Zehn Jahre Revierpassagen – und wie weiter?

Unser Logo bleibt erhalten – Meeresfoto aus Boltenhagen/Ostsee (© Bernd Berke), Schriftgestaltung © Thomas Scherl.

Soso. Zehn Jahre sind also heute schon herum. Zehn Jahre Revierpassagen. Am 11. April 2011 sind die ersten Zeilen erschienen. Seither sind (auch aus dem Archiv) dermaßen viele Texte und Bilder hinzugekommen, dass der Speicherplatz beim Host mehrfach erweitert werden musste.

Ich wüsste nicht, welches Fazit ich ziehen sollte, das alle Fährnisse dieses Zeitraums beträfe und bündig zusammenfassen könnte. Im Laufe der Jahre, das muss man sich einfach eingestehen, haben die frischen Impulse aus der Anfangszeit etwas nachgelassen. Und die Reichweite? Ist hin und wieder ganz in Ordnung, aber gewiss nicht überragend. Allerdings gab es immer mal wieder Zuspruch und positive Rückmeldungen. Danke dafür.

Die Sache mit dem „Ehrenamt“

Auf Dauer hat es sich als misslich erwiesen, dass bloße Kulturberichterstattung ein „Verlustgeschäft“ ist, wenn keinerlei Subventionen oder Spenden fließen (und wenn man mal die „ideellen Werte“ außen vor lässt). Versucht einmal, Autorinnen und Autoren über eine Dekade bei Laune zu halten, wenn sie keine Honorare bekommen können. „Ehrenamt“? Gut und schön. Jedoch nicht für alle Tage…  Aber Spenden einwerben? Ist meine Sache nicht. Erst recht nicht in diesen Zeiten.

Sehr schwer hat es auch die Revierpassagen getroffen, dass Ende 2019 Martin Schrahn verstorben ist, einer der kenntnisreichsten und wortmächtigsten Mitarbeiter überhaupt. Seine Beiträge fehlen schmerzlich. Bis heute und für die kommende Zeit.

Vorfälle wie im richtigen Leben

Demgegenüber erscheint es geradezu läppisch, dass sich aus unerfindlichen Gründen zwischen zwei weiteren Autoren eine Differenz aufgetan hat. Der eine wollte nicht mehr weiter für die Revierpassagen schreiben, wenn der andere bliebe. Keine Namen! Doch welch eine kindische Attitüde, deren Ursache und Anlass nicht offen und ehrlich geklärt werden konnten. Ein weiterer Beiträger, hauptsächlich Buchautor, war durch den Tenor einer Rezension (die er sich von uns erbeten hat) so vergrätzt, dass er fortan keine Zeile mehr beigesteuert hat. Traurig wiederum: Ein ehedem reger Autor ist ernstlich erkrankt und seitdem auf Pflege angewiesen.

Andere Mitarbeiter(innen) sind in festen Jobs gelandet oder auf ihren vorherigen Posten mehr gefordert worden. Sie haben keine Extrazeit mehr fürs regelmäßige Bloggen. Ihnen alles Gute für ihre beruflichen Aufgaben.

Ihr seht: Bei den Revierpassagen sind halt im Laufe der Zeit einige Dinge vorgekommen, wie es sie auch im sonstigen Leben gibt.

…und dann kam noch Corona

Und dann kam schließlich noch Corona hinzu. Es mangelt(e) an Kulturveranstaltungen, über die sich noch berichten ließe. Gewiss: Man hätte zu einem reinen Buch- und Literatur-Blog übergehen können. Aber dann hätte man das Ganze wohl umbenennen müssen, vielleicht in „Leserevier“, „Textpassagen“ oder dergleichen. Außerdem wollen die vielen Bücher auch erst einmal gelesen und besprochen sein.

Und nun? Wird lockdownhalber nicht schäumend gefeiert, sondern nüchtern zurückgeblickt. Jedenfalls gebührt allen Autor(inn)en herzlicher Dank, die weiterhin am Projekt mitwirken.

Nach dem Lustprinzip

Für mich habe ich beschlossen, künftig etwas kürzer zu treten und den Ereignissen noch weniger hinterdrein zu laufen. Keine Termin- oder Nachrichten-Jagd also. Mit Tageszeitungen und deren personellen und technischen Ressourcen können wir eh nicht konkurrieren. Das haben wir zwar nie ernsthaft versucht, sondern bestenfalls das eine oder andere Zeichen gesetzt – zuweilen kräftiger, als dies wiederum auf den Kulturseiten der Ruhrgebiets-Tagespresse mit ihren arg begrenzten Umfängen möglich ist.

Fortan wird es hier jedenfalls noch deutlicher nach dem Lustprinzip zugehen.

__________________________________

In eigener Sache, Ergänzung

P. S. Aus einigen Beiträgen zu den Revierpassagen und etlichen weiteren Texten ist inzwischen ein kleines Buch hervorgegangen (132 Seiten, 16 Euro). Es ist vor wenigen Tagen als BoD (Book on Demand) in Jürgen Brôcans „edition offenes feld“ erschienen und u. a. auf diesem Wege erhältlich.




Warum lag der Sportkatalog für den früheren Bochumer Intendanten in meinem Briefkasten?

Also, das wird mir jetzt wohl niemand erklären können. Ich selbst bin auch ziemlich ratlos.

Ein durchaus rätselhafter Adressaufkleber (Foto: Bernd Berke)

Der Reihe nach: Jetzt traf der höchst umfangreiche Verkaufskatalog einer Hagener Sportartikel-Firma bei mir ein. Bleischwer lag er im Briefkasten. Mit zahllosen Angeboten für Vereine und Schulen. Utensilien für alle denkbaren Sportarten. Medizinbälle, Sprossenwände, Trampoline, Rugby-Ausrüstungen, Schwimmhilfen, Billardtische, Tischtennisplatten, Laufhürden, Torgestänge. All das und noch tausendfach mehr. Krasse Sachen dabei.

So weit, so halbwegs normal. Nur: Diese Firma hat mir vorher noch nie etwas geschickt. Auch hatte ich dort noch gar nichts bestellt und habe das auch nicht vor. Wahrscheinlich hat einer dieser ruchlosen Adressenhändler meine Daten weiterverkauft. Möge ihn die Pestilenz…

Doch nein. Offenbar war ich persönlich gar nicht gemeint. Der namentlich Angeschriebene zählt vielmehr zur Theater-Prominenz. Der Katalog war – unter meiner Anschrift – an Elmar Goerden adressiert, den ehemaligen Bochumer Schauspiel-Intendanten (im Amt 2005-2010). Nun gut, ich habe ihn, zusammen mit einem Kollegen, im Jahr 2005 einmal interviewt und später ein paar seiner Inszenierungen besprochen. Seine damalige Theaterarbeit habe ich in recht guter Erinnerung behalten. Auf welche wundersame Weise er aber mit meiner Adresse verknüpft und unter dem Label Revierpassagen angeschrieben worden ist, erscheint mir völlig schleierhaft. Als Goerden in Bochum tätig war, hat es die Revierpassagen noch gar nicht gegeben.

Mal kurz die Suchmaschine angeworfen: Was hat Elmar Goerden in den letzten Jahren so gemacht? Nun, hauptsächlich hat er offenbar als Gastregisseur an verschiedenen Bühnen in Wien inszeniert – weitab vom Ruhrgebiet. Auch kein Ansatzpunkt.

Wenn ich mich recht entsinne, hat Goerden einmal kurz vor einer Laufbahn als Profi-Fußballer gestanden und ist dann doch ans Theater gegangen. Immerhin eine vage Verbindung zum Sport. Oder sollte er etwa Trainingsgeräte für „seine“ Schauspieler*innen benötigen? Zählte nicht mal Fechten zur Schauspielausbildung? Fragen über Fragen. Absurde Vermutungen, die in semantischen Sackgassen enden. Ein postalischer Irrläufer, fürwahr.

Und jetzt? Bin ich mal gespannt, wessen Post mich demnächst ereilt. Die für Leander Haußmann? Für Frank-Patrick Steckel? Für Matthias Hartmann? Wetten werden noch angenommen.




Beim Archivieren älterer Zeitungsbeiträge für die Revierpassagen – eine Selbstbegegnung und Selbstbefragung

Die WR-Kultur- und Wochenend-Rdekation, ca. Anfang der 1990er Jahre, der Verfasser dieser Zeilen links vorn sitzend, dahinter (v. li.) Arnold Hohmann, Jürgen Overkott (damals Volontär), Berrens (Sekretariat), Rolf Pfeiffer, Johann Wohlgemuth, Hildegard Dörre. (Foto: Bodo Goeke)

Die WR-Kultur-/Fernseh- und Wochenend-Redaktion, ca. Anfang der 1990er Jahre, noch mit „altertümlich“ klobigem Computer-Gerät nebst mechanischer Schreibmaschine. Der Verfasser dieser Zeilen links vorn sitzend; stehend (v. li.) Arnold Hohmann, Jürgen Overkott (damals Volontär), Christel Berrens (Sekretariat), Rolf Pfeiffer, der damalige Ressortleiter Johann Wohlgemuth und Hildegard Dörre, Leiterin der Wochenendbeilage. (Foto: Bodo Goeke)

Wisst Ihr, womit ich mich seit einiger Zeit plage (und auch amüsiere)? Nun, ich bin dabei, ein kleines Archiv für die Revierpassagen aufzubauen, das ältere Artikel aus meiner „Feder“ umfasst. Weitergehendes steht mir ja nicht zu. Zur Zeit reicht dieser ausgesprochen lückenhafte Rückblick von Anfang 1993 bis 2006, rückwärtige Verlängerungen bis in die 80er Jahre hinein sind vorgesehen (Update: und inzwischen begonnen).

Ab 2007 setzen dann allmählich die Texte für „Westropolis“ und ab April 2011 für die eigentlichen Revierpassagen ein, womit dann endlich auch andere Autorinnen und Autoren ins mehr- bis vielstimmige Spiel kommen. Gut so. Übrigens ist dies just der 4000. Beitrag, der bei den Revierpassagen zu finden ist. Nicht übel, oder?

Immerhin auffindbar

Was das Archiv anbelangt: Der eine oder andere Rückblick in die jüngere kulturelle Revier-Geschichte mag dabei abfallen. Und was soll ich Euch sagen: Es ist schon ein eigenes Ding, dermaßen in die eigene (berufliche) Vergangenheit zu blicken. Dazu gleich noch mehr.

Offenbar nehme ich mich ja selbst wichtig genug, um die eigenen Hervorbringungen der digitalen Mit- und womöglich Nachwelt zu hinterlassen. Muss mir das jetzt unangenehm sein? Wenn man sich zu sehr oder auch gar nicht wichtig nähme, wäre es womöglich gleichermaßen ein Alarmsignal.

Irgendwann im WR-Konferenzraum: das damalige Ensemble der Ruhrfestspiele zu Gast. (WR-Foto)

Irgendwann während der 1980er Jahre im WR-Konferenzraum, als dort noch geraucht werden durfte: das damals noch bestehende, eigene Ensemble der Ruhrfestspiele zu Gast. (WR-Foto)

Vieles ist jetzt schon von gestern oder vorgestern, punktuell meinetwegen auch „historisch“ im Sinne einer deutlich wahrnehmbaren und vom Jetzt abgesetzten Vergangenheit. Sicherlich gibt es prägnantere Zeugnisse jener Zeiten, doch was die Region angeht, dürfte hier die eine oder andere Kleinigkeit zu holen sein.  Vielleicht sucht ja mal jemand nach Dortmunder Theateraufführungen bzw. Kunstausstellungen der 80er oder 90er Jahre des letzten Jahrhunderts. Besser, als wenn es überhaupt nicht auffindbar wäre, nöch?

Frühes Internet, Euro-Einführung, Rechtschreibreform

Zu ahnen sind – etwa gegen Mitte bis Ende der 90er Jahre – die Anfänge des Internets, zunächst noch tastend und zaghaft, später dann immer selbstverständlicher, schließlich auch schon vereinzelt im Überdruss. Sodann die wandelbaren deutsch-deutschen Fährnisse, der Sprung von den DM- in die Euro-Zeiten. Das Hin und Her um die Rechtschreibreform und um die Kulturhauptstadt Ruhr. Du meine Güte, 2010 ist bald auch schon wieder eine Dekade her.

Was subkutan noch alles zu gewärtigen wäre, möchte ich selbst nicht näher untersuchen, es liefe über die Maßen auf Selbstbespiegelung hinaus. Redaktionell ließe sich sagen, dass zeitweise einzelne Rezensionen unwichtiger genommen wurden. Stattdessen sollten – nach dem Willen gewisser Chefredakteure – Alltags-Phänomene aus feuilletonistischer Sicht betrachtet werden. Merksatz, den man nun wirklich nicht mehr hören mag: „Die Leute da abholen, wo sie sind…“ Das war vielleicht gar ein Vorläufer von „Das wird man ja wohl noch sagen dürfen!“ Vom Populären zum Populistischen sind es manchmal nur ein paar Schritte.

Wirkliche Debatten haben unterdessen die überregionalen Zeitungen angezettelt. Gelegentlich bis zum Exzess. Man sprach ja auch hochwichtig von „Debatten-Feuilleton“. Ganz ehrlich: Dazu hatten wir im östlichen Revier nicht die freien Köpfe und nicht die ausreichenden Mittel. Von der Personalstärke ganz zu schweigen.

Anno 1988: Feierliche Zusammenkunft der WR-Mantel- und Lokalredaktionen, vermutlich anlässlich des Wechsels in der Chefredaktion von Günter Hammer zu Frank Bühnte. (Foto: Bodo Goeke)

Anno 1988: Feierliche Zusammenkunft der WR-Mantel- und Lokalredaktionen, anlässlich des Wechsels in der Chefredaktion von Günter Hammer (ganz rechts vorn) zu Frank Bünte (vorn Mitte, direkt links neben der hochgehaltenen Zeitung). (Foto: Bodo Goeke)

Seitenproduktion unter erschwerten Bedingungen

Über viele Jahre hinweg konnte das sehr überschaubare Team sich ja nicht einmal auf die Kulturseite konzentrieren, sondern musste gleichzeitig die Fernseh-/Medienseite sowie zeitweise auch noch die Wochenendbeilage erstellen und dabei etlichen „populären“ Phänomenen hinterher laufen, die einen von Kultur eher ablenkten.

Trotzdem glaube ich, dass wir – angesichts der Verhältnisse – oft ein passables bis achtbares Blatt gemacht haben. Jawoll! Vor allem, wenn man es mit manchen heutigen Entwicklungen im regionalen Kulturjournalismus vergleicht. Hie und da ist Kultur als eigenständiges Ressort ja schon gar nicht mehr richtig vorhanden… Auch hätten wir damals Firlefanz wie gereckte Daumen oder Sternchen-Wertungen nicht mitgemacht.

Technisch geht das rückwärtige Vordringen ins Gestrige so vor sich: Eitel genug, habe ich meine Print-Artikel aus der Westfälischen Rundschau (deren Kulturredaktion ich von 1982 bis 2009 angehört habe – ab 1998 als deren Leiter) über die Jahre hinweg getreulich aufgehoben. Neuerdings gibt es taugliche Apps, mit denen man per Smartphone solche Texte hurtig scannen und in digitale Dateien umwandeln kann. Es ist immer noch ein mühseliges Geschäft, weil die OCR-Programme beileibe noch nicht alle Buchstabenfolgen korrekt erkennen, doch immerhin: Man kommt recht zügig voran.

Woher stammen Schlingensief und Kerkeling?

Damit ich’s nur gestehe: Beim Verarbeiten der alten Texte sind mir vereinzelt auch peinliche Fehler aufgefallen, die „damals“ im hektischen Aktualitäts-Getümmel untergegangen sind. Gewiss: Man hat nach Möglichkeit die Texte der Kolleg(inn)en gegengelesen und selbst gegenlesen lassen. Doch nicht immer waren derlei Bemühungen von Erfolg gekrönt. Andere Ressorts waren da ganz bestimmt nicht besser, ich glaube sogar: Wir haben genauer hingeschaut. Dies und das hat sich freilich „versendet“, wie man in anderen Medien traditionell zu scherzen beliebt. Blöd nur, dass das Gedruckte so hartnäckig stehenbleibt.

Was man nicht alles geknipst hat: Hinweisschild im WR-Aufzug... (Foto: Bernd Berke)

Was man nicht alles geknipst hat: Etagen-Wegweiser im Dortmunder WR-Aufzug… (Foto: Bernd Berke)

Beim Archivieren habe ich die erkannten Fehler selbstverständlich korrigiert. Als da beispielsweise wären: die bodenlose Behauptung, Christoph Schlingensief sei in derselben Ruhrgebietsstadt geboren wie Hape Kerkeling. Humbug! „Schlinge“ stammte aus Oberhausen, Hape aus Recklinghausen. Richtig unangenehm auch ein Buchstabendreher dieser Sorte: „Konservationsstück“ statt „Konversationsstück“. Puh!

Ein andermal habe ich tatsächlich bei einer Uraufführung den Vornamen der (damals wie heute herzlich unbekannten) Stückeschreiberin verhunzt und Eva statt Vera hingesetzt. Nur schwer verzeihlich. Normalerweise gucke ich in derlei Fällen eher dreimal hin. Denn Namen sind eben nicht nur Schall und Rauch. Nichtsdestotrotz ist es mir gleich zweifach passiert, dass ich den Namen von Armin Rohde „geringfügig“ falsch geschrieben habe. Und einmal ist mir der allerpeinlichste Fehler unterlaufen, als ich „Leientheater“ statt „Laientheater“ hingetippt habe. Das tut immer noch richtig weh. Drum schnell noch eine falsche Zahl hinterher: 1972 hätten die „Jungen Wilden“ bei der documenta Furore gemacht? Denkste. Es war natürlich 1982.

Ein ziemlich interessanter Beruf

Schon seltsam, sich selbst Jahrzehnte danach bei solchen Fehlern zu ertappen. Meistens aber waren die Sachen doch ziemlich korrekt, es geht ja insgesamt um mehrere Tausend Artikel. Und auch im Nachhinein bin ich noch mit manchen Beiträgen recht zufrieden oder einverstanden, obwohl ich im Rückblick die eigenen Marotten erkenne – und obwohl das Medium Regionalzeitung in der WAZ-Gruppe (heute Funke-Gruppe) dem Schreiben hie und da recht enge Grenzen gesetzt hat.

Schon allein die Beschränkung auf maximal rund 140 bis 150 Zeilen à 27 Anschläge, ganz ohne Ansehen des Themas… Aber das war noch relativer Luxus, verglichen mit heute, wo es auch mit dem Betriebsklima bei etlichen regionalen Medien hapert. Ich könnte Rösser, Reiter und Gerittene nennen, lasse es aber füglich bleiben.

Viele Jahre lang die zweite, wenn nicht gar die erste „Heimat": Blick in den Raum der WR-Kulturredaktion, anno 2008. (Foto: Bernd Berke)

Viele Jahre lang zweite, wenn nicht gar erste „Heimat“: Blick in die leere WR-Kulturredaktion am Brüderweg 9, anno 2008, nunmehr mit Flachbildschirmen. (Foto: Bernd Berke)

Und weiter: Ja doch, man hat über die Jahrzehnte einen ziemlich interessanten Beruf ausgeübt. Manchmal hat es sich schön geballt. Etwa so: Am einen Tag ein Konzert von Neil Young erlebt, kurz darauf den großen Frank Sinatra (1993). Oder eine Ausstellung mit Christo. Bei ein- und derselben Buchmesse (1995) mit Rühmkorf und Gernhardt sprechen zu dürfen. Oder so ähnlich. Berühmte Kulturschaffende wie Günter Grass, Gerhard Richter oder David Hockney persönlich erlebt zu haben. Mit schreibenden Menschen wie Martin Walser, Dieter Wellershoff, Harry Rowohlt oder Wilhelm Genazino und etlichen anderen gesprochen zu haben. Wenn auch oft nur unter Zeitdruck in engen Verlagskojen der Frankfurter Buchmesse. Nur zu schade, dass man die entsprechenden Tonkassetten nicht aufgehoben hat, darauf war viel mehr Material, als dann gedruckt erscheinen konnte. Dahin, dahin.

Andere Namen, andere Zeiten

Apropos: Im Rückblick habe ich auch bemerkt, dass ich das Hauptaugenmerk auf eine damals zeitgemäße Autorengeneration gerichtet habe, die inzwischen längst abgetreten ist. Zwar nicht mehr Böll. Und nur noch halbwegs Grass. Aber noch Walser, Ingeborg Bachmann, Enzensberger, Rühmkorf und Handke, sodann (bereits während des Studiums) Brinkmann und Nicolas Born, hernach beispielsweise Alexander Kluge, Botho Strauß, Paul Nizon oder eben Wilhelm Genazino. Jenseits der Landesgrenzen Cees Nooteboom, Milan Kundera, Lars Gustafsson. Um nur einige wenige zu nennen.

Noch deutlicher im Bereich Rock und Pop: Musikalisch in den 60ern und 70ern sozialisiert, war man in den frühen 80ern – wenn auch schon etwas widerwillig – noch halbwegs auf der Höhe. Dann wurde immer klarer: Man hat auch hierin „seine Zeit gehabt“. Der Rückgriff auf die eigenen „Idole“ hat nicht einmal mehr nostalgischen, sondern nur noch historischen Sinn. Wie bitte? Jaja, natürlich war die Musik nie wieder so gut wie damals.

Der um 2005/2006 eingeführte News Desk der WR – nach „Feierabend". (Foto: Bernd Berke)

Der um 2005/2006 eingeführte News Desk der WR – nach Spätschicht-„Feierabend“ abgelichtet. (Foto: Bernd Berke)

Bleisatz, grünes Flimmern usw.

Auch technisch ist so einiges an einem vorübergezogen. Los ging’s wahrlich noch mit Bleisatz, später flimmerten die frühen Computer-Terminals (alias „Tömmels“, wie wir sie nannten) grünlich vor sich hin, das waltete die Firma Atex. Jede Befehlskette war elend umständlich. Es ratterten noch die Fernschreiber („Ticker“) und der nach heutigen Begriffen ungemein langsame Bildfunk der Nachrichten-Agenturen. Wie schneckenhaft die Fotos aus dem Gerät gekrochen sind…

Irgendwann kam dann (Tele)-Fax auf, was einem anfangs geradezu hexerisch modern erschienen ist und neuerdings wieder eine kleine Renaissance erlebt. Dann der „Lichtsatz“, gleichfalls als letzter Schrei wahrgenommen und ebenfalls schon bald veraltet. Schließlich der Ganzseiten-Umbruch, die vielteilige Bildschirm-Wand im Konferenzraum, das Internet, das sich in allen Vorgängen rasant ausbreitete. Nun konnte jede(r) jedem in die Karten gucken. Zuweilen gar in Echtzeit.

Und heute? Online-Abos, Streaming, YouTube-Kanäle von allerhand „Influencern“ und „Aktivisten“, so genannte soziale Netzwerke etc. Eines nicht so fernen Tages wird einem die gedruckte Gazette wie ein liebenswertes Relikt vorkommen. Oder wie ein Kleinod.

_________________________________________

Gar nicht zu vergessen: Nach und nach sind immer mehr Kolleginnen und Kollegen „von früher“ verstorben, mittlerweile auch aus Jahrgängen, die einem nicht fern liegen.




Kultur zum Plaudern und zum Streiten – Spektrum von Goethe bis Punk: Erfahrungen und Eindrücke aus dem Kulturblog Westropolis

Von Bernd Berke

Manchmal reicht schon ein Bild mit provozierender Unterzeile: „Die Beatles sind langweilig“, behauptete der Westropolis-Autor Ingo Juknat kurzerhand, stellte ein Foto der Fab Four hinzu – und schon ging’s los mit teilweise empörten Kommentaren.

Juxhafter Moment mit Kasperlfiguren bei einem Westropolis-Treffen am 5. Februar 2008 im Essener Bahnhof Süd, u. a. mit dem „Revierflaneur" Manuel Hessling (hinten Mitte, mit Teufelchen), Ingo Juknat (hinten, ganz links) und Nadine Albach (vorn, 2. v. re.). (Foto: Bernd Berke)

Juxhafter Moment mit Kasperlfiguren bei einem Westropolis-Treffen am 5. Februar 2008 im Essener Bahnhof Süd, u. a. mit dem „Revierflaneur“ Manuel Hessling (hinten Mitte, mit Teufelchen), Ingo Juknat (hinten, ganz links) und Nadine Albach (vorn, 2. v. re.). (Foto: Bernd Berke)

Bei Westropolis, dem Kultur-Blog der WAZ-Mediengruppe, zu der auch die WR gehört, werden Musik, Kunst, Kino, Literatur & Co. oft zu heiß diskutierten Streitthemen. Auch als langjähriger WR-Kulturredakteur, der nun seit einigen Monaten ebenfalls bei Westropolis mitwirkt, macht man einige neue Erfahrungen.

Kulturfans sind nicht unbedingt leidenschaftliche Leserbrief-Schreiber. Im Blog (Internet-Auftritt, so etwa zwischen kollektivem Tagebuch und Plauderecke angesiedelt) ist das zuweilen ganz anders. Zwar gibt es auch hier ruhigere Stunden, doch häufig finden Beiträge sehr schnellen und deutlichen Widerhall; ganz gleich, ob Rezensionen zum aktuellen Kulturgeschehen, eher persönliche Aufzeichnungen oder veritable kleine Essays.

Im Netz wird mehr Tacheles gesprochen

Überdies wird im Netz mehr Tacheles gesprochen. Da müssen sich Autoren schon mal herbe Kritik gefallen lassen. Verbale Gegenwehr keineswegs ausgeschlossen. Doch praktisch immer wird im Widerstreit der Argumente ein Mindestmaß an Höflichkeit gewahrt. Man kennt die ungeschriebene „Net(t)iquette“ (Abart des Knigge fürs Internet). Auch Kampfhähne der Kultur wissen, wann’s genug ist. Da wird nicht unnötig nachgekartet.

Derzeit bestreiten neun ständige „Gastautoren“ und Autorinnen einen Löwenanteil der Westropolis-Beiträge, hinzu kommen etliche Kommentator(inn)en, die gelegentlich auch eigene Artikel bereitstellen. Das Spektrum steht im Zeichen eines gehörig erweiterten Kulturbegriffs, ist also breit und reicht von Goethe über Beuys bis Punk. Mindestens.

Jeder Geschmack kommt zum Zuge. Beispiele: Da gibt es ein wöchentliches, wahrhaft kniffliges Literaturrätsel vom „Revierflaneur“ Manuel Hessling, der so etwas wie eine Seele des ganzen Betriebs ist.

Auch Promi-Klatsch aus der Partyzone

Da teilt Else Buschheuer (moderiert das Magazin „Kino Royal“ im MDR-Fernsehen) neueste Eindrücke aus ihren Kino- und DVD-Sitzungen mit. Da wirft die Deutsch-Türkin Hatice Akyün (Bucherfolg: „Einmal Hans mit scharfer Sauce“) Fragen zwischen den Kulturen auf oder verbreitet zur Entspannung Promi-Klatsch und Erlebnisse aus der Partyzone.

WR-Redakteur Jürgen Overkott liefert serienweise CD-Besprechungen und Interviews. Der Autor dieser Zeilen ist mit wechselnden Themen dabei und nicht unfroh, derzeit den Kommentar-Rekord (bis gestern 364 Äußerungen zu einem Beitrag) zu halten. Wobei die Anzahl der Kommentare gewiss kein alleiniges Gütesiegel ist. Beliebt sind übrigens allerlei Hitlisten, auch negative wie etwa: „Die größten Nervensägen im deutschen Musikgeschäft“. Jeder kennt welche.

Auch bei den – meist unter erfundenen Namen antretenden – Kommentatoren ist einiges Interesse und Kulturwissen vorhanden. Ein Aufenthalt für Banausen ist Westropolis somit nicht.

Ein geradezu familiäres Gefühl

Wie im richtigen Leben: Mit der Zeit stellt sich ein geradezu familiäres Gefühl ein, wenn man die Seite betritt. Nach und nach kennt man Vorlieben, Macken und Launen vieler Mitstreiter. Der eine ist streng, die andere spontan, der dritte allzeit witzig. Aha, da hat sich ja wieder X geäußert, Y ist auch online, aber Z ist eine ganz neue Stimme im Konzert und bereichert den Zirkel.

Je mehr Meinungen und Temperamente, umso besser. Dann diskutiert es sich doppelt so schön. Wer sich dabei auf unverbindliche Positionen zurückzieht („Das ist doch letztlich alles Geschmackssache“), der hat hier keine sonderlich guten Karten. Weichspülerei wird allenfalls zur Versöhnung nach einer Diskussion akzeptiert.

Längst nicht immer geht’s bei Westropolis bierernst zu. In manchem Thread (Fachwort für „Themen-Strang“) wird auch schon mal gealbert. Oder: Eine Kultur-Debatte kann sich unter der Hand in ganz andere Bereiche wie etwa Alltag, Sport oder Kochkunst schlängeln. Speziell am Wochenende kommt es (mitten im kulturellen Wortgemenge) immer wieder zu netten kleinen Sticheleien zwischen BVB- und Schalke-Anhängern.

_______________________________________________

HINTERGRUND

Bestandteil von www.derwesten.de

  • Ein Blog (von „Weblog“) ist eine Art Online-Tagebuch eines oder mehrerer Autoren bzw. ein Gesprächskreis, der sich daran knüpft. Das Wort enthält den Bestandteil „Log“, der sich vom Seefahrer-Logbuch ableitet.
  • Die ersten Blogs tauchten um die Mitte der 1990er Jahre in Internet auf.
  • Streitfrage: Heißt es „der“ oder „das“ Blog? Der Duden lässt beides zu.
  • Westropolis ist Bestandteil von www.derwesten.de, des neuen online-Auftritts der WAZ-Mediengruppe, zu der auch die WR gehört.
  • Mehrere WR-Redakteure sind auch ständige Gastautoren bei Westropolis.
  • Westropolis ging im Februar 2007 an den Start. Seither wurden Kulturthemen aller Sparten und Güteklassen aufgegriffen.
  • Internet-Adressen: www.derwesten.de und www.westropolis.de

_______________________________________________

Nachtrag 2019:

2011 komplett gelöscht

Aus bis heute unerfindlichen Gründen hat die WAZ-Gruppe (heute Funke-Gruppe) Anfang 2011 Westropolis komplett aus dem Netz genommen – mit allen Beiträgen und zigtausend Kommentaren. Ein brachialer Akt. Und von wegen: „Das Internet vergisst nichts.“ In diesem Falle eben doch. Weil es dazu gezwungen worden ist.

Zwei der damaligen Autoren sind inzwischen – allzu früh – verstorben, nämlich die erwähnten Manuel Hessling und Ingo Juknat. Friede sei mit ihnen.

Zwei anderen Mitwirkenden, deren Namen hier gnädig verschwiegen werden sollen, ist ihr bisschen Erfolg zwischenzeitlich sehr zu Kopf gestiegen. Schade eigentlich.

 




Botho Strauß: Erfolg ohne Medienrummel

Der von fast allen Theaterkritikern überschwenglich gelobte Autor Botho Strauß gilt zugleich als „unzugänglichster“ Schriftsteller der Gegenwart. Das einzige umfängliche Gespräch mit Strauß wurde 1979 von einer Schweizer Zeitung veröffentlicht. Jetzt konnten WR-Redakteur Bernd Berke und Marianne Hausen, freie Journalistin aus Heidelberg, den Schriftsteller in Berlin besuchen und ein längeres Gespräch mit ihm führen.

***

Botho Strauß ist ohne Zweifel einer der gefragtesten deutschen Gegenwartsautoren. Nachdem viele Kritiker seine ersten Theaterstücke als „elitär“ oder schlicht als unverständlich abqualifiziert hatten, schaffte Strauß gegen Ende der 70er Jahre mit der „Trilogie des Wiedersehens“ und mit „Groß und klein“ den Durchbruch.

Seither wird dem 1944 geborenen, in Remscheid aufgewachsenen Autor in den bundesdeutschen Feuilletonspalten geradezu gehuldigt. Selbst gefürchtete Großkritiker erkoren ihn zum wichtigsten Theaterschreiber dieser Jahre. Auch Strauß‘ Prosawerke verkaufen sich bestens. „Die Widmung“, Geschichte einer Trennng, stand lange Zeit auf den Bestsellerlisten. Auch Strauß‘ neueste Prosaarbeit, der Band „Paare Passanten“, ging bereits 25 000 mal über die Ladentische – eine für belletristische Werke sehr beachtliche Zahl. So gehören denn inzwischen Strauß‘ Stücke zum festen Repertoire in- und ausländischer Bühnen. Auch im Deutschen Fernsehen wurden die „Trilogie“ sowie „Groß und klein“ schon gezeigt.

Trotz all dieser Erfolge ist Strauß einer der unbekanntesten Autoren geblichen, weil er sich sehr zurückhält, was Interviews angeht. Zahlreiche Journalisten haben vergeblich versucht, die geheime Telefonnummer des in Berlin lebenden Strauß zu erfahren und ihn zu Äußerungen zu bewegen. Erst jüngst bekam eine große deutsche Illustrierte eine Abfuhr. Strauß genehmigte der WR zwar ausdrücklich die Veröffentlichung, wollte aber nicht, daß während der Unterhaltung Notizen gemacht würden. Daher hat das Folgende den Charakter eines Gedächtnisprotokolls:

Strauß bestätigt die Vermutung. daß er, als einer unter ganz wenigen deutschen Autoren, von seinen Schreibeinkünften recht gut leben könne. Den Löwenanteil mache dabei nicht etwa der Erlös aus dem regen Verkauf der Prosabände aus. Die Einkünfte durch die Aufführungsrechte an den Stücken fielen mehr ins Gewicht.

Der Autor ist selbst ein wenig überrascht, daß seine Bücher so begehrt sind, wundert sich über den fulminanten Anfangserfolg seines Buches „Paare Passanten“, das erst seit Ende 1981 auf dem Markt ist. Daß „Die Widmung“ sich so gut verkauft habe, sei wohl dem Zufall zu verdanken. Als das Buch 1977 erschien, habe das Thema der Trennung zweier Lebensgefährten gerade Saison gehabt. Strauß: „Überhaupt prägen schnell wechselnde Modeströmungen den Literaturbetrieb. Wer zum Beispiel heute noch ein Buch über seine Beziehung zum Vater schriebe, käme entschieden zu spät“. Er selbst könne mit solch kurzlebigen Erscheinungen gar nichts anfangen und wisse, daß er im Prinzip immer für ein Minderheit schreiben werde. Gottlob werde er auch noch nie, wie etwa Günter Grass oder Heinrich Böll, von allen Leuten auf der Straße erkannt.

Tatsächlich ist Strauß dem Erfolg nie hinterhergerannt, eher hat er ihn sich hartnäckig ersessen: Als er mit seinem Germanistik-Studium nicht mehr zufrieden war, bewarb er sich bei der Fachzeitschrift „Theater heute“ um einen Ferienjob. Was sich heute in Strauß‘ Biographie wie die Beschreibung eines unglaublich leichten Einstiegs in die Theaterszene liest, war in Wirklichkeit mit einigen Frustrationen verbunden. Strauß: „Ich durfte bei ,Theater heute‘ lange Zeit so zusagen nur die Paplerkörbe leeren.“ Mehr als einmal habe ihm Henning Rischbieter, Chef des renommierten Monatsblattes, zu verstehen gegeben, wie mies seine, Strauß‘, Beiträge seien und daß man so etwas auf gar keinen Fall veröffentlichen könne. Diesen Anfechtungen zum Trotz hielt Strauß durch: „Eigentlich sollte ich nur vier Wochen in der Redaktion sitzen, aber ich blieb einfach weiter dort und niemand schickte mich weg.“ Strauß wurde mehr oder weniger „geduldet“.

Kaum aber hatte er seine ersten eigenen Werke veröffentlicht, stieg sein Ansehen auch bei der Theaterzeitschrift. Plötzlich erschienen seine Rezensionen – und schon bald galt er als einer der besten deutschen Theaterkritiker.

Damit war der Weg vorgezeichnet, der später über die Dramaturgiearbeit an Peter Steins West-Berliner „Schaubühne“ zum jetzigen Status des freien Schriftstellers führte. Strauß heute: „Ich war hartnäckig und hatte außerdem Glück.“

Strauß verabscheut den Erfolgsrummel in jeder Form. So hat er zum Beispiel nie eine Vorlese-Tournee durch Buchhandlungen unternommen, obwohl er weiß, daß Buchhändler für die Verbreitung eines Werks wichtiger sind als jeder noch so einflußreiche Kritiker. Oft nämlich überschritten unschlüssige Kunden die Ladenschwelle, denen der Buchhändler etwas empfehlen müsse.

Auch zu einer anderen Einrichtung des Literaturbetriebs, den PreisverIeihungen, hat Botho Strauß kein ungebrochenes Verhältnis. Zwar nahm er bislang alle Auszeichnungen an („Täte ich das nicht, würde das eine Entwertung des Preises bedeuten, an der mir nichts liegt“), doch blieb er kürzlich einer Verleihungszeremonie fern und überwies den ihm zugedachten Geldbetrag einer Hilfsorganisation. Die Folge war eine Geisterveranstaltung. bei der zwar ein Streichquartett musizierte, bei der der geehrte Autor jedoch nicht zugegen war.

Ablehnende beschied Strauß vor kurzem auch das Ansinnen Marcel Reich-Ranickis, des gefürchteten Kritiker-„Papstes“. Reich-Ranicki habe ihn als ständigen Mitarbeiter für ein konservatives Blatt in Frankfurt gewinnen wollen. Strauß skeptisch: „Solche Kritiker bilden sich ein, man sei ihr Schützling. Irgendwann lassen sie einen dann fallen“.

Immerhin: Unter Wert verkauft sich auch Strauß nicht mehr. Sein Roman „Rumor“ wird als Taschenbuch bei Ullstein und nicht – wie bisherige Lizenzausgaben – bei dtv erscheinen, und zwar der höheren Tantiemen wegen.

Zur Zeit steht Strauß ein neues Erfolgserlebnis bevor. Sein letztes Stück, „Kalldewey“, hat in diesen Tagen in Hamburg Premiere (Regie: Niels-Peter Rudolph). Die Karten fanden reißenden Absatz. Strauß glaubt jedoch, daß die Premiere in erster Linie ein Ereignis für Intellektuelle, Kritiker und Kulturschickeria sei. Zugleich befürchtet er, daß das Stück vielleicht eine allzu schwere Aufgabe für die Schauspieler darstelle. Darin sieht er auch einen Grund dafür, daß die Uraufführung schon einmal verschoben werden mußte. Die in der Farce „Kalldewey“ als Stilmittel eingesetzte Sprache der AIternativszene habe er teilweise vor Ort erlauscht, zum Teil übertreibend hinzuerfunden, um die Essenz dieser Sprache noch deutlicher hervortreten zu lassen.

Zur Zeit schreibt Strauß an einem weiteren Theaterstück. Reichlich Material habe er schon beisammen, doch befinde sich das ganze noch in der Phase der Rohfassung. Strauß schreibt immer mehrmals von Hand vor, bevor er tippt – übrigens am liebsten auf einem alten OIivetti-ModelI, obwohl er neuerdings auch eine elektrische Maschine besitzt. Deren Geräusch zerre jedoch an seinen Nerven.

Wenn Strauß in seiner nahezu unmöblierten 190-Quadratmeter-Wohnung in der Nähe des Wittenberg-Platzes schreibt, meidet er – noch mehr als sonst – die Öffentlichkeit. Eine der wenigen .Ablenkungen“ in der Isolation ist dann die Lektüre. Dabei interessierten ihn nur wenige Gegenwartsautoren (darunter Thomas Bernhard, Peter Handke und Paul Nizon). Er bevorzugt Klassiker wie Dostojewski, Rilke und zur Zeit Musils Riesenwerk „Der Mann ohne Eigenschaften“.

Strauß, in seiner Jugend Fan von Caterina Valente und Margot Eskens, hört heute fast nur klassische Musik. Dennoch notiert er, als wir darauf zu sprechen kommen, die Namen einiger neuer deutscher Rockgruppen wie „Ideal“ und „Abwärts“. Grund: Strauß interessiert sich für die Zukunftsangst, die sich in den Texten dieser Bands ausdrückt. Freilich zweifelt er, ob diese Angst eine wirkliche Zeit- oder nur bloße Modeströmung sei.

________________

Erschienen in der WR-Wochenend-Beilage vom 30. Januar 1982