„Wehe, wenn der Russe kommt…“ – So haben wir damals gelacht und nicht gedacht

Sichtbares Bekenntnis beim Gang durch den Dortmunder Rombergpark, Ende Februar 2022. (Foto: Bernd Berke)

„Wann und wie mag denn wohl der Russe kommen?“ Wenn ich diese triefend ironische, hier noch einmal mitsamt Text verlinkte Überschrift vom 24. Juni 1982 über einem meiner Artikel wieder lese, läuft es mir heißkalt den Rücken herunter, so überaus falsch klingt sie jetzt.

Die Schlagzeile stand jedenfalls über einer TV-Vorschau auf einen Film des Dortmunders Michael Braun, der damals die Bundeswehr aufs Korn genommen hat. Flott und flockig, wie man wohl zu sagen pflegte. Wenn ich mich recht entsinne, hat die Süddeutsche Zeitung den Beitrag seinerzeit aus der Westfälischen Rundschau übernommen.

Ich war mit einer solchen Gesinnung beileibe nicht allein. Es war weithin Konsens. Dabei gab es doch noch die Sowjetunion, über die seinerzeit der Hardliner Leonid Breschnew (gestorben im November 1982) gebot, der am 25. Dezember 1979 seine Armee in Afghanistan hatte einmarschieren lassen. Doch das Böse, so haben viele – spätestens seit dem Vietnamkrieg – ganz selbstverständlich gemeint, hause vor allem oder gar ausschließlich in den Vereinigten Staaten und bei ihren Vasallen; erst recht, seit Ronald Reagan ab 1981 US-Präsident war und hitzig über den NATO-Doppelbeschluss diskutiert wurde.

Waren es nur Jugendsünden?

Rund vierzig Jahre ist das her. „Jugendsünden“ also? Ja, so haben wir damals und noch lange, lange Zeit danach uns lustig gemacht über die vermeintlich unsinnige Vorstellung, dass „der Russe“ kommen werde. Wir, die wir uns für links und fortschrittlich gehalten haben. Sehr viele sehr kluge Leute dabei und trotzdem gar nicht gut beraten, wenn man es von heute aus betrachtet. Aber hätten wir denn auf die Kommunistenfresser hören sollen? Auf einen CDU-Betonkopf wie Alfred Dregger etwa, an dessen von Buhrufen übertönten Dortmunder Marktauftritt aus den späten 70er Jahren ich mich noch erinnere, weil er immer „Kommenisten“ sagte. Wie haben wir uns beömmelt!

Das Gefasel vom „Ende der Geschichte“

Spätestens 1989 und die Folgen (das Gefasel vom „Ende der Geschichte“) haben uns vollends eingelullt. Wenn man nur hellhöriger gewesen wäre! Wenigstens in den letzten Jahren, wenigstens 2014, als Wladimir Putin kurzerhand die ukrainische Halbinsel Krim annektieren ließ. Doch aus schierer Gewohnheit, Denkfaulheit und Bequemlichkeit haben wir noch jede Lüge Putins geglaubt, haben sie glauben wollen. Nun überschreiten seine Truppen nicht nur widerrechtlich Staatsgrenzen, sondern er selbst lässt auch Grenzlinien des bisher Vorstellbaren hinter sich. Über 70 Jahre Frieden in weiten Teilen, ja fast (!) in ganz Europa haben uns in Sicherheit gewiegt. Nun droht uns einer mit Atomwaffen und lässt Atomkraftwerke attackieren. Auch wird wild spekuliert, ob seine Armee Polen, das Baltikum oder Berlin angreifen werde. Welch ein Wahnsinn! Seit der Kubakrise 1962 ist die Weltlage nicht mehr so brandgefährlich gewesen. Jetzt aber direkt vor unserer Haustür. Was freilich angesichts atomarer Bedrohung beinahe zweitrangig ist.

Ausläufer der alten „Denke“ waren noch bis vor ein, zwei Wochen virulent oder vielmehr: einschläfernd wirksam; bis zum ruchlosen Überfall der russischen Militär-Maschinerie auf die Ukraine am historischen 24. Februar 2022. Seitdem hat sich so furchtbar viel getan und geändert, hat sich manches, was oben zu liegen schien, zuunterst gekehrt. Nun beugen sich auch Pazifistinnen und Pazifisten besorgt über Europa-Karten, sprechen auf einmal geläufig von wehrhafter Demokratie und stellen strategische Erwägungen an, die bis vor Kurzem Generälen vorbehalten waren.

Wertschätzung für Wehrhaftigkeit

Die ziemlich marode Bundeswehr, wenn auch vielfach reformbedürftg (was derzeit eher organisatorisch als politisch verstanden wird), ja das Militärische im Westen überhaupt, erfährt eine vordem ungeahnte Wertschätzung. Wehrhaftigkeit ist das Wort der Stunde, vielleicht des Jahrzehnts. Wenn das mal nicht ins andere Extrem umschlägt! Wer hätte unter einer „Ampel“-Regierung erwartet, dass man in dieser „Zeitenwende“ (Olaf Scholz) so schnell derart viele Gewissheiten über Bord wirft?

Und wir dachten, wir wären dabei, in Sachen Corona-Pandemie (die bereits als größte Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg galt) schon das Schlimmste hinter uns zu lassen. Und jetzt? Redet kaum noch jemand vom Virus.




Aus dem Leben eines Trinkers – „Die Reise nach Petuschki“ im Dortmunder Schauspiel

Uwe Rohbeck

Wenja (Uwe Rohbeck). (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Man weiß sofort, was mit Wenja los ist. Er ist ein Trinker, immer auf der Suche nach dem nächsten Schluck; einer, der in Hausfluren schläft und klaffende Gedächtnislücken hat. Wenja macht keinen Hehl aus alledem, sondern erzählt (wie man hier vielleicht nicht mehr sagen sollte) frei von der Leber weg.

Wenja hat auch Stil. Und Kultur. Die Abfolge der Getränke, des Wodkas, des Bieres, des Rosés, will bemessen und durchdacht sein. Auch wenn längst schon klar ist, daß nicht Wenja über den Alkohol, sondern der Alkohol über ihn gebietet. Besonders dann, wenn er nach Moskau reist; dann richtet sich sein Pfad nach den Kneipen und Restaurants, die geöffnet haben, weshalb er den Kursker Bahnhof schon oft, den Kreml aber noch nie gesehen hat.

1973 schrieb Wenedikt Jerofejew seinen Roman „Die Reise nach Petuschki“, dessen Hauptperson und Ich-Erzähler Wenja ist (in dem man sicherlich auch einen Wiedergänger des Romanautors erkennen kann). Lange blieb das Buch verboten, und im Westen scheint der Stoff erst in den letzten Jahren so richtig angekommen zu sein, wurde er zu Hörbüchern und einem Hörspiel verarbeitet und fand seinen Weg nun auch ins Dortmunder Theater.

Uwe Rohbeck

Wenja (Uwe Rohbeck). (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Sehnsuchtsort Petuschki

Wenja denn also, den Uwe Rohbeck herausragend gibt, will vom Kursker Bahnhof aus nach Petuschki reisen, wo Frau und Kind auf ihn warten und der Himmel blau ist und es auch im Winter nach Lavendel riecht. Geschenke hat er dabei, die indes eher Alkoholika zu sein scheinen, und irgendwie landet er am Ende wieder in Moskau. Was da unterwegs passiert ist, kriegt er nicht mehr zusammen, es verliert sich im Nebel der Trunksucht.

Das so in groben Zügen Skizzierte gibt es nun also auf der Studiobühne zu sehen – in einer rigoros zusammengestrichenen, gut einstündigen Textfassung von Stephen Mulrine (deutsch von Hein Marecek) und in der Regie von Katrin Lindner. Eine sehenswerte Personenstudie ist es geworden, ein in sich schlüssiges Theaterprodukt, ein schöner, amüsanter Theaterabend.

Uwe Rohbeck

Wenja (Uwe Rohbeck): (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Die Verhältnisse in der Sowjetunion

Wer allerdings das Glück hat, Jerofejews Vorlage zu kennen, ist möglicherweise ein wenig enttäuscht. Denn die Geschichte lebt ja nicht nur vom Wenja-Plot, sondern von den vielen, mehr oder weniger alkoholdurchtränkten Gesprächen, von den beiläufigen Beschreibungen gesellschaftlicher Abgründigkeiten und der allgegenwärtigen Absurdität des erstarrten Breschnew-Sozialismus.

Manches wird in der Dortmunder Kompaktversion erwähnt, wie die Geschichte rund um den stets betrunkenen Eisenbahnkontrolleur, der sich von ertappten Schwarzfahrern mit Wodka bezahlen läßt; doch bleibt das sich in diesem Macht- und Korruptionsverhältnis spiegelnde Gesellschaftsbild anders als im Buch ungemalt. Auch die zahlreichen liebevollen Beschreibungen der einfachen russischen Menschen, die sich ihre Wirklichkeit gern zusammenphantasieren (der Alkohol hilft dabei), sind weggefallen. Nun denn.

Trinker mit Schlips und Kragen

Uwe Rohbecks grandioses Spiel vermag für diesen Mangel reich zu entschädigen. Seine Figurenzeichnung ist brillant. Nie sieht man ihn mit Glas oder Flasche in der Hand. In Anzug, Schlips und Kragen steht er auf der kargen Bühne (Bühne und Kostüme: Tobias Schunck), ein Mann offenbar, der auf sein Äußeres hält. Und doch sind kleine Zeichen der Verwahrlosung in der Kleidung unübersehbar. Zudem weiß Rohbeck, zierlich, hager und gelenkig, gekonnt die kleinen Bewegungsunsicherheiten des Trinkers zu geben, und auch die Sprache läßt den Alkoholpegel ahnen, doch ist sie weit vom Lallen der Betrunkenen entfernt. Dieser Alkoholiker wahrt Haltung und hat Benehmen – was ihn nicht vor dem Delir bewahren wird.

Begeisterter Applaus. Und Dank dem Haus für ein feines Stückchen Schauspielertheater.

  • Nächste Termine: 22.1., 18.2. (15,- Euro/ 10,- Euro ermäßigt)
  • Karten und Informationen Tel. 0231 50 27 222
  • www.theaterdo.de