Der Tod kommt mit der Haarnadel: Puccinis „Tosca“ in Osnabrück als zeitlose Erzählung über Macht und Einsamkeit

Floria Tosca (Lina Liu) ist entsetzt über die Folgen der Folter bei ihrem Geliebten Cavaradossi (Ricardo Tamura). Im Hintergrund der Polizeichef Scarpia (Rhys Jenkins). Foto: Jörg Landsberg

Floria Tosca (Lina Liu) ist entsetzt über die Folgen der Folter bei ihrem Geliebten Cavaradossi (Ricardo Tamura). Im Hintergrund der Polizeichef Scarpia (Rhys Jenkins). Foto: Jörg Landsberg

„Tosca“ zu inszenieren, ist eine Herausforderung. Giacomo Puccinis politisches Kriminalstück lässt mit seinem eindeutigen fiktiv-historischen Setting wenig Spielraum für eine assoziative Anreicherung. Alle möglichen Varianten, ob radikale Vergegenwärtigung oder bewusste Brüche mit dem Handlungsverlauf, sind schon erprobt und können meist getrost verworfen werden.

Ob Tosca am Ende nicht springt oder Scarpia überlebt, ob die Diva ihrem dominanten Peiniger verfällt oder der Polizeichef sich in den Maler verliebt: Zum Verständnis des Stücks, zur tieferen psychologischen Ausleuchtung der Figuren oder gar zu einer überraschenden neuen Perspektive tragen solche aufgesetzten Gimmicks meist nichts bei.

In Osnabrück haben Regisseurin Mascha Pörzgen und ihr Ausstatter Frank Fellmann nun einen bedachtsamen Weg gewählt, nicht mit Gewalt aktualisierend, aber auch nicht mit Rückgriff auf das Bildrepertoire eines historisierenden Dramas. In neutralem Ambiente – nur die aus einer Wand wachsenden Körperteile erinnern an ein „Jüngstes Gericht“ – arbeitet Cavaradossi an einem raumfüllenden Gemälde.

Alptraumlandschaft statt Engelsburg

Der Palazzo Farnese ist minimalisiert auf eine rote Couchlandschaft, eine düster glänzende Pferdeskulptur, der eine Schirmlampe aus dem Kopf wächst und – einziger Hinweis auf den Schauplatz der „Tosca“ – ein langsam verblassendes Panorama Roms mit der dominierenden Kuppel von S. Pietro. Der Schreibtisch, das Symbol modern, nämlich bürokratisch ausgeübter Macht fehlt. Der dritte Akt zeigt eine zerklüftete Spielfläche, schwarzen Schollen, umstellt von riesigen Staffeleien mit den Bildern der Maddalena, zwischen denen Tosca am Ende in eine unbestimmte Tiefe springt. Ein Bild, das sich vom Realismus der Vorlage entfernt und das Geschehen beinahe in eine (Alp-)Traumlandschaft verlegt.

Eine Puccini-Sängerin, die keine Wünsche offen lässt: Lina Liu als Tosca. Foto: Jörg Landsberg

Eine Puccini-Sängerin, die keine Wünsche offen lässt: Lina Liu als Tosca. Foto: Jörg Landsberg

Diesen Raum nutzt Mascha Pörzgen, um unaufgeregt und ohne aufgesetzte Effekte zu inszenieren. Sie hat schon in anderen Arbeiten – zuletzt ein poetisches „Schlaues Füchslein“ in Hagen – gezeigt, dass sie die Personen genau beobachtet und ihre inneren Motive sprechend ausformen kann. In Osnabrück folgt ihr in dieser Intention vor allem die makellos singende Lina Liu als Floria Tosca. Ihr erster Auftritt in der „Kirche“ (religiöse Bezüge werden weitgehend zurückgenommen) ist eine detailreiche Studie einer kapriziösen Frau, so selbstbewusst wie eifersüchtig-unsicher, auf ihre Gefühle und ihre kleine Kunst-Welt konzentriert, unmittelbar und ohne innere Reflexion oder Distanz reagierend und von daher für den zynischen Strategen Scarpia ein leichtes Opfer.

So geriert sich Liu auch im zweiten Akt: Toscas Zusammenbruch ist vollkommen, sie hat dem gierigen Scarpia nichts entgegenzusetzen und ist ihm schon erlegen, noch bevor er die seelische Folter richtig anlegt. Umso überraschender die Wendung, wenn Tosca in höchster Verzweiflung ihre Frisur rauft und eine der langen, stabilen Haarnadeln in die Hand bekommt …

Scarpia bleibt ein steifer Geselle

Pörzgens Konzept, sich auf die Personen zu konzentrieren, geht bei den anderen Hauptdarstellern nicht so abgründig auf: Rhys Jenkins ist zwar ein glorios singender Scarpia, wenn er nicht gerade das Forte mit Gewalt herausdrückt, aber als Darsteller ein steifer Geselle. Der eiskalt berechnende, überlegen gefährliche Polizeichef wirkt wie ein gemütlicher Bär, der auch einmal ein Abenteuer erleben will. Seine unbeherrschten Ausbrüche sind plump, seine abgründige Autorität glaubt man ihm nicht. Mimik und körperliche Reaktionen zeigt der Mann mit dem wuscheligen grauen Haar so gut wie keine. Die unbeherrschte Aggressivität – er würgt den Boten der Nachricht von der Niederlage der Österreicher in der Schlacht bei Marengo – passt nicht zum subtilen Sadismus: Scarpia weidet sich an den Qualen seiner Opfer, bevor er sich auf sie stürzt. Bei Jenkins bleiben diese Aspekte vordergründig.

Mit Ricardo Tamura hat Osnabrück einen Tenor mit italienischem Timbre, der aber – trotz eines tollen Diminuendos in „E lucevan le stelle“ – mit langsam rollendem Vibrato und mühevoll angestrebter Flexibilität singt. Über viele Farben verfügt seine Stimme nicht, aber die Phrasierung und die melodische Sensibilität seines Singens nehmen für ihn ein. Die übereifrigen Bravo-Rufe, vermutlich eines Claqueurs oder Fans, waren eher peinlich. In den kleineren Rollen lässt Mark Hamman etwas von den Existenzängsten des subalternen Spoletta ahnen, José Gallisa gurgelt sich mit plumpem Auftritt durch die Partie des Angelotti, Gennadijus Bergorulko gibt den Mesner in einem Pullover in den Farben der italienischen Trikolore als den üblichen windelweichen Schelm mit Schluckauf.

Der Traum einer leidenden Seele

Das Zwischenspiel vor dem dritten Akt entwickelt Mascha Pörzgen zu einem sinnreichen Moment innerer Reflexion, aber auch einem Signal der Einsamkeit: Sie inszeniert einen Traum des schlafenden Cavaradossi, in dem der sensibel singende Leander Averdiek statt als Hirtenstimme hinter der Szene eine von Goldlicht überstrahlte Symbolfigur wird: Traum einer glückenden Existenz oder Manifestation einer leidenden Seele, die sich nur jenseits einer brutalen Realität melancholisch ausdrücken kann? Die Waffensegnung im „Te Deum“ dagegen bringt höchstens leere Provokation; der Machtkomplex von Religion und Politik zeigt sich nicht in Uniformen und Gewehren, sondern in der kaum sichtbaren Infiltration der Lebensbereiche: Scarpia ist ein Geheimdienstler, kein General.

Wieder einmal zeigt Andreas Hotz mit dem Osnabrücker Symphonieorchester, wo seine Stärken als Dirigent liegen: Die knappe Einleitung ist in ihrer ganzen Dichte erfasst; Hotz nimmt sie nicht als stimmungsbildendes Entrée, sondern als kompositorische Delikatesse in ihren Sequenzierungen, ihrer scharfen Rhythmik, ihren pointierten Bläsermotiven, ihren Akzenten und dynamischen Nuancen. So nähert er sich der Partitur nicht aus der Sicht eines schwelgerischen Connaisseurs, sondern eines genauen Beobachters und Gestalters.

Faszinierende Farben im Orchester

Hotz interessiert sich auch nicht für knallige Dramatik, sondern hört die lyrischen Aspekte von Puccinis Musik aus. Das führt zu faszinierenden Farben, weil auch das Orchester diesem eher verhaltenen Ansatz folgt. Manchmal wünschte man sich jedoch einen saftigeren Melodiefluss, einen energisch durchgezogenen Bogen und im berühmten, von Glockenklängen durchzogenen römischen Morgengrauen, eine zupackendere Akzentuierung. Die untergründigen Aspekte der Musik bleiben zahnlos.

Sierd Quarré hat Chor und Kinderchor für das „Te Deum“ auf Klarheit und sonore Wucht eingeschworen; die Kinder agieren in Alltagskleidung und betonen so die Zeit- und Ortlosigkeit einer Handlung, die mehr über die subtilen Mechanismen eines politisch-religiösen Machtkomplexes verrät, als die pseudo-historische Einkleidung des Stücks glauben machen will.

Weitere Vorstellungen: 30. Januar; 8., 19., 22. Februar; 1., 16., 28. März; 2., 9., 17., 27. April. Info: www.theater-osnabrueck.de




87 Jahre nach der Premiere: Theater Osnabrück entdeckt Hans Gáls faszinierend vielfältige Oper „Das Lied der Nacht“

Lina Liu in Hans Gáls "Das Lied der Nacht" am Theater Osnabrück. Foto; Jörg Landsberg

Lina Liu in Hans Gáls „Das Lied der Nacht“ am Theater Osnabrück. (Foto: Jörg Landsberg)

Wer sich auf „Das Lied der Nacht“ von Hans Gál einlässt, taucht tief hinab ins Unterbewusste, in die Welt geheimnisvoller Symbole, vieldeutiger Bilder. Schon der Titel öffnet den Raum der Interpretation und Assoziation: Steht das „Lied“ nicht für die Macht der Musik als der „heiligsten“ aller Künste mit ihrer transzendierenden Kraft? Steht die „Nacht“ nicht für das unergründliche Reich, in dem der Romantiker das wahre Wesen der Dinge erfährt, in dem Bergendes und Bedrohendes in ambivalentem Wechsel auf die Seele einwirken? In dem auch die Psychoanalyse und die Traumforschung den innersten Kräften des Menschen auf die Spur zu kommen hoffen?

In der Tat: „Das Lied der Nacht“, das am Theater Osnabrück nun nach 87 Jahren eine heftig applaudierte Wiederaufführung erlebte, lässt sich von mannigfaltigen Standpunkten aus erschließen. Die Geschichte aus einem mythischen sizilianischen Reich, dessen König tot und dessen Prinzessin keinen Gatten wählen will, könnte als Märchen gelesen werden: Eine Schwester der Prinzessin Turandot (Puccinis Oper hatte genau einen Tag nach Hans Gáls Werk Premiere!), die sich dem Mann verweigert und durch die Rettungstat eines geheimnisvollen Unbekannten die Liebe erfährt.

Zu Gast in Osnabrück: Eva Fox Gál, die Tochter des Komponisten. In einem Foyergespräch berichtete sie aus dem Leben ihres Vaters, der 1933 als Direktor der Mainzer Musikhochschule abgesetzt wurde, in seine österreichische Heimat floh und nach dem "Anschluss" 1938 aus Wien nach London emigrieren musste. Hans Gál lebte bis zu seinem Tod 1987 in Edinburgh. Foto: Werner Häußner

Zu Gast in Osnabrück: Eva Fox Gál, die Tochter des Komponisten. In einem Foyergespräch berichtete sie aus dem Leben ihres Vaters, der 1933 als Direktor der Mainzer Musikhochschule abgesetzt wurde, in seine österreichische Heimat floh und nach dem „Anschluss“ 1938 aus Wien nach London emigrieren musste. Hans Gál lebte bis zu seinem Tod 1987 in Edinburgh. (Foto: Werner Häußner)

Oder als Künstleroper über die Macht der Musik, die nur wirkt, wenn sie ein Künstler aus dunkel-schöpferischem Urgrund heraus zum Klingen bringt, aber scheitert, wenn er als konkrete Person ins Licht der Dinge tritt. Der „Name“ des mysteriösen Sängers, der die Prinzessin nachts durch sein Lied bewegt und sie schließlich vor dem gewalttätigen Zugriff eines Freiers rettet, spielt ebenso eine wichtige Rolle wie der Kuss, den der schwarzverhüllte Mann fordert.

„Turandot“ lässt grüßen – wenn auch Gál und Puccini nichts von den Plänen des jeweils anderen gewusst haben dürften: ein Zeichen, wie die Themen damals in der Luft lagen. Im Gegensatz zu Puccinis von ihm unkomponiertem Finale, einer Apotheose der Liebe, geht Hans Gáls Werk tragisch zu Ende. Die Prinzessin ist schockiert, als sich zeigt, wer der „unbekannte Sänger“ in der Realität ist – und dieser tötet sich vor ihren und des ganzen Volkes Augen.

Mascha Pörzgen hat die vielgestaltige Musik und das präzise, manchmal überdeutlich erklärende Libretto des Dichters Karl Michael von Levetzow in einer Inszenierung umgesetzt, die sich auf die gescheiterte Entwicklung eines Mädchens an der Bruchstelle vom Kind zur Erwachsenen konzentriert, aber die romantischen Seiten nicht aus dem Blick verliert.

Konfrontiert mit der Forderung des Staates, ihre Existenz über ihren privaten Raum hinaus zu gestalten – Heirat und Wahl eines Königs –, flüchtet Prinzessin Lianora in den Rückzug. Aber die bergende Aufnahme in ein Kloster wird ihr verweigert: Eine riesenhafte Erscheinung, die „steinerne“ Äbtissin, verweist sie zurück auf „die Nacht“ in ihr selbst und auf das „Erbeben“ – die Wahrnehmung der eigenen Person. Lianora, das ist eine „Raupe“, die sich erst entwickeln muss: Frank Fellmann, der Ausstatter, hat dafür eine szenische Chiffre gefunden – das bunte Kinderkleidchen von Lianora, das sie nicht ablegen wird.

Beziehungsreich symbolhafte Bilder

Mit der nächtlichen Trias von Lied, Rettung und Kuss könnte der unbekannte Sänger Lianora den Schritt zur gefestigten Persönlichkeit, zur bewusst angenommenen Sexualität, zur heilenden Kraft der Liebe öffnen. „Wie anders ist die Welt“, bekennt Lianora. Pörzgen inszeniert den traumversponnenen zweiten Akt in beziehungsreich-symbolhaften Bildern mit genau ausdeutender Sensibilität aus einer souveränen Kenntnis des Werks. Frank Fellmanns Bilder helfen ihr dabei ungemein. Nächtliche Bläue, schlierende Projektionen von Wasser, in dem Schlangen – zwiespältige Tiersymbole der Weisheit wie der Bedrohung – treiben, der Rahmen einer hohen Tür als Zugang, Ausgang, Bildausschnitt: Die Bühne greift tief in das Repertoire des Symbolischen, bleibt aber nicht in der Reproduktion bekannter Chiffren und Bilder stecken, sondern entwickelt eine unangestrengte Kreativität.

Ambivalente Faszination der Nacht: Lina Liu (Lianora) und Ferdinand von Bothmer (Der namenlose Sänger) im zweiten Akt der Oper. Foto: Jörg Landsberg

Ambivalente Faszination der Nacht: Lina Liu (Lianora) und Ferdinand von Bothmer (Der namenlose Sänger) im zweiten Akt der Oper. (Foto: Jörg Landsberg)

Auch im dritten Akt greifen beziehungsreiche Personenregie und bildnerische Symbolik aussagestark ineinander. Jetzt beherrscht ein riesiges Brautkleid den Bühnenraum, das nach der Katastrophe zerbricht und den Zugang zum Kloster öffnet: Diesmal ist der Eintritt für die gescheiterte Prinzessin frei, die Äbtissin auf menschliches Maß geschrumpft. Lianora bekommt den grauen Schleier – auch sie wird wie die mahnende Überfrau versteinern.

Mascha Pörzgens Regie – ein echter Wurf – kommt dem Stück so nahe, weil sie darauf verzichtet, Eindeutigkeit herstellen zu wollen. Sie bewahrt dem Stück seine Offenheit und trifft damit auch die romantische Seite: Denn das Transzendieren der Alltagswelt, für die der Chor mit seinen Bonbonrosa-Schattierungen bei den Damen und knallbunten Hosen bei den Herren steht, ist Chance und Gefahr zugleich: Hinter der Welt der Dinge lockt die Erfüllung, lauert aber auch das Dämonisch-Verderbliche.

Die Osnabrücker Inszenierung lässt die Wege offen, stellt Hans Gáls Oper in einen Zusammenhang mit Werken wie Claude Debussys „Pelléas et Mélisande“, aber auch „Der ferne Klang“ Franz Schrekers, Pietro Mascagnis „Iris“, vielleicht auch Eugen d’Alberts „Die toten Augen“. So erweist sich „Das Lied der Nacht“ als ein Beispiel symbolistischer Spätromantik, die heute eine frische Faszination gewonnen hat.

Moderne Klarheit und sensible Klangfacetten

Für die Musik gilt das umso mehr: Hans Gál ist einer der Verfemten aus der Nazizeit, der nach 1945 im Überschwang und der nachfolgenden dogmatischen Verfestigung der „Neuen Musik“ nachhaltig vergessen wurde. Die Entdeckungswelle der letzten beiden Jahrzehnte hat sein Werk nicht freigelegt, obwohl es mittlerweile eine ganze Anzahl von Aufnahmen seiner Sinfonik, Kammer- und Konzertmusik gibt.

Die "steinerne Äbtissin" (Gritt Gnauck) weist die Prinzessin (Lina Liu) ab. Foto: Jörg Landsberg

Die „steinerne Äbtissin“ (Gritt Gnauck) weist die Prinzessin (Lina Liu) ab. (Foto: Jörg Landsberg)

Wie uneingeschränkt die Musik sich für eine Wiederaufführung empfiehlt, machen GMD Andreas Hotz und das hervorragend disponierte Osnabrücker Symphonieorchester deutlich. Gál verbindet moderne Klarheit und Strenge der Form, die vielleicht an Paul Hindemith erinnert, mit einer sensiblen Auffächerung klanglicher Möglichkeiten. Doch Gál ist nie klangverliebt, verbietet es sich, Farben aus Lust zu schichten und zu mischen. Sicher verleugnet er in der Magie des Orchesterklangs das Erbe Wagners nicht; sicher blitzt in der sprühenden Instrumentation der Funke Richard Strauss` aus der Partitur. Aber Gál wirkt nie epigonisch, bleibt auf seine Art unvergleichlich. Hotz realisiert diese musikalische Sprache mit unendlichem dynamischem Feingefühl, mit Gespür für feine Lasuren und mit einer vom Orchester umgesetzten, staunenswerten Präzision.

Das Theater Osnabrück hat in den letzten Jahren eine Reihe beachtlicher Ausgrabungen gezeigt, von Antonin Dvoraks "Vanda" bis Manfred Gurlitts "Die Soldaten". Foto: Werner Häußner

Das Theater Osnabrück hat in den letzten Jahren eine Reihe beachtlicher Ausgrabungen gezeigt, von Antonin Dvoraks „Vanda“ bis Manfred Gurlitts „Die Soldaten“. (Foto: Werner Häußner)

Auch das Osnabrücker Gesangsensemble gibt sich nicht nur darstellerisch den Herausforderungen des unbekannten Werkes hin: Lina Liu stellt sich bewundernswert ihrer fordernden Rolle als Lianora. Sie muss permanente Präsenz auf der Bühne zeigen, die Facetten des Charakters zwischen verwöhntem Kind und verunsicherter Frau, zwischen Angst und Neugier, Trotz und Erschütterung auch im Singen entwickeln. Das schafft sie mit Charme und Tiefe.

Gritt Gnauck trifft als Äbtissin mit ausgeglichener Sonorität die dunklen Regionen des Alt und die flammende Höhe des Mezzo – eine innere Stimme eher als eine Erscheinung der Außenwelt, die der kindlichen Lianora als ambivalente Autorität begegnet.

Ferdinand von Bothmer verbindet als namenloser Sänger und als Bootsmann Ciullo die inneren und die äußere Sphäre, singt mit sattelfestem Tenor die strömenden Legati der nächtlichen Bezauberungen. Rhys Jenkins betont mit der Stimme, was in seinem bewusst affektiertem Kostüm szenisch schon angelegt ist: Er gehört als berechnender, seine Forderungen mit Gewalt eintreibender Freier Tancred ganz in die Welt der politischen Realitäten, denen Lianora zu entkommen sucht.

José Gallisa demonstriert vibratosatt und dunkel, wie hilflos der Kanzler und Reichsverweser der komplexen Psyche der Prinzessin begegnet; auch Susann Vent-Wunderlich als Hämone, eine Dame des Gefolges, setzt eher auf pragmatische Lösungen: Die Härte ihrer Stimme entspricht dem Charakter; am Ende ist die Kluft zwischen den beiden Frauen offenbar.

Nicht nur der von Markus Lafleur einstudierte Chor, auch die Technik mit Bühnenmeister Dettmar Jankowski und Beleuchtungsmeister Uwe Tepe tragen maßgeblich zu diesem herausragenden Opernabend bei. Früher standen nach einer solchen Aufführung die Intendanten Schlange, um den Erfolg auch an ihr Haus zu holen – heute ist leider eher davon auszugehen, dass eine einmal gemachte Entdeckung fürs Nachspielen uninteressant geworden ist. Schade um Hans Gáls faszinierendes Werk, aber man soll die Hoffnung ja nie aufgeben.

Vorstellungen am 10., 12., 14., 23. und 25. Mai. Karten: Tel. (0541) 76 000 76
Info: http://www.theater-osnabrueck.de/spielplan/spielplandetail.html?stid=174




Vordergründig aktualisiert: Manfred Gurlitts Oper „Soldaten“ in Osnabrück

Susann Vent-Wunderlich als Marie in Manfred Gurlitts Oper "Soldaten" in Osnabrück. Foto: Jörg Landsberg

Susann Vent-Wunderlich als Marie in Manfred Gurlitts Oper „Soldaten“ in Osnabrück. Foto: Jörg Landsberg

Von runden Geburtstagen und ähnlichen Gedenkanlässen nimmt die Musikszene oft nur dann Notiz, wenn es etwas zu vermarkten gibt. Bei Manfred Gurlitt wird es zum 125. wohl nicht anders sein. Geboren am 6. September 1890, gehört Gurlitt zu den komponierenden Dirigenten seiner an musikalischen Talenten so reichen Zeit – von Richard Strauss bis Wilhelm Furtwängler. Der Name der Familie ist durch die Sammlung Cornelius Gurlitt und die damit wieder ausgelöste Debatte um NS-Raubkunst bekannt geworden.

Manfred Gurlitt dagegen ist einer der vielen Vergessenen. Trotz seines Eintritts in die NSDAP wurde er jüdischer Vorfahren verdächtigt und 1937 seine Mitgliedschaft für nichtig erklärt. Der Druck auf ihn nahm zu, so dass er zwei Jahre später nach Japan emigrierte. Doch auch im Fernen Osten war er vor dem langen Arm der Nazis nicht sicher.

Nach dem Krieg wirkte Gurlitt bis zu seinem Tod 1972 segensreich in Japan; in seiner Heimat blieb er unbeachtet. Einzelne Versuche, sein Werk auf die Opernbühne zurückzubringen – 1997 „Wozzeck“ in Gießen, 2003 „Nordische Ballade“ in Trier, 2010 „Nana“ in Erfurt – blieben folgenlos, Dabei hat zuletzt die parallele Aufführung der „Wozzeck“-Vertonungen Gurlitts und Bergs in Darmstadt 2013/14 gezeigt, dass man die Musik des Nachromantikers durchaus ernst nehmen sollte.

Mit diesem Eindruck verlässt man auch die neueste Gurlitt-Bemühung: Das Stadttheater Osnabrück brachte „Soldaten“ heraus, 1930 in Düsseldorf uraufgeführt. Düsseldorf hätte – das sei nebenbei bemerkt – durchaus noch etwas gut zu machen: Die für 1933 geplante Uraufführung von „Nana“ mit einem Libretto von Max Brod nach Émile Zola hatten die Nazis vereitelt; die Oper erschien erst 1958 in Dortmund.

Dominante Mutter: Joslyn Rechter (Frau Stolzius) und Jan Friedrich Eggers (Sohn Stolzius). Foto: Jörg Landsberg

Dominante Mutter: Joslyn Rechter (Frau Stolzius) und Jan Friedrich Eggers (Sohn Stolzius). Foto: Jörg Landsberg

Von Takt zu Takt spürt man in Osnabrück den versierten Theatermenschen: Gurlitt entwirft für die drei Akte seiner gut zweistündigen Oper konzentrierte Bilder, setzt den Kontrast zwischen Ensembleszenen und reflektierenden Monologen geschickt ein. Zwischenspiele gliedern das Drama, das Gurlitt selbst aus der Vorlage von Jakob Michael Reinhold Lenz destilliert hat. Die altertümliche Sprache behält er als ein distanzierendes Element bei.

Ähnlich wie in seinem „Wozzeck“ wählt er ein lakonisches musikalisches Idiom: Selten setzt er auf impressionistische Klangraffinesse, oft wählt er einen herben, harmonisch schroffen Ton, manchmal – auch das muss gesagt sein – fehlt ihm die originelle klangliche oder harmonische Erfindung.

Auch wenn Strauss und Schreker weiter waren: Die lapidare, eher kommentierende als emotional mitreißende Musik passt zu Gurlitts betontem sozialpsychologischem Ansatz. Skizzenhaft, aber nicht schablonisiert die Charaktere, komplex, aber klar herausgearbeitet ihre Beziehungen zueinander.

„Soldaten“ zeigt die Eltern-Kind-Beziehungen als unheilvoll: Marie, die weibliche Hauptfigur, muss ihre erwachenden Beziehungswünsche den Geschäftsinteressen ihres Vaters Wesener unterordnen. Fabrikant Stolzius kann sich letztlich nur durch einen Akt der Gewalt von seiner dominanten Mutter absetzen. Und der – namenlos bleibende – Sohn der Gräfin de la Roche hat keine Chance, den energischen Geboten seiner standesbewussten Mutter zu entkommen. Die titelgebenden Soldaten bilden eine Gruppe sozialer Desperados, zynisch, schmarotzerhaft, empathielos.

Die Gräfin (Joslyn Rechter) und der Sohn (Daniel Wagner). Foto: Jörg Landsberg

Die Gräfin (Joslyn Rechter) und der Sohn (Daniel Wagner). Foto: Jörg Landsberg

Ein faszinierender, vielschichtiger Stoff. Das Theater Osnabrück hat ihn dem jungen Regisseur Florian Lutz anvertraut, der im Rheinland durch die heftig umstrittene „Norma“ in Bonn auf sich aufmerksam gemacht hat. Sein Ansatz, die Geschichte aus dem Fokus auf individuelle Moral herauszurücken und gesellschaftlichen Bedingungen zuzuordnen, macht Sinn. Die Realisation auf der Osnabrücker Bühne scheitert dennoch: Lutz will den Stoff mit aktuellen politischen Assoziationen aktualisieren, bleibt aber im vordergründigen Zitieren und distanzloser Übertragung hängen. Diese Methode ist schon einmal schief gegangen, als er in Regensburg Wagners Frühwerk „Die Feen“ in das Beziehungsgeflecht der Wagner-Familie gezwungen hat. In Osnabrück ging es nicht besser.

Dass Lutz persönliche Schicksale als Ergebnis von Produktionsverhältnissen ansieht, könnte ja ein ertragreicher Ansatz sein: In der Firma Stolzius steht ein Automat eines weltweit verbreiteten koffeinhaltigen Getränks; eine Video-Botschaft verkündet, die Brause könne auch „a better world“ machen. Wir sind in der globalisierten Welt angekommen. Marie Wesener ist Tochter eines Waffenhändlers, der ziemlich skrupellos schweres Material verschiebt, seiner Tochter aber Vergnügungen wie die „Komödie“ verbietet. Kein Wunder, er scheint ja Muslim zu sein: Marie zieht jedenfalls ein Kopftuch auf. Auch das wirkt noch schlüssig: Kulturelle Unterschiede verursachen persönliche Tragödien.

Als es dann um die Soldaten geht, bleut Lutz seine Botschaft den Zuschauern mit dem dicken Knüppel ein – und damit sind nicht die „Rambo“-Szenen gemeint, die auf die flexibel beweglichen Bühnenelemente Sebastian Hannaks projiziert werden. Bundeswehr-Soldaten saufen und prügeln in einer sandsackbewehrten Stellung, Waterboarding und andere Abu-Ghreib-Foltermethoden garnieren das Gelage. Später mutiert die Gräfin de la Roche zur Gräfin Ursula von der Leyen, die ihre Kinder im Schlafanzug um den Weihnachtsbaum antreten lässt und sich mit säuglingsfütternden Soldaten den Medien präsentiert: Stimmt, die Bundeswehr soll ja familienfreundlicher werden! In solchen vordergründigen Bildern ertrinkt nicht nur Lenz‘ Sozialdrama; auch die aktuelle Relevanz schrumpft zur bloßen Behauptung.

Damit's auch jeder merkt: Marie wird zur "Hure" gestempelt. Susann Vent-Wunderlich in Manfred Gurlitts "Soldaten". Foto: Jörg Landsberg

Damit’s auch jeder merkt: Marie wird zur „Hure“ gestempelt. Susann Vent-Wunderlich in Manfred Gurlitts „Soldaten“. Foto: Jörg Landsberg

Damit’s auch jeder merkt, darf Marie auf ihrem Abstieg vom schüchtern verliebten Mädchen zum ausgestoßenen Opfer „Hure“ an die Wand krakeln. Zum Glück vermittelt Susann Vent-Wunderlich singend einige Aspekte mehr als die Grobschnitt-Regie. Ihr farbenreicher Sopran kann zärtliche Erwartung, aber auch Wut, Verlorenheit und Erschöpfung ausdrücken. Joslyn Rechters Bühnenerfahrung bewährt sich als Fabrikantengattin im Strickkostüm und als glamouröse, parkettsichere Gräfin. Jan Friedrich Eggers beleuchtet die Facetten des jungen Stolzius, der vom noblen Liebhaber zum rächenden Täter und Opfer zugleich mutiert.

Die Soldaten – Per Håkan Precht, Sungkon Kim, Silvio Heil, Genadijus Bergorulko – singen kalt, klar und kantig. José Gallisa ist als Wesener eine autoritäre Vaterfigur mit wuchtiger, aber unflexibler Stimme. Daniel Wagner als eingeschüchterter Sohn der Gräfin zeigt einen klangvoll hellen, aber oft zu flach positionierten Tenor. Das halbe Dutzend kleiner Rollen ist adäquat besetzt, auch Chor und Statisten bewegen sich in den sich rasch wandelnden Räumen sicher und gekonnt.

Die sorgfältige erarbeitete Klanglandschaft im Orchester, erarbeitet von dem bereits in Mainz als hoch begabt aufgefallenen Osnabrücker GMD Andreas Hotz, war in der besuchten Vorstellung bei Kapellmeister An-Hoon Song in guten Händen. Die Osnabrücker Symphoniker waren den sperrigen Reibungen ebenso gewachsen wie den emotional aufbegehrenden Momenten großen Klangs. Ein musikalisch lohnender Abend; die theatralische Bemühung möchte man mit einem Wort von Jakob Michael Reinhold Lenz bezeichnen: malhonett.

Weitere Informationen: http://www.theater-osnabrueck.de/spielplan/spielplandetail.html?=&stid=929