Kein Recht auf Vergessen: Gelsenkirchen überzeugt mit Mieczysław Weinbergs erschütternder Oper „Die Passagierin“

Alfia Kamalova und Bele Kumberger als Katja und Yvette in Mieczyslaw Weinbergs "Pasazerka" - zwei Frauen, die Opfer der Brutalität der Vernichtungsmaschinerie Auschwitz werden. Foto: Forster

Alfia Kamalova und Bele Kumberger als Katja und Yvette in Mieczyslaw Weinbergs „Pasazerka“ – zwei Frauen, die Opfer der Brutalität der Vernichtungsmaschinerie Auschwitz werden. (Foto: Forster)

Namen. Die Menschen haben Namen. Sie heißen Hannah, Yvette, Bronka, Tadeusz. Und sie erzählen Geschichten, Lebens-, Sehnsuchts-, Erinnerungsgeschichten. Ganz im Gegensatz zu ihren Peinigern. Bei denen sind sie Nummern. Die Menschen, die ihre Fäuste, Schlagstöcke und Pistolen gegen ihre Mitmenschen richten, erzählen nichts. Sie räsonieren nur über ihre Ideologie. Und als die Geschichte in das Leben einer der Uniformierten einbricht (durch eine stumme Begegnung, nur einen Blick), offenbart sich die ganze Erbärmlichkeit ihrer Existenz.

Ja, man könnte Mieczysław Weinbergs „Pasażerka“ („Die Passagierin“) auf eine „KZ-Oper“ eingrenzen. Ein tief berührendes Zeugnis dafür, dass Kunst sich selbst diesem furchtbarsten aller Schreckensorte des Bösen nähern kann. Wie erschütternd die Konfrontation wirkt, war nach der Premiere im Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen spürbar: Betroffenheit und Beklemmung lasteten geradezu greifbar im Raum.

Beim Beifall stand auf der Bühne, mitten unter den Künstlerinnen und Künstlern, eine zierliche Frau: die 93-jährige Zofia Posmysz. Sie hat Auschwitz überlebt und in einer durch ein persönliches Erlebnis angeregte Novelle die fiktive Begegnung einer Täterin mit einem ihrer Opfer beschrieben. Die Erzählung bildet die Grundlage für Weinbergs Oper.

Aber das bis 2010 in der westlichen Welt unbekannte Werk des 1919 in Polen geborenen jüdischen Komponisten will nicht zuerst die Vernichtungsmaschinerie der Nazis dokumentieren. Als „Hymne an den Menschen, an ihre Solidarität, die dem fürchterlichen Übel des Faschismus die Stirn geboten hat“, bezeichnet Weinbergs enger Freund und Förderer Dmitri Schostakowitsch die Oper.

Das Libretto von Alexander Medwedew fügt in die Erzählung Zofia Posmysz‘ Frauen ein, die aus Polen, Frankreich, Russland kommen, die ihre Leiden und Hoffnungen ins Lager mitgebracht haben, die dulden, beten, weinen, sich empören und lieben. Und die auf diese Weise Menschlichkeit im Verborgenen weiterleben lassen, kleine Inseln der Humanität schaffen. Die aber auch die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes stellen, nach seiner Anwesenheit in der Hölle von Auschwitz. Vielleicht, so eine der Frauen, sei Gott in Auschwitz noch einmal Mensch geworden und hier gestorben.

Beklemmende Bilder in Gabriele Rechs Inszenierung von Mieczyslaw Weinbergs "Die Passagierin" am Musiktheater im Revier. Foto: Forster

Beklemmende Bilder in Gabriele Rechs Inszenierung von Mieczyslaw Weinbergs „Die Passagierin“ am Musiktheater im Revier. (Foto: Forster)

Die kalten Zahlen, die in einer Projektion die Namen zu verdrängen suchen, triumphieren nur in der Ideologie der Peiniger: Die Menschen im Lager lassen sich nicht enthumanisieren – auch wenn es die Denunziantin, den weiblichen „Kapo“ in gestreifter Kluft mit Schlagstock gibt. „Abstrakter Humanismus“ wurde Weinberg vorgeworfen, die Oper daher erst 2006, zehn Jahre nach seinem Tod, konzertant in Moskau erstmals aufgeführt. Was für ein abstruser Vorwurf, aber er enthüllt in seiner perversen Form eine Wahrheit: Worauf Weinberg besteht, ist das Überleben der Menschlichkeit selbst dort, wo nur noch Tod und Teufel zu regieren scheinen. Eine Botschaft, die über die Bedingungen der historischen Konkretion in Auschwitz hinaus beansprucht, gültig zu sein.

Weinberg lässt die „Passagierin“ mit einem Appell für die Erinnerung enden. „Wenn das Echo eurer Stimmen verhallt, gehen wir zugrunde“, zitiert er einen Paul Eluard zugeschriebenen Satz. In ihrem sanften, lyrischen Schlussgesang nennt die überlebende Marta noch einmal die Namen ihrer Mitgefangenen im Lager.

Es geht nicht um ein abstraktes, formalisiertes Gedenken. Es geht um Menschen. Keiner der Ermordeten geht in der Opferrolle auf. Jeder hat Charakter, Geschichte, Beziehungen, Herkunft und Ziel. Der Namen hält das Leben fest. Nicht umsonst sind in der Gedenkstätte Yad Vashem in Israel die Namen der Holocaust-Opfer in Stein graviert, können auch im Internet recherchiert werden. Und daher noch einmal: Hannah, Yvette, Bronka, Tadeusz, Katja, Krystina, Vlasta …

„Die Passagierin“ wurde erst 2010 bei den Bregenzer Festspielen szenisch uraufgeführt und seither in Europa und Amerika mehrfach, in Deutschland in Karlsruhe und Frankfurt wieder inszeniert. Gelsenkirchen nimmt die Herausforderung an, dieses wichtige und schwierige Werk erneut zur Debatte zu stellen. Die Premiere – einen Tag nach dem Internationalen Gedenktag der Opfer des Nationalsozialismus  – ist begleitet von einem umfangreichen Rahmenprogramm, das am 1. Juli mit einem Gastspiel des Theaters Hof mit George Taboris „Mein Kampf“ endet.

Sorgfältige Menschenstudien: Tadeusz (Piotr Prochera) und L;isa (Hanna Dora Sturludottir). Foto: Forster

Sorgfältige Menschenstudien: Tadeusz (Piotr Prochera) und L;isa (Hanna Dora Sturludottir). Foto: Forster

Regisseurin Gabriele Rech legt Wert auf sorgfältige Menschenstudien, von der eilfertig prügelnden Aufseherin (Patricia Pallmer), die sich durch Anbiederung zu retten hofft, über die resignierten, aber nicht gebrochenen Frauen, die wie Yvette (Bele Kumberger) sogar noch zu träumen wagen, bis hin zu dem Musiker Tadeusz (Piotr Prochera), der bis zur Hingabe des eigenen Lebens entschlossen ist, sich und sein Gewissen nicht brechen zu lassen: Als der Lagerkommandant, ein „Musikkenner“, von ihm einen trivialen Walzer fordert, spielt er ein Beispiel universaler Musik, Johann Sebastian Bachs Chaconne.

Das Einheitsbühnenbild von Dirk Becker macht es der Regisseurin nicht leicht, die filmähnlichen Rückblenden zu inszenieren. Der Raum, durch dunkel vertäfelte Holzportale gegliedert, mit einem Podium im Hintergrund und einer Bar an der Seite, ist anfangs der moderne Salon eines Schiffes, auf dem der Diplomat Walter und seine Frau Lisa nach Brasilien reisen. Im eleganten Cocktailkleid der ausgehenden fünfziger Jahre – die historisch verorteten Kostüme sind von Renée Listerdal – versuchen die beiden, ihr Recht auf Vergessen zu behaupten, aber die „schwarze Todeswand“ von Auschwitz widerspricht: Der Chor singt aus dem Rang und vergegenwärtigt, was verdrängt werden soll.

Täterin und Opfer: Lisa (Hanna Dora Sturludottir) und Marta (Ilja Papandreou) in der Gelsenkirchener Inszenierung von Mieczyslaw Weinbergs "Die Passagierin". Foto: Forster

Täterin und Opfer: Lisa (Hanna Dora Sturludottir) und Marta (Ilja Papandreou) in der Gelsenkirchener Inszenierung von Mieczyslaw Weinbergs „Die Passagierin“. (Foto: Forster)

Als Lisa – die KZ-Aufseherin Anna-Lisa Franz war das Vorbild – in einer Passagierin die ehemalige Auschwitz-Gefangene Marta zu erkennen glaubt, schiebt sich die Vergangenheit in die elegante Wirtschaftswunder-Kulisse. Aus dem Salon wird der Schauplatz des Totentanzes, Uniformierte marschieren auf. Dass der Raum genauso gut als SS-Kasino durchgehen könnte, weist subtil darauf hin, dass es zwischen der Nazizeit und der jungen Bundesrepublik mehr Kontinuitäten gegeben hat als fassbar waren: Die Letzten, die als Täter in Frage kommen, stehen erst heute vor Gericht.

Rech lässt das blonde Lieschen zur „arischen“ Frau in Uniform mutieren, die nicht prügelt oder tötet, sondern mit ihren Opfern ein subtiles Spiel einfädelt: Sie gewährt scheinbar Momente der Menschlichkeit, etwa, wenn sie Marta und ihrem Geliebten Tadeusz ein heimliches Treffen ermöglicht. Aber ihr Ziel dabei ist die innere Demütigung der Gefangenen, wenn sie sich selbst verraten, um aus ihren Händen die Gunst zu empfangen. Dass sie damit an der charakterlichen Festigkeit von Marta und Tadeusz scheitert, irritiert sie zutiefst: In sinisterer Verwunderung beklagt Lisa den Hass, den ihr die Gefangenen entgegengebracht haben.

Hanna Dóra Sturludóttir zeigt, wie diese Frau den Halt verliert, der ihr das Verdrängen und ihre konstruierten Rechtfertigungen gegeben haben – und wie die Beziehung zu dem karrierebewussten Walter (Kor-Jan Dusseljee) zerbricht. Ihre letzten Klagen hört der Mann überhaupt nicht mehr; er blättert teilnahmslos am Tresen in der Zeitung. Das Ende der Oper – und des Selbstbetrugs Lisas – kommt mit dem dämonisch verzerrten Walzer und einem träumerischen Lied Martas. Ilia Papandreou singt es mit anrührender Einfachheit, nachdem sie drei intensive Stunden lang die schweigende, allein durch ihre Präsenz wirkende Passagierin und die auch angesichts des sadistischen Hohns der „Aufseherin Franz“ starke, mutige Frau im Lager verkörpert hat.

Auch wenn die Frankfurter Inszenierung Anselm Webers vor zwei Jahren nicht zuletzt wegen der überzeugenden Bühne von Katja Haß für das Verschmelzen von Realität und Erinnerung eine noch prägnantere Bild-Lösung gefunden hat: Gelsenkirchen kann sich neben den bisherigen Produktionen der „Pasażerka“ anstandslos behaupten und punktet mit einem alles in allem großartigen Ensemble, zu dem die zahlreichen, in mehreren Sprachen singenden Darsteller ebenso beitragen wie der von Alexander Eberle sattelfest einstudierte Chor und die Statisterie des Hauses.

Valtteri Rauhalammi festigt den Eindruck, ein präsenter, genauer, sensibler Orchesterleiter zu sein; die Neue Philharmonie Westfalen bestätigt den Aufwärtstrend der vergangenen Jahre erneut eindrucksvoll in den vielen genau ausgehörten kammermusikalischen Abschnitten der Musik Weinbergs, aber auch in den an Schostakowitsch erinnernden schrägen Zitaten von Unterhaltungsmusik, den unheimlich präzisen Schlägen und den harmonisch verdichteten Stellen, an denen der Klang des ganzen Orchesters gefordert ist.

Mit solchen ambitionierten Produktionen lässt Intendant Michael Schulz das Musiktheater im Revier in einer Liga spielen, in der es die im Mainstream erstarrende Deutsche Oper am Rhein Christoph Meyers deklassiert und das Aalto-Theater in Essen ernsthaft herausfordert. Und auch in Dortmund wird sich der Nachfolger Jens-Daniel Herzogs ab 2018 einiges einfallen lassen müssen, um gleichzuziehen.

Vorstellungen am 5., 18. Februar; 2., 17. März; 2., 23. April 2017.
Info: https://musiktheater-im-revier.de/#!/de/performance/2016-17/die-passagierin/

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Das Rahmenprogramm des Musiktheaters im Revier in Kooperation mit Partnern aus Stadt und Land Nordrhein-Westfalen läuft bis zum Ende der Spielzeit mit Konzerten, Ausstellungen, Lesungen, Vorträgen und Zeitzeugen-Begegnungen. Seit 29. Januar zeigt das Kunstmuseum Gelsenkirchen eine Ausstellung mit Arbeiten von Michel Kichka, die das Holocaust-Trauma seiner Familie verarbeiten. Am 7. Februar erzählen Zeitzeugen aus Gelsenkirchen in der Neuen Synagoge ihre Geschichten vom Überleben und der Rückkehr in die Heimatstadt.

Bei einem Liederabend mit Almuth Herbst am 12. Februar im Kleinen Haus der Musiktheaters erklingen unter anderem die in Theresienstadt entstandenen von Victor Ullmann. Am 12. März spielt das Danel-Quartett im Kleinen Haus Werke von Mieczysław Weinberg und Dmitri Schostakowitsch. Und am 26. März kommt der Geiger Linus Roth, der unter anderem Weinbergs Violinkonzert auf CD eingespielt hat, zu einem Gesprächskonzert ins Musiktheater und stellt Kompositionen Weinbergs für Violine und Klavier vor. Das Rahmenprogramm gibt es als Download unter https://musiktheater-im-revier.de/assets/files/068cb1d4-e1ba-395b-9357-0fa76433c69f.pdf

Weitere Informationen zu Mieczysław Weinberg gibt es auf der Webseite der Internationalen Mieczysław Weinberg Society: http://www.weinbergsociety.com/index.php?article_id=16&clang=0

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Über Werner Häußner

Redakteur, Musikkritiker, schreibt u.a. für WAZ (Essen), Die Tagespost (Würzburg), Der Neue Merker (Wien) und das Online-Magazin www.kunstmarkt.com.
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