Subtile Facetten, plakative Momente: Dmitri Schostakowitschs Elfte Sinfonie in Düsseldorf

Alina Ibragimova und Michael Sanderling nach dem Konzert der Düsseldorfer Symphoniker in der Tonhalle Düsseldorf. (Foto: Susanne Diener)

Bei Michael Sanderling, trifft zu, was oft nur als Lobpreis-Rhetorik zu klassifizieren ist: Er ist ein geborener Schostakowitsch-Dirigent. Zu erleben war die konzentrierte Rhetorik, der tiefinnerliche Ernst, den er den Sinfonien mitgibt, jetzt in der Düsseldorfer Tonhalle in einem Konzert mit den Symphonikern.

Michael Sanderling kam 1967 in Ost-Berlin zur Welt, er ist Sohn des Dirigenten Kurt und der Kontrabassistin Barbara Sanderling. Sein Vater hat nicht nur eine Reihe Schostakowitsch-Sinfonien mit dem Berliner Sinfonie-Orchester und anderen aufgenommen, er war auch eng mit dem Komponisten aus der Sowjetunion befreundet. Sanderling erinnert sich in einem Interview an die „sehr eindrückliche Persönlichkeit“ mit der besonderen Stimme und der angespannten, fast angsteinflößenden Mimik. Zum Biographischen – das für sich gestellt ja noch nicht viel aussagt – tritt ein Eintauchen in die Musik von klein an hinzu. Als deren Höhepunkt hat Sanderling mit der Dresdner Philharmonie alle 15 Sinfonien Schostakowitschs aufgenommen: Zeugnisse einer intensiven Beziehung, die aus beharrlichem Studium und aus tief verwurzelter Liebe lebt.

In diesem Jahr begeht die musikalische Welt am 9. August den 50. Todestag des Komponisten. Anlass für eine große Werkschau mit allen Sinfonien und Solokonzerten vom 15. Mai bis 1. Juni im Gewandhaus Leipzig. Da mitzuziehen, fällt schwer, aber auch die Orchester und Konzerthäuser in der Rhein-Ruhr-Region setzen ihre Schwerpunkte. So hielt es die Philharmonie in Essen im Februar mit dem Zweiten Klavierkonzert mit Anna Vinnistkaya und den Streichquartetten Nummer eins und neun mit dem Jerusalem Quartet.

Präsent, aufmerksam, klangpoliert

Die Symphoniker in Düsseldorf würdigten Schostakowitsch mit der Elften Sinfonie mit Sanderling am Pult – ein Konzert, das zum Ereignis geriet. Nicht nur, weil die Düsseldorfer sich präsent, aufmerksam und klangpoliert wie selten dieser expressiven Musik widmen. Michael Sanderling gelingt es, dem Orchester die subtilen Facetten, aber auch die plakativen Momente dieser beschreibenden, manchmal wie Filmmusik wirkenden Komposition zu entlocken. Denn mit der klassischen Form hat Schostakowitsch wenig im Sinn. Nur die vier Sätze erinnern an das früher unabdingbare Gerüst; der Inhalt schildert, statt motivisch-thematische Entwicklungen zu forcieren. Die Themen beruhen auf Arbeiter- und Revolutionsliedern; der letzte Satz zitiert mit typisch ironischem Hintersinn die „Warschawjanka“ aus der Zeit, als die Polen gegen Russland um ihre Selbständigkeit kämpften.

Mit dem Titel „1905“ hat der Komponist der Sinfonie einen historischen Bezugspunkt gegeben: den Volksaufstand des 9. Januar 1905 in Sankt Petersburg, den der Zar mit brutaler Gewalt beenden ließ. Schostakowitsch hatte jedoch eher den niedergeschlagenen ungarischen Aufstand von 1956 im Sinn, als er das Werk ein Jahr später schrieb – eine Konnotation, die damals auf keinen Fall offen zutage treten durfte.

Schostakowitsch wäre jedoch nicht einer der führenden Komponisten des 20. Jahrhunderts, hätte er lediglich sinfonische Filmmusik entworfen. Zwischen allen vier Sätzen gibt es motivische Verzahnungen, erklingen Reminiszenzen an bereits Gehörtes oder Details, die in einem späteren Satz musikalisch bedeutsam werden. Sanderling gestaltet die Balance der Klänge so, dass die strukturierenden Elemente hervortreten, stört aber nicht den „erzählenden“ Fluss der Entwicklung.

Solistische Herrlichkeiten

Große Geste, aber nicht viel zu erzählen: Alina Ibragimova mit den Düsseldorfer Symphonikern in der Tonhalle Düsseldorf. Michael Sanderling und das Orchester überzeugten dagegen mit Schostakowitschs 11. Sinfonie. (Foto: Susanne Diener)

Dabei kann er sich auf die Symphoniker verlassen. Das gespannte Pianissimo der Streicher zu Beginn mit seinen engen Intervallen schafft Atmosphäre, statt Melos oder gar eine Thematik vorzugeben, wird aber im Lauf der Sinfonie zu einem wiederkehrenden Motiv im Geschehen. Trompetensignale, kleine Trommel, Pauken, dann die Holzbläser mit einer ersten Melodie – das sind allmählich aufgebaute, sich intensivierende Bausteine. Mahler grüßt von ferne, und Sanderling erweist sich als Meister des atmosphärischen Spannungsaufbaus. Immer wieder nimmt er auch die Steigerungen der Dynamik zurück, damit er die Reserven an dramatischen Knotenpunkten voll ausspielen kann. Die explodieren im zweiten Satz, der die Hetzjagd und das Massaker an den Arbeitern schildert, mit Trommelgerassel wie MG-Salven, jagenden Streichern, gellenden Bläsern – und dann gespenstischer Ruhe.

Im dritten Satz mit der Überschrift „Ewiges Andenken“ hören wir die tiefen Streicher wie aus einem Guss, einen düster-erhabenen Choral, große, weite Melodielinien und – stets plastisch geschichtet – das Ostinato-Fundament der Musik. Das riesige Aufbäumen des letzten Satzes mündet in Glocken – ob Sieges- oder Totenglocken, das bleibt offen. Das Düsseldorfer Orchester glänzt als Ganzes, aber auch in solistischen Herrlichkeiten wie der Bassklarinette, dem Fagott oder der sensibel den Ton stufenden Blechbläserabteilung.

Strangulierter Lyrismus

Etwas erzählen sollte auch das Violinkonzert Ludwig van Beethovens, das Sanderling vor die Elfte stellte – aus seiner Sicht eine sinnige Wahl, weil er zwischen Schostakowitsch und Beethoven das einigende Band einer gesellschaftlich bewusst agierenden Musik erkennt. Die Solistin Alina Ibragimova beginnt zu den noch etwas metallharsch klingenden Violinen des Orchesters mit einem vorsichtigen, fast zärtlichen Ton, filigran, aber gefestigt. Sie hält den Kontakt mit Konzertmeister Dragos Manza, interagiert mit dem Orchester, bettet ihr Instrument in den Klang ein.

Aber es gelingt ihr nicht, im Laufe des ersten Satzes den Ton zu befreien: Ihr Forte weitet sich nicht strömend, sondern bliebt anämisch, bricht nicht aus stranguliertem Lyrismus aus. Am schönsten fließt noch das Larghetto des zweiten Satzes; im dritten bleiben Schwung und wilde Kadenz-Entschlossenheit unbefreit. Der Charakter der Bekenntnismusik, der das Konzert mit Schostakowitsch verbinden könnte, will sich nicht zeigen.

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Mehr von Schostakowitsch in der Region

Schostakowitsch steht in der Region noch mehrfach auf den Programmen in Oper und Konzert: Die Deutsche Oper am Rhein zeigt am 30. März und an weiteren Terminen im April und Mai die konzentrierte, auf Beiwerk verzichtende Inszenierung Elisabeth Stöpplers von „Lady Macbeth von Mzensk“ mit dem eindrucksvollen Dirigat von Vitali Alekseenok. In Köln spielt das Gürzenich-Orchester am 6., 7. und 8. April unter Eliahu Inbal die 15. Sinfonie. Die Achte steht am 6., 7. und 11. Mai auf dem Programm des Sinfonieorchesters Münster unter Golo Berg. Am 10. Mai spielt Lahav Shani mit Musikern des Israel Philharmonic und der Münchner Philharmoniker das g-Moll-Quintett op. 57 im Konzerthaus Dortmund.

Am 5. Juni ist das Jerusalem Quartet in der Tonhalle Düsseldorf zu Gast mit Schostakowitschs Streichquartett Nr. 12. Am 8. und 9. Juni erklingt in Köln die Fünfte mit dem Gürzenich-Orchester unter dem designierten neuen Kapellmeister Andrés Orozco-Estrada. Joseph Trafton dirigiert am 17. Juni das Philharmonische Orchester Hagen mit der Zehnten. Beim Klavier-Festival Ruhr gibt es dann einen Schostakowitsch-Schwerpunkt mit Evgeny Kissin. Am 2. Juli spielt er in der Tonhalle Düsseldorf die h-Moll-Sonate op. 61 und eine Auswahl aus den Präludien und Fugen; am 7. Juli ist er im Anneliese Brost Musikforum Ruhr Bochum zu Gast. U.a. mit Gidon Kremer (Violine) spielt Kissin dort die letzten Werke, die Schostakowitsch vor seinem Tod 1975 komponiert hat.

Im Kurort Gohrisch in der Sächsischen Schweiz finden von 26. bis 29. Juni die 16. Internationalen Schostakowitsch Tage statt. Info: https://www.schostakowitsch-tage.de/

Weitere Informationen zu Dimitri Schostakowitsch auf der Seite der Deutschen Schostakowitsch-Gesellschaft: https://www.schostakowitsch.de/




Reizendes Kaleidoskop: Anna Vinnitskaya ist Porträtkünstlerin der Essener Philharmonie

Die Pianistin Anna Vinnitskaya. (Foto: Marco Borggreve)

Sergej Rachmaninow ist einer der Komponisten, zu denen Anna Vinnitskaya immer wieder zurückkehrt – und das dürfte nicht alleine daran liegen, dass sie einst am Rachmaninow-Konservatorium in Rostow am Don unterrichtet wurde. Mit dem eher selten gespielten Ersten Klavierkonzert in fis-Moll stellte sich die aus Russland stammende Pianistin als Porträtkünstlerin der Essener Philharmonie dieser Saison im Alfried-Krupp-Saal vor, begleitet von den Philharmonikern unter ihrem GMD Andrea Sanguineti.

Anna Vinnitskaya hat sich für die laufende Saison einen gewichtigen Rachmaninow-Schwerpunkt gesetzt und wird in Essen und der Region viel Präsenz zeigen. Bevor sie am 4., 5. und 9. Februar 2025 mit Rachmaninows Dritten, dem d-Moll-Konzert, nach Münster kommt, spielt sie im November die vier Konzerte plus die Rhapsodie über ein Thema von Paganini op. 43 in zwei Konzerten mit der Dresdner Philharmonie unter Krzysztof Urbanski im Kulturpalast Dresden. Danach, am 6., 7. und 8. März 2025 tritt sie unter Joana Mallwitz mit den Berliner Philharmonikern mit dem Dritten Klavierkonzert auf. Prominente Engagements also für die Preisträgerin des renommierten Concours Reine Elisabeth in Brüssel, den sie 2007 als zweite Frau in der Geschichte des Wettbewerbs gewann und in dessen Jury sie im Mai 2025 sitzen wird.

Herbert Grönemeyer als Dirigent

In Essen ist Anna Vinnitskaya noch mehrfach in unterschiedlichen Formaten zu erleben. Die beiden Herbstkonzerte für Menschen mit besonderen Bedürfnissen im RWE Pavillon liegen bereits hinter ihr, aber am 3. Oktober präsentiert sie in der Philharmonie mit Dmitri Schostakowitsch einen ihrer dezidierten Lieblingskomponisten: Mit dem Brahms Ensemble Berlin spielt sie das Klavierquintett op. 57, solistisch lässt sie sich mit den „Puppentänzen“ hören, die sie auch 2024 auf ihrem jüngsten Album „Piano Dances“ eingespielt hat.

Das Zweite Klavierkonzert Schostakowitschs erklingt dann mit dem Mahler Chamber Orchestra zum 50. Todesjahr des Komponisten 2025 – am 14. Februar in Dortmund, am 15. in Essen und am 16. in Köln. Noch einmal ist Anna Vinnitskaya am 22. März in der Philharmonie Essen Solistin eines Orchesterkonzerts, diesmal mit dem Tonhalle Orchester Zürich unter Paavo Järvi und dem a-Moll-Konzert Robert Schumanns, bevor sie am 14. Juni mit Rachmaninows populärem c-Moll-Konzert op. 18 und den Bochumer Symphonikern nach Essen zurückkehrt. Als Dirigent des Konzerts, das am 13. und 15. Juni auch in Bochum auf dem Programm steht, ist Herbert Grönemeyer angekündigt.

Leuchtende Frische für Rachmaninow

Mit dem Ersten Klavierkonzert, das Sergej Rachmaninow als Moskauer Konservatoriumsstudent 1891 schrieb und 1917 überarbeitete, bestätigte Anna Vinnitskaya ihren viel gerühmten Rang als Solistin: Mit dem oft unterschätzten Werk ließ sie ein reizendes Kaleidoskop der Stimmungen aufleuchten. Nach dem kraftvollen Statement des Beginns nimmt sie den Ton des weiträumig in den Streichern exponierten Themas auf, der sich bald in lockerer Spielfreude verliert. Kein Wunder, dass dieses Konzert so wenig beachtet wird: Man muss wie Anna Vinnitskaya Freude daran haben, die eher rhapsodisch gereihten Momente brillanter Leichtigkeit, sentimentalen Verträumens und melodischer Melancholie elegant, frei und natürlich darzustellen.

Die Pianistin versucht nicht, die Wechsel illustrativ einzufangen. Sie bewahrt einen stetigen, freundlich leuchtenden, eher frischen als elegisch verschatteten Ton – den gönnt sie sich, gewürzt mit feinsinnigen Rubati, nur im lyrischen Teil des letzten Satzes. Ihr kurzes Duett mit dem Fagott im zweiten Satz wird zum poetischen Zwiegespräch, die Energie des Finales wird zupackend, aber kontrolliert freigesetzt. Die Philharmoniker unter Andrea Sanguineti sind mal näher, mal weiter von der Pianistin entfernt, wollen sich aber nicht vordrängen, sondern begleiten mit Noblesse, feinen Abstufungen und stellenweise zu diskreten Holzbläsern. Ein bezaubernder Einstand, der gespannt macht auf die weiteren musikalischen Facetten dieses Porträts.

Weitere Infos:

https://annavinnitskaya.com/de/home

https://www.theater-essen.de/philharmonie/

 




20 Jahre Konzerthaus Dortmund (II): Beethovens „Apotheose des Tanzes“ fehlt der scharfe Blick auf den Rhythmus

Wenn schon die spritzige Eingangsfloskel zwischen Klavier und Trompete so nadelspitz akkurat gelingt, kann eigentlich nichts mehr schief gehen in Dmitri Schostakowitschs Konzert für Klavier, Trompete und Streichorchester op.35.

Andris Nelsons dirigiert das Gewandhausorchester Leipzig. (Foto: Björn Woll)

Der junge japanische Pianist Mao Fujita – eingesprungen für die erkrankte Yuja Wang – und der Trompeter Gábor Richter sticheln dieses ironische Zitat aus Beethovens „Appassionata“ so gekonnt in den Raum, dass für die folgenden drei Sätze kein Zweifel an ihrer Klasse aufkommt.

Der 23-Jährige am Flügel beginnt sein Eingangssolo eher lebensfroh beschwingt als im beiläufigen Improvvisando, steigert sich dann fulminant in die typischen atemlosen Repetitionen und schrägen Gassenhauer-Melodien, verliert sich im Lento – Moderato zu den delikat abgestimmten Streichern des Gewandhausorchesters in traumtrunkener Meditation, bevor er sich im Finalsatz in einen befeuerten Wettstreit mit der Trompete begibt, der auch einmal durch einen knallig dissonanten Akkord unwirsch beendet wird.

Mao Fujita beim Eröffnungskonzert der Saison im Komzerthaus Dortmund. (Foto: Björn Woll)

Fujita zeigt sich in all diesen so unterschiedlichen Ausdrucksmomenten voll bei der Sache, allenfalls die verträumte Gelassenheit des zweiten und der satirische Biss des vierten Satzes könnten noch pointierter formuliert sein. Gábor Richter ist in seinen Signalen punktgenau und in den wenigen Momenten, in denen die Trompete sogar einmal „singen“ darf, voll Poesie mit von der Partie. Am Pult geht Gewandhauskapellmeister Andris Nelsons mit den Solisten mit; das Orchester verströmt eher seinen herrlich samtigen Klang als die herben und grellen Momente Schostakowitschs mit Humor zu zelebrieren. So bleiben die Bratschen zu weich und die rhythmische Finalknallerei eher wuchtig als messerscharf.

In Schostakowitschs Kammersinfonie op. 110a, einer mit Zustimmung des Komponisten von Rudolf Barschai erstellte Bearbeitung des Achten Streichquartetts, ist dieser Klang eher angebracht. Das melancholisch gestimmte Werk nimmt Nelsons in seinen drei Largo-Sätzen verhalten und breit, lässt die Streicher ihre vorzügliche Qualität im Legato ausspielen und den Ton nach einem ätherischen Violinsolo im Pianissimo verwehen. Der Allegro-Ausbruch im zweiten Satz, die explosiven Tutti-Schläge und der sardonische Walzer vertrügen eine spitzere Artikulation, um nicht allzu befriedet zu klingen.

„… in trunkenem Zustand komponiert“

Mit dieser Ästhetik nähert sich Andris Nelsons der Siebten Sinfonie Ludwig van Beethovens und liefert eine problematische Interpretation. Was dieser – nach Wagner – „Apotheose des Tanzes“ fehlt, ist eben jener scharfe Blick auf den Rhythmus, der im ersten Satz als konstitutiv entwickelt wird, und der sich in wechselnder Form durch die vier Teile zieht – als Marsch im zweiten, als impulsiver Drive im Scherzo und als grimmige Ausgelassenheit im Finale, von dem Friedrick Wieck argwöhnte, es könne nur in trunkenem Zustand komponiert sein.

Das Sostenuto des Anfangs wird zwar ausgekostet und die warm strömenden Holzbläser dürfen funkeln und schimmern. Aber das breite Tempo ermöglicht keinen Spannungsaufbau, das Pulsieren des Rhythmus bleibt gebremst. Der Sog der rhythmischen Struktur will sich nicht einstellen – und dann lässt Nelsons die Pauken losdonnern, als sei er bereits im Finale angelangt. So sind späteren dynamischen Gipfeln schon die Spitzen abgeschlagen, ehe sie erklommen werden. Der Mangel an rhythmischem Pep nimmt der Musik ihre Beredsamkeit; Nelsons agiert von Stelle zu Stelle statt Zusammenhänge herzustellen. Auch das Vivace gewinnt keine frühlingshafte Frische, keine spritzige Eleganz.

Dem Orchester ist das nicht anzulasten: Bis auf ein paar Artikulationsflüchtigkeiten im zweiten Satz sind die Violinen entwaffnend schön; die Bläsersoli makellos; das Orchesterpiano von selten gehörter Delikatesse. Die dröhnende Selbstbestätigung im Scherzo müsste nicht sein; das Finale bräuchte Brio und Exzess – aber der hat ja bereits im ersten Satz stattgefunden. Dennoch Jubel. Beethoven geht halt immer.




Mit Brahms in den Kosmos der Liebe: Magdalena Kožená in der Philharmonie Essen

Die Liebe, die von Johannes Brahms besungen wird, ist selten so jauchzend-berauscht wie in „Meine Liebe ist grün“. Oft hängt sie einer still schmerzlichen Sehnsucht nach, beschwört verzweifelt Festigkeit und Ewigkeit, schwimmt ratlos in Tränen. Wer also Brahms‘ Liebeslieder singt, wird sich dieser Ambivalenz stellen müssen – im Wort und im Klang der Stimme.

Magdalena Kožená hat für ihren Liederabend in der Essener Philharmonie vierzehn der gewichtigen Miniaturen zusammengestellt, die ein Spektrum der Liebe auffächern – Widerhall des Schwärmens in der Natur („Nachtigall“), resignierte Trostlosigkeit („Verzagen“), Ahnungsvolles und Geisterhaftes („Meerfahrt“), Sehnsuchtsvolles und auch ein wenig Schnippisches („Vergebliches Ständchen“). Diesen Kosmos durchschreitet sie mit kühlem Ton. Sie spielt kaum mit dem Wort, meidet es, Schlüsselbegriffe tonmalerisch hervorzuheben, trägt lyrische Farben nur sehr verhalten auf.

Aber sie spielt die Vorzüge ihres Mezzo aus, der von Natur aus nicht für Glut und Farbe zu haben ist, wohl aber in der Dynamik sich wandlungsfähig und flexibel erweist. Verhalten schimmerndes Piano führt über leider manchmal matte Zwischenstufen zu einer konzentriert fokussierten, aber nicht immer frei strömenden vollen Stimme.

Kožená trifft in Joseph von Eichendorffs „Anklänge“ den ruhig enthobenen Ton, korrespondiert auch in „Der Schmied“ (Ludwig Uhland) mit dem Klavier im malerischen Rhythmus. Aber ob das „Vergebliche Ständchen“ nur neckisch oder eigentlich grausam ist, vermag sie nicht zu klären. Dazu bleiben die Stimmfarben zu neutral. In „Von ewiger Liebe“ fehlt der selbstbewussten Zuversicht des Mägdeleins die Spur eines Beharrens, das der unterbewusst mitschwingenden Gefährdung die trotziges Behauptung der Liebe entgegensetzt: So dürfte „Unsere Liebe muss ewig bestehn!“ nicht nur schwärmerisch, sondern auch eine Spur verunsichert klingen.

Viel beredter gelingen Magdalena Kožená die „Kinderstuben“-Lieder Modest Mussorgskys, die gleich nach der Uraufführung 1960 verbotenen fünf Satiren op. 109 Dmitri Schostakowitschs und die veredelte Folklore der „Dorfszenen“ Béla Bartóks. Die kindlichen Dialoge mit der „Njanjuschka“ verniedlicht sie nicht, aber gibt ihnen einen charakteristischen Tonfall – ob es das weinerliche, verschmitzt argumentierende Kind oder die zeternde Njanja („V uglu“), das Entsetzen über den großen Käfer oder das vielsagend artikulierte Abendgebet ist. Auch bei Schostakowitsch spürt man den überlegten Umgang mit dem Wort, die Ironie („Kreutzer-Sonate“) und den augenzwinkernden Abstand zwischen Fiktion und Realität, der zu einer komischen Katastrophe führt („Missverständnis“).

Koženás Klavierpartner Yefim Bronfman lässt in nahezu jedem Moment spüren, wie tief er in die Musik eintaucht: Bei Brahms bringt er die Farben zum Leuchten, die man bei der Sängerin vermisst. So erzählen die letzten Töne von „Nachtigall“ von anklingender Wehmut, legt das dunkle Register in „Von ewiger Liebe“ einen Schleier des Zweifels aus, beschwört das Klavier das Visionäre in der „Meerfahrt“.

Mussorgsky beleuchtet Bronfman delikat und idiomatisch vielfältig. Bartóks kunstvolle Begleitungen spielt er, als seien sie selbständige Klavierstücke. Doch da liegt auch ein Problem: In den Brahms-Liedern konzentriert sich Bronfman bisweilen zu selbstverliebt auf seinen Part und vergisst, mit der Sängerin zu atmen. Bei Schostakowitsch trifft er sich mit Kožená kongenial beim Ausleuchten des Hintersinns, und in Béla Bartóks holt er frisch und farbenverliebt die berückenden Melodien aus der Folkloristik in den Himmel großer Kunst. Wenn’s so weitergeht, verspricht die Kammermusik in der anbrechenden Saison der Philharmonie noch viele anregende Abende.

Am 10. September erscheint beim Label Pentatone eine CD mit Liedern von Brahms, Mussorgsky und Bartók mit Magdalena Kožená und Yefim Bronfman. Das Album ist auch über Streamingdienste abrufbar.




Vom Rätsel der Vollendung: Das Mandelring Quartett mit allen Schostakowitsch-Streichquartetten in Duisburg und Kempen

Das Mandelring Quartett im Duisburger Lehmbruck Museum. (Foto: Werner Häußner)

Noch schmücken sie die Gehölze, die verblassenden Farben des Herbstes, aber das Rascheln der Schritte durch das Laub verrät, dass es nicht mehr lange so bleibt. Die lichten Kronen der Bäume, die nackten Zweige der Sträucher lassen das Duisburger Lehmbruck Museum schon von weitem durch den Park leuchten.

An mehreren Abenden strahlten die Spots länger als üblich auf die Skulpturen der renommierten Duisburger Sammlung: Es gab Musik im Museum. Das Mandelring Quartett präsentierte alle fünfzehn Streichquartette von Dmitri Schostakowitsch in fünf Konzerten – zwei davon allerdings im Kulturforum Franziskanerkloster im niederrheinischen Kempen.

Die Duisburger Philharmoniker und Kempen Klassik e.V. ermöglichten damit ein Ereignis, das sonst etwa den Salzburger Festspielen (2011) oder wenigen Kammermusikzentren vorbehalten ist. Erst neun Mal, sagt die Geigerin Nanette Schmidt, habe sie einen solchen Zyklus gespielt, obwohl sich das vor 38 Jahren gegründete Mandelring Quartett seit mehr als 15 Jahren immer wieder diesen epochalen Werken des 20. Jahrhunderts widmet. Die 2011 erschienene CD-Box gilt inzwischen als eine der Referenzaufnahmen und kann den „Klassikern“ etwa des Borodin- oder des Brodsky-Quartetts auf Augenhöhe begegnen.

In diesem Fall ist eine zyklische Aufführung auch kein leistungsprotzender Musik-Marathon, bedient keinen Vollständigkeits-Fetisch und keine Marketing-Strategie. Die Konfrontation der Zuhörer mit den zwischen 1938 und 1974 entstandenen Quartetten zeigt wider erstes Erwarten nicht so sehr Linien einer Entwicklung oder gar eine Steigerung der künstlerischen Ausdrucksmittel – die beherrscht Schostakowitsch schon im ersten Quartett, das er schreibt, als er bereits durch fünf Sinfonien und seine Oper „Lady Macbeth von Mzensk“ als führender Komponist der Sowjetunion anerkannt war und die lebensgefährliche stalinistische Kulturpolitik in eigener Person erdulden musste.

Die Faszination des Individuellen

Sondern: Hört man alle 15 Quartette in einer solchen Konzentration, ideal verteilt auf vier Tage, erschließt sich, wie individuell jedes einzelne gearbeitet ist, wie profund Schostakowitsch klassische Vorgaben und einander ähnelnde Strukturmuster immer neu variiert, aber durchaus auch, wie er noch in vorgerücktem Alter offen für Neues ist und etwa ab dem 12. Streichquartett von 1968 mit zwölftönigen Themen experimentiert.

Drei Konzerte fanden im Duisburger Lehmbruck Museum (Bild) statt, zwei in Kempen. (Foto: Werner Häußner)

Mit Vergnügen meint man wahrzunehmen, wie er sich etwa im ersten Satz des dritten Quartetts mit leiser Ironie von der gassenhauerischen melodischen und rhythmischen Erfindung distanziert. Schmunzeln lässt sich, wenn er ins Neunte Quartett die berühmte Galoppade aus Rossinis „Wilhelm Tell“ einbaut. Der Musikjournalist Jonas Zerweck wies in seinen kundigen Einführungen immer wieder auf solche aufschlussreiche Details hin. Etwa wie Schostakowitsch im ersten Satz des Zweiten Quartetts schon mit dem Titel „Ouvertüre“, aber auch mit kompositorischer Raffinesse verschleiert, dass er einen an Beethoven angelehnten – und damit in der Sowjet-Musikästhetik verpönten – Sonatenhauptsatz konstruiert hat.

Aber wichtiger als solche Detail-Reminiszenzen ist, wie Schostakowitsch seine eminente satztechnische Kunst verfeinert, expressiv schärft und in den letzten Quartetten gegen Ende seines Lebens reduziert und damit atemberaubend konzentriert. Wie erschütternd das wirkt, war an den Zuschauern abzulesen: Der Schlussgesang des Zyklus, das nur aus langsamen Sätzen bestehende 15. Quartett, nahm dem Auditorium wahrhaftig den Atem. Selten erlebt man eine solche ergriffene Stille.

Mit existenziellem Ernst musiziert

In der Ästhetik ihrer Wirkung passen die Quartette in die Jahreszeit. Selten hört man unbeschwerte Musik, nur eines endet mit einem schlagkräftigen Finaleffekt. Auch das heiter-gelöste Sechste geht ruhig-harmonisch zu Ende. Ob in jenseitigem Pianissimo verschwebende oder in ätherischer Zurücknahme ersterbende Finali: Das Mandelring Quartett musiziert in solchen Momenten mit einem existenziellen Ernst, der jede Kunst„fertigkeit“ hinter sich lässt und sich dem emotionalen Risiko des Augenblicks ungeschützt aussetzt. Genannt sei speziell das Ende des Achten Streichquartetts. Als es verklungen war, fanden sich in der Kempener Paterskirche erst nach langem, regungslosem Verharren die ersten Hände zu zögerndem Beifall zusammen.

Dass die drei Geschwister Nanette, Bernhard und Sebastian Schmidt gemeinsam mit dem Bratscher Andreas Willwohl nicht auf solche herausgehobenen Momente spekulieren, versteht sich. Aber die konstante Achtsamkeit, das gleichbleibend überragende spieltechnische Niveau aller fünf Konzerte ist alleine schon als mentale Leistung wert, herausgehoben zu werden. Am Beginn des ersten Quartetts dauert es nur wenige Augenblicke, bis sich die Vier zu gelassenem Miteinander gefunden haben. Von Auftritt zu Auftritt wächst die Konzentration, so als verlören die Musiker keine Energie aus der Anspannung der vorherigen, sondern zögen daraus die Kraft für das nächste Konzert.

Hervorzuheben ist, wie präzis sie selbst im dichtesten Geschlinge der Linien, im härtesten rhythmischen Ostinato, im zerbrechlichen Pianissimo übereinstimmen. Stets herrscht transparente Balance, stets bleibt durchhörbar, wie komplex Schostakowitsch mit dem motivischen Material umgeht. Es gibt keine klangliche Überwältigungsstrategie; alles wächst aus dem Notentext heraus.

Alle Vier sind gleichermaßen gefordert

Schostakowitsch fordert alle Vier gleichermaßen, gibt jedem Instrument ausgedehnte solistische Auftritte, sucht alle möglichen Kombinationen auszureizen. Zunächst wirken das dialogische einander Zuspielen von Motiven, das Kehraus-Temperament des Finalallegro des Ersten Quartetts, auch die harmonischen Verschränkungen des Kopfsatzes des Zweiten noch in der Tradition verankert. Die schweifend-epische Melancholie langsamer Sätze, noch verstärkt durch den dunklen Gesang der Viola, erinnert an Tschaikowsky oder an die russischen melodischen Formulierungen eines Mussorgsky. Das zelebrieren die Mandelrings mit schönster Hingabe, aber stets auch einer objektivierenden Distanz, die Sentiment außen vor lässt.

Aber im Tanz des Zweiten Streichquartetts wird es ernster: Ein wehmütiger Abglanz vom Walzer-Schwung verschärft sich grimmig. Die Repetitionen des Cello insistieren, treten gespenstische Kaskaden los, bis die Viola mit herbem Ton die stilisierte Folklore des abschließenden Variationensatzes singt. Im Vierten Quartett streichelt Bernhard Schmidt aus seinem Cello seidig-samtige Töne für die jüdischen Melodien heraus, mit denen Schostakowitsch dem weit verbreiteten Antisemitismus Paroli bot – öffentlich allerdings erst nach Stalins Tod, als das Werk endlich vor Publikum uraufgeführt werden konnte. Mal fein und leise ausgekostet, mal energisch durchgezogen werden kontrastierende Themen ineinander geflochten. Da herrscht, auch wenn’s laut werden muss, keine Extroversion, sondern eine behutsam abgestimmte Innerlichkeit.

Mit solchem spieltechnischem Rüstzeug gelingt es dem Mandelring Quartett, die eigene Prägung jedes der Werke auszuschöpfen. Im dritten Satz des Sechsten Streichquartetts zum Beispiel gelingen fabelhafte Wechsel der Klangfarben, von dunkel-samtig zu grell-brillant. Im Achten fasziniert der gedankenverlorene Gesang der ersten Violine Sebastian Schmidts, bevor im zweiten Satz mit vehementen Schlägen ein Inferno losbricht, in dem man sich schwer tut, nicht das Tackern eines Maschinengewehrs zu hören, während heftige Akkorde wie Einschläge dröhnen. Das Quartett trägt die Überschrift „Im Gedenken an die Opfer des Faschismus und des Krieges“ – und der Gedanke liegt nahe, dass Schostakowitsch beim Komponieren im Angesicht des noch zerstörten Dresden hier noch einmal die Schrecken des Krieges vergegenwärtigt.

Musik jenseits aller Verstörung

Im Kopfsatz des Fünften brillieren die Vier in einem wunderbar ausgewogenem, aufeinander bezogenem Spiel; Nanette Schmidt mit der zweiten Violine adelt eines der Duette mit der leuchtend intonierenden Bratsche von Andreas Willwohl, der sich immer wieder als ein Meister der Vielfalt auf seinem Instrument erweist. In den melancholischen Gesängen, die Schostakowitsch dem Instrument anvertraut, beschwört er die tröstende Kraft der Musik, die jenseits aller Verstörungen dieser Welt liegt und von ihnen nicht berührbar ist.

Die letzten Abende mit den Quartetten zehn bis fünfzehn versetzen in beinah meditative Betroffenheit. Sicher lässt sich bewundern, wie kontrolliert das Mandelring Quartett die heftigen Kontraste, die gellend insistierende Härte, die Ansätze zum Geräuschhaften in der Musik spielt. Oder wie souverän die unerbittliche Unruhe des Finalsatzes des Zehnten realisiert wird. Oder wie nobel verhalten Sebastian Schmidt mit seinem Vibrato den seidigen, substanzreichen, aber nie üppigen Ton der Violine gestaltet.

Aber die konzentrierte Ruhe, die verklärte Resignation, der erhabene, fast liturgische Duktus spröde konzentrierter Melodien oder die höchste Sensibilität in Ton, Dynamik und Balance reichen nicht aus, die emotionale Tiefe dieser Abschiedswerke zu erklären. Hier geschieht etwas, was der Komponist Moritz Eggert jüngst als essenziellen Teil von Kunst beschrieben hat: Hier geben sich Rätsel auf, stellen sich Fragen, bleiben Erschütterung und Verunsicherung. Wer mit solchen Gedanken in die kalte Herbstnacht hinausgewandert ist, hat aus den Konzerten das mitgenommen, worum es geht.

 




Orte der Ödnis: Dmitri Schostakowitschs „Lady Macbeth von Mzensk“ überzeugt an der Oper Frankfurt nur musikalisch

Als Katerina Ismailowa aus unruhigen Träumen erwacht, liegt sie auf einer Rollbahre, wie man sie in der Anatomie für tote Körper verwendet. Um sie herum ist nichts, außer einer speckig glänzenden, riesenhaften Mauer, deren grün-blau-grau-braun schillernder Rund alles hermetisch abschließt. Ein Ort der Ödnis, ohne Hauch von Schönheit, Freundlichkeit, Hoffnung.

Anja Kampe als Katerina Ismailowa in Frankfurt. Foto: Barbara Aumüller

Anja Kampe als Katerina Ismailowa in Frankfurt. Foto: Barbara Aumüller

Kaspar Glarner hat für Dmitri Schostakowitschs „Lady Macbeth von Mzensk“ in Frankfurt eine Dystopie geschaffen, die keinen Ausweg zulässt. Es ist ein Ort der seelischen Gefangenschaft, der Unterdrückung aller Lebenstriebe: Katerinas künstlich weiße Haare sind zwar im Chic der zwanziger Jahre geschnitten, zeugen aber von ihrer erloschenen Seele. Eine VR-Brille muss helfen: Doch der Ausweg ist nur virtuell; Bibi Abel lässt in ihren Videos kitschige Blumen aufploppen. Eine Perspektive hat diese Frau nicht.

Giftige Pilze, serviert ohne innere Regung

Anja Kampes neutral gefärbte, anfangs technisch zweifelhaft in seifig-enge Höhe gezogene Stimme passt zu dieser abgestumpften Frau: Ungerührt geht sie in die Knie, als ihr sadistischer Schwiegervater Boris Ismailow einen grotesken „Liebesbeweis“ fordert. Ohne eine Spur von Mitgefühl befreit sie die Hausangestellte Axinja (einigermaßen zahm: Julia Dawson) aus den Händen ihrer Peiniger. Dem brutalen Boris – Dmitry Belosselskiy singt ihn großartig mit satt strömender Stimme – reicht sie ohne Regung die vergifteten Pilze. Ihren Mann Sinowi – Evgeny Akimov als eitler, profilloser Protz mit genau ausgearbeiteter Blässe – hilft sie umzubringen, als sei Mord ein Alltagsgeschäft. Ihre abstoßende Umgebung hat sie vereist. „Kalt wie ein Fisch“, sagt Boris, als er ihr, um ihre sexuellen Trieb anzufachen, violette Unterwäsche entgegenwirft.

Dmitry Golovnin (Sergei) und Anja Kampe (Katerina Ismailowa). Foto: Barbara Aumüller

Dmitry Golovnin (Sergei) und Anja Kampe (Katerina Ismailowa). Foto: Barbara Aumüller

Dass unter all den Demütigungen die innere Energie, die Sehnsucht nach Liebe und Zärtlichkeit, die seelische Empfindung nicht abgestorben ist, offenbart sich in der Begegnung mit dem neu eingestellten Arbeiter Sergei: Dmitry Golovnin porträtiert ihn mit funkelnd präsentem, schneidend und schmeichelnd agierenden Tenor als Schlange in einem athletischen Körper, viril, aggressiv und potent. Die Schwachstellen in Katerinas öder Existenz erfasst er sofort und nutzt sie zielstrebig für sich. Und Anja Kampe zeigt genau wie beabsichtigt die Gier der ausgehungerten Frau auf die körperliche Berührung, den Kuss, die Vereinigung.

In solchen Momenten kommt die Regie Anselm Webers zu eindrücklicher Intensität, die man in anderen Szenen vermisst. Seine Stärke zeigt der frühere Essener und Bochumer Schauspielchef, der seit 2017 das Sprechtheater in Frankfurt leitet, wenn es um die Begegnung von Personen geht, wenn viel Unausgesprochenes im Raum steht, wenn er detailliert aussagekräftige Gesten und Gänge einsetzt.

Die Konzeption von Ensembles dagegen bleibt blass und unscharf: Die Quälerei und versuchte Vergewaltigung der Axinja in einem Ölfass ist unentschlossen, weil die gespielte Brutalität nicht bedrohend wirkt. Die erste Begegnung Katerinas mit ihrem späteren „Serjoscha“ lässt keine Spannung zwischen den beiden entstehen. Die böse Ironie der Polizei-Szene im dritten Akt ist nicht überzeugend ersetzt durch die Langeweile einer Schlägerbande in einem abgewetzten Wohnzimmer. Die detailliert durchgestaltete Travestie des Popen (Alfred Reiter) lenkt lediglich von der zupackenden Dramatik der Ereignisse ab, als bei der Hochzeit der Keller mit der Leiche des ermordeten Sinowi geöffnet wird.

Das Glück des Abends kommt aus dem Graben

Tödliche Pilze: Anja Kampe (Katerina Ismailowa) und Dmitry Belosselskiy (Boris Ismailow). Foto: Barbara Aumüller

Tödliche Pilze: Anja Kampe (Katerina Ismailowa) und Dmitry Belosselskiy (Boris Ismailow). Foto: Barbara Aumüller

Und der vierte Akt mit einer vordergründig schmierigen Sonjetka – der ansprechend singenden Zanda Švēde – bleibt in seinem spannungslosen Bildaufbau und seiner fadenscheinigen Gegenständlichkeit ohne die schicksalhafte Hoffnungslosigkeit, die sich in der Weite der Landschaft und der Öde des ewigen Marschierens symbolisch manifestiert.

Auch Anja Kampe drückt die ultimative Demütigung Katerinas und das Entsetzen angesichts ihrer aufkeimenden Selbsterkenntnis eines verpfuschten Lebens mit ihrem lapidaren Timbre nicht aus. Empathie fühlt man mit dieser neutral sich selbst besingenden Katerina nicht. So rettet auch das szenische Ausrufezeichen nichts, den – während des ganzen Abends glänzend intonierenden und präsent agierenden – Chor aus dem Zuschauerraum singen zu lassen. Der „finster-satirische“ Charakter, den Schostakowitsch selbst seiner Oper zugesprochen hat, ist mit dieser Kolportage nicht erfasst.

Das Glück des Abends liegt im Graben: Sebastian Weigle und das Frankfurter Opern- und Museumsorchester intensivieren Schostakowitschs illustrative und unmittelbar kommentierende Musik so grandios, dass sich das Drama in den Noten ereignet. In der Musik ist die innere Sehnsucht zu vernehmen, die auf der Szene kaum durch die verschlossenen Körperhüllen scheint. In der von Weigle zärtlich ausgeformten Wehmut ist die Hoffnung Katerinas zu spüren, in der Begegnung mit Serjoscha die lang vermisste innere Geborgenheit und Befriedigung zu finden. Aber auch die bissigen, grellen, brutalen Momente mit ihren gellenden Bläsern, den schäumenden Streichern und den böse meckernden oder atemlos hechelnden Holzbläsern kommen nicht zu kurz. Dabei lässt Weigle aber nie grob oder unkontrolliert spielen; er achtet auf Form und Rundung des Tons. Das gibt der Musik Schostakowitschs eine gewisse distanzierte Noblesse, die sich von krudem Naturalismus fernhält.

Musikalisch ist diese Premiere ein Triumph, szenisch rettet man sich so eben über die Runden.

Vorstellungen am 29. November, 8. und 12. Dezember.
Info: www.oper-frankfurt.de




Steinbruch und Hölle: Yannick Nézet-Séguin dirigiert in Dortmund Werke von Mahler und Schostakowitsch

Gern gesehener Gast im Dortmunder Konzerthaus: Der kanadische Dirigent Yannick Nézet-Séguin am Pult des Rotterdam Philharmonic Orchestra. Foto: Hans van der Woerd

Am Beginn stand der fast manische Tatendrang, die hemdsärmelige Attitüde, eine Leidenschaft zudem, die sich in gewaltiger Körperlichkeit ausdrückte. Das war im Jahr 2008, als der kanadische Dirigent Yannick Nézet-Séguin erstmalig im Dortmunder Konzerthaus gastierte und wirkte, als sei das Agieren am Pult Schwerstarbeit, um eine wuchtige Orchestermaschinerie in Gang zu setzen und unter Dampf zu halten.

Schnell, in seiner unverwechselbaren Mischung aus Dynamik und Charme, wurde der Musiker zu Publikums Liebling. Unter den Fittichen von Konzerthaus-Intendant Benedikt Stampa hat Yannick, wie er im Stile der Dortmunder Kumpelmentalität gern genannt wird, indes eine ziemlich spannende Entwicklung vollzogen: vom jungenhaften musikalischen Bilderstürmer zu einem ernsteren, ja abgeklärteren Orchestermotivator. Natürlich lodert da noch das alte Feuer, gleichzeitig jedoch hat sich sein Blick für Details geschärft, setzt er mehr auf Transparenz denn auf vordergründige Knalleffekte.

Nézet-Séguin kam 2008 mit dem Rotterdam Philharmonic Orchestra, dessen Chef er damals gerade geworden war. Im Gepäck hatte er Musik von Händel, Beethoven, Ravel und Strawinsky – eine über drei Jahrhunderte gespannte Mixtur ohne strengen dramaturgischen Überbau. Nun aber sind Dirigent und Orchester nach Dortmund zurückgekehrt, um die sinfonischen, spätromantischen Muskeln spielen zu lassen. Mit Gustav Mahlers „Totenfeier“ und Dmitri Schostakowitschs 13. Sinfonie („Babi Yar“) zieht das Düstere, Melancholische, Sarkastische ins Konzerthaus ein, zudem eine gewisse monströse Übersteigerung. Mahler, der große Weltenzimmerer, trifft auf Schostakowitsch, den politisch verstrickten Meister des Kommentierens aus dem Geiste der Musik.

Gleichwohl fehlt bei diesem Programm die klare Verklammerung. Richtig ist zwar, dass der Russe den tönenden Kosmos des aus Böhmen stammenden Österreichers überaus schätzte, doch zu verschieden sind eigentlich beider Sprachen. Mahlers Naturlaute, Durchbrüche, Raumklänge, derbe Folklore und seine Hinwendung zum Transzendenten sind etwas anderes als Schostakowitschs rhythmische Bruitismen, gefahrvolle dunkle Streicherlinien oder die markigen Schreie in gleißend hoher Lage. Darüberhinaus ist mit „Totenfeier“ nichts anderes gemeint als eine Frühfassung des ersten Satzes der „Auferstehungssinfonie“.

Großer Applaus für eine tolle Interpretation von Schostakowitschs groß besetzter 13. Sinfonie. Foto: Konzerthaus Dortmund

Wir befinden uns also in Mahlers Steinbruch, etwa 20 Minuten lang, um dann in die Konzertpause entlassen zu werden. Was folgt, umschreiben wir mutig mit dem Begriff Schostakowitschs Hölle: „Babi Yar“ erzählt von (russischem) Antisemitismus, vom Witz, der den Mächtigen ein Dorn im Auge ist, von Armut und (Kriegs)-Angst, schließlich von unfähigen Karrieristen. Jewgeni Jewtuschenko, kritischer und von der Obrigkeit drangsalierter Kopf zu Sowjetzeiten, verfasste die lyrischen Texte. Der Komponist schrieb dazu ein massiges Werk in fünf Sätzen, für Bass-Männerchor, solistischem Bass und Orchester. „Babi Yar“, der Kopfsatz, reflektiert das Massaker in der gleichnamigen Schlucht nahe Kiew, bei dem 1941 etwa 34 000 jüdische Menschen von der Gestapo und ukrainischen Kollaborateuren ermordet wurden.

Schostakowitsch wusste, was er hier komponiert hatte. Vor allem sein Leben unter Stalins Herrschaft war geprägt von Ängsten, materieller Not, vom Zwang, sich zumindest in gewissem Umfang anzupassen. In der „Babi Yar“-Sinfonie spiegeln sich diese Nöte, mithin Schostakowitschs Hölle, beinahe exemplarisch wieder. Entsprechend emotional aufgeladen gerät die Interpretation des Werks im Konzerthaus, mit dem fulminanten (Männer)-Chor des Bayerischen Rundfunks und dem Bassisten Mikhail Petrenko. Schnell finden sie den richtigen Ton, in markiger, wuchtiger, äußerst plastischer Artikulation, pendelnd zwischen Grabesstimmung, Melancholie und beißendem Spott (in teils idyllischer Tarnung).

Mikhail Petrenko, ein markiger Bass von Format. Foto: Alexandra Bodrova

Das Rotterdamer Orchester wiederum lässt das Schlagwerk nach russischer Revolution klingen, unterfüttert vom Furcht transportierenden, nervösen Raunen der (tiefen) Streicher, lässt die Bläser schreien oder elegisch klagen, findet dabei dennoch zu einem ziemlich transparenten Klangbild. Yannick Nézet-Séguin hält alle Fäden des musikalischen Verlaufs gut zusammen, mit Übersicht und Energie. Mikhail Petrenkos Stimme ist in der Tiefe so schwarz wie in hoher Lage geschmeidig. Und der Chor singt mit großer Kraft und feinem rhythmischen Gespür. Die Aufführung ist ein beeindruckendes Erlebnis, hinter dem Mahlers „Totenfeier“ klar zurückfällt. Sperrig und etwas spröde in seiner Formsprache, fehlt in diesem Sinfoniesatz-Vorläufer zudem die Farbe der tiefen Harfen, die perkussive Wucht und die räumliche Dimension der Klangexplosionen. Vielleicht wäre die Verzahnung beider Komponisten besser gelungen mit den unsagbar traurigen Kindertotenliedern zu Beginn.

 




Kampfmusik oder komplexe Symphonik? Gabriel Feltz mit einer unideologischen Siebten von Schostakowitsch in Dortmund

Die Dortmunder Philharmoniker spielen unter Gabriel Feltz die "Leningrader" Symphonie Schostakowitschs. Foto: Dortmunder Philharmoniker

Die Dortmunder Philharmoniker spielen unter Gabriel Feltz die „Leningrader“ Symphonie Schostakowitschs. Foto: Dortmunder Philharmoniker

Was wurde nicht alles mit der Siebten Symphonie von Dmitri Schostakowitsch verbunden: Eine Feier des heldenhaften Kampfes der ausgehungerten Leningrader Bevölkerung gegen die Truppen der Wehrmacht. Ein Fanal des Durchhaltewillens gegen Nazi-Deutschland.

Und weiter: Eine ideologisch aufgeladene Auftragsmusik Stalins. Eine „kodierte Botschaft des Widerstands gegen die kommunistische Tyrannei“. Eine Abrechnung mit der Gewalt an sich in ihrem Zynismus, ihrer Bösartigkeit und ihrer Faszination. Oder, wie es Schostakowitsch selbst schrieb, ein „Bild unseres kämpfenden Volkes in Musik“?

Wie auch immer: Jede dieser Auffassungen hat Spuren in der Interpretation dieser wohl beliebtesten unter den 15 Symphonien Schostakowitschs hinterlassen. Doch Gabriel Feltz hat offenbar entschieden, sich keiner der vorgeprägten Deutungen anzuschließen, sondern die Musik für sich sprechen zu lassen.

Ohne die Last der vielen Bedeutungen

Entlastet von Bedeutung, präsentiert sich die Siebte als ein komplexes Werk, das die Formen von Variationen, Scherzo, Choral aufnimmt und im letzten Satz eine dicht verarbeitete Reminiszenz an das thematische Material des Vorhergegangenen entwickelt. Dass Feltz dazu die emotionale Aufladung der Musik zurücknimmt, mag ihm den Vorwurf einer unverbindlichen, ja blassen Interpretation einbringen.

Gabriel Feltz. Foto: Thomas Jauk

Gabriel Feltz. Foto: Thomas Jauk

Ein Vorwurf, der jedoch nicht trägt: Im ersten Satz hört man weder die Invasion der Deutschen ins friedliche Bauernland noch den Triumph der Dummheit, sondern die allmähliche Durchsetzung eines scharf geschnittenen Marschthemas. Feltz meidet die Idylle, indem er die einfach wirkenden ersten Perioden laut und zügig nimmt, aber die Eintrübung mit den ersten Pianissimo-Wirbeln der kleinen Trommel stark zurücknimmt und sich damit Reserve für das riesige Crescendo schafft.

Ein transparentes Gewebe

Der Orchesterapparat entfaltet allmählich seinen dynamischen Sog, aber Feltz hält das Gewebe so transparent, dass vom Piccolo bis zu den konturscharfen Kontrabässen, vom gedämpften Blech bis zum klagenden Fagott jeder Akzent, jede Linie sich deutlich abzeichnen. Auch plötzliche Rückungen und Attacken, grelle Bläserstrecken und entspannte Violinpassagen gelingen. Schostakowitschs Musik hat auf einmal den ideologischen Ballast nicht mehr nötig und fasziniert mit ihrer kompositorischen Qualität.

Ebenso überzeugend halten die Dortmunder Philharmoniker die Spannung in den empfindlichen, leisen Ausklängen des ersten Satzes mit dem Morendo der Klarinette und dem resignierten Fagott. Der Wirbel des Scherzos mit seinen ironischen Zirkusmusik-Anklängen wird von Pianissimo-Fanfaren, Harfe und Bassklarinette in unheimlicher Stille begraben. Die Philharmoniker erweisen sich auch den unterschiedlichen klanglichen Welten des Adagio und der Architektur des Finalsatzes bravourös gewachsen – von der kraftvollen Homophonie der Violinen über die gleißenden Bläserakkorde bis hin zur klanglichen Schichtung des wellenförmig sich steigernden Höhepunkts.

Als der Krieg noch unbekümmert schmettern durfte

Gabriel Feltz und sein Orchester zeigen sich in dieser auf die Formen und Strukturen der Musik konzentrierten Wiedergabe beeindruckend bewusst gestaltend. So auch in der passenden Einleitung des Konzerts unter dem Motto „Teurer Triumph“ mit Peter Tschaikowskys „1812“-Ouvertüre op. 49. Wird die Siebte Schostakowitschs mit der Hitler-Invasion in dies Sowjetunion verbunden, so bezieht sich Tschaikowsky explizit im Titel auf den Einmarsch Napoleons ins zaristische Russland – ein wahnsinniges Unternehmen, das ebenfalls Tod und Verderben brachte und mit dem völligen Scheitern der Franzosen endete. Feltz zelebriert – wenn auch ohne echte Kanone – Kriegslärm und Siegesglocken, flutend triumphale Crescendi und herrische Attacken. 60 Jahre vor Schostakowitsch darf der Krieg hier noch unbekümmert schmettern.




Große Bekenntnismusik – das Quatuor Danel interpretiert Streichquartette von Weinberg und Schostakowitsch

Das belgische Quatuor Danel besticht durch äußerst subtiles Spiel. (Foto: Ant Clausen)

Im vergangenen Jahr feierte das belgische Quatuor Danel sein 25jähriges Bestehen. Längst ist es auf vielen Podien der Welt zu Gast, doch noch immer gilt dieses Streichquartett als Geheimtipp, zumindest in unseren Breiten. Das sollte sich dringend ändern: Marc Danel und Gilles Millet (1./2. Violine), Vlad Bogdanas (Bratsche) und Yovan Markovitch (Cello) sind in ihrem subtilen, expressiven und hoch konzentrierten Spiel ein fabelhaftes Ensemble. Das hat jetzt ihr Auftritt im Kleinen Haus des Gelsenkirchener Musiktheaters im Revier (MiR), mit Werken von Mieczyslaw Weinberg und Dmitrij Schostakowitsch, aufs Eindrucksvollste bewiesen.

Der Abend gehört zum attraktiven, sehr umfangreichen Begleitprogramm, das sich um die Aufführung von Weinbergs Oper „Die Passagierin“ rankt. Das musikalische Drama um eine ehemalige KZ-Aufseherin, die auf einer Schiffsreise nach Südamerika einem ihrer ehemaligen Opfer begegnet, wurde im Januar von Gabriele Rech bewegend in Szene gesetzt.

Doch der Pole Weinberg, dessen Familie im Holocaust umkam, und der selbst schon 1939 in die Sowjetunion emigrierte, hat unendlich viel mehr komponiert als diese Oper, darunter allein 17 Streichquartette. Das Bestreben des MiR, dieses Œuvre zumindest ein wenig aufzufächern, ist dem Haus hoch anzurechnen.

Mit dem Quatuor Danel hat man vier Experten eingeladen, die sowohl alle Streichquartette von Schostakowitsch als auch von Weinberg eingespielt haben. Beide Komponisten verband eine innige Freundschaft, das Werk des jüngeren Polen verweist im übrigen nicht selten auf die Musik des Russen.

Doch von bloßer Apologetik kann keine Rede sein, das zeigt die Programmauswahl des Abends: Weinbergs 5. und 16. Quartett umrahmen das 10. von Schostakowitsch. Ähnlichkeiten sind natürlich unüberhörbar, aber jeder pflegt doch seine eigene „Sprache“. En détail kitzelt das Quatuor Danel die jeweilige Idiomatik so präzis wie lustvoll heraus.

Weinberg schrieb sein 5. Quartett 1945. Das fünfsätzige Werk kommt oft in karger Faktur daher, der Beginn etwa (Melodia) oder die „Improvisation“ wird überwiegend von der 1. Violine intoniert. Es ist eine ganz eigene, etwas verhangene lyrische Intimität, die so entsteht, ein bittersüßer Tonfall, der ohnehin wesentliches Merkmal von Weinbergs Musik ist. Marc Danel gestaltet diese Solostellen betörend schön und intensiv, seine Mitstreiter, vor allem Cellist Yovan Markovitch, steuern wunderbare Klangflächen oder delikate Gegenstimmen bei.

Andererseits können diese vier Streicher durchaus zupacken, das Scherzo des 5. Quartetts wird so an Schostakowitschs Sarkasmus herangerückt. Gleichwohl bleibt die Distanz: Bei Weinberg regiert eher der subtile Spott. Und die Interpretation des Quatuor Danel lässt mehr an die robusten Attacken Beethovens denken. Die vier Musiker legen dabei bisweilen einen geradezu stoischen Zugriff an den Tag – sehr wirkmächtig ist das, gar nicht mechanisch.

Noch intensiver gerät die Deutung von Weinbergs Streichquartett Nr. 16, komponiert 1981, zum Andenken seiner im KZ ermordeten Schwester. Fahle Klänge wechseln mit wild herausfahrenden, dissonanten Passagen, die mitunter wie ein Aufbäumen wirken. Die Elegie des 3. Satzes atmet Trauer und Schmerz, das Finale gleicht einem zärtlich ummantelten Totentanz. Neben dem jüdischen Idiom, das dieses Werk durchzieht, fällt zudem die Nähe zu Bartók auf.

Beide Weinberg-Stücke umschließen Schostakowitsch 10. Quartett, das der Russe seinem jüngeren Freund gewidmet hat. Es beginnt eher verhalten, das Staccato-Thema erfährt einige Varianten ohne wirkliche Entwicklung, und nur die gespenstisch enervierenden Repetitionen lassen Unruhe ahnen. Die bricht im Allegretto furios, energisch, mit schroffen Akzenten heraus, im scharfen Kontrast zur Klage des 3. Satzes mit seinen fahlen, wie weltverlorenen Klangmischungen. Das Finale greift auf vorherige Motive zurück, verliert zunehmend an Dichte, und wo eben noch Rausch, herrscht letztlich das karge Verlöschen.

So zelebriert das Quatuor Danel einen Abend mit facettenreicher Bekenntnismusik. Das ist so spannend wie herzergreifend, in keinem Falle aber sentimental. Ein außerordentliches Konzert.

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Nächstes Ereignis des Weinberg-Programms am MiR ist ein Gesprächskonzert mit dem Geiger Linus Roth und dem Pianisten José Gallardo am 26. März 2017 im Kleinen Haus (18 Uhr). Es erklingen wiederum Werke von Weinberg und Schostakowitsch. Info unter www.musiktheater-im-revier.de




Aufbruch ins Reich der Freiheit: Schostakowitschs Zehnte Symphonie in Krefeld

Das musikalische Porträt einer Epoche – geht das? Ein Charakterbild in Tönen – ist das möglich? Wer Dmitri Schostakowitschs Zehnte Symphonie hört, wird dem zustimmen, auch wenn er das „Programm“ des Komponisten nicht kennt: Der erste Satz exponiert ein Motiv, das gewalttätig und verzerrt wirkt, führt es auf eine extrem geschärfte Art durch. Im vierten Satz will dieses Motiv noch einmal die musikalische Dominanz übernehmen, doch es wird verdrängt: Ein anderes setzt sich durch, das der Hörer im zweiten Satz kennengelernt hatte.

Schostakowitsch hat von diesem 1953 uraufgeführten Werk in seinen Memoiren behauptet, es gehe um die Stalin-Ära, ja um den Menschenschlächter selbst. Biografische Hinweise legen sich nahe, wenn das zweite Thema aus den Noten d-es-c-h, den Anfangsbuchstaben des Namens Dmitri Schostakowitsch gebildet wird. Doch man muss die Symphonie nicht als musikalische Genugtuung über den Tod des Diktators und das Überleben des Komponisten lesen: Schostakowitsch verbindet die formalen Ansprüche der klassischen Symphonie grandios mit einer modernen Ausdruckssprache, die damals wie heute in ihren Bann zieht.

Gemessen an ihrer Qualität stehen Schostakowitschs Symphonien immer noch zu selten auf den Spielplänen. Denn sie führen selbst internationale Spitzenorchester an ihre Grenzen. In Krefeld und Mönchengladbach wagten sich die Niederrheinischen Sinfoniker dran – und triumphierten auf ganzer Linie. Unter seinem Generalmusikdirektor Mihkel Kütson stellte sich das Orchester nicht nur den spieltechnischen Herausforderungen: Die Musiker trafen Atmosphäre und spezifischen Tonfall der aus dunklem e-Moll erkeimenden Symphonie, die sich dann tonal ein Reich der Freiheit erkämpft.

Der düstere Beginn im verschatteten Piano der tiefen Streicher ist ein Bild der Erstarrung. Die Musik kommt nicht von der Stelle. Die grelle Solo-Trompete bringt den unverwechselbaren Schostakowitsch-Ton ins Spiel – mit seinen dissonanten Blöcken, seinen hochgetriebenen Violinen und den harten Bläserkontrasten. Im Seidenweberhaus in Krefeld klingen solche Momenten öfter verschwommen: Sie überfordern die Akustik, nicht aber das Orchester.

Kütson lässt Piani färben, dass sie kriechend lauern wie eine Schlange, bereit zum Zupacken. Er zündet die Tuttischläge scharf und heiß wie die Flamme eines Schweißgeräts. Er hält in den Bläser-Eruptionen und den katastrophischen Zusammenbrüchen die unverstellte Gewalttätigkeit und den nackten Bruitismus der Musik fest, mit der sie in der Tat ein klingendes Dokument der Stalin-Ära wird. Man kann sich an den vier Sätzen nicht satthören: Die Sinfoniker überraschen stets aufs Neue mit ihrer reaktionsschnellen Präzision, dem Sog einer kraftvollen Phrasierung, aber auch der klanglichen Palette in den Soli – von skurril gellenden Einwürfen bis hin zur weichen Resignation kantabler Linien.

Für das viel gespielte Violinkonzert Jean Sibelius‘ haben die Sinfoniker mit Carolin Widmann eine Solistin gewonnen, die sich nicht mit den Zugpferden des Repertoires, sondern mit ihrer Vielseitigkeit und ihrem Einsatz für zeitgenössische Musik einen Namen gemacht hat. Sie macht schon mit dem sanft vibrierenden, schlanken, leuchtend erfüllten Ton der Einleitung klar, dass sie den schmerzgebärenden Gestus des „romantischen“ Virtuosen nicht übernehmen will. Details wie die traumsicheren Akkordgriffe oder die perfekten Sprünge auf der G- und D-Saite, das plastische Herausarbeiten von Details, der auch in schwierigsten Momenten souverän geführte Bogen sprechen für eine Solistin, die technisch problemlos in der Spitzengruppe heutiger Geigerinnen mithält.

Was nachhaltig für Widmann einnimmt, ist die musikalische Durchdringung des Sibelius-Konzerts: Der bewusst gestaltete Ton ist in der Farbe oder dem Charakter des Vibratos nicht am Zauber des schönen Moments orientiert. Er steht im Dienst einer komplexen Entwicklung, die großräumig gedacht und über die eine oder andere Phrase hinaus konzipiert ist. Das weckt beim Zuhören Entdeckerfreude und Spannung; das viel gehörte Konzert wirkt frisch und unverbraucht. Widmann schenkt dem Zuhörer den Aha-Effekt des neu Entdeckens, nicht des wohligen Wiedererkennens. So trägt der feinherbe, schimmernde Klang des „Adagio di molto“ im zweiten Satz eine edle Kantilene, führen die energischen Non-Legati und die stets zielführend gebildeten Repetitionen des dritten zu Sinn und Tiefe. Die Abstimmung mit dem Orchester klingt vorzüglich, Kütson ist ein engagierter, zuhörender Partner.

Begonnen hatte das Konzert mit Modest Mussorgskys „Eine Nacht auf dem kahlen Berge“ – in der schroffen, unangepassten Urfassung ein Zeugnis für die visionären, von seiner Zeit nicht verstandenen klanglichen und formalen Entwürfe des Russen. Kütson hatte anscheinend ein wenig Respekt vor der eigenen Schneid: Er legte temperamentvolle Tempi und dynamische Entwicklungen vor, entschied sich im Zweifelsfall aber eher für den kultivierten Klang eines technisch versierten Sinfonieorchesters als für das Ausstellen sich aneinander reibender Dissonanzen und klanglicher Extreme, etwa in den sehr schön, aber nicht abgründig offen intonierenden tiefen Holzbläsern. Dazu begünstigt die Akustik des Krefelder Saales die Detailschärfe des Klangs nicht: Die krachenden Fortissimo-Exzesse gerieten so neblig wie ein Wintertag auf dem Brocken. Dennoch: Die Begegnung mit diesem Orchester – jenseits der Oper – gab einen überzeugenden Eindruck mit, der auf einige auch programmatisch ansprechende Konzerte der nächsten Saison 2014/15 viel Appetit macht.