Verdis „Macbeth“ in Essen: Das Drama der lebenden Toten verläuft sich in Bildern

Gun-Brit Barkmin als Lady Macbeth in Essen. Foto: Matthias Jung

Gun-Brit Barkmin als Lady Macbeth in Essen. Foto: Matthias Jung

Ein kleiner Erdhügel zu den gläsernen punktierten Zweiunddreißigsteln des Vorspiels von Verdis „Macbeth“. Ein Grab. Zwei Menschen nähern sich ihm, Lilien in den Händen. Der Fortissimo-Sturm der scharf akzentuierten Bläser bricht los. Unter der Bühne kracht und knallt es; ein riesiger Baum reißt sich los, kämpft sich hinauf in den dunklen Himmel, als starte ein monströses Raumschiff. Die Wurzeln triefen zu Boden – dorthin, wo sich ein kreisrunder Schlund geöffnet hat.

Mit einem spektakulären Bild werden die Zuschauer im Essener Aalto-Theater von Bühnenbildner Christof Hetzer in Verdis abgründige Tragödie hineingestoßen. Baum und Grab – Symbole für Leben und Tod – bilden die zentralen Motive der Bühne; Abgrund und Brücke treten dazu: Hetzer baut über den manchmal schwarz starrenden, manchmal trüb beleuchteten Krater einen Steg wie aus einem jener schwarzweißen, gruseligen Gothic-Krimis, in denen sich das Abgründig-Menschliche und das Unheimlich-Übernatürliche auf geheimnisvolle Weise verbinden.

Herbstblätter bedecken die weite Fläche der Bühne. Ein riesiger Raum, in dem die Figuren oft verloren wirken – wie hinausgeworfen in eine Welt in Dunkelheit oder Zwielicht, in der sie keine Orientierung finden. Nur die Gräber sind Bezugspunkte: ein erdiges Kindergrab und ein alter Sarkophag aus rissig-moosigem Stein. Dorthin werden die Toten gekippt. Dort stirbt Macbeth, noch lebend schon im Grabe, mit seinen letzten Worten die Krone von sich werfend.

Kinderlosigkeit löst den blutigen Machttrieb aus: Tommi Hakala am Grab. Ein gestorbenes oder nie geborenes Kind? Foto: Matthias Jung

Kinderlosigkeit löst den blutigen Machttrieb aus: Tommi Hakala am Grab. Ein gestorbenes oder nie geborenes Kind? Foto: Matthias Jung

Das Motiv der lebenden Toten ist auch für David Hermann in seiner Inszenierung ein entscheidendes: Wenn der König die Schotten für jenes fatale Fest versammelt, auf dem ihn der Geist des ermordeten Banco in Angst und Wut entrückt, scheint er längst selbst zum Totenreich zu gehören: Er spricht mit den Ermordeten, die wie lebensgroße Marionetten auf dem Sarkophag hocken, lässt sie wie Handpuppen sprechen und nicken, echauffiert sich, als eine der Gestalten zusammenklappt. Ein grotesk-makabres Theater, von dem die Menschen um ihn herum keine Notiz nehmen. Wie bei einem Picknick in Glyndebourne sitzen sie im Herbstlaub, speisen aus geflochtenen Körben, lassen sich von Macbeth ohne Reaktion die Weinflasche wegnehmen. Mit der realen Welt hat das mörderische Königspaar nichts mehr zu tun – es ist längst in seine eigene Horrorwelt hineingestorben.

Das ist alles sehr klug, sehr konsequent und sehr detailreich erfunden – und lässt dennoch auf seltsame Weise unberührt. Vielleicht, weil uns diese Wiedergänger-Geschichte nicht interessiert. Weil die Spannung zwischen der Welt der Lebenden und der Toten im allumfassend leblosen Raum aufgelöst wird. Weil der humane und der politische Aspekt des Stücks wegsymbolisiert, wegpsychologisiert wird. Oder auch, formal argumentiert, dem spektakulären Baumstart zu Beginn szenisch nicht mehr viel folgt.

Ein riesiger Baum reißt sich los, kämpft sich hinauf in den dunklen Himmel. Foto Matthias Jung

Ein riesiger Baum reißt sich los, kämpft sich hinauf in den dunklen Himmel. Foto Matthias Jung

Die Hexenchöre schallen aus der unbestimmten Dunkelheit; die Erscheinungen im dritten Akt sind ein beziehungsreicher, aber szenisch läppisch gelöster Aufmarsch schwangerer Frauen. Das Bild des leidenden Volkes zu Beginn des vierten Aktes – der Chor schiebt sich durch den Zuschauerraum nach vorne – bleibt stumpf; die blutigen Kinderleichen um den Sarkophag auf der Bühne wirken dazu wie ein zu billig geratener Schockeffekt. Auch die zwei Zeit-Ebenen, durch Hetzers Kostüme gekennzeichnet, helfen nicht wirklich weiter.

So spitzt sich das Drama nicht zu, sondern verläuft sich eher in den Bildern. Ein Grund mag sein, dass Hermann mehr auf die sorgfältig gesetzten symbolischen Gesten setzt als auf eine sprechende Personenführung. Der glänzende Handschuh, den Macbeth vom Arm des toten Duncan streift – ist es „la man rapace“, die „räuberische Hand“, die er gegen seine erklärte Absicht dann doch erhebt? Wenn Macbeth den toten Banco mit einer Lilie peitscht – ist es eine Chiffre für den verzweifelten Hass auf den Mann, der Kinder hat? Kleine Jungs in Anzügen plagen den König – sind es die drohenden Nachkommen Bancos?

Die Videos von Martin Eidenberger, projiziert auf den massiven Mauerwürfel, der sich einige Male über die Szene senkt, schaffen in der Hexenszene des dritten Akts eine deutende Bild-Ebene, sind aber an anderer Stelle aber banal: eine rote Hand etwa, oder kaleidoskopartige Muster. Wir sehen eine Inszenierung, die das Stück nicht verschenkt, die viel Reflexion und Dramaturgen-Subtext integriert, aber als Theater die Spannung nicht hält, die Aufmerksamkeit nicht durchgehend fesseln kann. Kein missglückter, aber auch kein rundum überzeugender Auftakt der neuen Ära am Aalto-Theater.

Einstand mit "Macbeth": Tomás Netopil, der neue Chefdirigent der Essener Philharmoniker. Foto: TUP

Einstand mit „Macbeth“: Tomás Netopil, der neue Chefdirigent der Essener Philharmoniker. Foto: TUP

Mit Spannung erwartet wurde den Einstand des neuen GMD Tomáš Netopil in der Oper: Kurz gesagt, war es ein glückliches Debut. Netopil bewies, was sich bereits in Verdis „Missa da Requiem“ im Sinfoniekonzert angekündigt hatte: Er hat die Sensibilität für Verdis musikalisch-dramatische Orchestersprache, für den klugen Aufbau dynamischer Großstrukturen, für das behutsam ausgeformte Detail, für die rhythmische Prägnanz und den erfüllten Duktus der Melodie. Dem Finale des Ersten Akts etwa gibt er den agogisch gestalteten, inneren rhythmischen Drang, der sich in der sicher angesteuerten Entladung befreit.

Die Philharmoniker lassen kaum etwas zu wünschen übrig, sind auf dem Punkt, wenn es um die Einfärbung des Klangs durch gekonnte Balance der Instrumente geht, um die Schärfe punktierter Rhythmen oder den wuchtigen Tutti-Zugriff, gestützt von prachtvollen Blechbläsern. Was sich noch entwickeln muss, sind die Finessen des Ausdrucks: Die „tinta“, die Verdi haben will, jene im Falle des „Macbeth“ dunkel verschattete Orchesterfarbe, die fahlen Klänge, die erstickten, halb unterdrückten Laute, die unwirklichen, atmosphärisch entrückten Momente, bleiben bei Netopil noch zu neutral. Und im Vorspiel schlittert er aus einer zu stark angezogenen Bewegung in ein nicht unheimlich-majestätisches, sondern schleppend langsames Tempo. Auch die kruden Striche waren überflüssig und ärgerlich: So etwas sollte sich Netopil gleich gar nicht angewöhnen.

Eine reife Leistung darf man Alexander Eberles Chor attestieren: Tönten die Hexenchöre anfangs zu lyrisch-brav aus dem Off, entwickelte sich der Klang ab dem Sextett mit Chor zu prachtvoller Größe. Die Solisten geben dagegen nicht nur Anlass zum Glücklichsein. Gun-Brit Barkmin als Lady wird mit den Anforderungen ihrer Riesenpartie in punkto Beweglichkeit und psychologischer Differenzierung anstandslos fertig. Aber die Stimmfarbe ist sehr hell und schwer zu verschatten. Ihre Piano-Skala lässt sich weit auffächern, aber das hohe b, mit dem sie im Sextett über den Chor kommt, klingt gellend und scharf. Außerdem neigt Barkmin dazu, in die Sprechstimme zu wechseln, nähert sich veristischen Ausdrucksmitteln, die sie auch in ihrer Wahnsinnsszene einsetzt, statt mit der Stimmfarbe zu spielen.

Auch der Macbeth des finnischen Baritons Tommi Hakala flattert unzureichend gestützt, wird immer wieder in der Höhe eng, verliert den Kern des Klanges. Doch in der finalen Szene, als Macbeth allen Sinns verlustig mit seiner Krone auch sein Leben wegwirft, läuft Hakala zu großer Form auf: Diesem unterdrückten, stammelnden Absterben des Tones, das Verdi in seinem höchst expressiven Schluss des „Macbeth“-Ursprungsfassung von 1847 fordert, entspricht der Sänger voll und ganz. Hätte er nur für die kantablen Szenen dieselbe Solidität. Aber dort, wo sichere Technik gefragt ist, kommt Hakala ins Schwimmen.

Für Alexey Sayapin, neues Ensemblemitglied, als Macduff gilt das nicht. Er demonstriert in seiner Arie eine versierte Beherrschung seines Tenors – die ihm in den dünn gequäkten Tönen des Finales wieder fehlt. Was Sayapin nicht hat, ist der flutende, freie Klang, der den traditionell geschulten, heute selten gewordenen italienischen Tenor auszeichnet. Die Stimme sitzt zu fest, der Klang wird nicht entspannt gebildet.

Ein Gewinn für Essen ist der Bass Liang Li: Eine voluminöse, aber beherrschte Stimme, reich an Farben und fähig, sie auch flexibel einzusetzen; ein meist kontrolliertes Vibrato und eine schmelzende Legato-Linie. Ein mustergültiger Banco. Marie-Helen Joël bewährt sich erneut erfreulich als Kammerfrau der Lady, die von Macbeth ebenso gemeuchelt wird, ebenso wie der in seinen wenigen Sätzen schönstimmige Arzt (Baurzhan Anderzhanov). Abdellah Lasri kann als Malcolm problemlos Tenor-Paroli bieten. Die erste Premiere unter Intendant Hein Mulders ist mehr als ein Versprechen, noch nicht ganz eine Erfüllung, signalisiert aber den Elan, mit dem sich das neue Team am Aalto die Zukunft erobern will. Nur zu!




Festspiel-Passagen III: Liebe in Zeiten der Datenströme

Jan Philipp Gloger ist 31 und damit aus einer Generation, die mit Matrix, Modem und Microsoft aufgewachsen ist. Er war noch ein Kind, als die alten Blöcke des Kalten Krieges von den neuen Fronten der Globalisierung und des Neoliberalismus abgelöst wurden. Die Welt, die ihm sein Bühnenbildner Christof Hetzer für den „Fliegenden Holländer“ auf der Bayreuther Festspielbühne gestaltet, ist die Welt dieser Kinder. Ein magisch flackerndes Gefängnis, gebildet aus Prozessoren und Platinen, Lichtbändern und Zählwerken. Winzig klein sitzen zwischen den energetischen Entladungen Menschlein in einem anachronistischen Holzboot: Daland und der Steuermann, autoritärer Chef und beflissener Angestellter. Sie sind beide so cool. Aber wenn sich Herr Daland unbeobachtet fühlt, schnupft er eine Prise Koks, und fühlt sich ertappt, wenn jemand guckt.

Gestrandet im Meer der Daten: Daland (Franz-Josef Selig, rechts) und der Steuermann (Benjamin Bruns). Foto: Enrico Nawrath

Gestrandet im Meer der Daten: Daland (Franz-Josef Selig, rechts) und der Steuermann (Benjamin Bruns). Foto: Enrico Nawrath

Gloger will, das macht das Einstiegsbild des „Fliegenden Holländer“ deutlich, Wagners Geschichte einer utopischen, einer „wahren“ Liebe in der Welt der vom Zeitgeist Getriebenen erzählen. Ihr Horizont ist die Vernetzung, die scheinbar Alle mit Allen verbindet. Aber dieses Netzwerks der Produzierenden und Kommunizierenden macht unendlich einsam: Der Holländer, der zwischen dem Datenblinken auftaucht, hat mit dem Rollkoffer und dem Kaffee-Pappbecher die Embleme des global ökonomisch getriebenen Ahasvers von heute bei sich.

Ein weiteres Prinzip, das sich der aus Hagen stammende Regisseur als Deutungsmuster zu eigen macht, ist das der Verkleinerung: In dieser Welt wird auf verwertbares Format heruntertransponiert. Der Sturm wird zum domestizierten Strom frischer Luft aus dem Ventilator, der in Dalands Produktionsstätte hergestellt wird: Summ und brumm, du Rädchen … Reduziert wird auch die Liebe: Der Holländer fragt in seinem Monolog nach dem gepries‘nen Engel Gottes, der seines Heils Bedingung ihm gewann. Die Antwort gibt eine Kaffee-Mamsell mit lasziver Bewegung: konsumierbarer Sex, ökonomisch relevante Gefühlsprodukte. Der Steuermann hält sich gleich an dem fest, was man greifen kann: Der Geldkoffer liegt in seinen Armen.

Mit dem Zuschnitt auf das, was man „in Zahlen darstellen kann“ – ein Lieblingskriterium von Unternehmensberatern und Controllern – endet Glogers Geschichte auch: Der Steuermann fotografiert mit seinem Handy die Vereinigung von Senta und Holländer im Tode – und zur nachkomponierten Verklärungsmusik Wagners verpacken eifrige Arbeiterinnen das neue Produkt: Kitschfiguren des Paares, von innen zu beleuchten. Der heftig ausgebuhte Coup der Inszenierung erfasst sehr genau die ökonomische Banalisierung großen Ideen und geistiger Entwürfe. Die „wahre Liebe“ Wagners, eine transzendentaler Begriff, kommt in solch schlichtem Materialismus nur als herziger Abklatsch vor.

Der Wagner’sche Liebesbegriff ist in den letzten Jahrzehnten in der Inszenierungsgeschichte des „Fliegenden Holländers“ oft genug reduziert, korrumpiert oder desavouiert worden. Zu erinnern ist an Harry Kupfers grandiose Bayreuther Deutung von 1978, der das Transzendierende in Wagners „Holländer“ aus einem materialistischen Ansatz konsequent als Wahn zu entlarven versuchte. Es gab psychologisierende Deutungen in jeder Spielart; in jüngerer Zeit wuchs die Sensibilität für das mythische Potenzial der Oper.

Pietá: Symbol für Wagners "wahre Liebe". Adrienne Pieczonka als Senta und Samuel oun als Holländer. Foto: Enrico Nawrath

Pietá: Symbol für Wagners "wahre Liebe". Adrienne Pieczonka als Senta und Samuel Youn als Holländer. Foto: Enrico Nawrath

Udo Bermbach zitiert im Programmheft des Bayreuther „Holländers“ nicht umsonst Max Horkheimer, der für die Bestimmung der „wahren Liebe“ ihre Richtung auf ein „künftiges glückliches Leben aller Menschen“ für unverzichtbar gehalten hat. Ein Ziel, das nur als Utopie oder in religiös begründeter Perspektive gedacht werden kann.

Gloger zeigt in seiner Inszenierung nun keine Offenbarung, aber er lässt seine Deutung auf eine solche hin offen. Das Romantisch-Übersinnliche, für das der Holländer steht, löst weder Widerstand noch Erschrecken aus; es hat in dieser Welt einfach keinen Platz. Wo es auftaucht – etwa durch die Mannen des Holländers in der Chorszene des dritten Aufzugs – wird es einfach absorbiert. Doch Senta, das „Kind“, das „nicht weiß, was es singt“, erschafft sich eine Welt, gibt ihrem Suchen eine Richtung, die sie mit der Sehnsucht des Holländers „nach dem Heil“ verbindet.

Haus, Schiff und Himmel bildet sie nach. Eine Puppe aus Pappe steht auf der Höhe des Hügels aus Schachteln, den sie sich als Flucht- und Rückzugsort errichtet hat. Genau an dieser Stelle erscheint der Holländer in Dalands Haus, eine Verkörperung dessen, was Senta sich in ihrem Inneren erträumt. Solche Momente der Inszenierung stellt Gloger ziemlich lapidar und kaum erläutert auf die Bühne – vielleicht die größte Schwäche der Produktion, die gerade in den intimen Szenen zwischen Senta und dem Mann ihrer Ideale zugespitzter interpretieren müsste. Aber um an solchen Momenten weiterzuarbeiten, ist Bayreuth ja eine „Werkstatt“.

Mit dem Dirigenten der einzigen Premiere dieser Festspiel-Saison am Grünen Hügel, Christian Thielemann, war sich Gloger einig, nicht auf die derzeit beliebte „Urfassung“ des „Holländers“ zuzugreifen, sondern den nachkomponierten „Erlösungsschluss“ als weitergehenden Willen Wagners zu akzeptieren und szenisch zu integrieren. Wenn sich Senta am Ende mit selbstgebastelten Papp-Engelsflügelchen zu ihrem Holländer auf die Sehnsuchts-Burg flüchtet und zum harfenlichtdurchfluteten Pathos des Finales die Plastikfigürchen verpackt werden, könnte dieser Moment als rabenschwarzer Kommentar zu Wagners scheinbar irrealem, psychologisch verstiegenem Konzept gesehen werden. Doch dem steht die Musik im Wege: Thielemann lässt sie in solchem Ernst, solch brennender Identifikation aufleuchten, dass sie einen unüberwindlichen Kontrapunkt zum Zynismus der Szene setzt: Klingende Hoffnung, Rettung der Wahrheit und ungebrochene Hoffnung auf die verwandelnde Kraft der Liebe.

Thielemann hat sich des „Holländers“ in einem höchst ästhetischen Orchesterklang angenommen, ist aber nicht immer in der Tiefe angekommen. In der Ouvertüre bricht er in Sentas Balladenmotiv den Bogen und radikalisiert die Punktierungen zum dezidierten Non-Legato. „Schöne Stellen“ kostet er wieder einmal bis zur Grenze des Zerfallens aus. Oft achtet er mehr auf die Brillanz der Melodiestimmen als wichtige Farben aus der Tiefe der Partitur zu heben und zu gewichten. Das ist schwelgerisch musiziert und – die Ovationen beweisen es – höchst publikumswirksam. Aber hinter der Glätte ist es schwer, Abgründe zu orten.

Adrianne Pieczonka als Senta. Foto: Enrico Nawrath

Adrianne Pieczonka als Senta. Foto: Enrico Nawrath

Unter den Sängern überzeugen alleine der schönstimmige und sichere Steuermann von Benjamin Bruns und die Senta Adrianne Pieczonkas. Ihr gelingen balsamische Piani, aber auch die aufflammende Leidenschaft und der zu allem entschlossene Furor des Finales. Dass sie nicht alle Töne konstant durchstützt, macht ihr bei manchen, von Thielemann noch verlangsamten Bögen Probleme. Aber als lyrisch grundierte Senta mit der nötigen Expansionskraft und stimmlich abgesicherter Farbpalette ist Pieczonka ihren Vorgängerinnen seit den achtziger Jahren überlegen.

Der Sänger des Titelhelden, Evgeny Nikitin, musste wegen seiner unglücklichen Tattoo-Affäre weichen. Sein Cover Samuel Youn, in Köln engagiert und dort auch als „Holländer“ erfolgreich gewesen, schlug sich tapfer. Er beginnt mit entspannter Tiefe, doch die Stimme verkrallt sich, je höher sie steigt, immer heftiger in einer klanglich limitierten Position, wird fest und unflexibel. Dann verliert der Sänger auch die Freiheit, verständlich zu artikulieren. Die hat Michael König als Erik: Als Hausmeister im grauen Kittel versucht er vergeblich, seinen braven, ambitionslosen Liebes-Begriff der zum Höchsten gestimmten Senta zu erklären. Dennoch könnte das alles freier, unverfärbter und mit Schmelz gesungen sein; schließlich sind Eriks Gefühle ja aufrecht und lauter.

Franz-Josef Selig, bis 1995 am Aalto-Theater Essen, singt den Daland. Foto: Enrico Nawrath

Franz-Josef Selig, bis 1995 am Aalto-Theater Essen, singt den Daland. Foto: Enrico Nawrath

Franz-Josef Selig, von 1989 bis 1995 im Ensemble des Essener Aalto-Theaters, ist einer jener kraftvollen, aber wüst orgendeln Bässe, die für einen noch nie überzeugenden Wagner-Stil stehen. Und Christa Mayer hinterlässt als Mary stimmlich wenig Eindruck. Wie immer eine sichere Bank: Der Chor der Bayreuther Festspiele hat unter Eberhard Friedrich Glanz, Wucht und Präzision wie eh und je. Obwohl die Regie-Sensation, die sich viele Beobachter erwarten, am Grünen Hügel diesmal ausgeblieben ist, kann sich Glogers ausgewogene Arbeit behaupten; neben Herheims überbordenden „Parsifal“-Assoziationen, Hans Neuenfels‘ „Lohengrin“-Zuspitzungen und Sebastian Baumgartens überkandidelter Installations-Belebung im „Tannhäuser“ hat sie als solide erarbeitetes Musiktheater durchaus ihre Chance.