sie alle stehen auf meiner Liste für die nächsten Wochen und Monate, weitere werden wohl hinzukommen. Das ist ja schon mal eine Aufgabe, in deren Verlauf sich die eigene „Humorstruktur“ überprüfen lässt. (Subjektive Kurzbewertungen folgen nach und nach am Ende dieses Beitrags).

Übrigens sind sie alle – im Vergleich zu deutschsprachigen Comedians – in einem entscheidenden Punkt beneidenswert, können sie doch in ihrer Muttersprache schätzungsweise den halben Erdball nuancenreich unterhalten, von Kanada bis Neuseeland, von Irland bis Südafrika. Und überhaupt.

Bislang habe ich Netflix als Quelle des wenig ambitionierten Mainstream betrachtet und weitgehend gemieden. Achselzuckend habe ich zur Kenntnis genommen, dass sie nach dem pandemischen Streaming-Hype viele Abonnenten wieder verloren  haben und dass die Aktie in den Keller gerauscht ist. Dass sie entgegen früheren Bekundungen offenbar planen, auch Werbung zu schalten, macht einen gleichfalls nicht gerade geneigt.

Immerhin hat Netflix vor einiger Zeit auch in Deutschland die schier endlose Serie „The Office“ (Das Büro) gestartet, nach deren Fortgang man süchtig werden kann. Just Ricky Gervais, der auch schon mehrfach die „Golden Globes“ präsentierte, hat sich das englische Original der Büroserie ausgedacht, bevor die Chose in den Vereinigten Staaten zum weltweit ausstrahlenden Dauererfolg wurde. Sie wird besser und besser, je mehr Folgen man sieht, je vertrauter man mit den Figuren wird. Inzwischen halte ich „The Office“ für mindestens ebenso gut wie das daran angelehnte deutsche Pendant „Stromberg“, das sie auch im Repertoire haben. Mit solchen Schmankerln haben sie Leute bei Laune gehalten, die nicht so sehr aufs populäre Hollywood-Kino einsteigen. Nun also die Comedians. Schaun mer mal. Und zwar gepflegt.

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*James Acaster (siehe oben im Beitrag)

*Neal Brennan Schaut Euch einfach sein Programm 3Mics (3 Mikrophone) an, dann wisst Ihr Bescheid. Wie er zwischen luzidem Witz und tiefster Depression hin und her springt, das ist ziemlich unnachahmlich. Manchmal möchte man glauben, dass Depressionen geradewegs die Voraussetzung für Komik sind. Als Jüngster unter 10 Kindern aufgewachsen, hat Brennan unter einem furchtbaren Vater gelitten. Drogen und hammerharte Medikamente – Brennan hat praktisch alles hinter sich. Einer, dem man wirklich nichts mehr vormachen kann.

*Dave Chappelle benutzt das „N“-Wort so oft wie wohl kein anderer, und zwar ziemlich aggressiv – in der harten US-amerikanischen Slang-Form („N*gga“). Als schwarzer Komiker „darf“ er das natürlich auch, zumal er heftig für die Rechte derer eintritt, die heute nach woker Lesart „people of colo(u)r“ genannt werden sollen. Auch sonst lässt er an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. So bekundet er seinen Neid auf die LGBTQ-Community, weil die sich so gut organisierte habe. Chappelle findet: Wäre das den Schwarzen auf ähnliche Weise gelungen, so hätten sie hundert früher ihre Freiheit erlangen können… Auf Einfälle wie jenen, was Martin Luther King wohl mit einem „glory hole“ angefangen hätte, muss man ja auch erst einmal kommen. Hier zeigt sich erneut, dass heute ein gewisses Maß an Inkorrektheit dazugehört, wenn es wirklich komisch werden soll.

*Ari Eldjárn ist ein waschechter Isländer und zieht just daraus sein enorm komisches Potential, jongliert er doch zum Zwerchfellerweichen mit sämtlichen Klischees, die im restlichen Europa und auf anderen Kontinenten über die Geysir-Insel kursieren. Da er nicht nur das Englische, sondern auch dessen Dialekte und Spielarten (Schottisch, Australisch etc.) beherrscht, findet er inzwischen ein globales Publikum. Außerdem kann er z. B. Dänen und Finnen so parodieren, dass man sich schier am Boden wälzen möchte. Nur: Was macht er, wenn alle Gags zu Island und Skandinavien ausgeschöpft sind?

*Ricky Gervais (siehe oben im Beitrag)

*Jim Jefferies verwendet gefühlt jede zehnte Wendung in Verbindung mit f*ck, f*cking oder f*cked – ganz entschieden über den Zappen hinaus. Wenn beim unflätigen Dauergefluche wenigstens ordentliche Gags herauskämen… Wie hieß es früher so schön klar: Wir raten ab.

*Taylor Tomlinson, eine Frau mit außerordentlich flottem Mundwerk und lebendiger Mimik, spricht vor allem viel über Sex, und zwar ziemlich unverblümt und desillusioniert. Hat sie gerade mal niemanden für Bett, muss sie jemanden mühsam „in mich reinquatschen“. Dann fühle sie sich wie jemand, der den Leuten Flyer für einen Nightclub andrehen will, während die Typen nach einem etwaigen „Korb“ weiter zögen wie die Staubsaugervertreter: „Ah, da ist ja schon das nächste Haus…“ Kurzum: Die Frau vom Jahrgang 1993 gewinnt den Fährnissen auf dem Markt der Geschlechter einige Komik ab. Ihren Zwanzigern kann sie, wie sie im Programm „Quarter Life Crisis“ sagt, wenig abgewinnen. Mich erinnert sie ein wenig an Carolin Kebekus. Beide haben es drauf.

 

 




Größe und Grenzen: Oper über Kardinal Galen und seinen Widerstand im Dritten Reich in Münster uraufgeführt

Andreas Beckers Bühne für „Galen“ am Theater Münster macht Bedrohung und Zerstörung in der Symbolik des Raumes erfahrbar. (Foto: Oliver Berg)

Nur ein Name steht da: Galen. Kein Titel, keine Beschreibung. Wäre „Der Löwe von Münster“ nicht ein viel attraktiverer Titel gewesen? Aber der Schriftsteller Stefan Moster und der Komponist Thorsten Schmid-Kapfenburg nannten ihre Oper einfach nur „Galen“.

Der Bischof von Münster, entschiedener Gegner der Nazis und ihrer Ideologie, berühmt geworden durch seine Predigten gegen die Euthanasie, sollte als Mensch auf der Bühne auftauchen, nicht als Amtsträger, nicht als Subjekt der Verehrung. Am Theater Münster wurde die Oper uraufgeführt; nach über drei Stunden, die wie im Flug vergehen, bleibt das Auditorium lange Sekunden still, bis der Beifall einsetzt.

Golo Berg, Generalmusikdirektor in Münster und einer der Ideengeber für die Oper, fasst im Interview zusammen, worum es geht: Die Geschichte Clemens August Graf von Galens ist ein lokales Thema, das dennoch große Zusammenhänge herstellt und Konflikte anspricht. Galen musste, allein auf sich und auf seinen Glauben gestellt, zwischen Grundsätzen entscheiden, von denen er jeden für absolut verbindlich hielt. Sich entscheiden zu müssen, unter Umständen persönliche Freiheit und Leben zu riskieren, Ambivalenzen auszuhalten, schmerzlich eigene Grenzen zu spüren: Diese Erfahrung, die der Bischof von Münster in einer extremen historischen Situation machen musste, ist zu allen Zeiten eine existenzielle Herausforderung.

Gegenwart und Vergangenheit begegnen sich: Kathrin Filip als junge Frau von heute und Gregor Dalal als Bischof Galen. (Foto: Oliver Berg)

Dass Galen aktuell geblieben ist, zeigten die Debatten um seine Seligsprechung 2005. Seine „Ecken und Kanten“ werden in der Oper klar thematisiert: Sein striktes national-konservatives Weltbild, geprägt von seiner uradligen Herkunft. Seine Kriegsbegeisterung, als es gegen die gottlosen Bolschewiken ging. Seine unselige, damals theologisch kaum bestrittene Überzeugung, der von Gott eingesetzten Obrigkeit sei Gehorsam geschuldet. Seine anfängliche Sympathie für den „Führer“. Vor allem aber sein heute schwer verständliches Schweigen zur Verfolgung der Juden – und das, obwohl er ein entschiedener Gegner der NS-Rassenideologie war, Papst Pius XII. zur Enzyklika „Mit brennender Sorge“ drängte und in seinen Predigten auf unveräußerliche Menschenrechte Bezug genommen hat. In einer beklemmenden Szene wird Galens Verhalten nach der Pogromnacht thematisiert und erklärt. Der Stachel im Fleisch bleibt dennoch: Der Hut des Rabbiners liegt am Ende groß und einsam in Sven Stratmanns Videoprojektion im Hintergrund der Bühne.

Parabelhaft gesteigerte Charaktere

Die Konzeption der Oper ist eine tragfähige Mischung aus Erzähl-, Dokumentar- und ein wenig Belehrtheater. Holger Potocki arbeitet in seiner Inszenierung sehr sorgfältig an den Charakteren, bricht sie aber auch immer wieder pararabelhaft gesteigert auf. Suzanne McLeod als Galens Mutter etwa verkörpert nicht nur eine steif gekleidete alte adlige Dame, sondern verschmilzt in einer das Surreale streifenden Szene mit der Gottesmutter von Telgte, einem Gnadenbild, das Galen sehr verehrt hat.

Gauleiter Alfred Meyer, einer der Hauptakteure des Holocaust, ist bei Mark Watson Williams nicht nur ein mit gellender Stimme eifernder Zyniker, sondern steht in einer höllengelben Uniform für das Böse, dessen Assistent (Frederik Schauhoff) wie ein Kastenteufel aus dem Untergrund springt. Andere Figuren wie Regens Francken (Mark Coles als alter Weiser), Pfarrer Coppenrath (Stephan Klemm mit heiligem Zorn), Galens Bruder Franz (Youn-Seong Shim) oder Rabbiner Steinthal (anrührend und verzweifelt Enrique Bernardo) sind in den bis ins Detail zeittypischen Kostümen Andreas Beckers dagegen eher einem historischen Realismus zuzuordnen.

Rot, die Farbe der Kardinäle, ist vielfach symbolisch aufgeladen. Für Jasmin (Kathrin Filip) steht sie am Anfang und am Ende ihrer „Zeitreise“ zu Galen. (Foto: Oliver Berg)

Die Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart stellt Regisseur Potocki mit einer Videoszene zu Beginn der Oper her: Menschen werden befragt, was sie mit dem Namen „Galen“ verbinden. Eine junge Frau, ahnungslos, lässt sich zum Nachdenken anregen. Man sieht, wie sie auf dem Smartphone die Wikipedia-Seite über Galen aufruft, wie sie Bücher wälzt und schließlich in die Zeit Galens driftet. In den Anblick des (tatsächlich im Westfälischen Museum für religiöse Kultur in Telgte ausgestellten) roten Kardinalsgewands versunken, verlässt die Frau die Gegenwart, „um die Vergangenheit zu verstehen“.

In der Konfrontation der Fragerin von heute – und den Einwänden des Bischofssekretärs (Christian-Kai Sander) von damals – klären sich Galens Positionen, ob für Menschen des 21. Jahrhunderts irritierend zeitbedingt oder beeindruckend zeitlos. Im Libretto ist diese „Jasmin“ genannte junge Frau mit Kopftuch als Muslima angedeutet, verweist auch im Text einmal auf „Allah“. Auf diese Zuspitzung verzichtet die Inszenierung: Die Sängerin Kathrin Filip wirkt wie eine jener Studentinnen, die man in Münster jeden Tag über den Prinzipalmarkt gehen sieht.

Zwischen Befremden und Mitfühlen

Die Ratlosigkeit, das Befremden, die Distanz, aber auch die allmähliche Einsicht, das Verstehen, sogar das Mitfühlen mit den inneren Kämpfen und Entscheidungen des Bischofs macht Filip in sensiblem Spielen deutlich. Am Ende zieht sie ein Resümee: Das rote Kleid des Kardinals als leuchtendes Signal und die Erkenntnis, auch „seine Größe hatte Grenzen“. Vorbilder sind nicht vollkommen, und Helden, die „so sind, wie wir es gerne wären“, die gibt es eben nicht. Galen ist für sie ein „Tröster“, von denen es auf Erden nie genug geben könne. „Tröster leuchten, auch wenn wir sie nicht verstehen.“

Im Volksempfänger hört der Bischof die Rede Alfred Rosenbergs auf dem Markt in Münster. (Foto: Oliver Berg)

Kardinal Galen also als Opernheld: Gregor Dalal hat in dieser großartig ambivalenten Gestalt eine Paraderolle seines reichen Sängerlebens gefunden. Man spürt in jeder Phase, dass sich Dalal intensiv mit der Figur beschäftigt, dass sie ihm ganz und gar entspricht. Er verkörpert den Bischof nicht, er ist Galen in jeder Faser seiner Existenz – vom adligen Jäger des Anfangs über den Priester in Gewissenkonflikten, den entschlossenen Prediger bis hin zu einem erschütterten, gealterten Mann, der die Sieger nicht als Befreier willkommen heißen und die Schuld des deutschen Volkes nicht akzeptieren kann. Auch stimmlich ist Galen eine Paraderolle für den Bassbariton. Man meint, Schmid-Kapfenburg hätte die Rolle genau für diesen Sänger geschrieben.

Wundersame Klanggebilde

Möglicherweise stimmt das auch, denn der Komponist ist seit 2004 Kapellmeister an den Städtischen Bühnen Münster und kennt Dalal seit Jahren. Schmid-Kapfenburg hat bisher viel Kammermusik und eine Kammeroper, aber noch kein großformatiges Werk wie „Galen“ geschrieben. Seiner Partitur merkt man den versierten Kammermusiker und den erfahrenen Dirigenten an. Der Kompositionsschüler von Detlev Glanert schafft wundersame, filigrane Klanggebilde, luzide Klangflächen, kostbare Solo-Stellen für die Orchestermusiker. Auf Tonalität legt er sich nicht fest; so begleitet er die Ausfälligkeiten des Gauleiters ironisch mit den atonalen Klängen, die bei den Nazis als „entartet“ abgestempelt waren. Eine Orgel karikiert dazu musikalisch das Neuheidentum Alfred Rosenbergs, den Bischof Galen als einen der Urheber der menschenverachtenden Rassenideologie von Anfang an bekämpfte.

Schmid-Kapfenburg findet einen Tonfall zwischen dem sachlichen Formbewusstsein eines Paul Hindemith und der angeschrägten Harmonik von Werner Egk, nicht als Sklave eines musikalischen Fortschrittsglaubens, sondern als Schöpfer wirkungsvoll gearbeiteter Theatermusik. Golo Berg ist mit dem Sinfonieorchester Münster ein einfühlsamer Sachwalter, der vor allem für die leisen Töne viel Empathie mitbringt, aber auch heftigen Attacken und Aufschwüngen ihr Recht einräumt. Anton Tremmel hat Chor und Extrachor des Hauses für seine Partie auf und hinter der Bühne solide vorbereitet.

Dem Theater Münster ist für sein Auftragswerk Anerkennung zu zollen: Entstanden ist ein Stück Musiktheater, das eine beeindruckende Person der jüngeren Geschichte mit ihrer Größe und ihren Grenzen und einen profilierten Katholiken in seiner entschlossenen Konsequenz, aber auch all seinen inneren Widersprüchen zu einem Theatererlebnis verdichtet, das als zeitlose Parabel auch über Westfalen hinaus sein Publikum finden dürfte.

Vorstellungen geplant am 4. Juni im Rahmen des Festivals Musica Sacra, sowie am 10., 18., 24. Juni 2022. Info: https://www.theater-muenster.com/produktionen/galen.html, Karten-Tel.: (0251) 59 09 100




Als die Revolte noch ganz jung war – Rückblick auf ein Gespräch mit F. C. Delius

Friedrich Christian Delius am 16. März 2012 bei einer Podiumsdiskussion auf der Leipziger Buchmesse. (Foto: © Wikimedia Commons: Amrei-Marie – Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/)

Der Schriftsteller Friedrich Christian Delius ist am 30. Mai mit 79 Jahren in Berlin gestorben. Aus diesem Anlass noch einmal die Wiedergabe eines kurzen Gesprächs, das ich auf der Frankfurter Buchmesse 1997 mit ihm führen durfte:

Die Werkliste des Friedrich Christian Delius (54) ist lang. Das Spektrum reicht von herzhaften Attacken auf Konzerne („Unsere Siemens-Welt“, 1972) bis zum Romanzyklus über den „Deutschen Herbst“ des Jahres 1977. In „Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde“ (1994) schilderte Delius die Gefühle eines kleinen Jungen zur Zeit der Fußball-WM 1954. Sein Roman „Amerikahaus und der Tanz um die Frauen“ (Rowohlt-Verlag) spielt 1966, im Vorfeld der 68er Studenten-Rebellion. Ein Gespräch mit F. C. Delius auf der Frankfurter Buchmesse:

Warum die Revolte der 60er Jahre als Romanthema? Aus Nostalgie?

F. C. Delius: Ich bin im Grunde kein „68er“, sondern ein „66er“. 1966 fing die enorme geistige und kulturelle Bewegung an und erweiterte sich dann aufs Gebiet der Politik. Demonstrationen hatten noch einen ganz schlichten moralischen Impuls. Und eine dieser allerersten Demonstrationen – im Februar 1966 vor dem Amerikahaus in Berlin – versuche ich zu beschreiben. 1968 gab es bereits eine Verengung. Da waren viele schon überzeugt bis zur Selbstüberschätzung und sprachen von Revolution. Der Aufbruch ist eine Sache von 1966. Das war noch frei von Dogmatismus und Ideologie, es war die Erweiterung des Horizonts. Der erste Blick nach Vietnam…

Ihre Trilogie zum „Deutschen Herbst“ und das „Weltmeister“-Buch liegen vor. Jetzt also 1966. Haben Sie eine komplette Roman-Chronik der Republik im Sinn?

Delius: Den Ehrgeiz habe ich nicht. All diese Bücher haben sich aus ganz persönlichen Fragestellungen entwickelt. Mit den Romanen zum „Deutschen Herbst“ wollte ich meine Lähmung und meine Hilflosigkeit erkunden. Das „Weltmeister“-Buch hat mit meiner Kindheit zu tun.

Sie verknüpfen in Ihrem neuen Roman die politischen Vorgänge mit den sexuellen Problemen Ihrer Hauptfigur. Dieser Martin ist überaus schüchtern und kommt nicht recht an die Mädchen heran.

Delius: Es geht mir nicht nur in politischer Hinsicht um das Öffnen des Blicks, das Öffnen der Person. Ich finde, daß immer ein Zusammenhang besteht zwischen dem Sexualleben und den politischen Gefühlen und Gedanken.

Im „Literarischen Quartett“ ist das Buch vor ein paar Tagen recht gut weggekommen. Aber die „Frankfurter Allgemeine“ hat Ihnen vorgehalten, Sie hätten „Ich war dabei“-Literatur geschrieben.

Delius: Das finde ich eher amüsant. Meine Figur ist ja gerade kein Held, sondern ein relativ schwacher Mensch mit einigen Macken. Er entspricht nicht dem Klischee, das sich von den 68ern gebildet hat. Damals waren viele arme Würstchen dabei, die trotzdem was bewegt haben und was Richtiges gedacht haben.

Für wen haben Sie das Buch in erster Linie geschrieben: Für die Apo-Generation – oder eher für jüngere Leute?

Delius: Ich denke beim Schreiben zunächst mal nicht ans Publikum. Ich muß erst gucken, daß das, was ich mir vorgenommen habe, auf die Reihe kommt. Erst dann kann es auf andere wirken. Aber gerade jüngere Leute finden das Buch glaubwürdig, weil ich nicht das Heldenepos eines fertigen Jung-Revoluzzers geschrieben habe, sondern von einem erzähle, der skeptisch beobachtet, der Angst hat und Scham kennt.

Was sagen Sie zu den landläufigen Vorwürfen, die deutsche Gegenwartsliteratur sei nicht welthaltig genug?

Delius: Das ewige Gejammer ist dumm. Die deutsche Literatur ist stärker, als man allgemein denkt.




Bis in die letzten Winkel der Stadt: „Dortmund entdecken!“

Was Tipps rund um Dortmund angeht, verfügt Katrin Pinetzki offenkundig über einen riesigen Datenbestand und daraus folgende Detail-Kenntnisse. Sie ist also prädestiniert, Stadtführer zu verfassen.

Erst vor rund zwei Jahren (Februar 2020) hat sie bei Klartext „Dortmund für Klugscheißer“ publiziert und (als gebürtige Gelsenkirchenerin, die es jedoch langwierig nach Dortmund verschlagen hat) selbst alteingesessene Dortmunder mit erstaunlichen Fakten überrascht. So heißt ja auch die – demnächst auslaufende – städtische Image-Kampagne: „Dortmund überrascht. Dich.“ Stimmt. Immer mal wieder. Mal so, mal so. Smiley.

Jetzt, da sich „nach Corona“ (na, warten wir’s mal ab) einstweilen wieder so ziemlich alles unternehmen lässt, bringt der Wartberg Verlag Katrin Pinetzkis Paperback-Band „Dortmund entdecken!“ heraus. Ich habe stichprobenartig darin geblättert. Den Untertitel mochte ich allerdings nicht durch Nachzählen überprüfen, er lautet „1000 Freizeittipps“.

Mit diesem Buch dringt die Autorin jedenfalls bis in die letzten Winkel der kommunalen Bezirke und Stadtteile vor. Selbst zum Dortmunder „Outback“ (Vororte Kruckel, Persebeck, Schnee) gibt es immerhin noch einen Eintrag, nämlich einen Sportverein. Die Konzentration auch auf entlegene Stadtteile bringt es mit sich, dass wahrhaftig etliche wenig bekannte Stätten auftauchen. BVB-Stadion, Reinoldikirche und Westfalenhalle kennen ja alle, aber wer weiß schon genauer in Ortsteilen wie Lanstrop oder Mengede Bescheid?

Generell bleibt so gut wie kein Bereich des Lebens zwischen „Natur, Kultur, Sport und Spaß“ außen vor. Ist man aus eigener Anschauung kundig, lassen sich trotzdem geringfügige Leerstellen finden. Zum Exempel fehlt ein ziemlich großer Reit- und Fahrverein in Asseln, Stichwort Eschenwaldstraße. Aber das ist im Gesamtzusammenhang wirklich nur eine Petitesse. Ansonsten könnte das Buch über weite Strecken „Dortmund komplett“ heißen. Tatsächlich steht kurz und knapp so ziemlich alles drin, was man von einem solchen Freizeitführer erwarten darf – und manchmal noch etwas mehr. Dass es in Dortmund die größte Gemeinde von Exil-Tamilen in Deutschland gibt (im Unionviertel), weiß bestimmt nicht jede(r).

Die Textlängen bemessen sich übrigens nicht nach Bedeutsamkeit der jeweiligen Einrichtung, sondern haben sich wohl aus Gutdünken oder auch Layout-Gesichtspunkten so ergeben. Beispiel: Das kleine Tanztheater Cordula Nolte bekommt etwa ebenso viele Zeilen wie das mindestens bundesweit bekannte Museum Ostwall im Dortmunder U.

Wie das solche Freizeit-Bücher meistens an sich haben, werden etwaige Negativpunkte ausgespart oder in Euphemismen verpackt, schließlich ist die Autorin hauptberuflich als Pressesprecherin der Stadt tätig. So bezeichnet sie etwa eine Großsiedlung, in der es durchaus soziale Probleme gibt, als Ausflugsziel für Leute, die an Städtebau interessiert sind. Und der Kaiserbrunnen wird empfohlen als „Treffpunkt, an dem man sich auch länger aufhält“. Das gilt allerdings zu manchen Stunden vorwiegend fürs stark alkoholgeneigte Publikum. Allerdings hängen dort nicht solche Menschenmengen ab wie an der Möllerbrücke, wofür sich gar das Wort „möllern“ eingebürgert hat.

Insgesamt ist der zwangsläufig kleinteilig, jedoch recht hübsch bebilderte Band durchaus geeignet, selbst Dortmund-Kennerinnen und Kenner auf bisher unbekannte Pfade zu geleiten. Wie lange die „1000 Freizeittipps“ aktuell bleiben, wird man sehen. Im Zweifelsfall gibt’s halt eine weitere Auflage. Oder man hangelt sich zusätzlich durchs Netz.

Katrin Pinetzki: „Dortmund entdecken!“ Wartberg Verlag, 176 Seiten, mit zahlreichen Farbfotos, Stadtteilregister und Stichwort-Verzeichnis. 16,90 Euro.

 

 




Am atomaren Abgrund: Buch über die Kubakrise 1962

Es waren wahrlich dramatische Tage – damals, im Oktober 1962. Wir („My Generation“) waren damals Grundschulkinder und haben kaum etwas von der Kubakrise mitbekommen. Die Medienwelt war noch längst nicht so unabweislich allgegenwärtig.

Man erschrickt noch 60 Jahre im Nachhinein zutiefst, wenn man sich das alles heute vergegenwärtigt; erst recht in Zeiten des europäischen Krieges in der Ukraine. Es ist, als wären wir wieder näher an „1962″ herangerückt.

Schon damals stand die Welt am atomaren Abgrund. Für die Vereinigten Staaten galt als Leitlinie noch nicht die später abgestufte „flexible response“, sondern das Prinzip der „massive retaliation“, also gleich der Griff ins ganze apokalyptische Arsenal.

Bloße Chronistenpflicht?

Rainer Pommerin (Jahrgang 1943), pensionierter Oberst und Geschichtsprofessor, schlägt nicht den großen Bogen einer etwaigen „Neudeutung“ der Kubakrise, sondern erzählt das Geschehen getreulich Punkt für Punkt und Tag für Tag nach, übrigens auch mit jenem Fokus auf Waffentechnik und Militärstrategie, wie er neuerdings wieder in den Vordergrund getreten ist. Der Autor berichtet, als sei’s seine reine Chronistenpflicht, so dass man sich gelegentlich fragt, welchen Standpunkt er eigentlich einnimmt. Pure Objektivität gibt es ja nun mal nicht, sie kann allenfalls ein Wunsch- und Näherungswert sein.

Die Kubakrise wird eingebettet in die Vorgeschichte – von der nahöstlichen Suezkrise sowie den Aufständen in Ungarn und Polen (alles 1956) über den „Sputnik-Schock“ am 4. Oktober 1957 (als die Sowjetunion einen weltraumtechnischen Vorsprung vor den USA erlangte) bis hin zum Berliner Mauerbau am 13. August 1961. Eine hochexplosive Gemengelage zwischen den Machtblöcken hatte sich aufgebaut und angestaut.

Als der Kalte Krieg alles prägte

Mit Fidel Castros kubanischer Revolution hatten die USA den von ihnen überaus gefürchteten Kommunismus seit 1959 sozusagen vor der Haustür. Hardliner argwöhnten, dass die Sowjets es via Kuba auf den gesamten amerikanischen Kontinent abgesehen hatten. Groß war das Entsetzen in Washington, als ein U-2-Aufklärungsflug am 14. Oktober 1962 ergab, dass die Russen insgeheim Abschussbasen und sonstige atomare Logistik auf Kuba installiert hatten – erstmals in Raketen-Reichweite zu US-Millionenstädten.

Bilder von damaligen Treffen der US-Präsidenten Dwight D. Eisenhower bzw. John F. Kennedy mit dem KPdSU-Chef Nikita Chruschtschow haben nahezu mythischen Status. Derlei persönliche Konfrontationen sind denn doch (in grotesk verzerrter Form) bis in manche Kinderzimmer vorgedrungen. Ich erinnere mich, wie wir Chruschtschows legendäre UNO-Wutrede (die mit seinem angeblich aufs Pult geschlagenen Schuh) mit Stoffbären nachgespielt haben. Kein Zufall, dass damals auch die James Bond-Filme aufkamen. Der Kalte Krieg prägten damals alles. Und jetzt? Das Vergangene ist offenbar nicht völlig vorbei. Es steht freilich unter anderen Vorzeichen.

Die „Falken“ hatten anderes im Sinn

Doch Überlegungen übergreifender Art stellt Reiner Pommerin überhaupt nicht an. Sein Buch liest sich so, als hätte es ebenso gut irgendwann in den letzten 20 oder 30 Jahren geschrieben worden sein können und als sollte es zum 60jährigen Gedenken nur noch einmal den Gang der Dinge rekapitulieren. Dennoch kann man daraus ein paar Erkenntnisse gewinnen – zum Beispiel die, dass beide Weltmächte (China war noch Nebendarsteller auf der globalen Bühne) sich gleichermaßen in die Krise verstrickt haben. Schließlich hatten die USA, bevor die Sowjetunion Atomwaffen nach Kuba brachte, bereits eine ähnliche Präsenz mit Jupiter-Raketen in der Türkei, die 1963 aufgrund einer Geheimvereinbarung zurückgezogen wurden.

Vielleicht hat es beim schließlich doch noch einigermaßen rationalen Umgang mit der Krise 1962 eine Rolle gespielt, dass Chruschtschow und Kennedy aus eigenem Erleben wussten, was Krieg bedeutete und sie sich offenbar vorstellen konnten, wie verheerend sich eine „nukleare Option“ auswirken würde – allen Drohgebärden zum Trotz. Sie reizten das Risiko bis zum Letzten aus, doch fanden sie gerade noch rechtzeitig einen Ausweg. Die „Falken“ beider Seiten hatten ganz anderes im Sinn. Vielleicht ließe sich heute etwas daraus lernen.

Ein verseuchter Neoprenanzug

Das Buch enthält einige geradezu bizarre Fakten, so etwa die US-Pläne, Fidel Castro und „Che“ Guevara aus dem Weg zu räumen. So sollte ein Unterhändler Castro als Geschenk einen Neoprenanzug (mit gefährlichem Hautpilz präpariert) und einen Schnorchel (mit Tuberkel-Bazillen) überreichen. Der Sendbote verweigerte jedoch die Mitnahme der „Gaben“, aus nachvollziehbaren Erwägungen.

Beinahe hätte es sich fatal und final ausgewirkt, dass im Verlauf der Kubakrise einmal  unterschiedliche Zeitzonen nicht berücksichtigt wurden. Zudem verzögerte sich der Austausch diplomatischer Noten durch umständliche Ver- und Entschlüsselung. Dabei war auf dem Höhepunkt der Krise doch allergrößte Eile geboten.

Kennedy durfte erst einmal ausschlafen

Kaum zu fassen auch, dass John F. Kennedy für die Mitteilung zum Berliner Mauerbau nur kurz einen Segeltörn unterbrach und dann sogleich wieder losschipperte. Von wegen „Ich bin ein Berliner“… Auch wurde ihm die Entdeckung der russischen Atombasen auf Kuba am 14. Oktober 1962 nicht sofort mitgeteilt. Die Krisengremien ließen ihn vielmehr erst einmal ausschlafen. Ergänzend hierzu erfährt man auch noch einmal, dass Kennedy keineswegs so viril war, wie er sich im siegreichen Wahlkampf gegen Nixon gegeben hatte. Der Mann war chronisch krank und benötigte ständig Schmerzmittel.

Nach dem Ende der Kubakrise wurden 1963 immerhin drei bedeutsame Schritte im Sinne einer besseren Beherrschbarkeit solcher Großkonflikte unternommen: Ab 6. Juli wurden endlich Geheimcodes für den Abschuss von Atomwaffen eingerichtet, die bis dahin bloß durch mechanische Schlösser „gesichert“ waren. Am 20. August wurde eine Fernschreiber-Verbindung zwischen Weißem Haus und Kreml als „heißer Draht“ installiert. Am 10. Oktober 1963 wurde ein Abkommen über das Verbot von Kernwaffenversuchen geschlossen.

Nachspann: Am 22. November 1963 wurde John F. Kennedy in Dallas erschossen. Am 14. Oktober 1964 wurde Nikita Chruschtschow entmachtet. Die Geschichte ging mit anderen Protagonisten weiter – und wurde auf Dauer nicht friedlicher.

Reiner Pommerin: „Die Kubakrise 1962″. Reclam, 160 Seiten. Paperback mit zahlreichen Schwarzweiß-Abbildungen. 14,95 Euro.

 




Erbarmen! „Die Expeditiven“ kommen – ins Ruhrgebiet

Expeditiv (?) oder wenigstens speditiv unterwegs im Ruhrgebiet – hier auf der B1, genauer: auf der Dortmunder Schnettkerbrücke. (Foto: Bernd Berke)

Kein sonderlich origineller, sondern ein altgedienter Befund: Noch immer hinkt das Revier vielen anderen deutschen Regionen in mancherlei Hinsicht hinterher. Die Scharte lässt sich aber fix auswetzen, indem man die Backen ganz voll nimmt und diesen pseudokreativen, neudeutsch verblasenen Imponiersound hören lässt.

Beispiele folgen sogleich, sie stammen von der Ruhr Tourismus GmbH (RTG), die just eine n e u e Tourismusstrategie für das Ruhrgebiet „ausgerollt“ hat, wie man in diesen hippen Kreisen vermutlich sagt. Laut Informationsdienst (idr) des Regionalverbands Ruhr (RVR) sollen nunmehr Tourist*innen aus einer n e u e n Zielgruppe angelockt werden, die so bezeichnet wird:

„Unkonventionell, digital, kosmopolitisch, neugierig – im Fachjargon ,expeditiv‘.“

Wisster schomma Bescheid, woll?! Oder au nich.

Digitaler „Reisekumpel“

Die Überschrift zur selbstverständlich millionenschwer geförderten n e u e n Imagekampagne (wie viele hatten wir davon schon im Ruhrgebiet, was haben sie gefruchtet?) lautet:

„Metropole Ruhr: Digitale Modelldestination NRW“

Wow! Es kommt aber noch geiler. Denn das Projekt mit n e u e m Corporate Design und dito n e u e r Homepage sowie Fotoshootings mit n e u e r Bildsprache verfügt über einen „regionalen Datenhub und eine Content-Datenbank“. Angestrebt wird mal wieder eine „systematische Vernetzung“ und das „Zusammenspiel der Akteure“. Merke: Vernetzung und Akteure sind in diesem F(l)achjargon stets ein Muss. Hierzu setzt die RTG – wie sich das gehört – „voll auf digitale Inhalte“. Da wir aber im Revier sind, heißen die digitalen Reiseführer wie? Nun? Ja, sicher: „Reisekumpel“. Leck mich fett!

Noch einmal zum Mitschreiben: Hauptsächlich angesprochen wird die „n e u e Hauptzielgruppe der Expeditiven“, doch man hat noch zwei weitere, etwas weniger wichtige Gruppen (wörtlich: „untergeordnete Produktzielgruppen“) „ermittelt“: die Adaptiv-Pragmatischen und die Post-Materiellen. Is‘ klar, ne?

Achtet also mal drauf, welche Gäste künftig so herrlich unkonventionell, neugierig, kosmopolitisch und digital durch unser Revier streunen werden. Es werden wahrscheinlich ausgesprochen expeditive Leute sein, andernfalls eben adaptive – oder post-materielle, die es übrigens mit Kultur haben sollen. Boaaah, glaubsse!

 




Höhepunkt zur Halbzeit – Angela Winkler und Joachim Meyerhoff begeistern das Publikum der Ruhrfestspiele

Angela Winkler und Joachim Meyerhoff in „Eurotrash“ (Foto: Fabian Schellhorn/Ruhrfstspiele)

Ja, was soll man sagen? Das Publikum im restlos ausverkauften Großen Haus war begeistert vom Stück, spendete stehend anhaltenden Applaus, und die anschließenden Publikumsgespräche im Foyer, so man ihrer in Fetzen teilhaftig werden konnte, waren gespickt mit Superlativen: großartig, grandios, einzigartig, einmalig.

Gemeint war damit in erster Linie sicherlich die Schauspielkunst dieses auf den ersten Blick so bizarren Paares, Sohn und Mutter, Joachim Meyerhoff als Ich-Erzähler Christian Kracht und Angela Winkler als seine alte, desolate Mutter, beide miteinander in Haßliebe verbunden.

Doch steht zu vermuten, daß auch dieser scheinbar so private Stoff die Sympathien des Publikums fand. Mit „Eurotrash“, einem Zweipersonenstück nach dem Roman von Christian Kracht in der Regie von Jan Bosse, haben die diesjährigen Ruhrfestspiele definitiv ihren Höhepunkt erreicht; ziemlich paßgenau zur Halbzeit übrigens, man muß dem Intendanten gutes Timing bescheinigen.

Frauenrollen

Grandios war, wie berichtet, der Auftakt mit „Sibyl“ von dem südamerikanischen Vielfachtalent William Kentridge. Bemerkenswert war auch „Bros“ von Romeo Castellucci, was zeitgleich im Kleinen Haus gegeben wurde. Eine Woche später folgte im Großen Haus nach etwas Talk und Kabarett „Annette, ein Heldinnenepos“ nach dem Roman von Anne Weber in der Regie von Lily Sykes, eine Produktion des Schauspiels Hannover.

Corinna Harfouch in „Annette, ein Heldinnenepos“ (Foto:Kerstin Schomburg/Ruhrfestspiele)

Immer im Widerstand

Was für ein Leben! Annette Beuamanoir, die es übrigens wirklich gibt und die mittlerweile 98 Jahre alt ist, tritt in ihrer Jugend der Résistance gegen die deutsche Besetzung Frankreichs bei; nach dem Krieg engagiert sie sich im Freiheitskampf der Algerier gegen die französische Kolonialmacht. Die Freiheit kommt, doch es ist die Freiheit der neuen Herren, die weiterhin das Volk terrorisieren. Desillusioniert zieht sich Anne Beaumanoir aus dem politischen Geschehen zurück, arbeitet als Ärztin in der Schweiz. Sie hat große Opfer gebracht, und nach Frankreich kann sie nicht zurück, weil sie dort polizeilich gesucht wird.

Warum spielt Frau Harfouch mit?

Die Lebensgeschichte von Annette Beaumanoir war als Buch ein großer Erfolg. Leider ist es nicht gelungen, ein kongeniales Bühnengeschehen aus dem Stoff zu machen. Als Stück muß man „Annette“ dem mittlerweile häufig vorzufindenden, irgendwie feministisch grundierten Deklamations- und Vorwurftheater zuordnen, das Schauspiel im wörtlichen Sinne weitgehend verweigert. Nun gut, Biographisches kann man ja auch vortragen. Doch leider versäumt es diese Inszenierung, zu pointieren und zu strukturieren. Alles, was Darstellerinnen und Darsteller zu berichten wissen, wirkt irgendwie gleich bedeutend, was besonders in der Algerien-Hälfte nach der Pause ärgerlich ist, weil man sich da in Deutschland nicht so gut auskennt. Ausnahmsweise mal Franzosenbashing („Kolonialherren“), sieht man ja sonst eher selten.

Die jungen Akteure zeigen, was sie können, und das ist, wenn vieles auch verpufft, nicht wenig. Wie sich allerdings Frau Harfouch in diese juvenile Darstellerriege verirren konnte, fragt man sich schon. Weder ist hier eine durchgängige Rolle für eine ältere Bühnenkraft erkennbar, noch wird das Können dieser Ausnahmekünstlerin auch nur ein einziges Mal durch die Inszenierung wirklich abgefordert. Und es reift der Verdacht, daß man sie nur des klangvollen Namens wegen auf die Besetzungsliste genommen hat.

Geld zu verteilen

„Eurotrash“, nur einmal wollen wir noch darauf zurückkommen, bezeichnet übrigens eine Geldanlage der Frau Mama (mit Betonung auf dem zweiten a), mit der sie etliche hunderttausend Franken Gewinn gemacht hat. Und dann ist sie auf die aberwitzige Idee verfallen, das Geld an die zu verteilen, die es gut gebrauchen können. Christian soll ihr dabei helfen. Und immer wieder fragt sich dieser erwachsene, vernünftige Sohn, warum er sich das antut, warum er seine Mama aushält, warum er sie zu einem gesünderen Leben verleiten will, warum er sich kränken und demütigen läßt. Jedes Mal, wenn sie sich treffen, macht ihn die Alte fertig, boshaft, hellsichtig und treffsicher. Aber irgendwie auch so, daß man ihr nicht böse sein kann, sieht man einmal von dem Groll ab, der wohl beiden Protagonisten innewohnt und stärker geworden ist in diesen Jahrzehnten wechselseitiger Mißachtung.

Bitte mehr davon

Es ist ja ein Wunder, daß sie überhaupt noch lebt, ernährt sie sich doch wesentlich von Wodka, Wein und Schmerztabletten, stürzt immer wieder schwer, hat Wunden und Narben im Gesicht. Eigentlich ist sie unmöglich – aber eben auch das Produkt eines konservativen Gesellschaftsmodells der Nachkriegszeit, das für geschiedene, gutbürgerliche Frauen mittleren Alters keine Rolle mehr vorsah – sofern sie nun nicht, wenig qualifiziert, für ihren Unterhalt arbeiten mußten. Daß Mama bei der Scheidung betrogen wurde (mit Kunst), versteht sich fast von selbst. Neben viel Biographie, Slapstick und Tragik ist „Eurotrash“ alles in allem auch ein (ausschnitthaftes) Sittenbild dieser Nachkriegszeit. Ein kluges, menschliches Stück mit glänzenden Darstellern. Man wünschte sich mehr Theater wie dieses, nicht nur in Berlin oder bei den Ruhrfestspielen.

Viel Gutes steht noch auf dem Spielplan

Schluß jetzt mit dem Nacherzählen. Mit „Tao of Glass“, der „Dreigroschenoper“ und Matthias Brandt in „Mein Name sei Gantenbein“ stehen in den nächsten Wochen noch einige Hochkaräter auf dem Theaterprogramm.

Wenn es hier vorwiegend um Sprech- oder bestenfalls Musiktheater ging, so liegt das an den persönlichen Vorlieben des Verfassers. Aus zweiter Hand – das wird jetzt ein arg krummes Sprachbild, aber egal – hörte (!) ich aber auch, daß „Colossus“ von der Stephanie Lake Company großartig gewesen sein soll. Und die Hofesh Shechter Company, die ab 27. Mai „Double Murder“ im Großen Haus spielen und tanzen wird, hat ebenfalls einen guten Ruf. In den kommenden drei Wochen bis 12. Juni, wenn die Ruhrfestspiele enden, gibt es also noch viele gute Produktionen zu sehen und zu hören. Der Blick ins Programmheft lohnt.

www.ruhrfestspiele.de




Abbilder der Verhältnisse – im „Atlas des Unsichtbaren“

Sinnreiche Visualisierung komplexer Sachverhalte ist eine Kunst, auf die sich nicht viele verstehen. Im Netz geht neuerdings der Auftritt „Katapult“ steil, der auch verwickelte Dinge auf möglichst simple optische Umsetzungen „herunterbricht“ – mit wechselndem Geschick: Manches, aber längst nicht alles gelingt. In den „Atlas des Unsichtbaren“ sollte man sich hingegen einigermaßen vertiefen. „Auf einen Blick“ erlangt man hier nicht viel.

Die Autoren James Cheshire und Oliver Uberti versprechen laut deutschem Untertitel recht vollmundig „Karten und Grafiken, die unseren Blick auf die Welt verändern“. Die Kapitelüberschriften („Woher wir kommen“, „Wer wir sind“, „Wie es uns geht“, „Was uns erwartet“) erweisen sich als wenig trennscharf und taugen nicht zur Sortierung. Also heran an die vielen Einzelheiten, die eben nicht in solche Schubladen passen.

Nach und nach zeigt sich, dass Kartographie und graphische Darstellungen weitaus mehr vermögen, als sich der Diercke-Schulatlas träumen ließ. Manches lässt sich veranschaulichen, was vorher undurchdringlich schien, verblüffende Ein- und Durchblicke werden möglich. Auch Statistiken und Tabellen sind kein leerer Wahn, wenn sie mit Verstand eingesetzt werden.

Da zeigt eine Schautafel ganz schlüssig, ob und wie sich die Gene über 14 Generationen hinweg (etwa seit 1560) noch vererben. Neue Klarheit verschaffen Karten zu den Strömen des Sklavenhandels oder über Walfänge seit 1761. Der Aufschlüsse sind viele: Migrations- und Pendlerrouten, Mobilfunkdaten oder eine Karte zur Lichtstärke in Städten und Regionen verdeutlichen soziale und wirtschaftliche Zusammenhänge. Sie können als Ergänzung zu wortreich differenzierten Betrachtungen sehr brauchbar sein.

Häufig wird der globale Maßstab angelegt, bevorzugt aus angloamerikanischer Perspektive: In welchen US-Staaten kommt Lynchjustiz besonders häufig vor? Inwiefern lassen Gebäudedaten auf künftige Gentrifizierung schließen, so dass Prognosen dazu einen höheren Wahrscheinlichkeitsgrad haben? Wo leisten Frauen im Verhältnis zu Männern die meiste unbezahlte Arbeit (Indien) und wo die wenigste, aber immer noch deutlich über 50 Prozent (Schweden)? In welchen Ländern erleiden Frauen die meiste physische Gewalt?

Durch graphische Umsetzung werden auch die Muster der US-Bombardierungen im Vietnamkrieg gleichsam „transparenter“. Übrigens hat Ex-Präsident Bill Clinton die zugrunde liegenden Daten freigegeben. Freilich wirken solche fürchterlichen Sachverhalte in atlasgerechter Aufbereitung leicht zu harmlos. Auf diese Weise können eben nur bestimmte Dimensionen des Geschehens vermittelt werden. Dessen eingedenk, blättern wir weiter.

Das letzte Konvolut („Was uns erwartet“) handelt – man durfte gewiss damit rechnen – überwiegend vom bedrohlichen Klimawandel, so gibt es etwa Karten über weltweite Hitzewellen und Stürme oder zur Eis- und Gletscherschmelze. Auch erfährt man zum Beispiel, auf welchen Flugrouten künftig erheblich mehr Turbulenzen bevorstehen dürften. Hilfreich jene Sonnenlicht-Karte, die quasi jeden Quadratmeter eines bestimmten Gebiets im Hinblick auf Sonneneinstrahlung (Intensität, Dauer, zeitlicher Verlauf) definiert, so dass im Winter das Streusalz praktisch punktgenau verteilt werden kann und nichts verschwendet wird. Viele Flächen tauen eben auch rechtzeitig ohne Salz auf.

Ein Buch zum gründlichen Durchsehen, lehrreich, hie und da von echtem Nutzwert, dies aber von begrenzter Dauer. Denn solche Datenbestände und folglich die Karten altern leider ziemlich schnell.

James Cheshire / Oliver Uberti: „Atlas des Unsichtbaren. Karten und Grafiken, die unseren Blick auf die Welt verändern.“ Aus dem Englischen von Marlene Fleißig. Hanser Verlag, 216 Seiten (Format 20 x 25,5 cm), 26 Euro.




Wie das Wort der Stunde lautet

Auch im Schein einer Taschenlampe werden mehr Dinge… (fehlendes Wort bitte nach Lektüre des Beitrags einsetzen). (Foto: Bernd Berke)

Bitte mal eben kurz herhören, Leute! Wie könnte wohl das Wort dieser Tage (Pressejargon: „das Wort der Stunde“) lauten? Jetzt mal ausnahmsweise abgesehen vom Militär-Sprech, das neuerdings Einzug gehalten hat und uns schon ganz geläufig von den Lippen geht. Wer könnte nicht den Unterschied zwischen Marder und Gepard darlegen?

Zur Erinnerung nur ein paar Beispiele: Zuletzt hatten wir unter anderem das Narrativ, das mittlerweile in jeden zwölften Satz eingebaut wird, so dass man seiner vollends überdrüssig ist. Außerdem nervten sie uns im gepflegten Diskurs ständig mit der Resilienz, also der fremdwörtlich imponierend aufgeplusterten Widerstandskraft. Ungefähr gleichzeitig hatte – zumal im Kulturbetrieb – vieles immersiv zu sein; man durfte also nicht nur distanziert betrachtend davorstehen, sondern sollte tief eintauchen. Im Geschlechterkampf brach sich derweil das Wörtchen toxisch Bahn, vorzugsweise mit Bezug auf alte weiße Männer oder wenigstens Boomer. Und natürlich, nicht zu vergessen, ging nahezu nichts mehr ohne das Zauberwort divers mitsamt allen Ableitungen wie Diversität. Demnach soll alles entschieden vielfältig und verschieden sein, aber nicht im Sinne von tot, sondern von unterschiedlich. So weit, so woke.

Und nun? Was haben wir jetzt? Welches Wort hat sich in letzter Zeit schleichend, aber im Ergebnis ziemlich deutlich eingestellt? Großer Trommelwirbel: die Sichtbarkeit! Achtet doch mal drauf, wie häufig das inzwischen vorkommt. Jedes kleinere oder größere Anliegen macht sich anheischig, künftig sichtbarer zu sein. Jede gesellschaftliche Gruppierung (und sei sie noch so randständig) möchte unbedingt sichtbarer werden. Wenn freilich alles zugleich immer sichtbarer sein würde, so wäre schließlich – einer alten Redewendung zufolge – der Wald vor lauter Bäumen nicht mehr zu sehen. Das ist doch offensichtlich.




Im Schnee auf den Spuren von Rimbaud – Jon Fosses grandioser Roman „Ich ist ein anderer“

Asle wohnt irgendwo an einem abgelegenen Fjord und blickt jeden Tag über die Nebel verhangene Landschaft. Seine Frau, Alse, ist längst gestorben. Manchmal kommt ein Nachbar vorbei und sorgt dafür, dass Asle etwas isst, den Kamin befeuert und den Hund füttert.

Ein Sessel im Wohnzimmer ist noch immer für Alse reserviert. Denn in Asles Gedanken lebt sie weiter. Er spricht unablässig mit ihr. Vielleicht ist sie es (und nicht die atemlos lauschenden Leser dieses sich in dunklen Erinnerungen verlierenden und in unzähligen Wiederholungen träge dahin fließenden Gedankenstroms), der er sein Leben beichtet.

Immer wieder erzählt er, wie seine Schwester urplötzlich verstarb, die Mutter an allem herummäkelte, der Vater dumpf vor sich hin brütete; wie er seine erste Zigarette rauchte, in einer Band Gitarre spielte, die Musik dann aufgab, um sich der Malerei zu widmen. Jetzt ist er Anfang sechzig. Er ist müde und weiß nicht, ob er noch jemals ein Bild malen kann. Er hat alles, was in ihm verborgen liegt, die Träume und Alpträume, die Verabredung mit dem Tod, den Glauben an Gott und das Gefühl, im Spiegel der Zeit nicht sich selbst, sondern einen anderen Menschen zu erblicken, auf die Leinwand gebracht:

Beredtes Schweigen, rasender Stillstand

„Und ich sehe mich dastehen und das Bild mit den beiden Strichen anschauen, einer ist lila, einer braun, sie kreuzen sich in der Mitte und ich denke, es ist so kalt in der Stube und es ist zu früh zum Aufstehen, also warum bin ich aufgestanden?“

Mit diesen Worten beginnt „Ich ist ein anderer“, der neue Roman von Jon Fosse, der im Titel die Sentenz von Rimbaud aufgreift, mit der die literarische Moderne ihr Verwirrspiel mit der erzählerischen Verunsicherung und der multiperspektivischen Sicht auf eine zerfaserte Welt begann. Fosse, ein Meister des beredten Schweigens und des rasenden Stillstands, wird oft als Kandidat für den Literaturnobelpreis gehandelt. Jetzt stapft er mit Rimbaud im literarischen Rucksack durch den norwegischen Schnee und die Gedanken eines Malers, der sich selbst immer fremder wird und in mehreren Versionen zu existieren scheint.

Derselbe Name, dasselbe Gesicht

Immer wieder muss Asle an den anderen Künstler denken, der denselben Namen trägt, genauso aussieht, ähnliche Bilder malt und den er gerade gestern in der Stadt getroffen hat. Da lag „der andere Asle“ betrunken auf der Straße und musste in die Notaufnahme gebracht werden. Aber nicht nur um den anderen, den alkoholsüchtigen Doppelgänger im Krankenhaus zum besuchen, fährt Asle heute wieder in die Stadt. Er will auch seinem Galeristen, mit dem er schon seit Jahrzehnten zusammenarbeitet, seine neuen Bilder bringen. Doch erst einmal muss er es schaffen, aufzustehen, sich das Bild mit den beiden Strichen anzuschauen, das vielleicht sein letztes sein wird. Dann erst wird er sich ins Auto setzen und während der Fahrt sein Leben Revue passieren lassen. An seine tote Schwester, seine unfähigen Eltern, seine schmerzlich vermisste Frau denken. Immer wieder. Die Zeit steht still, verliert sich in einer Endlosschleife aus Erinnerungen.

Bisher eröffnete die dreiteilige (und in sieben Abschnitte unterteilte) Roman-Serie immer wieder mit der gleichen, nur minimal veränderten Szene. Immer wieder drohte der Maler im eigenen Gedankenfluss zu ertrinken. Nirgendwo fand er einen rettenden Punkt. Jeder Satz und jedes Buch blieb ein offenes Rätsel. Nur zum Schluss eines jeden Teils und jeden Romans fand er Halt, nahm seinem Rosenkranz und betete das Vaterunser. Was mit „Der andere Name“ begann, mit „Ich ist ein anderer“ weitergeführt wird und mit „Ein neuer Name“ beendet sein soll will, ist eine literarische Meditation, eine zeitlose Reise durch die literarische Nacht. Verwirrend. Grandios. Einzigartig.

Jon Fosse: „Ich ist ein anderer“. Heptalogie III-V, Roman. Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel, Rowohlt Verlag, Hamburg, 368 Seiten, 30 Euro.

 




Klönschnack zum Kringeln: „Dittsche“ im Bochumer Schauspielhaus

„Biddä, biddä“: Olli Dittrich alias „Dittsche“ im legendären Bademantel beim Schlussapplaus im Bochumer Schauspielhaus. (Foto: Bernd Berke)

Vor ein paar Wochen hat sich hier die Frage erhoben, wie Comedians (oder wie man die höchst individuellen Meister ihres Fachs nun nennen soll) mit der gegenwärtigen Weltlage umgehen. Im Dortmunder Konzerthaus hat Helge Schneider eine erste Antwort gegeben und sich klugerweise jeder direkten „Stellungnahme“ enthalten. Statt dessen hat er das gemacht, was er am besten kann. Ihr wisst Bescheid.

Kurz darauf war – gleichfalls im Konzerthaus – Olli Dittrich alias „Dittsche“ angekündigt, auch er eine Kultfigur von hohen Graden. Aus Gründen habe ich seinen Auftritt versäumt. Doch jetzt hat sich noch einmal Gelegenheit ergeben, die Chose nachzuholen, und zwar im ehrwürdigen Bochumer Schauspielhaus.

Wie hat „Dittsche“ die Gemütslage der kriegerischen Zeiten „aufgegriffen“? Ebenfalls so gut wie gar nicht. Zwar stand seitwärts auf der ansonsten leeren Riesenbühne eine dittscheske Stellvertreter-Figur, der eine Ukraine-Fahne beigesellt war (gerade so, dass es nicht aufdringlich wirkte), doch gab’s einen zaghaften verbalen Hinweis erst ganz am Schluss des langen Abends. Da meinte Olli Dittrich beiläufig, man müsse eben auch mal wieder lachen, um das ständige Entsetzen auszuhalten. Womit er recht haben dürfte.

Erscheinung am Bühnenrand: Lookalike-Figur mit bekannter Flagge. (Foto: Bernd Berke)

Zum Lachen gab’s wahrhaftig viel. Streckenweise war’s zum Kringeln. „Dittsche“ war in Höchstform, sein Soloauftritt zog sich – mit kurzer Pause – über mehr als drei Stunden hin. Zum Abschluss seiner Tournee zeigte sich Olli Dittrich schließlich einigermaßen gerührt vom donnernden Applaus des Bochumer Publikums – und gab sich gar zu bescheiden: Dass „so ein Kasper wie ich“ auf diesen Brettern stehen dürfe, sei ja schon bemerkenswert, befand der Mann, der selbstverständlich im berühmten Bademantel, mit „Schumiletten“ und Aldi-Tüte auftrat. Auch das Bierchen („Ah, das perlt richtig…“) durfte nicht fehlen. Übrigens war in den Zuschauerreihen ein Hardcore-Fan auszumachen, der tatsächlich im Bademantel im Theater erschien.

„Dittsche“ griff tief in seine Geschichten-Kiste, erzählte von schreiend komischen Vorfällen, vor allem rund um „Herrn Karger“ (der Ex-Friseur aus der Wohnung unter ihm), doch auch von „Ingo-Mann“ und „Schildkröte“ selig. So redefreudig war Olli Dittrich, dass er dauernd herrlich abschweifte und sozusagen „von Hölzken auf Stöcksken“ kam. Es gibt ja bekanntlich diese schweigsamen Norddeutschen, die an ein paar wenigen Worten genug haben. Und es gibt z.B. jene Sorte von Hamburgern, die ohne Unterlass klönschnacken können. In Dittsche lebt auch dieser Menschenschlag auf. In diesem Sinne jagt denn eine „Weltidee“ aus seiner irrwitzigen Ideen-Werkstatt die andere – und immer wieder ist von Katastrophen mit tückischen Alltagsdingen die weitschweifige, aber niemals langweilige Rede. Man kann jeweils nur zu gut ahnen, dass Dittsche mal wieder fürchterlich Mist gebaut hat, doch schuld soll am Ende stets Herr Karger sein, der diesmal eine ganz andere Erzähl-Präsenz erlangte als in der Fernsehreihe, die zu kennen von unschätzbarem Vorteil war, wollte man allen Witz nachschmecken. Die Perspektive war freilich leicht verschoben, weil die anderen Serienfiguren eben nicht anwesend waren. Also konnte Dittsche nun mehr ü b e r sie reden. Und über den bärbeißigen Karger sowieso.

Später geht’s dann mehr um Promis und „Titanen“, als da zum Exempel wären: Olli Kahn, Dieter Bohlen, die Queen (mitsamt deren allergrößter Anhängerin: Frau Karger) und Dittsches hanseatisches Fußball-Idol Uwe Seeler. Im zweiten Teil spielt dann auch Olli Dittrichs aus dem wirklich wahren Leben gegriffene Offenbacher Großmutter eine zentrale Rolle. Allein ihre überlieferte Reaktion auf Eduard Zimmermanns „Aktenzeichen XY…ungelöst“ ist goldig genug, zumal in hessischer Mundart. Und wie Olli Dittrich zudem Ede Zimmermanns Standard-Mimik nach den stümperhaften Verbrechens-Filmchen nachmacht (ein schwerer Atemzug, bedenkliches Kopfwiegen, dann die ernsten Worte: „Kein Einzelfall.“), das ist einfach ziemlich göttlich.




Ein äußerst konservatives Verständnis von Kunst – Sammlung des Bundes zeigt ihre Neuerwerbungen in Bonn

„Question #2: When Are We Right“ und „Question #2: When Are We Wrong?“ von Isaac Chaong Wai (2021) (Foto: Mick Vincenz, 2022 © Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH)

Und anschließend überlegt man, was wirklich überwältigend war. Spontan eigentlich: Nichts. Oder vielleicht der große hölzerne Guckkasten von Dirk-Dietrich Henning, in dem er in großer räumlicher Tiefe Bildebenen montiert hat, Ausgeschnittenes überwiegend in Schwarzweiß, eine Fleißarbeit. Der französische Titel ließe sich in etwa mit „Schwäche der Leichtgläubigen“ übersetzen, und darunter kann man sich ja eine Menge vorstellen. Große Holzkiste also, eindrucksvoll. Aber sonst?

Der Titel dieses Bildes gab der Kunstschau den Namen: „Identität nicht nachgewiesen“ wurde, so der Ausstellungskatalog, einer Frau aus Afrika auf den Ablehnungsbescheid gestempelt, als sie versuchte, ein Bankkonto zu eröffnen. (Bild: Bussaraporn Thongchai, Courtesy the artist, Sammlung des Bundes)

Soeben wurde besichtigt, was zwei Auswahlgremien in den Jahren 2017 bis 2021 für die Sammlung des Bundes vorwiegend wohl auf Kunstmessen in Köln, Berlin und Basel zusammengekauft haben, 170 von insgesamt 360 Arbeiten. 4,5 Millionen wurden ausgegeben, was nicht zu kritisieren ist. Doch die Kunst selbst – oder sagen wir besser, der offenbar zugrundegelegte Kunstbegriff – wirkt doch ausgesprochen mager und ausschnitthaft. Kunst ist, daran läßt diese Kunstschau keinen Zweifel, was man an die Wand hängen, auf die Erde stellen, schlimmstenfalls auf die Wand projizieren oder über einen Fernsehbildschirm laufen lassen kann. Wand anmalen geht auch noch. Als inhaltlichen Anspruch formuliert Susanne Kleine, Kuratorin dieser Ausstellung, im Vorwort des Kataloges den Anspruch, den man an die Werke stellte: „Diversität, Toleranz und gesellschaftliche und persönliche Hinterfragungen sind Kriterien, nach denen die Werke ausgesucht worden sind“. Der Souverän, repräsentiert durch die Auswahlkommission, mag es demnach brav und handzahm.

Auch das könnte Kunst sein

Aber wenigstens fragen möchte man doch einmal, wo all die anderen Kriterien geblieben sind, die spannende, berührende Kunst ebenfalls ausmachen können -–Erotik beispielsweise, Wut, Spontaneität, Provokation, vielleicht aber auch Verspieltheit und Obsession, oder die Hingabe an Form und Material. Und natürlich das, was ein verbaler Kriterienkatalog eben nicht adäquat beschreiben kann, was ahnt und raunt und diffus bleibt.

Zuzanna Czebatul: „Siegfried’s Departure“ (2018) (Foto: CAC Futura Prag, Zuzanna Czebatul/Sammlung des Bundes)

Künstler und Werk

Der Kunstbegriff, auf den man hier stößt, ist extrem konservativ. Er kennt nur die Spielpaarung Künstler und Werk, gerade einmal Zweiergruppen sind im Teilnehmerverzeichnis noch auszumachen. Längst jedoch, es genügt ein Blick in die nähere Nachbarschaft, gibt es eine umfangreiche Kunstproduktion jenseits der hier übermäßig bemühten Schemata, die sich nicht sonderlich um die althergebrachten Fachabteilungen kümmert. Man denke da beispielsweise an Künstlergruppen wie „Rimini Protokoll“, der man mit Arbeiten wie „Urban Nature“ im Theater ebenso begegnen kann wie im Museum oder bei einem Musikfestival; oder an das „Zentrum für politische Schönheit“, dessen gewiß nicht immer geschmackvolle Aktionen doch nicht nur politische Demonstrationen sind, sondern eben auch Hervorbringungen mit ästhetischen Qualitäten. Erinnert sei auch an das indonesische Künstlerkollektiv ruangrupa, das in diesem Jahr die Documenta in Kassel kuratiert.

Die Rolle der Kuratoren

Hier wäre übrigens, ganz beiläufig, die Stelle, an der man sich zudem über den Einfluß der Kuratoren auf Kunstproduktion und –präsentation ein paar kritische Gedanken machen könnte, aber das führte im Moment wohl zu weit. Gleichwohl: Müßte man nicht auch für sie, die Kuratorinnen und Kuratoren, ein warmes Plätzchen in der Bundeskunsthalle reservieren?

Bild aus der Fotoserie „The Last Drop – Indien, Westbengalen“ von Anja Bohnhof (2019) (Bild: © Anja Bohnhof/Sammlung des Bundes)

Schließlich, und die Liste könnte durchaus noch länger werden, fehlt das, was mit eher unklarer Kontur als Computerkunst bezeichnet wird – mehr oder weniger geschickte Versuche, dem monströsen Thema IT (oder in letzter Zeit, schlimmer noch: KI) mit einer analog rezipierbaren künstlerischen Beschäftigung zu begegnen. Im Dortmunder Hartware Medienkunstverein im Kulturzentrum „U“, dies nur am Rande, ist in einer schön zusammengestellten Ausstellung zu sehen, wie sich vorwiegend jüngere Künstlerinnen und Künstler dem Thema annähern (Besprechung in den Revierpassagen). Nicht jeder Versuch ist Gold, doch schon der Versuch ist zu preisen. In Bonn gibt es zu diesem Thema nur weißes Rauschen.

„Hochdrücken“ von Kristina Schmidt (2018) (Bild: © Kristina Schmidt/Sammlung des Bundes)

Erwartet wird Haltung

„Es läßt sich beobachten, daß heute verstärkt Stimmen zu Wort kommen, Haltungen sich abzeichnen, Persönlichkeiten unterstützt werden, die sich besonders gut darauf verstehen, das fragile System unserer Gesellschaft, Demokratie und unseres Planeten zu durchleuchten“, schreibt Bundeskunsthallen-Intendantin Eva Kraus im Vorwort zum Katalog. Große Worte, kaum zu widerlegen. Aber natürlich läßt sich dieser Trend eben deshalb beobachten, weil entsprechend ausgesucht wurde. Blickt man auf den Kunstmarkt, wie er sich beispielsweise in Versteigerungen darstellt, erhält man ein gänzlich anderes Bild von Marktwert und Relevanz der Kunst – übrigens auch im drei- oder vierstelligen Euro-Bereich.

Man vermißt die prominenten Zeitgenossen

Kuratorinnen und Kuratoren kamen in der ersten Auswahlperiode vom Hamburger Bahnhof in Berlin, vom Kunstmuseum Stuttgart, der Kunsthalle Bielefeld, der Insel Hombroich und der Bundeskunsthalle selbst; im zweiten Durchgang von den Kunstsammlungen Chemnitz, dem Münchener Museum Brandhorst, dem Kunstverein für Mecklenburg und Vorpommern in Schwerin, dem Kunstverein Braunschweig, dem Westfälischen Kunstverein in Münster und der Städtischen Galerie im Münchener Lenbachhaus. Die Künstler sind dem Verfasser dieser Zeilen mit zwei, drei Ausnahmen unbekannt, und in 20 Jahren, so steht zu befürchten, werden sie dem Großteil des Publikum immer noch unbekannt sein. Warum gibt es in einer nationalen Kunstsammlung keinen aktuellen Neo Rauch? Oder einen Jonathan Meese? Oder einen anderen oder, nota bene, eine andere? Nur als Beispiel. Eine „Sammlung des Bundes“, deren Name auch Anspruch wäre, sollte über Werke der deutschen Künstlerprominenz verfügen können.

  • „Identität nicht nachgewiesen – Neuerwerbungen der Sammlung zeitgenössischer Kunst der Bundesrepublik Deutschland“
  • Bundeskunsthalle Bonn
  • Bis 3. Oktober 2022
  • www.bundeskunsthalle.de



Von Natur aus glücklich – „Katzen und der Sinn des Lebens“

Meiner Treu! Noch nie habe ich ein Buch gelesen, das dermaßen angefüllt ist mit Katzenlobpreisungen aller Art und Güte. Der britische Philosoph John Gray, Jahrgang 1948 und in olympischen Gefilden der Wissenschaften tätig (Oxford, Yale, London School of Economics), hat Dichtung und Geistesgeschichte auf katzenaffine Inhalte durchsucht und ist vielfach fündig geworden. Wir Menschen kommen in seinem Buch „Katzen und der Sinn des Lebens“ (Originaltitel: „Feline Philosophy“) weniger gut davon.

Einige Befunde, aus denen sich alles Weitere herleitet: Katzen sind offenbar prinzipiell zufrieden mit ihrem Leben, das Glück ist ihnen gleichsam angeboren, weil sie niemals an den Tod denken und nichts anderes sein wollen, als sie sind; weil sie schlicht und einfach ihrer Natur folgen und im Einklang mit den Instinkten leben, die ihnen nun mal gegeben sind. Nicht einmal Meister des Buddhismus oder Daoismus kommen ihnen an Gelassenheit auch nur annähernd gleich. Wer je eine Katze in ihren allfälligen Mußestunden länger beobachtet hat, wird dies kaum bezweifeln. Insofern führt das Buchcover in die Irre, auf dem eine grübelnde Katze dargestellt ist.

Gray zitiert Denker wie Pyrrhon von Elis und Michel de Montaigne (Seelenruhe als für den Menschen kaum dauerhaft erreichbares Lebensziel), er befragt Epikur und die Stoiker nach ihren Glücksvorstellungen, stellt uns die grundsätzliche Unruhe des Menschseins vor Augen, die Blaise Pascal im berühmten Diktum zusammenfasste, das Unglück der Gattung rühre daher, dass sie nicht ruhig in den Zimmern bleiben könne. Schlimmer noch: Der Mensch kann – nicht nur im Krieg – seine Menschlichkeit verlieren, die Katze bleibt jedoch immer eine Katze, mit allen Attributen.

Einbildung und Zerstreuung seien die flüchtigen Elemente, in denen die allermeisten Menschen sich bewegen. Auch die Philosophie, so Gray, weise letztlich keine Auswege aus unserer existenziellen Lage. Denken könne das Unglück nicht lindern, befand beispielsweise auch Samuel Johnson. Und weiter: Immerzu versuchten die Menschen, ihr Leben zur Geschichte zu machen, sich auf ein Ziel hin zu entwerfen. Daraus, aus der Angst vor dem Tod und aus der fortwährenden Sinnsuche entstehe ihr Leiden. Auch könne daraus Lebensfeindlichkeit nach Art eines Seneca erwachsen, der völlig ungebrochen den Selbstmord empfahl: „Es macht überhaupt nichts aus, an welcher Stelle Du aufhörst.“

Ganz anders die Katzen! Niemals käme es ihnen in den Sinn, für Ideen zu sterben. Wenn wir es nur vernehmen wollten, könnten sie uns Einblicke in ein anderes Sein geben, in ein Leben vor dem Sündenfall. Nun gut, das mag auf Tiere generell zutreffen, doch leben die wenigsten von uns mit einem Specht, Luchs oder Ameisenbär zusammen, viele hingegen mit Katzen, jenen Wesen also, die sich – im Gegensatz zu Hunden – niemandem unterordnen. Ihre Ethik (wenn man es denn so nennen will) sei – so paradox es klingen mag – eine des „selbstlosen Egoismus“. Sie haben kein „ungelebtes Leben“, nach dem sie sich in Sehnsucht verzehren könnten, auch werde ihre Seele nicht „vom Tod berührt“, den sie bejahend erwarteten, wenn sie sein Kommen fühlen. Woher John Gray das nur alles so genau wissen will? Sind es nicht auch wieder Zuschreibungen aus menschlicher Perspektive?

Auch grausame Details erspart uns der Autor nicht, so etwa die fürchterlichen Rituale von Katzenhassern früherer Jahrhunderte, die in Ausläufern beispielsweise bis zu René Descartes (Zitier-Hit: „Ich denke, also bin ich“) reichen, der fiese Experimente mit Katzen anstellte, um zu beweisen, dass sie keine richtigen Individuen seien. Weit gefehlt, ruft Gray aus, sie seien wahrscheinlich individueller als wir.

Der weit überwiegende Teil des Buches ist denn auch der Katzenverehrung und Katzenbewunderung gewidmet. Den alten Ägyptern galten diese Tiere als gottähnlich, ihnen wurden ganze Tempel gewidmet. Von Geschichte und Philosophie geht Gray sodann zur Literatur über und führt Texte vor allem von Autorinnen (Colette, Patricia Highsmith, Mary Gaitskill und Doris Lessing) auf, in denen Katzen den Menschen eindeutig überlegen sind. Den Katzen sei – bei allem Talent zur Ruhe – höchste Wachheit eigen, wenn es darauf ankommt, ihre Erfahrung sei intensiver als unsere, just weil sie ganz und gar sie selbst sind. Dagegen wir: so fragmentiert…

Wenn man das Buch nach der Lektüre sanft zuklappt, wird man versucht sein, sich vor der schnurrenden Spezies zu verneigen. Katzen machen uns vor, wie zu leben wäre. Doch wir können es nicht begreifen. Aber eins können wir auf jeden Fall tun: Unser Kater Freddy kriegt jetzt erst einmal eine Extraportion Futter!

John Gray: „Katzen und der Sinn des Lebens. Philosophische Betrachtungen“. Aus dem Englischen von Jens Hagestedt. Aufbau Verlag, 160 Seiten, 20 Euro.




„Ich gebe viel, ich bekomme etwas zurück“: Jessica Muirhead singt die „Arabella“ am Aalto-Theater Essen

Endlich wieder singen: Jessica Muirhead, seit 2015 am Essener Aalto-Theater fest engagiert, freut sich riesig, dass die Corona-Pandemie kein Hindernis mehr ist, auf die Bühne zurückzukehren. Ab 14. Mai singt sie die „Arabella“ in Richard Strauss‘ gleichnamiger Oper.

Jessica Muirhead. (Foto: Nanc Price)

Auch sie selbst hat ihre Infektion überwunden und stürzt sich in eine für sie neue, große Partie: Mit der lyrischen Komödie „Arabella“, dem letzten gemeinsamen Werk von Strauss und Hugo von Hofmannsthal, biegt am 14. Mai die Spielzeit 2021/22 am Aalto in die Zielgerade ein. Es ist die letzte Opernpremiere der Intendanz von Hein Mulders. Werner Häußner sprach mit der britisch-kanadischen Sopranistin, die 2018 auch den Aalto-Bühnenpreis erhalten hat, über ihre Karriere und blickt mit ihr auf die Zeit mit Mulders zurück.

Ab Samstag sind Sie am Aalto-Theater Essen die Arabella in Richard Strauss‘ wehmütig-ironischem Rückblick auf das „alte Wien“.

Ja, endlich ist sie da! Ich finde, jetzt ist der richtige Zeitpunkt für meine Stimme, mit Strauss zu beginnen. Vor drei Jahren sollte ich schon die Marschallin singen, aber das empfand ich noch als zu früh. Ich möchte mir die Strauss-Rollen langsam erarbeiten, zum Beispiel „Daphne“, die ich in Frankfurt gesehen habe – ein berührendes Stück und großartig für die Stimme geschrieben. Da bekomme ich Gänsehaut.

Aber Puccinis Suor Angelica im „Trittico“, die Sie gerade am Aalto-Theater gesungen haben, ist auch nicht ohne …

Aber ja. Ich bin am Ende komplett fertig, obwohl die Rolle kurz ist. In dieser Inszenierung von Roland Schwab bin ich die ganze Zeit im Spotlight.

Jessica Muirhead als Schwester Angelica in Giacomo Puccinis „Il Trittico“ am Aalto-Theater Essen. (Foto: Matthias Jung)

Endlich wieder auf der Bühne singen

Wie sind Sie durch die Zeit der Pandemie gekommen?

Es war keine gute Zeit für mich. Diese Unsicherheit um unsere Zukunft hat mich geradezu depressiv gemacht. Am Anfang war die Ruhe für die Stimme okay. Aber nach zwei Jahren brauche ich ein Publikum und eine Bühne. Wenn man in einer Wohnung singt, ist das Gefühl ein anderes. Es war auch schwierig, die Zeit zu nutzen, um neue Partien zu lernen. Meine Seele war traurig, doch man braucht die Seele, um zu singen. Ich habe einige Rollen gelernt, die dann abgesagt wurden, zum Beispiel aus Rossinis „Il Viaggio a Reims“. Gottseidank dürfen wir jetzt wieder spielen und das Publikum kommt. Das ist nicht überall so. Aber ich habe bemerkt, dass unser Publikum die Kunst braucht und genießt, so wie ich auch. Jetzt fühle ich mich besser, weil ich sehe: Es gibt eine Zukunft.

Haben Sie stimmlich eine Veränderung bemerkt, weil Sie lange nicht auf der Bühne singen konnten?

Es herrschte zu viel Ruhe. Das ist wie bei der Fitness: Spazieren gehen ist super, aber man braucht auch die Anstrengung. Ich habe gemerkt, dass meine Stimme häufig zu tief intoniert hat. Da war die Spannung weg und es fehlte mir die Kontrolle. Jetzt erst ist meine Stimme wieder voll da.

Was war die erste Partie nach der Pandemie?

Am Aalto-Theater war es die Dido in Henry Purcells „Dido und Aeneas“. Aber im Herbst 2021 konnte ich in Israel in einer Uraufführung mitwirken: „Kundry“ von Avner Dorman, inszeniert von der künftigen Volksopern-Direktorin Lotte de Beer an der Oper in Tel Aviv.

Das Aalto-Theater als echtes Zuhause

Sie sind seit 2015 am Aalto-Theater im Festengagement. Was hält Sie so lange in einem Ensemble? Sie hätten die Möglichkeit, an vielen großen Häusern frei zu singen.

Dafür gibt es viele Gründe. Ich bin die Schritte sozusagen umgekehrt gegangen – erst war ich zehn Jahre frei, dann ging ich ins feste Engagement. Ich wollte ein echtes Zuhause haben. Das habe ich im Aalto-Theater gefunden. Es ist schön, die familiäre Atmosphäre hier am Haus zu genießen. Das ist nicht selbstverständlich. Ich brauche den Kontakt, weil meine Familie in Kanada weit weg ist. Außerdem eröffnen sich hier so viele schöne künstlerische Möglichkeiten. In München hatte ich früher einen Residenzvertrag, aber ich konnte nur drei Rollen singen: Musetta in „La Bohème“, eine Magd in „Elektra“ und ein Blumenmädchen im „Parsifal“. Ich war ein „small fish in huge water“. Ich wollte mehr singen, vor allem mehr Hauptrollen.

Dann eröffnete Essen Ihnen viele Rollendebüts …

Das nächste Rollendebüt für Jessica Muirhead ist „Arabella“ von Richard Strauss. Ein Probeneindruck mit Heko Trinsinger als Mandryka. (Foto: Matthias Jung)

Intendant Hein Mulders hat mir diese Möglichkeit gegeben. Ich habe als Rusalka, Luisa Miller, Elsa, Rosalinde und Anna in Marschners „Hans Heiling“ debütiert und Rollen wie Violetta, die Gräfin in „Nozze di Figaro“, Donna Anna, Micaëla, Margarethe in Gounods „Faust“, die ich früher bereits gesungen hatte, aufgefrischt. Was ich gerne wieder machen würde, ist „Romeo und Julia auf dem Dorfe“ von Frederick Delius, ein wunderbares Werk. In der nächsten Spielzeit darf ich dann auch wieder Belcanto singen: die Lucrezia in Donizettis „Lucrezia Borgia“. Hier in Essen habe ich die Möglichkeit, das auszuprobieren.

Auf der anderen Seite muss ich nichts tun, was meiner stimmlichen Entwicklung schadet. Zum Beispiel habe ich die Elisabetta in Verdis „Don Carlo“ zurückgegeben, weil ich das Gefühl hatte, es sei noch zu früh für diese Partie. Das wird akzeptiert – was nicht an allen Häusern der Fall wäre – und ich fühle mich so als Künstlerin in meiner Verantwortung wahrgenommen.

„Die Vielfalt hat mir nicht geschadet“

Ein Vorteil ist auch die Verbindung von Aalto-Theater und Philharmonie. Im März hatte ich den Sopranpart in Rossinis „Stabat Mater“ übernommen, habe hier in Beethovens Neunter und zum ersten Mal in Brahms‘ „Deutschem Requiem“ gesungen. Die Vielfalt hat mir nicht geschadet, im Gegenteil: Eine Wiener Stimmspezialistin hat mir nach der Premiere der „Suor Angelica“ gesagt, meine Stimme sei so frisch wie damals, als sie mich zum ersten Mal gehört hatte.

Wann war das?

Das war 2006, als ich als Pamina in der „Zauberflöte“ an der Wiener Volksoper in der Inszenierung Helmut Lohners in Europa debütierte. Ich hatte in Kanada einen Wettbewerb gewonnen und Rudolf Berger, damals Direktor der Volksoper, war Mitglied der Jury. Er hat mich angerufen und mir Pamina angeboten. Ich bekam dann einen Residenzvertrag und habe noch Micaëla („Carmen“) und Agathe („Der Freischütz“) gesungen.

Was hat Ihnen diese Zeit in Wien gebracht?

In meinen ersten Jahren auf der Bühne habe ich viel gelernt! Ich hatte zuvor im Studium in Toronto nur in Mozarts „Idomeneo“ die Chance, szenisch zu agieren. Ich glaube, in dieser Wiener Zeit bin ich eine Schauspielerin geworden. Am meisten gelernt habe ich in der Arbeit mit einer Regieassistentin, Susanne Sommer. Ich habe bei meinem Debüt in Bizets „Carmen“ als Micaëla schlechte Kritiken bekommen. Ich war einfach zu langweilig. Bei der Wiederaufnahme habe ich mit ihr die Partie erarbeitet. Auch von Helmut Lohner habe ich viel gelernt, er war ein wunderbarer Künstler.

Was hat Sie dann bewogen, von Wien wegzugehen?

Ich bekam ein Angebot von München und an der Volksoper gab es eine neue Intendanz.

Und in Essen haben Sie sich von Anfang an wohl gefühlt?

Jessica Muirhead als Anna in Heinrich Marschners "Hans Heiling" am Aalto-Theater Essen. Foto: Thilo Beu

Jessica Muirhead als Anna in Heinrich Marschners „Hans Heiling“ am Aalto-Theater Essen. (Foto: Thilo Beu)

Ja, ich hatte das Gefühl, Hein Mulders schaut darauf, wie neue Sängerinnen und Sänger ins Ensemble passen, nicht nur von der Stimme, auch von der Persönlichkeit her. Was mich betrifft, fühle ich mich wertgeschätzt; ich gebe viel, ich bekomme etwas zurück. Ich hatte Intendanten, die waren nicht sichtbar. Hein kommt zu jeder Premiere. Es ist das Gefühl des Kontakts da. Er sagt auch offen, was er gut findet und was nicht. So ein ehrliches Feedback schafft eine Beziehung. Besonders für uns Sänger ist das wichtig. Ich fühle mich als Künstlerin wahrgenommen.

Außerdem hat Hein Mulders für die Sänger und für das Publikum ein tolles Repertoire von Purcell bis Marschner und Wagner aufgebaut. Er hat meine Stimme gut verstanden, weil ich nicht in ein Fach gehöre. Die Möglichkeiten, die ich vorher hatte, waren oft nur in einem Fach. Hein Mulders verstand, dass ich dramatischer Koloratursopran, jugendlich-dramatischer und manchmal lyrischer Sopran bin. Verdis „Luisa Miller“ zum Beispiel habe ich mir nicht zugetraut, aber er sagte: „Du kannst das“. Und am Ende war es mein Lieblingsstück und hat auch meine Stimme gesünder gemacht. Ich habe das Gefühl, er riskiert manchmal etwas, aber die Risiken nimmt er mit Erfolg auf sich. Auch bei „Rusalka“ war ich mir zuerst nicht sicher. Ich bin persönlich dankbar, dass er solche Schritte für mich bedacht hat. Vorher hätte ich nie gedacht, dass ich einmal Wagner singen würde.




„Nichts ist, das ewig sei“: Bewegender Film über Detroit, Bochum und die Vergänglichkeit

Verblasster Schriftzug – Als die Buchstaben auf dem geschlossenen Bochumer Opel-Werk nur noch schemenhaft sichtbar waren… (Foto/Filmstill: © loekenfranke Filmproduktion)

Kaum zu glauben, aber offenkundig: Das anno 1643 in deutscher Sprache verfasste, barocke Vergänglichkeits-Gedicht „Es ist alles eitel“ von Andreas Gryphius scheint sich staunenswert genau zur desolaten Situation in der einstigen US-Autometropole Detroit zu fügen. „Seems like he got it“, sagt einer von denen, die vor der Kamera ein paar Worte aus der englischen Übersetzung vorgelesen haben. Ja, er hat’s im Grunde wohl schon damals verstanden, dieser Herr Gryphius, der solche gültigen Zeilen geschrieben hat:

„Was itzund prächtig blüht, soll bald zertreten werden.
Was itzt so pocht und trotzt, ist morgen Asch und Bein.
Nichts ist, das ewig sei, kein Erz, kein Marmorstein.
Itzt lacht das Glück uns an, bald donnern die Beschwerden.“

Es ist ein famoser Einstieg in den Film „We are all Detroit. Vom Bleiben und Verschwinden“, der an diesem Donnerstag (12. Mai) in ausgewählten Programmkinos der Republik startet (siehe den Nachspann dieses Beitrags). Die fast zweistündige Dokumentation stellt die überaus missliche Lage in Detroit neben jene in Bochum, wo bekanntlich das Opel-Werk dicht gemacht wurde. Inwieweit sind die Verhältnisse vergleichbar? Können Bochum und das Ruhrgebiet etwas aus den Zuständen in Detroit lernen – und wäre es möglich, dass umgekehrt Bochumer Impulse auf Detroit einwirken?

Filmplakat zu „We are all Detroit“ (© loekenfranke Filmproduktion)

Cadillac und andere Legenden

In Detroit wurden Legenden wie der Cadillac gebaut. Doch seit die großen, früher so stolzen und weltweit renommierten Fabriken von General Motors (GM) bis Packard geschlossen haben, ist es ein Jammer um die einst prosperierende Stadt und ihre Bewohner.

Das in Witten ansässige Regie-Duo Ulrike Franke / Michael Loeken, das schon mit dem Film „Göttliche Lage“ (zum sozialen Wandel durch den Dortmunder Phoenixsee auf einem vorherigen Stahlwerks-Areal) beeindruckte, hat diesmal beiderseits des Atlantiks recherchiert und bei den einfühlsamen Sondierungen starke Bilder eingefangen. Bemerkenswert zumal, welche Valeurs sie den verfallenden Fabrikhallen und dem tristen Ödland abgewinnen. Stellenweise scheint es, als wären die Bauten beseelte Wesen. Mit Wehmut sieht man die kilometerweit sich erstreckenden Industrie-Wüsteneien mitsamt der ringsum maroden Infrastruktur. Sarkasmus geht auch: Von „ruin porn“ (Ruinen-Porno) spricht ein Fremdenführer in den einsturzgefährdeten Fabrikhallen. Aas lockt die Geier an.

Krise? Doch nicht bei General Motors!

Ein ehemaliger GM-Ingenieur erzählt, dass der Konzern die Signale des Niedergangs nicht an sich herankommen ließ. Krise? Doch nicht bei General Motors! Wir scheitern doch nicht. „We’re too good to fail.“ Mussten die Konzerne und ihre Manager sich für all die Misswirtschaft verantworten? Nichts da! Das Kapital ist einfach weitergezogen, um andernorts aufzublühen und sodann abermals Verheerungen anzurichten.

Helden des Alltags und erste Hoffnungsschimmer

Hüben wie drüben hat das Filmteam Menschen befragt, die seit Jahrzehnten in den Autofabriken gearbeitet oder deren Mitarbeiter verköstigt bzw. sonstwie versorgt haben; Menschen, die nun seit geraumer Zeit unter dem Verfall der Urbanität leiden, aber auch solche, die (allmählich) neue Hoffnung schöpfen oder sogar ein gänzlich neues Leben begonnen haben. So haben sich einige Bewohner Detroits auf Gartenbau und Pflanzenzucht verlegt, um durch dieses „Zurück zur Natur“ auch persönlich zu reifen und ihren vergammelten Stadtteil wieder ein Stück lebenswerter zu machen. Der Verkauf von Obst und Gemüse sichert ein bescheidenes Einkommen. Da scheint so etwas wie konkrete Utopie auf. Überhaupt ist es geradezu heroisch, wie manche Leute dem Niedergang, wie sie der jahrelang vorherrschenden Gewalt- und Drogenkriminalität etwas entgegensetzen. Tatsächlich zeigen sich nun endlich erste Hoffnungsschimmer, es kehrt wieder Leben in manche Quartiere ein. Freilich sind es überwiegend andere Leute, die da kommen: „Hipster“, sagt einer etwas ratlos. Sei’s drum? Oder keimt da bereits die nächste Verlustgeschichte? Wait and see.

Den Geldströmen ihren Lauf lassen

An vielen Ecken und Enden der US-Millionenstadt hat sich seit langer Zeit kaum etwas getan. Hunderttausende haben die Gegend verlassen. Grundstücke haben für Spottpreise die Besitzer gewechselt, aber die meisten Investoren blieben untätig, so gut wie nichts ist vorangekommen. Da möchte man den Bochumer Weg loben, wo millionenschwere öffentliche Fördermittel in die Herrichtung des vormaligen Opel-Areals fließen und wahrhaftig erste Neubauten entstanden sind, so etwa ein gigantisches DHL-Paketzentrum. Auch eine Reisegruppe aus Detroit bewundert in Bochum derlei Fortschritte und ersehnt Ähnliches für daheim. Doch in den Staaten läuft die Chose anders, dort lässt man den Geldströmen noch weitaus ungehemmter freien Lauf. NRW fördert den Umbau in Bochum, Michigan kümmert sich hingegen nicht ums Schicksal von Detroit.

Eine grässliche „Blechbüchse“

Doch Vorsicht! Die bei Pressekonferenzen und Eröffnungen skizzenhaft eingefangene Selbstbeweihräucherung der politisch Verantwortlichen in Bochum (Projekt „Mark 51.7″) hat offenbar eine Kehrseite. Da gibt ein DHL-Sprecher auf Nachfrage zu, dass zwar zunächst 600 Arbeitsplätze entstehen, man aber auch schon darüber nachdenke, wie Roboter mehr Aufgaben übernehmen könnten. Außerdem vertritt jemand eine nachvollziehbare Gegenposition: Der Bochumer Architektur-Professor Wolfgang Krenz findet die knatschgelbe DHL-„Blechbüchse“ grässlich. So etwas Durchschnittliches stehe doch überall herum, während eine rund 500 Meter lange und weltweit nahezu einmalige Opel-Fabrikhalle unbedingt erhaltenswert gewesen wäre – als mächtiges Zeichen und ebenso ästhetisches wie lebensweltliches Statement fürs unbeugsame Selbstbewusstsein des Reviers.

Zur Erinnerung: Das 1962 fertiggestellte Bochumer Opel-Werk verhieß dem Ruhrgebiet in der Zechenkrise sichere Arbeitsplätze anderer Sorte. Den jetzigen neuerlichen „Strukturwandel“ sehen Anwohner und frühere Opel-Arbeiter mit sehr gemischten Gefühlen, Zuversicht und Skepsis halten sich die Waage. Jedenfalls kann das zögerliche Vorgehen in Detroit wohl keine ernsthafte Alternative sein.

Menschen, die sich „irgendwie“ durchbringen: der Inhaber des Baumarktes (rechts) und ein befreundeter Kunde, der gerade seine behinderte Tochter verloren hat… (© loekenfranke Filmproduktion)

Begegnungen mit einem „anderen Amerika“

Eine ausgesprochene Stärke des in den US-Passagen deutsch untertitelten Films ist es, die betroffenen Menschen freimütig für sich sprechen zulassen. Daraus entstehen einige bewegende „Erzählungen“, so etwa die Geschichte(n) eines liebenswert kernigen Typen, der seit Jahrzehnten im Detroiter Autobezirk eine Art Tante-Emma-Baumarkt (Schraubenhandel & Artverwandtes) betrieben hat und nun den Laden schließen muss, weil alle Welt nur noch online kauft. Diesem auf seine ganz eigene Art lebensweisen Mann könnte man sehr lange zuhören. Solche Begegnungen sind vielleicht gar geeignet, in unseren Köpfen ein etwas anderes „Amerika“-Bild entstehen zu lassen. Das gilt auch für die Imbisskellnerin, die sich – zeitweise parallel mit zwei Jobs – mühsam über Wasser hält (Hungerlohn: 3,20 Dollar pro Stunde ohne Trinkgeld) und an der Heroinsucht ihres Sohnes verzweifelt: „It is the door to hell.“ Da möchte man heulen.

Generell zeigt sich, welche Verheerungen das mangelhafte US-Sozialsystem angerichtet hat. Massenhaft campieren Obdachlose unter den Brücken, der Film zeigt dieses Elend aus diskreter Distanz. Der Himmel oder was auch immer bewahre uns vor dem weiteren Fortgang solcher Entwicklungen.

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Der Film läuft u. a. hier:

Bochum, endstation (Wallbaumweg 108): endstation-kino.de
Bochum, Casablanca (Kortumstraße 11, im „Bermuda-Dreieck“): casablanca-bochum.de
Dortmund, Sweet Sixteen im „Depot“ (Immermannstraße 29): sweetsixteen-kino.de
Essen, Filmstudio Glückauf (Rüttenscheider Str. 2): filmspiegel-essen.de
Münster: Cinema/Kurbelkiste (Warendorfer Str. 45-47): cinema-muenster.de

…und vielleicht auch in Eurer Stadt.




Vom Verschwimmen des Privaten: Paul Hindemiths Satire „Neues vom Tage“ in Gelsenkirchen

Vor dem Bad noch schnell ein Selfie: Eleonore Marguerre in Paul Hindemiths „Neues vom Tage“ in Gelsenkirchen. (Foto: Monika Forster)

Die Badewanne war’s. Sie ließ Paul Hindemiths „Neues vom Tage“ zum Skandal werden. Eine Frau, die nackt und schaumbedeckt Männer empfängt, das erregte den wohlgesitteten deutschen Bürger der Weimarer Zeit: Ein bisschen gucken und sich empören.

In Berlin war die „Zeitoper“ zwar nicht sonderlich erfolgreich. Aber den nur 15 Wiederholungen an der Kroll-Oper folgten, so Hindemith selbst in einem Interview, „allenthalben zahlreiche Aufführungen, bis schließlich das nazistische Allerneueste vom Tage ihr vorläufig den Garaus machte“.

Jetzt setzt das Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen dem „Garaus“ etwas entgegen und bringt Hindemiths „lustige Oper“ mit einer leider mäßig besuchten, aber begeistert gefeierten Premiere wieder in die Diskussion. Und siehe da, die 92 Jahre alte Satire auf die großstädtische Gesellschaft von damals erweist sich als überraschend vital. Mag zwar sein, dass die Ehescheidungs-Problematik, aus der Kabarett- und Revueautor Marcellus Schiffer sein Libretto entwickelt, heute nicht mehr den prickelnden Ruch von damals mitbringt. Aber im Zeitalter von social media, Selfies und überwachten Räumen, medialer Allgegenwart und konstruierter Realität erweist sich als ungebrochen aktuell, wie Hindemith und Schiffer das Verschwimmen von Öffentlichem und Privatem, Authentischem und Inszeniertem mit den Mitteln karikierender Überspitzung aufs Korn nehmen.

Die inhaltliche Klammer über die Epochen hinweg spiegelt sich schon zu Beginn in der Bühne von Dirk Becker: In Hintergrund fahren Hochhäuser auf, wie sie Ende der zwanziger Jahre auch in deutschen Großstädten entstanden. Die Spielfläche wird abgegrenzt von Elementen aus der „Neuen Sachlichkeit“, dem Kubismus und der Konkreten Kunst, reduziert auf schmucklose Elemente aus geometrischen Formen. Sie bewegen sich wie Maschinenkunst von selbst oder brechen, von Statisten verschoben, die Illusion des Theaters. Aber die expressionistische Anmutung wird relativiert: Ein Fernseher flimmert, und später ziehen die Videos von Moritz Hils eine neue Ebene medialer Gegenwart ein, wenn sie private Smartphone-Kurznachrichten oder Instagram-Clips übergroß für das Publikum – also öffentlich – sichtbar machen.

Romantische Liebe? – Nein, danke.

Punkt Neun wird die Maschinerie der Bürokratie angeworfen … (Foto: Monika Forster)

Jula Reindells Kostüme bewegen sich zwischen Revuefummel der dreißiger Jahre, unauffälliger Büromode der Fünfziger und Boxershorts der Gegenwart und lassen so Zuschreibungen bewusst außen vor. Auch Sonja Trebes benutzt in ihrer Inszenierung Accessoires unterschiedlicher Epochen: Aufgezeichnet wird mal mit einer altmodischen Videokamera, mal mit dem Smartphone. Die berüchtigte Szene im Bad bleibt erst überaus diskret. Bis sie sich zu einem grotesken social-media-Event steigert: Wie bei so mancher digital bekannt gemachten Teenie-Geburtstagsparty locken Tweets allerlei Schaulustige an, die in bizarr überzogener Nacktheit das Bad füllen. Authentizität und Camouflage: Das Thema spiegelt sich im Kostüm. Einzig wirklich Nackter ist Tobias Glagau, der Laura, der kompromittierten Ehefrau im Bad, die Wanne streitig macht.

Wir nehmen heute wohl eher amüsiert wahr, was die Zuschauer von 1929 geschockt haben muss: Die Vorstellung einer romantischen Liebe wird gnadenlos dekonstruiert. Beklemmender ist, dass Emotion bedeutungslos ist, mit Menschen pragmatisch, geschäftsmäßig aus der Sicht des nur noch auf sich bezogenen Vorteils umgegangen wird. Laura und Eduard, frisch verheiratet, verlieren ihre gegenseitige Attraktion schon im ersten Krach; Herr und Frau M., zunächst lustvolle Voyeure der lautstarken Auseinandersetzung, zerstreiten sich ebenso flugs und keifen mit denselben Schimpfworten wie das junge Paar vorher aufeinander ein. Jetzt geht es nur noch darum, die Scheidung möglichst unkompliziert hinter sich zu bringen. Für den Scheidungsgrund sorgt ein eingekaufter Dienstleister, der schöne Herr Hermann – und nur zu diesem Zwecke liegt Laura im Bad.

Zu dumm, dass sich Gefühle nicht ausschalten lassen – doch Hindemith lässt kunstvoll in der Schwebe, ob Hermanns Liebesbeteuerungen echt sind oder zum Geschäft gehören. Inzwischen hat jedoch der Scheidungsskandal, medial befeuert, Fahrt aufgenommen und sich selbständig gemacht: Die Freiheit, ihre Beziehung zu regeln, haben Laura und Eduard verloren. Die Öffentlichkeit fordert die Fortdauer des Scheidungsdramas. Am Schluss flimmern nur noch Schlagzeilen über die Bühne.

Vereinnahmte Menschen

Sonja Trebes erzählt mit einigem Geschick, was sich tagtäglich an medial präsenten prominenten Paaren – Amber Heard und Johnny Depp lassen grüßen – durchexerzieren lässt. Sie zeigt, wie die Menschen selbst Privates in die Kanäle des Öffentlichen gießen, wie sie aber auch vereinnahmt, entmündigt und funktionalisiert werden. Sie mutieren zu einer unter anderen sinnlosen Headlines. „Ihr seid keine Menschen mehr, ihr seid das Neueste vom Tage“, heißt es im Libretto. Wahr oder vorgetäuscht, echt oder falsch, authentisch oder gekünstelt? Hindemith hebt lustig und lustvoll die Orientierung auf, und die nur manchmal etwas schüchtern zupackende Gelsenkirchener Inszenierung folgt ihm mit Vergnügen.

Schlagworte und Schlagzeilen bleiben: „Ihr seid keine Menschen mehr, ihr seid das Neueste vom Tage“, heißt es in Paul Hindemiths Oper. (Foto: Monika Forster)

Mit Spaß am satirischen Überschwang sind auch die Darsteller am Werk. Eleonore Marguerre darf ihren wohlklingenden Sopran an das saftige Pathos einer Tristan-Parodie verschwenden und die Vorzüge moderner Warmwasserversorgung preisen. Ihr Ehemann Eduard (Piotr Prochera) strengt sich an, Paragraphen zu zitieren und sich vibratosatt aufzuregen, weil er lieber einen Scheidungsgrund ohne Eifersucht gehabt hätte. Denn der „schöne Herr Hermann“ – natürlich ein Tenor (Martin Homrich) – gleitet bei seiner Dienstleistung, die Scheidung zu befördern, ins Private ab und gesteht seiner Mandantin „Liebe“. Das empört wiederum die frisch geschiedene Frau M.: Almuth Herbst sieht sich um ihre Hoffnungen betrogen und macht ihrem neuen Liebhaber in herrlich schrillem Outfit eine Szene. Adam Temple-Smith gibt sein Bestes, damit Herr M. im Scheidungs- und Versöhnungskarussell mithalten kann.

Der Chor ist von Alexander Eberle bestens präpariert, um Tippfräulein und Bürokraten darzustellen, deren vokale Mechanik auf die Sekunde genau Punkt neun Uhr in Gang gesetzt wird. Einen großen Tag hat die Statisterie des Musiktheaters im Revier: Sie kann sich, unterstützt von Andreas Langschs Choreografie, im Mob der Scheidungsshow-Zuschauer richtig austoben. Giuliano Betta hält die Neue Philharmonie Westfalen zu präziser Rhythmik an, die von einer Uraufführungs-Kritik gegeißelten „stechendsten und stachlichsten Staccati“ pieksen in Bettas verbindlicher Lesart die Ohren nicht gar zu schmerzhaft, die parodierte Wagner-Harmonik ist süffig ausgekostet und vom Piccolo über die Harfe und die damaligen „Mode“-Instrumente Banjo und Saxophon bis in die Bassregionen hinein perlen und purzeln die Soli behend und klangschön durch die rhythmischen Lücken der Partitur. Ein Abend, den man nicht verpassen sollte.

Weitere Vorstellungen: 14., 21., 29. Mai; 10., 25. Juni 2022. Info und Karten: https://musiktheater-im-revier.de/de/performance/2021-22/neues-vom-tage




Unermüdliche Suche nach Benachteiligung – „Cherchez la FemMe“ im Dortmunder Studio

Von links: Linda Elsner, Sarah Yawa Quarshie und Iman Tekle (Bild: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Angekündigt wird die Begegnung mit drei sehr unterschiedlichen Frauen, mit Claude Cahun, Josephine Baker und Eartha Kitt. Doch wenn das Spiel beginnt, läuft es ganz anders als geplant. Offenbar ist das Publikum zu früh gekommen, die auf der Bühne sind noch nicht fertig. Und das Licht ist auch noch nicht an.

Witzig? In Grenzen schon. „Cherchez la FemMe“ heißt das 75-minütige Spektakel im Studio des Dortmunder Theaters, das nach seinem verstolperten Anfang bald an Fahrt gewinnt. Und natürlich ist die orthographisch fragwürdige, selbstverständlich vieldeutige Schreibung des Titels absichtsvoll erfolgt.

„Kochshow“ mit (von links): Linda Elsner, Iman Tekle, Sarah Yawa Quarshie und Christopher Heisler (Bild: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Weibliche Identität

Recht offenkundig geht es, wie mittlerweile oft im Dortmunder Theater, um die geschlechtliche Identität, vor allem jedoch um vorgebliche Unterdrückung, Vermeidung, Diffamierung der weiblichen Anteile eines jeden Menschen. In einer „Kochshow“ ist zu sehen, wie weibliche Identität „seit 800 Jahren“ aus diskriminierenden, minderwertigen Zutaten entsteht, zusammengebraut (vermutlich) von weißen alten Männern. In Wirklichkeit aber soll es eine solche weibliche Identität gar nicht geben, ihre Definition sei lediglich ein Unterdrückungsmechanismus, behauptet diese Szene. Na gut.

Hier dreht es sich um Hannah Arendt. Szene mit (von links) Linda Elsner, Iman Tekle, Christopher Heisler und Sarah Yawa Quarshie (Bild: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Hannah Arendt

Es irritiert, dass wir nun jedoch Hannah Arendt begegnen, von der man zumindest weiß, dass sie eine bedeutende Geisteswissenschaft-lerin war, dass sie ein Verhältnis mit Martin Heidegger hatte, dass sie den Eichmann-Prozess verfolgte, ein Buch darüber schrieb und ihr Satz von der „Banalität des Bösen“ geradezu populär wurde. Auf der Bühne, wo eine Darstellerin Hannah Arendt spielt, während die anderen ohne Rollenzuweisungen bleiben, geht es aber offenbar vor allem um ihr weibliches Selbstverständnis im männlich dominierten Wissenschaftsbetrieb. Sie soll sich wohl nicht benachteiligt gefühlt haben, kann das denn stimmen? Letztlich bleibt die Antwort aus, sie wäre von der Anlage der Szenen her auch kaum möglich. Denn Schauspiel – mit der Betonung auf Spiel – findet an diesem Abend nicht statt. Statt dessen wird in Richtung Publikum deklamiert und monologisiert, meistens solistisch, gelegentlich aber auch im Chor, anklagend und vorwurfsvoll.

Zeigt komisches Talent: Christopher Heisler (Bild: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Zum Glück mit Spaßfaktor

Glücklicherweise haben die Autorinnen vom Kollektiv „Operation Memory“ (Julienne De Muirier, Alexandra Glanc und Maria Babusch, alle auch Regie) einen kräftigen Spaßfaktor in ihren Theaterabend eingebaut. „Cherchez la FemMe“ ist auch eine Bühnenshow, in der die Darsteller, drei Frauen und ein Mann, zu Titeln wie „New York, New York“ erheiternde Tanzeinlagen liefern. Bei Josephine Baker ginge es ja gar nicht ohne. Auch Eartha Kitt, von der man Titel wie „Santa Baby“ oder „C’est si bon“ im Ohr hat und die als gleichermaßen erotische wie wehrhafte Cat Woman Karriere machte, vollzieht ihren Bühneneinsatz höchst körperbetont. Von Leonard Cohen hört man dazu „I’m Your Man“ vom Band.

Eine Produktion mit erheblicher Flüchtigkeit

Textpassagen gelangen zum Vortrag, die die Frauen von „Operation Memory“ den beschriebenen Künstlerinnen biographisch zuordnen, mehr oder weniger jedenfalls, Texte voller Verlusterfahrung und Zorn. Ob das alles so stimmt, und ob das passt, wer weiß? Vielleicht ist der eine oder andere Satz durchaus bedenkenswert. Doch wohnt dieser Produktion erhebliche Flüchtigkeit inne, die ein gründlicheres Nachschmecken schwer macht.

Sehr unglücklich

Ein wenig anders verhält es sich lediglich bei der Fotografin und Schriftstellerin Claude Cahun (1894 – 1954), der sich dieser Abend mit etwas mehr Ernsthaftigkeit widmet und zu der es auch eine projizierte Bilderfolge zu sehen gibt. Sie soll, so legt das Stück uns nahe, mit ihrem Geschlecht, mit Geschlechtlichkeit schlechthin, sehr unglücklich gewesen sein. Und damit wäre man bei der zentralen Frage, nämlich, wie glücklich oder unglücklich Menschen in ihrer konkreten Existenz waren, sind oder sein könnten. Doch dieser Frage stellt sich dieser Abend, na sagen wir mal: kaum.

Fleißiges Bühnenpersonal

Die Schauspielerinnen heißen Sarah Yawa Quarshie, Linda Elsner und Iman Tekle. Einsatzfreude kann allen Darstellern attestiert werden, bei Christopher Heisler, dem einzigen Mann auf der Bühne, blitzt zudem immer wieder dezentes komödiantisches Talent hervor.

Gelangweilt hat man sich nicht, schlauer geworden ist man aber auch nicht. Anhaltender, naturgemäß begeisterter Uraufführungsbeifall.




Auf der Suche nach dem Schicksal – „Sibyl“ von William Kentridge bei den Ruhrfestspielen

(Foto: Stella Olivier/Ruhrfestspiele)

Papier spielt eine wichtige Rolle, Zettel, Blätter, Formulare. Der Film zeigt den südafrikanischen Künstler William Kentridge, wie er mit Kohle auf alten Blättern malt, handschriftlich geführte Listen offensichtlich, bei denen nicht klar wird, was aufgelistet ist.

Bald schon merken wir, daß dieser zunächst ganz real daherkommende Film mit hübschen Trickelementen garniert ist; gleich zweifach taucht der Künstler auf, der einerseits energisch den Stift schwingt, stäubt, tupft, andererseits sich kopfschüttelnd dabei beobachtet.

Was singen sie denn?

Die gezeichneten Figuren in seinen Bildern tanzen, laufen, schuften, und all dies wird sehr schön unterlegt vom Gesang einer – real existierenden! – fünfköpfigen Herrengruppe samt Klavierbegleitung auf der Bühne. Der Gesang hat Dynamik, hat Soli und auch so etwas wie eine Klimax. Leider erfährt das Publikum nicht, was die Herren singen, und das ist schade, aber vermutlich auch gewollt. Das Stück bleibt hier im Gefühlig-Ungefähren. Und schon ist der erste Teil zu Ende. Pause im Stück „Sibyl“, das im Programm der diesjährigen Ruhrfestspiele den Anfang macht.

Netter Trick: Gleich zweimal William Kentridge bei der Arbeit (Foto: Stella Olivier/Ruhrfestspiele)

20 Minuten mehr

„Sibyl“ wurde angekündigt mit einer Länge von einer Stunde 20 Minuten inklusive Pause, was nicht eben viel ist. Etwas länger dauert es dann aber doch, so um die 20 Minuten.

Der äußerst sparsam ausgestattete Programmzettel spricht von der zweiten Hälfte als einer „Kammeroper“ namens „Waiting for the Sibyl“. Und er wartet mit starken, intensiven Bildern auf, von denen viele durch ausgeklügelte Projektionen entstehen. Allerdings, hier zeigt sich Kentridge als Maler und Zeichner, werden sie in ihren strengen Kompositionen letztlich nicht verändert, obwohl mehrere Male viel szenische Bewegung in ihnen ist. Die Bilder entstehen und vergehen. Wunderschöner Gesang ist zu hören, kraftvoll, manchmal frech, manchmal auch sehr traurig. Gern würden wir sagen, wer die Sängerin war, die hier so herzzerreißend sang, doch geizt das Programm mit Informationen über Künstler und Texte.

Prophetin Sibyl von Cumae

Bevor wir jetzt weitere Ausstellungsdetails behandeln, muß wohl erzählt werden, worum es bei „Sibyl“ eigentlich geht. Sibyl hieß mit vollem Namen Sibyl von Cumae, war Prophetin von Beruf und schrieb, was sie in der Zukunft erblickte, auf Eichenblätter, die sie vor ihrem Höhleneingang stapelte. Der Wind aber mischte die Blätter kräftig durch, und wenn nun jemand so ein Sibyl-Blatt fand, konnte er keineswegs sicher sein, daß die Prophezeiung tatsächlich ihn betraf oder einen anderen Menschen. Es ist dies also ein Spiel mit der Geworfenheit, dem Zufall, dem unsinnigen Irrglauben der Menschen an ihre Bestimmtheit, wiewohl: In ganz bestimmten Konstellationen würden die Botschaften ja stimmen.

Schön gesungen, schön getanzt

Überwältigende, oft bewegliche Projektionen (bis auf einige akzentuierende Farbtupfer schwarzweiß) wechseln ab mit dunkelbunten Bühnenszenen, die, so könnte man es vielleicht deuten, Menschen in ihrem Streben nach Zukunftswissen zeigen. Doch vieles bleibt verschwommen, ahnungsvoll, doch unausgesprochen. So tanzt, sehr reizvoll anzusehen, eine Tänzerin aus Fleisch und Blut (Nhlanhla Mahlangu, auch Regie) wie in Trance mit einer projizierten, gezeichneten Kollegin lang anhaltend eine Art Duett.

Es gibt kräftige, aber uneindeutige Andeutungen von Handlungsorten wie einem Büro oder einer Straßenszene, in denen Personen laut und aufgekratzt  Blätter aufsammeln, herumtanzen, herumtaumeln. Und immer wieder, eigentlich permanent, gibt es (englischsprachige) Zettel, deren Inhalte dankenswerterweise übersetzt und über der Bühne projiziert werden: „Wait AGAIN for Better GODS“ wäre einer von ihnen, „Der Winter endet um 11 Uhr“ ein anderer. Was sagt uns das? Viele Zeilen strotzen vor Banalität und wären problemlos in einen Schlagertext von Roland Kaiser integrierbar. Oder gib es einen verborgenen Subtext?

Tragik des  Menschseins

Und ist das hier jetzt „typisch südafrikanisch“? Immer wieder hat William Kentridge, weißer Südafrikaner, sich in seiner Arbeit mit Apartheid, Unterdrückung und Ausbeutung in seinem Heimatland befaßt. Doch abgesehen von der Musik und davon, daß hier mit Ausnahme des Pianisten ausschließlich dunkelhäutige Personen agieren, ist ein ausschließlicher Südafrika-Bezug eigentlich nicht auszumachen. Prügelcops à la Romeo Castellucci (sein Stück „Bros“ lief parallel im Kleinen Haus) sind hier an diesem Abend nicht unterwegs. Eher fühlt man sich konfrontiert mit der Tragik des Menschseins an sich, egal wo auf diesem Planeten.

Unverwechselbare Stilmittel

Kentridge, in diesem Punkt gleichen seine Arbeiten denen etwa von Robert Wilson und manchen Tanztheatern, arbeitet mit einem großen Bauchladen unverwechselbarer Stilmittel, zu denen – natürlich – seine gezeichneten und häufig animierten Bildvorlagen auf „gebrauchtem“ Papier gehören, scherenschnitthafte Gestalten, archaische Megaphone, Hochsitze und ein bißchen Zahnrad- und Kettentechnik hier und da. Oft auch kennzeichnet seine Arbeit durchgängige Bewegung, wie es exemplarisch bei der Ruhrtriennale 2019 im Stück „The Head and the Load“ zu erleben war, wo eine nicht endende Figurenkarawane als Projektion und Schattenspiel über die Bühne zog. Eingefleischte Kentridge-Fans – doch, doch, die gibt es! – haben das in Recklinghausen vermißt.

Ungewöhnlicher Start

Letztlich ist es erstaunlich, daß die Ruhrfestspiele 2022 mit einem Gesamtkunstwerk wie „Sibyl“ beginnen, traditionell hätte es eher in die Jahrhunderthalle gepaßt. Doch warum nicht? In den nächsten Tagen geht es vergleichsweise traditionell weiter. In „Annette, ein Heldinnenepos“ (ab 12. Mai) begegnen wir in der Titelrolle der wunderbaren Corinna Harfouch, und „Eurotrash“ (ab 20. Mai) mit Angela Winkler und Joachim Meyerhoff wird ein Theaterfest. Da hat das Programmbuch nicht übertrieben.

  • Wahrscheinlich ist alles ausverkauft. Trotzdem, für alle Fälle, die Termine:
  • „Annette, ein Heldinnenepos“: 12., 13., 14. Mai
  • „Eurotrash“: 20., 21., 22. Mai
  • Tel. 02361 / 92180
  • www.ruhrfestspiele.de



„Wir haben kein Recht auf Ruhe“ – Peter Handke und seine traurigen Engel erzählen weiter

„Genug jetzt ins Leere geschaut“, murmelt der eine. Doch von Leere kann keine Rede mehr sein. Alles hat sich inzwischen bevölkert, die Unsichtbaren wurden sichtbar, die Engel verwandelten sich in Erdlinge.

Doch die Träumer, die einst durch den „Himmel über Berlin“ schwebten und die Wünsche und Hoffnungen der Menschen lenkten, wollen weiter spielen, sich immer wieder aufs Neue eine Welt aus Sprache bauen und eine Wirklichkeit aus Fantasie. „Wahr gesagt, alter Freund: Zwei besondere Narren sind wir, ein jeder auf seine Weise.“ Also beschließen die beiden untoten Mimen, die noch immer die Gedankenwelt ihres Schöpfers bewohnen: „Auf, spielen wir weiter die Narren“, erzählen wir uns und allen, die zuhören, was wir erlebt und erlitten, gesehen und erfunden haben.

Peter Handke schrieb einst das Drehbuch für „Der Himmel über Berlin“: ein Kult-Film, mit dem die Welt-Karriere von Wim Wenders Fahrt aufnahm. Bruno Ganz und Otto Sander taumelten als traurige Engel durch eine damals noch von der Mauer getrennte Stadt, spendeten Trost, verschenkten Liebe, stiegen hinab in die Abgründe des Vergessens.

In diesem literarischen Kosmos muss man sich auskennen

Jetzt sind sie wieder da. Literaturnobelpreisträger Peter Handke hat ihnen sein „Zwiegespräch“ gewidmet und sie als Mit-Erzähler ins Geschehen verwickelt. Aber was geschieht eigentlich? Wovon berichten die beiden reanimieren Engel? Schwer zu sagen, kaum zu entschlüsseln. Jedenfalls nicht für Leser, die sich nicht auskennen im weit verzweigten Handke-Universum. All die Erinnerungen und Bilder, die kurz aufscheinen und wieder verglühen, all die Reminiszenzen an ein vernebeltes Früher, all das Rumoren über literarische Kunstgriffe und filmische Tricks, schauspielerische Finessen und erzählerische Finten: nur zu verstehen, wenn man mit Handke das „Wunschlose Unglück“ ertragen, in der „Niemandsbucht“ geschlafen, das „Gewicht der Welt“ gestemmt, „Die „morawische Nacht“ erkundet, das Summen der „Hornissen“ vernommen, den „kurzen Brief zum langen Abschied“ studiert, die „Obstdiebin“ auf ihrem Weg ins Landesinnere begleitet hat.

Des Dichters Wanderung durchs eigene Gesamtwerk

Handke erinnert sich an ein Theaterbesuch in der Kindheit, nicht an das Stück, sondern nur an Dekor, Kulisse und die „Stunde der wahren Empfindung“, die das Schauspiel in ihm ausgelöst hat. Jetzt wandert er zusammen mit seinen beiden alten Weggefährten noch einmal durch sein Gesamtwerk, führt ein „Zwiegespräch“ mit all den Menschen, die er in Literatur verwandelt hat. Denkt an die Mutter und den Großvater, an die Kindheit als Kärntner Slowene, fantasiert noch einmal „Die winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina“.

Die schnatternden, spielenden Narren sind immer dabei, reden dazwischen, verschieben die Kulissen, halten alles für „Blödsinn“ und „Hirngespinste“. Hört man da etwa so etwas wie Selbstkritik heraus? Man weiß es nicht. Eigentlich weiß man gar nichts. Nur dass Handke und seine zwei zum Leben wieder erweckten Spießgesellen einfach nicht mit dem Spiel der Fragen und des Zweifelns aufhören wollen: „Wir haben kein Recht auf Ruhe. Unsereiner hat auf Ruhe kein Recht.“

Peter Handke: „Zwiegespräch“. Suhrkamp, Berlin 2022, 68 S., 18 Euro.




Fall ohne Fallhöhe in Gelsenkirchen: Gabriele Rech verpasst „Madama Butterfly“ ein neues Ende

Hochzeits-Show für den Fremden im ersten Akt von Puccinis „Madama Butterfly“ in Gelsenkirchen. (Foto: Björn Hickmann)

Irgendwann musste es so kommen: Am Ende von Giacomo Puccinis „japanischer Tragödie“ richtet Madama Butterfly den Dolch nicht gegen sich selbst, sondern sticht den hereinstürzenden Pinkerton ab. Damit macht Regisseurin Gabriele Rech das Opfer zur Täterin, nimmt ihr die Fallhöhe.

Tatsächlich ein „Schritt in Richtung Unabhängigkeit“, wie das Programmheft der neuesten Produktion des Gelsenkirchener Musiktheaters im Revier meint? Eher eine jener aufgesetzten Ideen, deren hervorstechender Wert die Neuheit ist.

Der Reihe nach. Dirk Beckers Bühne signalisiert von Anfang an: Hier wird „Japan“ für Touristen mit speziellen Interessen inszeniert. Papierwände und Kirschblüten als Deko, ein Podium, mit silbernem Glitter verhängt. Grotesk auf eine Wand vergrößert, gehört auch Katsushika Hokusais zum Kitsch verkommene „Große Welle von Kanagawa“ zum Inventar. Japanerinnen in bunten Folklore-Kostümen (Renée Listerdahl) trippeln herein. Ein paar Damen hängen an einer reichlich mit Flaschen ausgestatteten Bar ab. Der passend geschmeidig singende Goro (Tobias Glagau) vermittelt nicht nur Quartier, wird mit dem vergnügungswilligen B.F. Pinkerton schnell handelseinig. Immer wieder wechselt Geld die Hände.

Die Kolleginnen verfolgen interessiert die Show der Madama Butterfly. Die „Verwandten“ der arrangierten Hochzeit können ihr Kichern kaum verbergen. Und Michael Heine wirft sich als wütender Onkel Bonze mächtig ins Zeug. Wer für einen kurzen Moment glaubt, jetzt werde es ernst und die Galerie über der Szene repräsentiere eine Art inneres Gewissen der Cio-Cio-San, verliert diese Illusion schnell. Die „Bekehrung“ Butterflys zur Religion des Amerikaners gehört ebenso zum Spektakel wie das mit Gelächter verkündete Lebensalter von 15 Jahren. Zum Höhepunkt: Liebesduett mit falschen Papierampeln und Thomas Ratzingers Stimmungslicht.

Die tiefe Liebe an der Bar? In Puccinis „Madama Butterfly“ am Musiktheater im Revier bleiben Fragen offen. Ilia Papandreou (Cio-Cio-San) und Carlos Cardoso (Pinkerton). (Foto: Björn Hickmann)

Als die Show im zweiten Akt zu Ende ist, das Papier zerfetzt, die Bar geleert, stellt sich die Frage: Warum hängt „Madama Butterfly“ noch in diesem Ambiente herum, angetan mit der abgeschabten Uniformjacke ihres in die USA entschwundenen „Gatten“? Wie ist es möglich, dass ein professionelles Showgirl sich mit Haut und Haaren an einen Kunden verliert und seit fast drei Jahren auf die Rückkehr des Marineleutnants wartet? Woher ein solches fundamentales Missverständnis?

Calixto Bieito hat einst an der Komischen Oper – die Musik Puccinis bewusst missverstehend – Butterflys Strategie von Anfang bis Ende ausinszeniert: Ziel war es, mit einer Green Card rauszukommen aus ihren Milieu. Was Gabriele Rechs „Butterfly“ bewegt, aus Sehnsucht an der Flasche zu hängen, erschließt sich nicht. Und wenn sich im Duett „Bimba, dagli occhi pieni di malia“ der psychologische Schalter in Richtung schwärmerisch-radikaler Liebe umgelegt haben sollte, bleibt die Inszenierung diesen Moment schuldig.

Puccinis Oper über eine existenzielle Tragödie ließe sich wohl auch als soziales Drama erzählen, wäre da nicht die Perspektive des Komponisten, der alle Figuren auf Cio-Cio-San als Zentrum ausgerichtet hat. Rech entwertet die innere Katastrophe der Butterfly. Pinkertons Handeln erscheint in diesem Kontext durchaus verständlich und konsequent pragmatisch, wenn er mit der eingekauften Braut von früher nichts mehr zu tun haben will und bei seiner Rückkehr ein paar große Scheine als Kompensation hinterlässt. Er ist Geschäftspartner in einem Sex-Deal, nicht der gedankenlose Chauvi, der ein gewaltiges Missverständnis auslöst. Dass Butterfly am Ende zusticht, statt den Ehrenkodex ihrer alten Kultur im Suizid zu realisieren, ließe sich in der Tat als Chiffre für eine Befreiungstat lesen. Aber dazu müssten die Signale in der Inszenierung anders gesetzt werden.

Giuliano Betta am Pult der Neuen Philharmonie Westfalen unterstützt im ersten Akt die Atmosphäre der Vorspiegelung, indem er Puccinis Musik so unemotional wie möglich ablaufen lässt: kantig, bisweilen laut, mit wenig Raffinesse in Artikulation und Phrasierung, aber mit Sinn für Details, die das Orchester klarsichtig ausmusiziert. Später findet Betta das organische Pulsieren von Puccinis Metrum; die Lautstärke könnte jedoch subtiler geregelt werden. Den Solisten und dem trefflich agierenden Chor von Alexander Eberle wäre damit geholfen.

Ilia Papandreou hat als Cio-Cio-San den ironischen Tonfall des ersten Auftritts ebenso verinnerlicht wie die weiten Kantilenen ihrer sehrenden Sehnsucht. Wenn die Töne auf dem Atem ruhen, erschafft sie magische Momente intensiven Gesangs. Carlos Cardoso als Gast vom Aalto-Theater Essen bringt für den Pinkerton keinen warm strömenden, sondern einen wie Kristall strahlenden Tenor mit, besingt „America forever“ mit einiger Anstrengung und gestaltet „Addio fiorito asil“ eher kühl als – je nach Lesart – wehmütig oder larmoyant gefärbt. Butterflys Dienerin Suzuki bleibt in dieser Inszenierung eine Randfigur, mit ehrwürdigen Reifespuren gesungen von Noriko Ogawa-Yatake, die vor mehr als 20 Jahren, ebenfalls in einer Inszenierung von Gabriele Rech am Musiktheater im Revier, die Titelpartie verkörpert hatte. Zur Blässe verurteilt bleibt auch der Sharpless von Petro Ostapenko.

Könnte doch sein, dass  die unbändige kreative Energie künftiger Butterfly-Regieführenden zu noch originelleren Lösungen führt: Vielleicht ersticht Suzuki demnächst die abtrünnige Butterfly, oder gleich Pinkerton mit dazu? Könnte nicht Sharpless die beiden Frauen erschießen und über ihren Leichen die Hände Pinkertons schütteln? Oder werten wir mal die Randfigur der Kate Pinkerton auf (Scarlett Pulwey hätte sicher nichts dagegen gehabt) und lassen sie ihren unmöglichen Ehemann abknallen? Auf, auf ins Terroir der Deutungen, die gute alte Oper ist noch lange nicht am Ende!

Weitere Vorstellungen: 20., 22., 28. Mai, 18. Juni 2022. Info und Karten: Tel.: 0209/4097-200, www.musiktheater-im-revier.de




Was uns im Museum blüht: Dortmund zeigt „Flowers!“

Ernst Ludwig Kirchner: „Stillleben mit Früchtekorb“, 1918/19, Öl auf Leinwand, 64 x 80,5 cm (Courtesy Galerie Henze & Ketterer & Triebold, Riehen/Basel – Foto: Courtesy Galerie Henze & Ketterer & Triebold, Riehen/Basel)

Wenn eine Ausstellung „Flowers!“ (nur echt mit dem Ausrufezeichen) heißt und stadtweit blumig plakatiert wird, dann könnten optischer Seelenbalsam, Harmonie und farbenprächtige Idyllen zu erwarten sein. Doch so bruchlos darf man das Thema natürlich (!) längst nicht mehr angehen. Also muss man sich jetzt beim Besuch im Dortmunder Museum Ostwall auch auf irritierende oder gar verstörende Momente gefasst machen.

Feministischer „Feldzug“: Frau zerschlägt mit Blumen-Nachbildung (Fackellilie) als „männlich“ gedachte Autoscheiben. – Momentaufnahme aus: Pipilotti Rist „Ever Is Over All“, 1997, 2-Kanal-Videoinstallation, 4:09 min (Zyklus Smash) bzw. 8:25 min (Zyklus Flower); Farbe. Sound © Anders Guggisberg & Pipilotti Rist, Maße variabel, Edition 1/3 + e. a. (Privatsammlung | © VG Bild Kunst, Bonn 2022, Foto: Ron Amstutz)

Die Schau mit rund 180 Arbeiten von 50 Künstlerinnen und Künstlern spürt der immensen Vielfalt des Blumenmotivs in der Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts nach – kreuz und quer durch die Stilrichtungen seit dem Expressionismus, zudem garniert mit etlichen prominenten Namen von Gabriele Münter, Max Beckmann und Max Ernst über Andy Warhol und David Hockney bis hin zu Gerhard Richter und Pipilotti Rist. Ja, die inspirierte und somit inspirierende Auswahl reicht bis in die unmittelbare Gegenwart, in der auch schon mal „Künstliche Intelligenz“ (KI) zur Genese ungeahnter floraler Erscheinungen eingesetzt wird. Wo soll das alles enden?

Einsatz „Künstlicher Intelligenz“: Hito Steyerl „Power Plants“, 2019, Mehrkanal-HD-Video, Farbe, Loop. Environment: Stahlgerüste, LED-Module, LED-Text-Module, zementbeschichtete MDF-Kästen, Kies (Courtesy die Künstlerin; Neuer Berliner Kunstverein; Andrew Kreps Gallery, New York; Esther Schipper, Berlin – © VG Bild-Kunst, Bonn 2022 – Foto: Neuer Berliner Kunstverein / Jens Ziehe)

Gewiss: Die Ästhetik blüht hier stellenweise prächtig auf, doch stellen sich im Laufe des Rundgangs auch mancherlei ernsthafte und schwerwiegende Fragen, etwa nach dem Spannungsfeld zwischen Künstlichkeit und Natürlichkeit. Kurzum: eine Ausstellung zwischen Augen- und Gedankenlust.

Eine ausführliche Besprechung folgt demnächst im Kulturmagazin Westfalenspiegel (www.westfalenspiegel.de) und später dann auch an dieser Stelle.

„Flowers!“ Blumen in der Kunst des 20. & 21. Jahrhunderts. Museum Ostwall im Dortmunder U, 6. Ebene, Leonie-Reygers-Terrasse, 44137 Dortmund. 30. April bis 25. September 2022. Öffnungszeiten Di/Mi 11-18, Do/Fr 11-20, Sa/So und feiertags 11-18 Uhr. Katalog 29,90 Euro.

Weitere Informationen:

www.dortmund.de/museumostwall
www.dortmunder-u.de




Dieses ausweglose Leben – „Beyond Caring“: Schaubühne zeigt krasse Sozialstudie über Putzkräfte

Ensemble-Szene aus „Beyond Caring“ mit (v. li.) Kay Bartholomäus Schulze, Hevin Tekin, Jule Böwe, Damir Avdic, Julia Schubert. (Foto: © Gianmarco Bresadola / Schaubühne Berlin)

„Mich interessiert nicht die Repräsentation von Leben, mich interessiert das Leben.“ Mit „Love“ porträtierte der britische Autor und Regisseur Alexander Zeldin Menschen, die Weihnachten in einer Notunterkunft des Sozialamtes zubringen müssen. Jetzt inszeniert er an der Berliner Schaubühne sein Stück „Beyond Caring“, das die prekäre Arbeit und schwierige Lebenssituation von Reinigungskräften thematisiert.

Mit krassem Realismus will er uns eine soziale Klasse, die für die bürgerlichen Schichten der Theaterbesucher sonst ziemlich unsichtbar ist, näherbringen, sie aber nicht als Aussätzige vorführen, sondern als Menschen, die unsere Aufmerksamkeit verdienen, die uns daran erinnern, wie schnell es bergab gehen und unser schönes Leben im Mahlstrom des Turbo-Kapitalismus unter die Räder kommen kann. „Beyond Caring“ ist fundamentale Sozialstudie und Aufruf zur Mitmenschlichkeit, ohne die unsere gespaltene Gesellschaft vollends zerfallen würde.

Nachts in der Fleischfabrik

Wir begegnen den Putzkräften nachts in einer Fleischfabrik, es sind drei Frauen und zwei Männer. Jan ist ihr Vorarbeiter, Michael angestellte Teilzeitkraft, Sonja und Becky sind über eine Fremdfirma als „Sub-Unternehmerinnen“ angestellt, Ava kommt über eine Maßnahme des Arbeitsamtes: Die klassische Arbeitsgesellschaft mit gemeinsamen Interessen und gewerkschaftlicher Vertretung ist längst Schnee von gestern.

Kurze Pause von der Schufterei: Szene mit Kay Bartholomäus Schulze, Hevin Tekin, Jule Böwe. (Foto: © Gianmarco Bresadola / Schaubühne Berlin)

Ab und zu gibt es eine kleine Pause, dann blättern sie in Zeitschriften, essen, trinken, hören Musik, spielen mit dem Handy, reden nur das Nötigste. So geht das tagein, tagaus, immer reinigen sie die blutbesudelten Fleischmaschinen und verschmierten Wände, sammeln Müll ein, führen die gleichen Pausen-Gespräche. Immer hoffen wir vergeblich, dass sich etwas ändern möge, dass sie den Weg aus der sozialen Sackgasse finden, der Tristesse ihres Alttags entfliehen können.

Nur ein Moment der Anarchie

Einmal fallen in purer sexueller Not zwei Putzkräfte übereinander her, reißen sich die Kleider vom Leib, erleben einen kurzen Moment der Anarchie, bevor sie peinlich berührt auseinander driften. Aus dem Jammertal ihrer kaputten Existenz werden sie sich nicht befreien: Kein Ausweg, nirgends.

Spielfläche und Zuschauerraum sind von grellem Neon-Licht permanent ausgeleuchtet, alles ist jederzeit sichtbar, alles starrt vor Dreck und Blut, überall Fett- und Fleischreste, Plastik-Behälter mit Fleischkadavern, Reinigungsmitteln und Putzlappen. Manchmal rennt jemand hinaus auf die Straße, um sich Luft zu verschaffen oder eine Zigarette zu rauchen.

Der Fiesling, gegen den niemand ankommt

Der Vorarbeiter ist ein Wichtigtuer und Schwätzer, der allen das Leben zur Hölle macht. Gegen diesen Fiesling, der, wenn er nicht gerade sein Team mitleidlos zur Sau macht, sich auf seinem Handy an Pornos aufgeilt, kommt niemand an – weder die dünnhäutige Becky, die ihre Tochter so vermisst, noch die duldsame Ava, die sich vor Müdigkeit kaum noch auf den Beinen halten kann, und schon gar nicht die still leidende Sonja, die Vorräte hortet und sich zum Schlafen in die Fleischfabrik schleicht, weil sie keine Wohnung hat und eigentlich auch kein richtiges Leben.

Ein niederschmetternder Abend. Nirgendwo ein Funken Hoffnung. Was die fünf Akteure (Damir Avdic, Jule Böwe, Julia Schubert, Kay Bartholomäus Schulze und Hevin Tekin) leisten, verdient großen Respekt. Doch als Zuschauer dieser fast zwei Stunden währenden Tortur hilflos ausgesetzt zu sein, kann man auch, gerade in den emotional ohnehin schwierigen Zeiten von Krise und Krieg, als Bühnen-Qual empfinden.

Schaubühne: „Beyond Caring“, nächste Vorstellungen täglich vom 2. bis 5. Mai und vom 25. bis 29. Mai.

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Die „neue“ WAZ: Mal wieder gründlich aufgeräumt

Wenn sich die WAZ, die größte Zeitung des Ruhrgebiets, nach rund zehn Jahren ein neues Erscheinungsbild verpasst, so ist das schon ein regionales Thema. Wie will das altgediente Blatt in aufgefrischter Form wohl wirken?

Erscheinungsbild nach Relaunch: heutige Ausgabe der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (WAZ).

Allererster Eindruck: Die WAZ sieht jetzt ungefähr so aus wie gefühlt 60 Prozent der bundesdeutschen Gazetten, die man so kennt. Luftiges Erscheinungsbild, praktisch kein Fettsatz mehr, kaum noch aufdringliche Farb-Elemente, also nicht marktschreierisch, mithin betont seriös. Selbst häufig wiederkehrende Kleinigkeiten wie die Autorenzeilen sind verändert worden (kein „Von“ mehr vor den Namen). Ob derlei Entschlackung auch immer zum Stil dieser Zeitung und zu den Inhalten passt, ist eine andere Frage.

Für die Überschriften hat man eine schlanke, magere Typographie gewählt. Effekt: Auch „harte“ Nachrichten kommen visuell nicht mehr so streng und wuchtig daher, sondern so, wie man es früher im Feuilleton vermutet hätte, eher leichthin und spielerisch also. In den alten Kohle-Zeiten des Reviers waren die Hände nach der WAZ-Lektüre bisweilen schwarz von der Druckfarbe. Heute ist das völlig anders. Man könnte fast meinen, dies sei gar nicht mehr die Westdeutsche Allgemeine, sondern ein geklontes, etwas steriles und nicht mehr gar so handfestes Produkt.

Nun ist ein neues Layout mitsamt veränderter Schriftgestaltung allerdings stets Gewöhnungssache. Bei der Westfälischen Rundschau (WR) hatten wir einen solchen Relaunch alle paar Jahre. Es gab und gibt gewisse Layout-„Päpste“, die in recht kurzen Abständen immer wieder andere Features zur zeitgemäßen Optik hochjazzen – und wahrlich nicht schlecht daran verdienen. Immer aber heißt es hernach, die Zeitung wirke nun „aufgeräumter“ und lesefreundlicher als vorher. Bis dann alles wieder anders aussehen muss. Und so weiter.

Mit leichtem Bauchgrimmen erinnere ich mich an eine solche Maßnahme, in deren Gefolge der damalige WR-Chefredakteur uns Redakteurinnen und Redakteure im Konferenzraum an eine Batterie von Telefonen setzte, auf dass wir den Unmut weiter Teile der Leserschaft beschwichtigen sollten. „Rufen Sie uns an!“ Was man da alles zu hören bekam! Da drohte so mancher eherne Westfale, er werde nicht nur selbst abbestellen („Wenn der Schwachsinn morgen nicht aufhört“), sondern auch alle Mitglieder seines Vereins etc. zum selben Schritt bewegen.

In diesem Sinne: Beste, mitfühlende Grüße an die Kollegenschaft, die ja auch mit neuen Computerbefehlen und sonstigen Regeln klarkommen muss. Der Redaktör hat’s manchmal schwör, die Redaktörin nicht minder.




Der nächste Promi im Osthaus Museum: Dieter Nuhr als Fotograf

Vom Hagener Museumsdirektor aufgenommen: Dieter Nuhr mit digitaler Fotografie in seinem Atelier. (Foto: © Tayfun Belgin)

Die Zielrichtung ist unverkennbar: Schon wieder setzt das Hagener Osthaus Museum mit Aplomb auf den Promi-Faktor.

Wir erinnern uns, mehr oder weniger flüchtig: Zuerst hat der weltberühmte Hollywood-Star Sylvester Stallone („Rambo“, „Rocky“) hier seine Gemälde präsentiert, dann kam der Popmusiker Bryan Adams mit seinen Fotografien an die Reihe. Und jetzt? Stellt wieder jemand aus, den man aus anderen Bereichen kennt, allerdings eher im deutschen Sprachraum.

„Von Fernen umgeben“

Man weiß ja nicht einmal so recht, wie man seine Berufssparte bezeichnen soll. Ist er Comedian? Kabarettist? Satiriker? Naja, vielleicht irgend etwas in dieser groben Richtung. Es ist jedenfalls Dieter Nuhr, der – weit abseits seiner sonstigen Tätigkeit – „in fast 100 Ländern“ auf den Auslöser gedrückt hat und jetzt (vom 8. Mai bis zum 26. Juni) einige Resultate seiner digitalen Fotografie im Museum vorzeigt. Poetisierender Titel der Schau: „Von Fernen umgeben“. Man ist ja dankbar, dass die Chose nicht etwa „Nuhr belichtet“ oder so ähnlich heißt. Tatsächlich ist es technisch mehr als das. Laut Vorankündigung des Museums malt Nuhr, der auch einmal Kunst studiert hat, mit dem „digitalen Pinsel“, erzeugt also Bilder aus fotografischen Daten.

„Linke“ werden kaum begeistert sein

Wie auch immer: Etwas weiter „links“ angesiedelte Leute werden sich bei der bloßen Namensnennung mit Grausen abwenden und vielleicht alpträumen, dass der bei ihnen ebenso verpönte Harald Martenstein womöglich einen Katalogtext verfasst hat (was nicht der Fall ist). Oder sie bleiben gelassen und sagen sich feixend: Hauptsache, Dieter Nuhr steht nicht auf der Bühne. Mit Fotos kann er ja wohl nicht so viel anrichten. O, wie hinterhältig wäre das. Aber immer noch besser als „Cancel Culture“, oder?

Altbau des Hagener Osthaus Museums, bei Regen durch die Frontscheibe des Autos aufgenommen. Und nein: Das Bild soll nicht „trübe Aussichten“ bedeuten. (Foto: Bernd Berke)

„Demnächst“ eine Ausstellung in Russland?

Osthaus-Direktor Tayfun Belgin ist sozusagen in die Schlusskurve seiner aktiven Museumslaufbahn eingebogen. Offenbar hat er sich für die letzte Strecke vor dem Zieleinlauf vorgenommen, nicht mehr nur der hehren Kunst zu frönen, sondern auch noch einmal ordentlich „Betrieb“ zu machen und mit gesteigerten Besuchszahlen zu glänzen. Man darf schon jetzt gespannt sein, wer mit welchem Konzept seine Nachfolge antreten wird. Und wie es überhaupt weitergeht.

Ach so, übrigens: „Demnächst“, so heißt es auf der Museums-Homepage ganz nebenbei, werde Nuhr seine Fotografien auch im Puschkin-Museum zu St. Petersburg ausstellen. In Russland. Stimmt das wirklich? Immer noch?




Faszination der Farbe Grau: Bottrop zeigt Werke des US-Malers James Howell

James Howell, 48.17 bis 73.20 02/16/02, 2002, Acryl auf Leinwand, sechsteilig, 168 × 168 cm, Serie 10© James Howell Foundation / Courtesy Bartha Contemporary, London (Foto: Mareike Tocha, Köln)

Das Josef Albers Museum Quadrat Bottrop zeigt eine Ausstellung mit Werken des Malers James Howell (1935-2014).

Das Museum will die Arbeiten in den Kontext der Bottroper Albers-Sammlung stellen, da Howell, so die Pressemitteilung, wie der 1888 in Bottrop geborene und 1976 in New Haven (Connecticut) gestorbene Albers „die Grenzen von Form und Farbe“ auslotete, um zu einem „erfüllten Ausdruck des Bildes zu gelangen“. Die Ausstellung unter dem Titel „Resolution and Independence“ entstand in Zusammenarbeit mit der James Howell Foundation und ist bis 10. Juli 2022 zu sehen.

James Howell wurde bekannt durch Bilder, in denen er den Übergang von Licht zu Schatten mit mathematischer Präzision konstruierte und dennoch den Eindruck von selbstverständlicher Leichtigkeit zu erzeugen wusste. Zu seinen Schlüsselwerken gehört „Series 10“ (1996). In den Bildern dieser Reihe verschattet sich die Farbe Grau von oben nach unten zunehmend in unmerklichen Schritten. Ein gleichmäßig weicher Farbverlauf lässt die Bilder leicht und ungreifbar erscheinen. „Grau verkörpert für mich Zeitverläufe“, erklärte Howell, „es ist mysteriös … und ich mag seine Weichheit; es ist auch Einfachheit und Raum.“

James Howell, 48.17 08/30/00, 2000, Acryl auf Leinwand, 102 × 102 cm, Serie 10 © James Howell Unifikation / Courtesy Bartha Contemporary, London (Foto: Mareike Tocha, Köln)

Der 1935 in Kansas City geborene Maler interessierte sich schon als Kind für Malerei, erwarb bereits mit 18 Jahren eine Pilotenlizenz und studierte Englische Literatur und Architektur in Stanford. Nach seinen Abschlüssen arbeitete Howell als Architekt in Seattle und Bainbridge Island. Ab 1962 widmete sich der Autodidakt auf den Feldern Malerei und Zeichnen ausschließlich der Kunst.

Unter dem Einfluss von Fairfield Porter (1907-1975), der ihn zur Acrylmalerei ermutigte, arbeitete Howell zunehmend abstrakt. Von seinem Studio auf San Juan Island (Washington) aus konnte er in der Natur die fließenden Veränderungen von Wasser und Licht beobachten, die er in reduzierter Farben- und Formensprache in seinen Bildern reflektiert. 1992 ging Howell nach New York, wo er 2014 mit 78 Jahren starb. Seinen künstlerischen Durchbruch erfuhr Howell erst in den neunziger Jahren; in Deutschland waren seine Bilder zuerst 1997/98 auf Ausstellungen in Köln und Düsseldorf zu sehen.

http://quadrat.bottrop.de




„Wenn List das Weib als Waffe schwingt“: Ermanno Wolf-Ferraris „Vier Grobiane“ haben keine Chance

Feinsinnig, stellenweise aber auch turbulent: Ermanno Wolf-Ferraris Komödie „Die vier Grobiane“ an der Folkwang Hochschule in Essen-Werden. (Foto: Gustav Glas)

Sie haben keine Chance. Sie mögen noch so vehement ihre Allmachts- und Gewaltfantasien ausmalen, sie mögen ihre Frauenverachtung noch so lautstark bekunden. Gegen weibliche Solidarität kann die Kumpanei der vier alten Machos nichts ausrichten.

Ihre larmoyante Besingung früherer besserer Zustände ist vergeblich. In Ermanno Wolf-Ferraris Buffa-Spätblüte „Die vier Grobiane“ setzen sich die Frauen mit ihrem humanen Anliegen durch. Immerhin geht es um Liebe und Selbstbestimmung: Die jungen Leute, die nach der Vorstellung der Patriarchen aneinander verschachert werden sollen, ohne sich je vor der Hochzeit gesehen zu haben, bekommen dank vereinter Frauenpower wenigstens eine Chance.

Das war mutig für das ausgehende 18. Jahrhundert am Vorabend der französischen Revolution, als Carlo Goldoni seine Komödien schrieb, um schlechte Sitten lächerlich zu machen. Das war auch noch mutig, als Wolf-Ferrari auf den Stoff zurückgriff, um 1906 der wilhelminischen Gesellschaft mit leichter Hand einen Spiegel vorzuhalten. Denn so harmlos die Konversation daherkommt, so viele Rückzieher auf dem Weg einer Emanzipation auch zugestanden werden: Der Stoff hat’s in sich. Die vier unmanierlichen reichen Herren, die da konspirieren, haben mit gierigen venezianischen Handelsherren ebenso viel zu tun wie mit dem saturierten Untertan der Vorkriegszeit. Und wer will, schafft problemlos den durch Heiterkeit erleichterten Transfer in den Sexismus unserer Tage.

An der Folkwang Universität der Künste in Essen-Werden, wo Wolf-Ferraris einst erfolgreiche, seit ein paar Jahrzehnten aber weitgehend vergessene Petitesse wieder einmal aufgeführt wird, belässt Regisseur Georg Rootering das Stück diesseits einer zupackenden Deutung. Ein Spielpodium, ein paar Venedig-Dias für den Hintergrund, fertig ist die Bühne. Alina Fischers Kostüme deuten die Nachkriegszeit an, als die Jugend sich anschickte, mit Rock’n‘Roll und Doo Wop aus ihren biederen Elternhäusern zu fliehen.

Rootering meidet kalauernd überzeichnete Komik und führt die Figuren mit leichter Hand, kann aber den Studenten auf der Bühne auch nur so viel komödiantische Grazie entlocken, wie sie selbst zu geben bereit sind. Und da gibt es, ebenso wie bei den Stimmen, merkliche Unterschiede. Komödie ist zudem ein anspruchsvolles Genre, das selbst erfahrenen Profis alles abfordert. Am schwersten tun sich die jungen Männer, die anachronistisch verstaubte Väter darstellen sollen; der tochterverhökernde Lunardo von John Lim gelingt da noch am überzeugendsten.

Bogil Kim als Filipeto. (Foto: Gustav Glas)

Bogil Kim wird als Typ vorteilhaft eingesetzt, um den verschüchterten Kaufmannsjungen Filipeto zu charakterisieren, der nur dank der Durchsetzungskraft seiner Unterstützerinnen das Mädchen zu Gesicht bekommt, das er heiraten muss. In seiner Arie „Lucieta xe un bel nome“ (gesungen wird auf Deutsch, wie bei der Münchner Uraufführung 1906), einem kleinen Juwel der Buffo-Oper, zeigt Kim einen klangfeinen, noch nicht ganz sicher positionierten, aber weitgehend entspannten Tenor.

Auch bei den Damen gelingt es nur in Ansätzen, die unterschiedlichen Typen zu charakterisieren. Jeanne Jansen fehlt weder die Süße für das naive Töchterlein noch die Leichtigkeit für ihre aparten Klagen über die Langeweile; lediglich in der Höhe wird der Ton eng und löst sich vom Körper. Kejti Karaj umkleidet ihre subversive Zähigkeit mit einem wohllautenden Mezzo, sollte sich aber in der Tonproduktion nicht so sehr auf das Vibrato verlassen. Tante Marina (Natalija Radosavljevic) verbirgt hinter reizenden Ariosi, dass sie durchaus willens wäre, die Krallen auszufahren, würde sie sich nur trauen.

Mit dem Mumm zu Widerstand hat Jiajia Zhang als Felice kein Problem: Galant, aber unverfroren und knallhart gibt sie den Männern Paroli und lässt deren autoritätsheischendes Gehabe zielstrebig verpuffen. Die Erkenntnis kommt spät: „Es kann kein Mann sich wehren, wenn List das Weib als Waffe schwingt“. In der Banja ringen sich die Herren der Schöpfung zu der bitteren, vom Fagott witzig-grimmig kommentierten Erkenntnis durch, dass es „ohne Weiber“ eben nicht geht – eine Erkenntnis, die ein Jahrzehnt später Emmerich Kálmán in seiner „Csárdásfürstin“ zum Schlager ausgebaut hat.

Wolf-Ferrari reiht im Orchester federleichte Passagen und blitzende Juwelen im Detail aneinander, wechselt graziös vom Konversationston ins Arioso, lässt melodische Schmetterlinge für ein paar dutzend Takte auf den Blüten eines delikaten Terzetts, Quartetts oder Quintetts landen und gleich darauf in entzückenden instrumentalen Details weiterflattern. Diese Kunst der leichtfüßigen Grazie, der eleganten Artikulation findet ihren szenischen Widerhall in den Choreografien von Victoria Wohlleber: Drei Harlekine (Sandro Haehnel, Biran Sariyer, Natalia Stellmach) huschen immer wieder über die Bühne, verharren einmal wie ein Möbelstück auf allen Vieren, umtänzeln ein anderes Mal die Darsteller oder eine augenzwinkernd am Rand des Podiums postierte Statuette des Michelangelo-David aus Florenz.

Xaver Poncette, der seit 1994 an der Folkwang Hochschule unterrichtet und sich Ende Juli in den Ruhestand verabschiedet, hat dem Orchester mit Erfolg vermittelt, wie die Musik Wolf-Ferraris zu gestalten ist: mit Feinsinn und Geschmack; ein Soufflé, kein üppiger Panettone.

Noch eine Aufführung am Samstag, 23. April, 19.30 Uhr, in der Neuen Aula der Folkwang Hochschule in Essen-Werden. Info: https://www.folkwang-uni.de/home/hochschule/veranstaltungen/veranstaltungen-des-laufenden-monats/veranstaltung-detail/11836-die-vier-grobiane/




Genie für jede Gelegenheit: Erfinder Daniel Düsentrieb wird 70 Jahre alt

Daniel Düsentrieb gewidmet: Titelseite des neuen Heftes „Micky Maus präsentiert“, Nr. 39. (@ 2022 Egmont Ehapa Media / Disney)

Als Gastautorin schreibt die 12-jährige Stella Berke über einen berühmten Einwohner von Entenhausen:

Der geniale Erfinder hilft den Mitbewohnern der kleinen Stadt oft beim Lösen ihrer Probleme: Daniel Düsentrieb selbst wurde 1952 erfunden und ist jetzt 70 Jahre alt.

Zum Beispiel ist er Phantomias, dem Superhelden Entenhausens, schon oft zur Hand gegangen. Daniel Düsentrieb hat einige neue, brauchbare Funktionen in den Wagen des Helden eingebaut, unter anderem einen Hebel zum Fliegen. Auch Daisy Duck käme ohne Düsentriebs Erfindungen nicht aus. Sie lässt ihn oft ihre Haushaltsgeräte verbessern. Sogar für den so geizigen Dagobert Duck erfindet er gerne. Leider zahlt dieser meistens nicht, allerdings bleibt das Genie treu und verlangt keinen Lohn.

Das Problem an seinem ständigen Erfindungsdrang ist, dass er meist an nichts anderes mehr denken kann. Zum Beispiel macht er in einer Geschichte zusammen mit Donald Duck Urlaub. Er versucht zwar, sich zu entspannen, allerdings erfindet er auch dort wieder etwas für die Touristen, während Donald nichts merkt.

Ohne seinen kleinen elektronischen Freund ,,Helferlein“ wäre Daniel Düsentrieb vermutlich nur halb so genial. Natürlich hat er Helferlein ebenfalls selbst erfunden – ein Gerüst aus Metall mit einer Glühbirne als Kopf. Oft hat die kleine Kreation hilfreiche Ideen oder räumt im Labor auf. Man muss regelmäßig seine Glühbirnen wechseln, sonst funktioniert er nicht.

In den neuen Heften kann man unter anderem nachlesen, wie Daniel Düsentrieb einst überhaupt nach Entenhausen kam und in sein Labor gezogen ist. Außerdem ist eine ganze Seite mit vielen Informationen über ihn enthalten.

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Neuerscheinungen, in denen Daniel Düsentrieb vorkommt:

Micky Maus 09/2022 (3,99 €), „Micky Maus präsentiert“ No. 39 (3,50 €) und „Lustiges Taschenbuch LTB 558 „Das Zeitportal“ (kommt am 26. April heraus, 7,99 €)

Einen Erfinde-Wettbewerb gibt’s auch. Bis zum 15. Juni können Ideen an erfinder@micky-maus.de geschickt werden.




Historie in der Horizontale: „Was im Bett geschah“

Wenn man nur lange genug über ein Thema nachsinnt, scheint der Stoff schier uferlos zu werden. Beispielsweise das Bett und alles Drumherum. Was lässt sich da nicht alles erzählen! Es lassen sich damit zahllose Bücher füllen, beispielsweise das im Titel etwas anzüglich klingende „Was im Bett geschah“ (im Original noch eine Spur aktiver: „What We Did in Bed“), das als „Eine horizontale Geschichte der Menschheit“ firmiert.

Nadia Durrani und Brian Fagan kommen aus der Archäologie und fangen zwar nicht bei Adam und Eva, wohl aber bei unseren frühen Vorfahren vor einigen Tausend Jahren an, die verwertbare Funde hinterlassen haben. In der Vorzeit, so erfahren wir, haben Menschen wohl auf Bäumen geschlafen, andere wiederum in Hockstellung auf dem Erdboden. Wir lernen sodann sehr detailreich, wie es vor allem die alten Ägypter, Griechen, Römer und Chinesen mit dem Schlafe hielten und wann die Vorläufer der Betten gebaut worden sind.

Die vom Boden abgehobene Bettstatt mit Füßen entstand zunächst vor allem als Zeichen sozialer Hierarchie und Distanzierung. Die Höhergestellten waren sozusagen auch Höhergelegte, sie hoben sich somit buchstäblich von ihren Bediensteten und sonstigen Minderbegüterten ab. Im Laufe der Historie wurden daraus unvorstellbar reich ausgestattete Prunkbetten. Ihre Kostbarkeit zu schildern, ja darin verbal zu schwelgen, unternimmt das Autorenduo immer und immer wieder, in dieser Hinsicht wird es durchaus wiederholungsträchtig.

Staatsgeschäfte zwischen den Laken

Ansonsten werden praktisch alle Aspekte rund ums Bett durchgearbeitet: der Schlaf an und für sich, der Sex, das Bett als Ort der Geburt und des Sterbens, als geheimes Machtzentrum von Pharaonen, Königen und sonstigen Potentaten – mit den recht bizarren Gipfelpunkten zur Zeit des „Sonnenkönigs“ Ludwig XIV. und der englischen Königin Elizabeth I. Oft genug wurden gewichtige Staatsgeschäfte wesentlich vom Bett aus besorgt, so auch noch von Winston Churchill.

Eine der spannendsten Fragen betrifft die Privatsphäre, von der sich frühere Zeiten noch gar keinen Begriff machten. Daheim teilten ganze Großfamilien die Lagerstatt. Reisende, sofern nicht bestens betucht, hatten in den Herbergen keine Liegefläche für sich allein. Wann und wie aber ist die Vorstellung eines Rückzugsbereichs und folglich der Intimität entstanden? Sollte es etwa mit dem Heraufkommen der bürgerlichen Gesellschaft zu tun gehabt haben? Das christliche Sündenbekenntnis (Beichte) und die abgesonderte Buchlektüre haben jedenfalls bahnbrechend gewirkt. Insofern waren die 1969 im Bett abgehaltenen Presse-Empfänge von John Lennon und Yoko Ono als Manifestationen einer Gegenbewegung tatsächlich geschichtsträchtig.

In der Flut des Materials ertrinken

Zahllose Phänomene werden erwähnt. Man denke sich irgendein Stichwort zum Thema, es wird mit ziemlicher Sicherheit in diesem Buche vorkommen. Es ist, als hätte man bloß nichts auslassen wollen. Allerdings ertrinkt man auf diese Weise in der Flut des Materials. Nadia Durrani und Brian Fagan haben bienenfleißig Fundsachen zusammengetragen, sie lassen alles Mögliche und Unmögliche Revue passieren, finden aber nur selten zur Analyse von Strukturen. Ein tiegfründelndes Buch ist dies gewiss nicht, eher eine leidlich unterhaltsame Materialsammlung, deren verstreut umher liegende Elemente noch der weiteren Deutung harren.

Auch die Zukunft des Schlafens wird erwogen – vor allem in Form eines schnellen Streifzugs durch die globalen Möbelmärkte. Stehen uns Kapselbetten ins Haus, die die Schlafenden als Vereinzelte völlig umschließen und vielfach (virtuell) verwöhnen? Werden unsere Wohnungen auf Knopfdruck tagtäglich wandelbar sein? Werden wir uns völlig schwerelos auf magnetisch schwebenden Kissen zur Ruhe legen? Fragen über Fragen. Lasst uns mal ein paar Nächte drüber schlafen.

Nadia Durrani & Brian Fagan: „Was im Bett geschah. Eine horizontale Geschichte der Menschheit“. Aus dem Englischen übersetzt von Holger Hanowell. Reclam Verlag, 270 Seiten (mit Bibliographie und Registern), 24 Euro.

 




Aufbrüche aller Art: Spuren der 60er und 70er Jahre in der Wuppertaler Sammlung

Andy Warhol: „Mao Tse Tung“, 1972. Zehnerserie, je 91,5 x 91,5 cm (Von der Heydt-Museum, Wuppertal © The Andy Warhol Foundation for the Visual Arts, Inc.)

Wuppertals Von der Heydt-Museum kreist weiterhin produktiv um sich selbst, genauer: um seine eigene Sammlung, deren Schätze noch gar nicht komplett gehoben zu sein scheinen und noch immer Aha-Erlebnisse mit sich bringen. So entstehen neue Perspektiven aufs Vorhandene. Kostensparend sind derlei Ausstellungen ohne Leihgaben obendrein.

Kürzlich begann die Reihe der „Freundschaftsanfragen“ mit künstlerischen Stellungnahmen zu ausgewählten Beständen des Hauses, die Premierenschau läuft noch bis zum 10. Juli. Und schon gibt es eine weitere Ausstellung, die selten oder sogar noch nie vorgezeigte Arbeiten aus den Depots holt. „Fokus Von der Heydt“ lautet der Obertitel, ins Blickfeld rücken dabei „ZERO, Pop und Minimal“ sowie weitere Richtungen der ungemein vitalen und vielfältigen 1960er und 70er Jahre.

Gerhard Richter: „Scheich mit Frau“, 1966, Leinwand, 140 x 135 cm (Von der Heydt-Museum, Wuppertal © Gerhard Richter)

Das Wuppertaler Museum, im Kern wesentlich mehr „klassisch“ aufgestellt, war bislang nicht so bekannt für nennenswerten Eigenbesitz aus dem genannten Zeitraum. Seit eineinhalb Jahren aber sind die Magazine gründlich durchgesehen worden – und es kam manch Überraschendes ans Tageslicht. Seinerzeit war Wuppertal mit der legendären Galerie Parnass (finale 24-Stunden-Aktion mit Beuys, Vostell, Charlotte Moorman, Bazon Brock und vielen anderen am 5. Juni 1965) ein Fixpunkt der Avantgarde. Und siehe da: Damals wurde vom Museum zumindest punktuell klug und vorausschauend angekauft – sozusagen „am Puls der Zeit“, wie Von der Heydt-Direktor Roland Mönig findet. Doch seither sind viele Werke für Jahrzehnte im archivarischen Dunkel verschwunden. Bis jetzt.

Vieles musste erst einmal restauriert werden

Etliche Bilder, Objekte und Skulpturen mussten überhaupt erst einmal wieder restauratorisch für die Ausstellung aufbereitet werden werden, wie die Kuratorinnen Beate Eickhoff und Anika Bruns erläutern. Paradebeispiel ist eine veritable Wiederentdeckung, jene filigrane Skulptur von Harry Kramer, die von einem kleinen Motor über Spulen in Bewegung versetzt werden soll und nicht mehr funktioniert hat. Die Reparatur ließ sich fachgerecht bewerkstelligen, weil man einen früheren Assistenten des 1997 verstorbenen Künstlers aufgespürt hat und fürs Vorhaben gewinnen konnte.

Rune Mields: „Komposition“, 1970. Leinwand, 150 x 100 cm (Von der Heydt-Museum, Wuppertal © VG Bild-Kunst, Bonn 2022)

Der Rundgang im 2. Obergeschoss hat keinen erschöpfenden, sondern eher kursorischen Charakter. Er umfasst 130 Arbeiten von nicht weniger als 95 Künstlerinnen und Künstlern, darunter viele bekannte, aber auch (aus welchen Gründen auch immer) verblasste Namen. Trotz der relativen Fülle kann jede Ausprägung nur vage „angetippt“ werden, denn die Bandbreite reicht von der Gruppe ZERO (Uecker, Mack und Piene) über Op-Art, kinetische Kunst, konkrete Kunst, Minimal Art und Fluxus bis hin zur Land-Art (naturgemäß nur in Relikten und auf Fotografien vorhanden), neuen Realismen und Pop-Art. Doch halt! Es würde zu weit führen, hier alle Spielarten und Protagonisten aufzuzählen. Die Ausstellung ist als Langzeit-Projekt bis (mindestens) zum Hochsommer 2023 angelegt, zwischendurch sollen auch schon mal Exponate ausgewechselt werden.

Die 60er und 70er waren jedenfalls eine Zeit, in der nach und nach mit allem Denk- und Sichtbaren experimentiert wurde, mal ernsthaft und beflissen, mal eher spielerisch oder auch frech. Licht und Bewegung wurden zu neuen Grundelementen der Kunst, die Gattungsgrenzen wurden allseits gesprengt, die Skulpturen von den Sockeln geholt, Nachkriegs-Dogmen der abstrakten Kunst überwunden. Aktionen, Performance und Happenings kamen auf. Nichts schien dauerhaft zu sein.

Konrad Klapheck: „Die Sexbombe und ihr Begleiter“, 1963. Öl auf Leinwand, 89 x 69,5 cm (Von der Heydt-Museum, Wuppertal © VG Bild-Kunst, Bonn 2022)

Einige der damaligen Kunst-Bewegungen drängten entschieden aus den Museen heraus und in den Lebensalltag hinein. Insofern haftet ihrer jetzigen Präsentation im musealen Zusammenhang auch etwas Widersprüchliches an; ganz so, als würde da etwas einstmals Lebendiges eingezäunt oder gezähmt. Doch wie soll’s denn anders gehen?

Soll man einzelne Arbeiten hervorheben? Wozu? Allzu verschieden sind die künstlerischen Positionen, so dass sich jede(r) die eigene Schneise des Beliebens schlagen sollte. Zieht es einen zu Warhols Mao-Siebdrucken, zur Zeichnung von Cy Twombly, zum Lichtrelief aus der ZERO-Gruppe, zu Wolf Vostells furioser Übermalung des Kennedy-Attentats, zu Horst Antes‘ „Kopffüßler“-Vorläufer oder zu Dieter Kriegs frappierend realistischer „Malsch-Wanne“? Man sollte Parcours nicht stur geradeaus geradeaus absolvieren, sondern sich spontan treiben lassen. Gut möglich, dass einem dann noch etwas mehr vom damaligen Zeitgeist einleuchtet.

„ZERO, Pop und Minimal – Die 1960er und 1970er Jahre“ („Fokus Von der Heydt“). Von der Heydt-Museum, Wuppertal, Turmhof 8. Seit 10. April 2022 bis 16. Juli 2023. Geöffnet Di-So 11-18, Do 11-20 Uhr. Eintritt 12, ermäßigt 10 Euro. Katalog erst gegen Ende des Jahres 2022.

Tel. 0202 / 563-6397

www.von-der-heydt-museum.de

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Beim Pressetermin erhob sich noch eine Quizfrage für Spezialisten: Was wurde anno 1902 früher eröffnet – der Vorläufer des Wuppertaler Von der Heydt-Museums (damals noch Städtisches Museum Elberfeld) oder der Vorläufer des Osthaus-Museums, das damalige Folkwang-Museum in der benachbarten Stadt Hagen?

Lösung: Hagen am 9. Juli 1902, Wuppertal am 25. Oktober 1902. Was aber weiter nichts besagen will, schon gar nicht qualitativ.




Die Kunst kann keinen Krieg beenden

(Foto: Bernd Huber)

Gastautor Bernd Huber über das Verhältnis von Kunst und Krieg in diesen Zeiten:

Ich bin verwirrt, weil sich mir Fragen aufdrängen. Die wichtigste Frage ist wohl die, ob die Kunst in Kriegszeiten „rein“ bleiben kann. Ich möchte es absichtlich mal auf die Spitze treiben und fragen: „Reicht es, ,Imagine‘ zu singen?“

Wenn die Kunst fordernd anklagt, fühle ich mich immer peinlich berührt. Die politischen Missverhältnisse bleiben von ihr unberührt. Diesbezüglich vermag die Kunst nichts. Die Kunst, wenn sie Kunst ist und nicht von vornherein ihre Werke auf dem Politischen aufbaut, sondern das nur in Krisenzeiten tut, verliert ihre Kraft der Unschuld. Der politische Missstand lässt sich nur durch Politik bekämpfen. Kein Spruch lächerlicher, als der, der da proklamiert: „Make Music, Not War“. Als ob ein Mensch wie Putin einen solchen Gedanken überhaupt in Erwägung ziehen könnte!

Im Krieg muss man eine eindeutige Position einnehmen, das ist schon schlimm genug. Im Grunde hieße das für den Künstler, dass er seine Kunst dort lassen muss, wo sie hingehört. Die Kunst hat im Krieg keine Position, der Künstler schon. So wäre es immer sinnvoller, der populäre Künstler bezöge eine politische Position, indem er sagt: „Sofort alle Embargo-Möglichkeiten umsetzen“ – oder ähnliches.

Kunst und Krieg haben keine Gemeinsamkeiten, während die kriegerischen Handlungen anhalten. Ein Kunstwerk wie Picassos „Guernica“ entsteht erst als künstlerischer Reflex auf den Krieg. Die Idee, dass die Kunst den Krieg beenden könne, ist in ihrer Naivität nicht zu überbieten. Achja, und dann gibt es ja auch den zynischen Begriff der „Kriegskunst“. Aber wir alle wissen ja, dass Krieg und Kunst gar nichts miteinander zu tun haben und dass es Kriegskunst nicht gibt. Es gibt ja auch keine Kunst des Mordens.




Gezähmte Dämonen: Sinfoniekonzert der Duisburger Philharmoniker mit Marie Jacquot am Pult

„Romantische Dämonie“ war das neunte Philharmonische Konzert der Duisburger Philharmoniker überschrieben, doch in Robert Schumanns a-Moll-Klavierkonzert war von romantischen Anmutungen wenig zu hören.

Ab 2024 Chefdirigentin an der Königlichen Oper Kopenhagen: Marie Jacquot, Erste Kapellmeisterin an der Rheinoper. (Foto: Werner Kmetitsch)

Erst Felix Mendelssohn Bartholdys Vertonung von Goethes „Faust“-Vorstudie „Die erste Walpurgisnacht“ ließ im farbenreichen Orchester und in exzessiv ausgekosteter Chordramatik die Dämonen vorüberziehen: „Menschen-Wölf‘ und Drachen-Weiber“ rasen da in dampfendem „Höllenbrodem“ über den Himmel. Carl Maria von Webers Wolfsschlucht lässt grüßen und die effektsichere Musik Mendelssohns gibt eine Ahnung davon, wie es hätte klingen können, hätte der hochbegabte Berliner Jung‘ jemals die Chance gehabt, eine Oper zu komponieren.

Wer da das Duisburger Orchester und den erstmals nach der Pandemie-Zwangspause wieder in großer Form auftretenden Philharmonischen Chor anspornt, bringt ausgiebige Opernerfahrung mit: Marie Jacquot, seit 2019 Erste Kapellmeisterin an der Deutschen Oper am Rhein und ab 2024 Chefdirigentin der Königlichen Oper Kopenhagen, versteht es, Ensembles sicher zu führen. Klare Zeichen vom Pult helfen den breit aufgereihten Sängerinnen und Sängern in der Mercatorhalle zu größtmöglicher Präzision; Marcus Strümpe hat den Chor klangbewusst und rhythmisch hellwach vorbereitet. So überzeugen vor allem die Frauen mit kraftvoll-strahlendem Klang, während die Tenöre ein paar Stimmen mehr vertrügen, um den freien Frühlingswald mit Glanz zu besingen und das „Licht“ intensiv strahlen zu lassen, das Goethe beschwört und Mendelssohn pathetisch musikalisch herausstellt.

Das Licht als Aufklärungs-Chiffre

Um den aufklärerischen Begriff des Lichts geht es in der weltlichen Kantate, die 1832 entstand, aber erst 1843 in einer überarbeiteten Fassung vom Leipziger Gewandhaus aus ihren Weg in die musikalische Welt fand. Goethe setzt – historisch überholt – einen Konflikt zwischen Druiden und „dumpfen Pfaffenchristen“ voraus, in dem die heidnischen Priester mit einem listig entfesselten Spuk die Christen mit deren eigener Höllenangst in die Flucht schlagen. Die vom Rauch gereinigte Flamme, das Licht des alten Glaubens werden emphatisch besungen: aufklärerische Chiffren für eine vernunftgeleitete, idealistisch von Aberglauben befreite Religion.

In Mendelssohns Tonsprache hören wir die wilde Chromatik des „Hebriden“-Meeres und erahnen die Wogen von Wagners „Holländer“. Wenn sich die Druidenwächter im Wald verteilen, klingt der Chor nach Heinrich Marschners „Vampyr“-Dämonen. Und der Glanz der Lichtbeschwörung lässt an Mendelssohns „Elias“ denken. Bei Marie Jacquot schäumt das Unwetter in der Ouvertüre und die Duisburger Philharmoniker ahnen im Übergang zum Frühling in zarten Bläserstaccati und lichtem Streichersatz schon den Traum der Sommernacht. Effektvoll musizieren sie den exotischen Klang aus, mit dem Mendelssohn den Druiden mit tiefen Streichern, leisem Trommeldonner und Pianissimo-Becken eine charakteristische Sphäre schafft. Und wenn Kauz und Eule ins „Rundgeheule“ einstimmen, demonstrieren die Damen des Chores, was pointierte rhythmische Schärfe bedeutet.

Mit nur wenigen Sätzen bedacht hat Mendelssohn die Solisten: Einzig der Bariton Johannes Kammler kann als Priester seine warme, blühende Stimme länger zur Geltung bringen. Patrick Grahl pflegt als Druide und christlicher Wächter einen vornehmen Oratorienstil; Thorsten Grümbels Bass ist für seine kurze Szene eine luxuriöse Verschwendung. Anna Harveys schmeichelnde, (zu) lyrische Stimme hat für die „alte Frau aus dem Volk“ weder die tragende Tiefe noch die vorwurfsvolle Schärfe.

Schumanns Abgründe als Glitzerkram

So beeindruckend Marie Jacquot und die Ensembles also Mendelssohns dramatisches Geschick in der „Walpurgisnacht“ ausleuchten, so unterbelichtet bleibt in Schumanns Klavierkonzert, was „Romantik“ oder „Dämonie“ bedeuten könnten. Das liegt nicht an Dirigentin und Orchester, sondern an der Pianistin Mariam Batsashvili. Denn die 28jährige Georgierin, die als „große musikalische Hoffnungsträgerin“ vermarktet wird, lässt jeden persönlichen Zugang zu Schumanns facettenreicher Welt vermissen. Statt der im Werbesprech gepriesenen „aufrichtigen Emotionen“ hört man viele Flüchtigkeiten und noch mehr Pedal; statt eines gestaltenden Zugriffs kalt kristalline Monotonie.

Das viel gerühmte „kunstvolle Durchweben“ von Solo-Instrument und Orchester interessiert Batsashvili offenbar wenig. So sehr sich das Orchester um Impulse müht, das Echo bleibt matt. Da mögen die Violinen noch so weite Kantilenen phrasieren – Batsashvili antwortet ohne innere Bewegung. Da spielt die Klarinette im zweiten Satz zum Niederknieen seelenvoll – die Pianistin bleibt unbeeindruckt bei einer neutralen Korrespondenz: Geschäftsbrief statt Liebespost. Und der lebhafte dritte Satz mit seinem fulminanten Finale, das Marie Jacquot eben nicht vordergründig aufdreht, wird als prinzessinenhaftes Spielwerk durchgezogen. Schumanns Abgründe als Glitzerkram – das will man wirklich nicht hören.




Künstliche Intelligenz gibt es nicht – Ausstellung im Dortmunder „U“ geißelt grenzenlose Computergläubigkeit

Wenn Biometrie die Menschen bewertet, kann auch Unsinn dabei herauskommen. „Decisive Mirror“ von Sebastian Schmieg, 2019 (Bild: Franz Warnhof/HMKV)

Die „Künstliche Intelligenz“, abgekürzt KI, über die Computer neuester Bauart angeblich verfügen sollen, gibt es nicht. Der Begriff ist schlicht falsch. Computer sind genauso intelligent wie, sagen wir mal, ein Gurkenhobel.

Eigentlich haben wir das ja immer gewußt, obwohl die elektronische Datenverarbeitung, bleiben wir für einen Moment bei diesem altehrwürdigen Begriff, heute in Gestalt attraktiver junger Damen wie Alexa daherkommt, die uns richtig gut zu kennen scheinen und ohne bösen Hintersinn bemüht sind, uns jeden Wunsch zu erfüllen. Da kann man natürlich schon ins Grübeln kommen, ob nicht vielleicht doch mehr dahintersteckt als die systematische Anwendung zugegebenermaßen hochkomplexer Algorithmen. Oder?

Vermessenes aus „Hypernormalisation“ von Aram Bartholl von 2021 (Bild: HMKV)

Neue Perspektive

Erstaunlicher als die (eben nicht) erstaunliche Einsicht, daß Computer dumm wie Brot, jedoch keineswegs harmlos sind, ist vielleicht noch der Ort, an dem Erkenntnis dem Publikum zuteil wird. Der Dortmunder Hartware Medienkunstverein, der mit seiner Ausstellungsfläche im dritten Stock des Dortmunder „U“ residiert, ausgerechnet der, hat sich die computerkritische Perspektive zu eigen gemacht und präsentiert nun „künstliche Intelligenz als Phantasma“ in seiner neuen Ausstellung „House of Mirrors“, was sinnvoll mit „Spiegelkabinett“ übersetzt werden kann. Daß die Ausstellung ausgerechnet hier stattfindet ist deshalb erstaunlich, weil der Medienkunstverein bisher doch ein eher positives Verhältnis zur Computerei zu haben schien, zu den Ergänzungen und Weitungen, die der Einsatz elektronisch betriebener Medien letztlich eben auch der Kunst bringen könnte. Ein wirklich Widerspruch ist dies indes nicht, wir wollen fair bleiben. Eher könnte man vielleicht von einem Perspektivwechsel sprechen, der im ganzen großen Themenkontext sicherlich Sinn macht. Außerdem scheint auch ein wenig „Wokeness“ im Spiel zu sein.

Ein Gestell, viele Smartphones: die Arbeit „– human-driven condition“ von Conrad Weise thematisiert die Situation der vielen (menschlichen) Mikroarbeiter, die in stark fragmentierten Arbeitsprozessen für das Funktionieren der „KI“ sorgen (Foto: HMKV)

Alte Datenmuster

Große Spiegel strukturieren den Raum in dieser hübsch aufgebauten Ausstellung; die meisten werfen lediglich das Bild zurück, manche sind aber auch von einer Seite zu durchschauen, wieder andere sind Teile von Kunstobjekten. Warum die Spiegel? Inke Arns, seit etlichen Jahren die rührige Chefin des Medienkunstvereins, erläutert es. Der Prozeß der Spiegelung, wir formulieren frei, verdeutliche den beschränkten Nutzen des Computereinsatzes in vielen Anwendungsbereichen, bei der Erkennung von Personen zum Beispiel (Zollkontrollen, Fahndung) oder von Situationen („autonomes Fahren“ etc.). Gespiegelt wird, was man dem Spiegel zeigt, algorithmische Raster, biometrische Daten, situative Schemata, Statistik.

Was man nicht zeigt, kann auch nicht gespiegelt werden, heißt für den Computerbetrieb: er reagiert nur beim Wiedererkennen hinterlegter Datensätze. Erkennt er das Geschehen nicht, reagiert er nicht oder falsch. Auch mit allergrößten Datenmengen ist die Computerintelligenz also ein menschengemachtes Bewertungskonstrukt, dem ein gerüttelt Maß Subjektivität eigen sein dürfte und das zwangsläufig „computeraufbereitete Realität mit vergangenen Datenmustern erkennen“ (Arns) soll. Wenn aber heutiges Geschehen an den Mustern von gestern abgeglichen wird, hat das normierenden, mitunter gar disziplinierenden Charakter. Von „automatisierter Statistik“ spricht in diesem Zusammenhang Francis Hunger, der die Ausstellung zusammen mit Marie Lechner kuratiert hat.

Hier geht es um die Wahrnehmungen „autonomer“ Fahrzeuge: „VO“ von Nicolas Gourault (2022) (Bild: Courtesy of Le Fresnoy, Studio national des arts contemporains/HMKV)

Viele Bildschirme, viele Projektionsflächen

So viel zunächst einmal zum Ansatz dieser Schau. Wie aber nun macht man aus technischen, soziologischen, politischen, psychologischen Einsichten Kunst? So ganz einfach ist das nicht, denn anders als alles Mechanische ist Elektronisches zunächst einmal sehr unsinnlich. Letztlich, und so auch hier, läuft es darauf hinaus, daß viel Botschaft über Bildschirme und Projektionsflächen läuft, denen (so gut es eben ging) ein paar Requisiten beigegeben wurden. Einige schöne Raumsituationen gibt es gleichwohl, wie das von einem gemütlichen Sofa beherrschte Zimmer Lauren Lee McCarthys, in dem diese eine Woche lang die Funktion von Amazons virtueller Assistentin Alexa übernahm. Das war 2017 und streckenweise recht lustig, wie die Dokumentation zeigt, die auf dem Bildschirm läuft.

Sinnfrei

Ein Großteil der Arbeiten thematisiert Teilaspekte der „KI“. Gleich am Eingang scannt Sebastian Schmiegs „Decisive Mirror“ (2019) Gesichter der Besucher und berechnet dann Sinnfreies: „Zu 42 Prozent noch am Leben“, „zu 65 Prozent imaginär“, „zu 17 Prozent einer von ihnen“ und so weiter. Projiziert werden die Daten auf einen Spiegel, und schon in dieser ersten Installation erahnt man die Respektlosigkeit dessen, was folgen wird.

Neues Gesicht aus dem Computer: „The Zizi Show, Deepfake drag Artist close up“ (2020) von Jake Elwes (Bild: Courtesy of the artist, VG Bild-Kunst/HMKV)

Wunsch und Wirklichkeit

Doch wir beginnen nachdenklich. In der zentral gelegenen Rotunde vergleichen Pierre Cassou-Noguès, Stéphane Degoutin und Gwenola Wagon in ihrer üppigen Videoarbeit „Welcome to Erewhon“ (2019) Wunsch und Wirklichkeit des technischen Fortschritts über Jahrhunderte hinweg. Ausgangspunkt ihrer Betrachtungen ist das Buch „Erewhon; Or, Over the Range“, das ein gewisser Samuel Butler 1872 veröffentlichte und das die Übernahme der Macht durch die Maschinen thematisierte, die sich schneller und effektiver weiterentwickelt hatten als die Menschen. Schließlich zerstörten die Menschen die Maschinen und bauten keine neuen mehr. „Erewhon“ ist übrigens ein Anagramm von nowhere, nirgendwo. Weiterhin gibt es hier auf den Bildschirmen computergesteuerte Haushaltsmaschinen des 21. Jahrhunderts zu sehen, Saug- und Wischroboter etwa, von denen noch keine große Bedrohung auszugehen scheint. Auch eine Performance ist hier dokumentiert, die zeigt, zu welchen Albernheiten eine Bürogemeinschaft fähig ist, wenn die Computer all ihre Arbeit übernommen haben. Es gibt der Aspekte etliche mehr. Eingestimmt und neugierig wandern wir weiter.

Kuh oder Sofa

Simone C Niquilles raumgreifend angelegte Videoinstallation „Sorting Song“ (2021) führt auf großer Leinwand bildmächtig das Dilemma eines überforderten Erkennungsprogramms vor, das den zu bestimmenden Gegenstand mal als Kuh, mal als Sofa identifiziert und abbildet. Anna Ridlers „Laws Of Ordered Form“ (seit 2020) befaßt sich mit elektronischem Bilderkennen und –benennen in enzyklopädischen Dimensionen und vergleicht dies mit traditionellen, nach Stichworten strukturierten Formen der Archivierung. Die „Mikroarbeiter“, Männer wie Frauen natürlich, haben ihren Platz in der Ausstellung, jene vielen tausend Menschen, die isoliert zu Hause und unter oft miserablen Konditionen in der ganzen Welt als „Datenreiniger“ oder „Klickarbeiter“ händisch all das machen, was die „KI“ nicht hinbekommt. Die Italienerin Elisa Giardina Papa, die selber als Datenreinigerin für Unternehmen arbeitete, und der Kölner Conrad Weise erinnern in ihren Arbeiten an sie.

Kein Alter Meister, sondern ein Bild aus der Arbeit „Laws of Ordered Form“ von Anna Ridler (2020), in der es um Bilderkennung geht. (Bild: HMKV)

Diskriminierung

Überhaupt: die Zukurzgekommenen, die Diskriminierten, die rassistisch Ausgegrenzten. Etliche Arbeiten beleuchten diskriminierende Aspekte der Algorithmen – die Diskriminierung dunkler Hautfarbe beispielsweise in Gesichtserkennungs-programmen, die Diskriminierung von ausländischen Akzenten oder „Unterschichtsprache“ in Spracherkennungsprogrammen. „KI“ ist nicht woke, im Gegenteil. Unübersehbar ist es das Anliegen wenn schon nicht dieser Ausstellung, so doch sicherlich etlicher Arbeiten, die diskriminierenden Eigenschaften von „KI“ vor allen im Überwachungswesen herauszuarbeiten. Und dagegen ist auch nichts zu sagen.

Ein weit gefaßter Kunstbegriff

Eher schon könnte man in Nachdenklichkeit verfallen über den hier doch sehr, sehr weit gefaßten Kunstbegriff. In vielen Arbeiten ist schwerlich mehr zu erkennen als das Zitat eines „KI“-typischen Problemfelds. Ein gewisses Unwohlsein hinsichtlich der künstlerischen Valeurs scheinen auch etliche der 21 Teilnehmer zu empfinden, die als Berufsbezeichnung in ihre Biographien zusätzlich „Forscher“ hineingeschrieben haben. Auf jeden Fall jedoch funktioniert diese insgesamt sehr schöne, kompakte, schlüssige Ausstellung durch die Summe der Exponate. Anders ausgedrückt: Wer sich für das Themenfeld interessiert, sollte hingehen. Gut geeignet auch für technikaffine Besucher.

    • „House of Mirrors: Künstliche Intelligenz als Phantasma“
    • HMKV Hartware Medienkunstverein
    • im Dortmunder U, Ebene 3
    • Leonie-Reygers-Terrasse
    • Bis 31 Juli.
    • Geöffnet Di-Mi 11-18 Uhr, Do-Fr 11-20 Uhr, Sa-So 11-18 Uhr
    • Eintritt frei
    • www.hmkv.de

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Eine teilweise ähnlich gelagerte Ausstellung zur „KI“ läuft seit November 2021 und noch bis zum 9. August 2022 in der Dortmunder DASA (Deutsche Arbeitswelt Ausstellung). Hier ein Link zu unserem DASA-Bericht.

 




„Tot wie ein Dodo“ – Dortmunds Naturmuseum nimmt Ausrottung der Tierarten in den Blick

Schockierend konstruierte Szenerie mit einem Ranger, der nicht mehr verhindern konnte, dass dem Breitmaulnashorn die Hörner abgehackt worden sind… (Foto: Bernd Berke)

„Tot wie ein Dodo“ heißt, denkbar lakonisch, die neue Sonderausstellung im Dortmunder Naturmuseum. Die Benennung geht zurück auf die englische Redewendung „as dead as a dodo“, die mit Betonung auf Endgültigkeit ungefähr als „mausetot“ zu übersetzen wäre, was jedoch das grundfalsche Tier aufruft – ebenso wie der Internet-Sprachdienst Linguee, der sie mit „ausgestorben wie ein Dino“ übersetzt. Nix da Dino. Dodo!

Womit wir beim richtigen Dodo angelangt wären. Den hat es nämlich wirklich gegeben, nur ist er leider um das Jahr 1700 auf der Insel Mauritius ausgestorben – durch gewaltsame menschliche Einwirkung. Die flugunfähigen, mutmaßlich etwas tollpatschigen Vögel hatten keine Fressfeinde und waren daher so zutraulich, sich ohne Arg den Seefahrern zu nähern, die damals auf dem Weg nach Indien gern Zwischenhalt auf Mauritius machten. Hier nahmen sie Proviant auf und entdeckten auch das (wohl etwas zähe) Fleisch der Dodos für sich, um die es alsbald geschehen war. Den Rest gaben ihnen eingeschleppte Tiere wie Ratten, Schweine und Affen, die die Eier der Dodos fraßen. Nur noch wenige Skelette und karge Notizen künden von ihrem exemplarischen Erdendasein. Und jetzt gibt es den Dodo im Dortmunder Museumsshop als flauschiges Stofftier…

Weiteres Diorama in der Dortmunder Dodo-Ausstellung: Ein nicht allzu sympathischer Seemann (übrigens klischeegrecht mit Holzbein) hält feixend einen gerupften Vogel hoch, dessen noch lebender Artgenosse schaut zu. (Foto: Bernd Berke)

Ein Dodo-Diorama mit brutalem Seemann, der eines der getöteten Tiere gerupft hat, markiert den Eingangsbereich zur Dortmunder Ausstellung. Doch es geht längst nicht nur um diese Vögel, sondern um Tausende ausgestorbener und aussterbender Arten, deren Schicksal mit weiteren Dioramen, Vitrinen-Exponaten und Schautafeln vergegenwärtigt wird. Dabei geht es recht schaurig zu.

Mitleid mit der geschundenen Kreatur weckt etwa das akut bedrohte südliche Breitmaulnashorn, für dessen Hörner immense Beträge gezahlt werden und das daher zahllose Wilderer auf den Plan ruft. Hier sehen wir eine Szenerie mit blutig abgehackten Hörnern. Neben dem verendenden Tier hockt ein Ranger, der es eigentlich vor Wilderern hätte beschützen sollen. Doch seine Ausrüstung ist kläglich und der Schwarzmarkt-Preis eines einzigen Horns (pro Kilo 45.000 Dollar!) beträgt das eineinhalbfache seines Jahresgehalts, wie Julian Stromann (im Museum zuständig für Bildung und Vermittlung) ergänzend zu berichten weiß. So sind denn auch schon viele Ranger im Dienst erschossen worden.

Auf einer Bildtafel sind sogenannte „Endlinge“ versammelt, buchstäblich die Letzten ihrer jeweiligen Arten, darunter beispielsweise „Lonesome George“, mit dem die Geschichte einer Riesenschildkröten-Spezies aufgehört hat. Es folgt ein lebensgroßes, dramatisch zugespitztes Szenenbild mit dem gigantischen Laufvogel Riesenmoa, der einst auf Neuseeland gelebt hat und hier von einem Maori-Ureinwohner angegriffen wird.

Weitaus schlimmer aber wüteten die Angehörigen der kolonisierenden Völker und deren Pioniere: Seefahrer waren bereits die Hauptschuldigen am Aussterben der Dodos, sie hatten auch den pinguinartig aussehenden Riesenalk (ausgestorben durch brachiales Erwürgen der letzten Exemplare am 3. Juni 1844) und die Stellersche Seekuh auf dem Gewissen. Letztere Meerestiere waren so sozial, dass sie erlegten Artgenossen zur Hilfe eilten, so dass sie nicht mehr einzeln gejagt werden mussten, sondern gleich massenhaft getötet werden konnten.

Noch eine dramatisierende Ausstellungs-Inszenierung: Ein Seemann nähert sich in unguter Absicht den letzten Riesenalk-Exemplaren. (Foto: Bernd Berke)

Gruselig sodann eine Zusammenstellung von geschmuggelten touristischen Mitbringseln wie etwa Kroko-Täschchen oder gar Spielwürfeln aus Krokodilknochen. Höchst bedenklich zudem die in Asien verbreitete medizinische Praxis, die z. B. Haifischflossen, Seepferdchen-Pulver oder (angeblich potenzfördernde) Schlangenschnäpse verabreicht. Vor allem Tiger werden für heilkundliche Zwecke nahezu rundum ausgeweidet.

Ein Schaubild mit „Zeitschnecke“ veranschaulicht, dass menschliche Wesen den rund 4,6 Milliarden alten Planeten gleichsam erst in den letzten Sekunden bevölkert haben, wenn man das Erdalter auf ein einziges Jahr umrechnet. Der Mensch als in mancherlei Hinsicht verspätetetes Wesen: Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts entstand in der Wissenschaft überhaupt ein Bewusstsein davon, dass es etliche ausgestorbene Tierarten gibt. Haben wir seither grundlegend dazugelernt? Eher im Gegenteil, was das Handeln und den schier schrankenlosen Konsum betrifft. Das Tempo der vom Menschen betriebenen Naturvernichtung hat sich ungemein beschleunigt und bedroht längst auch sein eigenes Dasein. Hier setzt die Ausstellung an, indem sie größere Zusammenhänge von Klimawandel, Vegetation und Nahrungsketten aufgreift. Und ja: Natürlich hat auch der Eisbär auf schmelzender Scholle dabei seinen traurigen Auftritt.

„Tot wie ein Dodo. Arten. Sterben. Gestern. Heute.“ Naturmuseum Dortmund, Münsterstraße 271. Vom 8. April bis 20. November 2022. Geöffnet Di-So 10-18 Uhr. Eintritt 4 Euro, ermäßigt 2 Euro, unter 18 Jahren frei. Zutritt derzeit nach 2G-Regelung, Änderungen während der langen Laufzeit möglich.

Gesponsert von der örtlichen Sparkasse, werden 160 kostenlose Schulklassen-Führungen angeboten.

Tel. für Buchungen und Infos: 0231 / 50-248 56.

Tickets online: www.naturmuseum-dortmund.de

 




Dortmunder Nächte sind lang – oder etwa nicht?

Wenn es Nacht wird in Dortmund… (Foto: Bernd Berke)

Ganz ehrlich: Übers Dortmunder Nachtleben – sofern es ein solches geben sollte – kann ich nicht mehr so richtig fundiert mitreden. Man ist schließlich kein Student mehr. Doch hört man ja gelegentlich dies und jenes über vorzeitig hochgeklappte Bürgersteige und dergleichen Unerfreulichkeiten.

Etwas ältere Einwohner werden sogleich bedauernd ausrufen, dass zum Beispiel rund um den Ostwall ein ganzes Kneipenviertel verschwunden sei. Und überhaupt. Aber: das Kreuzviertel! Aber: rund ums „Dortmunder U“? Aber: rings um den Hafen? Tut sich da nicht was? Wird da nicht gut scholzisch etwas „auf den Weg gebracht“?

Dennoch erstaunlich, dass am 1. und 2. September eine internationale „Nightlife-Konferenz“ erstmals just in Dortmund stattfinden soll.  Laut kommunaler Pressemitteilung wird das Event ausgerichtet von der Stadt und von einem Verband mit aparter Sprachdesigner-Schreibweise: LiveMusikKommunikation (kurz Livekomm). „Kommße heut‘ nich, kommße morgen.“ Ach, hat nichts zu bedeuten, ist nur so ’ne alberne Assoziation.

Besagtem Verband gehören jedenfalls „mehr als 700 Musikspielstätten, Clubs und Festivals aus allen Bundesländern“ an. Bislang haben sie in Berlin konferiert, jetzt also in Dortmund. Vermutlich wollten sie endlich mal die langweilige Kapitale hinter sich lassen und in eine brodelnde Großstadt kommen. Da fallen einem gleich passende Songzeilen ein: Bright Lights, Big City. Dortmunder Nächte sind lang. Wie bitte? Statt Berlin hätte man unter den üblichen Verdächtigen auswählen sollen? Hamburg, München, Frankfurt, Köln? Ach was! Wenn schon, dann an den Gestaden der Emscher mal so richtig einen draufmachen. Okay, es hätte auch Hannover sein können.

Vielleicht ist es ganz gut, dass die Konferenz nur zwei Tage dauern wird. In derart kurzer Zeit kann wohl nicht so offenbar werden, dass Dortmund – Psssst! – nicht gerade das aufregendste Nachtleben der Republik hat. Wobei der Kongress ganz vorsichtig „Stadt nach acht“ heißt. Um diese Uhrzeit könnte sogar noch…




Ein Beitrag, der jetzt gestrichen werden muss

Seit den monströsen Kriegsverbrechen von Buschta (oder Buchta oder Butscha – sucht euch die Schreibweise aus, es ist zweitrangig) „gehen“ Texte wie der folgende, eilig gestrichene eigentlich nicht mehr, es verbietet sich jede auch noch so eingehegte Launigkeit. Da wir aber andererseits keine (Selbst)-Zensur ausüben wollen, bleiben die Ende März verfassten Zeilen noch notdürftig erkennbar.

Überhaupt vergeht einem schon seit einiger Zeit ganz gründlich die Lust auf kulturell oder feuilletonistisch angehauchte Betrachtungen. Obwohl gerade die Künste, sofern sie den Namen verdienen, ein dauerhaftes Gegengewicht sein und bleiben könnten… Ars longa, vita brevis.

Ceterum censeo: Jetzt endlich selbst das russische Gas abdrehen – und sei es „nur“ als starkes Zeichen ohne entscheidende Wirkung!

Was waren das noch für selige Zeiten, als „wir“ lediglich eine Nation von 40, 60 oder 80 Millionen Fußballtrainern gewesen sind. Gewiss, Länder- und Vereinsmannschaften stellen wir auch heute noch linkshändig auf, notfalls für Frankreich, England und Spanien gleich mit. Aber nur noch nebenbei. Wir haben jetzt Wichtigeres zu tun.

Inzwischen haben wir nämlich anderweitige Karrieren draufgesattelt. Zunächst bekanntlich als Top-Virologen, die sich ganz geläufig über komplizierteste Fachfragen ausgetauscht haben. Mit Corona und Konsorten kennt sich doch heute jeder Depp aus. Nun gut: Zuweilen ist da auch ein bisschen Besserwisserei im Spiel. Das bleibt halt nicht aus, wenn man viele Semester eines Fachstudiums und praktischer Forschung kurzerhand überspringt. Dann muss man eben beherzt behaupten.

Neuerdings haben sich viele, die das vorher nicht von sich selbst erwartet hätten, dem verschrieben, was hirnparalysierte Vorväter „Kriegskunst“ zu nennen beliebten. Zeitenwende eben. Oder richtiger: Zeitenbruch. Als Generalissimus von eigenen Gnaden widmet sich nun so mancher Mann überschlägigen ballistischen Berechnungen, intelligenter Nachschub-Logistik, effektiven Abwehrsystemen oder der schlagkräftigen Koordination verschiedenster Waffengattungen bis hin zu… Nein, wir wollen es nicht auch noch hier leichtfertig herbeireden. Frauen sind auf diesem Felde jedenfalls hoffnungslos in der Minderheit. ER wird es ihnen beizeiten zu erklären versuchen – wie einst das Abseits.

„Blamiert“ sich Russland militärisch – oder sollte man es nach wie vor „nicht unterschätzen“? Hockt Putin schon im Bunker? Dreht er uns den Gashahn zu? Gibt er sich mit dem Donbass zufrieden? Was machen die Chinesen? Derlei gravitätische Fragen werden Tag für Tag in mancherlei Medien erwogen. Im Gefolge solcher Gedankenspiele haben sich einige Leute außerdem flugs zu Flüchtlings-Kommissaren und Energie-Experten mit ungeahnt fossilen Präferenzen promoviert. Zwei bis drei Talkshows gucken – und schon kann man wieder mitpalavern. Wo liegt denn nur wieder die Generalstabskarte mit den vielen Pfeilsymbolen?

 




Das Ende der Unendlichkeit: Erinnerungen an ein Buch, das die Welt verändert hat

Im Frühsommer vor 50 Jahren lag es in den Buchhandlungen: Ein blauer Umschlag, darauf lugt der Planet Erde zwischen den beiden Hälften eines aufgebrochenen Eis hervor. „Die Grenzen des Wachstums“ lautete der Titel; die Unterzeile verhieß epochale Erkenntnisse: Ein Bericht „zur Lage der Menschheit“! Kaum einer kannte den „Club of Rome“, noch unbekannter war der als Autor genannte, damals 30jährige Dennis Meadows.

Und doch hat dieses Buch Geschichte gemacht. Zwischen März und Juni 1972 erschien es in zwölf Sprachen mit rund 12 Millionen Exemplaren. Eine „Bombe im Taschenformat“ nannte die „Zeit“ die knapp 200 Seiten, vollgepackt mit hochkomplexen Berechnungen und Tabellen.

Seine Aussage: Wenn wir so weitermachen wie bisher, ist unser Lebensmodell bis zum Jahr 2100 am Ende. Die Modellrechnung, die der Amerikaner Meadows und sein Team vorlegten, ging von fünf Tendenzen mit globaler Wirkung aus, setzte sie in Bezug zueinander und untersuchte die gegenseitigen Rückkoppelungen:

„Wenn die gegenwärtige Zunahme der Weltbevölkerung, der Industrialisierung, der Umweltverschmutzung, der Nahrungsmittelproduktion und der Ausbeutung von natürlichen Rohstoffen unverändert anhält, werden die absoluten Wachstumsgrenzen auf der Erde im Laufe der nächsten hundert Jahre erreicht. Mit großer Wahrscheinlichkeit führt dies zu einem ziemlich raschen und nicht aufhaltbaren Absinken der Bevölkerungszahl und der industriellen Kapazität.“

Das Fazit der Studie, die das Massachusetts Institute of Technology (MIT) mit Hilfe eines neuen Großcomputers im Auftrag des „Club of Rome“ erstellte, stieß auf kontroverse Reaktionen. „Unverantwortlicher Unfug“ hieß es im amerikanischen Magazin „Newsweek“. Der „Spiegel“ ordnete sie in die damals schon verbreiteten apokalyptischen Ängste ein und kritisierte eine „Weltuntergangs-Vision aus dem Computer“. Mit entsprechender Häme wurde in den folgenden Jahrzehnten immer wieder festgestellt, wie falsch die berechneten Zahlen für die Erschöpfung bestimmter Rohstoffe gewesen seien. Der „Club of Rome“ habe – so monierten Kritiker – auch die Rolle neuer Technologien unterschätzt, die den negativen Folgen des Wachstums entgegenwirken könnten. Es gab aber auch berechtigte Kritik, vor allem an der Vernachlässigung der sozialen und gesellschaftlichen Folgen eines eingeschränkten oder „Nullwachstums“.

Das Modell der Lilie im Gartenteich

Auch wenn sich kritische Einwände in einzelnen Fragen als zutreffend herausstellten: Das Grundproblem der „Grenzen des Wachstums“ bleibt bestehen. Die Gefahr exponentiellen Wachstums ist in Meadows Modell des Lilienteichs zutreffend beschrieben: Eine Lilie in einem Gartenteich wächst jeden Tag auf die doppelte Größe. Ihr Wachstum erscheint nicht besorgniserregend, denn auch wenn sie erst die Hälfte des Teichs bedeckt, scheint es noch genug Platz zu geben. Niemand denkt daran, sie zurückzuschneiden. Aber schon am nächsten Tag wächst die Lilie wieder um das Doppelte ihrer Größe, bedeckt den ganzen Teich und erstickt jedes Leben darin.

Die grundsätzliche Feststellung der Endlichkeit aller Ressourcen wird zum Teil bis heute nicht verstanden oder verdrängt. Die Unausweichlichkeit dieser Grenzen folgt aus physikalischen Gesetzen. Der Sozialethiker Wilhelm Dreier und der Physiker Reiner Kümmel haben damals in ihrem Forschungsschwerpunkt an der Universität Würzburg „Zur Zukunft der Menschheit“ die Thesen des „Club of Rome“ mit als erste in Deutschland aufgenommen und in ihrer Studie „Zukunft durch kontrolliertes Wachstum“ 1977 durch den Blick auf soziale und Bildungsprozesse ergänzt. Auch diese Ergebnisse wurden nicht verstanden oder – vor allem in konservativen und traditionell christlichen Kreisen – abgelehnt. Der vor 100 Jahren geborene CDU-Politiker Herbert Gruhl („Ein Planet wird geplündert“, 1975) ist ein Beispiel dafür, wie wenig Resonanz das neue ökologische Bewusstsein in seiner Partei fand, die er 1978 verließ.

Aktuelle Mahnung zu globalen Problemen

„Die Grenzen des Wachstums“ waren nicht, wie ihnen unterstellt wurde, eine Vorhersage apokalyptischen Schreckens. Sie waren ein Zustandsbericht zu einer Situation, die als veränderbar und beherrschbar eingeschätzt wurde – allerdings nur unter klar definierten Voraussetzungen: Dazu zählen eine radikale Energiewende weg von fossilen Brennstoffen, ein nachhaltige Landwirtschaft, der Abbau von Ungleichheit durch faire globale Steuersysteme, um zu vermeiden, dass die Reichsten der Erde mehr als 40 Prozent des Weltvermögens besitzen. Als nötig erachtet werden ferner enorme Investitionen in Bildung, Geschlechtergleichheit, Gesundheit und Familienplanung und neue Wachstumsmodelle für ärmere Länder.

Damals beflügelte das Buch die junge ökologische Bewegung in der Bundesrepublik; heute ist es nach wie vor eine aktuelle Mahnung, denn die globalen Probleme sind akuter, als wir es uns 1972 vorstellen konnten. Für mich persönlich waren „Die Grenzen des Wachstums“ ein wirklicher Augenöffner. Mein ökologisches Interesse war bereits durch die Lektüre von Rachel Carsons „Der stumme Frühling“ geweckt worden, hatte sich aber eher auf den klassischen Natur- und Tierschutz bezogen. Jetzt erweiterte es sich zu einem umfassenden ökologisch geprägten Nachdenken über die Entwicklung unserer Welt, die theologische, philosophische und politische Dimensionen mit einschloss und zum gesellschaftlichen Engagement für einen grundlegenden Wandel führte.

 

 




Wie man dem Ruhrgebiet (nicht) entkommt – Hilmar Klutes Roman „Die schweigsamen Affen der Dinge“

Hilmar Klute hat’s mit Europas Top-Metropolen. Sein vorheriger Roman „Oberkampf“ spielte überwiegend in Paris, der neue heißt „Die schweigsamen Affen der Dinge“ und fängt ebenso weltläufig, wenn auch etwas überdrüssig in Rom an. Zwischendurch schweift die Erinnerung nach München und findet sich schließlich wieder in der jetzigen Wahlheimat Berlin ein. Eine Korsika-Phantasie gibt’s hinzu.

Doch o Schreck! Der Autor und sein Roman-Protagonist mit dem hübschhässlichen Namen Henning Amelott stammen aus dem – horribile dictu – Ruhrgebiet! Es scheint ganz so, als müsse man sich daran lebenslang oder gar „lebenslänglich“ abarbeiten. Schlimmer Befund, bevor es auf der Schiene endlich heim nach Berlin geht: „Auf dem Bahnsteig wartete Henning eine halbe Stunde auf den Zug nach Dortmund, wo er umstieg und sich langsam herausschälte aus der Provinz der Sterbenden und der Toten.“ Da möchte man als Revier-Bewohner am liebsten mit Frank Goosens Klassiker der „Dagebliebenen“ (eine Horror-Vorstellung für Henning) antworten: „Woanders is‘ auch scheiße.“ Ach so, übrigens: Die Hörbuchfassung des Klute-Romans wird just von Goosen gelesen. Sinniger Gag.

Eine heillose Vater-Sohn-Beziehung

Klute, brotberuflich Redakteur der „Süddeutschen Zeitung“, wurde 1967 in Bochum geboren, seiner Hauptfigur Henning, einem bundesweit gefragten Feuilleton-Journalisten, schreibt er die Herkunft Recklinghausen zu. Beide haben das (hier zumeist als piefig bis prollig etikettierte) Revier längst weit hinter sich gelassen, doch gelegentlich plagen Henning noch gewisse Phantomschmerzen. So ganz lässt ihn die Gegend nicht los; erst recht sieht er sich wieder darauf verwiesen, als sein Vater Walter dort elendiglich an Krebs stirbt. Der Sohn empfindet keine rechte Trauer, sondern eher Mattigkeit. Dennoch beginnt nun die schmerzliche Erinnerungsarbeit.

Es war eine heillose familiäre Beziehung, die mit dem Tod des Vaters ihr äußerliches Ende gefunden hat, doch innerlich weiter und weiter wirkt. Die Kindheit mit diesem Vater war sterbenslangweilig und gefühlsfrei, die Ehe mündete in Dauerkrach und Scheidung. Der Vater war auf rein gar nichts aus, schon gar nicht auf Höheres. Dumpfe Kneipenhockerei und dito Fußball-Wochenenden waren seine einzigen Freizeitbeschäftigungen. Das alles soll’s geben. Hier kommt erschwerend hinzu: Der Sohn hat sich nie empört oder revoltiert, sondern sich immer nur mit dem Altvorderen abgequält und für ihn geschämt.

Auf den Spuren des Lyrikers Oskar Loerke

Heute aber kennt Henning, der sich aus der Provinz zunächst eifrigst „herausgelesen“ und sie dann tatsächlich verlassen hat, Leute wie jenen dandyhaften Bonvivant Ulrich, der als begüterter Erbe nicht arbeiten muss und rundum auf perfekten Stil Wert legt. Gewiss, Henning fremdelt zuweilen immer noch mit jenen, die schon als Kinder in kultivierte Verhältnisse hineingewachsen sind, doch ist er ihnen geistig zumindest ebenbürtig.

Weiterer Handlungsstrang ist der Schreibauftrag eines „Ideenmagazins“. Als Thema sucht sich Henning den nahezu vergessenen Lyriker Oskar Loerke aus, der sich schon bei ersten Textrecherchen als wortmächtiger Schriftsteller in düsteren NS-Zeiten erweist. Die Sache mit seinem Vater macht Henning allerdings so zu schaffen, dass er mit dem Loerke-Stoff partout nicht vorankommt und die Lieferung wiederholt angemahnt wird. Fruchtlos bleiben auch Besuche in Loerkes früherem Haus und an seinem Grab. Immerhin stammt der kryptische Buchtitel aus einem Loerke-Gedicht namens „Gebirg“:

„Die Schatten werden länger,
Die schweigsamen Affen der Dinge.“

Noch einmal nach Korsika

Und dann ist da noch Jochen, der sympathische Freund des Vaters seit Jugendtagen. Ihm will Henning ablauschen, was er über seinen Vater zu dessen Lebzeiten womöglich nie erfahren hat. Ansatzpunkt: 1959 waren Jochen und Walter als Jungspunde mit Vespa-Rollern auf Korsika unterwegs, nichts als blühenden Unsinn und Mädchen im Kopf. Just diese ungeahnt jugendfrische Reise, so Hennings seltsamer Einfall, möchte er mit Jochen gleichsam nachstellen – er selbst vielleicht gar in der Rolle seines Vaters. Die neuerliche Tour durchs südliche Leben wird uns in vielen Einzelheiten und Erinnerungs-Bruchstücken mitsamt allerlei Abschweifungen geschildert. Doch irgend etwas scheint da gar zu passgenau, um wahr zu sein. Mehr wird hier nicht verraten.

Und dann? In Berlin? Sieht er Annette wieder, seine langjährige Gefährtin. Doch warum empfängt sie ihn so verhalten? Was ist da geschehen? Auch dies möge der Romanlektüre vorbehalten bleiben.

Wieviel Wirklichkeit schafft das Erzählen?

An etlichen Hinterhalten des Buches lauert die Frage: Wird des Vaters Leben durch Erzähltwerden erst wirklich oder gar wahrhaftig – oder wird es im Gegenteil zunehmend unwirklich? Dabei geht es letztlich auch mal wieder darum, ob die Romanform überhaupt zur Lebensbeschreibung taugt. Die alte Wahrheit lautet wohl weiterhin so: Sie scheitert und triumphiert immer wieder. Bis ans Ende der Tage.

Mal abgesehen vom gelinden Ärger über manche Ruhrgebiets-Passagen (mein Problem, aber irgendwie auch das des Autors), habe ich diesen durchaus geschickt gebauten Roman doch mit einiger Spannung gelesen. Vielleicht auch, weil sich doch die eine oder andere Erfahrung ähnelt. Und weil ich schlicht und einfach wissen wollte, was diesem Henning widerfährt. Warum auch sonst sollte man Romanfiguren Stunde um Stunde auf ihren Wegen verfolgen?

Hilmar Klute: „Die schweigsamen Affen der Dinge“. Roman. Galiani Berlin. 282 Seiten, 22 Euro.

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P. S.: Schönen Gruß ans Berliner Lektorat – mit bescheidenem Hinweis für kommende Auflagen: Eine Berliner „Leibnitzstraße“ gibt es nicht, sondern „nur“ eine Leibnizstraße. Sie ist n i c h t nach dem Kekshersteller benannt.