Wehmut und Dankbarkeit: Das Auryn Quartett verabschiedet sich mit einem Konzert in Duisburg

Das Auryn Quartett hat alles erreicht, was ein Kammermusikensemble nur erreichen kann. Nun ist nach 41 gemeinsamen Jahren Schluss.

Das Auryn Quartett. Foto: Manfred Esser

Die Vierer-Formation hat vom Wiener Musikverein über die New Yorker Carnegie Hall bis zu den Salzburger Festspielen alle großen Säle und Festivals bespielt; sie hat sich ein unglaublich breites Repertoire von Joseph Haydn bis Wolfgang Rihm erarbeitet, Werkzyklen von Beethoven bis Bartók aufgenommen und sich mit der Gesamteinspielung aller Streichquartette Joseph Haydns ein unsterbliches Denkmal gesetzt.

Vor allem spielt das Quartett seit 41 Jahren in der gleichen Besetzung und gehört damit zu den Ensembles mit der längsten Kontinuität: Die Geiger Matthias Lingenfelder und Jens Oppermann, der Bratscher Stewart Eaton und der Cellist Andreas Arndt hatten sich beim Studium an der Kölner Musikhochschule zusammengefunden und 1981 beschlossen, ein Quartett zu bilden. Bereits ein Jahr später waren sie u.a. beim ARD-Wettbewerb erfolgreich. Nach 40 Jahren sollte Schluss sein. Corona ist es zu verdanken, dass es 41 Jahre geworden sind. Aber am 27. Februar setzt das „allerletzte Abschiedskonzert“ in der Elbphilharmonie Hamburg den unverrückbaren Schlusspunkt. „Wir wollten aufhören, wenn wir noch oben sind im Niveau“, erklärt Stewart Eaton im WDR, einem Sender, dem das Auryn Quartett viel verdankt und für den es unvergessliche Aufnahmen eingespielt hat.

Zuvor jedoch, zum vorletzten Konzert, kamen die vier Musiker aus dem Rheinland – sie lebten auch rund 20 Jahre in Köln – noch einmal nach Duisburg. Hier waren sie 2013/14 „Artist in Residence“ bei den Duisburger Philharmonikern, spielten 2018 Beethoven und gemeinsam mit der Geigerin Carolin Widmann und dem Pianisten Alexander Lonquich Ernest Chaussons wundervolles Konzert für Violine, Klavier und Streichquartett.

Herzzerreißender Abgesang

Jetzt gab es in der Mercatorhalle einen bewegenden, warmherzig beklatschten Abschiedsabend mit Mozarts „Kleiner Nachtmusik“, Antonín Dvořáks Es-Dur-Streichquartett op. 51 und Franz Schuberts d-Moll-Quartett „Der Tod und das Mädchen“. Ein herzzerreißender Abgesang auf das Leben, den das Auryn Quartett mit der Zugabe in serener Milde vergoldete: Das Adagio aus dem „Lerchen-Quartett“ op. 64/5 von Joseph Haydn verströmt in seinem ruhevollen Puls und im makellosen Zusammenklang eine enthobene Ruhe, einen Kontrast zur Todesverzweiflung Schuberts, als hätte Haydn dem düsteren Tod den himmlischen Paradiesesfrieden entgegen gesetzt.

Dass dem Wiener Meister das Finale des Abends gebührt, hat seinen Grund. Das Auryn Quartett fühlte sich Haydn stets besonders verbunden. Auf die Frage in einer dem Quartett gewidmeten „Tonart“-Sendung im WDR nach dem Höhepunkt seiner Laufbahn verwies einer der Musiker auf die Gesamteinspielung aller Haydn-Quartette. „Alle 68 sind auf ihre Art ganz tolle Musik und ermöglichen so viele Entdeckungen.“

Doch die nach dem magischen Amulett aus Michael Endes „Die unendliche Geschichte“ benannte Formation gehört nicht zu der Fraktion, die ihre Klangvorstellung auf makellos lasierte Töne in perfekter Mischung aufbaut. Sicher, ein Unisono wie der Beginn der Mozart’schen „Kleinen Nachtmusik“ ist aus einem Guss. Aber durch die Fortspinnung, flott und mit Energie gegeben, windet sich die eine oder andere prägnante Nebenstimme, ist die Klangpolitur nicht schmeichelnd sanft, sondern auf die Individualität der Stimmen bedacht. Den fehlenden fünften Satz, der im Original entfernt wurde, ersetzt das Quartett mit dem Menuett KV567/3 aus den „Sechs deutschen Tänzen“. So beherzt und ungekünstelt musiziert, macht der Ohrwurm wieder richtig Spaß.

Dichter Satz, differenzierte Transparenz

Die Kunst, ineinander verwobene Stimmen in ihrer Individualität zu achten, musikalisch sinnvoll zu gewichten und dennoch den dichten Satz nicht zu zergliedern, sondern als klangliches Ganzes erleben zu lassen, führt das Auryn Quartett mit dem Es-Dur-Quartett Dvořáks vor. Wieder steht eher das Temperament als die vollendete Klangkultur im Vordergrund, wird das genaue Hinhören eingefordert. Die Anstrengung wird belohnt, weil die Transparenz nicht analytischer Selbstzweck ist, sondern einem klarsichtigen Durchdringen des Werks dient. Wolfgang Rihm hat es in einem Interview einmal so ausgedrückt: „Das Streichquartett ist eine Besetzung, die es erlaubt, aus der Homogenität heraus in die Bereiche des Heterogenen, ja des Disparaten zu gelangen.“ Treffender könnte der Ansatz des Auryn Quartetts nicht beschrieben werden.

Das „Disparate“ ist dann in radikaler Konsequenz in Schuberts „Der Tod und das Mädchen“ gefordert. Das betrifft die Klanglichkeit, deren Spektrum von den schrill-schmerzlichen Eröffnungsakkorden bis in täuschend gemütliche Ländler-Leichtigkeit reicht. Das umschreibt aber auch die Emotionalität dieses Ausnahmewerks, dessen seelische Abgründigkeit selbst in Schuberts Œuvre nicht so leicht wiederzufinden ist. Im Angesicht des Todes gibt es eben keine Kompromisse mehr.

Da insistiert die innere Unruhe des ersten Satzes mit einem selten so genau und gewichtig zu erlebenden Cello; da mischen sich aber auch, wenn sich Andreas Arndt mit seiner dunklen Farbe herausnimmt, die Klänge der Violinen und der Viola zu einer schimmernden Fläche, die jedoch nicht lockend glüht, sondern schmerzlich brennt. Der zweite Satz beginnt mit gläsern gelassenen, fast vibratolosen, allmählich intensiveren Tönen. Die Musiker verfolgen die allgegenwärtigen Melodiezitate und -bruchstücke in filigraner Transparenz und schier unendlichen Beleuchtungsnuancen. Das Scherzo spricht in seinem Grimm der Bezeichnung Hohn, es ist, kontrastiert von einem wehmütigen Trio, eine wilde Verzweiflungsjagd, die sich im Presto des Finales– trotz des Tempos genau artikuliert – noch steigert.

Das Auryn-Quartett präsentierte sich ein letztes Mal auf der Höhe seines erfahrungsgesättigten Könnens: Ein Abschied, der schwer fällt, aber in dem die Erinnerung an eine so lange Zeit außerordentlichen Musizierens die Wehmut mit Dankbarkeit mildert.




Herausforderung glänzend bestanden: Essener Philharmoniker gastierten in Prag und Dresden mit einem Dvořák-Programm

Leichter Regen besprüht die monumentale Fassade des Rudolphinums am Ufer der Moldau. Nobel gekleidete Damen und Herren streben die Stufen empor, Fahnen wehen, die Portale sind geschmückt. Drinnen legen Musikerinnen und Musiker ihre Konzertkleidung an, Notenpulte und Stühle auf dem Podium werden zurechtgerückt. Üblicher Betrieb in einem Konzerthaus – und doch ist die Stimmung anders, festlicher, gespannter.

Das Rudolphinum, Prags historischer Konzertsaal und Auftrittsort der Essener Philharmoniker. Foto: Werner Häußner

Das Rudolphinum, Prags historischer Konzertsaal und Auftrittsort der Essener Philharmoniker. Foto: Werner Häußner

Es ist Festivalzeit in Prag, und ein Orchester wartet auf seinen Auftritt, das nicht zu den üblichen Verdächtigen bei den internationalen Aufmärschen bekannter Klassikstars in Europa gehört: Die Essener Philharmoniker gastieren beim Internationalen Festival Dvořákova Praha, das seit seiner Gründung 2008 eine ganze Reihe Orchester aus der ersten Reihe nach Prag geholt hat: die beiden großen Londoner Orchester, das Orchestre Nationale de France, das City of Birmingham, das Israel Philharmonic – und eben jetzt, zum zweiten Mal nach 2017, die Essener Philharmoniker.

Schlüsselfigur: Chefdirigent Tomáš Netopil

Die sind nun nicht gerade ein zweitrangiges Orchester: Zwei Mal „Orchester des Jahres“, haben sich die Musiker unter Stefan Soltesz eine Spitzenstellung als Opernorchester unter den nicht wenigen Ensembles in Nordrhein-Westfalen errungen, gestalten in der 2004 wiedereröffneten Philharmonie Essen in erstklassiger Konzertsaal-Akustik begehrte Sinfoniekonzerte, haben beachtliche CD-Aufnahmen vorgelegt. Seit 2013 besetzt Tomáš Netopil den Posten des Chefdirigenten. Der Generalmusikdirektor konnte an die Arbeit von Soltesz anknüpfen und die Qualität des Orchesters systematisch weiter ausbauen. Er brachte viel – und nicht nur gängiges – tschechisches Repertoire in Konzerte und Oper ein und will diese Linie auch bis 2023 beibehalten. So lange steht er in Essen unter Vertrag, obwohl oder trotz er an großen Häusern, so auch an der Wiener Staatsoper und der Dresdner Semperoper, regelmäßig gastiert.

Tomas Netopil dirigiert die Essener Philharmoniker in der Frauenkirche in Dresden. Foto: Hamza Saad

Tomas Netopil dirigiert die Essener Philharmoniker in der Frauenkirche in Dresden. Foto: Hamza Saad

Netopil ist auch der Mann, der das erste Prager Gastspiel eingefädelt hat. An der Moldau ist der ehemalige Musikdirektor des Nationaltheaters (bis 2012) beliebt und ein häufiger Gast auch beim renommiertesten Klangkörper, der Tschechischen Philharmonie. Das erste Konzert der Essener Philharmoniker 2017 schlug derart erfolgreich ein, dass sie samt ihrem Chef gleich für 2019 wieder unter Vertrag genommen wurden. Und für dieses Konzert ging Netopil aufs Ganze: Ein tschechischer Dirigent spielt mit einem deutschen Orchester Antonín Dvořák, jenen unter den tschechischen Komponisten, der anno 1896 im Rudolphinum das erste Konzert der Tschechischen Philharmonie dirigiert hatte und dessen Namen der gut 1000 Plätze fassende Saal heute trägt.

Der Umgang mit dem „böhmischen“ Klang

Auch vor dem Hintergrund der Geschichte, von der kulturellen Benachteiligung der Tschechen in der Habsburger Zeit bis hin zu den Barbareien der deutschen Besatzer in den dunklen sieben Jahren, darf ein solches Konzert also eine gewisse Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Außerdem: Wie würden die Essener Philharmoniker mit der Herausforderung des Klangs umgehen, mit jenem „böhmischen“ Ideal, das mit weicher, leuchtender Streicherintonation und schmeichelnden Bläsern identifiziert wird? Netopil hat, wie er im Gespräch verrät, in den Proben auf diesen Klang hingearbeitet, ohne ihn den Musikern überstülpen zu wollen: keine Imitation, aber eine Annäherung.

Probe im Rudolphinum in Prag. Foto: Werner Häußner

Probe im Rudolphinum in Prag. Foto: Werner Häußner

Dieses Konzept verträgt sich besonders mit dem sinfonischen Hauptwerk, der Siebten von Dvořák. In diesem für London geschriebenen Werk zeigt sich Dvořák eben nicht als „böhmischer Musikant“, verwendet keine Folklore-Anklänge, sondern demonstriert, dass er sinfonische Musik auf europäischem Niveau komponiert, die jedem Vergleich standhält. Die Eigenprägung der vier Sätze, drei davon in Moll, ihre formale Balance ist ebenso auf höchstem Niveau wie die dichte Satzarbeit besonders im Finale, und verbindet sich mit formaler Klarheit und einem leidenschaftlichen, energischen Puls.

Klarheit und Blick in die Tiefe

Genau so, mit Passion und Blick in die Tiefe, gehen die Essener Philharmoniker das Werk an. Die düster-unwirschen tiefen Streicher, der erste Ausbruch in den Trompeten, die ein lichtes Tongewölbe aufspannende Oboe, der markante Rhythmus, der unverkrampfte Fluss von Motiven und Themen: das Orchester spielt nachdrücklich und energisch. Die Bläser-Einleitung des zweiten Satzes gelingt gelöst und schwingend, im dritten Satz lebt der Rhythmus markant und locker zugleich. Netopil fordert Saft in den Tönen und zupackende Kraft, nimmt aber das Orchester auch zurück, wenn es den hohen, aber relativ kurz gebauten Saal zu überfordern droht. Keine leichte Aufgabe für die Musiker, die sonst in der offenen, freien Akustik der Essener Philharmonie spielen.

Die Essener Philharmoniker in der Frauenkirche Dresden. Foto: Hamza Saad

Die Essener Philharmoniker in der Frauenkirche Dresden. Foto: Hamza Saad

Im beliebten H-Dur-Nocturne op. 40 zu Beginn lässt der Saal den verhaltenen Klang der Geigen wärmer leuchten als in Essen; die trefflich aufeinander hörenden Musiker sichern die Balance, der Schluss schwebt leicht und leuchtend. Bei den beiden Sinfoniekonzerten in Essen und bei dem auf Prag folgenden Konzert in der Frauenkirche in Dresden stand das g-Moll-Violinkonzert von Max Bruch mit Arabella Steinbacher in der Mitte des klassischen Konzertprogramms. Was in Essen noch zögerlich im Zugriff und matt im Ton erklang, hatte in der Dresdner Frauenkirche spürbar Freiheit und Frische gewonnen.

Unterschätztes Klavierkonzert

In Prag spielte Ivo Kahánek das Dvořák’sche Klavierkonzert g-Moll. Die rhythmisch bewusst gestaltete, temperamentvolle Darbietung Kaháneks in geglückter Interaktion mit dem Orchester erweist dieses Konzert als unterschätzt. Dvořák schreibt auch hier Musik, die jenseits „nationaler“ Zuneigung oder Vorliebe auf internationalen Podien bestehen kann. Die enge Verknüpfung des solistischen und des orchestralen Materials, die poetische Schwermut des langsamen Satzes und der hinreißende rhythmische Bravour des Finales lohnen es, sich dieses Konzert genauer anzusehen.

Die Essener konnten mit den beiden Konzerten in Prag und Dresden einen erheblichen Erfolg für sich verbuchen. Die Kritiken in Prag waren ausgezeichnet, lobten die Tonqualität, die intensiven Farben, die flexible, kammermusikalische Begleitung des Pianisten. Die Planungen für weitere auswärtige Gastspiele der Philharmoniker laufen – für die Stadt Essen ist das Orchester zweifellos ein Kulturbotschafter erster Güte.

 




Mit seligem Schwung zum Beifall: Die Essener Philharmoniker eröffnen unter Tomáš Netopil die Serie ihrer Sinfoniekonzerte

Tomás Netopil ist seit 2013 Chefdirigent der Essener Philharmoniker. Foto: Hamza Saad/TUP

Tomáš Netopil ist seit 2013 Chefdirigent der Essener Philharmoniker. Foto: Hamza Saad/TUP

Kaum jemand kennt sie mehr, die alten Studentenlieder. Nur „Gaudeamus igitur“ dürfte noch vertraut sein: Wie einen Hymnus auf die alte Burschenherrlichkeit setzt Johannes Brahms die Melodie an den Schluss seiner „Akademischen Festouvertüre“. Mit einem Humor, wie er dem Meister der „deutschen Tonkunst strengeren Stils“ angemessen ist, gibt Brahms der Universität Breslau die Ehre. Sie hatte ihn zum Ehrendoktor gekürt.

Die Essener Philharmoniker eröffnen in der Philharmonie mit Brahms’schem Hintersinn das neue Konzertjahr, und ihr Chef Tomáš Netopil lässt die abwechslungsreiche Verarbeitung von Melodien wie dem einst berühmten „Fuxenritt“ mit gekonnter Geste in Blechmajestät münden. „Gratulor“ würde der flotte Bursch von einst komplimentieren.

„Strengen“ Stils befleißigt sich auch Antonín Dvořák in seinen „Sinfonischen Variationen“ op. 78, mit denen er sich die Anerkennung von Brahms errungen hat. Netopil setzt mit diesem oft aufgenommenen, im Konzertsaal aber seltener zu hörenden Stück sein Vorhaben fort, das Publikum mit musikalischen Schätzen seiner Heimat bekannt zu machen. Wundervoll gesponnene Melodik, spritzige Rhythmen, leise Idyllen: Dvořák entfaltet das Spektrum seiner Ausdruckskraft und zeigt sich als Meister der Form. Die Posaunen haben einen wirkungsvollen Auftritt, die Streicher dürfen mit Seele singen.

Ein anderer Tonschöpfer aus Tschechien, Bohuslav Martinů, hat’s in seinem originellen Konzert für Streichquartett mit Orchester nicht so mit dem Kantablen: 1932 uraufgeführt, orientiert es sich an der Form des concerto grosso aus dem 18. Jahrhundert, aber auch an der Freude am Experimentellen, die Martinů in Paris pflegte. Die Lust an der Polyphonie und an der Dissonanz lebt er ähnlich exzessiv aus wie Igor Strawinsky oder Darius Milhaud.

Der atemlose Ton der modernen Zeit

Die vortrefflichen Musiker des Pavel Haas Quartetts stellen das thematische Material vor: spritzig, unruhig, rastlos wie die moderne Zeit, die sich auch bei Martinů in der Musik spiegelt. Das Orchester nimmt diesen atemlosen Ton auf. Das Prinzip der Variation schlägt die Brücke zu Dvořák, aber die Atmosphäre des dichten, von den Essenern kühl durchschauten Orchestersatzes mit seinen Reibungen und harmonischen Zusammenstößen hat mit dem böhmischen Altmeister wenig zu tun. Den Mittelsatz spielen Veronika Jarůšková, Marek Zwiebel, Radim Sedmidubský und Peter Jarůšek mit heiliger Ruhe und intensivem Vibrato zu den knöchern aufs Holz durchschlagenden Streicher-Pizzicati des Orchesters. Und im Finale genießen die Bläser spitz und ironisch ihren virtuosen Beitrag.

Zum Schluss ein Tribut an den kulinarischen Geschmack: Aber Richard Strauss‘ „Rosenkavalier“-Suite will Netopil nicht so recht gelingen. Der Einstieg ist massiv und laut statt leuchtend, vorlaut statt elegant. Die Sphärenklänge der „silbernen Rose“ bleiben irdisch durchschaubar. Doch das ans Missgeschick des lerchenauischen Ochs erinnernde Spukgepolter und der selig schwingende Walzer versöhnen zum freundlichen Beifall.

Heute Abend, am 12. September 2017, gastieren Netopil und die Essener Philharmoniker im Rudolfinum in Prag beim diesjährigen Dvořák Festival, das er am Samstag, 23. September am Pult der Wiener Symphoniker mit Dvořáks „Te Deum“, der Sechsten Symphonie und Johannes Brahms‘ „Tragischer Ouvertüre“ abschließen wird.

Das Zweite Sinfoniekonzert der Saison am 28. und 29. September in der Philharmonie Essen bringt als Hauptwerk die „Reformations“-Symphonie Felix Mendelssohn-Bartholdys und geistliche Musik des 1946 geborenen lettischen Komponisten Pēteris Vasks: „The Fruit of Silence“ für gemischten Chor und Streichorchester.




Gewagt, gewonnen: Die Essener Philharmoniker glänzen mit Josef Suks Trauersinfonie „Asrael“

Das Böhmische Streichquartett mit Josef Sue, 2. Violine (2.v.l.). Eine Zeichnung von Hugo Boettinger (1907).

Das Böhmische Streichquartett mit Josef Suk, 2. Violine (2.v.l.). Eine Zeichnung von Hugo Boettinger (1907).

Es gibt sie zuhauf, die Kleinmeister unter den Komponisten. Nicht einmal unbekannt und zu ihren Zeiten oft durchaus beliebt, konnten sie letztlich nicht heraustreten aus dem Schatten der Großen. Bei Josef Suk (1874-1935) aber ist das anders, komplizierter.

Der Tscheche ist ein Meister seines Fachs, doch umfassende Popularität war und ist seinem Werk bis heute nicht vergönnt. Mancher kennt ihn wohl als Schwiegersohn Antonín Dvořáks, Zeitgenossen schätzten Suk als hervorragenden Geiger – im Böhmischen Streichquartett spielte er die 2. Violine. Doch „Asrael“, Suks Sinfonie für großes Orchester, einer dieser Monolithen der Musikgeschichte, ist eine absolute Repertoire-Rarität. Es gibt einige CD-Einspielungen, das Werk im Konzert zu erleben, ist jedoch kaum einmal möglich.

Netopil, Chefdirigent der Essener Philharmoniker, ist gern auf außergewöhnlichen Repertoire-Pfaden unterwegs. Foto: Hamza Saad

Tomás Netopil, Chefdirigent der Essener Philharmoniker, ist gern auf außergewöhnlichen Repertoire-Pfaden unterwegs. Foto: Hamza Saad

Doch Tomáš Netopil, Chefdirigent der Essener Philharmoniker, unermüdlich darin, die slawische (tschechische, böhmische) Musik in Oper und Konzertbetrieb als „neue Farbe“ zu verankern, ist das Wagnis eingegangen, „Asrael“ ins Programm zu nehmen. Gekoppelt mit Dvořáks beliebtem Cellokonzert, wird dieser Abend zum Erlebnis. Das Publikum hat den gewaltigen sinfonischen Brocken Suks mit heftigem, wenn auch kurzem Beifall aufgenommen. Das ist für Werk und Interpreten ein mordsmäßiger Erfolg – das fünfsätzige Stück durchzieht eine überaus komplexe Polyphonie, klingt modern trotz seiner Verankerung in der sinfonischen Tradition des 19. Jahrhunderts, entpuppt sich zudem als gewaltige Trauermusik.

Die abgrundtiefe Schwärze dieser Sinfonie, das bis zur Hysterie reichende Wüten der Welt, Todesmotiv und Trauermarsch, Hymnus und wild dreinfahrende Rhythmen, schließlich ein erlösender Choral, von Vogelstimmen geprägt und im Pianissimo entschwindend – all dies ist auf einen brutalen Schicksalsschlag in Suks Leben zurückzuführen. Denn nicht nur starb 1904 sein Schwiegervater Dvořák, sondern einige Monate später auch Suks Frau Otylka. „Asrael“, benannt nach dem Todesengel sowohl der mohammedanischen als auch der jüdischen Mythologie, geriet zum Requiem, das sich der Komponist in betäubender Trauer abringen musste.

"Der Todesengel". Gemälde von Evelyn de Morgan ()

„Der Todesengel“. Gemälde von Evelyn de Morgan (1881).

Über eine Stunde währt dieses gewaltige Lamento, nur von wenigen lichten Momenten aufgehellt. Doch so kompakt die emotionale Seite des Stückes wirkt, so übersichtlich ist die formale Gliederung. Suks Bekenntnismusik kreist nicht um sich selbst, hat also gewissermaßen Hand und Fuß. Mag auch die eine oder andere Steigerung das Plakative streifen, ist der Sinfonie doch ein ganz eigener Ton zu bescheinigen. Mit Mahler, wie oft geschrieben, hat das wenig zu tun, Dvořáks Sprache wiederum spiegelt sich lediglich in einigen Zitaten (aus dem Requiem, aus „Rusalka“). Und doch: „Asrael“ ist trotz aller Originalität kein Schlüsselwerk der Musikgeschichte.

Aber wie dem auch sei: Der Einsatz der Essener Philharmoniker für das Stück, die emotionale Hingabe des Orchesters, die Durchhörbarkeit des polyphonen Geflechts und das packend dramatische Spiel sind aller Ehren wert. Da ist nichts dem Zufall überlassen, eins greift ins andere, plötzliche dynamische oder rhythmische Wechsel sind sauber ausgearbeitet. Suks Sinfonie hat offensichtlich das Orchester zur Glanzleistung motiviert.

Zu berichten ist jedoch auch über einen glanzvoll musizierenden jungen Cellisten namens Narek Nakhnazaryan, der 2011 den Tschaikowski-Wettbewerb gewann und damit den Grundstein für seine Karriere legte. Hierzulande eher wenig bekannt, aber auf internationalem Konzertparkett schon sehr gefragt, überzeugt der armenische Künstler mit technischer Reife und blitzsauberer Intonation. Dvořáks Cellokonzert geht er zunächst ziemlich robust an – da scheint der Stil seines Mentors Rostropowitsch aufzublitzen.

Der Cellist Narek Hakhnazaryan. Foto: Marco Borggreve

Der Cellist Narek Hakhnazaryan. Foto: Marco Borggreve

Nakhnazaryan pflegt aber auch die expressive Lyrik und die zarten Nuancen. Der Ton seines Cellos mag nicht riesengroß sein, entwickelt jedoch beeindruckenden Ausdruck. Die dramatische Fallhöhe des Stücks loten Orchester und Solist gekonnt aus. Wie ein Draufgänger wirkt der Cellist, der sich gleichwohl Grenzen setzt. Überschwang ist nicht alles, auf die Feinheiten kommt es an. Davon hat Nakhnazaryan eine Menge zu bieten – wie entrückt scheint er dann in die Musik einzutauchen.

Eine große Kadenz, zum Beweis seiner außergewöhnlichen Virtuosität, bleibt ihm mit diesem Werk indes verwehrt. Doch die Zugabe, das Lamentatio des zeitgenössischen italienischen Komponisten Giovanni Sollima, eröffnet dem Solisten alle Möglichkeiten. Doppelgriffe formen eine Trauermelodie, von Vokalisen des Cellisten unterstützt, sie geht über in furiose Raserei und mündet in eine Art Tangorhythmus.

Danach großer Jubel. Es ist der Beifall eines Publikums, das den Weg Tomáš Netopils in Richtung des slawischen Repertoires beherzt mitgeht. Die Philharmonie in Essen war jedenfalls bei diesem 3. Sinfoniekonzert prall gefüllt. Dass Netopil, der vor drei Jahren in die großen Fußstapfen eines Stefan Soltesz trat, inzwischen einen Vertrag hat, der bis 2023 reicht, ist das richtige Signal. Und, mit Verlaub: Die Essener Philharmoniker sind als Konzertorchester noch besser geworden.

 

 




Mit Glanz und Gloria: Gabriel Feltz, Johannes Moser und die Dortmunder Philharmoniker

Die Dortmunder Philharmoniker. Foto: Magdalena Spinn

Die Dortmunder Philharmoniker. Foto: Magdalena Spinn

Carl Maria von Weber vermerkte einmal, das Anschauen einer Gegend sei ihm wie die Aufführung eines Musikstücks. „Ich erfühle das Ganze, ohne mich bei den es hervorbringenden Einzelheiten aufzuhalten …“ Dortmunds Generalmusikdirektor Gabriel Feltz hat diese ästhetische Äußerung Webers wohl etwas zu wörtlich genommen: Die Konzertouvertüre „Der Beherrscher der Geister“ rauscht zu Beginn des Achten Philharmonischen Konzerts in angemessenem Presto vorüber, entbehrt aber jeglicher Binnengestaltung.

Carl Maria von Weber auf einer Darstellung des 19. Jahrhunderts.

Carl Maria von Weber auf einer Darstellung des 19. Jahrhunderts.

In den Tutti denunziert Feltz Webers Orchester als bloßen Lärm, das spannungsvoll tremolierende Crescendo verpufft ohne Wirkung, die Oboe singt, aber schwingt nicht und der abschließende majestätische Choral der Blechbläser bleibt steif. Nicht toll, dieser Konzerteinstieg der Dortmunder Philharmoniker und ihres Chefs.

Die dynamische Unbeherrschtheit schwappt auch noch in den Beginn des Cellokonzerts Antonín Dvořáks hinein, legt sich dann aber, als das Horn sein sehnsuchtsvolles erstes Solo intoniert. Mit den tiefen Streichern gelingen herbe Klangmischungen. Feltz zeigt jetzt, dass er Orchesterfarben passend abmischen kann. Den Beginn des zweiten Satzes phrasieren die Bläser mit weitem Atem. Doch wenn sie von der Pauke flankiert losbrechen, dröhnt das, gemessen am Ton des verhalten gestaltenden Solisten, wieder zu vehement.

Große Kunst am Cello: Johannes Moser. Foto: Uwe Arens

Große Kunst am Cello: Johannes Moser. Foto: Uwe Arens

Der Solist Johannes Moser nähert sich diesem Juwel in der Krone des Repertoires auf ungewohnten, aber schlüssigen und reflektierten Wegen. Bei Moser stehen nicht opulenter Klang und satte Farbe im Vordergrund, auch nicht das Prunken mit einer unfehlbaren Spieltechnik. Sein Dvořák erweist sich als musikalisch durchdrungen, formbewusst angelegt und dann erst, sozusagen auf der zweiten Ebene, mit einem fabelhaften Reichtum an Nuancen und Klangfärbungen gestaltet.

Für den Beginn wählt er einen sämigen, vielleicht etwas zu druckreichen Ton, aber die raschen, kurznotigen Teile des Allegro-Satzes sind präzis ausmodelliert und sicher intoniert. Das schimmernde Mezzoforte der kantablen Episoden erreicht Moser mit einem schnellen, feinen Vibrato – so charakterisiert man Töne! Wenn das Thema im Pianissimo wiederkehrt, beleuchtet er den Klang wieder neu und überraschend.

Mosers melodische Linien sind rein und auf erfrischende Art „sachlich“ gefasst; er schmachtet nicht und meidet das Portamento als allzu feiles Ausdrucksmittel. Sehr verhalten und ohne Anflug von Selbstdarstellung spielt er die Kadenz; er bestätigt damit, wie er das Konzert sieht: als eine Art Requiem Dvořáks für seine Jugendliebe und Schwägerin Josefina Kaunitzová. Deutlich wird diese wehmütige, melancholische Haltung auch im Dialog mit der Solovioline von Shinkyung Kim; der Ton erstirbt in die Finalakkorde des Orchesters hinein. Mit dieser profilierten Deutung hat Moser das Cello-Konzert überzeugend erschlossen.

Dortmunds GMD Gabriel Feltz. Foto Magdalena Spinn

Dortmunds GMD Gabriel Feltz. Foto Magdalena Spinn

Zum Abschluss eine erfreulich unkonventionelle Wahl: César Francks gewichtiger Beitrag zur Gattung der Symphonie. Selbstredend kosten Feltz und die Philharmoniker vor allem die leidenschaftlichen Steigerungen, die brachialen Aufbrüche, die machtvolle Vehemenz der zyklisch in immer wieder neuem Licht erscheinenden thematischen Einfälle aus. Das geht zu Lasten des impressionistischen Aspekts der Musik Francks, der finessenreichen Farbenspiele, der immer wieder chromatisch unsteten, nervösen Momente, die etwa zu Beginn des zweiten Satzes nicht recht gelingen wollen. Glanz und Gloria behalten die Oberhand und heizen das Publikum im Konzerthaus an, das Orchester und seinen Dirigenten überwältigt zu bejubeln.

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Moser hat das Dvořák-Konzert 2015 übrigens auch aufgenommen. Die CD ist beim Label Pentatone erschienen; die Prager Philharmoniker leitet der künftige Chefdirigent der Bamberger Symphoniker, Jakob Hrůša.

Nächstes Philharmonisches Konzert in Dortmund am 24./25. Mai. Axel Kobert dirigiert Anton von Weberns „Im Sommerwind“. Arnold Schönbergs „Verklärte Nacht“ und das Violinkonzert Ludwig van Beethovens mit Sophia Jaffé als Solistin. Karten: (0231) 50 27 222, www.theaterdo.de




Nixen im Badezuber – Dvoráks Oper „Rusalka“ findet in Essen den Weg in die Psychiatrie

Rusalka (besingt den Mond, der bloß eine OP-Lampe ist. Foto: Bettina Stöß

Szene aus der Anstalt. Rusalka (Sandra Janusaite) besingt den Mond, der bloß eine OP-Lampe ist. Foto: Bettina Stöß

Da bringt die junge Braut ihren Zukünftigen um. Weil sie den schlimmen Finger im erotischen Techtelmechtel mit einer anderen erwischt hat. Für ihn war das eine Art Flucht: weg von einem Wesen, das ebenso faszinierend wie rätselhaft ist, spröde und stumm wie ein Fisch, hin zu einer richtigen Frau. 

Derartiges kommt in den besten Familien vor. Selbst in jenen der vorletzten Jahrhundertwende, im großbürgerlichen Gefüge des Fin de Siècle. Zu jener Zeit also, als Sigmund Freud die „Traumdeutung“ herausbrachte und Antonin Dvorák seine Märchenoper „Rusalka“ komponierte. Und so hat die niederländische Regisseurin Lotte de Beer eins und eins zusammengezählt: Im Essener Aalto-Theater zeigt sie uns eine Nixe unter freudscher Beobachtung – im klinisch kühlen Ambiente, mit Anstaltsbadewannen und Gewölbezellen, nicht zu vergessen die berühmte Couch des Analytikers.

Klapse statt irrlichterndes Dasein ist das Los dieser Rusalka. Die Geschichte wird dabei gewissermaßen von hinten aufgerollt, vom Tod des Prinzen und ihrer Internierung aus – die einleitende Szenerie zu Dvoráks Vorspiel macht es deutlich. Dieser dramaturgische Kniff ist wohl auch erforderlich, um die Doppelung von Märchenzeit und Therapiezeit zu verstehen. Hilfreich wäre im übrigen ein Hinweis im Programmbüchlein gewesen, auf eine Schrift Freuds aus dem Jahr 1913, „Märchenstoffe in Träumen“. Oft nämlich verknüpften seine Patientinnen Erinnerungen und Träume mit dem Durchleben von Märchen.

Nun also: Die Nixen necken den Wassermann im Badezuber, Rusalka beklagt in der Wanne nebenan ihr seelenloses Dasein. Die Hexe Jezibaba rauscht nicht als schmuddeliges Hutzelweibchen heran, sondern gibt sich rauchend mondän im dicken Pelz. Die Menschwerdung Rusalkas gleicht einem Beschneidungsritus. Im übrigen gilt: Wer schön sein will, muss leiden – und stumm bleiben wie ein Fisch. Entsprechend herzig die Begegnung mit dem Prinzen, ein Tändeln zweier Backfische, ein Fremdeln zweier Zagender. Zuletzt aber doch: Küsse der Leidenschaft.

Wie die Backfische: Zärtliche Begegnung zwischen Rusalka (Sandra Januskaite) und dem Prinzen (Ladislav Elgr). Foto: Bettina Stöß

Wie die Backfische: Zärtliche Begegnung zwischen Rusalka (Sandra Januskaite) und dem Prinzen (Ladislav Elgr). Foto: Bettina Stöß

Was so intim klingt, ist auf der Riesenbühne des Aalto gleichwohl angenehm proportioniert in Szene gesetzt. Das eingespielte Duo Clement&Sanou schafft Atmosphäre durch Farbe, stellt die feine Festgesellschaft im 2. Akt aufs Podest, während unten Rusalka angstvoll deren patriarchalische Riten beobachtet, wuchtet Badewannen in den Raum oder kerkert die Nixe im mächtigen Gummizellengewölbe ein. Manches wirkt gelungen, anderes aber gehörig plakativ. Wie denn auch die Regie immerhin in sich schlüssig ist. Die Frage, die bleibt, ist eher grundsätzlicher Art: Ob nicht manche Frauenfigur der Opernliteratur sich neuerdings beständig der Psychoanalyse aussetzen muss.

Eines aber ist gewiss: Mit Sandra Janusaite hören und sehen wir eine Rusalka, die sich die Seele aus dem Leib spielt und singt. Fast körperlos, fahl und verhangen klingt zunächst ihr Mondlied, dann aber trägt ein dramatisch-emphatischer Sehnsuchtston ihre Empfindung. Die Stimme mag in der Mittellage etwas spröde wirken, gleichwohl verfügt die Sopranistin über Farbreichtum sowie flammende Verzweiflungsgröße. Und wenn sie sich, im Angesicht des untreuen Prinzen auf die Beine schlägt, als Symbol ihres fluchbeladenen Daseins, wenn sie im Zellengewölbe in ihrer Zwangsjacke dahinleidet, dann ist das gleichermaßen mitreißend wie anrührend. Bis ihr Dr. Freud eine Spritze geben lässt – sie sinkt hernieder, ob schlafend oder sterbend oder im Wagnerschen Sinne erlöst, bleibt unserer Fantasie überlassen.

Bitteres Ende in der Gummizelle. Foto: Bettina Stöß

Bitteres Ende in der Gummizelle. Foto: Bettina Stöß

Dagegen wirken alle anderen Akteure beinahe blass. Ladislav Elgr verleiht dem Prinzen zwar ein kultiviertes tenorales Timbre, wirkt in hoher Lage aber leicht nervös und lässt mitunter Eleganz vermissen. Markant Almas Svilpa als ewig mahnender und klagender Wassermann, nur bedingt verschlagen die Hexe der Lindsay Ammann.

Das eigentliche Wunder des Abends spielt sich ohnehin im Orchestergraben ab. Mit Tomás Netopil am Pult zaubern die Essener Philharmoniker die Idiomatik von Dvoráks Musik aufs Schönste herbei. Sie spinnen silberhelle Melodiefäden, geben der Dramatik, die schon auf Janáceks Realismus verweist, kantiges Gewicht, ohne zu überzeichnen. Und alles Böhmisch-Musikantische hält sich im Rahmen. Nichts von Verharmlosung eines bis dato immer noch unterschätzten Komponisten.

Noch einige Termine im Juni. www.aalto-musiktheater.de

(Der Text ist zuerst in ähnlicher Form im „Westfälischen Anzeiger“ erschienen.)

 




Für Kenner und Genießer: Khatia Buniatishvili und Renaud Capuçon in Wuppertal

Weltklasse-Geiger: Renaud Capuçon. Foto: Paolo Roversi

Weltklasse-Geiger: Renaud Capuçon. Foto: Paolo Roversi

Drei Programmteile hat der Abend in der historischen Wuppertaler Stadthalle, wie es sich für ein anständiges Kammerkonzert gehört. Drei Mal erklingt Musik der Spätromantik, komponiert in den Jahren 1886/87.

Man bewundert, wie fruchtbar damals das musikalische Schaffen in Europa war, und man fragt sich gleichzeitig, ob diese Abfolge nicht zu einförmig werden könnte. Denn so fundamental unterscheiden sich die Werke von Antonín Dvořák, Edvard Grieg und César Franck nicht, dass sie markante Kontraste aufreißen könnten.

Die Gefahr des durchgängigen, sich nur gelegentlich erregt vergessenden Lyrizismus ist in der Tat gegeben. Nur: Khatia Buniatishvili und Renaud Capuçon, die Stars des Abends, wissen, wie man das Zuschnappen der Fallen vermeidet. Ihre Methode ist nicht, die latenten Kontraste zu vergrößern (und damit unter Umständen zu vergröbern), sondern sie subtil zu verfeinern.

Es ist eine Methode für Kenner und Genießer, wie man sie im „Silver Circle“ des Klavier-Festivals Ruhr vermuten möchte. Denn für diesen kulturstützenden Personenkreis sollte das Wuppertaler Konzert ein Dankeschön sein – eines, an dem freilich jeder teilnehmen konnte. Eine Chance, die sich viele Wuppertaler seltsamerweise entgehen ließen: Der Saal hatte noch Kapazitäten frei.

Renaud Capuçon hat in diesem Jahr mit Violinkonzerten von Brahms und Saint-Saëns in Essen nahegelegt, ihn zu den derzeit weltbesten Geigern zu zählen. Ein Eindruck, der sich in Wuppertal bestätigt. In Dvořáks „Vier romantischen Stücken“ lässt er seinen herrlich erfüllten Ton herrschen: einen vollen, leuchtenden, aber nie zu pastosen Klang, substanzvoll bis in die ätherischen Bereiche des Flageoletts, fern von ordinärer Verruchtheit in den tiefen Tönen der G- und der D-Saite. Aber Capuçon gefällt sich auch nicht in klassizistischer Politur. Er phrasiert lebendig, mit glänzend austariertem Atem: Der Zuhörer sitzt auf der Stuhlkante und wird mitgetragen auf den Kulminationspunkt der Spannung.

Khatia Buniatishvili wirkt wie eine Kundry des Klaviers: „Dienen, dienen“ scheint ihre Haltung, wenn sie sich bei Dvořák in weichen, locker perlenden Akkorden zurücknimmt und dem Geiger den leuchtend lachenden Auftritt gönnt. Aber dann, im „Allegro maestoso“ des zweiten Stücks, emanzipiert sie sich, reagiert auf den tänzerisch angehauchten Rhythmus mit markantem Zugriff, greift die Schattierungen im Ausdruck der Violine auf und spiegelt sie zurück: Ein Dialog mit Sensibilität und Temperament – Eigenschaften, die wir bei den Auftritten der georgischen Pianistin seit ihrem Klavier-Festival-Debüt 2009 immer wieder bewundern. Und Tugenden, die sich in Edvard Griegs c-Moll-Violinsonate (op.45) und César Francks Hauptwerk der kammermusikalischen Geigenliteratur aufs Schönste bewähren.

Das Programm des Wuppertaler Abends gibt es auch auf CD, erschienen Mitte Oktober bei Erato (0825646250189)

Das Programm des Wuppertaler Abends gibt es auch auf CD, erschienen Mitte Oktober bei Erato (0825646250189)

Zum Beispiel im ersten Satz der Grieg-Sonate, die der Komponist „appassionato“ gespielt haben will: Capuçon und Buniatishvili leiten daraus keine Aufforderung zu vordergründiger Expression ab. Sie stützen mit dunkel-rauchigen Klängen, mit feinstem, durch das Pedal verflüssigtem Silber den hochromantischen Tonfall, aber sie bleiben stets geschmackvoll beherrscht. Die edle Phrasierung, die bewusst eingesetzte Agogik triumphieren: Minutiöse Kontrolle der Ausdrucksmittel ist Voraussetzung für eine gedankenverloren-träumerisch wirkende Interpretation.

So wird auch César Francks expressiver Überschwang in ein Konzept gebunden und damit von der Anmutung kitschiger Unmittelbarkeit frei gehalten. Andere Geiger steigen mit mehr „espressivo“ in das Werk ein, aber Renaud Capuçon bevorzugt einen neutralen, abwartenden Ton, den er erst im Lauf des Allegretto-Satzes intensiviert.

Der leicht verschwommene Klavierton – bedingt durch die Akustik des Raumes – passt in diesem Falle trefflich, begünstigt die Entfaltung der Farben eher als die analytische Konturierung des Klaviersatzes. Jetzt hat Khatia Buniatishvili auch die Gelegenheit, rauschende Kraft und zupackende Pranke zu zeigen. Das genießt sie, ohne das Maß der Musik zu vergessen.

Fritz Kreislers „Liebesleid“ beendet als Zugabe den Abend – ironische, aber nicht desavouierende Verneigung vor einer Romantik, die am Ende nur noch in ihren Salon-Ausläufern überlebensfähig war.

Das Programm wird in einem Konzert der Philharmonie Essen am 30. April 2015 erneut gespielt. Infos: http://www.philharmonie-essen.de/konzerte/event/60309.htm




Bravour ohne Risiko: Die Philharmonia Prag mit Jan Lisiecki in der Essener Philharmonie

Wächst da ein neuer Horowitz heran, wie es ein einflussreiches deutsches Magazin prophezeit hat? Wer Jan Lisiecki, den schlaksigen, ein wenig steif, aber selbstbewusst wirkenden jungen Kanadier polnischer Herkunft mit Chopins e-Moll Konzert in der Essener Philharmonie gehört hat, wird da seine Zweifel hegen.

Der blonde Klavier-Boy hat einen kräftigen Zugriff für die Eröffnung, gefällt mit einem lyrisch-perlenden Passagenspiel, stellt sich leichtfingrig und mit schwerelosen Linien den heiklen Stellen. Aber ein neuer Horowitz? Dafür fehlen dem erst Achtzehnjährigen die Passion, die persönliche Farbe, das Aushören von Innenspannung und harmonischer Reibung, die dramatische Flamme in der Steigerung, der – wie es Joachim Kaiser so unnachahmlich ausdrückt – raubtierhafte und brillant durchdachte Zugriff.

Jan Lisiecki (18) (© DG/Mathias Bothor)

Jan Lisiecki (18) (© DG/Mathias Bothor)

Wozu auch solche Vergleiche? Chopins Musik lässt es – wie alle große Klaviermusik – zu, sich ihr auf unterschiedliche Weisen zu nähern. Und was Lisiecki selbst mit einem Glenn-Gould-Zitat für seinen Mozart in Anspruch nimmt, nämlich „something different“ zu sagen zu haben, gilt wohl auch für seinen Chopin. Zu den hitzig-tiefgründigen Virtuosen wie eben jener Vladimir Horowitz gehört Lisiecki nicht; das offenbart auch die Zugabe, die erste von Chopins Etüden op. 25. Sie träumt vor sich hin, als kenne sie keine spannungsvolle innere Dramaturgie.

Lisieckis mit seiner Lust am frisch-quirligen Passagenspiel hat, das spürt man, nicht den Grund, sich als brillanter Virtuose zu präsentieren. Er sucht den seelenvollen Ton, die Poesie der Linie, aber er findet (noch?) nicht zu Entrückung und Schwermut. Warum Chopin sich immer wieder – als spinne er einen Gedanken in halbbewußtem Dämmer weiter – in seine von John Field inspirierten silbrigen Improvisando-Meditationen verliert, kann Lisiecki nicht deutlich machen. Dazu schaut er zu wenig auf Kontraste, auf Beleuchtungswechsel.

Mag sein, dass der junge Pianist mit dem Dirigenten Jakob Hrůša nicht gerade den idealen Partner gefunden hatte: Der Nachwuchs-Pultstar neigt nämlich zu einem Rhythmus ohne Atem, zum Metrum ohne Geschmeidigkeit. Das geht geschwinde und genau, aber ohne Sinn für den Aufbau von Spannung, ohne Rubato-Kultur, ohne entrückendes Innehalten in der lyrischen Delikatesse der Mittelsatz-Romanze. Hrůša blickt kaum einmal auf den Pianisten – und Lisiecki wagt es wohl nicht, ihm durch eigene Impulse Paroli zu bieten. Als das Solo-Horn im ersten Satz seinen Ansatz nicht gleich hat, geht das beinahe schief: Lisiecki ist für einen Moment irritiert, fängt sich aber gerade noch. Auch im Zusammenspiel mit dem Solo-Fagott fehlt das gemeinsame Atmen; solche Stellen wirken wie prima vista gespielt.

Die Philharmonia Prag, ein erst 1994 gegründetes, jung besetztes Orchester, folgt Hrůša offenbar willig in seinen Absichten: rasantes Tempo in Smetanas Ouvertüre zur „Verkauften Braut“, Präzision und scharfgeschnittener Klang in Antonín Dvořáks Sechster Symphonie. Den Aberwitz der frechen Pianissimo-Achtelketten Smetanas meistern die Streicher bravourös, aber der Charme wird der Virtuosität geopfert. Die Bläser präsentieren sich in der leider zu selten gespielten Dvořák-Symphonie glanzvoll, aber das metrisch steife, überkorrekte Musizieren wirkt in seiner kalten Perfektion auf Dauer fade: kein Risiko, kein Herzblut, keine Wärme.

Die Reihe der ProArte – Konzerte in der Essener Philharmonie wird am 7. Mai fortgesetzt: Anne-Sophie Mutter spielt mit den Dresdner Philharmonikern und Rafael Frühbeck de Burgos Beethovens Violinkonzert. Am 27. Mai ist dann die Camerata Salzburg mit dem Perkussionisten Martin Grubinger zu Gast. Information: www.pro-arte-konzert.de