Mutmaßlicher Kindesmörder in Herne gefasst: Warum muss man den vollen Namen von Marcel H. kennen?

Zunächst einmal dies, das Allerwichtigste: Man kann nur sehr erleichtert sein, dass Marcel H. (19), der mutmaßliche Kindesmörder von Herne, gestern Abend festgenommen worden ist.

Er selbst hat dem Inhaber einer griechischen Imbissstube in Herne gesagt, er sei der seit drei Tagen Gesuchte und hat von dort aus selbst die Polizei angerufen.

Kann man ein solches Thema abstrakt bebildern? Ja, das ist vielleicht sogar das Beste. (BB)

Kann man ein solches Thema abstrakt bebildern? Ja, das ist für ein Kulturblog vielleicht sogar das Beste. (Foto: BB)

Im Ruhrgebiet war und ist es d a s Thema dieser Tage. Wohin man auch kommt, so gut wie überall wird darüber gesprochen. Als Vater kann ich – natürlich auch nur bis zu einem gewissen Grade – nachfühlen, was Eltern, Verwandte und Freunde des erstochenen neunjährigen Jungen durchmachen.

Trotz allem die Rechtstreue wahren

Ja, man kann sogar nachempfinden, dass nicht alle Regungen, die sich nun mehr oder weniger offen Luft verschaffen, den rechtsstaatlichen Prinzipien entsprechen. Doch gerade, wenn man sich etwa über antidemokratische Tendenzen in anderen Ländern empört, muss man auch in einem solchen Falle strikt rechtstreu vorgehen. Die Tat muss möglichst zweifelsfrei und gerichtsfest bewiesen werden. Erst dann kann die Strafe folgen.

Mit der Verhaftung sind längst nicht alle Fragen beantwortet. Die Polizei wird noch einige Zeit weiter ermitteln müssen. Nach dem jetzigen Stand gibt es zwei Opfer und Marcel H. wäre ein Doppelmörder.

Pressekonferenz mit neuen Erkenntnissen

Um 16 Uhr hat es heute eine Pressekonferenz in Dortmund gegeben, die auf mehreren Info-Kanälen live übertragen wurde und auf der verstörende Details bekannt wurden. Mehrere Ermittler sprachen von „Neuland“, das sie in ihrem bisherigen Berufsleben noch nicht betreten hätten.

Demnach hat Marcel H. inzwischen den Mord an dem 9-jährigen Jungen gestanden und auch zugegeben, einen 22-jährigen flüchtigen Bekannten in dessen Herner Wohnung erstochen zu haben. Dann hat er laut Geständnis dort Feuer gelegt, um Spuren zu verwischen. Bei seiner Vernehmung soll Marcel H. „eiskalt und emotionslos“ gewirkt haben, so Klaus-Peter Lipphaus, Leiter der zuständigen Bochumer Mordkommission.

Äußerst wirr und vergleichsweise läppisch klingen die vermeintlichen Beweggründe für die blutrünstigen Taten, die jeweils mit Dutzenden von Messerstichen ausgeführt wurden. Zum einen habe es eine Absage der Bundeswehr gegeben, hinzu kam offenbar der Umzug in eine Nachbarstadt, wo der computerspielsüchtige Marcel H. angeblich keinen Internetzugang gehabt hätte. Wie es hieß, wollte er sich deswegen zunächst das Leben nehmen, doch mehrere Suizid-Versuche seien misslungen…

Während der gesamten Pressekonferenz war übrigens abgekürzt von „Marcel H.“ die Rede. Warum ich das so betone, wird sich gleich zeigen.

Eine gierige Klick-Maschine

Ursprünglich ging es mir eigentlich um etwas anderes, nämlich um das abermals fragwürdige Verhalten mancher Medien in den letzten Tagen.

Gewiss, auch andere haben stellenweise zweifelhaft berichtet, doch habe ich ein Angebot etwas genauer beobachtet, weil das Medium eben mitten im Revier sitzt und somit besonders nah am Geschehen war: Ich meine den Online-Ableger der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (WAZ / Funke-Gruppe), www.derwesten.de

Dieser Auftritt hat kürzlich ein neues Erscheinungsbild erhalten, auch sind Konzept und Stoßrichtung geändert worden. Es handelt sich, wie ich finde, seither zu großen Teilen nicht mehr um eine herkömmliches journalistische Offerte mit (selbst)kritischer Balance. Sondern?  Um eine gellend boulevardeske, unentwegt nach Aufmerksamkeit gierende Klick-Maschine, die furchtbar gern jüngere (Werbe)-Kunden ansprechen möchte und die User daher munter duzt. Das kann einem schon unter normalen Umständen gehörig auf die Nerven gehen.

Infos auch für notorische Gaffer

Im Falle Marcel H. hat derwesten.de freilich mehrfach den Bogen überspannt. Sehr früh schon, nämlich bereits in den Morgenstunden am vergangenen Dienstag, hat man den vollen Namen des dringend Verdächtigen (der sich angeblich im Internet mit der Tat gebrüstet hatte) genannt. Hier geht es keineswegs um Mitleid mit dem mutmaßlichen Mörder, sondern um sein familiäres und sonstiges Umfeld. Besonders in Herne selbst gibt es wahrscheinlich viele, die mit dem Namen etwas anfangen können, etwaige Spinner und Idioten eingeschlossen.

Auch mögliche Gaffer und vielleicht auch Trittbrettfahrer wurden sozusagen bestens bedient. Man las in den vielfach aufgeregt-kurzatmigen Berichtsfetzen nicht nur den Straßennamen des Tatorts, sondern konnte auf Fotos auch Hausnummern erkennen und hätte sich vermutlich einiges erschließen können, um ungebeten „vor Ort“ aufzutauchen.

Dass es durchaus anders geht, belegt die gedruckte WAZ. Dort wird noch auf der heutigen Titelseite der Name des mutmaßlichen Täters abgekürzt – was der Berichterstattung übrigens keinerlei Abbruch tut und nichts von ihrer Brisanz nimmt.

Das Fahndungsfoto hätte genügt

Das von der Polizei herausgegebene Fahndungsfoto hätte vollauf genügt. Schließlich hatten die Beamten dringend davor gewarnt, den eventuell bewaffneten Kampfsportler Marcel H. anzusprechen oder gar auf eigene Faust stellen zu wollen. Sofort die Polizei anrufen, so lautete die richtige Anweisung. Wozu also der vollständige Name? Polemisch gefragt: Sollte man sich etwa als Passant seinen Ausweis zeigen lassen?

Bemerkenswert, dass derwesten.de am Dienstagnachmittag vorübergehend zurückruderte und den Namen wieder zu Marcel H. abkürzte; sei’s, dass ein mahnender Hinweis aus der Rechtsabteilung gekommen war, sei’s, dass jemand mit Weisungsbefugnis in der Redaktion ein Einsehen hatte.

Doch ach, die Zurückhaltung währte nicht lange. Kaum war klar, dass inzwischen auch andere Medien gleichfalls mit dem kompletten Namen herausrückten, stieg auch derwesten eilends wieder damit ein. Die Dämme waren nun einmal gebrochen. Geradezu genüsslich hieß es nun auch wieder, der mutmaßliche Täter werde „gejagt“.

Kläglich hilflose Wortwahl

Als er schließlich gefasst war, lautete die kläglich hilflose Formulierung, die Polizei habe ihn „geschnappt“. Leute, wir sind hier nicht bei einem harmlosen Spielchen wie „Spitz, pass auf!“ – „Geschnappt“, das kann man vielleicht mal bei einem x-beliebigen Taschendieb sagen, aber doch nicht bei einem mutmaßlichen Kindermörder. Da gibt es einige passendere Worte.

Der im Grunde schrecklich banale Vorgang, dass Marcel H. sich in einer Imbissbude gestellt hat, wird in einem Anreißer so aufbereitet, um nicht zu sagen „hochgehottet“: „So abgebrüht und dreist stellte … (voller Name) sich den Behörden„. Die dürren Mitteilungen, die dann folgen, rechtfertigen die vollmundige Ankündigung nicht.

Auch nach der besagten Pressekonferenz tönte man bei derwesten.de lauthals weiter. Zitat: „Eiskalt, aber er stach 120 Mal zu…“ Was das eingeschobene „Aber“ genau zu bedeuten hat, erschließt sich nicht. Und welch‘ eine Meisterleistung: die Stiche beider Mordtaten zu addieren und als summarische Horrorzahl zu präsentieren.

So sehr und mit allen technischen Mitteln (Texte, Fotos, Filme etc.) warf sich derwesten auf die Berichterstattung, so rundum wurde alles „gecovert“, dass man punktuell schon von Panikmache sprechen konnte. Der Informationsauftrag wurde gleichsam übererfüllt. Spürbar war die Konkurrenz mit der „Bild“-Zeitung, von der man sich im Kern des Ruhrgebiets keinesfalls übertrumpfen lassen wollte (und die – wen wundert’s? – auch ohne sonderliche Skrupel berichtete).

Nicht alles auf die Goldwaage, aber…

Übrigens, nur zum Beispiel: Auch der öffentlich-rechtliche WDR 2-Hörfunk hat nicht durchweg mit Maß und Ziel berichtet. Heute ließ man ohne Not und ohne jegliche Relativierung eine Hernerin im O-Ton zu Wort kommen, die ihr Kind seit Tagen nicht zur Schule geschickt und sich selbst in der Wohnung verbarrikadiert hatte. Und dann gleich wieder Musik…

Zurück zu derwesten.de: Ja klar, ich habe gut reden. In der allgemeinen Hektik kann man wohl nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen. Allerdings: Gedruckt stünde es für alle Zeiten da, online könnte man noch ein paar Kleinigkeiten korrigieren. Vor allem aber wäre es gut, wenn man merken würde, dass die Redaktion einen halbwegs verlässlichen Kompass hat.

Man kann allerdings neuerdings öfter den Eindruck bekommen, dass derwesten.de drauf und dran ist, den (auch nicht stets über jeden Zweifel erhabenen) journalistischen Ruf der WAZ in Mitleidenschaft zu ziehen.

 

 




Kultur zum Plaudern und zum Streiten – Spektrum von Goethe bis Punk: Erfahrungen und Eindrücke aus dem Kulturblog Westropolis

Von Bernd Berke

Manchmal reicht schon ein Bild mit provozierender Unterzeile: „Die Beatles sind langweilig“, behauptete der Westropolis-Autor Ingo Juknat kurzerhand, stellte ein Foto der Fab Four hinzu – und schon ging’s los mit teilweise empörten Kommentaren.

Juxhafter Moment mit Kasperlfiguren bei einem Westropolis-Treffen am 5. Februar 2008 im Essener Bahnhof Süd, u. a. mit dem „Revierflaneur" Manuel Hessling (hinten Mitte, mit Teufelchen), Ingo Juknat (hinten, ganz links) und Nadine Albach (vorn, 2. v. re.). (Foto: Bernd Berke)

Juxhafter Moment mit Kasperlfiguren bei einem Westropolis-Treffen am 5. Februar 2008 im Essener Bahnhof Süd, u. a. mit dem „Revierflaneur“ Manuel Hessling (hinten Mitte, mit Teufelchen), Ingo Juknat (hinten, ganz links) und Nadine Albach (vorn, 2. v. re.). (Foto: Bernd Berke)

Bei Westropolis, dem Kultur-Blog der WAZ-Mediengruppe, zu der auch die WR gehört, werden Musik, Kunst, Kino, Literatur & Co. oft zu heiß diskutierten Streitthemen. Auch als langjähriger WR-Kulturredakteur, der nun seit einigen Monaten ebenfalls bei Westropolis mitwirkt, macht man einige neue Erfahrungen.

Kulturfans sind nicht unbedingt leidenschaftliche Leserbrief-Schreiber. Im Blog (Internet-Auftritt, so etwa zwischen kollektivem Tagebuch und Plauderecke angesiedelt) ist das zuweilen ganz anders. Zwar gibt es auch hier ruhigere Stunden, doch häufig finden Beiträge sehr schnellen und deutlichen Widerhall; ganz gleich, ob Rezensionen zum aktuellen Kulturgeschehen, eher persönliche Aufzeichnungen oder veritable kleine Essays.

Im Netz wird mehr Tacheles gesprochen

Überdies wird im Netz mehr Tacheles gesprochen. Da müssen sich Autoren schon mal herbe Kritik gefallen lassen. Verbale Gegenwehr keineswegs ausgeschlossen. Doch praktisch immer wird im Widerstreit der Argumente ein Mindestmaß an Höflichkeit gewahrt. Man kennt die ungeschriebene „Net(t)iquette“ (Abart des Knigge fürs Internet). Auch Kampfhähne der Kultur wissen, wann’s genug ist. Da wird nicht unnötig nachgekartet.

Derzeit bestreiten neun ständige „Gastautoren“ und Autorinnen einen Löwenanteil der Westropolis-Beiträge, hinzu kommen etliche Kommentator(inn)en, die gelegentlich auch eigene Artikel bereitstellen. Das Spektrum steht im Zeichen eines gehörig erweiterten Kulturbegriffs, ist also breit und reicht von Goethe über Beuys bis Punk. Mindestens.

Jeder Geschmack kommt zum Zuge. Beispiele: Da gibt es ein wöchentliches, wahrhaft kniffliges Literaturrätsel vom „Revierflaneur“ Manuel Hessling, der so etwas wie eine Seele des ganzen Betriebs ist.

Auch Promi-Klatsch aus der Partyzone

Da teilt Else Buschheuer (moderiert das Magazin „Kino Royal“ im MDR-Fernsehen) neueste Eindrücke aus ihren Kino- und DVD-Sitzungen mit. Da wirft die Deutsch-Türkin Hatice Akyün (Bucherfolg: „Einmal Hans mit scharfer Sauce“) Fragen zwischen den Kulturen auf oder verbreitet zur Entspannung Promi-Klatsch und Erlebnisse aus der Partyzone.

WR-Redakteur Jürgen Overkott liefert serienweise CD-Besprechungen und Interviews. Der Autor dieser Zeilen ist mit wechselnden Themen dabei und nicht unfroh, derzeit den Kommentar-Rekord (bis gestern 364 Äußerungen zu einem Beitrag) zu halten. Wobei die Anzahl der Kommentare gewiss kein alleiniges Gütesiegel ist. Beliebt sind übrigens allerlei Hitlisten, auch negative wie etwa: „Die größten Nervensägen im deutschen Musikgeschäft“. Jeder kennt welche.

Auch bei den – meist unter erfundenen Namen antretenden – Kommentatoren ist einiges Interesse und Kulturwissen vorhanden. Ein Aufenthalt für Banausen ist Westropolis somit nicht.

Ein geradezu familiäres Gefühl

Wie im richtigen Leben: Mit der Zeit stellt sich ein geradezu familiäres Gefühl ein, wenn man die Seite betritt. Nach und nach kennt man Vorlieben, Macken und Launen vieler Mitstreiter. Der eine ist streng, die andere spontan, der dritte allzeit witzig. Aha, da hat sich ja wieder X geäußert, Y ist auch online, aber Z ist eine ganz neue Stimme im Konzert und bereichert den Zirkel.

Je mehr Meinungen und Temperamente, umso besser. Dann diskutiert es sich doppelt so schön. Wer sich dabei auf unverbindliche Positionen zurückzieht („Das ist doch letztlich alles Geschmackssache“), der hat hier keine sonderlich guten Karten. Weichspülerei wird allenfalls zur Versöhnung nach einer Diskussion akzeptiert.

Längst nicht immer geht’s bei Westropolis bierernst zu. In manchem Thread (Fachwort für „Themen-Strang“) wird auch schon mal gealbert. Oder: Eine Kultur-Debatte kann sich unter der Hand in ganz andere Bereiche wie etwa Alltag, Sport oder Kochkunst schlängeln. Speziell am Wochenende kommt es (mitten im kulturellen Wortgemenge) immer wieder zu netten kleinen Sticheleien zwischen BVB- und Schalke-Anhängern.

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HINTERGRUND

Bestandteil von www.derwesten.de

  • Ein Blog (von „Weblog“) ist eine Art Online-Tagebuch eines oder mehrerer Autoren bzw. ein Gesprächskreis, der sich daran knüpft. Das Wort enthält den Bestandteil „Log“, der sich vom Seefahrer-Logbuch ableitet.
  • Die ersten Blogs tauchten um die Mitte der 1990er Jahre in Internet auf.
  • Streitfrage: Heißt es „der“ oder „das“ Blog? Der Duden lässt beides zu.
  • Westropolis ist Bestandteil von www.derwesten.de, des neuen online-Auftritts der WAZ-Mediengruppe, zu der auch die WR gehört.
  • Mehrere WR-Redakteure sind auch ständige Gastautoren bei Westropolis.
  • Westropolis ging im Februar 2007 an den Start. Seither wurden Kulturthemen aller Sparten und Güteklassen aufgegriffen.
  • Internet-Adressen: www.derwesten.de und www.westropolis.de

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Nachtrag 2019:

2011 komplett gelöscht

Aus bis heute unerfindlichen Gründen hat die WAZ-Gruppe (heute Funke-Gruppe) Anfang 2011 Westropolis komplett aus dem Netz genommen – mit allen Beiträgen und zigtausend Kommentaren. Ein brachialer Akt. Und von wegen: „Das Internet vergisst nichts.“ In diesem Falle eben doch. Weil es dazu gezwungen worden ist.

Zwei der damaligen Autoren sind inzwischen – allzu früh – verstorben, nämlich die erwähnten Manuel Hessling und Ingo Juknat. Friede sei mit ihnen.

Zwei anderen Mitwirkenden, deren Namen hier gnädig verschwiegen werden sollen, ist ihr bisschen Erfolg zwischenzeitlich sehr zu Kopf gestiegen. Schade eigentlich.