Digitalisierung, Anfangszeiten, Distanzunterricht – die Mühen der Ebenen in der lokalen Schulpolitik

Hier wissen Schüler und Eltern (hoffentlich) Bescheid: die schulspezifischen Apps Google Classrooom und Untis auf einem iPad-Bildschirm. (Screenshot: BB)

Wenn die Dortmunder Stadtelternschaft (d. h. vor allem: die Schulpflegschaftsvorsitzenden) mit der Schuldezernentin Daniela Schneckenburger (Grüne) eine Videokonferenz abhält, dann kann man schon mal interessiert kiebitzen. Und was soll ich euch sagen: Da lernt man ein wenig die oft zitierten Mühen der Ebenen kennen.

Beim Online-Treff mit rund 40 Leuten ging’s heute Abend wahrlich nicht um den „großen Wurf“, sondern um recht kleinteilige, teilweise ziemlich knifflige Fragen, etwa zur Bildungsgerechtigkeit und zur Digitalisierung der Schulen.

Auf den immer dringlicheren Ruf nach Klassenteilungen, Wechsel- und Distanz-Unterricht in Corona-Zeiten konnte die Schuldezernentin nur ansatzweise eingehen, denn diese Themenbereiche fallen hauptsächlich in die Verantwortung des Landes NRW. Die Gemengelage scheint sehr unübersichtlich zu sein. Da gab es zwar kürzlich einen Landeserlass, der es örtlichen Schulen bzw. Gesundheitsämtern bei entsprechender Infektionslage freistellte, für Distanzunterricht zu sorgen. Dieser Erlass aber wurde wieder zurückgerufen. Daniela Schneckenburger musste bekennen, sich mit der „Distanzlernverordnung“ (man lasse sich das Wort auf der Zunge zergehen) des Landes nicht sonderlich gut auszukennen. Sowohl politisch als auch juristisch ist die Angelegenheit offenbar kompliziert. Wer wollte sich anmaßen, hierin Expertise zu besitzen?

Man sollte doch, man müsste mal…

Anke Staar, Vorsitzende der Stadteltern Dortmund (und auch der Landeselternschaft), sagte, sie habe den Eindruck, auf diesem Felde gehe es oft nicht um die Sache, sondern vielfach um  „parteipolitisches Geplänkel“. NRW-Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP) mache sich dabei schon mal „einen schlanken Fuß“.

Geradezu quälend war sodann das Gespräch über Fragen der Information und Transparenz in der Schulpolitik, sprich: Erreichen die Botschaften aus der Landes- und Kommunalpolitik die Schul- und Klassen-Pflegschaftsvorsitzenden überhaupt in ausreichendem Maße? Als säße man in dieser Frage erst jetzt endlich einmal beisammen, machte Daniela Schneckenburger schwierige Datenschutz-Regelungen geltend. Immerhin einigte man sich darauf, dass es möglich sein müsse, die Elternvertretungen nicht unter privaten Mailadressen, sondern unter neutralen Schuladressen anzuschreiben. Man sollte doch, man müsste mal…

Ein ganzer Schwall von Zahlen

Noch so ein leidiges Thema: die Digitalisierung der Schulen und die Ausstattung mit entsprechenden Geräten – sowohl für (bedürftige) Schüler(innen) als auch fürs Lehrpersonal. Hier zeigte sich Schuldezernentin Schneckenburger präpariert, um jeder etwaigen Kritik am angeblich langsamen Vorgehen der Stadt zu begegnen. Sie wartete mit einem wahren Schwall von Zahlen auf. Wie viele Millionen Euro für diese Zwecke bereitstünden, was davon bereits abgerufen sei, wie viele Tausend Geräte jetzt und demnächst ausgeliefert werden könnten. Und so weiter, und so fort. Wie schnell die Geräte jetzt zur Verfügung stünden, hänge allerdings nicht zuletzt davon ab, „wie schnell die Menschen in China arbeiten.“ Sprach’s – und musste dann flugs erst einmal ihr eigenes iPad ans Stromnetz anschließen, damit der Akku nicht leerlief.

Apropos iPad: Die Stadt Dortmund, finanziell bekanntlich nicht gerade auf Rosen gebettet, gönnt sich und ihren Schulen die vergleichsweise teuren Apple-Apparaturen, also vor allem iPads. Familien, die daheim mit Android-Geräten arbeiten, müssen diese folglich selbst einrichten und warten. Ob immer alles kompatibel ist, wird sich zeigen. Unklar zudem, ob in weniger begüterten Haushalten überall flächendeckendes WLAN bereitsteht.

Kostspielige iPads per Leihvertrag

Fragen über Fragen: Was geschieht im Falle von Diebstahl oder Beschädigung? Da die Geräte sonst nicht zu vernünftigen Preisen versicherbar sind, werden sie per Leihvertrag ausgegeben. Einrichtung und Wartung übernimmt – bei jedem einzelnen der vielen Tausend iPads – das „Dortmunder Systemhaus“. Ein gar mühseliges und langwieriges Unterfangen. Kein Wunder, dass die meisten Geräte nicht morgen oder übermorgen nutzbar sein werden. Aber die Digitalisierung ist eben nicht erst mit Corona, sondern schon lange vorher verschlafen worden; in ganz Deutschland, beileibe nicht nur in Dortmund.

Schließlich noch die Frage nach einer Entzerrung des Unterrichtsbeginns, um auch die Verkehrsströme zu entlasten. Derzeit wäre es möglich, die Schule zwischen 7.30 und 8.30 beginnen zu lassen. Die Stadt, so Daniela Schneckenburger, habe die Schulen gebeten, entsprechende Möglichkeiten zu sondieren. Eine Weisungsbefugnis habe man indes nicht. Ein neuer Erlass sieht vor, dass der Unterricht künftig sogar zwischen 7 und 9 Uhr anfangen kann. Das mag vernünftig und flexibel klingen, aber Daniela Schneckenburger ließ schon mal etwas Luft heraus: Es könne passieren, dass Familien mit mehreren Kindern und diversen elterlichen Arbeitszeiten sich plötzlich auf drei oder vier verschiedene Anfänge einrichten müssten. So hat eben alles seine Licht- und Schattenseiten.

Wir aber blicken gleichermaßen froh und bang den Weihnachtsferien entgegen – und dem, was danach kommen mag.




Virus der Ratlosigkeit: Diese und jene Frage über Corona hinweg

Natürlich kein Virus, sondern ein Nahrungsbild, das während einer Speisenzubereitung in der Küche entstanden ist. Und nein: Es ist auch wirklich kein Spiegelei. (Foto: Bernd Berke)

Für virologische Expertisen sind wir hier absolut nicht zuständig. (Ich höre schon Euer Loriotsches „Ach was…“). Auch steht uns selbstverständlich keine politische Entscheidung zu, es sei denn: als indirekte Teilhabe im Rahmen unserer demokratischen Rechte (manche unken auch schon: unserer verbliebenen Rechte). Es interessiert einen im Überlebensfalle freilich schon sehr, wie diese, unsere Gesellschaft „nach Corona“ aussehen könnte. Daher diese oder jene ratlose Frage.

1) Wird eine gewachsene Mehrheit künftig in verstärktem Maße immer gleich nach dem Staat rufen, der gefälligst alles regeln und möglichst auch bezahlen soll? Wie verträgt sich das mit dem Anspruch so vieler Gruppierungen, selbst möglichst immer weniger Steuern zu bezahlen? Der Staats soll’s haben und richten – aber woher und womit?

2) Wird sich dieser etwaige Impuls der Staatsfrömmigkeit von Land zu Land unterscheiden? Werden etwa die Bürger Frankreichs widerspenstiger sein als „wir“?

3) Sollten wir nicht heilfroh sein, dass es hier bei allem nötigen Reglement demokratisch zugeht und die Menschen nicht – wie in furchtbar vielen autokratischen Ländern der Welt – brutal in die Quarantäne geprügelt oder ins Jenseits geschossen werden?

4) Gibt es neben den vielen, vielen, die wirklich bedürftig sind und auf Unterstützung hoffen, auch solche, die vorher schon halb in der Krise waren und sich nun mit dem Anker von Staatshilfe retten wollen? Wird die Bedürftigkeit überprüft oder wird im Überschwang alles durchgewunken?

5) Und wie verhält es sich mit den Profiteuren, deren Geschäftsmodell haargenau zur gegenwärtigen Lage passt? Sollten sie nicht etwas abgeben?

6) Nebenfrage: Wie halten es eigentlich die sogenannten „Reichsbürger“ mit den diversen Rettungsschirmen und Hilfspaketen? Die Idioten nehmen doch sicherlich gern Knete vom Staat, den sie ansonsten nicht anerkennen, oder?

7) Wer glaubt wirklich, dass die Reichen, Begüterten, Betuchten und Wohlhabenden ihr Geld überwiegend in lebenswichtiges Produktivvermögen gesteckt haben, in Fabriken, Maschinen, Personal – und es nur in ganz bescheidenem Maße zur persönlichen Verwendung antasten?

8) Ist es nicht erstaunlich, dass nun etliche Leute bereit sind, vorübergehende Staatseingriffe in die Wirtschaft, wenn nicht gar Verstaatlichungen bestimmter Bereiche hinzunehmen, die solcherlei Ansinnen vor kurzer Zeit noch als Teufelswerk bezeichnet hätten?

9) Ist außer den lukrativ Beteiligten jemand dagegen, das in den letzten Jahren teilweise kaputtgesparte und neoliberal privatisierte Gesundheitswesen wieder weitgehend in öffentliche Regie zu übernehmen?

10) Werden dann die Angehörigen der Pflegeberufe (und einige andere Berufsgruppen) endlich angemessen bezahlt? Hat man denn nicht gesehen, dass das Virus auch die Klassenfrage neu aufgeworfen hat?

11) Wird dem Staat künftig generell mehr überantwortet oder aufgebürdet? Soll er uns im Gegenzug allweil gängeln dürfen?

12) Werden viele Menschen nach staatlicher Autorität geradezu lechzen, nach der harten Hand des Staates?

13) Wird zugleich der Asozialtypus des „Blockwarts“ (und des Denunzianten) wieder hervortreten und dumpf auftrumpfen, der es den Hedonisten mal so richtig zeigt?

14) Haben nun auch die Apokalyptiker Hochkonjunktur?

15) Löst der um sich selbst besorgte „Prepper“ den Hedonisten als Rollenmodell ab? Haben beide etwa insgeheim Gemeinsamkeiten? Was unterscheidet den Prepper vom gewöhnlichen Hamsterer?

16) Mag man die schicksalsergebene Wendung „In den Zeiten von Corona“ noch hören?

17) Wird, sofern Corona vorüber oder zumindest behandelbar ist, hierzulande alles rasend schnell nachdigitalisiert? Werden wir in dieser Hinsicht gar zu Litauen und Albanien aufschließen?

18) Wird die wild ins Kraut geschossene Globalisierung zum Teil zurückgedreht? Werden lebenswichtige Güter künftig wieder häufiger in Deutschland und Europa hergestellt – zu deutlich höheren Kosten als Preis der Versorgungssicherheit?

19) Wird es eine Wiederkehr der Nationalstaaten als Leitbild geben? Kann das zu ungeahnten Animositäten führen, die man längst überwunden glaubte?

20) Wird der angebliche Trend zu seriösen Medien von Dauer sein? Widerstehen die meisten Menschen nun der Versuchung zu unsinnigen Verschwörungstheorien? Lauern Populisten schon seit Wochen auf ihre Chance?

21) Soll man jetzt wirklich Masken tragen? Wie muss man sich beispielsweise Schulklassenfotos vorstellen, auf denen alle mit Masken versehen sind?

22) Um nach den hauptsächlichen Teilen einer Zeitung zu fragen: Werden wir hernach eine andere Politik, eine andere Wirtschaft, eine andere Kultur, einen anderen Sport und andere Gemeinden haben?

23) Wird sich das Verhältnis zu Migranten und Geflüchteten ändern? Werden die Religionen und Konfessionen anders miteinander umgehen?

24) Wird man den Klimawandel und die Folgen in einem anderen Licht sehen?

25) Wann wird es Impfstoffe und Medikamente geben?

26) Wann dürfen wir wieder dieses und jenes tun?

27) Ist es nicht jammerschade, dass wortmächtige Intellektuelle wie der heute (von der Neuen Zürcher Zeitung) vorübergehend irrtümlich totgesagte Hans Magnus Enzensberger sich nicht zum Themenkreis äußern?

P. S.: Immerhin hat sich im Monopol-Magazin und im Cicero Alexander Kluge zu Wort gemeldet.

 




Kinder für Kultur gewinnen, Digitalisierung voranbringen – Neues Konzept beim Landschaftsverband Westfalen-Lippe

LWL-Kulturdezernentin Barbara Rüschoff-Parzinger führt einen digitalen ZUgang zum archäologischen Fund (Gebeine einer 5300 bis 4500 v. Chr. gestorbenen Bäuerin) vor: Auf dem Tablet-Bildschirm sieht man, wie sich die Bäuerin die Gelenke ruiniert hat. (Foto: Bernd Berke)

LWL-Kulturdezernentin Barbara Rüschoff-Parzinger führt einen virtuellen Zugang zum archäologischen Fund (Gebeine einer 5300 bis 4500 v. Chr. gestorbenen Frau) vor: Auf dem Tablet-Bildschirm sieht man, wie sich die Bäuerin ihre Gelenke ruiniert hat. (Foto: Bernd Berke)

Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) will die Kultureinrichtungen seines weitläufigen Einzugsgebiets mit einem neuen Langzeit-Konzept unterfüttern, das im fertigen Druck rund 150 illustrierte Seiten umfassen wird. Zeitliche Zukunftsperspektive der Planung: die nächsten zehn Jahre. Eine Zwischenbilanz ist nach fünf Jahren vorgesehen. Und was steht drin im Konzept?

LWL-Kulturdezernentin Barbara Rüschoff-Parzinger schickt voraus, dass es nicht um strikte Richtungsangaben gehe: „Wir verstehen das Konzept als Kompass und nicht als starren Fahrplan.“ Sie hat die wesentlichen Grundzüge heute im Herner Archäologiemuseum vorgestellt – ein Haus, das sie vormals selbst geleitet hat und das jetzt eine gewisse Vorreiterrolle auf dem Parcours der Reformen einnimmt.

Zwei von insgesamt zehn Punkten gelten als besonders wichtig: Wie gewinnt man Kinder und Jugendliche für Museen und sonstige Kultur, wie hält man sie bei der Sache? Und natürlich läuft auch hier, wie allerwärts, eine weitere Leitlinie auf „Digitalisierung“ hinaus. Auf diesem Felde will man zahlreichen kleineren Museen, die über wenig Mittel verfügen, beratend zur Seite stehen. Rüschoff-Parzinger: „Wenn die Schulen digitalisiert werden, müssen auch die Museen mitmachen. Sonst versteht man sich nicht mehr.“ Kinder und Digitalisierung also. Klingt zunächst noch nicht so furchtbar originell.

Fragebogen-Aktion in rund 1200 Schulen der Region

Doch zunächst zum Nachwuchs. Der LWL hat Fragebögen an alle westfälischen Schulen (rund 1200 an der Zahl) verschickt. Rund 1600 Bögen kamen zurück, weil nicht nur ganze Schulen, sondern auch einzelne Klassen teilgenommen haben. Es wurden so grundlegende Fragen gestellt wie die, was nach Auffassung der Schüler(innen) eigentlich mit Kultur zusammenhängt. Hier ragten – kein Witz – Reiz- und Schlüsselwörter wie Schloss (15,3% der Nennungen) und sogar Blaskapelle hervor. Nicht ganz leicht, daran sinnreich anzuknüpfen. Aber es gibt ja auch noch etliche andere Zugänge, die stets „auf Augenhöhe“ mit den Kindern eröffnet werden sollen.

Der genauerer Blick auf die virtuelle Szene mit der Bäuerin vermittelt einen Eindruck von der mühsamen steinzeitlichen Art des Getreidemahlens. (Foto: Puppeteers / Sebastian Heger)

Der genauere Blick auf die virtuelle Szene mit der Bäuerin vermittelt einen Eindruck von der steinzeitlichen Art des Getreidemahlens. (Foto: Puppeteers / Sebastian Heger)

90 Prozent aller Befragten hatten laut LWL-Umfrage schon mal ein Museum besucht, die allermeisten mit der Schulklasse, viele auch mit der Familie, wobei sich hier schichten- und schulformenspezifische Unterschiede abzeichnen. Kinder und Jugendliche wünschen sich weit überwiegend andere, zeitgemäßere Darbietungsformen in den Museen – weniger klassische Führungen und mehr kreative Aktionen, eigene Erfahrungen inbegriffen, etwa beim Herstellen einschlägiger Objekte. Auch sollen die vermittelten Inhalte möglichst mit dem eigenen Leben zu tun haben – und sei’s auf indirekte, aber nachvollziehbare Weise. Dass hier auch digitale Annäherungen ins Spiel kommen, versteht sich beinahe von selbst.

Eintritt frei, Anfahrt kostenlos

Seit 1. April lief die Versuchsphase, in der Kinder und Jugendliche in den 18 LWL-Museen keinen Eintritt mehr bezahlen mussten. Die Besucherzahlen mancher Häuser haben sich seither so rasant nach oben entwickelt, dass die Vergünstigung jetzt dauerhaft sein soll. Manche NRW-Städte haben es ja bereits in ähnlicher Weise vorgemacht. Kaum minder wirksam: Nach unbürokratischem Antrag (Formular auf der LWL-Internetseite) wird eine Klassen-Anfahrt zum gewünschten Museum vom LWL bezahlt – auch schon mal über mittlere Strecken wie von Detmold nach Herne. 300.000 Euro stehen für solche Bustouren vorerst bereit.

Doch der Verzicht auf Eintrittsgeld und die subventionierten Anfahrten genügen nicht. Die Museen müssen halt Attraktionen bieten. Inhalte und Formen der Darstellung sollen zur Zielgruppe passen, Spaß machen, spannend sein.

Original-Exponat plus virtuelle Darstellung

Und die Digitalisierung der Museumslandschaft? Nun, wohin die Reise in den nächsten zehn Jahren geht, kann eigentlich noch niemand genau wissen, denn die Technik entwickelt sich bekanntlich rasend schnell.

Einstweilen steuert man auf Installationen zu, die im Herner Archäologiemuseum auch schon an mehreren Stationen zu besichtigen sind: Ein Original-Vitrinenstück, beispielsweise ein Faustkeil, wird geradezu „geisterhaft“ holographisch ergänzt. Da sieht man im bewegten virtuellen Bild, wie das Stück in der Steinzeit verwendet worden ist. Auch eine in der Vitrine schwebende Textprojektion gehört dazu. Fraglich bleibt, ob und wie rasch sich solche Effekte abnutzen.

Frappierend auch die Möglichkeit, mit dem eigenen Smartphone oder Tablet ein Museums-Exponat wie jene Gebeine einer vor etwa 7000 Jahren gestorbenen Bäuerin anzusteuern und mit einer virtuellen Erscheinung („Augmented Reality“) auf- oder jedenfalls umzuwerten. Da sieht man, mit welchen Dauerbewegungen beim Getreidemahlen sich die Frau damals ihre Gelenke ruiniert hat. Solche technischen Zaubereien in allen Ehren. Ohne die Aura des Originals wären sie jedoch wenig wert.

Aufwertung des ländlichen Raumes

Unterdessen wird auch schon darüber nachgedacht, ob künftige Ausstellungen als virtueller Rundgang gespeichert werden sollen, sprich: Man könnte eine Schau, die längst geschlossen ist, noch Jahre später durchstreifen, beispielsweise auch zu Hause, mit einer Spezialbrille für Virtual Reality (VR) ausgestattet. Man ahnt schon, dass im Zuge einer solchen Entwicklung kiloschwere gedruckte Kataloge an Bedeutung einbüßen könnten.

Weitere gewichtige Zielvorstellung, die im Konzept dargelegt wird: die Stärkung des ländlichen Raumes auch auf kulturellem Gebiet. Außerdem in Planung: der Ausbau der Burg Hülshoff zum (anglo-neudeutsch so benannten) „Center for Literature“ (CfL) sowie die Stärkung von historischen „Erinnerungsorten“ wie dem Kriegsgefangenenlager Stalag 326 in Schloß Holte-Stukenbrock (Kreis Gütersloh).

Politisch schon beschlossene Sache

All dies und ein maßvoll erweiterter Stellenplan sind Kostenfaktoren. Doch es handelt sich beim Konzept nicht um Traumgespinste, sondern um regionalpolitisch bereits einmütig beschlossene Maßnahmen. Barbara Rüschoff-Parzinger erwähnt in diesem Kontext eigens den Dortmunder Stadtdirektor Jörg Stüdemann, der Kulturdezernt und Kämmerer in Personalunion ist und vom neuen LWL-Konzept angetan sei. Und tatsächlich: Stüdemann dürfte qua Doppelamt nicht nur wissen, zu welchem Zweck man Kultur finanziert, sondern auch: woher das Geld kommen könnte.

Wie im gegenwärtigen Kulturmanagement üblich, ist in derlei konzeptuellen Zusammenhängen immer wieder von Bedarfen (in der Mehrzahl), Evaluierung, Vernetzung, Akteuren oder gar „Stakeholdern“ der Kultur die Rede. Man merkt allenthalben, dass Frau Rüschoff-Parzinger, der dieser Jargon nicht fremd ist, die Dinge systematisch und strategisch angeht. Dennoch betont sie, dass manches auch dem Geschick überlassen bleibt, dass wohl nicht alle Experimente gelingen werden. Auch hier gelten eben Bert Brechts legendäre Songzeilen: „Ja, mach nur einen Plan…“




„Kinder First. Westentasche Second.“ oder: Eine lustige Mail von der Digital-Partei

Kommt mal ein bisschen näher! Ich muss Euch was erzählen. Hinter vorgehaltener Hand. Ohne Ross und Reiter genauer zu nennen:

Ob die hier vorherrschenden Farben etwas mit dem Thema zu tun haben? Jedenfalls scheint es sich um einen entschieden digitalisierungsfreudigen Menschen zu handeln. (Foto: Bernd Berke)

Ob die hier vorherrschenden Farben etwas mit dem Thema zu tun haben? Jedenfalls scheint es sich um einen entschieden digitalisierungsfreudigen Menschen zu handeln. (Foto: Bernd Berke)

Es begab sich aber zu der Zeit, dass eine kleine deutsche Partei sich zur Antreiberin und Hüterin der Digitalisierung aufschwingen wollte. Ihr oberster Guru, einer mit Zweieinhalb-Tage-Bart, gab gar in schreienden Versalien und ausgefuchstem Hipster-„Denglisch“ diese Plakat-Parole aus:

„DIGITAL FIRST. BEDENKEN SECOND.“

Das konnte man schon sprachlich ein wenig bedenklich finden, vom „Inhalt“ mal abgesehen. Aber es kommt noch besser. Dieser Tage kursierte im Raum Dortmund eine E-Mail, in der eine regionale Gliederung just jener Partei zum neudeutschen „ChancenTalk“ (Wow!) mit einem gewissen „Christian Kinder“ einlud. Moment mal! Heißt der nicht etwas anders? War nicht etwa genau der Mann gemeint, der auf dem Digital-Plakat zu sehen war? Potzblitz! Das wäre ja…

Noch rätselhafter der Name der Haltestelle, an der man aussteigen sollte, sofern man zum besagten Termin den ÖPNV nutzte (was man Anhängern jener Partei nicht unbedingt als Gewohnheit zuschreibt): U-Bahn-Station „Westentasche“. Ähemm. Die findet man wohl auf keinem Dortmunder Fahr- oder Stadtplan. Allenfalls Westentor.

„Kinder First. Westentasche Second.“?

Bald darauf kam die Korrektur. Der nicht ganz einflusslose Parteifunktionär bekannte, ein neues Tablet zu haben und damit (mit diesem digitalen Biest?) noch nicht so zurechtzukommen. Einfaches Korrekturlesen vor dem Absenden hätte vielleicht segensreich sein können. Aber wer wird denn so kleinlich sein! Obwohl: Hieß eine Lieblingslosung jener Partei nicht „Leistung muss sich wieder lohnen“?

Natürlich werde ich niemals verraten, wer den Rundbrief verfasst hat. Immerhin haut er im Vorfeld des „ChancenTalks“ (Wow!) so richtig auf die Pauke: „Wir (…) wollen Europa wieder zum Leuchten bringen“. Hoffentlich haben sie auch die entsprechenden Leuchtmittel.




Chancen, Risiken und Nebenwirkungen der digitalen Kultur – eine Diskussion in Dortmund

Auf dem Dortmunder Diskussions-Podium (von links): Moderator Tobi Müller, Verlegerin Nikola Richter, Museums-Expertin Prof. Monika Hagedorn-Saupe, Dortmunds Schauspielchef Kay Voges, Inke Arns (Leiterin des Hartware MedienKunstVereins - HMKV) und der Medienwissenschaftler Prof. Bernhard Pörksen. (Foto: Bernd Berke)

Auf dem Dortmunder Podium (von links): Moderator Tobi Müller, die Berliner Verlegerin Nikola Richter, Museums-Expertin Prof. Monika Hagedorn-Saupe (Berlin), Dortmunds Schauspielchef Kay Voges, Inke Arns (Leiterin des Dortmunder Hartware MedienKunstVereins – HMKV) und der Tübinger Medienwissenschaftler Prof. Bernhard Pörksen. (Foto: Bernd Berke)

Dass sich praktisch alle Lebensbereiche „digitalisieren“ (sollen), hat sich inzwischen herumgesprochen – bis in Regierungskreise hinein. Zwar tut sich speziell Deutschland mit der entsprechenden Infrastruktur schwer, doch man kann ja schon mal über die Zukunft reden. Oder auch über die „ZUKUNST“. Unschwer erkennbar, dass das schon vielerorts verwendete Designerwort just die Künste im digitalen Futur meint. Es stand jetzt als verbales Signal auch über einer Dortmunder Diskussionsrunde.

Auf diesem Gebiet will sich Dortmund jedenfalls besonders hervortun: Eine veritable „Akademie für Digitalität und Theater“, die sich im Hafenviertel ansiedeln soll, startet derzeit in ihre dreijährige Pilotphase. 1,3 Mio. Euro Fördermittel von Bund, Land und Stadt sind bereits zugesagt. Doch als jetzt im Dortmunder Schauspielhaus eine Diskussion zur digitalen Kultur über die Bühne ging, stocherte man noch ziemlich im Nebel. Und vom Konzept der Akademie war praktisch gar nicht die Rede.

Dortmunds Schauspielchef Kay Voges hat mit dem Theater-Projekt „Die Parallelwelt“ bundesweites Aufsehen erregt; das Stück wurde (inhaltlich hie vorwärts, dort rückwärts) simultan im Dortmunder Theater und im Berliner Ensemble gespielt und wechselseitig in die jeweils andere Stadt übertragen – in digitaler Echtzeit, versteht sich. Überhaupt gilt Voges, der auch Gründungsdirektor der besagten Akademie ist, als geradezu vehementer Protagonist des Digitalen. In der Podiumsdiskussion zahlte er folglich in denkbar großer Münze aus: Das Theater müsse mit digitalen Mitteln neue Räume eröffnen, es könne gar „das Raum-Zeit-Kontinuum durchbrechen“. Klingt höchst agil, wenn auch noch ein wenig wolkig.

Aufbruch in neue Dimensionen?

Immerhin ist man auch in Berlin aufs Tun und Trachten des Dortmunder Theatermannes aufmerksam geworden. So war es denn auch die Staatsministerin für Kultur und Medien, Prof. Monika Grütters (CDU), die nach Dortmund eingeladen hatte. Die Dortmunder Digital-Diskussion gehört in eine Veranstaltungsreihe, die mit anders gelagerten Themen u. a. noch in Dresden und Frankfurt/Main Station macht. Frau Grütters stellte in ihrer kurzen Begrüßungs-Ansprache die Chancen der Digitalisierung in die Tradition des legendären Frankfurter Kulturdezernenten Hilmar Hoffmann (1925-2018) und seiner basisdemokratischen Parole „Kultur für alle“.

Doch so weit sind wir noch nicht. Haben die Kulturschaffenden mit der Digitaltechnik vielleicht nur ein neues „Spielzeug“ entdeckt, mit dem sie sich noch nicht so recht auskennen und für das sie Technik-Freaks als Unterstützung brauchen? Oder erschließen sich hier wirklich neue Dimensionen? Wer das schon so genau wüsste!

Einige Grundlinien zeichnete eingangs der Debatte der Tübinger Medienwissenschaftler Prof. Bernhard Pörksen vor – in einem (Achtung, Tagungs-Deutsch) „Impulsstatement“. Ihm zufolge hat im Zuge der Digitalität das Publikum eine vordem ungeahnte Macht erlangt, man könne von einer „publizistischen Selbstermächtigung“ breiter Kreise reden. Will heißen: Gar viele Menschen verbreiten im Internet – bei Facebook, Twitter etc. oder auch in Blogs – ihre Meinungen und ihre Befindlichkeiten. Zwar gebe es noch die herkömmlichen Medien, die den Nachrichtenstrom filtern und auf „Relevanz“ setzen, doch würden online ganz andere, ungemein virale Themen hochgespült, die nicht ins alte Raster der Wichtigkeit passen, sondern eher Emotionen ansprechen.

Eine Comic-Katze als Weltherrscherin

Zudem, so Pörksen, werde im Netz alles sofort sichtbar, nichts bleibe verborgen. Und schließlich stifte das Netz neue Gemeinschaften, für jede nur denkbare Vorliebe finde sich Genossenschaft. Kaum verwunderlich: Der Wissenschaftler empfahl verstärkte Reflexion über derlei mediale Prozesse. Von Medien-„Kompetenz“ wollte er nicht sprechen, weil das Wort sinnentleert sei. Statt dessen hörte man viel von Mündigkeit, von „Inszenierungs-Bewusstsein“, „Transformations-Bewusstsein“ und von diversen „Narrativen“. Nun ja, das Publikum im Saale war kulturfachlich vorbelastet, da mochten solche Begriffe angehen.

Dem Eröffnungsreferat folgten in aller Knappheit Erfahrungen und Anregungen aus mehreren Kultursparten: Ausstellungswesen, Buchverlag, Theater. Inke Arns vom Dortmunder Hartware MedienKunstVerein (HMKV), seit Jahren intensiv mit Netzkunst sowie Formen der Virtualität befasst und wohl mit dem Themenfeld besonders vertraut, stellte die Frage, ob die (digitale) Technik womöglich mächtiger werde als alle Politik. Dazu ließ sie einen Kurzfilm mit einer niedlichen Comic-Katze laufen, die sich als fürsorgliche Weltherrscherin vorstellte. Lustig oder grauslich?

Den Flügelaltar virtuell auf- und zuklappen

Beispiele aus der Praxis nannte Prof. Monika Hagedorn-Saupe, die das Projekt „museum4punkt0″ (vulgo 4.0) leitet. Unter ihrer Ägide laufen etwa Versuche mit so genannter augmented reality (vermehrte/gesteigerte Realität), das heißt: Besucherinnen und Besucher halten eigens programmierte Tablets vor Museumsobjekte – und erfahren sofort allerlei Hintergründe. Auch können sie auf dem Bildschirm virtuell z. B. Gemälde-Rückseiten betrachten, Flügelaltäre auf- und zuklappen oder Infrarot-Aufnahmen der jeweiligen Kunstwerke aufrufen und somit eventuell die Entstehungsphasen besser verstehen.

Freilich ist die Vorstellung, dass das „altmodische“ (?) Sinnen, Sich-Sammeln, Nachdenken und Phantasieren vor den Bildern durch allweil hochgehaltene Tablets unterbrochen, wenn nicht gar verhindert wird, doch arg gewöhnungsbedürftig. Die vielzitierten Digital Natives haben damit wahrscheinlich keine Schwierigkeiten. Aber wie ließe sich ihr Kunsterlebnis beschreiben? Vielleicht kann man Ausstellungs-Rundgänge ja einmal mit und einmal ohne Tablet absolvieren? Das wäre den Museumsleuten sicherlich recht.

Über andere Bauformen fürs Theater nachdenken

Schauspielchef Kay Voges begreift digitale Verfahren, wie er bekannte, mittlerweile als weitere Sparte des eh schon vielfältigen städtischen Theaterbetriebs (Oper, Schauspiel, Kinder- und Jugendtheater, Ballett, Orchester). In diesem Zusammenhang fiel auch das machtvolle Wort vom „Raum-Zeit-Kontinuum“, das es zu durchbrechen gelte. Die analoge Epoche hätten wir hinter uns, wir lebten bereits in der digitalen Ära, befand Voges. Das müsse Konsequenzen für die Künste haben. Selbst die Bauformen der Theater müssten neu gedacht werden. Allerdings: „Die Künstler brauchen jetzt die Techniker, und zwar auf Augenhöhe.“ Hört sich so an, als werde sich so manches Berufsbild verändern – beileibe nicht nur am Theater. Andererseits hieß es später, man dürfe die Kunst „nicht den Ingenieuren überlassen“.

In Urheberrechtsfragen verheddert

Nach der Pause ging’s in eine nicht allzu ergiebige Diskussion, moderiert vom Schweizer Tobi Müller, der aus seiner Wahlheimat Berlin angereist war. Alsbald verhedderte man sich in den jüngst so heftig umstrittenen Urheberrechtsfragen der Netzwelt. Gegen widerrechtliche Nutzungen eingesetzte Upload-Filter, da war man sich weitgehend einig, seien eine Gefahr für freie Meinungsäußerung und Kreativität im Internet, also auch für die digitale Zukunft der Kunst. Inke Arns meinte, die hintersinnigen Collagen eines John Heartfield würden heute wahrscheinlich als „Urheberrechts-Verletzungen“ ausgefiltert. Großen Beifall erhielt die Berliner Autorin und Verlegerin Nikola Richter (mikrotext, spezialisiert auf E-Books), die forderte, Google, Amazon, Facebook und Konsorten sollten endlich richtig besteuert werden. Das eingenommene Geld werde dann reichen, um kulturelle und mediale Schöpfungen angemessen zu vergüten.

Auch Prof. Pörksen hatte einen Vorschlag, um die Macht der Weltkonzerne einzuhegen und nach Transparenz-Gesichtspunkten zu kontrollieren – die Einrichtung von „Plattform-Räten“ (hoffentlich nicht nach dem Proporz-Vorbild deutscher Fernsehräte). Pörksen war es auch, der zu Beginn des Abends die beiden Extrem-Haltungen zur Digitalität ausgemacht hatte: Es gebe „Euphoriker“ und „Apokalyptiker“, er selbst schwanke zwischen beiden Polen. Doch man solle die Zukunft nicht zu düster sehen. Selbst im Falle des Scheiterns aller Bemühungen gelte: „Der Zweckoptimist hat immer noch das bessere Leben gehabt!“

 

 




Knickstellen, Übersäuerung, Datenflut – Archivare haben’s auch nicht leicht

Archivalien und Archivare gelten den Medien offenbar nicht als sonderlich „sexy“. Ganze zwei Journalisten (meine Wenigkeit inbegriffen) waren heute zugegen, als beim 68. Westfälischen Archivtag in Lünen eine Zwischenbilanz skizziert wurde. Die hiesige Presselandschaft ist arg überschaubar geworden. Hier also ein nahezu exklusiver Bericht:

Die Leute vom Fach sind jedenfalls zahlreich erschienen. Über 280 Archiv-Expert(inn)en aus Westfalen und darüber hinaus treffen sich am 15. und 16. März im Lüner Hansesaal. Als sich die Fachwelt vor 25 Jahren hier einfand, waren es nur 170. Würde es nicht so albern klingen, könnte man schlussfolgern, Archivieren liege doch im Trend. Jedenfalls ist es eine durch mancherlei Gesetze geregelte öffentliche Aufgabe von wachsender Bedeutung. Und das Metier hat sich zunehmend ausdifferenziert.

Das dürftige Lokalteil-Foto kann man bei uns auch kriegen (von links): Lünens Bürgermeister Jürgen Kleine-Frauns, LWL-Archivamtsleiter Dr. Marcus Stumpf, Lünens Stadtarchiv-Leiter Fredy Niklowitz und Michael Pavlicic (stellv. Vorsitzender der Landschaftsversammlung Westfalen-Lippe), versammelt um eine Stellwand mit alten Lüner Plakaten. (Foto: BB)

Ein Lokalteil-Aufsteller-Foto landesüblicher Machart kann man bei uns auch kriegen (von links): Lünens Bürgermeister Jürgen Kleine-Frauns, LWL-Archivamtsleiter Dr. Marcus Stumpf, Lünens Stadtarchiv-Leiter Fredy Niklowitz und Michael Pavlicic (stellv. Vorsitzender der Landschaftsversammlung Westfalen-Lippe) – neben einer Stellwand mit alten Lüner Plakaten. (Foto: BB)

Schwerpunktthema ist diesmal der sachgerechte Umgang mit Plänen, Karten und Plakaten. Fredy Niklowitz, Leiter des Stadtarchivs Lünen, beschreibt die spezifischen Probleme. Sie bestehen vor allem in der schieren Größe dieser Archivobjekte. So sammelt sein Archiv z. B. auch kommunale Wahlplakate bis zur Größe DIN A0 (841 x 1189 mm).

Pläne und Karten können durchaus ähnliche Größen erreichen. Früher wurden sie in Akten eingenäht, so dass man sie heute kaum noch unbeschadet aufblättern kann. An den Knickfalten sind mit der Zeit meist Bruchstellen entstanden. Dennoch: Um ihnen Informationen abzugewinnen, muss man sie aufklappen und auf Dauer flach und eben auslegen. Solche großen Dokumente muss man erst einmal liegend unterbringen.

Wir reden nicht von Petitessen. Zahlreiche Inhalte, etwa von Bauplänen und Katastern (einst häufig aus empfindlichem Pergamin), sind noch heute rechtsverbindlich. Also sucht man sie nach Kräften zu restaurieren und zu digitalisieren, wobei man die Originale natürlich behält, um selbst bei einem elektronischen Datenverlust abgesichert zu sein.

Der Landschaftverband Westfalen-Lippe (LWL) steht den Stadtarchiven beratend zur Seite. Gegen Gebühr übernimmt er auch kompliziertere Teile der Digitalisierung. Ein Scanner, der das genannte Format A0 schonend und berührungslos verarbeiten kann, kostet leicht über 100000 Euro, gibt Dr. Marcus Stumpf, Leiter des LWL-Archivamtes, zu bedenken. Das übersteigt die Finanzkraft vieler Gemeinden, deren Archive übrigens auch lohnende Bestände von Unternehmen und Vereinen, zuweilen auch von Privatleuten sichten und ordnen.

Mit Plakaten, die auch für Ausstellungen taugen, hat man die Aufarbeitung begonnen. Derweil liegen viele Karten noch brach. Da wartet Arbeit für Jahrzehnte, denn nach der Digitalisierung müssen Findbücher erstellt und systematisch mit Schlagworten versehen werden. Diese Findbücher werden allgemein im Internet zugänglich sein, das Einstellen von Abbildungen scheitert hingegen in der Regel an Urheberrechtsfragen.

Unterdessen hat sich das Berufsbild des Archivars grundlegend verändert. Etliche Dokumente werden heute ausschließlich digital und gar nicht mehr auf Papier erstellt. Sie müssen freilich „im Original“ aufbewahrt werden. Dass dieser Begriff seine Tücken hat, kann man sich als Computernutzer denken. Es gilt, Metadaten und den Modus der Übernahme genau festzuhalten, um möglichen Manipulationen vorzubeugen. Der pensionierte Studienrat, der in etlichen ländlichen Orten fleißig archiviert, ist damit wohl heillos überfordert. Es sollten sich schon hauptamtliche Fachkräfte darum kümmern.

Noch einmal kurz zurück zum Papier. Welcher Laie weiß schon, dass die alten Papiersorten von vor 1840 sich als ungleich haltbarer erweisen als jene neueren Datums. Seit Papier aus Holz und nicht mehr aus leinenen Lumpen gefertigt wird, seit es also vielfach übersäuert ist, bereitet es den Archivaren Sorgen. Auch Umweltpapier neigt zum zeitigen Zerfall.

Entsäuerungsmaßnahmen allein reichen nicht. Alles spricht für zügige Digitalisierung, die freilich ein weiteres Problem birgt. Jeder, der schon einige Zeit mit PCs arbeitet, kennt es auch: Ständig wechseln die Systeme, Dateiformate und Datenträger. Schon heute ist es kaum noch möglich, manche Disketten zu lesen, denn irgendwann gibt auch der letzte alte Computer seinen „Geist“ auf.

Lünens Stadtarchivar Fredy Niklowitz nennt ein berüchtigtes Beispiel für Datenschwund durch Systemwechsel: „Die Daten der ersten Mondlandung von 1969 kann heute kein Mensch mehr entziffern. Auch nicht bei der NASA.“ Mag sein, dass dieses Manko auch zu den Verschwörungstheorien (die Mondlandung wurde demnach „nur im Studio nachgestellt“ und ist niemals wirklich erfolgt) beigetragen hat. Es war allerdings wohl auch eine Art Initialzündung modernen Archivierens. Im Gefolge ist man hellhöriger und vorsichtiger geworden.




Über Digitalisierung – einige grundsätzliche Überlegungen zum Internet und seiner künftigen Gestaltung

Wie und nach welchen Prinzipien soll das Internet der Zukunft gestaltet werden? Unser Gastautor Michael-Walter Erdmann, Künstler und Publizist aus Essen, hat dazu einen grundlegenden Text geschrieben:

̈Wäre das menschliche Auge nicht sonnengleich, es könnte die Sonne nicht sehen. Wenn das menschliche Gehirn kein Computer wäre, könnte es keine Computer bauen. Die Erfindung des Computers ist ein zwanghafter, zwangsläufiger Akt der Auto-Mimesis. Das Internet ist das bislang größte mimetische Projekt des Menschen; digitale Höhlenmalerei.

Mimesis ist nicht nur ein auf Erkenntnis abzielender Kunstvorgang, jedenfalls kein auf Kunst begrenzter Vorgang: Mimesis ist ein biologisch-geistiger Reflex, ein Grundprinzip der Evolution. Zwei, drei Dinge, die man ganz generell zu „Digitalisierung“ sagen muß. Die Digitalisierung krempelt die gesamte Kultur der menschlichen Spezies um. Kein Bereich des menschlichen Lebens bleibt davon unberührt: Ökonomie, Politik, Gesellschaft, Privatleben, der Öffentliche Raum, Ästhetik, Kunst und Kommunikation. Es wird nichts mehr geben, kein Merkmal und keinen Raum und keine Äußerungsform menschlicher Existenz als Species und intelligibler Zivilisation, der von diesem Prozeß nicht erfaßt und prinzipiell umgestellt, umgebaut, in grundlegender Weise strukturell verändert wird.

Digitale WEltmächte dicht an dicht: die Logos von Google, Amazon und Facebook auf einem Apple-Bildschirm. (Foto/Screenshot: Bernd Berke)

Digitale Weltmächte dicht an dicht: die Logos von Google, Amazon und Facebook auf einem Apple-Bildschirm. (Foto/Screenshot: Bernd Berke)

Die digitale Revolution ist die am schnellsten wachsende Infrastruktur seit Menschengedenken. Dieser Prozeß ist unumkehrbar, und dieser Prozeß ist unabsehbar, und er verläuft in einer exponentiellen Wachstumskurve. Wir stehen am unteren Ende dieser Kurve.

Die Digitalisierung ist eine neue, ist die aktuelle Periode der menschlichen Evolution. Das 21. Jahrhundert ist das Zeitalter der Digitalisierung.

Es gibt 3 Gesetze der Digitalität:
Simultaneität
Ubiquität
Konvergenz

Alle drei Werte tendieren zum Absoluten, akzeptieren keine Endlichkeit, keine Begrenzung. Ein digitaler Content ist prinzipiell überall verfügbar. Das heißt: überall, wo es menschliche Zivilisation und digitale Technik gibt, also so gut wie überall auf diesem Planeten und außerdem außerhalb dieses Planeten überall dort, wo Menschen digitale Technik hinschicken; also auch in Räumen und an Orten, wo keine Menschen sind! Dieser content ist überall gleichzeitig präsent, und Gleichzeitigkeit ist immer Zeichen für und Anzeichen von absoluter, sich selbst absolut setzender Macht.

Herrschaftsanspruch und strukturelle Gewalt

Simultaneität ist Herrschaftsanspruch. Ubiquität und Simultaneität gepaart symbolisieren und repräsentieren eine große materielle Machtfülle und strukturelle Gewalt. Und die Urheber solcher Gewalt wissen um ihre Macht. Um das an einem historisch frühen und vergleichsweise simplen Beispiel zu verdeutlichen, erinnere ich an die erste internationale Währung der Menschheitsgeschichte, an die Standard-Silbermünze, die Alexander der Große in seinem Imperium prägen ließ. Trotz eines gewissen Variantenreichtums legte er großen Wert auf unmißverständliche Wiedererkennbarkeit seines Konterfeis, ikonographischer Ausweis der Omnipräsenz, der Militanz und der wirtschaftlichen Potenz seiner Herrschaft.

Konvergenz bedeutet in diesem Zusammenhang das tendenzielle und progressive Konvergieren vieler unterschiedlicher Medien: Einem digitalisierten Content ist es egal, ob er auf einem großen Screen erscheint, auf einem normalen Computer, einem Tablet, einem Smartphone oder einer Uhr. Er kann an jedem beliebigen Ort als Fernsehbeitrag, CD/DVD/Diskette, als Zeitungsartikel, Buch oder Plakat erscheinen; kann sich also auch wieder in rein analoge oder gemischte (analog-digitale) Medien zurück verwandeln.

Um auch die Grenzbereiche des Analogen zu erwähnen: Ein optischer Content kann als Projektion erscheinen, ein akustischer Content als reines Schallereignis. Content switcht zwischen analogen und digitalen, materiellen und immateriellen Welten und ist in diesen Welten (also an verschiedenen Orten) inclusive der Zwischenwelten gleichzeitig. Darin ähnelt er dem Verhalten von Teilchen im Quantenbereich.

Im Prinzip funktioniert also jegliche Digitalität nach diesen 3 Grundprinzipien, und um sie philosophisch zu fassen, bedarf es keines weiteren Prinzips. Der Rest sind Akzidentien und Anthropologie: Sozialverhalten, Biologie, Evolution. Kein Konzern hat diese 3 Prinzipien besser, umfassender und konsequenter in Produktstrategien und Konnektivität, in Image und Produktprestige umgesetzt als APPLE.

Verlust an Kulturtechniken

Die Digitalisierung sorgt in vielen Bereichen für einen Verlust an Kulturtechniken, kulturellen und zivilisatorischen Standards, für deren Entwicklung die Menschheit Jahrtausende gebraucht hat. Europa war an der Entwicklung dieser Techniken und Standards maßgeblich beteiligt, verteidigt diese aber nicht. Beispiele: Das Navigationsgerät verdrängt die Kunst des Kartenlesens. „Whatsapp“ ist der Ruin der Rechtschreibung, des Briefeschreibens, der Intimität und der Vertraulichkeit; zumindest für ein, zwei, drei Generationen.

Berühren heißt noch lange nicht begreifen: Bildschirm eines so genannten Smartphones. (Foto: Bernd Berke)

Berühren heißt noch lange nicht begreifen: Bildschirm eines so genannten Smartphones. (Foto: Bernd Berke)

Das Gefährliche an der gefälligen „usability“ von digitalen Endgeräten ist die enorme Leichtigkeit der Prozeduren, sind die vielen Automatismen, das Leicht-Fertige. Digitalisierung ist anthropologisch gesehen tendenziell regressiv. Sie erleichtert die Befriedigung atavistischer Instinkthandlungen wie jagen, sammeln, Beute machen; alles vom Sofa aus, jederzeit, an jedem Ort, mühelos.

Die Entwicklung des menschlichen Gehirns ist gekoppelt an die des aufrechten Gangs, die gleichzeitige Evokation von Sprache und dies beides wiederum an die Evolution der menschlichen Hand. „Begreifen“ als Weltaneignen ist immer ein Doppeltes: Das reale Tun, die Mechanik der Hand, das Anfassen und die Verarbeitung der so zustande kommenden Objektwelt als innere Landkarte auf der Metaebene/Datenverarbeitung des Gehirns.

Bei digitalen Geräten ist der Kontakt des Menschen mit dem Objekt auf ein paar Quadratmillimeter Fingerkuppe reduziert; das ist kein „Begreifen“ mehr. Trotzdem verfügen wir mittels dieser Geräte über prinzipiell unbegrenzte Macht: Macht über Menschen, Geld, Dinge, Prozeduren, Sprache. Das ist verführerisch, das schmeichelt unserer kindlichen Omnipotenz, unserem Narzißmus; es ist regressiv, und wir geben dem allzugern nach. Je jünger wir sind, desto gefährdeter sind wir. Wir brauchen eine europäische Ethik des Digitalen. Der Umgang mit digitalen Geräten muß normativ gelenkt und gelernt werden und gehört in ein Unterrichtsfach und an die Universitäten.

Wo bleibt der Einspruch im Sinne der Aufklärung?

Das alles sind reale Gefahren, die durchaus auf ein kulturelles und zivilisatorisches Verblassen der menschlichen Spezies hindeuten. Und es sind reale Gefahren, weil wir Europäer nichts unternehmen, dieser Entwicklung etwas entgegenzusetzen. Digitalisierung ist nicht aufhaltbar und sie ist im Großen + Ganzen unumkehrbar. Aber man kann sie gestalten, einiges kann + sollte man sogar zurücknehmen.

Es entspricht europäischer, aufgeklärter Vernunft, nicht alles zu tun, was man – technisch gesehen – kann. Im Moment versäumen wir den Einspruch aufklärerischer Vernunft, überlassen die Entwicklung von Algorithmen und damit die kulturelle Prägung von Alltagsprozeduren/Kommunikation/ Marktverhalten etc. den Amerikanern und die Produktion von Geräten den Asiaten.

Es entspricht standardisiertem amerikanischem Denken und einem anthropologisch, kulturell naiven Verständnis der techne, zu sagen: „If it’s makeable, we make it!“ Das ist falsch; das ist auf lange Sicht sogar unökonomisch, weil es aufgrund seiner Priorität (technische Machbarkeit) die Grundlagen von Ökonomie tendenziell zerstört: die Balance von Mensch und Ressourcen. Dieses Denken hängt mit der spezifisch amerikanischen Raumerfahrung zusammen, und die hypostasiert einen prinzipiell unendlichen Raum für Bewegung, Planung und Existenzausdehnung. Dieser Raum ist sowohl real wie auch – im amerikanischen Protestantismus – theologisch aufgehoben und existenzbettend.

Die Sorge um das einzelne Subjekt

Der europäische Begriff von „Ökonomie“ beginnt auf begrenztem Raum beim „oikos“, dem einzelnen Haus und seinen Bewohnern und bei einem prozessualen, dialogischen, dynamischen Ausgleich zwischen Individuum, oikos und der polis als der zusammengehörenden Vielzahl der Häuser; europäisches Denken hebt an mit dem Begriff der Differenz, seine Sorge gilt dem Einzelnen, dem Subjekt: Dem großen Ganzen der Polis geht es gut, wenn es dem Einzelnen in seinem Haus gut geht und umgekehrt.

Diese einfachen existentiellen, komplementären Prinzipien bilden den Kern europäischer Identität und des großen, genuin europäischen Projekts AUFKLÄRUNG, aus ihnen resultieren die regulativen ethischen Werte (Freiheit, Solidarität, Gleichheit, Toleranz usw.) für die man Europa weltweit respektiert, woran Millionen von Menschen in anderen Erdteilen sich orientieren, wenn sie gegen staatliche Willkür, Despotismus, religiöse Intoleranz und Korruption kämpfen.

Diese Sorge ums begrenzt Individuelle, das sein Selbst-Bewußtsein und seine Identität geradezu daraus gewinnt, daß es sich den Verführungen der Entgrenzung klug und verantwortungsvoll verweigert, ist – verkürzt gesprochen – den Algorithmen von KINDLE, AMAZON, FACEBOOK, GOOGLE, WHATSAPP & Co. fremd. Diese Algorithmen zielen auf grenzenlosen Konsum, grenzenlose Kommunikation und grenzenlose Kontrolle und Verfügung bei gleichzeitig grenzenloser Mobilität und Ubiquität.

Rückbesinnung auf europäische Werte

Deswegen plädiere ich für die Rückbesinnung auf die zentralen Werte und Normen europäischen Denkens und für die „Übersetzung“, sozusagen für die „Migration“ europäischer Kategorien in die Sprache und Prozeduren der Digitalität. Das Zeitalter der Digitalität hat gerade erst begonnen, es ist keineswegs zu spät, um mit dieser Aufgabe der Europäisierung der digitalen Revolution zu beginnen.

Digitalität ist eine Technik. Als techne ist sie – so lehrt uns europäisches Denken und so kriegt man die Sache vielleicht auch in den Griff – dem Menschen, seinen Zielsetzungen, seinen Absichten und Zwecken untertan. Zwar ist das leichter gesagt als getan; aber es ist so. Es ist nicht das erste Mal, daß die Geister, die einer neuen Technik innewohnen, sich über den Menschen erheben, ihn verführen oder ihm Angst machen und ihn beherrschen. Es war immer wieder schwierig und manchmal auch langwierig, solche Verkehrungen vom Kopf auf die Füße zu stellen; und es beginnt immer mit diesen zwei Wörtern: Sapere aude!

Ceterum censo:
Schaffen wir eine Digitalisierung mit europäischem Antlitz! Nach meinem Dafürhalten gehört diese Aufgabe ins Ruhrgebiet. Es gibt hier eine Menge Menschen + Institutionen, die an dieser Aufgabe partizipieren könnten und es sicher auch gern täten.