87 Jahre nach der Premiere: Theater Osnabrück entdeckt Hans Gáls faszinierend vielfältige Oper „Das Lied der Nacht“

Lina Liu in Hans Gáls "Das Lied der Nacht" am Theater Osnabrück. Foto; Jörg Landsberg

Lina Liu in Hans Gáls „Das Lied der Nacht“ am Theater Osnabrück. (Foto: Jörg Landsberg)

Wer sich auf „Das Lied der Nacht“ von Hans Gál einlässt, taucht tief hinab ins Unterbewusste, in die Welt geheimnisvoller Symbole, vieldeutiger Bilder. Schon der Titel öffnet den Raum der Interpretation und Assoziation: Steht das „Lied“ nicht für die Macht der Musik als der „heiligsten“ aller Künste mit ihrer transzendierenden Kraft? Steht die „Nacht“ nicht für das unergründliche Reich, in dem der Romantiker das wahre Wesen der Dinge erfährt, in dem Bergendes und Bedrohendes in ambivalentem Wechsel auf die Seele einwirken? In dem auch die Psychoanalyse und die Traumforschung den innersten Kräften des Menschen auf die Spur zu kommen hoffen?

In der Tat: „Das Lied der Nacht“, das am Theater Osnabrück nun nach 87 Jahren eine heftig applaudierte Wiederaufführung erlebte, lässt sich von mannigfaltigen Standpunkten aus erschließen. Die Geschichte aus einem mythischen sizilianischen Reich, dessen König tot und dessen Prinzessin keinen Gatten wählen will, könnte als Märchen gelesen werden: Eine Schwester der Prinzessin Turandot (Puccinis Oper hatte genau einen Tag nach Hans Gáls Werk Premiere!), die sich dem Mann verweigert und durch die Rettungstat eines geheimnisvollen Unbekannten die Liebe erfährt.

Zu Gast in Osnabrück: Eva Fox Gál, die Tochter des Komponisten. In einem Foyergespräch berichtete sie aus dem Leben ihres Vaters, der 1933 als Direktor der Mainzer Musikhochschule abgesetzt wurde, in seine österreichische Heimat floh und nach dem "Anschluss" 1938 aus Wien nach London emigrieren musste. Hans Gál lebte bis zu seinem Tod 1987 in Edinburgh. Foto: Werner Häußner

Zu Gast in Osnabrück: Eva Fox Gál, die Tochter des Komponisten. In einem Foyergespräch berichtete sie aus dem Leben ihres Vaters, der 1933 als Direktor der Mainzer Musikhochschule abgesetzt wurde, in seine österreichische Heimat floh und nach dem „Anschluss“ 1938 aus Wien nach London emigrieren musste. Hans Gál lebte bis zu seinem Tod 1987 in Edinburgh. (Foto: Werner Häußner)

Oder als Künstleroper über die Macht der Musik, die nur wirkt, wenn sie ein Künstler aus dunkel-schöpferischem Urgrund heraus zum Klingen bringt, aber scheitert, wenn er als konkrete Person ins Licht der Dinge tritt. Der „Name“ des mysteriösen Sängers, der die Prinzessin nachts durch sein Lied bewegt und sie schließlich vor dem gewalttätigen Zugriff eines Freiers rettet, spielt ebenso eine wichtige Rolle wie der Kuss, den der schwarzverhüllte Mann fordert.

„Turandot“ lässt grüßen – wenn auch Gál und Puccini nichts von den Plänen des jeweils anderen gewusst haben dürften: ein Zeichen, wie die Themen damals in der Luft lagen. Im Gegensatz zu Puccinis von ihm unkomponiertem Finale, einer Apotheose der Liebe, geht Hans Gáls Werk tragisch zu Ende. Die Prinzessin ist schockiert, als sich zeigt, wer der „unbekannte Sänger“ in der Realität ist – und dieser tötet sich vor ihren und des ganzen Volkes Augen.

Mascha Pörzgen hat die vielgestaltige Musik und das präzise, manchmal überdeutlich erklärende Libretto des Dichters Karl Michael von Levetzow in einer Inszenierung umgesetzt, die sich auf die gescheiterte Entwicklung eines Mädchens an der Bruchstelle vom Kind zur Erwachsenen konzentriert, aber die romantischen Seiten nicht aus dem Blick verliert.

Konfrontiert mit der Forderung des Staates, ihre Existenz über ihren privaten Raum hinaus zu gestalten – Heirat und Wahl eines Königs –, flüchtet Prinzessin Lianora in den Rückzug. Aber die bergende Aufnahme in ein Kloster wird ihr verweigert: Eine riesenhafte Erscheinung, die „steinerne“ Äbtissin, verweist sie zurück auf „die Nacht“ in ihr selbst und auf das „Erbeben“ – die Wahrnehmung der eigenen Person. Lianora, das ist eine „Raupe“, die sich erst entwickeln muss: Frank Fellmann, der Ausstatter, hat dafür eine szenische Chiffre gefunden – das bunte Kinderkleidchen von Lianora, das sie nicht ablegen wird.

Beziehungsreich symbolhafte Bilder

Mit der nächtlichen Trias von Lied, Rettung und Kuss könnte der unbekannte Sänger Lianora den Schritt zur gefestigten Persönlichkeit, zur bewusst angenommenen Sexualität, zur heilenden Kraft der Liebe öffnen. „Wie anders ist die Welt“, bekennt Lianora. Pörzgen inszeniert den traumversponnenen zweiten Akt in beziehungsreich-symbolhaften Bildern mit genau ausdeutender Sensibilität aus einer souveränen Kenntnis des Werks. Frank Fellmanns Bilder helfen ihr dabei ungemein. Nächtliche Bläue, schlierende Projektionen von Wasser, in dem Schlangen – zwiespältige Tiersymbole der Weisheit wie der Bedrohung – treiben, der Rahmen einer hohen Tür als Zugang, Ausgang, Bildausschnitt: Die Bühne greift tief in das Repertoire des Symbolischen, bleibt aber nicht in der Reproduktion bekannter Chiffren und Bilder stecken, sondern entwickelt eine unangestrengte Kreativität.

Ambivalente Faszination der Nacht: Lina Liu (Lianora) und Ferdinand von Bothmer (Der namenlose Sänger) im zweiten Akt der Oper. Foto: Jörg Landsberg

Ambivalente Faszination der Nacht: Lina Liu (Lianora) und Ferdinand von Bothmer (Der namenlose Sänger) im zweiten Akt der Oper. (Foto: Jörg Landsberg)

Auch im dritten Akt greifen beziehungsreiche Personenregie und bildnerische Symbolik aussagestark ineinander. Jetzt beherrscht ein riesiges Brautkleid den Bühnenraum, das nach der Katastrophe zerbricht und den Zugang zum Kloster öffnet: Diesmal ist der Eintritt für die gescheiterte Prinzessin frei, die Äbtissin auf menschliches Maß geschrumpft. Lianora bekommt den grauen Schleier – auch sie wird wie die mahnende Überfrau versteinern.

Mascha Pörzgens Regie – ein echter Wurf – kommt dem Stück so nahe, weil sie darauf verzichtet, Eindeutigkeit herstellen zu wollen. Sie bewahrt dem Stück seine Offenheit und trifft damit auch die romantische Seite: Denn das Transzendieren der Alltagswelt, für die der Chor mit seinen Bonbonrosa-Schattierungen bei den Damen und knallbunten Hosen bei den Herren steht, ist Chance und Gefahr zugleich: Hinter der Welt der Dinge lockt die Erfüllung, lauert aber auch das Dämonisch-Verderbliche.

Die Osnabrücker Inszenierung lässt die Wege offen, stellt Hans Gáls Oper in einen Zusammenhang mit Werken wie Claude Debussys „Pelléas et Mélisande“, aber auch „Der ferne Klang“ Franz Schrekers, Pietro Mascagnis „Iris“, vielleicht auch Eugen d’Alberts „Die toten Augen“. So erweist sich „Das Lied der Nacht“ als ein Beispiel symbolistischer Spätromantik, die heute eine frische Faszination gewonnen hat.

Moderne Klarheit und sensible Klangfacetten

Für die Musik gilt das umso mehr: Hans Gál ist einer der Verfemten aus der Nazizeit, der nach 1945 im Überschwang und der nachfolgenden dogmatischen Verfestigung der „Neuen Musik“ nachhaltig vergessen wurde. Die Entdeckungswelle der letzten beiden Jahrzehnte hat sein Werk nicht freigelegt, obwohl es mittlerweile eine ganze Anzahl von Aufnahmen seiner Sinfonik, Kammer- und Konzertmusik gibt.

Die "steinerne Äbtissin" (Gritt Gnauck) weist die Prinzessin (Lina Liu) ab. Foto: Jörg Landsberg

Die „steinerne Äbtissin“ (Gritt Gnauck) weist die Prinzessin (Lina Liu) ab. (Foto: Jörg Landsberg)

Wie uneingeschränkt die Musik sich für eine Wiederaufführung empfiehlt, machen GMD Andreas Hotz und das hervorragend disponierte Osnabrücker Symphonieorchester deutlich. Gál verbindet moderne Klarheit und Strenge der Form, die vielleicht an Paul Hindemith erinnert, mit einer sensiblen Auffächerung klanglicher Möglichkeiten. Doch Gál ist nie klangverliebt, verbietet es sich, Farben aus Lust zu schichten und zu mischen. Sicher verleugnet er in der Magie des Orchesterklangs das Erbe Wagners nicht; sicher blitzt in der sprühenden Instrumentation der Funke Richard Strauss` aus der Partitur. Aber Gál wirkt nie epigonisch, bleibt auf seine Art unvergleichlich. Hotz realisiert diese musikalische Sprache mit unendlichem dynamischem Feingefühl, mit Gespür für feine Lasuren und mit einer vom Orchester umgesetzten, staunenswerten Präzision.

Das Theater Osnabrück hat in den letzten Jahren eine Reihe beachtlicher Ausgrabungen gezeigt, von Antonin Dvoraks "Vanda" bis Manfred Gurlitts "Die Soldaten". Foto: Werner Häußner

Das Theater Osnabrück hat in den letzten Jahren eine Reihe beachtlicher Ausgrabungen gezeigt, von Antonin Dvoraks „Vanda“ bis Manfred Gurlitts „Die Soldaten“. (Foto: Werner Häußner)

Auch das Osnabrücker Gesangsensemble gibt sich nicht nur darstellerisch den Herausforderungen des unbekannten Werkes hin: Lina Liu stellt sich bewundernswert ihrer fordernden Rolle als Lianora. Sie muss permanente Präsenz auf der Bühne zeigen, die Facetten des Charakters zwischen verwöhntem Kind und verunsicherter Frau, zwischen Angst und Neugier, Trotz und Erschütterung auch im Singen entwickeln. Das schafft sie mit Charme und Tiefe.

Gritt Gnauck trifft als Äbtissin mit ausgeglichener Sonorität die dunklen Regionen des Alt und die flammende Höhe des Mezzo – eine innere Stimme eher als eine Erscheinung der Außenwelt, die der kindlichen Lianora als ambivalente Autorität begegnet.

Ferdinand von Bothmer verbindet als namenloser Sänger und als Bootsmann Ciullo die inneren und die äußere Sphäre, singt mit sattelfestem Tenor die strömenden Legati der nächtlichen Bezauberungen. Rhys Jenkins betont mit der Stimme, was in seinem bewusst affektiertem Kostüm szenisch schon angelegt ist: Er gehört als berechnender, seine Forderungen mit Gewalt eintreibender Freier Tancred ganz in die Welt der politischen Realitäten, denen Lianora zu entkommen sucht.

José Gallisa demonstriert vibratosatt und dunkel, wie hilflos der Kanzler und Reichsverweser der komplexen Psyche der Prinzessin begegnet; auch Susann Vent-Wunderlich als Hämone, eine Dame des Gefolges, setzt eher auf pragmatische Lösungen: Die Härte ihrer Stimme entspricht dem Charakter; am Ende ist die Kluft zwischen den beiden Frauen offenbar.

Nicht nur der von Markus Lafleur einstudierte Chor, auch die Technik mit Bühnenmeister Dettmar Jankowski und Beleuchtungsmeister Uwe Tepe tragen maßgeblich zu diesem herausragenden Opernabend bei. Früher standen nach einer solchen Aufführung die Intendanten Schlange, um den Erfolg auch an ihr Haus zu holen – heute ist leider eher davon auszugehen, dass eine einmal gemachte Entdeckung fürs Nachspielen uninteressant geworden ist. Schade um Hans Gáls faszinierendes Werk, aber man soll die Hoffnung ja nie aufgeben.

Vorstellungen am 10., 12., 14., 23. und 25. Mai. Karten: Tel. (0541) 76 000 76
Info: http://www.theater-osnabrueck.de/spielplan/spielplandetail.html?stid=174

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Über Werner Häußner

Redakteur, Musikkritiker, schreibt u.a. für WAZ (Essen), Die Tagespost (Würzburg), Der Neue Merker (Wien) und das Online-Magazin www.kunstmarkt.com.
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