Becketts Klassiker in Dortmund: Das „Warten auf Godot“ könnte ein schwerer Fehler sein

Weite Landschaft, ein mickriges Bäumchen, zwei abgerissene Landstreicher – von der Grundausstattung für Samuel Becketts Theaterstück „Warten auf Godot“ hat man doch recht feste Vorstellungen. In der Inszenierung Marcus Lobbes’, die am Samstag in Dortmund Premiere hatte, werden solche Erwartungen nicht erfüllt. Und bang fragt der Betrachter sich, ob die Vorlage das wohl verkraften wird.

Wladimir (Andreas Beck, links) und Estragon (Uwe Rohbeck) in der Dortmunder Inszenierung von „Warten auf Godot“. (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Bedeutende Menschen im Mittelpunkt

Wladimir und Estragon, denen in Dortmund der füllige Andreas Beck und der zierliche Uwe Rohbeck aufs das unterhaltsamste Gestalt verleihen, treten auf in roten Phantasiekostümen und mit federbesetzten Mützen, denen neben der clownesken Anmutung auch eine gewisse Feierlichkeit eigen ist. Spielort ist eine Art Arena, auf der Rückwand gleitet ein projizierter Sternenhimmel vorbei (Bühne und Kostüme: Pia Maria Mackert).

Man sieht, hier stehen bedeutende Menschen im Mittelpunkt, handelnde Subjekte. Einstweilen allerdings handeln sie bekanntlich nicht, abgesehen davon, daß sie auf der Suche nach Eßbarem ihren Bühnenplatz bald schon mit Verpackungsmaterial aus Kühlkisten zumüllen. Sie reden, phantasieren, erklären einander die Welt, doch all die schönen Momente, in denen der Geist, von Träumen und Hoffnungen beflügelt, etwas abhebt, sind im nächsten schon verpufft, denn (wie sattsam bekannt): „Wir warten auf Godot“.

Von links: Lucky (Christian Freund), Wladimir (Andreas Beck), Estragon (Uwe Rohbeck) und Pozzo (Martin Weigel). (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Nach der Vorlage

In ihrem Fatalismus werden bis zum Ende warten, und Godot wird nicht kommen, die Inszenierung bleibt getreulich bei der Vorlage. Trotzdem lassen Wladimir und Estragon den Eindruck entstehen, daß es auch anders sein könnte, daß es ein Ende haben könnte mit der Warterei. Die Begegnung mit Pozzo und Lucky (Martin Weigel und Christian Freund) tut dazu das ihre, zeigen die beiden doch, daß es ein Nicht-Warten auf der Erde gibt. Doch sind sie so bizarr und auch ein bißchen furchteinflößend, daß man lieber wartet.

Absurdes Seil

In der zweiten Hälfte des Spiels (nach der Pause) werden sie wiederkommen, Pozzo wird erblindet sein, doch das Seil, an dem ihn Lucky dann führt, wird sozusagen schon in der ersten Hälfte des Abends verwendet. Es verbindet Herrn und Knecht über einen unsichtbaren Mechanismus in der Weise, daß sie einander nicht wirklich nahekommen können, sich (im bergsteigerischen Sinn) sichern, aber nicht berühren können; eine hübsche ausstatterische Extra-Absurdität, die zudem starke Bilder ermöglicht, wenn die Figuren, jeweils von der anderen gehalten, in extremer Schräglage agieren.

Die Bühne vermüllt, der Planet in Flammen; Szene mit Beck und Rohbeck. (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Ein Ritual das nicht glücklich macht

Einen Baum gibt es übrigens nicht; statt dessen aber eine verborgene Hebebühne, die die Hauptfiguren zu Beginn der beiden Akte langsam und mit Unterbrechungen in die Szene hebt. Lange sieht man nur Köpfe, dann Oberkörper; und wie sie so statisch beieinander sind erinnern sie auch an Nagg und Nell in ihren Mülltonnen, in Becketts anderem absurden Erfolgsstück „Endspiel“. An beiden Tagen werden sie so emporgehoben, an den vielen anderen vorher und nachher, die es auch geben mag, wohl ebenso: ein Ritual, das nicht glücklich macht, leidenschaftlich wird Selbstmord durch Erhängen diskutiert. Nein, sie sollten nicht länger auf Godot warten, das Murmeltier grüßt täglich. Es wäre sogar falsch, ja lebensgefährlich. Sagt diese Inszenierung.

Der Planet explodiert

Denn zum Ende hin verwandelt sich der projizierte Bühnenhintergrund – lange Zeit ein beruhigender Sternenhimmel – in einen zunächst glühenden, dann explodierenden Planeten. Will ja möglicherweise sagen: Wartet nicht, ihr Wladimirs und Estragons im Publikum und in anderen Teilen der Welt, bis es zu spät ist. Es rettet euch kein höh’res Wesen, auch kein Godot. Der kommt ja sowieso nicht.

Dortmunder Sprechchor, Andreas Beck, Uwe Rohbeck. (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Machtvoller Chor

Naja, jedenfalls kann man das mit gutem Willen so lesen. Und sich überdies bestätigt fühlen durch den Dortmunder Theaterchor, der mit beeindruckender Kopfzahl und in Endlosschleife das Lied „Ein Hund kam in die Küche und stahl dem Koch ein Ei…“ zum Besten gibt – erste im Foyer, dann im Zuschauerraum, schließlich auf der Bühne.

Vier Personen wirken überdies als Hund, Koch, Ei und Huhn kostümiert mit, was für das Stückverständnis nicht zwingend erforderlich wäre. Hingegen steigert die Klangarbeit des Herrn von Finckenstein die Intensität dieser Bühneneinrichtung erheblich, und auch Tobias Hoeft und Laura Urbach haben mit ihrer konzentrierten, unaufdringlichen Video-Arbeit Anteil daran.

Marcus Lobbes’ Inszenierung von „Warten auf Godot“ ertastet auf kluge Art Dimensionen dieses modernen Klassikers, die – vielleicht – der angemessenen Würdigung noch harren. Eine intelligente, sehr unterhaltsame Theaterarbeit, die das dankbare Publikum mit reichem Applaus bedachte.

  • Termine: 21., 29.2., 13., 19.3., 26.4., 17., 27.5.
  • Karten: Tel. 0231/50 27 222 und www.tdo.li/godot.
  • www.theaterdo.de



Nächster Schwund im Dortmunder Buchhandel: Mayersche soll offenbar auf ein Drittel der bisherigen Größe schrumpfen

Schon Vergangenheit: Die Mayersche BUchhandlung (rechts), noch in einem Bau mit dem Modehändler Esprit – und links gegenüber das Schuhhaus Roland, wo die Mayersche bald einziehen will. (Foto/Aufnahme aus dem NOvember 2016): Bernd Berke)

Dortmunds Westenhellweg: Die Mayersche Buchhandlung (rechts), damals noch in einem Gebäudekomplex mit dem Modehändler Esprit – und links gegenüber das Schuhhaus Roland, wo die Mayersche wohl gegen Ende 2020 einziehen wird. (Foto, November 2016: Bernd Berke)

Nein, ich mag mir das gar nicht vorstellen: Es käme Besuch von außerhalb, noch dazu (was wahrscheinlich wäre) aus einem lesefreudigen Milieu – und dieser Besuch erkundigte sich angelegentlich nach den besten Buchhandlungen in der Dortmunder Innenstadt. Es wäre peinlich…

Früher einmal wäre das kein großes Problem gewesen. Da gab es noch die vermeintlich machtvolle, am Ort unangefochtene Buchhandlung Krüger, in der es zu bestimmten Zeiten richtig „brummte“ und wo man auch ordentlich beraten wurde. Auch gab es zuvor noch die achtbare Buchhandlung Borgmann, zudem konnte man Niehörster, Schwalvenberg und ein paar andere aufsuchen. Jaja, ich weiß, früher hatten wir auch viel mehr Kinos in der Stadt. Umso schlimmer. Und traurig ist es allemal, wenn wieder etwas schwindet.

Nun sind da – im Innenstadtbereich – nur noch die Mayersche Buchhandlung und Thalia, die Filialen zweier Ketten, welche mittlerweile auch noch miteinander fusioniert haben. Beide häufen turmhoch die üblichen Bestseller und jede Menge Angebotsware auf, außerdem etlichen Spielkram und Merchandising-Plunder, der mit Büchern und Lesekultur allenfalls noch entfernt zu tun hat – wenn überhaupt. Thalia hat sich vor einiger Zeit in der überdimensionierten Mall „Thier-Galerie“ eingerichtet. Wahrlich kein anheimelnder Platz für passionierte Leser(innen).

Wenige Oasen für Lesende in Vororten

Bald erfolgt wohl der nächste Schritt abwärts. Wie die Ruhrnachrichten (RN) heute im Dortmunder Lokalteil vermelden, wird gegen Ende des Jahres das Schuhhaus Roland schließen. Die bisher direkt gegenüber befindliche Mayersche soll dann offenbar ins ehemalige Schuhgeschäft einziehen und damit eine Immobilie verlassen, aus der zuvor schon der Modehändler Esprit ausgezogen ist. Somit täte sich an dieser Stelle ein größerer Leerstand auf.

Eine höchst betrübliche Nachricht verstecken die RN allerdings schamhaft weit hinten im Artikel, sie steht auch nicht in der Überschrift: Die Mayersche Buchhandlung würde damit von 4500 Quadratmetern auf rund 1500 Quadratmeter schrumpfen – auf ein Drittel der bisherigen Größe also! Es wäre ungeheuerlich. Eine Stadt mit rund 600.000 Einwohnern hätte sicherlich Besseres verdient. Das Schuhhaus gibt übrigens auf, weil die Konkurrenz im Internet übermächtig geworden sei. Ähnliche Gründe ließen sich wahrscheinlich auch für den Buchhandel anführen. Und es ist nicht zu erwarten, dass etwa Amazon in die erwähnte Leerstands-Immobilie Einzug hält…

Im einen oder anderen Vorort halten noch ein paar wenige Buchläden tapfer gegen den misslichen Trend, doch das sind liebenswerte Nischen, mehr wohl nicht. Mögen wenigstens sie eine Heimstatt für Lesende bleiben.




Donnerwetter, gleich drei Treffer! Wie es für Erling Haaland beim BVB anfing

Ihr werdet schon sehen, wie ich diesmal die Kurve von Kultur zu Fußball kriege, nämlich so:

Gestern hatte ich mit einem Museumsleiter aus einer Nachbarstadt von Dortmund zu tun. Er meinte, der Lokalstolz in seiner Gemeinde halte sich sehr in Grenzen, die Leute fühlten sich eher den Stadtteilen und Vororten zugehörig. Wollten sie ins Zentrum fahren, sagten sie „Ich fahre in die Stadt.“ Ich entgegnete, dass das in Dortmund aber ähnlich sei. – Darauf er: „Das stimmt, aber in Dortmund gibt es etwas, das hält alles und alle zusammen: der BVB.“

Erling Haaland, hier noch im Trikot von RB Salzburg – am 4. Juli 2019. (Foto: Werner100359 bei Wikimedia Commons / Link zur Lizenz:https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/

Dortmunds Neuzugang Erling Haaland, hier noch im Trikot von RB Salzburg – am 4. Juli 2019. (Foto: Werner100359 bei Wikimedia Commons) / Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/

Recht hat der enorm kunstsinnige Mann, dem auch Fußballverstand gegeben ist. Vom Proll bis zum Prof. können sich hier praktisch alle oder wenigstens in überwältigender Mehrheit auf Borussia einigen. Mehr noch: Ungemein viele Menschen tragen an beliebigen Wochentagen BVB-Klamotten oder zumindest Jacken und Pullover mit dem Vereinslogo. Okay, manchmal kann einem das auch ziemlich auf die Nerven gehen. Man würde sich etwas mehr Stilempfinden wünschen.

Egal. Lassen wird das jetzt. Heute gibt es etwas zu berichten, was an Wahnwitz grenzt. Da kickten die Dortmunder – zum Rückrundenauftakt der Bundesliga – auswärts in Augsburg (sozusagen bei „Urmelchen“) und versiebten in der ersten Halbzeit reihenweise Großchancen, so dass man schon das Schlimmste zu ahnen bereit war.

Und tatsächlich: Nachdem vor allem Marco Reus sich durchs Verstolpern bester Chancen quasi als bester Abwehrspieler des Gegners erwiesen hatte, machten die Leute aus der Puppenkiste ein Tor nach dem anderen. Erst führten sie 1:0, dann 2:0, dann zwischenzeitlich 3:1. Das war’s dann wohl?

Nichts da! BVB-Trainer Lucien Favre war bestens beraten, als er in der 56. Minute den Neuzugang Erling Haaland einwechselte, diesen offenkundig hochtalentierten Norweger, der erst Anfang Januar von RB Salzburg gekommen war. Der 19jährige mit dem Bubigesicht, den man von daher durchaus für 17 halten könnte, erfüllt offenbar in idealer Weise den steinalten Sportreporter-Spruch, der da lautet: „Er weiß, wo das Tor steht.“

In der kurzen Zeit seines Einsatzes, gerade mal rund 35 Minuten, erzielte Haaland gleich drei Treffer und stellte mit diesem Hattrick gleich einen Langzeitrekord auf: Er ist nun der jüngste Spieler der gesamten Ligageschichte, der in seinem Debütspiel dreifach getroffen hat. Am Ende stand es folglich doch noch 5:3 für den BVB.

Welches etwas gottes- und kirchenlästerliche Wortspiel hat doch mein Lieblings-Fußball-Fanzine-Blog www.schwatzgelb.de kürzlich in die Überschrift gesetzt: „O Haaland, reiß die Himmel auf!“

Man muss das gesehen haben, wie der 1,94 m große Kerl sich vollkommen furchtlos ganz vorne reinstellt und sogleich vehement den Ball fordert, wie er schlicht und einfach Bock aufs notorisch wiederholte „Einnetzen“ hat. Seine Tore markiert er mit einer verblüffenden Selbstverständlichkeit. Schon jetzt dürfte er sich bei den Verteidigern, die es mit ihm zu tun bekommen werden, einigen Respekt verschafft haben. Und von der Gewichtsklasse her ist er in der Lage, sich im Getümmel ganz anders durchzusetzen als der schmächtige Paco Alcacer, den es offenbar schon wieder zurück nach Spanien zieht.

Greifen wir mal vor und greifen wir hoch: Nun darf man sich sogar schon auf die Duelle mit Paris St. Germain in der Champions League (18. Februar und 11. März) freuen. Mal schauen, was Haaland mit seinen Neben- und Hinterleuten da bewirken kann. Wahrscheinlich kommt der von Thomas Tuchel trainierte, großmächtige Widersacher mit Weltstars wie Mbappé und Neymar noch ein bis drei Jahre zu früh, doch daran kann man wachsen.

Jaja, ich weiß. Abwarten, ob Erling Braut Haaland (für deutsche Ohren ein witziger zweiter Vorname, oder?) das so oder ähnlich durchhält. Und überhaupt. Richtig. Völlig richtig. Aber heute wird man sich verdammt nochmal freuen dürfen, nech?




Bye-bye, Sabine – ein Nachruf auf die Dortmunder Krimiautorin Sabine Deitmer

Die Krimiautorin Sabine Deitmer, die jetzt mit 72 Jahren gestorben ist. (Foto: Klauspeter Sachau / Literaturhaus Dortmund)

Die Dortmunder Krimiautorin Sabine Deitmer, die jetzt mit 72 Jahren gestorben ist. (Foto: Klauspeter Sachau / Literaturhaus Dortmund)

Die eloquente, couragierte und warmherzige Schriftstellerin Sabine Deitmer gab der deutschsprachigen Kriminalliteratur wichtige Impulse. Nicht nur, weil sie den Spielraum des Komischen in diesem Genre erweiterte, sondern auch, weil sie das Verhältnis zwischen Opfern und Tätern neu auslotete, ebenso wie die Diskrepanz zwischen männlichem Blick und weiblicher Sicht auf kriminelle patriarchalische Strukturen.

Sabine Deitmer, die am 11. Januar mit 72 Jahren gestorben ist, lud ich das erste Mal Ende der 80er-Jahre ins soziokulturelle Zentrum Ruhrwerkstatt nach Oberhausen ein. Damals war sie mit ihren überaus erfolgreichen Kurzgeschichten auf Lesereise. „Bye-bye, Bruno – Wie Frauen morden“, Stories, in denen angesichts körperlicher wie struktureller Gewalt jeweils ein männliches Auslaufmodell von aufbegehrenden Frauen einfallsreich und quasi in Notwehr entsorgt wurde.

Problembären wie Bruno

In einem Interview kommentierte Deitmer ihre damalige Schreibe so – und das mag nach Zeitgeist klingen, reicht aber leider bis zur aktuellen „#Me Too“-Bewegung: „Männer vom Typ Bruno, die normalerweise von ihren Frauen viel Wertschätzung kriegen und gehätschelt werden, solche Männer zu karikieren und in ihrer Begrenztheit zu beschreiben, bereitet mir Vergnügen. Und gleichzeitig diese normalen Frauen, die doch so oft unterschätzt werden, etwas liebenswert aufzubauen, unter dem Motto: Die Frauen sind nicht so blöd, wie die Männer häufig meinen.“

Als ich 1996 Sabine Deitmer dann zu einer Lesung des Literaturbüros Ruhr einlud, hatte ich zuvor knapp sechzig Krimi-Autorinnen und -Autoren in NRW recherchiert, die mit ernst zu nehmenden Werken, Debüts, Hörspielen oder Kriminalgeschichten in Erscheinung getreten waren, darunter fünfzehn Frauen. Immer noch zu wenig. In den USA – so Deitmer damals – waren schon gut fünfzig Prozent der Krimiautoren Frauen.

Also gestaltete Sabine Deitmer ihn hierzulande beherzt mit, den Boom sogenannter Frauenkrimis, auch den der Regionalkrimis, der „local crime stories“. Deren beste Autorinnen und Autoren wussten um die wichtige Verbindung von sozialer/regionaler/lokaler Verwurzelung und Weltoffenheit. Gute Krimis mit der Region (und deren sozialen Milieus) als Spielraum und Kulisse entlarven zwar bornierte Provinzialität, gehen aber nie selbst darin auf. Denn ob nun Vorort oder Weltbühne: Immer findet sich das Kleinkarierte, Provinzielle im Weltläufigen, immer findet sich auch das Großartige im scheinbar Kleinen.

Belesene Autorin, schreibende Leserin

Sabine Deitmer war schon früh eine versierte und weltoffene Leserin, auch eine Leserin vermeintlich schlichterer Formate und Bewunderin kleiner Helden, war Enid Blyton-Fan, Kalle Blomquist-Hörerin, später Jerry-Cotton-Leserin.

1947 in Jena geboren, wuchs sie in Düsseldorf auf. Studierte Anglistik und Romanistik. Ihre Magister-Arbeit schrieb sie über die „Rezeption von Kriminalromanen am Beispiel Agatha Christie“. Als Literatin versuchte sich Deitmer zunächst in der Dortmunder Gruppe „Frauen schreiben“. Aus dieser Zeit gibt es Texte von ihr in den Anthologien „Mitten ins Gesicht – weiblicher Umgang mit Wut und Hass“ (1984) und „Venus wildert – wenn Frauen lieben“ (1985).

1988 erschien „Bye-bye, Bruno“ und wurde ein Bestseller. Der Erfolg war so groß, dass sich männliche Autoren zügig dranhängten und parodistische Gegengeschichten herausbrachten: „Good bye, Brunhilde. Rache für Bruno!“ Bei aller Spottlust schien da männliches Autorenego durchaus angekratzt. Ganz listig vielleicht, aber eben überhaupt nicht lustig, diese Konter-Attacken auf „Brunhilde“, sind doch Frauen in der Realität sowieso überall und jederzeit Opfer männlicher Mordgier.

„Ich habe gelernt, wie eng der kreative Raum ist, der Frauen zugestanden wird. Wenn wir ihn erweitern wollen, müssen wir uns auf einiges gefasst machen“, diese Sätze Deitmers klingen beinahe auch wie ein Kommentar zur Causa Bruno/Brunhilde.

Weg von Killerinnen, hin zur starken Kommissarin

„Ich merke, dass mich Männerleichen allmählich langweilen …“, auch das ein gescheit- lakonischer Deitmer-Satz. Sie wollte weg von der resilienten Frau als kesser Killerin und wandte sich schließlich einer starken Frauenfigur zu, die als Ermittlerin ihre ganz eigenen Wege ging. Zwischen 1993 und 2007 trieb Sabine Deitmer auch ihre eigene Entwicklung als Romanautorin konsequent voran. „Kalte Küsse“ hieß der erste Krimi mit Kommissarin Beate Stein, es folgten „Dominante Damen“, „Neonnächte“, „Scharfe Stiche“ und „Perfekte Pläne“.

Beate Stein (welch sprechender Name) versucht, zumindest nach außen hin der harte Typ zu sein, hard boiled, tough woman. Deitmer charakterisierte ihre Protagonistin so: „Das ist eine ganz normale Frau, mit starken und schwachen Seiten. Sie ist klug genug, ihre schwachen Seiten nur denen zu zeigen, die damit umgehen können, ihrer blinden Freundin zum Beispiel. In ihrem Job ist sie kompetent und cool, schlagfertig und mit sarkastischem Humor. Ich wollte mit ihr eine Figur schaffen, die sich von der Institution nicht einmachen lässt, darin effizient und erfolgreich reagiert.“

„Neonnächte“ und „Kalte Küsse“ wurden von RTL verfilmt, zwei Romane wurden für den Rundfunk bearbeitet. Für „Dominante Damen“ gab es einen 2. Platz beim Deutschen Krimipreis, für „Scharfe Stiche“ den „Frauenkrimipreis der Stadt Wiesbaden“, für ihr Gesamtwerk erhielt Sabine Deitmer 2008 den renommierten Glauser-Ehrenpreis.

Abschied von einer Meisterin des beharrlichen Aufbruchs

Ich habe an Sabine immer das bewundert, was im Zen-Buddhismus als „Anfängergeist“ bezeichnet wird. Sie selbst hat das einmal für ihre Arbeit so formuliert:
„Das Schwierigste beim Schreiben ist für mich der Anfang. Ich muss mich selbst davon überzeugen, dass sich die Geschichte zu erzählen lohnt.“ „Recherchen mache ich ausgesprochen gern. (…) Da habe ich das Gefühl, dass ich mir über das Schreiben ein Stück mehr Welt erobern kann. Das finde ich … toll.“

Sabine Deitmer wird mir im Gedächtnis bleiben. Sie war eine von denen, die nicht darüber lamentierten, sondern die sie einfach zu schreiben begann: Literatur aus dem Ruhrgebiet, die Vergleiche nicht zu scheuen braucht.




Er war eine Stimme der Sprachlosen – zum Tod des Dortmunder Schriftstellers Josef Reding

Unser Gastautor, der in Kamen lebende Erzähler, Lyriker und Maler Gerd Puls, würdigt den Dortmunder Schriftsteller Josef Reding, der am vergangenen Freitag mit 90 Jahren gestorben ist. Bei diesem Beitrag handelt sich um Auszüge des Nachworts zu einem Reding-Lesebuch, das Gerd Puls herausgegeben hat. Wir veröffentlichen den (stark gekürzten) Text, der hier erstmals zu Redings 90. Geburtstag erschienen ist, mit freundlicher Genehmigung des Urhebers:

Das von Gerd Puls herausgegebene Reding-Lesebuch, aus dessen Nachwort Auszüge für diesen Beitrag stammen.

Das von Gerd Puls herausgegebene Reding-Lesebuch (2016 erschienen im Aisthesis-Verlag), aus dessen Nachwort die Auszüge für diesen Beitrag stammen.

Josef Redings Erzählband „Nennt mich nicht Nigger“ war 1957 ein bemerkenswertes, erstaunliches Buch. Auch, weil es den Blick der deutschen Leser über den eigenen Tellerrand hinaus lenkte, in diesem Fall auf die Nöte und Bedrängungen der schwarzen Bevölkerung in den USA.

Sechzig Jahre später halte ich es immer noch für bemerkenswert, weil es nach wie vor ein realistisches Werk von hohem literarisch-sozialen Wert ist, moralisch und allgemein gültig; nicht nur für die 1950er Jahre, nicht nur in der Beschreibung US-amerikanischer Zustände. Ein Buch, das Partei ergreift für Erniedrigte und Ausgegrenzte, für Schwache und Bedürftige, für Opfer und Verlierer überall auf der Welt.

Josef Redings erster Kurzgeschichtenband liefert „24 realistische Erzählungen aus USA und Mexiko, die in moderner mitreißender Sprache das Problem des leidenden, verachteten Menschen behandeln“ – so der Klappentext des im Recklinghausener Paulus-Verlag erschienenen Buches. Es waren 24 short stories in der Tradition von Herman Melville, Marc Twain, Jack London, John Steinbeck, Ernest Hemingway oder Truman Capote.

Der in Castrop-Rauxel geborene (dann in Dortmund lebende) Stipendiat Josef Reding schrieb die Kurzgeschichten in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre während seines Studiums an einer Universität im mittleren Westen der USA. Nach eigenem Bekunden hatte er es schwer, seinen Verleger zu überzeugen, das Buch, das ein großer Erfolg und Redings literarischer Durchbruch wurde, überhaupt auf den Markt zu bringen.

Als die short story in Deutschland Einzug hielt

Die ursprünglich typisch amerikanische Textsorte short story hatte in den frühen 1950er Jahren in Deutschland Einzug gehalten, und unter den deutschen Autoren war der junge Josef Reding längst nicht der einzige. Kurzgeschichten und Erzählungen von Wolfgang Borchert, Heinrich Böll, Siegfried Lenz oder Wolfdietrich Schnurre fanden in den Nachkriegsjahren rasch ein großes Publikum. Doch die jungen deutschen Autoren kamen in den Schulen nur selten vor.

Als amerikanische Besatzungssoldaten Kurzgeschichten in ihrem Gepäck nach Deutschland brachten, fand vor allem die junge Generation nach ihrer von den Nazis verratenen und missbrauchten Kindheit rasch Zugang zu dieser neuen Form. So auch der aus einer Arbeiterfamilie stammende Josef Reding, der 1945 als 16jähriger Schüler im Ruhrgebiet noch im Kriegseinsatz war und als „Wehrwolf“ in amerikanische Gefangenschaft geriet.

Sprachliche Knappheit – typisch fürs Ruhrgebiet

Über seine Haltung zur Kurzgeschichte schrieb Reding: „Mich begeisterte die Ökonomie der Kurzgeschichte, die Einfachheit, die Klarheit der Sprache. Mich faszinierte der Anspruch, dem Leser nur zwei Daten zu überlassen in der Zuversicht, dass er genug Kreativität besitzt, um selbst zum Datum drei bis neun zu kommen. Heute bin ich sicher, dass mein spontaner Aufgriff der Kurzgeschichte auch mit der Ausdrucksweise der Menschen zu tun hat, unter denen ich aufgewachsen bin: den Menschen des Ruhrgebiets. In dieser Landschaft herrscht im sprachlichen Umgang das Knappe vor, eine anziehende Sprödigkeit des Ausdrucks. Der Gesprächspartner, der Kumpel, bekommt nur weniges mitgeteilt und muß sich auf manche karge Anspielung seinen ,eigenen Reim‘ machen, muß also mitdenken, mitdichten.“

Seine Themen waren vorgegeben durch den NS-Faschismus. Seine Erfahrungen als „Kind in Uniform“ und als „Wehrwolf“ veröffentlichte er bereits in den 1940er Jahren in Schülerzeitungen.

Den Blick für die Welt ringsum öffnen

Die Titelgeschichte und die meisten anderen Texte des Bandes „Nennt mich nicht Nigger“ schrieb er als Student in den USA, wo er mit Farbigen zusammenlebte und auch engen Kontakt zur Bürgerrechtsbewegung um Martin Luther King hatte. Über den Titel bemerkte er 1978: „Aber es wäre ein Mißverständnis, wollte man ihn nur auf die Situation der rassischen Minderheiten in den USA beziehen. Der Titel steht auch für andere Mitmenschen, die um ihrer Rasse, um ihres politischen Bekenntnisses, ihrer Herkunft, ihrer Religion willen verfolgt werden.“

Josef Reding blieb dem Genre der Kurzgeschichte verbunden, man darf ihn darin getrost einen wahren Meister nennen. Er wusste seine Haltung auch in späteren Texten, die nicht mehr in den USA, sondern in Lateinamerika, Asien, Afrika und natürlich in Deutschland und vor allem im Ruhrgebiet spielen, immer eindringlich und ehrlich zu vermitteln.

Gleichzeitig weisen die Geschichten aus der Beschränkung der bundesrepublikanischen Wirklichkeit der frühen Nachkriegsjahre hinaus, öffnen den Blick deutscher Leser wieder neu auf die Welt ringsum und werden zu literarischen Zeugnissen für die einfache Einsicht, dass Missachtung und Unterdrückung viele Farben und Facetten hat und dass zu allen Zeiten an allen Orten „der Sprachlose des Sprechers bedarf“, wie Josef Reding es formuliert hat.

Auch ein Chronist von Flüchtlings-Schicksalen

Nach dem Aufenthalt in den USA arbeitet er 1955/56 ein Jahr freiwillig im Grenzdurchgangslager Friedland, wo er zum Chronisten der Schicksale der Flüchtlinge und Spätheimkehrer wird, danach drei Jahre in Lepragebieten Asiens, Afrikas und Lateinamerikas. Später wird er Mitglied der Synode der Bistümer der Bundesrepublik.

Für sein literarisches Gesamtwerk erhielt Josef Reding zahlreiche Preise, u.a. den Rom-Preis Villa Massimo, den Annette von Droste-Hülshoff-Preis, den Preis der europäischen Autorengemeinschaft KOGGE, den Preis für die beste Kurzgeschichte und den Literaturpreis Ruhrgebiet. Dass eine Hauptschule in Holzwickede im östlichen Ruhrgebiet bereits zu Lebzeiten seinen Namen trug, sah er als Auszeichnung, gleichzeitig als Verpflichtung.

Werner Schulze-Reimpell würdigte Redings Verdienste um die Kurzgeschichte in der „Deutschen Allgemeinen Sonntagszeitung“: „Ein in unserer Gegenwartsliteratur schier vergleichsloser Meister dieser Form ist der Westfale Josef Reding. Redings Short-Stories werden gänzlich unprätentiös erzählt, ohne formale Verfremdung und aufdringliche Literarisierung, dafür mit einem hohen Maß von Authentizität, wie unmittelbar vor Ort recherchiert. Vor allem stimmen seine Menschen, ihre Sprache, ihre Art, sich zu geben und zu reagieren…“

Christliche Ethik als moralisches Fundament

Dabei dürfen spätere Erzählbände nicht unberücksichtigt bleiben. „Wer betet für Judas?“,, „Allein in Babylon“, „Papierschiffe gegen den Strom“, „Reservate des Hungers“ und „Ein Scharfmacher kommt“ lauten die Titel weiterer Bände im Bitter Verlag, in denen er für sein großes Thema immer wieder neue Schauplätze, Konstellationen und Varianten findet. So spielen viele der 25 Erzählungen der 1967 erschienenen Sammlung „Ein Scharfmacher kommt“ im Ruhrgebiet. Eindringlich, prägnant und unverwechselbar spiegelt Reding in ihnen Menschen und gesellschaftliche und politische Verhältnisse in der im Umbruch befindlichen Industrieregion.

Christliche Ethik als moralisches Fundament, dazu das Ruhrgebiet als geografische Heimat, das sind die wesentlichen Wurzeln, Fixpunkte und Richtschnüre, mit denen Redings Schreiben verknüpft ist. Die Menschen des Ruhrgebiets – genau wie die Flüchtlinge und Heimkehrer in Friedland und die Bewohner der Schwarzenviertel New Yorks, der Slums und Favelas Nairobis oder Sao Paulos – liefern die Bilder und Mosaiksteine zu Redings literarischem Werk.




Beide Weltkriegs-Bomben entschärft – Weite Teile der Dortmunder Innenstadt waren evakuiert

Seit Tagen und Wochen herrschte quasi Daueralarm, zumindest in stetig anwachsenden Vorstufen: Dortmund hatte sich gründlich auf die „Mega-Evakuierung“ (so das handelsübliche Steigerungs-Wort) an diesem Sonntag, 12. Januar, vorbereitet – im Großen und Ganzen und bis in alle vorhersehbaren Einzelheiten. Früher hätte man dafür das Wort „generalstabsmäßig“ verwendet, heute meidet man derlei martialische Ausdrücke lieber. Doch tatsächlich geht es ja immer noch um Kriegsfolgen.

Betroffenes Gebiet: Blick von der Kinderklinik zur Zentrale des Klinikums. (Foto von April 2015: Bernd Berke)

Betroffenes Gebiet, zu einer anderen Zeit: Blick von der Kinderklinik zur Zentrale des Klinikums. (Aufnahme von April 2015). (Foto: Bernd Berke)

Über 13.000 Menschen waren direkt betroffen

Vier etwaige Blindgänger-Bomben aus dem Zweiten Weltkrieg waren in der Innenstadt geortet worden, bei jedem einzelnen der (bis Sonntagmittag noch unbekannten) Objekte hätte es sich theoretisch um eine 500-Kilo-Bombe handeln können, also wurde sicherheitshalber jeweils ein Evakuierungs-Radius von 500 Metern gezogen. Zwischenzeitlich wurden am Sonntag zwei gefährliche Funde bestätigt: Die erste Bombe wurde heute gegen 15.30 Uhr an der Luisenstraße entschärft, um ca. 17 Uhr haben Spezialisten auch den zweiten Blindgänger (in der Beurhausstraße) unschädlich gemacht.

Zuvor mussten weite Teile der Innenstadt (bis spätestens Sonntag, 8 Uhr morgens) vorübergehend freigezogen werden. Direkt betraf diese Maßnahme über 13.000 Menschen. Dabei musste ungeheuer vieles bedacht werden, so u. a. auch die Frage nach der Mitnahme von Haustieren, um nur einen Nebenaspekt zu nennen. Doch so umfassend die organisatorische Leistung gewesen sein mag – mit den Leuten vom Kampfmittelräumdienst, die schlussendlich ganz nah ran mussten, hätte im Zweifelsfalle niemand tauschen wollen.

Drei große Kliniken im Einzugsbereich

Besondere Herausforderung im Vorfeld: Auch die Zentrale des Städtischen Klinikums, das Johannes-Hospital und die Kinderklink sowie zwei Altenheime zählten zum Einzugs- bzw. Auszugsgebiet. Bis auf wenige Intensiv-Fälle, bei denen das Transportrisiko gar zu groß gewesen wäre, sind die Patienten in andere Krankenhäuser verlegt worden, bis ins Umland hinein. Die komplizierte Aktion hat offenbar noch besser funktioniert als vorher geplant.

Auch der Dortmunder Hauptbahnhof durfte zeitweise nicht mehr betreten werden, Züge wurden umgeleitet; wie denn überhaupt Ausnahmezustand im gesamten öffentlichen Nah- und Fernverkehr rund um die Stadt herrschte. Auch andere Bereiche waren betroffen: Das Theater und andere Kulturstätten (u. a. Dortmunder U, Deutsches Fußballmuseum) blieben am Sonntag geschlossen, etliche Gastronomie-Betriebe ebenfalls. Mit anderen Worten: Das öffentliche Leben lag weitgehend brach.

Unterkunft im Ortsteil Scharnhorst

Die Bewohner des Klinikviertels und angrenzender Bereiche der Innenstadt wurden, sofern sie nicht bei Freunden oder Verwandten untergekommen sind, in einer Gesamtschule im Dortmunder Stadtteil Scharnhorst untergebracht. Alternativ konnten städtische Angebote wie der ausnahmsweise kostenlose Eintritt in den Zoo, in den Westfalenpark oder ins Südbad wahrgenommen werden. Erstmals wollte die Polizei übrigens Drohnen einsetzen, um zusätzlich die möglichst komplette Evakuierung zu überwachen. Es gibt ja immer mal wieder einzelne Leute, die sich weigern wollen, ihre Behausung zu verlassen. Und sind sie nicht willig, so…

Straße im Klinikviertel (August 2009). (Foto: Bernd Berke)

Straße im Klinikviertel (August 2009). (Foto: Bernd Berke)

Gespenstisch leere Straßen im Viertel

Zahlreiche Journalist(inn)en hatten sich für das Ereignis akkreditiert – offenbar weitaus mehr, als man zuvor erwartet hat. Dortmund hat es auch mal wieder mit ein paar Schnipseln in die ARD-Tagesschau um 20 Uhr geschafft. Aber ist das denn ein erstrebenswertes Ziel?

Die Ruhrnachrichten und der WDR hatten permanente Live-Ticker eingerichtet, mit denen man lückenlos auf dem Laufenden bleiben sollte. Auch viele andere Medien berichteten ausführlich, die in aller Regel weniger zimperlichen RTL, SAT.1 und „Bild“ ließen sich gleichfalls nicht lumpen. Erste Online-Fotos aus der Nacht zum Samstag zeigten bereits gespenstisch leere, weil auch komplett autofreie Straßen im Klinikviertel. Vielleicht ist es insofern eine Art Zukunftsschau ohne Absicht?

Wenn wir schon beim Thema Medien sind: Eventuell setzt sich ja eines Tages die Erkenntnis durch, dass eigentlich nicht Menschen „evakuiert“ (also: entleert) werden, sondern Gebäude, Gelände oder Zonen. Okay, das ist das geringste aller Probleme. Obwohl Präzision auch im Sprachlichen nicht schaden kann.

…und wenn es nur rostige Badewannen gewesen wären?

Apropos Zukunft: Ein Freiburger Forscherteam, das ein Simulationsmodell für Druckwellen und sonstige Auswirkungen explodierender Blindgänger entwickelt, betrachtet die (sehr realen) Vorgänge in Dortmund als eine Art Großversuch, der eingehend begleitet wird; damit man sich künftig vielleicht noch etwas präziser auf solche Ereignisse vorbereiten kann. Mag sein, dass dann die Sicherheitszonen nicht mehr so weitläufig bemessen sein müssen.

Ein Restaurant-Betreiber, der seinen Betrieb am Sonntag gar nicht erst öffnen wollte, gab sich der  örtlichen Presse gegenüber skeptisch bis verärgert: Wenn an den „Bombenverdachtspunkten“ (offizielle Bezeichnung) nun nur eine rostige Badewanne gefunden werde und sich das Ganze als falscher Alarm erweise, hätte Dortmund sich blamiert, findet er. Eine sehr spezielle Einlassung. Es drohte nach (inzwischen zweifach bestätigter) Experten-Einschätzung nun einmal Gefahr. Wer hätte da die Verantwortung übernehmen wollen? Etwa die Wirte und Pächter der umliegenden Gaststätten? Eben.

___________________________________________

Die folgenden Links haben nur begrenzte Gültigkeit:

Weitere Informationen der Stadt Dortmund: www.evakuierung.dortmund.de

Live-Ticker der Ruhrnachrichten

Live-Ticker des WDR: https://www1.wdr.de/nachrichten/ruhrgebiet/ticker-grosse-bombenentschaerfung-im-dortmunder-klinikviertel-100.html
___________________________________________

Infos mit Material u. a. von Ruhrnachrichten und WDR




Duplikate für den historischen Ostfriedhof – warum muss das denn sein?

Hinweisschild am Dortmunder Ostpark. (Foto: Bernd Berke)

Hinweisschild am Dortmunder Ostpark. (Foto: Bernd Berke)

Der Dortmunder Ostfriedhof (oder auch Ostpark) ist, wie hier schon gelegentlich erwähnt, eine der schönsten Grünanlagen des gesamten Ruhrgebiets – mit etlichen historischen Grabstätten von Bedeutung. Gewiss: Hier liegen keine weltberühmten Geister begraben. Doch selbst bundesweit gehört das Areal auf eine Liste der ansprechendsten Friedhöfe. Viele Dortmunder lieben diese parkähnliche Anlage.

Umso mehr verblüfft jetzt eine Ankündigung, die auf den ersten Blick von Geschichtsvergessenheit zu zeugen scheint. Ein Schild mit diesem Text (siehe auch das Foto oben) ist neuerdings in den Eingangsbereichen des Ostparks zu finden:

„Zurzeit werden auf diesem Friedhof schützenswerte Grabmale demontiert. Die Arbeiten erfolgen im Auftrag der Stadt Dortmund. Von den sichergestellten Objekten werden Nachbildungen erstellt, die im Anschluss wieder montiert werden. Falls Sie Fragen haben, so wenden Sie sich bitte an unsere Mitarbeiter*innen auf dem Friedhof.“

Die Ankündigung kommt aus ziemlich heiterem Himmel. Ich kann mich nicht erinnern, dass dieses Vorhaben in lokalen Medien dargelegt oder gar zur Diskussion gestellt worden wäre. Dabei ist es doch von öffentlichem Interesse. Tatsächlich wüsste man schon gern, um welche Grabstätten es sich im Einzelnen handelt. Doch nicht etwa um die letzten Ruhestätten der Industriellen-Dynastien Hoesch oder Jucho? Doch nicht etwa ums Grab der Kochbuch-Pionierin Henriette Davidis?

Nach dem Raub wertvoller Bronzen geht Sicherheit vor

Halt! Keine Panik! Es handelt sich überwiegend um vergleichsweise unscheinbare, jedoch wertvolle Objekte – und alles hat seine Richtigkeit. Uli Heynen, Betriebsleiter Technik für die Dortmunder Friedhöfe, erklärt auf Anfrage, die jetzige Maßnahme sei beschlossen worden, nachdem 2018 Grabräuber auf dem Ostfriedhof vier historische Bronzeteile (Grabplatten) gestohlen hatten. Aufmerksame Bürger hätten den Verlust damals bemerkt und Mitarbeiter des Friedhofs informiert. Heynen: „Es sind eigentlich immer Bürger, denen so etwas zuerst auffällt.“

Teilansicht einer historischen Grabstätte auf dem Dortmunder Ostfriedhof, die n i c h t durch eine Replik ersetzt wird. (Foto: Bernd Berke)

Impression vom Dortmunder Ostfriedhof: Teilansicht einer historischen Grabstätte, die n i c h t durch eine Replik ersetzt wird. (Foto: Bernd Berke)

Da fragte sich, wie man fortan weitere Bestände (darunter auch Skulpturen) schützen sollte. Nach vielen Überlegungen stand schließlich fest: indem man sie auf dem Friedhof durch Repliken ersetzt und die Originale anderswo unter Dach und Fach verwahrt. Sehr betrüblich, dass so etwas überhaupt nötig ist. Aber Sicherheit hat eben Vorrang.

Um Weihnachten 2019 herum ging dann alles ganz schnell. Die Demontage einiger Bronze-Teile ist bereits erfolgt, nun geht es – unter fachkundiger Begleitung von Dr. Rosemarie Pahlke (Beauftragte der Stadt für Kunst im öffentlichen Raum) – an die Herstellung der Repliken. Ganz billig ist das nicht, doch das muss es dem Gemeinwesen wert sein.

Arbeiten von Benno Elkan und Bernhard Hoetger

Wenn auch die Duplikate mit größter Sorgfalt erzeugt werden, so dürften zumindest Fachleute bemerken, dass es sich nicht mehr um die Originale handelt. Uli Heynen: „Die Stücke werden ja nicht mehr aus Bronze bestehen.“ Hoffentlich nehmen das auch etwaige Grabräuber zur Kenntnis.

Im Mittelpunkt der Rettungsmaßnahmen stehen acht Arbeiten des Bildhauers Benno Elkan und eine Schöpfung von Bernhard Hoetger. Nach Fertigstellung der Repliken für den Ostpark sollen die Originale an einem öffentlichen Ort in der Stadt ausgestellt werden. Denkbar wäre eine Präsentation in Museum für Kunst und Kulturgeschichte an der Hansastraße. Doch darüber ist noch keine Entscheidung gefallen.




Oh Umweltsau, du darfst nicht einfach von uns gehen!

Lange nichts mehr von unserer alten „Umweltsau“ gehört. Schon seit einem halben Tag herrscht Funkstille. Das darf nicht sein. Die Sache muss weiter köcheln. Schlagergerecht trällern wir: Liebe, liebgewordene Umweltsau, du darfst nicht so einfach von uns gehen! Daher hier noch ein paar nachgereichte Fragen – gleichsam zur Überbrückung:

 

Rein zufällig vor zwei Tagen fotografiert. Dabei können die armen Tiere nun wirklich nichts dafür... (Foto: Bernd Berke)

Zufällig vor zwei Tagen fotografiert. Dabei können die armen Tiere wirklich nichts dafür… (Foto: Bernd Berke)

Muss man sich, nur weil AfD-Leute und Konsorten einmal ansatzweise oder halbwegs recht haben könnten, partout auf die Gegenmeinung versteifen? Darf man das Liedchen gar nicht mehr kritisch sehen, weil man dann Beifall von der falschen Seite bekommen könnte? Ist gar schon ein halber Nazi, wer da nicht hämisch mitsingen möchte? Entscheidet sich eigentlich an der imaginären Gesamt-Oma das Schicksal der Nation?

Verfahren die WDR-Redakteure und die freien Mitarbeiter, die gegen die Distanzierung des Intendanten Tom Buhrow aufstehen, etwa nach der uralten Devise „Right or wrong – my country“? Kommt es hierbei nur darauf an, stur auf der „richtigen Seite“ zu stehen?

Muss man eine bloße unflätige Beschimpfung und Herabwürdigung, die zudem gründlich ihr Ziel verfehlt, als „Satire“ ausgeben? Was würde beispielsweise ein Kurt Tucholsky angesichts solch eines dürftigen Satire-Anspruchs sagen?

Hat sich die ganze Sache schon von selbst erledigt, indem man mit dem „Basta!“-Gestus immerzu „Satire darf alles!“ ausruft? Sind bereits Zweifel verpönt?

Sind die durchschnittlichen deutschen – mitsamt den zugewanderten – Omas eigentlich so (über)mächtig, dass man sie dermaßen brachial attackieren muss?

Geht es hier gegen eines bestimmte, hochprivilegierte Sorte von Großmüttern oder nicht vielmehr doch gegen eine ganze Generation? Konnten die Kinder wirklich begreifen, was sie da singen sollten?

Wäre es möglich, dass viele Omas (was ist eigentlich mit den Opas, werden die nur noch lustig, lustig mit ihren Rollatoren überfahren?) beispielsweise von Kleinstrenten leben und/oder der „Fridays for Future“-Bewegung ausgesprochen wohlgesonnen sind? Ach so, die wären gar nicht gemeint gewesen?

Würde man es auch als köstliche Satire ansehen, wenn jemand ein dämliches Spottlied auf junge Klima-„Aktivisten“ sänge, in dem diese als selbstgerechte Ferkel vorkämen?

Hat der Leiter des Dortmunder WDR-Kinderchores eigentlich während der gesamten Proben nicht bemerkt, was er da proben ließ? Hat er mal wieder nur auf die Reinheit der Töne und nicht auf den Text geachtet? Überhaupt: Hat man im Vorfeld je über Form und Inhalte diskutiert? Oder wurde die Witzischkeit halt verfügt und verordnet?

Andererseits: Hat WDR-Chef Tom Buhrow, der eh noch nicht als souveräner Intendant des größten ARD-Senders aufgefallen ist, die in diesem Falle Programm-Verantwortlichen nicht gar zu sehr bloßgestellt? Wollte er seine Untergebenen in einer gutsherrlichen Art strammstehen lassen, als wären sie nicht auch seine Schutzbefohlenen? Hat er sie damit gar dem Zorn des Mobs ausgeliefert?

War es wirklich nötig, die Aufnahme zu löschen? Hält man die Leute für zu blöd, sich eine eigene Meinung bilden zu können?

Jedoch: Was ist das für eine gespaltene Gesellschaft, in der sich an einem solchen Liedchen eine schier endlose Debatte mit härtesten Fronten entzündet?

Und natürlich: Was sind das für kranke Gestalten, die derlei Fragen mit vorgestanzten Hassparolen und Morddrohungen abhandeln wollen?

Wir schließen einstweilen rituell mit Bert Brecht: „Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen / Den Vorhang zu und alle Fragen offen.“




Morgens an der S-Bahn: Lasset fahren die Hoffnung… (wird seit Mitte September fortlaufend aktualisiert)

Ein Stück der S-Bahn-Linie 4. (Foto: Bernd Berke)

Ein kurzes Stück der S-Bahn-Linie 4. (Foto: Bernd Berke)

So. Wir machen notgedrungen weiter mit unserer kleinen Bahnserie, die kürzlich mit seltsamen Schwierigkeiten beim Erwerb von Handytickets begonnen hat. Hat man diese Probleme überwunden, geht es erst richtig los. Beziehungsweise: Allzu oft geht es eben gar nicht los.

Jetzt begeben wir uns mal auf die Strecke. Die Rede ist von der S-Bahn-Linie 4, die zwischen Unna und Dortmund-Dorstfeld bzw. Lütgendortmund verkehrt oder verkehren soll. Betrieben wird sie von der DB Regio, also einer regionalen Unterabteilung der Deutschen Bahn, deren Kalamitäten bekanntlich ganze Beschwerde-Foren füllen, ja überquellen lassen – und neuerdings auch noch die global wirksame Aufmerksamkeit von Greta Thunberg gefunden haben, um es mal vorsichtig und möglichst neutral zu sagen.

Doch die DB Regio darf mit den S-Bahnen 1 und 4 weitermachen, obwohl sie die Ausschreibung für die Strecken verloren hat (siehe Nachricht weiter hinten).

Hauptstrecke zu drei großen Innenstadt-Gymnasien

Eine der wichtigsten Abfahrtzeiten des gesamten Tages ist (bzw. war) am S4-Haltepunkt Dortmund-Körne 7:29 Uhr morgens, an ebenfalls betroffenen anderen Haltepunkten gelten andere Vorgaben. Um diese Zeit jedenfalls brechen auf dieser Linie, von Osten her kommend, Hunderte von Schülern auf, um pünktlich vor Unterrichts-Beginn vor allem eines der drei Innenstadt-Gymnasien zu erreichen, die im unmittelbaren Einzugsbereich des Haltepunkts Dortmund-Stadthaus liegen: Mallinckrodt-Gymnasium, Stadtgymnasium und Käthe-Kollwitz-Gymnasium – mit zusammen deutlich über 3000 Schülerinnen und Schülern. Von den Lehrkräften und von allen anderen Arbeitnehmern oder auch sonstigen Fahrgästen, die gleichfalls auf diese Verbindung angewiesen sind, wollen wir gar nicht erst reden. Es dürfte einige Familien geben, die eine der drei genannten Schulen nicht zuletzt wegen der (theoretisch) guten S-Bahn-Anbindung gewählt haben…

Zugausfälle am Montag, am Dienstag, am Mittwoch und… 

Tatsache ist jedoch: Der genannte Zug fährt in den seltensten Fällen um 7:29 Uhr. In der Woche seit dem 16. September ist er bereits montags, dienstags und mittwochs ausgefallen, also bis dahin an jedem Wochentag. Am 5. und 6. September (beispielsweise) jeweils das gleiche Spielchen. Wie heißt der alte Buchtitel-Spruch nach Eric Malpass: Morgens um 7 ist die Welt noch in Ordnung. Mag ja sein. Um 7:29 Uhr zeigen sich jedenfalls erste Irritationen, sofern man die S-Bahn 4 nehmen möchte. Ob’s bei der Anfahrt von Westen her ähnlich betrübliche Befunde gibt?

Schlimmer noch: Viele können sich gar nicht darauf einstellen, denn in den Apps von VRR (Verkehrsverbund Rhein-Ruhr) und DSW21 (Dortmunder Stadtwerke) sind zwar die Fahrzeiten verzeichnet, von Zugausfällen erfährt man freilich meistens nichts vorab. Die Navigator-App der Deutschen Bahn soll in dieser Hinsicht etwas zuverlässiger sein. Sagt man. Und es stimmt auch. Die Lautsprecher-Durchsage am Bahnsteig quäkt, falls sie überhaupt erfolgt, jeweils ganz vage etwas von „technischen Problemen“.

Welch ein Beitrag zur „Klimawende“

Aber was hilft’s? Viele Hundert Leute müssen am kühlen und zugigen Bahnsteig weitere 10 Minuten warten und hoffen, dass wenigstens die nächste Bahn um 7:39 planmäßig kommt. Weil die wegen des vorherigen Ausfalls regelmäßig etwa die doppelte Menge an Passagieren aufnehmen muss, ist sie natürlich arg überfüllt. Und wehe, wenn auch sie nicht käme. Dann wären schon mal die allermeisten Schüler zu spät dran – eventuell auch noch bei einer wichtigen Klassenarbeit…

Immerhin: Jetzt eine halbwegs vernünftige App gefunden, die die Ausfälle rechtzeitig anzeigt... (Screenshot vom DB Navigator)

Immerhin: Habe jetzt eine halbwegs vernünftige App gefunden, die die Ausfälle wenigstens rechtzeitig anzeigt… (Screenshot vom DB Navigator)

Sehr wahrscheinlich haben sich angesichts dieser häufigen Ausfälle schon manche entschlossen, aufs morgendliche Bahnfahren zu verzichten. Statt dessen werfen sie dann doch wieder ihre Autos (darunter auch jene erschröcklichen SUV-Karossen) an und verstopfen die Straßen rund um die Schulen. Welch ein Beitrag zur „Klimawende“!

DB Regio: Weitermachen trotz verlorener Ausschreibung

Unterdessen schien eine kleine Hoffnung zu keimen, wenn’s denn überhaut eine Hoffnung war. Die DB Regio AG hatte die Ausschreibung für die Strecke verloren, so dass die S-Bahn-Linien 1 und 4 ab Dezember 2019 von der Gesellschaft Eurobahn (Keolis Deutschland) übernommen werden sollten, und zwar bis ins Jahr 2034.

Doch dann hat der Verkehrsverbund VRR nach eigener Einschätzung die Reißleine (oder passender: Notbremse) gezogen und der Eurobahn den Auftrag wieder weggenommen. Angeblicher Grund laut WDR-Bericht aus Essen: Die Eurobahn habe nicht genug Lokführer, um die S-Bahn-Linien 1 und 4 zu übernehmen und den Betrieb zu garantieren. Fragt sich angesichts der geschilderten Zugausfälle allerdings dringlich, ob die DB Regio dazu stets in der Lage ist. Sie hat selbst zu bedenken gegeben, dass sie auf die Fortsetzung des Betriebs eigentlich gar nicht eingestellt ist.

Zeitweise sah es so aus, als würde der Streit um die Strecken auch noch mit juristischen Mitteln ausgetragen. Keolis hat zwischendurch signalisiert, dass man die Übernahme der Linien keineswegs aufgegeben habe – und sich dann doch offenbar ins „Schicksal“ gefügt. Mittlerweile hat es offiziell eine gütliche Einigung gegeben.

Anfang November stand fest: DB Regio darf erst einmal weitermachen. Unzuverlässig wie gehabt?

Nachtrag am 12. Dezember 2019: Fatale Ausdünnung im Fahrplan

Nun, da die DB Regio den besagten Auftrag erst einmal in der Tasche hat (ob da wohl Beziehungen eine Rolle gespielt haben könnten?), verkündet der VRR teilweise rigorose Fahrplanänderungen, die ab 15./16. Dezember 2019 in Kraft treten. Für die oben geschilderte Verbindung bedeutet dies, dass man die Strecke in den morgendlichen Kernzeiten nicht mehr alle 10 Minuten, sondern nur noch alle 15 Minuten bedient – falls es nicht auch noch zu Ausfällen kommt. Die berüchtigte Abfahrtszeit 7:29 Uhr gibt es somit gar nicht mehr, es bleiben in jenem Zeitfenster nur noch 7:21 und 7:36 Uhr.

Man kann also mit Fug und Recht von einer deutlichen Ausdünnung reden. Welch‘ ein fatales Signal, angesichts der angeblich wachsenden Bedeutung des öffentlichen Nahverkehrs!

Nachtrag 15. bis 18. Dezember 2019: Wo bleiben die Aushangpläne?

Der neue Fahrplan ist doch sicherlich mit dem Start am 15. Dezember abrufbar gewesen? Nun ja, nur zum Teil. In der Bahn-App tauchen die korrekten neuen Zeiten auf, auch kann man online auf den gesamten Linienplan zugreifen. Was noch nicht funktioniert, sind die Aushangpläne für die einzelnen Stationen, auf denen man sofort sieht, wann „um die Ecke“ der nächste Zug fährt. Wohl viele Fahrgäste hätten sich zum Eingewöhnen die neuen Pläne gern ausgedruckt. Eine weitere Fehlanzeige…

Hat’s denn am ausgedünnten Dienstplan des Wochenendes gelegen? Nein, offenbar nicht. Auch am 16. und 17. Dezember waren die  neuen Aushangfahrpläne des Verkehrsverbundes Rhein-Ruhr fürs gemeine Volk noch nicht abrufbar. Am Nachmittag des 18.12. tauchten die Listen dann auf, Hallelujah!

Wir wollen uns lieber gar nicht vorstellen, wie es wäre, wenn Greta Thunberg auf die Dortmunder S-Bahn 4 angewiesen wäre. Dann wäre die Weltpresse aber heftig zugange!

______________________________________________

Anhang:

Chronik der Zugausfälle

Kleine Chronik der Fahrten bzw. Nicht-Fahrten an Werktagen um 7:29 Uhr
(S 4 ab DO-Körne, alter Fahrplan bis 14.12.2019), ohne Rücksicht auf Verspätungen:

Montag, 16. September: ausgefallen
Dienstag, 17. September: ausgefallen
Mittwoch, 18. September: ausgefallen
Donnerstag, 19. September: gefahren
Freitag, 20. September: gefahren

Montag, 23. September: ausgefallen
Dienstag, 24. September: ausgefallen
Mittwoch, 25. September: gefahren
Donnerstag, 26. September: ausgefallen
Freitag, 27. September: gefahren

Montag, 30. September: gefahren
Dienstag, 1. Oktober: gefahren
Mittwoch, 2. Oktober: gefahren

3. & 4. Okt. Feiertag/schulfrei

Montag, 7. Oktober: gefahren

Freitag, 12. Oktober, bis 21. Oktober (Herbstferien):
komplette Streckensperrung wegen Gleisarbeiten

Seitdem fuhr der 7:29er-Zug für einige Tage in aller Regel relativ regelmäßig ab – wenn auch häufig mit (schon bis DO-Körne angesammelten) Verspätungen von 1 bis 3 Minuten. Wir bleiben jedenfalls dran.

And here we go again:

Mittwoch, 13. November: ausgefallen
Donnerstag, 14. November: ausgefallen
Freitag, 22. November: ausgefallen

Montag, 25. November: ausgefallen
Mittwoch, 27. November: ausgefallen
Donnerstag, 28 November: ausgefallen

Dienstag, 3. Dezember: ausgefallen
Mittwoch, 4. Dezember: ausgefallen
Freitag, 6. Dezember: ausgefallen

Freitag, 13. Dezember: ausgefallen

Ende des alten Fahrplans.

___________________________________________

Einzelne Züge fallen trotz des ausgedünnten neuen Fahrplans immer noch aus, hier eine Zufallsauswahl am Haltepunkt Körne, Richtung DO-Innenstadt/Lütgendortmund:

Donnerstag, 19. Dezember: 16:36 ausgefallen, 18:21 ausgefallen

 




„Helden wie wir“ – Andreas Beck erklärt im Dortmunder Studio, wie er die Mauer zum Einsturz brachte

Andreas Beck (Foto: Birgit Hupfeld / Theater Dortmund)

Dieser Abend im Studio des Dortmunder Theaters gehört der Vortragskunst. Andreas Beck spricht, spielt, erleidet den Text „Helden wie wir“, dessen Bühnenfassung Peter Dehler nach dem gleichnamigen Roman des DDR-Schriftstellers Thomas Brussig verfaßte.

Steile These des Stücks ist die Überzeugung des Titelhelden, er habe vor 30 Jahren die Berliner Mauer geöffnet. Mit seiner Posaune. Klaus Uhltzsch heißt die Figur, und der Name spricht sich genau so schwierig aus, wie er sich schreibt.

Das Glied schwillt

Aber das mit der Mauer kommt erst ganz am Schluß. Der Großteil von Andreas Becks beeindruckendem Vortrag (eine Stunde 25 Minuten) beschreibt die Nöte des männlichen Heranwachsenden, dem bedrohlich sein Glied schwillt, was er kaum verbergen kann. Der Vater bei der Stasi, die Mutter Hygienebeauftragte des Kreises – das ist nicht unbedingt ein hilfreiches Elternhaus für die kindliche Entwicklung, zumal die Mutter (Vater und Mutter sind im Theaterstück nur Stimmen aus dem Off) dem Knaben auch mit einer gewissen Lust nachzuspionieren scheint, was sie natürlich niemals zugeben würde. In der Reinlichkeitserziehung jedenfalls ist schon manches schiefgelaufen; Klaus geht nur mit größeren Mengen Klopapier auf Reisen und pflegt fremde Klodeckel vor ihrer Benutzung mit Klopapier zu umwickeln. Wahrscheinlich hat er schon eine Unzahl von Kloschüsseln verstopft, und irgendwann werden sie ihn dafür drankriegen, da ist er ganz sicher.

Andreas Beck (Foto: Birgit Hupfeld / Theater Dortmund)

Wenn Mutter guckt

Mit beginnender Pubertät sind Minderwertigkeitskomplex und Größenwahn Klaus’ treue Begleiter. Die Stasi tritt an ihn heran, Klaus phantasiert, ein hochkarätiger Agent zu sein und eine wichtige Aufgabe auszuführen. Doch wird er nur mit Belanglosem beauftragt. Sein Glied, wenngleich doch sehr präsent, kommt ihm bedrückend klein vor, vor allem, wenn Mutter einen abschätzigen Blick darauf wirft. Dann aber erleidet Klaus einen Unfall, bei dem sich wiederholt ein Besenstiel in sein Gemächt bohrt – während eines Stasi-Einsatzes, im unruhigen Jahr 1989.

Lag es wirklich am Besenstiel? Plötzlich ist aus Klaus’ eher mittelmäßigem Organ etwas wirklich Großes worden, eine „strahlende Posaune“, die gleich den Posaunen von Jericho Mauern einstürzen lassen kann. Mit ihr arbeitet Klaus seinen großen vaterländischen Auftrag ab und öffnet die Mauer. Und er weiß: „Ich war’s. Nicht Schabowski!“

Erfolgsstück

Brussigs launiger Monolog lief seit seiner Entstehung 1996 an vielen Bühnen erfolgreich. Auch Andreas Becks Vortrag, der ganz leicht pendelt zwischen treuherziger Naivität und jener kleinen Bitternote, die die Unzulänglichkeit der Verhältnisse mitunter mit sich bringt, ist ein unvergeßliches Bühnenerlebnis. Einwenden könnte man vielleicht, daß der allegorische Schlußakkord hinter den Schilderungen der Nöte des Heranwachsenden weit zurücktritt. Aber warum auch nicht.

Wir erleben eindrucksvolles Sprechtheater auf gänzlich ungestalteter Bühne, sieht man von ein wenig Lichtregie, Nebel und jenem eindrucksvollen „Rednerpult“ als einziger Kulisse ab, welches fallweise auch als Schreib- und Küchentisch dienen muß. Frenetischer Beifall für den Mann auf der Bühne und seinen vollen Einsatz.

Weitere Termine: 25.12.2019, 15.1.2020

www.theaterdo.de




Monströse Erkenntnisse: „Der Widersacher“ von Emmanuel Carrère im Dortmunder Studio

Szene mit Alida Bohnen und Max Ranft (Foto: Birgit Hupfeld / Theater Dortmund)

Szene mit Alida Bohnen und Maximilian Ranft (Foto: Birgit Hupfeld / Theater Dortmund)

Offenbar hat es sich wirklich so abgespielt: Jean-Claude Romand, ein geachteter Mediziner in Diensten der WHO, bringt 1993 Frau, Kinder, Eltern und sogar deren Hund um, bevor er sein Haus anzündet und eine große Menge Schlaftabletten nimmt. Den Selbstmordversuch überlebt er, weil die Tabletten alt sind und deshalb kaum wirken. Fassungslos fragt das gutbürgerliche Umfeld der Romands nach Gründen, und was in der Folge an Erkenntnissen zu Tage tritt, ist monströs.

Romand führte seit vielen Jahren ein Doppelleben, war gar kein Arzt und auch nicht bei der WHO in Genf beschäftigt. Freunde und Familie hatte er glauben lassen, er studiere Medizin, während er tatsächlich längst schon mit dem Studium aufgehört hatte. Später dann fuhr er jeden Tag zur Arbeit, war ab und zu auf mehrtägigen Dienstreisen – tatsächlich jedoch machten lange Waldspaziergänge einen Gutteil seiner Arbeitszeit aus.

Für die Morde gab es, wenn man einmal so sagen darf, rationale Begründungen: Romand hatte in der Familie viel Geld eingesammelt, angeblich, um es „als Diplomat“ in der Schweiz mit sagenhaften 18 Prozent anzulegen. Tatsächlich aber lebten er und seine Familie von dem Geld. Als sein Vater einen Teil seiner Einlage für den Kauf eines Autos haben wollte, lief das Finanzierungsmodell Gefahr, aufzufliegen. Deshalb mußte der Vater und mußten die anderen sterben.

Szene mit (von links) Marlena Keil, Alida Bohnen und Uwe Rohbeck (Foto: Birgit Hupfeld / Theater Dortmund)

Tatsachenroman

Emmanuel Carrère erzählt diese Täuschungs- und Betrugsgeschichte in seinem Tatsachenroman „Der Widersacher“ nach, Regisseur Ed. Hauswirth machte die Übersetzung aus dem Französischen von Claudia Hamm zur Grundlage seiner Stückfassung, die derzeit im Studio des Dortmunder Schauspielhauses gezeigt wird.

Uwe Rohbeck, mit blonder Perücke kaum wiederzuerkennen, gibt den Buchautor und Erklärer Carrère, weitere Rollen im Stück sind mehrfach besetzt, was gewisse Chor-Effekte und Verstärkungen ermöglicht. Bis zu sieben Personen stehen (sitzen, liegen) auf der Bühne und erzählen, was da passiert ist, wie unglaublich ihnen diese Enthüllungen zunächst waren, wie ihnen die Ungeheuerlichkeit des ganzen zunehmend dämmerte. Rohbeck/Carrère strukturiert mit seinen nüchternen Erklärungen wiederholt die Erzählung, die Personen auf der Bühne hingegen spielen, sprechen, streiten kraftvoll, und immer unausweichlicher schiebt die Frage in den Raum, warum niemandem etwas aufgefallen ist, obwohl man Romand nie anrufen konnte, er nie Kollegen vorstellte und so fort.

Szene mit (von links) Marlena Keil, Björn Gabriel, Caroline Hanke und Uwe Rohbeck (Foto: Birgit Hupfeld / Theater Dortmund)

Erklärungen

Susanne Priebs (Bühne und Kostüme) hat zwei sehr zerbrechlich wirkende Stapel von Sammeltassen auf der Bühne platziert, die jedoch stabiler sind als befürchtet und den Theaterabend unbeschadet überleben; Es gibt ein paar widerborstige Stühle ohne Sitzflächen, ein paar eher gestische als pantomimische Einlagen, doch all das ist Beiwerk.

Im Zentrum dieser Inszenierung steht ein unbedingtes Interesse an der unglaublichen Geschichte des Jean-Claude Romand, steht das Bestreben, dem Publikum diesen Inhalt getreulich zu erklären. In der Form erinnert das, so verschieden der Gegenstand der Stücke auch ist, an einige Bühneneinrichtungen von Houellebecqs „Unterwerfung“ (etwa an jene des Westfälischen Landestheaters in Castrop-Rauxel), bei denen es ebenfalls vor allem darum ging, nicht ganz unkomplizierte Sach- und Sinnzusammenhänge schlüssig zu erklären. Dieses Theaterstück hat ein Anliegen, erschöpft sich nicht in formalen Spielereien.

Die Frage nach dem Warum

Bleibt die Frage nach dem Warum. Hauswirths Inszenierung weicht ihr nicht aus, versucht Antworten aber mit wohltuender Dezenz. Von den Annehmlichkeiten des bildungsbürgerlichen Milieus wäre hier sicherlich zu reden, vom guten Leben in vermeintlich vorgezeichneten Lebensbahnen. Zudem gab es in Romands Leben fraglos auch den Point of No Return, wo das Geflecht aus Lügen und Betrug übermächtig geworden war und seine eigene Dynamik entwickelt hatte. Aber es fragt sich doch, warum Jean-Claude nicht zur Zwischenprüfung ging, sondern statt dessen sein Doppelleben begann. Er hätte sogar durchfallen können, eine Wiederholung der Prüfung wäre möglich gewesen. Daß auch hier eher so etwas Banales wie Prüfungsangst die entscheidende Rolle gespielt haben könnte und (vorstellbar jedenfalls) keine manifeste psychische Macke, kann uns angesichts der folgenden Geschehnisse nicht wirklich beruhigen.

Viel Applaus für einen bewegenden Theaterabend mit spannendem Inhalt und anspruchsvoller Sprechkultur.

  • Termine: 13. und 29.12.2019 – 12., 16. und 26.1.2020 (Anfangszeiten wechseln!)
  • www.theaterdo.de



Wow! Ihr werdet nicht glauben, wie das Dortmunder Naturkundemuseum jetzt heißt!

Äußerlich sachlich und schmucklos: das Museum, das jetzt einen neuen Namen trägt... (Aufnahme vom August 2019: Bernd Berke)

Äußerlich sachlich und schmucklos: das Museum, das jetzt einen neuen Namen trägt… (Aufnahme vom August 2019: Bernd Berke)

…und nun zu einer Nachricht, die eventuell ein paar Tage Aufschub verträgt. Obwohl: recht eilends anberaumte Pressekonferenz, freitags um 15 Uhr (gewiss nicht der Lieblingstermin einer Lokalredaktion); sodann die Nachricht mit zeitlichem Sperrvermerk. Da hat sich doch offenbar Wichtiges begeben?

Wie man’s nimmt. Bevor ich euch gar zu sehr auf die Folter spanne, nur frisch heraus mit der auch schon zwei Tage alten Wahrheit: Die Sache ist nämlich die, dass das Dortmunder Naturkundemuseum, seit rund fünf Jahren (und damit weit über die Ursprungspläne hinaus) wegen Umbaus geschlossen, einen neuen Namen erhalten hat. Jetzt seid Ihr baff. Doch wie groß wird erst euer Erstaunen sein, wenn ihr den neuen Namen erfahrt. Er lautet (Trrrrrrommmmelwirbel…):

Naturmuseum

Wow!

Es mag Internet-Seiten geben, die eine solche Nachricht mit elend langer Klickstrecke und Anmach-Sprüchen à la „Ihr werdet nicht glauben, wie das Naturkundemuseum jetzt heißt!“ verkaufen würden. Das hätten wir uns und euch gern komplett erspart. Indes…

Dr. Dr. Elke Möllmann, die Leiterin des Hauses, das schlussendlich im Sommer 2020 wieder öffnen soll, zeigte sich jedenfalls – laut Pressemeldung der Stadt Dortmund – „hochzufrieden“. Zitat: „Der Name betont den Erlebnischarakter…“

Na, wenn das so ist. Offenbar deutet der Wegfall des (zu sehr nach Anstrengung und schulischem Unterricht schmeckenden?) Bindeglied-Begriffs „Kunde“ (Naturkunde) auf eine gewisse Erleichterung des Zugangs hin. Ersten Eindrücken zufolge, die man vor einigen Monaten aufklauben konnte, wird das neue Konzepts des Museums diesen Anspruch wohl auch einlösen, ohne die wissenschaftliche Seriosität zu opfern.

Im August hatte das Museum einen Namenswettbewerb ausgeschrieben, an dem sich – seltsame, fast schon magische Zahl – 101 Bürgerinnen und Bürger beteiligt haben, zum Teil auch mit Gedichten oder Zeichnungen. Es folgten Debatten „der politischen Gremien“ sowie ein Losentscheid, durch den fünf Teilnehmer(innen) Exklusiv-Führungen bzw. Kindergeburtstage im Museum gewannen.

Im deutschsprachigen Raum, vor allem in der Schweiz, so hieß es ergänzend,  gebe es bereits einige naturkundliche Museen, die als „Naturmuseum“ firmieren. Somit wäre Dortmund nicht allein auf weiter Flur. Und mit der Schweiz haben wir es ja sowieso, auch auf anderem Gebiet. Ich sage nur Favre, Bürki und Hitz.




Kassenschlager im Doppelpack: Das London Symphony Orchestra spielt Bruch und Tschaikowsky in Dortmund

Janine Jansen stammt aus einer Musikerfamilie. Ihr Großvater leitete einen Kirchenchor, ihre Mutter sang im Kirchenchor, ihr Vater Jan und Bruder David spielen Cembalo, ihr älterer Bruder Maarten Violoncello. (Foto: Harald Hoffmann/Decca)

Rücken und Schulter machen der berühmten Geigerin Janine Jansen häufig zu schaffen. Die aus dem niederländischen Soest (Provinz Utrecht) stammende 41-Jährige pflegt eine sehr bewegungsfreudige Art des Violinspiels, bei der sie die Schultern auffallend hochzieht. Das entspricht dem überbordenden Temperament der Künstlerin, würde jedoch gewiss keine Empfehlung eines Physiotherapeuten erhalten.

Zur Saisoneröffnung Mitte September 2019 hatte sie dem Konzerthaus Dortmund krankheitsbedingt absagen müssen. Nun trat sie mit dem London Symphony Orchestra unter der Leitung von Gianandrea Noseda auf, im Gepäck eines der meistgespielten und populärsten Violinkonzerte überhaupt: Max Bruchs Erstling g-Moll op. 26, gewidmet dem legendären Joseph Joachim. Die ungeheure Beliebtheit des Werks, die dem Komponisten bereits zu Lebzeiten zum Ärgernis wurde, stellt jeden Interpreten vor die Frage, was aus diesem schier totgespielten Stück noch herauszuholen ist.

Eine völlig neue Lesart zu versuchen, müsste wohl mit Verzerrung, ja Entstellung der Partitur enden. Janine Jansen zielt gar nicht erst darauf ab. Stattdessen vertraut sie auf die Stärken ihres Spiels. Auf den zupackenden Biss ihrer dreistimmigen Akkorde. Auf ihr Vibrato, das in der Introduktion entspannt und weit schwingt, in der Beschleunigung aber eine brennende Intensität erzeugt. Auf die wunderbar gedeckten Farben in der Mittellage ihrer Stradivari, die sie im Adagio in langen ruhigen Bögen ausspielt.

Doppelgriffe mit geradezu sportiver Energie

Besonders authentisch gelingt ihr das Finale mit seinem kraftvoll federnden Hauptthema. Janine Jansen geht das von der Hand wie geschnitten Brot. Ihre Doppelgriffe besitzen eine furiose, nachgerade sportive Energie. Dezimaufgänge schleudert sie mit vollem Schwung in den Raum. Sie setzt nadelfeine Akzente, ihre Läufe sind von quecksilbriger Beweglichkeit, und die Presto-Stretta lässt an Rasanz nichts zu wünschen übrig.

Mit Peter Tschaikowskys 5. Sinfonie folgt nach der Pause ein weiterer Kassenschlager. Hier findet sich das London Symphony Orchestra, das in Bruchs Violinkonzert noch zu recht knalligen Tutti neigte, allmählich besser mit der Akustik des Saals zurecht. Gianandrea Noseda, erster Gastdirigent des Orchesters, animiert das LSO zu einer Fassung, der tänzerische Bewegtheit wichtiger ist als die schwerfällig stapfenden Marschrhythmen. Nichts an dieser Interpretation ist zäh, aber manches Crescendo rauscht so schnell auf, dass auf dem Weg zum Höhepunkt einiges an Spannung verschenkt wird.

Emotionale Extremzustände scheint Noseda eher glätten zu wollen. Gleichwohl führt er das zu Beginn düster vorgetragene Thema der tiefen Klarinetten überzeugend bis zum apotheotischen Schluss-Hymnus. Das Finale bricht aus dem Korsett eines ästhetisch-romantischen Tschaikowsky-Klangs aus. So erhält diese Fünfte zum guten Schluss ein paar eindrucksvolle Ecken und Kanten. Das Blech klotzt selbstbewusst los, die Trompeten schmettern Triumph, die Streicher rasen mit einer weiß glühenden, zugespitzten Schärfe auf die Ziellinie los. Nach dem Schlusston explodiert der Jubel.

(Der Text ist in ähnlicher Form zuerst im Westfälischen Anzeiger erschienen.)




Judith Kuckart ist Dortmunds erste „Stadtbeschreiberin“

Judith Kuckart wird die erste „Stadtbeschreiberin“ in Dortmund. Damit hat sich die Jury für eine bereits etablierte Autorin entschieden. Frau Kuckart lebt heute in Berlin, sie wird ihr Dortmunder Stipendium von Mai bis Oktober 2020 wahrnehmen, das heißt: in der Stadt wohnen und arbeiten.

Die Schriftstellerin Judith Kuckart (Foto: Burkhard Peter)

Die Schriftstellerin Judith Kuckart (Foto: Burkhard Peter)

Die Autorin (Jahrgang 1959) hat eine westfälische Vergangenheit. Sie wuchs vorwiegend in ihrer Geburtsstadt Schwelm auf, verbrachte aber auch einen Teil ihrer Kindheit in Dortmund-Hörde. Später studierte sie Literatur- und Theaterwissenschaften an der Universität Köln und der Freien Universität Berlin, an der Folkwang-Hochschule Essen absolvierte sie außerdem eine Tanzausbildung. Seit 1999 ist sie zudem als freie Regisseurin tätig.

Bereits seit 1990 veröffentlicht sie Romane, zuletzt erschien im Juli 2019 „Kein Sturm, nur Wetter“ bei DuMont. Die Autorin hat bereits etliche Literatur-Preise und Stipendien erhalten, so wurde ihr beispielsweise 2009 der Literaturpreis Ruhr zuerkannt.

Judith Kuckart beschäftigt sich besonders intensiv mit den Themenkreisen Heimat und Herkunft. In Dortmund möchte sie ihren nächsten Roman ansiedeln. Außerdem plant sie, hier ein Theaterstück mit Laien zu produzieren.

Die Zeit intensiv nutzen

In der Begründung der Jury heißt es: „Judith Kuckart ist eine hervorragende und etablierte Literatin mit einem starken Bezug zu Dortmund und zur Region. Sie überzeugte durch ihre innovativen Kooperationsideen und die tiefe Auseinandersetzung mit den Inhalten des Literaturstipendiums. Sie ist engagiert und erfahren, kann gut vermitteln und ist eine Meisterin der Inszenierung. Sie wird die Zeit in Dortmund intensiv nutzen.“

Ganz prosaisch sei angefügt: Für die Dauer des Stipendiums steht der Autorin eine möblierte Wohnung in Dortmund zur Verfügung, außerdem bekommt sie monatlich 1800 Euro. Die Auszeichnung ist mit einer temporären Residenzpflicht in Dortmund verbunden.

Das Stadtbeschreiber-Stipendium soll künftig jährlich vergeben werden. Inhaltlicher Schwerpunkt ist – laut Stadtpressestelle – „die Transformation Dortmunds von der Stadt der Montanindustrie zum Standort von Wissenschaft, Technik und Dienstleistungen“. In der Zeit ihres Stipendiums, so heißt es in der Pressemitteilung weiter, „arbeitet die Stadtbeschreiberin eng mit dem Kulturbüro, dem Literaturhaus Dortmund und weiteren Institutionen der regionalen Literaturszene zusammen, bringt sich in die Stadtgesellschaft ein und gibt den Diskursen aktuelle Impulse“.

_______________________________________

Hier ein Link zur Homepage von Judith Kuckart: https://judithkuckart.de/

Eine sehr kritische Einschätzung zur Institution „Stadtbeschreiber*in“ (noch vor der Wahl der ersten Preisträgerin für die Revierpassagen verfasst und also natürlich nicht auf Frau Kuckart gemünzt) findet sich hier.




Wie die Technik den Sport angetrieben hat – eine aufschlussreiche Ausstellung in der Dortmunder DASA

Sport und Technik? Das sind doch wohl zweierlei Dinge. Von wegen! Beides hat innig miteinander zu tun. Spätestens beim Besuch der Dortmunder Ausstellung „Fertig? Los! Die Geschichte von Sport und Technik“ wird es klar.

Schrittmacher aus den 30er Jahren, in dessen Windschatten mit Fahrrädern Rekorde gafahren wurden. (Foto © Andreas Wahlbrink - DASA)

Auffälliges Schaustück: Schrittmacher-Motorrad aus den 1930er Jahren, in dessen Windschatten mit Fahrrädern Rekorde gebrochen wurden. (Foto © Andreas Wahlbrink – DASA)

Die aus dem Mannheimer „Technoseum“ kommende, in der Dortmunder DASA nur unwesentlich veränderte Schau blättert – mit rund 330 Exponaten in sechs Kapiteln – viele Aspekte des populären Doppelthemas auf.

Gleich hinterm Eingang sieht man ein wuchtiges Schrittmacher-Motorrad aus den 1930er Jahren, in dessen Windschatten Fahrradfahrer immer neue Geschwindigkeits-Rekorde aufstellten. Nach und nach galt das Prinzip praktisch für alle Sportarten: Ständige Optimierung und Leistungssteigerung bis ins Extreme setzten sowohl beim menschlichen Körper als auch bei Ausrüstung und Material an. Gezeigt werden dazu u. a. ein alter Skispitzenbiegebock (welch ein Wort!) aus dem Schwarzwald, diverse Bodenbeläge (Tartanbahn, Kunstrasen), ständig verbesserte Lauf- und Fußballschuhe, Räder, Schlitten, Speere und Sprungstäbe oder auch eine enorm wirksame Beinprothese für Paralympics-Teilnehmer.

Zuspitzung im Zuge der Industrialisierung

Mehr als verdächtig: In England, wo einst die Industrialisierung begonnen hatte, fing auch die leistungsgierige Zuspitzung des Sports an. Leistung im Sport und in der modernen Arbeitswelt haben eben verwandte Wurzeln im Kapitalismus – ein Zusammenhang, dem die Ausstellung ebenso gründlich wie unterhaltsam nachspürt, und zwar auch im Breitensport.

Sportliche Erfolge und Erfolgsaussichten bringen auch Maskottchen und Merchandising mit sich... (Foto: © Klaus Luginsland / Technoseum)

Sportliche Erfolge und Erfolgsaussichten bringen auch Maskottchen und Merchandising mit sich… Hier eine Auswahl in der Vitrine. (Foto: © Klaus Luginsland / Technoseum)

Es zeigt sich, wie einheitliche Regeln, Normen und Spielfeld-Markierungen sowie zusehends verfeinerte Zeit-, Weiten- und Höhenmessungen die universelle Vergleichbarkeit der Leistungen sicherstellen sollten. So zeugt beispielsweise eine um 1840 gefertigte Stoppuhr mit Tintenschreiber (beim Drücken sonderte die Sekunden-Nadel punktgenau kleine Kleckse ab) vom Bemühen um exakte Resultate. Im weiteren Rundgang sieht man die Stoppuhr des legendären Fußball-Bundestrainers Sepp Herberger, mit der er seine Mannen scheuchte. 1954 hat es bekanntlich geholfen.

Doping begann in Pferderennsport

Doch längst nicht immer wurden Höchstleistungen auf fairem Wege erzielt. Es geht deshalb auch um Doping-Auswüchse. Diese nahmen ihren Anfang übrigens beim Pferderennsport, wo schon früh ziemlich viel (Wett)-Geld auf dem Spiel stand. Eigene Pferde wurden zuweilen heimlich aufgeputscht, gegnerische Tiere pharmazeutisch gehemmt. Nicht viel später nahmen Radfahrer zum Teil dieselben Mittel ein, die zuvor den Tieren verabreicht worden waren. Ein weites Feld, auf dem ausgerechnet Radsportler schon sehr früh aktiv gewesen sind. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt…

Überaus respektabel nehmen sich sinnfällig dargestellte Höchstleistungen aus: Mike Powells wahnwitziger 8,95-Meter-Weitsprung von 1991 wird mit schlichten Bodenlinien (un)fassbar gemacht, die 258 Kilogramm, die ein Gewichtheber stemmte, lasten quasi tonnenschwer am Boden. Wohl niemand wird sie vom Fleck rühren können.

Plakat zur Fußball-Weltmeisterschaft 1962 – für einen Kinofilm zum Großereignis. (Foto © Technoseum Mannheim)

Plakat zur Fußball-Weltmeisterschaft 1962 – für einen Kinofilm nach dem Großereignis. (Foto © Technoseum Mannheim)

Als das Korsett sich allmählich lockerte

Das zeitliche und gesellschaftliche Spektrum reicht vom Bierkrug im Geiste des Turnvaters Jahn („frisch fromm fröhlich frei“) bis zu allerneuesten urbanen Trendsportarten, deren durchweg anglophone Namen man teilweise noch nie gehört hat.

Lehrreich auch die Geschichte der Sportbekleidung: Da verblüfft das eng geschnürte, aber im Vergleich zu „mörderischen“ Vorläufern schon ein wenig gelockerte Sportkorsett für die halbwegs emanzipierte Dame. Da staunt man über eine riesenhafte Badehose aus der Arbeitersport-Bewegung – und erst recht über den hautengen Original-Schwimmanzug eines Michael Phelps, der damit Dutzende von Goldmedaillen und Weltrekorden errang. Die der Haifisch-Haut nachgebildete Oberflächenstruktur steigerte die Leistung dermaßen effektiv, dass solche Anzüge alsbald verboten wurden.

Größere Tischtennisbälle eigens fürs TV

Wie bei DASA-Ausstellung üblich, kann man auch diesmal einiges selbst ausprobieren. So dürfen Besucher diverse Fitness-Geräte testen, sich selbst per Kamera und Monitor auf einem Zielfoto mit verzerrten Körper-Proportionen begutachten oder in einer Reporterkabine ausgewählte Spielszenen „live“ kommentieren. Man erfährt in diesem Zusammenhang, wie just das Fernsehen so manche Sportart nachhaltig verändert hat. Tischtennisbälle wurden vergrößert, weil die TV-Leute es für besser hielten. Medial und journalistisch lagen die Ursprünge ebenfalls in England: Bereits ab 1792 erschien dort das gedruckte Periodikum „The Sporting Magazine“.

Bei einem Ballspiel hinterm Schutznetz lässt sich zudem mit einer Art Hockeyschläger feststellen, auf welche Geschwindigkeit man das Spielgerät beschleunigt. Hier schon mal zwei Maßzahlen, mit untrüglicher Radarmessung ermittelt: Ausstellungs-Kurator Dr. Alexander Sigelen kam auf knapp 70 Stundenkilometer, ein Mannheimer Eishockeystar brachte es auf 165 km/h. Training zahlt sich eben aus.

Ein hochmodernes Trimmrad von 1905

Nur eine von etlichen Kuriositäten sei noch erwähnt: Geradezu hochmodern mutet das historische Trimmrad „Velotrab“ von 1905 an. Beim Pedaltreten hob und senkte sich der Sattel, als ob man auf einem trabenden Pferd gesessen hätte – eine derart pfiffige Idee, dass man sich fragt, warum sie seither nie wieder kommerziell aufgegriffen wurde.

Am Ausgang gibt’s eine Umfrage. Besucher(innen) sollen ihre Motivation zum Sport verraten. Geht’s ihnen in erster Linie um die Gesundheit, ums Gemeinschafts-Erlebnis, um Leistungssteigerung oder um körperliche Schönheit? – Und wie tut man seine Sicht der Dinge kund? Ganz sach- und fachgerecht: indem man Bälle in transparente Röhren wirft. Welche wird sich wohl am schnellsten füllen?

„Fertig? Los! Die Geschichte von Sport & Technik“. DASA Arbeitswelt Ausstellung, Dortmund, Friedrich-Henkel-Weg 1. Noch bis zum 19. April 2020. Mo-Fr 9-17, Sa/So 10-18 Uhr. Katalog 29,95 Euro.

www.dasa-dortmund.de

________________________________________________

Der Beitrag ist zuerst gedruckt im „Westfalenspiegel“ erschienen. Internet-Auftritt des Kultur-Magazins, das in Münster herauskommt: https://www.westfalenspiegel.de




Im hitzigen Aktionismus verpufft – Dostojewskijs „Dämonen“ enttäuschen in Dortmund

Szene mit Annou Reiners, Jakob Benkhofer, Frank Genser (Foto: Birgit Hupfeld / Theater Dortmund)

Szene mit Annou Reiners, Jakob Benkhofer und Frank Genser (Foto: Birgit Hupfeld / Theater Dortmund)

Nein, das leicht verdauliche Zwei-Stunden-keine-Pause-Format hat Sascha Hawemann für seine Dortmunder Bühnenfassung von Dostojewskijs Roman „Die Dämonen“ nicht gewählt. Deutlich mehr als vier Stunden (plus eine Pause) werden dem Publikum bis zum Ende der Unruhen und des Protagonisten Werchowenskij abverlangt – vorausgesetzt, es hält bis zum Ende durch. Viele Besucher der Premiere taten dies nicht und verschwanden in der Pause, manche auch schon vorher. Verdenken kann man es ihnen nicht.

Szene mit (v.l.) Christian Freund, Annou Reiners, Alexandra Sinelnikova, Jakob Benkhofer (Foto: Birgit Hupfeld / Theater Dortmund)

Dekonstruktion

Charakterisierungen und Spannungsbögen fehlen weitgehend, dafür sind Deklamationen in den Zuschauerraum hinein zahlreich. Die Akteure werden mit Rampenlicht und Neonröhren diffus erhellt, manchmal schwebt ein Gestell mit Extraneonröhren vom Schnürboden herab. Vermutlich akzentuiert das dann einen Handlungs-Höhepunkt, und mit sehr viel gutem Willen könnte man in alledem entlarvende Dekonstruktion entdecken, wie sie seit einigen Jahrzehnten in Mode ist an vielen deutschen Theatern. Aber es entdeckt sich nichts. Weitere Beigaben, nur der Vollständigkeit halber erwähnt, sind einige Säcke Erde und ein Eimer Kotze (ist natürlich nur Bühnenkotze und stinkt auch nicht), in die jemand zu gegebener Zeit seinen Kopf stecken muß.

Atemlose Hektik

Uwe Schmieder hat zu Beginn und dann einige weitere Male Auftritte als Erzähler Lawrentjewitsch, muß eine gewaltige Menge Text bewältigen, und aus Gründen, die, wie vieles andere hier, nicht recht klar werden, wird ihm dabei atemlose Hektik abverlangt. Weil er aber ein guter, unverwechselbarer Schauspieler ist und seine Vorgaben mit alerter Körperlichkeit erfüllt, gewinnt er mehr Kontur als die meisten anderen auf der Bühne.

Szene mit Andreas Beck, Friederike Tiefenbacher (Foto: Birgit Hupfeld / Theater Dortmund)

Unscharfe Positionen

Kontur erlangen neben Schmieder am ehesten noch Werchowenskij und die Stawrogina, die beiden „Alten“; wiederum liegt das vor allem wohl an den beiden Künstlerpersönlichkeiten Friederike Tiefenbacher und Andreas Beck, bei letzterem zudem aber auch an seiner Leibesfülle, die ihn deutlich vom Rest des Ensembles unterscheidet.

Die anderen jedoch bleiben eher blaß und wirken austauschbar, was, wie bereits bedauert, an der Inszenierung und nicht an den Darstellern liegt. Nur der Vollständigkeit halber sei daher zumindest angemerkt, daß eigentlich natürlich alle Dostojewski-Figuren für unterschiedliche moralische, politische, religiöse, was auch immer Positionen und Unzulänglichkeiten stehen, daß ihre Reflektion das literarische Gewicht des Romans zu einem Gutteil ausmacht. Wenig, sehr wenig davon hat in dieser Dortmunder Inszenierung überlebt.

Vergewaltigung

Immerhin kann man Sascha Hawemann, der hier neben der Regie auch, zusammen mit Dirk Baumann, für die Bühnenfassung verantwortlich zeichnet, nicht vorwerfen, am Text gespart zu haben. Seiner Fassung liegt die Übersetzung Swetlana Geiers mit dem Titel „Böse Geister“ zugrunde. Vermutlich zog er sie bereits bestehenden Dramatisierungen vor (Albert Camus zum Beispiel verarbeitete Dostojewskijs „Dämonen“ 1959 zum Theaterstück „Les possédés“), um in einer eigenen Dramatisierung ungehemmt eigene Schwerpunkte setzen zu können. Der zurückliegenden Vergewaltigung der minderjährigen Matrjoscha durch den Umstürzler und Gutsbesitzerinnensohn Stawrogin wird somit gehörig Raum gegeben, doch revolutionäre Diskussionen verpuffen im hitzigen Aktionismus, müssen schlimmstenfalls die Grundierung abgeben für kindischen Bühnenklamauk, wenn etwa die Revolutionäre sich unfähig für eine Abstimmung zeigen.

Strahlendes Ich

Prägendes Element im Bühnenbild (Wolf Gutjahr) ist übrigens ein in weißem LED-Licht erstrahlender, etliche Meter hoher russischer Buchstabe, der aussieht wie ein auf links gewendetes lateinischen „R“. Er wird „ja“ ausgesprochen und heißt auf deutsch „ich“. Wahrlich bedeutungsschwer, betroffen machend geradezu, wenn man es denn weiß.

  • Termine: 6., 12., 13., 21. Dezember 2019
  • 12., 16., 26. Januar 2020, 22. Februar 2020.
  • Beginn wegen Überlänge bereits um 18:00 Uhr
  • www.theaterdo.de



Vorgestern passiert, erst heute im Blatt – keine Hexerei, sondern Schlamperei

„Traktor-Kolonnen schieben sich langsam durch Dortmund“. So verkündet es die Aufmacher-Schlagzeile im heutigen Dortmunder Lokalteil, dessen „Content“ von den Ruhrnachrichten (RN) auch für die hiesige WAZ und die so genannte „Westfälische Rundschau“ (WR) geliefert wird.

Tolle Schlagzeile – nur leider einen Tag zu spät in der Zeitung. (Von den Ruhrnachrichten gelieferter Bericht in der WAZ vom 27. November 2019)

Ganz tolle Schlagzeile – nur leider einen Tag zu spät in der Zeitung. (Von den Ruhrnachrichten gelieferter Bericht in der WAZ vom 27. November 2019)

Die letztgenannte Zeitung ist, man weiß es in der Region, nur noch ein Phantom; ganz ohne eigene Redaktion. Seitdem das so ist, glauben offenbar manche beim verbliebenen Platzhirsch, also den Ruhrnachrichten, sie könnten sich schier alles erlauben. Ein mögliches Motto: Kommste heut‘ nich‘, kommste morgen. Ein weiterer möglicher Leitsatz: Print ist uns eh egal, Hauptsache, es steht in unserem Internet-Auftritt…

Wir halten fürs Protokoll fest, dass die oben zitierte Schlagzeile am heutigen Mittwoch, 27. November 2019, im Druck erschienen ist. Zumindest in der WAZ. Ob die RN es im eigenen Produkt auch so gehalten haben, wage ich zu bezweifeln (mag es aber nicht überprüfen, weil ich mir dazu nachträglich die RN besorgen, vulgo kaufen müsste). Das Ereignis, das da geschildert wird, trug sich jedenfalls bereits am Montag zu, mithin am 25. November 2019, und zwar morgens bzw. tagsüber. Haben die RN-Leute die Berichterstattung etwa zu spät geliefert – oder haben sie bei der WAZ gepennt? Fast schon egal. Das Ergebnis ist auf jeden Fall desolat.

Man muss wahrlich keine Journalistenschule besuchen oder bei einer Zeitung volontieren, um zu wissen: Vorgänge von gewisser Tragweite haben am nächsten Tag im Blatt zu stehen! Und nicht erst am übernächsten. Punkt.

Soll die nächste Titelzeile etwa lauten: „Blattmacher schieben sich langsam durch Dortmund“? Und wie durch schiere Hexerei liegt schon zwei Tage später ein Artikel gedruckt vor… Sarkasmus beiseite. Es ist natürlich kein Hexenwerk, sondern Schlamperei.

In derselben Ausgabe steht auch schon der Fortgang der Geschichte

Besonders peinlich wird die kaum glaubliche Verzögerung, weil in der heutigen Ausgabe des WAZ-Mantelteils auch schon der Fortgang des Bauernprotestes mit den vielen Traktoren erzählt wird. Da sind sie schon längst am Ziel ihrer Sternfahrt, nämlich in Berlin eingetroffen, um massiv gegen die Agrarpolitik der Bundesregierung zu demonstrieren. Unterdessen befinden sie sich im Lokalteil desselben Tages noch in Dortmund und wollen sich erst noch nach Berlin auf den Weg machen. Wie soll man das nennen? Sagen wir’s mal ganz vornehm: Ungleichzeitigkeit.

Alles nur unwichtige Details? Von wegen! Sage niemand, der Traktoren-Auftrieb sei spurlos an Dortmund vorübergegangen! Über weitere Strecken ist der Stadtverkehr zeitweise zum Erliegen gekommen – wie in anderen Städten auch. Also haben viele Tausend Menschen davon gewusst oder haben es gar persönlich erfahren.

Eigentlich müsste sich das Blatt morgen bei den Leserinnen und Lesern für die Fehlleistung entschuldigen. Aber sie haben ja keine papierene Konkurrenz von Belang. Somit müssen sie bis auf Weiteres nichts befürchten. Oder wird es eines Tages frei nach „Gorbi“ heißen: Wer zu spät kommt, den bestrafen die Leser?




Beim Archivieren älterer Zeitungsbeiträge für die Revierpassagen – eine Selbstbegegnung und Selbstbefragung

Die WR-Kultur- und Wochenend-Rdekation, ca. Anfang der 1990er Jahre, der Verfasser dieser Zeilen links vorn sitzend, dahinter (v. li.) Arnold Hohmann, Jürgen Overkott (damals Volontär), Berrens (Sekretariat), Rolf Pfeiffer, Johann Wohlgemuth, Hildegard Dörre. (Foto: Bodo Goeke)

Die WR-Kultur-/Fernseh- und Wochenend-Redaktion, ca. Anfang der 1990er Jahre, noch mit „altertümlich“ klobigem Computer-Gerät nebst mechanischer Schreibmaschine. Der Verfasser dieser Zeilen links vorn sitzend; stehend (v. li.) Arnold Hohmann, Jürgen Overkott (damals Volontär), Christel Berrens (Sekretariat), Rolf Pfeiffer, der damalige Ressortleiter Johann Wohlgemuth und Hildegard Dörre, Leiterin der Wochenendbeilage. (Foto: Bodo Goeke)

Wisst Ihr, womit ich mich seit einiger Zeit plage (und auch amüsiere)? Nun, ich bin dabei, ein kleines Archiv für die Revierpassagen aufzubauen, das ältere Artikel aus meiner „Feder“ umfasst. Weitergehendes steht mir ja nicht zu. Zur Zeit reicht dieser ausgesprochen lückenhafte Rückblick von Anfang 1993 bis 2006, rückwärtige Verlängerungen bis in die 80er Jahre hinein sind vorgesehen (Update: und inzwischen begonnen).

Ab 2007 setzen dann allmählich die Texte für „Westropolis“ und ab April 2011 für die eigentlichen Revierpassagen ein, womit dann endlich auch andere Autorinnen und Autoren ins mehr- bis vielstimmige Spiel kommen. Gut so. Übrigens ist dies just der 4000. Beitrag, der bei den Revierpassagen zu finden ist. Nicht übel, oder?

Immerhin auffindbar

Was das Archiv anbelangt: Der eine oder andere Rückblick in die jüngere kulturelle Revier-Geschichte mag dabei abfallen. Und was soll ich Euch sagen: Es ist schon ein eigenes Ding, dermaßen in die eigene (berufliche) Vergangenheit zu blicken. Dazu gleich noch mehr.

Offenbar nehme ich mich ja selbst wichtig genug, um die eigenen Hervorbringungen der digitalen Mit- und womöglich Nachwelt zu hinterlassen. Muss mir das jetzt unangenehm sein? Wenn man sich zu sehr oder auch gar nicht wichtig nähme, wäre es womöglich gleichermaßen ein Alarmsignal.

Irgendwann im WR-Konferenzraum: das damalige Ensemble der Ruhrfestspiele zu Gast. (WR-Foto)

Irgendwann während der 1980er Jahre im WR-Konferenzraum, als dort noch geraucht werden durfte: das damals noch bestehende, eigene Ensemble der Ruhrfestspiele zu Gast. (WR-Foto)

Vieles ist jetzt schon von gestern oder vorgestern, punktuell meinetwegen auch „historisch“ im Sinne einer deutlich wahrnehmbaren und vom Jetzt abgesetzten Vergangenheit. Sicherlich gibt es prägnantere Zeugnisse jener Zeiten, doch was die Region angeht, dürfte hier die eine oder andere Kleinigkeit zu holen sein.  Vielleicht sucht ja mal jemand nach Dortmunder Theateraufführungen bzw. Kunstausstellungen der 80er oder 90er Jahre des letzten Jahrhunderts. Besser, als wenn es überhaupt nicht auffindbar wäre, nöch?

Frühes Internet, Euro-Einführung, Rechtschreibreform

Zu ahnen sind – etwa gegen Mitte bis Ende der 90er Jahre – die Anfänge des Internets, zunächst noch tastend und zaghaft, später dann immer selbstverständlicher, schließlich auch schon vereinzelt im Überdruss. Sodann die wandelbaren deutsch-deutschen Fährnisse, der Sprung von den DM- in die Euro-Zeiten. Das Hin und Her um die Rechtschreibreform und um die Kulturhauptstadt Ruhr. Du meine Güte, 2010 ist bald auch schon wieder eine Dekade her.

Was subkutan noch alles zu gewärtigen wäre, möchte ich selbst nicht näher untersuchen, es liefe über die Maßen auf Selbstbespiegelung hinaus. Redaktionell ließe sich sagen, dass zeitweise einzelne Rezensionen unwichtiger genommen wurden. Stattdessen sollten – nach dem Willen gewisser Chefredakteure – Alltags-Phänomene aus feuilletonistischer Sicht betrachtet werden. Merksatz, den man nun wirklich nicht mehr hören mag: „Die Leute da abholen, wo sie sind…“ Das war vielleicht gar ein Vorläufer von „Das wird man ja wohl noch sagen dürfen!“ Vom Populären zum Populistischen sind es manchmal nur ein paar Schritte.

Wirkliche Debatten haben unterdessen die überregionalen Zeitungen angezettelt. Gelegentlich bis zum Exzess. Man sprach ja auch hochwichtig von „Debatten-Feuilleton“. Ganz ehrlich: Dazu hatten wir im östlichen Revier nicht die freien Köpfe und nicht die ausreichenden Mittel. Von der Personalstärke ganz zu schweigen.

Anno 1988: Feierliche Zusammenkunft der WR-Mantel- und Lokalredaktionen, vermutlich anlässlich des Wechsels in der Chefredaktion von Günter Hammer zu Frank Bühnte. (Foto: Bodo Goeke)

Anno 1988: Feierliche Zusammenkunft der WR-Mantel- und Lokalredaktionen, anlässlich des Wechsels in der Chefredaktion von Günter Hammer (ganz rechts vorn) zu Frank Bünte (vorn Mitte, direkt links neben der hochgehaltenen Zeitung). (Foto: Bodo Goeke)

Seitenproduktion unter erschwerten Bedingungen

Über viele Jahre hinweg konnte das sehr überschaubare Team sich ja nicht einmal auf die Kulturseite konzentrieren, sondern musste gleichzeitig die Fernseh-/Medienseite sowie zeitweise auch noch die Wochenendbeilage erstellen und dabei etlichen „populären“ Phänomenen hinterher laufen, die einen von Kultur eher ablenkten.

Trotzdem glaube ich, dass wir – angesichts der Verhältnisse – oft ein passables bis achtbares Blatt gemacht haben. Jawoll! Vor allem, wenn man es mit manchen heutigen Entwicklungen im regionalen Kulturjournalismus vergleicht. Hie und da ist Kultur als eigenständiges Ressort ja schon gar nicht mehr richtig vorhanden… Auch hätten wir damals Firlefanz wie gereckte Daumen oder Sternchen-Wertungen nicht mitgemacht.

Technisch geht das rückwärtige Vordringen ins Gestrige so vor sich: Eitel genug, habe ich meine Print-Artikel aus der Westfälischen Rundschau (deren Kulturredaktion ich von 1982 bis 2009 angehört habe – ab 1998 als deren Leiter) über die Jahre hinweg getreulich aufgehoben. Neuerdings gibt es taugliche Apps, mit denen man per Smartphone solche Texte hurtig scannen und in digitale Dateien umwandeln kann. Es ist immer noch ein mühseliges Geschäft, weil die OCR-Programme beileibe noch nicht alle Buchstabenfolgen korrekt erkennen, doch immerhin: Man kommt recht zügig voran.

Woher stammen Schlingensief und Kerkeling?

Damit ich’s nur gestehe: Beim Verarbeiten der alten Texte sind mir vereinzelt auch peinliche Fehler aufgefallen, die „damals“ im hektischen Aktualitäts-Getümmel untergegangen sind. Gewiss: Man hat nach Möglichkeit die Texte der Kolleg(inn)en gegengelesen und selbst gegenlesen lassen. Doch nicht immer waren derlei Bemühungen von Erfolg gekrönt. Andere Ressorts waren da ganz bestimmt nicht besser, ich glaube sogar: Wir haben genauer hingeschaut. Dies und das hat sich freilich „versendet“, wie man in anderen Medien traditionell zu scherzen beliebt. Blöd nur, dass das Gedruckte so hartnäckig stehenbleibt.

Was man nicht alles geknipst hat: Hinweisschild im WR-Aufzug... (Foto: Bernd Berke)

Was man nicht alles geknipst hat: Etagen-Wegweiser im Dortmunder WR-Aufzug… (Foto: Bernd Berke)

Beim Archivieren habe ich die erkannten Fehler selbstverständlich korrigiert. Als da beispielsweise wären: die bodenlose Behauptung, Christoph Schlingensief sei in derselben Ruhrgebietsstadt geboren wie Hape Kerkeling. Humbug! „Schlinge“ stammte aus Oberhausen, Hape aus Recklinghausen. Richtig unangenehm auch ein Buchstabendreher dieser Sorte: „Konservationsstück“ statt „Konversationsstück“. Puh!

Ein andermal habe ich tatsächlich bei einer Uraufführung den Vornamen der (damals wie heute herzlich unbekannten) Stückeschreiberin verhunzt und Eva statt Vera hingesetzt. Nur schwer verzeihlich. Normalerweise gucke ich in derlei Fällen eher dreimal hin. Denn Namen sind eben nicht nur Schall und Rauch. Nichtsdestotrotz ist es mir gleich zweifach passiert, dass ich den Namen von Armin Rohde „geringfügig“ falsch geschrieben habe. Und einmal ist mir der allerpeinlichste Fehler unterlaufen, als ich „Leientheater“ statt „Laientheater“ hingetippt habe. Das tut immer noch richtig weh. Drum schnell noch eine falsche Zahl hinterher: 1972 hätten die „Jungen Wilden“ bei der documenta Furore gemacht? Denkste. Es war natürlich 1982.

Ein ziemlich interessanter Beruf

Schon seltsam, sich selbst Jahrzehnte danach bei solchen Fehlern zu ertappen. Meistens aber waren die Sachen doch ziemlich korrekt, es geht ja insgesamt um mehrere Tausend Artikel. Und auch im Nachhinein bin ich noch mit manchen Beiträgen recht zufrieden oder einverstanden, obwohl ich im Rückblick die eigenen Marotten erkenne – und obwohl das Medium Regionalzeitung in der WAZ-Gruppe (heute Funke-Gruppe) dem Schreiben hie und da recht enge Grenzen gesetzt hat.

Schon allein die Beschränkung auf maximal rund 140 bis 150 Zeilen à 27 Anschläge, ganz ohne Ansehen des Themas… Aber das war noch relativer Luxus, verglichen mit heute, wo es auch mit dem Betriebsklima bei etlichen regionalen Medien hapert. Ich könnte Rösser, Reiter und Gerittene nennen, lasse es aber füglich bleiben.

Viele Jahre lang die zweite, wenn nicht gar die erste „Heimat": Blick in den Raum der WR-Kulturredaktion, anno 2008. (Foto: Bernd Berke)

Viele Jahre lang zweite, wenn nicht gar erste „Heimat“: Blick in die leere WR-Kulturredaktion am Brüderweg 9, anno 2008, nunmehr mit Flachbildschirmen. (Foto: Bernd Berke)

Und weiter: Ja doch, man hat über die Jahrzehnte einen ziemlich interessanten Beruf ausgeübt. Manchmal hat es sich schön geballt. Etwa so: Am einen Tag ein Konzert von Neil Young erlebt, kurz darauf den großen Frank Sinatra (1993). Oder eine Ausstellung mit Christo. Bei ein- und derselben Buchmesse (1995) mit Rühmkorf und Gernhardt sprechen zu dürfen. Oder so ähnlich. Berühmte Kulturschaffende wie Günter Grass, Gerhard Richter oder David Hockney persönlich erlebt zu haben. Mit schreibenden Menschen wie Martin Walser, Dieter Wellershoff, Harry Rowohlt oder Wilhelm Genazino und etlichen anderen gesprochen zu haben. Wenn auch oft nur unter Zeitdruck in engen Verlagskojen der Frankfurter Buchmesse. Nur zu schade, dass man die entsprechenden Tonkassetten nicht aufgehoben hat, darauf war viel mehr Material, als dann gedruckt erscheinen konnte. Dahin, dahin.

Andere Namen, andere Zeiten

Apropos: Im Rückblick habe ich auch bemerkt, dass ich das Hauptaugenmerk auf eine damals zeitgemäße Autorengeneration gerichtet habe, die inzwischen längst abgetreten ist. Zwar nicht mehr Böll. Und nur noch halbwegs Grass. Aber noch Walser, Ingeborg Bachmann, Enzensberger, Rühmkorf und Handke, sodann (bereits während des Studiums) Brinkmann und Nicolas Born, hernach beispielsweise Alexander Kluge, Botho Strauß, Paul Nizon oder eben Wilhelm Genazino. Jenseits der Landesgrenzen Cees Nooteboom, Milan Kundera, Lars Gustafsson. Um nur einige wenige zu nennen.

Noch deutlicher im Bereich Rock und Pop: Musikalisch in den 60ern und 70ern sozialisiert, war man in den frühen 80ern – wenn auch schon etwas widerwillig – noch halbwegs auf der Höhe. Dann wurde immer klarer: Man hat auch hierin „seine Zeit gehabt“. Der Rückgriff auf die eigenen „Idole“ hat nicht einmal mehr nostalgischen, sondern nur noch historischen Sinn. Wie bitte? Jaja, natürlich war die Musik nie wieder so gut wie damals.

Der um 2005/2006 eingeführte News Desk der WR – nach „Feierabend". (Foto: Bernd Berke)

Der um 2005/2006 eingeführte News Desk der WR – nach Spätschicht-„Feierabend“ abgelichtet. (Foto: Bernd Berke)

Bleisatz, grünes Flimmern usw.

Auch technisch ist so einiges an einem vorübergezogen. Los ging’s wahrlich noch mit Bleisatz, später flimmerten die frühen Computer-Terminals (alias „Tömmels“, wie wir sie nannten) grünlich vor sich hin, das waltete die Firma Atex. Jede Befehlskette war elend umständlich. Es ratterten noch die Fernschreiber („Ticker“) und der nach heutigen Begriffen ungemein langsame Bildfunk der Nachrichten-Agenturen. Wie schneckenhaft die Fotos aus dem Gerät gekrochen sind…

Irgendwann kam dann (Tele)-Fax auf, was einem anfangs geradezu hexerisch modern erschienen ist und neuerdings wieder eine kleine Renaissance erlebt. Dann der „Lichtsatz“, gleichfalls als letzter Schrei wahrgenommen und ebenfalls schon bald veraltet. Schließlich der Ganzseiten-Umbruch, die vielteilige Bildschirm-Wand im Konferenzraum, das Internet, das sich in allen Vorgängen rasant ausbreitete. Nun konnte jede(r) jedem in die Karten gucken. Zuweilen gar in Echtzeit.

Und heute? Online-Abos, Streaming, YouTube-Kanäle von allerhand „Influencern“ und „Aktivisten“, so genannte soziale Netzwerke etc. Eines nicht so fernen Tages wird einem die gedruckte Gazette wie ein liebenswertes Relikt vorkommen. Oder wie ein Kleinod.

_________________________________________

Gar nicht zu vergessen: Nach und nach sind immer mehr Kolleginnen und Kollegen „von früher“ verstorben, mittlerweile auch aus Jahrgängen, die einem nicht fern liegen.




„Berlin Babylon“-Autor Volker Kutscher setzt dem einstigen BVB-Spieler August Lenz ein kleines literarisches Denkmal

Die Dortmunder Recherchen verliefen unspektakulär. Volker Kutscher hat das Fußballmuseum besucht und dort einige Gespräche geführt, er hat sich im Dortmunder Institut für Zeitungsforschung umgetan und sich den Borsigplatz angeschaut.

Der Autor Volker Kutscher (Foto: © Privat / Emons-Verlag)

Der Autor Volker Kutscher (Foto: © Privat / Emons-Verlag)

Es gibt in Dortmund attraktivere Ziele, auf jeden Fall drängt es die Dortmunder, ihren Besuchern den Phoenixsee zu zeigen, vielleicht auch die Gewerbeansiedlungsfläche Phoenix-West, den Fernsehturm und das Westfalenstadion. Doch wenn Kutscher kommt, dann interessiert vor allem die Vergangenheit.

Krimis zu Zeiten der Machtergreifung

Mit seinen Berliner Kriminalromanen aus den 20er und 30 Jahren, in deren Mittelpunkt der zwiespältige, wenngleich nicht unsympathische Kriminalkommissar Gideon Rath steht, hat Volker Kutscher es zum derzeit wohl prominentesten Krimiautor deutscher Zunge gebracht. Schon die bislang sieben Romane verschafften ihm erhebliche Popularität, doch der Fernseh-Mehrteiler „Berlin Babylon“, der nach Motiven vor allem von Kutschers erstem Roman „Der kalte Fisch“ entstand, war sein endgültiger Durchbruch. Auch die folgenden Romane, berichtet Kutscher im Pressegespräch, werden verfilmt und sind zunächst auf „Sky“, später dann öffentlich-rechtlich zu sehen.

Nun gut, mit Dortmund hat Gideon Rath nichts zu tun, und das wird auch so bleiben. Aktuell hat Kutscher in der Stadt für eine kurze Geschichte recherchiert, die er für die Anthologie des Krimi-Festivals „Mord am Hellweg“ zu schreiben beabsichtigt. Ihn interessiert das Jahr 1936, in dem in Berlin die Olympischen Spiele stattfanden und in denen es in Sonderheit auch ein olympisches Fußballturnier gab. Deutschland galt als Favorit, ging aber im Viertelfinale gegen Norwegen mit einem 0:2 ganz unerwartet in die Knie. Das war am 7. August, und es soll das einzige Fußballspiel gewesen sein, das Adolf Hitler in seiner Amtszeit jemals besucht hat. Not amused, der braune Reichskanzler.

Einen Draht zu Fußballgeschichten

So, und jetzt kommt der Dortmund-Bezug. In der deutschen Nationalmannschaft spielte auch August Lenz vom BVB. Und der interessiert Volker Kutscher, der wird in seiner Kurzgeschichte eine tragende Rolle spielen. August Lenz, erzählt Volker Kutscher weiter, wurde später Soldat, überlebte den Krieg, war bis 1949 aktiver Fußballer, später Kneipier, starb in den 70er Jahren.

Wie ist der Autor bloß gerade auf ihn gekommen? „Ich hab’ da so’n Draht dazu“, sagt Kutscher, der wiederholt den Revierfußball der Zwischenkriegszeit recherchierte und Geschichten auch schon bei Schalke ansiedelte. Rivalen, sagt er, war die Vereine natürlich auch damals schon, jedenfalls auf dem Rasen. Aber nicht so wie heute. Man besuchte sich freundschaftlich und freute sich mit, wenn der andere eine Meisterschaft gewann.

Über die Olympia-Niederlage berichteten die damals noch drei Dortmunder Zeitungen relativ ausführlich, schuld war wohl in erster Linie ein reichlich „zahnloser Sturm“. A propos: 1936 ging auch ein heftiges Unwetter über der Stadt nieder, was viele Leute mehr noch als der Sport bewegte.

Nicht mehr als 12 Buchseiten, mindestens ein Mord; und Fußballstar August Lenz kann, da überlebend und nicht vorbestraft, weder Opfer noch Täter sein: Bei diesen knallharten Kriterien wird es auf den Manuskriptseiten recht eng, und Volker Kutscher glaubt deshalb auch gar nicht, daß noch Platz für einen Ermittler sein wird. Aber kurze, komprimierte Kriminalgeschichten können auch gut ohne auskommen, findet er.

Kurzes für das Krimi-Festival „Mord am Hellweg“

Zum „Mord am Hellweg“ (Festivalzeitraum: 19. September bis 14. November 2020) soll die (nunmehr dritte) Anthologie mit Kutschers Dortmund-Geschichte vorliegen. Wieder erscheint die (spannende, wie wir aber doch hoffen wollen) Sammlung im Dortmunder grafit-Verlag, dessen einprägsames Logo die Bände ziert. Und natürlich wissen wir, daß es grafit eigentlich gar nicht mehr gibt, sondern daß es an den Kölner Emons-Verlag verkauft wurde. Trotzdem freut man sich über diese unaufdringliche Erinnerung an eine, wenn auch kurze, Dortmunder Tradition der Kriminalliteratur.

A propos Ermittler: Ihm werden wir ebenfalls beim Hellweg-Festival wiederbegegnen. Volker Kutscher wird dort den achten Gideon Rath-Krimi vorstellen, erstmalig dort aus ihm lesen. Wie auch das kleine Dortmund-Stück wird er im Jahr 1936 spielen, und die Olympischen Spiele werden zumindest die Atmosphäre des Buches prägen. Mehr will der Dichter noch nicht sagen, was man versteht.

Das Ende spielt im Jahr 1938

Ursprünglich, weiß der Kollege von einer Essener Zeitung, war die Gideon Rath-Reihe doch einmal auf acht Bände angelegt, oder? Ja, sagt Kutscher, doch jetzt werden es wohl zehn werden. Es wäre nicht sinnvoll, 1936 aufzuhören. Ihm schwebt ein Ende der Reihe jetzt mit den Pogromen 1938 vor, der „Reichskristallnacht“, als auch dem Gutgläubigsten in Deutschland klarwerden mußte, daß der Weg Nazi-Deutschlands einer in die Katastrophe sein würde, in Untergang und vielmillionenfachen Tod.

Das Krimifestival „Mord am Hellweg“, wir verlassen die zutiefst unerfreuliche Vergangenheit, findet nächstes Jahr mit rund 200 Veranstaltungen zum 10. Mal statt. Ein beachtliches Aufgebot an Krimiautoren wird das Verbrechen in die teilnehmenden Orte tragen, um sodann kurze Geschichten für die Anthologie zu verfassen. Die Liste der „mit fiktiven Auftragsmorden Beauftragten“ reicht von Benedikt Gollhardt (Bönen) bis Melanie Raabe (Witten), „Wilsberg“-Erfinder Jürgen Kehrer (Bergkamen) begegnet uns auf der Liste ebenso wie der langjährige grafit-Autor Horst Eckert (Holzwickede). Erstmalig soll es so etwas wie ein Symposium geben, eine Tagung zur Ästhetik des Kriminalromans (2. bis 4.10.2020).

Ist Dortmund zu groß für dieses Festival-Konzept?

Kleine kritische Schlußbemerkung: „Mord am Hellweg“ ist im Jahr 2002 gestartet mit der Prämisse „kleine Veranstaltungen für kleine Spielorte“. Das war für Städte wie Unna, Soest, Fröndenberg auch goldrichtig. Auch bietet die Kriminalliteratur Veranstaltern die reizvolle Möglichkeit, für vergleichsweise kleines Geld bekannte Namen zu bekommen, man denke nur an die zahlreichen Skandinavier, die uns mit ihren sadistischen Serientätern beglücken.

Dortmund aber paßt nicht so recht in dieses Festivalschema. Hier ist, gerade auch im Spätherbst, auf dem kulturellen Feld einiges los. Deshalb steht zu befürchten, daß die hier angesiedelten „Mord am Hellweg“-Veranstaltungen nur beschränkte Aufmerksamkeit finden werden, sehr zur Unzufriedenheit all jener kleinstädtischen Teilnehmer, die „für Dortmund“ auf schillernde Namen verzichten müssen. Dortmund kriegt Kutscher (in der Anthologie) und die kleinen anderen den weitaus weniger bekannten Rest: Das sollte nicht den Trend des Festivals markieren.




Kreativer Kosmos, künstlerischer Klamauk – Martin Kippenberger in der Bonner Bundeskunsthalle

Ohne Titel: Martin Kippenberger (aus der Serie Window Shopping bis 2 Uhr nachts) 1996. Öl auf Leinwand. Private Collection (Bild: © Estate of Martin Kippenberger, Galerie Gisela Capitain, Cologne/Bundeskunsthalle)

Martin Kippenberger: Ohne Titel (aus der Serie „Window Shopping bis 2 Uhr nachts“), 1996. Öl auf Leinwand. Private Collection (Bild: © Estate of Martin Kippenberger, Galerie Gisela Capitain, Cologne/Bundeskunsthalle)

Was macht Spiderman im Atelier des Malers? Er könnte einfach als Besucher da sein, er könnte als Superheld eine Versinnbildlichung der Machtfülle des Künstlers sein. Er könnte aber auch, als Spinnenmann eben, Produzent jener „Spinnereien“ sein, die das Werk seines Schöpfers in herausragendem Maße prägen – Ausdruck jenes hoch assoziativen Schaffens Martin Kippenbergers, dem die Bonner Bundeskunsthalle jetzt eine große Werkschau ausrichtet.

Das Spiderman-Atelier Kippenbergers, der 1953 in Dortmund geboren wurde und 1997 viel zu früh in Wien starb, steht gleich am Eingang der Ausstellung mit dem etwas sperrigen Titel „BITTESCHÖN DANKESCHÖN“. 360 Arbeiten sind hier ausgestellt, Gemälde, Zeichnungen, Fotos, Plakate, Multiples und so weiter, und sollen eine Annäherung an den Künstler ermöglichen, dem fraglos eine gewisse Neigung zum Dadaismus eigen ist, der so recht aber keiner bestimmten Gruppe oder Richtung zugeordnet werden kann.

Ohne Titel (aus der Serie „Das Floß der Medusa“), 1996. Öl auf Leinwand. (Bild: Estate of Martin Kippenberger, Galerie Gisela Capitain, Cologne / Bundeskunsthalle)

Alles hat er gemacht

Kippenberger hat Fotos gemacht und Holzplatten zu Skulpturen zersägt, er hat wundersam verbogene Straßenlaternen geschlossert und Zäune aufgestellt, Plastikfrösche ans Kreuz genagelt und aus Hotelrechnungen Malgründe gemacht. Er hat, so scheint es, eigentlich alles gemacht, was ihm gerade in den Sinn kam. Vor allem aber war er wohl Maler, wenngleich er eine seiner bekanntesten Bilderserien nicht selbst gemalt hat. „Lieber Maler, male mir“, so der Titel, ließ er nach Fotos von dem Plakatmaler Hans Siebert anfertigen. Und der Betrachter und die Betrachterin mögen nun nachsinnen über den Wert des Originals und darüber, was ein Original ausmacht.

Menschliches Leiden und Niedergang

Im großen Saal im Erdgeschoß der Bundeskunsthalle, wo Kippenberger jetzt ausgestellt ist, dominieren zu Beginn späte Gemälde, von fremder und von eigener Hand geschaffen. Tief beeindruckt der Zyklus „Das Floß der Medusa“, für den Kippenberger das berühmte gleichnamige Gemälde Théodore Géricaults sozusagen thematisch zerlegte, die unterschiedlichen Posen menschlichen Leidens und Niedergangs isolierte. In einem zweiten Schritt stellte er diese Posen für eine Fotoserie nach, die ihrerseits das Ausgangsmaterial für den gemalten Zyklus war und Bilder von einzelnen Körpern, Gliedmaßen, Gesichtern zeigt.

Ohne Titel (aus der Serie „Lieber Maler, male mir“), 1981. Acryl auf Leinwand. (Bild: Estate of Martin Kippenberger, Galerie Gisela Capitain, Cologne / Bundeskunsthalle)

Die Banane war weg

Große Bilder waren das Resultat von Kippenbergers Beschäftigung mit dem Ei, das er nach eigenem Bekunden zum Thema machte, weil die Banane ja schon von Warhol verwendet worden war. Auch die letzte Serie „Window Shopping bis 2 Uhr nachts“ von 1996 ist mit drei Arbeiten verteten. Es sind wohl eher Schaufensterpuppen, die er da gemalt hat, mit verschwimmenden Rümpfen, einmal auch mit vier Beinen, entfernt an Figuren Francis Bacons erinnernd. Auf den ersten Blick könnte man die Serien der letzten Jahre vergleichsweise glatt und gefällig finden; man könnte sie aber auch in Verbindung sehen mit Kippenbergers schwerer chronischer Erkrankung, als Befassung mit qualvoller Körperlichkeit und Vergehen.

Kippenberger arbeitete „mit großer Schnelligkeit, großem Antrieb und großer Empathie“, so Kuratorin Susanne Kleine. Er beherrschte „die Kunst des Weglassens“, „er vermeidet Wertungen in seiner Kunst, er demokratisiert“.

„Nieder mit der Inflation“ (aus der Serie „Die I.N.P.-Bilder“), 1984. Öl, Silikon auf Leinwand. Private Collection (Bild: Estate of Martin Kippenberger, Galerie Gisela Capitain, Cologne / Bundeskunsthalle)

Schrebergarten

Kippenberger thematisierte den Schrebergarten als Analogie zum eigenen und anderer Künstler Schaffen, das in dem Kommentar „Kunst ist Schrebergarten“ seines Mitstreiters Michael Krebber einen Ausdruck fand, er bastelte Zimmerkarussells und stopfte eine Galerie mit eigenen Arbeiten buchstäblich zu, um ein skulpturales Pendant zur notorischen „Petersburger Hängung“ zu schaffen, er malte absurde Richtungsschildchen für die Kasseler „Documenta“, er entwarf Aufkleber, die das berühmte „I Love New York“-Motiv variierten bis hin zu „I love Uhu und Pattex“, und so weiter, und so weiter. Es ist ein großes Verdienst der Bonner Ausstellung, die enorme Vielseitigkeit dieses Künstlers deutlich zu machen und eine Ahnung zu geben von der Komplexität seines Schaffens.

Ausstellungsansicht: „Spiderman im Atelier des Künstlers“ (Foto: Peter-Paul Weiler, 2019 © Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland GmbH)

Die Wilden

In seinen multiplen Bezüglichkeiten war Kippenberger nahe an den Großen der Zunft, an Anselm Kiefer, Sigmar Polke, Jörg Immendorff. Ein Originalgemälde Gerhard Richters, der auch damals schon prominent und teuer war, verarbeitete er kurzerhand zu einer Tischplatte. Aber er war eben auch etwas jünger als die westlichen Malerfürsten, was manche Betrachter veranlaßte, Kippenberger den „jungen Wilden“ zuzuschlagen, die in den 80er-, 90er-Jahren von sich reden machten. Auch da paßte er nicht hin, wenngleich einige „Wilde“ zu seinen Freunden zählten.

Person des Künstlers bleibt rätselhaft

Nach Besichtigung der Ausstellung verschwimmt die Person Kippenberger immer noch hinter ihrem Werk. Im hoch assoziativen Geflecht aus alltäglicher Banalität und letzten Menschheitsthemen hat sie sich, unfreiwillig vielleicht, gut versteckt. Oder sollte ihr Versteck ein Gewebe sein? Auch das wäre – rein assoziativ natürlich – eine schöne Erklärung für den Spiderman im Künstleratelier.

  • „Martin Kippenberger – BITTESCHÖN DANKESCHÖN“
  • Bis 16. Februar 2020
  • Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland
  • Helmut Kohl-Allee 4, Bon
  • Di+Mi 10-21 Uhr, Do-So 10-19 Uhr, feiertags 10-19 Uhr
  • Eintritt 10.00 EUR
  • www.bundeskunsthalle.de
  • Sehr empfehlenswerter umfangreicher Katalog 49,00 EUR

Nachbemerkung:

Auch wenn er gewiß kein „typischer Dortmunder“ war, seine Heimatverbundenheit niemals an die, beispielsweise, Emil Schumachers heranreichte – die Hartleibigkeit, mit der Dortmunds fraglos berühmtester zeitgenössischer bildender Künstler in der Stadt nicht wahrgenommen wird, ist frappierend. Weil ein Stadtprobst Coersmeier vor neun Jahren die religiösen Gefühle seiner Mitmenschen durch Kippenbergers gekreuzigten Plastikfrosch verletzt sah und dies in einem Brandbrief der Bezirksvertretung West kundtat, ist kein Gäßchen, kein Plätzchen rund um das „U“ nach ihm benannt worden. Und nie gab es in dieser Stadt eine nennenswerte Ausstellung seiner Arbeiten. (Falls ich mit dieser Aussage falsch liegen sollte, bin ich für eine Richtigstellung dankbar.) Dafür aber Pink Floyd, mit einem finanziellen Verlust im zweistelligen Millionenbereich, was aber niemanden aufregt.

Ein anderer Dortmunder, dem Beachtung eher andernorts zuteil wird, ist Norbert Tadeusz (geb. 1940 in Dortmund, gestorben 2011 in Düsseldorf). Späte Großformate von ihm sind noch bis 2. Februar 2020 im Düsseldorfer Museum Kunstpalast zu besichtigen.




Das Böse schürt Panik im Bilderbuch-London: Gothic-Musical „Jekyll & Hyde“ begeistert sein Publikum in Dortmund

Dr. Jekyll (David Jakobs, Mitte) präsentiert den Spitzen der Gesellschaft seine Pläne. Leider vergebens.  (Bild: Theater Dortmund / Björn Hickmann)

Sein Vortrag ist beherzt, sein Anliegen, gelinde gesagt, ambitioniert. Dr. Jekyll will nichts weniger als das Böse in den Menschen tilgen, ein für allemal. Die Welt wäre dann eine andere, alles Leiden Vergangenheit. Doch das Krankenhaus-Gremium, dem er seine Pläne mit so viel Leidenschaft präsentiert, winkt ab.

Keine Experimente in der Klinik, viel zu teuer, viel zu riskant. Und die Welt ist so, wie sie ist, doch ganz erträglich. Jedenfalls für die Spitzen der Gesellschaft, die hier versammelt sind – für den Bischof, den Offizier, den Richter, die wohlhabende Dame aus dem Großbürgertum und so fort.

Beim Arzt: Lucy Harris (Bettina Mönch) aus dem Rotlichtmilieu, Dr. Jekyll (David Jakobs)  (Bild: Theater Dortmund / Björn Hickmann)

Selbstversuch

Ihre Ignoranz zwingt Dr. Jekyll in den desaströs verlaufenden Selbstversuch. Er wird zum üblen Mr. Hyde, zu einem Schläger, Vergewaltiger und Mörder. Und er hat keinen Einfluss darauf, wann Gut und Böse wechseln. David Jakobs, ein hoch geschätzter alter Bekannter auf der Dortmunder Opernhausbühne, gibt Jekyll wie Hyde eindrucksvoll Stimme und Präsenz.

Zwei starke Frauenrollen

Vor knapp 30 Jahren, die Welle der Musicalbegeisterung war auf dem Höhepunkt, erlebte „Jekyll & Hyde“ die Uraufführung in Houston, Texas. Der Weg ins Verderben verläuft im Musical etwas anders als in Robert Louis Stevensons Novelle, wo es viel Nebel, Ahnen und Raunen, dafür aber, abgesehen von den Opfern, kaum eine Frauenrolle gibt. Die Amerikaner Leslie Bricusse (Buch und Liedtexte) und Frank Wildhorn (Musik) ergänzten das Personaltableau. Lisa ist die Braut des unglückseligen Dr. Henry Jekyll, Lucy das Mädchen aus dem Rotlichtmilieu, das sich in ihn verliebt und das ihn, wenn sie ihm ihre Wunden zeigt, sein zerstörerisches Alter Ego erkennen lässt.

Dr. Jekyll (David Jakobs, rechts) grüblerisch  (Bild: Theater Dortmund / Björn Hickmann)

Begeisterungsfähig

Eine veritable Dreiecksgeschichte wird allerdings nicht aus dieser Konstellation, Dr. Jekyll bleibt der Seinen treu. Aber die Songs der Frauen – Milica Jovanovic als Lisa Carew und Bettina Mönch als Lucy Harris – hinterließen in dieser Dortmunder Produktion unter der Regie von Gil Mehmert den stärksten Eindruck und begeisterten das sowieso schon äußerst begeisterungsfähige Publikum im ausverkauften Haus restlos.

Grandiose Bühnentechnik

Düster-schöne Kulissen auf der Drehbühne (Bühne: Jens Kilian) lassen ein tadelloses Musical-London des 19. Jahrhunderts aufleben. Nichts Wichtiges fehlt, nicht die (feuchten?) Backsteinmauern, nicht die schummerige Rotlichtkneipe, nicht die wuchtigen Ledersessel. Und auch nicht die zahlreichen Treppen und Treppchen, die man braucht, um die Künstler trefflich zu positionieren. Wenn aber im Keller gespielt werden soll, wo der Doktor sein Laboratorium hat, fährt sehr eindrucksvoll die gesamte Bühnentechnik nach oben.

Die schöne Braut Lisa Carew (Milica Jovanovic) und ihr problematischer Gatte Henry Jekyll (David Jakobs) (Bild: Theater Dortmund / Björn Hickmann)

Märchenhaft

Auch die Kostüme (Falk Bauer) sind zeitgemäß, gemessen an der historischen Wirklichkeit ist die Ausstattung wahrscheinlich hemmungslos übertrieben. Aber das tut dem Ganzen gut und hilft, die blutige Handlung märchenhaft zu halten

In diese Inszenierung kann man sich entspannt hineinfallen lassen, ohne Angst vor unliebsamen Wendungen und Brechungen. Und sich dem glatten Pathos der Melodien hingeben, den kräftig sich reimenden Texten.

Suboptimaler Ton

Leider haperte es aber bei der Textverständlichkeit, was nicht zuletzt – kleines Wermutströpfchen – der Klangmischung anzulasten ist. Sie stieß an ihre Grenzen, wenn mehrere Darsteller sangen, gar noch der Chor beteiligt war. Da wurde es undifferenziert und lästig laut, was der Kunst nicht guttat und in folgenden Veranstaltungen vielleicht zu korrigieren wäre. Die lockere Hand am Lautstärkeregler ging ein wenig auch zu Lasten der untadelig aufspielenden Dortmunder Philharmoniker unter Leitung von Philipp Armbruster, die unter hohen Gesangspegeln mitunter nur eingeschränkt vernehmlich waren.

Mit der Dortmunder Statisterie gelingen eindrucksvolle Bühnenbilder. (Bild: Theater Dortmund / Björn Hickmann)

Massenszenen

Bemerkenswert ist übrigens, dass der Böse bei Bricusse/Wildhorn gar nicht ganz so böse ist. Gewiss, er mordet und wird dafür mit seinem Leben bezahlen müssen; doch er ermordet hochstehende Persönlichkeiten, die es nicht besser verdient haben, wie den Bischof, der sich regelmäßig an Messdienern vergreift.

Auf die Morde reagiert das Musical-Volk hysterisch, was der Dortmunder Inszenierung zu einigen schönen Massenszenen verhilft, mit Zeitungsjungen, einfachen Leuten, Honoratioren, Polizisten und Prostituierten. Das Programmheft erwähnt ausdrücklich die „Statisterie Theater Dortmund“, die ihre Sache hier wirklich gut macht.

Nicht endenwollender Applaus

Stehende Ovationen von allen Rängen und nicht enden wollender Applaus. Es ist ein bewegendes Erlebnis, wenn eine Inszenierung die Erwartungen des Publikums so restlos erfüllt wie jetzt „Jekyll & Hyde“ in Dortmund.

  • Termine: 18., 20., 23., 26. Oktober. 3., 16., 22., 29. November. 18., 19., 28., 29. Dezember.
  • www.theaterdo.de



Vieles hat er ausprobiert: Kay Voges verabschiedet sich nach zehn Jahren von Dortmund mit „Play: Möwe / Abriss einer Reise“

Szene mit Björn Gabriel (Foto: Theater Dortmund/Birgit Hupfeld)

Mehrere rote Vorhänge im Bühnenraum, Gaze vor dem Parkett, ausgebuffte Videoprojektionen und später auch ein bißchen Trockennebel: Die Maschinerie kommt einem vertraut vor, liefert groß, grell und laut ihre eindrucksvollen Bilder, und wenn sie zu Beginn mit unerwartet viel Schwarzweiß aufwartet, so deshalb, weil sie trotz unübersehbaren Dortmunder Wiedererkennungswerts auch Stilzitat ist.

Abgeschaut bei Jean-Luc Godard

Der Regisseur hat sich die Optik der ersten Szenen bei Jean-Luc Godard abgeschaut, bei dessen mehrteiligem quasi-dokumentarischen, sehr reflexiven und hoch gepriesenen Werk „Histoire(s) du cinéma“ („Geschichte(n) des Kinos“) aus dem Jahr 1989. Nur reflektiert der Dortmunder Regisseur, der Reihe nach dargestellt von mehreren Herren aus dem Ensemble, nicht das Kino, sondern das Theater, was fraglos eine Mammutaufgabe ist.

Malena Keil, Ekkehard Freye (Foto: Theater Dortmund/Birgit Hupfeld)

„Volkstheater“

2020 wird Kay Voges nach Wien gehen, nach zehn Jahren Theaterarbeit in Dortmund, und dort als Direktor das „Volkstheater“ leiten. So ist die Spielzeit 2019/2020 eine der Abschiede – vom Chef selbst natürlich, von vielen bekannten Gesichtern des Ensembles, von vielen Menschen vor und hinter der Bühne, wenn man einmal so sagen darf, die gehen werden, wenn die Neue kommt.

Die neue Intendantin soll, wie berichtet, Julia Wissert werden, und zu gegebener Zeit wird hier sehr viel mehr über sie zu lesen sein. Aber jetzt noch nicht. Jetzt geht es erst einmal um Kay Voges’ nach eigenem Bekunden letzte Dortmunder Regiearbeit, eine Collage mit dem etwas störrischen Titel „Play: Möwe / Abriss einer Reise“, uraufgeführt im Großen Haus.

Adam und Eva als Puppen (Foto: Theater Dortmund/Birgit Hupfeld)

Tote Möwe

Die Möwe im Stücktitel ist natürlich eine Tschechow-Anleihe, folienhaft mit ihren Prototypen unterlegt. Wiederholt wird szenisch Bezug genommen auf die Schauspielerin Arkadina und den Schriftsteller Trigorin, erfolgreiche Künstler alle beide, sowie Trepljow und Nina, ihre um Erfolg und Anerkennung ringenden Pendants.

Die (vordem) im Stück real existierende Möwe überlebt das Desaster bei Tschechow ebenso wenig wie Teile des jugendlichen Personals, und schlüssig folgt aus alledem, daß es im Theater keineswegs nur um alte und neue Formen geht, sondern auch um Leben und Tod und alles andere Grundlegende auch.

Caroline Hanke; Ensemble (Foto: Theater Dortmund/Birgit Hupfeld)

Das Ensemble

Unversehens sind wir nun bei der dritten Komponente dieses collagierten Theaterabends angelangt, die man eigentlich für die wichtigste halten könnte: beim Ensemble und bei dem, was es in den vergangenen Jahren so alles gespielt hat. Dieser Aspekt kommt spät, aber heftig ins Spiel; da wettstreiten die Damen, wer von ihnen was in Weiß gespielt hat („Ich trug das Brautkleid in der Dreigroschenoper“), rattern die Namen bedeutender Theaterleute in so schneller Folge über die Leinwand, daß alle Individualität dahingeht und die Summe ihrer Werke an den notorischen Steinbruch denken läßt, in dem sich die Fürsten des Regietheaters gern bedienen, wenn sie ihren inszenatorischen Obsessionen frönen wollen.

Andreas Beck (Foto: Theater Dortmund/Birgit Hupfeld)

„Wie Sophie Rois“

Dem Frust durch fehlende Anerkennung verleiht Bettina Lieder in einem Wutausbruch Ausdruck („Spiel doch mal mehr wie die Sophie Rois“), in der Kloschüssel finden sich spannendste Wendungen, schließlich gar ein roter Faden…

Es sei dahingestellt, wie geschmackvoll die ausufernden Lokus-Passagen sind, die natürlich als Video über die Besucher kommen, aber fleißig ist das alles ohne Frage.

Häschenkostüme

Was aber will (resp. wollte) uns Kay Voges letztlich sagen? Vieles hat er ausprobiert in den letzten zehn Jahren, hat seine Darsteller Weill-Songs singen lassen (was sie nicht sehr gut konnten) oder sie in Häschenkostüme gesteckt und die Revolution ausrufen lassen. Die Schauspielkunst selbst jedoch, die magischen Momente, die sich einstellen können, wenn Menschen Menschen etwas vorspielen, scheint ihn weniger interessiert zu haben.

Die richtigen Menschen findet man auf seiner Bühne folgerichtig oft erst auf den zweiten Blick, nachdem man sie in den Videoprojektionen überlebensgroß längst schon wahrgenommen hat. Auch in „Play…“ ist das so, da sitzt beispielsweise das Alter Ego des grüblerischen Theatermannes rechts hinter der Gaze, spärlich aber stimmungsvoll von einer alten Schreibtischlampe beleuchtet.

Eigene Ideen

Voges hat durchaus noch Autoren inszeniert, etwa den „Theatermacher“ von Thomas Bernhard zur Wiedereröffnung des Großen Hauses. Größte Aufmerksamkeit jedoch wurde ihm zuteil, wenn er eigenen Ideen folgte, wie etwa bei der „Borderline-Prozession“ oder der „Parallelwelt“ in Zusammenarbeit mit dem Berliner Ensemble. In lebhafter Erinnerung bleiben einige Bühnenbilder wie das schwebende Haus in „Der Meister und Margarita“ (2012), das – ebenso wie jetzt jenes in „Play…“ – von Michael Sieberock-Serafimowitsch stammte.

Ensemble-Szene (Foto: Theater Dortmund/Birgit Hupfeld)

Permanent überfordert

Kurz vor Schluß knattern am Dortmunder Premierenabend – mit Jahreszahlen – empörende Ereignisse der vergangenen zehn Jahre in Stichworten über die Leinwand, „Halle“ ist eins der allerletzten. Jedes Stichwort, so will dies wohl verstanden sein, ist eine aktuelle politische Herausforderung für das Theater, auf die es reagieren muß. Und was das Theater eigentlich ist, ist ja keineswegs sicher, wie wir aus den radikalen Fragestellungen zu Beginn de Stücks wissen.

Vermutlich befindet sich der Regisseur also in einer permanenten Überforderungs-Situation, und seine „Zwangsneurose“, als Stichwort wiederholt ins Textgeschehen geworfen, macht es nicht besser. Hoffentlich findet er noch etwas Erholung, bevor er in Wien antritt. Dort spielt man derzeit übrigens ein reiches Repertoire, und man darf gespannt sein, ob Voges dies mit „neuen Formen“ (sic!) des Theaters ändern wird.

Was kommt da auf die Wiener zu?

Bißchen Gesellschaftstratsch noch zum Schluß: Auch Bodo Harenberg hatte seinen Weg ins Theater gefunden, erfolgreicher Dortmunder Verleger und Wahl-Wiener; möglicherweise, aber das ist reine Spekulation, ist er ja gefragt worden, was da auf seine österreichischen Nachbarn zukommt.

  • Termine: 16., 23. und 25. Oktober (jeweils 19.30 Uhr).
    Karten (9 bis 23 Euro) Tel. 0231/50 27 222 und www.theaterdo.de



In diesem Jahr kein Nelly-Sachs-Preis – Jury zieht Entscheidung für Kamila Shamsie zurück

Der befürchtete Skandal um den Dortmunder Nelly-Sachs-Preis (siehe unseren Bericht vom 11. September) ist gerade noch einmal abgewendet worden. Der Ausweg erinnert rein äußerlich ans Verfahren beim (aus ganz anderen Gründen) ins Zwielicht geratenen Literaturnobelpreis, der 2018 nicht vergeben wurde: Es wird also in diesem Jahr kein Nelly-Sachs-Preis verliehen. Kamila Shamsie, die ursprünglich als Preisträgerin ausgewählt worden war, wird die Auszeichnung doch nicht erhalten. Und auch sonst niemand.

Problematische Preisträgerin? Kamila Shamsie. (Foto: Mark Pringle)

Wird den Nelly-Sachs-Preis doch nicht erhalten: Kamila Shamsie. (Foto: Mark Pringle)

Wir geben die Pressemitteilung der Stadt Dortmund mitsamt einer Stellungnahme der Jury des Nelly-Sachs-Preises, die uns heute um 14:43 Uhr per Mail erreicht haben, kommentarlos wieder. Wortwörtlich:

„Die Stadt Dortmund wird ihren Literaturpreis, den Nelly-Sachs-Preis, in diesem Jahr nicht vergeben. In einer Sitzung am Wochenende entschied die achtköpfige Jury, ihre am 6. September getroffene Entscheidung über die Preisvergabe an die Autorin Kamila Shamsie zu revidieren. Gleichzeitig wurde beschlossen, für das Jahr 2019 keine andere Preisträgerin zu benennen. Damit wird der Nelly-Sachs-Preis erst wieder im Jahr 2021 vergeben.

Die Jury des Nelly-Sachs-Preises nimmt dazu wie folgt Stellung:

„Mit Ihrem Votum für die britische Schriftstellerin Kamila Shamsie als Trägerin des Nelly-Sachs-Preises 2019 hat die Jury das herausragende literarische Werk der Autorin gewürdigt. Zu diesem Zeitpunkt war den Mitgliedern der Jury trotz vorheriger Recherche nicht bekannt, dass sich die Autorin seit 2014 an den Boykottmaßnahmen gegen die israelische Regierung wegen deren Palästinapolitik beteiligt hat und weiter beteiligt.

Der § 1 der Satzung des Nelly-Sachs-Preises bestimmt, dass auch ,Leben und Wirken‘ einer Persönlichkeit bei einer Juryentscheidung einzubeziehen sind. Aufgrund der bekannt gewordenen Sachverhalte über die Autorin Kamila Shamsie trat die Jury am 14. September nochmals zur Beratung zusammen.

Die Jury fasste den Beschluss, ihr ursprüngliches Votum aufzuheben und die Preisvergabe an Kamila Shamsie zurückzunehmen. Die politische Positionierung von Kamila Shamsie, sich aktiv am Kulturboykott als Bestandteil der BDS-Kampagne (Boykott-Deinvestitionen-Sanktionen) gegen die israelische Regierung zu beteiligen, steht im deutlichen Widerspruch zu den Satzungszielen der Preisvergabe und zum Geist des Nelly-Sachs-Preises.

Mit dem kulturellen Boykott werden keine Grenzen überwunden, sondern er trifft die gesamte Gesellschaft Israels ungeachtet ihrer tatsächlichen politischen und kulturellen Heterogenität. Auch das Werk von Kamila Shamsie wird auf diese Weise der israelischen Bevölkerung vorenthalten. Dies steht insgesamt im Gegensatz zum Anspruch des Nelly-Sachs-Preises, Versöhnung unter den Völkern und Kulturen zu verkünden und vorzuleben.

Die Jury bedauert die eingetretene Situation in jeder Hinsicht.“




Israel-Boykotteurin sollte Nelly-Sachs-Preis erhalten – Nimmt Dortmunder Jury die fragwürdige Entscheidung zurück?

Die pakistanisch-britische Autorin Kamila Shamsie sollte den mit 15.000 Euro dotierten Nelly-Sachs-Preis der Stadt Dortmund erhalten. Doch nun sieht es so aus, als werde die Entscheidung rückgängig gemacht.

Die alle zwei Jahre verliehene Literatur-Auszeichnung ist der (bislang noch) renommierteste Kulturpreis, den die Stadt zu vergeben hat. Und was ist daran jetzt verkehrt?

Problematische Preisträgerin? Kamila Shamsie. (Foto: Mark Pringle)

Problematische Preisträgerin: Kamila Shamsie. (Foto: Mark Pringle)

Diesmal liegt man mit der Kandidatenkür leider völlig „daneben“. Wie diversen Quellen zu entnehmen ist, zuvörderst den Ruhrbaronen, beteiligt sich die Autorin Kamila Shamsie offenbar ganz bewusst und entschieden am Kulturboykott gegen Israel – im Kontext der so genannten BDS-Kampagne, um die es bereits bei der RuhrTriennale heftigen Streit gegeben hat. Triennale-Intendantin Stefanie Carp musste sich einen unglücklichen, chaotischen und sehr widersprüchlichen Umgang mit dem Thema vorhalten lassen.

Die naturgemäß apologetische Jury-Begründung für die jetzige Dortmunder Entscheidung zum Nelly-Sachs-Preis findet sich hier. Die etwas verschwurbelte Diktion deutet darauf hin, dass man sich von rein literarischen Erwägungen hat (ver)leiten lassen – ganz ohne Rücksicht auf politische Aspekte, was in diesem Falle wenigstens naiv ist. Oder waren da gewisse Zusammenhänge gar nicht bekannt? Dann wäre es fahrlässig zu nennen. Inzwischen hat die Stadt recht unmissverständlich Stellung bezogen (siehe unten).

Der jetzige Vorfall (oder wohl treffender: Skandal) ist mindestens so gravierend wie die erwähnten Vorgänge bei der RuhrTriennale, wurde doch mit der allerersten Preisträgerin und zugleich Namensgeberin Nelly Sachs (1891-1970) im Jahr 1961 in Dortmund eine herausragende Dichterin geehrt, die mit ihrem Werk auch und vor allem für jüdische Traditionen und Belange einsteht, jedoch niemals platt parteilich, sondern in höchst einfühlsamem Geiste.

Nelly Sachs als junge Frau im Jahr 1910. (Wikimedia Commons / gemeinfrei / Fotograf(in) nicht namentlich bekannt) - Link: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Nelly_Sachs_1910.jpg

Nelly Sachs als junge Frau im Jahr 1910. (Wikimedia Commons / gemeinfrei / Fotograf(in) nicht namentlich bekannt) – Link: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Nelly_Sachs_1910.jpg

Die in Berlin geborene Nelly Sachs war eine deutsch-schwedische Schriftstellerin jüdischer Herkunft. Sie war eine Angehörige des gebildeten jüdischen Bürgertums, das einst in Deutschland tief verwurzelt war und damals das gesamte Kulturleben nachhaltig geprägt hat – bis die Nazis die Macht an sich rissen. Vom NS-Regime wurde Nelly Sachs drangsaliert, so dass sie 1940 nach Schweden flüchtete; gerade noch rechtzeitig, um dem Abtransport in ein Lager zu entgehen.

Den Dortmunder Nelly-Sachs-Preis erhielt sie 1961, 1966 bekam sie den Literaturnobelpreis „für ihre hervorragenden lyrischen und dramatischen Werke, die das Schicksal Israels mit ergreifender Stärke interpretieren“.

Wie verhält sich zu all dem der Israel-Boykott der jetzigen Preisträgerin? Steht er nicht dem Geist und dem Sinn des Werkes von Nelly Sachs völlig fern oder gar diametral entgegen? Muss man die Preisvergabe nicht einen eklatanten Fehlgriff nennen?

Noch mehr Fragen: Ob es Proteste bei einer etwaigen Preisverleihung am 8. Dezember geben würde, zu der die Autorin nach Dortmund anreisen wollte? Ob aus den Reihen früherer Preisträger vielleicht gar jemand die Auszeichnung zurückgeben wird? Wüste Spekulation, sicherlich. Aber auch nicht auszuschließen.

Jedenfalls muss man sich schon darauf gefasst machen, dass Dortmund in den politisch hellhörigen Feuilletons zumindest bundesweit, wenn nicht international ins Zwielicht gerät. Man kann auch in diesem Sinne nur inständig hoffen, dass die Preis-Entscheidung schnellstens revidiert wird.

________________________________________

Stellungnahme der Stadt Dortmund:

Preisvergabe überdenken

Inzwischen liegt eine Stellungnahme der Stadt Dortmund vor. Im Wortlaut:

„…Zum Zeitpunkt der Entscheidung war keinem der Jurorinnen und Juroren bekannt, dass Kamila Shamsie in der Vergangenheit die Kampagne BDS (Boycott, Divestment and Sanctions) unterstützt hat. In der Vorbereitung der Jury ergaben sich keinerlei Hinweise auf Aussagen, die mit BDS in Verbindung stehen. BDS hat das Ziel, Israel wirtschaftlich, politisch und kulturell zu isolieren.

Die Autorin hat am Mittwoch, 11. September, persönlich Stellung bezogen und ihre Unterstützung für BDS bekräftigt.

Die neunköpfige Jury des Nelly-Sachs-Preises wird vor dem Hintergrund dieser veränderten Ausgangs- und Informationslage in den nächsten Tage zusammentreten, um ihre Entscheidung im Rahmen eines satzungsgemäßen Verfahrens (zu) überdenken. Über das Ergebnis werden wir schnellstmöglich informieren.

Der Rat der Stadt Dortmund hat sich im Februar 2019 klar positioniert und eine „Grundsatzerklärung des Netzwerkes zur Bekämpfung von Antisemitismus in Dortmund“ beschlossen. Darin heißt es u. a., dass „…Organisationen, Vereine(n) und Personen, die etwa (…) zu antijüdischen oder antiisraelischen Boykotten aufrufen, diese unterstützen oder entsprechende Propaganda verbreiten (z. B. die Kampagne ‘Boycott – Divestment – Sanctions (BDS)‘ keine Räumlichkeiten oder Flächen zur Verfügung gestellt werden.“




Rundschauhaus und Krügerhaus – zwei Dortmunder Gebäude gaukeln Tradition vor

Das Dortmunder Rundschauhaus, in dem sich keine Rundschau mehr befindet. (Foto: Bernd Berke)

Sterile Anmutung: das Dortmunder Rundschauhaus, in dem sich keine Westfälische Rundschau mehr befindet… (Foto: Bernd Berke)

Dies fiel mir kürzlich bei einem Gang durch die Dortmunder Innenstadt auf:

Es gibt seit Anfang 2013 keine Westfälische Rundschau mehr, jedenfalls keine mehr mit eigener Redaktion. Es gibt auch keine Buchhandlung Krüger mehr. Es gibt aber immer noch ein Rundschauhaus (am Brüderweg) – und es gibt ein Krügerhaus (am Westenhellweg). So ganz kommen die Nachfolger ohne die lokalen Traditionen doch nicht aus. Einstweilen.

Während der Schriftzug des Krügerhauses noch einigermaßen authentisch anmutet, ist derjenige des Rundschauhauses nur noch eine vage Reminiszenz ans Original. Er wirkt steril und blutleer.

Diverse Branchen haben sich in den beiden anderweitig angestammten Bauten niedergelassen – von Anwaltskanzleien bis zum Modehändler. Im Sinne einer Wiedererkennbarkeit haben sie sich jedoch kollektiv für die althergebrachten Namen entschieden. Sie segeln also sozusagen unter fremder, wenn nicht gar unter falscher Flagge. Nun gut, von Markenpiraterie wollen wir lieber nicht reden, sonst wird’s am Ende noch justiziabel… Dass hier etwas vorgegaukelt wird, lässt sich freilich behaupten.

Übrigens hingen die Buchhandlung Krüger und die Westfälische Rundschau historisch zusammen, es gab zumindest einige Berührungspunkte. Aber das ist eine andere Geschichte, die hier nicht erzählt werden soll.

Das Dortmunder Krügerhaus, in dem sich keine Buchhandlung Krüger mehr befindet. (Foto: Bernd Berke)

…und das Dortmunder Krügerhaus mitsamt Passage, in der sich keine Buchhandlung Krüger mehr befindet. (Foto: Bernd Berke)




Ein Mammut als „Puzzle“ und tonnenschwere Vorzeit-Brocken – Dortmunder Naturkundemuseum füllt sich allmählich wieder

Ein ziemlich großes „Puzzle": das Dortmunder Mammut. (Foto: Bernd Berke)

Ein ziemlich großes „Puzzle“: das Dortmunder Mammut. (Foto: Bernd Berke)

Das Mammut ist da! Zwar eröffnet – wenn nun endlich alles glatt läuft – Dortmunds Naturkundemuseum doch erst im nächsten Jahr, aber es treffen nun sozusagen Tag für Tag neue Schaustücke ein. Wohl das spektakulärste ist just das fast vollständige Skelett eines weiblichen Wollhaar-Mammuts mit immerhin 2,45 Metern Schulterhöhe.

Europas führender Mammut-Experte, Dick Mol aus den Niederlanden, erläuterte heute bei einer Pressekonferenz in Dortmund die Geschichte hinter diesem imposanten Tier aus der Weichsel-Kaltzeit (vor rund 30.000 bis 40.000 Jahren). Es handelt sich nämlich nicht um ein einzelnes Wesen, sondern quasi um ein Puzzle aus vielen, vielen Einzelteilen.

Vor sechs Jahren von den Dortmundern befragt, ob er wisse, wo Mammuts auf dem Markt seien, musste Dick Mol zunächst passen. Zumal in Sibirien wird schwunghafter (und nicht immer ganz legaler) Handel mit Überresten der Vorzeit-Wesen betrieben. Doch darauf wollte man sich nicht einlassen. Statt dessen griff man auf Abertausende von Einzelteilen zurück, die mit Schleppnetzen aus der Nordsee (Küste der niederländischen Provinz Zuid-Holland) geborgen wurden. Zur Zeit der Mammuts war das Gebiet trockenes Festland, durch das der Ur-Rhein als mächtiger Strom geflossen ist. In der Steppe ringsum lebten damals auch Wollhaar-Nashörner, Antilopen und Wildpferde.

Lauter Einzelteile aus der Nordsee

Aus all den Partikeln aus der Nordsee setzte man – unter Dick Mols Anleitung – tatsächlich nach und nach in langwieriger Kleinstarbeit (siehe Zeitraffer-Film am Ende des Beitrags) die Mammut-Kuh zusammen. Sämtliche Teile mussten sorgsam ausgewählt werden, sie mussten von einem weiblichen Tier bestimmten Alters und von jeweils passender Größe stammen. Männliche Exemplare wuchsen lebenslang, während die weiblichen, sobald einmal trächtig gewesen, das Wachstum einstellten und ungleich kleiner blieben. Genau das aber war das richtige Maß für Dortmund, wo die relativ geringe Deckenhöhe keinen Platz für den monumentalen Knochenbau eines ausgewachsenen Mammut-Bullen geboten hätte.

Man schaue sich das an! Das Dortmunder Mammut ist allem Anschein nach dermaßen kundig zusammengesetzt worden, dass wohl nur Experten auf den Puzzle-Gedanken kommen würden. Einzige Ausnahme von der Regel: Während alle Teile von wirklichen (aber eben vielen verschiedenen) Mammuts stammen, handelt es sich beim rechten Stoßzahn um eine Nachbildung. Wer bemerkt den Unterschied zum linken? Fest steht, dass das Dortmunder Mammut bundesweit seinesgleichen sucht.

Nebenher räumt Dick Mol gleich mit ein paar Legenden auf: Anders als vielfach kolportiert, hätten solche Mammuts keineswegs gleichzeitig mit den Sauriern gelebt, sondern viel später. Auch haben sie nicht in einer veritablen Eiszeit existiert.

Und wer hat den ganzen Mammut-Spaß bezahlt? Zum großen Teil die Sparkasse Dortmund, die 150.000 Euro beisteuerte. Wir vermelden es pflichtschuldigst.

Kraft- und Maßarbeit: Anlieferung eines 2,8 Tonnen schweren versteinerten Baumstamms. (Foto: Bernd Berke)

Kraft- und Maßarbeit: Anlieferung eines 2,8 Tonnen schweren versteinerten Baumstamms. (Foto: Bernd Berke)

Seit 2014 eine schier endlose Umbau-Geschichte

Das Narrativ vom Mammut kann freilich nicht ganz und gar von der misslichen Geschichte des Museums-Umbaus ablenken. Jeglichen Vergleich mit der endlosen Geschichte um den Berliner Flughafen BER wollen wir uns tunlichst verkneifen. Aber eine Gemeinsamkeit gibt’s leider doch: Auch das Dortmunder Naturkundemuseum, im September 2014 für vermeintlich nur zweijährige Umbau- und Renovierungsmaßnahmen geschlossen, wartet und wartet immer noch auf seine (Wieder)-Eröffnung.

Eigentlich hätte es (nach einer Firmeninsolvenz sowie etlichen Planungs- und Bauproblemen) in diesem Sommer endlich so weit sein sollen, doch müssen wir uns noch ein weiteres Jahr gedulden. Ab Sommer 2020 (genaueres Datum folgt vermutlich im nächsten Januar), so Museumsleiterin Dr. Dr. Elke Möllmann, sollen die Besucher wieder in jenes Museum strömen, das vor der Schließung mit rund 80.000 Besuchern im Jahr das meistbesuchte der Stadt gewesen ist – und diesen Spitzenplatz künftig wieder erobern dürfte.

Schade, schade. Durch all die Verzögerungen mussten beispielsweise einige Grundschul-Jahrgänge ohne diesen Museumsbesuch auskommen, der doch gerade mit kindgerechten Themen und Exponaten (lebensgroßes Dino-Modell der Gattung Iguanodon mitsamt passenden Original-Fußspuren usw.) aufwarten kann.

Nach Jahren endlich aus der Schutzfolie heraus: Dino-Modell der Gattung Iguanodon. (Foto: Bernd Berke)

Nach Jahren endlich aus der Schutzfolie heraus: Dino-Modell der Gattung Iguanodon. (Foto: Bernd Berke)

Wenn der Dino erzählen könnte…

Besagter Dino, stattliche fünf Meter hoch, steckte in all den Umbau-Jahren unter einer Schutzfolie. Wenn der Bursche erzählen könnte! Elke Möllmann jedenfalls stellt unumwunden fest, dass die Verzögerungen „eine Belastung für unser ganzes Team“ gewesen sind.

Nun aber der Blick nach vorn. Jetzt seien die Bauarbeiter „ausgekehrt“ (Möllmann). Und jetzt kann das Haus endlich wieder eingeräumt werden. Stück für Stück. Gerade heute wurde von einer Fachspedition ein 210 Millionen Jahre alter, 2,8 Tonnen schwerer versteinerter Baumstamm angeliefert und mühsam auf ein Podest gehievt. Ebenfalls frisch eingetroffen und gleichfalls tonnenschwer: ein mächtiger Steinkohlebrocken, der nicht mehr von der Lore genommen werden darf, weil er sonst in seine Bestandteile zerfiele. Er repräsentiert einen Aspekt des Karbon-Zeitalters, wie denn überhaupt weite Teile der gänzlich neu konzipierten und vielfach auch neu „möblierten“ Schau eine imaginäre Reise durch die Erdzeitalter ermöglichen sollen. Auch Exponate, die man schon zu kennen glaubt, werden dabei in andere Kontexte gestellt.

Neues Konzept mit entschieden regionaler Ausrichtung

Neu ist die entschieden regionale und oft gar lokale Ausrichtung des Museums. Wo irgend möglich, wurden Exponate aus Dortmund und Umgebung beschafft. Nur zwei Beispiele: Das erwähnte Kohlestück etwa stammt aus der 1987 geschlossenen Zeche Minister Stein in Dortmund-Eving. Versteinerte Ammoniten (längst ausgestorbene, schneckenförmige Kopffüßler) kamen beim Bau der Dortmunder U-Bahn zutage.

Insgesamt soll der Vermittlungs-Ansatz nicht so trocken und lehrhaft daherkommen wie ehedem, sondern „ganzheitlicher“, ökologischer und lebensnäher. So werden auch Fragen des Klimawandels durch die Jahrmillionen und Jahrtausende eine gewichtige Rolle spielen. 1500 Quadratmeter Ausstellungsfläche stehen für all das zur Verfügung.

Das Haus braucht einen anderen Namen

Die erste Sonderausstellung nach der Wiedereröffnung wird sich um die Fährnisse der Umbauzeit ranken. Sicherlich kein Blick zurück im Zorn, sondern Erinnerungen mit leichten Seufzern und nachträglichem Goldrand. Außerdem wird’s ein Buch über das Dortmunder Mammut geben. Wenn das nicht elefantös ist!

Museumsleiterin Elke Möllmann möchte dem geänderten Konzept auch in der Namensgebung gerecht werden. Gesucht wird also eine neue Bezeichnung für das Haus. Vorschläge können bis zum 6. September 2019 an folgende Adresse gemailt werden:

NeuerNameMuseum@dortmund.de

_____________________________________________

Ein Zeitraffer-Video vom Aufbau des Mammuts ist bei YouTube zu sehen. Hier der Link:

 

 

 




Zum Tod von Brigitte Kronauer – eine Impression aus dem Herbst 2005

Ein großer Verlust für die deutsche Gegenwarts-Literatur: Die in Essen geborene Schriftstellerin Brigitte Kronauer ist mit 78 Jahren gestorben. Hier noch einmal eine kurze Impression von einer Lesung in Dortmund. Es war im November 2005. Brigitte Kronauer hatte kurz vorher den Büchner-Preis erhalten:

Brigitte Kronauer im November 2013 im Düsseldorfer Heine-Haus. (Wikimedia Commons: Udoweier / Link zur Lizenz:https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/)

Brigitte Kronauer am 13. November 2013 im Düsseldorfer Heine-Haus. (Wikimedia Commons: Udoweier / Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/)

Von Bernd Berke

Dortmund. Erst seit wenigen Tagen ist Brigitte Kronauer (64) Trägerin des Büchner-Preises. Mit derlei höchsten Weihen versehen, war sie jetzt zu einer Lesung der Dortmunder Reihe „Kultur im Tortenstück“ zu Gast.

Man darf die Veranstaltung im Harenberg City-Center getrost als Rarität bezeichnen. Wie die Autorin im persönlichen Gespräch sagt, scheut sie vor längeren Lesereisen aus guten Gründen zurück. Sich dermaßen öffentlich preiszugeben, vertrüge sich nicht mit dem innigen Wunsch, die eigene Wahrnehmung der Welt in Ruhe reifen zu lassen.

Kronauer liest u. a. aus dem soeben bei Klett-Cotta erschienenen Sammelband „Feuer und Skepsis – Einlesebuch“. Auch hat sie ihr Reclam-Bändchen „Die Tricks der Diva“ bei sich. Dass sie in dieser gelben Heftreihe erscheint, ist ein Signal: Achtung, Klassikerin der Gegenwart! Sehr gepflegte Sprache! Bei ihrem Vortrag scheint hin und wieder die Lehrerin durchzuschimmern, die die gebürtige Essenerin einst (bis 1974) gewesen ist. Also lauscht man brav.

Deuten auf eine Art Klassikerstatus hin: Texte im Reclamheft. (© Reclam)

Deuten auf eine Art Klassikerstatus hin: Texte im Reclamheft. (© Reclam)

Manchen Kritikern galt sie zu Zeiten als „abgehoben“ und weltabgewandt. So ziemlich das Gegenteil ist der Fall. Alltägliches Frauendasein, Tiere, Natur, Kinder – sind das etwa entlegene Sujets? Sie greift zunächst mitten ins Leben hinein, wendet es freilich um und um, legt feinmaschige Sprachnetze darüber.

Es öffnen sich somit Blicke in andere Sphären des Bewusstseins, durch die Ritzen gewohnter „Wirklichkeit“ hindurch: Man vernimmt in Dortmund eine schwermütige und doch trostreiche Kindheitserinnerung über existenzielle Hilflosigkeit vor einer allzu üppigen Portion Griesbrei. Eine Kindergarten-Geschichte handelt von verwöhnten, sündhaft teuer herausgeputzten Sprösslingen piekfeiner Mütter. Gleichsam als „Untote“ geistern die vordem so goldigen Kleinen schließlich umher. Ein nobles Viertel in Kronauers Wohnort Hamburg bildet hierfür die Folie.

Eine weitere Passage spielt auf der Frankfurter Buchmesse, wo eine glamouröse Filmschönheit ihre gehabten Liebschaften öffentlich ausbreitet. Hier gleitet die Perspektive aus der vermeintlich banalen Außenansicht ins Innenleben. Aber geht es dort wesentlich reicher zu? Ein kurzer Absatz der Natur-Ekstase, für den Kronauer sich beim Dortmunder Publikum vorab entschuldigt („Es dauert auch nur eineinhalb Minuten“), klingt denn doch gar nicht so exzessiv. Nein, abgehoben schreibt sie nicht, sondern durchaus erdnah; behutsames Entschweben inbegriffen.

__________________

Der Text stand am 14. November 2005 in der Westfälischen Rundschau.




Die Stadt, die auf ihre Autoren sch… – eine Polemik des Dortmunder Schriftstellers Jürgen Brôcan

Gastautor Jürgen Brôcan, u. a. Träger des Literaturpreises Ruhr, ist gar nicht gut auf die Stadt Dortmund zu sprechen. Eine Polemik des Autors:

Der Dortmunder Schriftsteller Jürgen Brôcan mit seinem Kater Whitman. Brôcan hat für den Hanser-Verlag Walt Whitmans berühmte Gedichtsammlung „Grasblätter" übersetzt. (Foto: privat)

Der Dortmunder Schriftsteller Jürgen Brôcan mit seinem Kater Whitman. (Foto: privat)

Die Stadt Dortmund ist innerhalb und außerhalb der Bundesrepublik leider nicht unbedingt für die gegenwärtig in ihr lebenden Schriftsteller bekannt. Ein wenig zu Unrecht, möchte man protestieren, denn es gibt hier durchaus eine Handvoll sehr wichtiger und sehr guter Autorinnen und Autoren, die Bedeutung über das Regionale hinaus haben. Doch das ist dem Oberbürgermeister und anderen Institutionen völlig gleichgültig, das kulturelle Renommee dieser Stadt wird sich also auch weiterhin im eher Unbedeutenden verlieren müssen. Wieder einmal hat sich die viel beklagte Provinzialität selbst geschaffen. Aber eines nach dem anderen…

Ich schreibe seit einigen Wochen in winzigsten Intervallen. Nicht weil mein Gedankenfluß immer wieder stocken würde, sondern weil ich auf die Augenblicke warten muß, in denen die Lärmmaschinen schweigen. Für das Warten auf diese Augenblicke braucht man Nerven, die dicker und haltbarer sind als Stahlseile. Noch ist man geschädigt von einer monatelangen Renovierung im Nachbarhaus, da lauten die Schreckensworte nun: „Abwasserkanalsanierung“, „Verdichter“, „Bagger“.

Baulärm ermordet Texte

Die Baustelle schleicht die Straße hinauf, hat jetzt fast mein Haus erreicht, doch schon zittern Fußböden und Wände, der Monitor auf meinem Schreibtisch wackelt gut sichtbar, die Bücherregale stöhnen, Gläser klirren, die Fensterrahmen knacksen, heute morgen gab sogar die Uhr an der Wand ungewohnte Geräusche von sich. Und einzelne, unrhythmische Stöße haben die Wirkung eines Tritts gegen das Schienbein; geschähe etwas Ähnliches auf der Straße, würde man vielleicht von Körperverletzung sprechen. Aber als Anwohner ist man jeglicher Rechtsmittel beraubt.

Und wessen man auch beraubt ist, neben dem Nervenkostüm, das ist die Kreativität. Unmöglich, unter solchen Umständen halbwegs konzentriert zu arbeiten. Für den freiberuflichen Schriftsteller stellt eine solche Situation eine Existenzbedrohung dar – monatelang nicht schreiben zu können bedeutet, monatelang kein Einkommen zu haben. Für solche Fälle müsse man vorsorgen, empfiehlt die Rechtssprechung vollmundig z.B. den von Straßenbaumaßnahmen betroffenen Unternehmen. Dem Schriftsteller, der sich von einem Monat zum anderen müht am unteren Ende der Fahnenstange, klingt das wie bitterster Hohn. Ich spreche erst gar nicht von den vielen Texten, die wie ungeborene Säuglinge abgetrieben oder gar nicht erst gezeugt werden –: Textmorde, Textdürre.

Wäre die Stadt Dortmund stolz auf ihre Schriftsteller, würde sie in solchen Fällen eine irgendwie geartete unbürokratische Hilfe anbieten. Aber sie ist nicht stolz. Sie haßt die Schriftsteller andererseits auch nicht, jedenfalls nicht erkennbar. Sie sind ihr einfach nur schnurzpiepegal.

Ein Brief an den Oberbürgermeister

Am 1.7.2019 habe ich dem Oberbürgermeister der Stadt Dortmund einen Brief geschrieben, in dem ich meine Situation erläutere, mit Verweis auf meine verschiedenen Auszeichnungen; unter anderem heißt es dort:

„Sehr geehrter Herr Sierau, ich möchte Sie bitten, im Rahmen Ihres Amtes als Oberbürgermeister, dem auch der Tiefbau untersteht, einmal darüber nachzudenken, in welche mißliche Lage solche Baumaßnahmen den auf eine gewisse Ruhe angewiesenen Kulturschaffenden bringen. Mir ist die Notwendigkeit dieser Maßnahmen natürlich – leider – durchaus bewußt, ich finde aber, sie dürfen nicht allein zu meinen Lasten und damit zu Lasten der Kultur stattfinden. ,Stadt Dortmund saniert Abwasserkanal – Schriftsteller kann sein Haus nicht mehr bezahlen und muß ausziehen‘: soll am Ende der Maßnahmen eine solche Schlagzeile stehen?

Würden Sie und die Stadt Dortmund ein irgendwie geartetes Entgegenkommen finden, um mir die gegenwärtige, ganz textarme Situation zu erleichtern, können Sie sich meines Dankes sicher sein. Wäre es nicht schön, ich könnte einmal z.B. in einer international gelesenen Zeitung darüber berichten, daß sich die für Kultur nicht sonderlich bekannte Stadt Dortmund der Probleme eines Schriftstellers annähme?“

Notwendigkeit der Instandhaltung

Bereits am 4.7. erreicht mich ein Brief von einer leitenden Stelle der Stadtentwässerung Dortmund, an die meine „Zuschrift“ zuständigkeitshalber zur Beantwortung weitergeleitet worden sei. Der Unterzeichner betont die Notwendigkeit der Instandhaltung von Abwasseranlagen (die von mir nie bezweifelt wurde) – in einer recht phrasenhaften Sprache. Er geht nicht im geringsten auf mein Anliegen ein und bittet mich zum Schluß pauschal um „Verständnis“. Ist es echter Hohn, ist es nur Desinteresse, die da sprechen? Wer kann das entscheiden?

Immerhin freundlich und mitfühlend hat mir das Kulturbüro geantwortet. Doch auch ihm sind die Hände, sprich: die Mittel gebunden. Man verweist mich auf soziale Hilfeträger oder auf die verschiedenen Lesesäle. Also: einen Laptop kaufen und jeden Tag mit mehreren schweren Taschen voller Bücher – denn ich arbeite stets an einigen Projekten gleichzeitig – in die Busse und Straßenbahnen steigen. Unkosten und Aufwand, zu denen mich eine von mir nicht erwünschte Kanalsanierung nötigt. Außerdem: selbst schuld, wer so sensibel ist, daß er sich erst mühsam an eine neue Schreibumgebung gewöhnen müßte.

Also doch lieber zu Hause bleiben, mir den Verstand durchrütteln lassen und aufpassen, daß nicht ein Regal beim Gesang der Verdichter aus den Fugen gerät? Natürlich, täglich gehen Tausende Menschen zu ihrem Arbeitsplatz – aber der ist wahrscheinlich kein Exil, in das sie geschickt werden, ohne Entschuldigung, eiskalt, gleichgültig.

„Am Ende muß ich Mundraub begehen…“

Am Ende werde ich vielleicht mein Haus verlieren, weil ich die monatlichen Raten an die Bank nicht mehr aufbringen kann. Am Ende wird mich vielleicht das Finanzamt der Steuerhinterziehung beschuldigen, weil es nicht glauben kann, wie wenig ich in diesem Jahr verdient habe. Am Ende muß ich Mundraub begehen, weil ich mir nicht mehr leisten kann, etwas zu essen zu kaufen. Vielleicht sollte ich mir überlegen, ein paar Arbeiter schwer zu verletzen, denn im Knast wäre ich zumindest versorgt – am Ende allemal besser, als hier zu sitzen und nichts tun zu können.

Eins weiß ich aber sicher: Ich werde in Dortmund keine Lesung aus meinen Büchern mehr veranstalten – außer der einen, bereits vertraglich vereinbarten – und ich werde keine weiteren Texte mehr über diese Stadt schreiben, die ich mehr als einmal zu einer der interessantesten der Welt erklärt habe; denn ein solches Prädikat verdient sie nicht länger.




Wenn man vom Rathaus kommt, ist man klüger – ein lehrreicher Rundgang durch die Dortmunder Mitte

Teilansicht der Fassade des Alten Stdthauses – mit allegorischen Figuren zur Hanse (links) und zur Industrialisierung (rechts). (Foto: Bernd Berke)

Teilansicht der Fassade des Alten Stadthauses – mit allegorischen Frauenfiguren zur Hanse (links) und zur Industrialisierung (rechts). (Foto: Bernd Berke)

Es ist schon seltsam bestellt um die Wahrnehmung. Da geht man jahraus, jahrein an imposanten Gebäuden entlang – und bemerkt doch rechts und links des Weges nur wenig. So erging’s mir jetzt mal wieder: Bei einer Führung durchs alte und durchs neue Dortmunder Rathaus bzw. Stadthaus war manches zu bemerken, woran man sonst achtlos vorübergeht.

Innenansicht: Treppenhaus des Alten Stadthauses. (Foto: Bernd Berke)

Ich hätte bislang nicht sagen können, dass auf der Fassade des Alten Stadthauses (von 1899, für Verhältnisse im zu 95 Prozent kriegszerstörten Dortmund schon historisch) die Köpfe von drei Kaisern prangen (Karl der Große, Karl IV., Friedrich II.) und – auf eine viel spätere Epoche verweisend – die Namen anderer Hansestädte wie Hamburg, Bremen, Lübeck, Münster und Soest eingemeißelt sind. Außerdem steht da seitwärts noch der stolze Wahlspruch der Stadt in dieser Version: „so fast as doerpen“ („So fest/unbesiegbar wie Dortmund“). Auch das war mir bisher entgangen. Dabei habe ich mir die Außenhaut des Gebäudes doch häufig genug angesehen. Oder habe ich vielleicht nur wie durch einen Schleier hingeguckt und an kurzfristige Vorhaben gedacht?

Ratssilber und Goldenes Buch

Auch habe ich nicht gewusst, dass im 1989 eröffneten neuen Rathaus der einstigen Freien Reichs- und Hansestadt am (hansegerecht rotweiß gepflasterten) Friedensplatz eine gut zugängliche Ausstellung u. a. von Gastgeschenken der internationalen Partnerstädte zu sehen ist, als da sind: Amiens, Leeds, Xi’an, Buffalo, Rostow am Don, Netanya, Novi Sad, Trabzon. In einigen Rathaus-Vitrinen auf den Fluren funkeln überdies Kostbarkeiten wie das altehrwürdige Ratssilber, die kiloschwere Amtskette des Oberbürgermeisters und das Goldene Buch der Stadt. Man muss es eben nur wissen und die Sachen gezielt aufsuchen. Bei eiligen Terminen, die einen sonst hierher führen, nimmt man so etwas einfach nicht zur Kenntnis. Ähnliches dürfte für Bewohner aller Städte gelten; erst recht dort, wo es Unmengen an sichtbarer Historie gibt.

Das Goldene Buch (Gastbuch) der Stadt Dortmund. (Foto: Bernd Berke)

Das Goldene Buch („Gastbuch der Stadt Dortmund“). (Foto: Bernd Berke)

Beim Dortmunder Gruppen-Rundgang mit Anja Hecker-Wolf, die diese und etliche andere Führungen seit vielen Jahren unternimmt, hat man jedoch die nötige Ruhe, um dergleichen Dinge endlich einmal richtig anzusehen.

An diesem Tag nehmen keine Gäste von außerhalb teil, sondern lauter alteingesessene Dortmunder, die schon viel über die Stadt wissen. Trotzdem erfahren auch sie noch so allerlei. Und auch sie haben bis heute gar manches im häufigen Vorbeigehen nicht bemerkt. Wir verraten hier natürlich nur einen Bruchteil und reichen sozusagen ein paar Appetit-Häppchen.

Kleine Tierschau mit Eber, Adler und Nashorn

Nur zum Beispiel also diese quiztaugliche Frage für Lokalpatrioten und solche, die es eventuell werden wollen: Welches Wappentier trug die begüterte und historisch einflussreiche Patrizierfamilie Berswordt, nach der der 2002 eröffnete Hallenanbau zum Alten Stadthaus benannt ist? Na? Nun, es war ein Eber. Das kam nicht von ungefähr: Die Berswordts betrieben u. a. einen lukrativen Schweinehof. Das Motiv des Schweins kehrt in mehreren Kirchen der Stadt wieder und findet sich auch mit einer Berswordt-Namensinschrift auf einer der mächtigen Säulen im Alten Stadthaus.

Ganz schön brutal: Konzerthaus-Symboltier Nashorn spießt im neuen Rathaus das Stadtwappen mit dem Adler auf. (Foto: Bernd Berke)

Ganz schön brutal: Konzerthaus-Symboltier Nashorn – hier im Zebra-Look – spießt im neuen Rathaus das Stadtwappen mit dem Adler auf. (Foto: Bernd Berke)

Historisches Wappentier der ganzen Stadt ist hingegen der Adler, der sich freilich im neuen Rathaus einer geradezu bestürzend brutalen Attacke ausgesetzt sieht. Von einem Symboltier viel jüngeren Datums, nämlich einem Nashorn (um 2002 mit Eröffnung des Konzerthauses aufgekommen), wird der Adler aufgespießt – siehe schonungsloses Beweisfoto. Dabei wurde das Nashorn doch erkoren, weil es ein so empfindsames Gehör haben soll. Aber die Schreie des Adlers stören diesen Dickhäuter offenbar nicht…

Stadtpatron Reinoldus, mit Nägeln übersät

Noch einmal zurück in den Altbau: Dort steht (als Nachbildung des ursprünglichen Exemplars) eine 2,20 Meter hohe Statue des Reinoldus. Die Figur des Heiligen, seit dem 11. Jahrhundert Stadtpatron von Dortmund, ist mit Nägeln übersät. Martialischer Hintergrund: Im Ersten Weltkrieg konnten kriegswillige und siegesgewisse Leute für einen Reichsmark-Obolus solche Nägel einschlagen. Der Erlös floss in die weitere Kriegsführung… Doch das war ein übler Missbrauch in neuerer Zeit. Allein um die mittelalterlichen Reliquien von Reinoldus ranken sich indes einige Geschichten der jenseitigen Ausrichtung. Oder sollen wir hier das Modewort „Narrativ“ verwenden?

Reinoldus-Statue im Alten Stadthaus. (Foto: Bernd Berke)

Reinoldus-Statue im Alten Stadthaus. (Foto: Bernd Berke)

Bei all dem wäre anzumerken: Der Titel „Altes Rathaus“ gebührt recht eigentlich dem steinernen Bau, der früher am heutigen Alten Markt gestanden hat. Ursprünglich wohl nach 1232 (verheerender Stadtbrand) errichtet, war es das älteste steinerne Rathaus im gesamten deutschen Sprachraum nördlich der Alpen. Es wäre heute ein Tourismus-Ziel ersten Ranges.

Umso betrüblicher, dass das teilweise kriegszerstörte Nachfolge-Gebäude von 1899 im Jahr 1955 endgültig abgerissen wurde. Im Zuge der „Wiederentdeckung“ historischer Stadtkerne (Münster, Berlin, Frankfurt etc.) hat sich 2018 in Dortmund eine Bürgerinitiative gebildet, die sich für einen Wiederaufbau dieses alten Rathauses stark macht. Auch in den Revierpassagen war davon zu lesen, und zwar hier.

Im nächsten Jahr beginnt die große Renovierung

Aber was heißt hier überhaupt „neues“ Rathaus? Im übertragenen Sinne sieht das auch schon recht „alt“ aus. Der 1989 vollendete Bau, von manchen als überdimensionale „Bierkiste“ verspottet, muss bereits gründlich renoviert werden, vor allem die technische Ausstattung und der Brandschutz genügen längst nicht mehr den Anforderungen.

Und so wird dieses Rathaus ab 2020 bis (mutmaßlich) 2022 für umfangreiche Bauarbeiten geschlossen bleiben. Der Rat und alle sonstigen Gremien müssen sich samt Mitarbeitern temporäre Ausweichgebäude suchen. Man kann derweil nur inständig hoffen, dass es beim Kostenpunkt von angepeilten 34 Millionen Euro bleiben möge. Aber Moment mal: hoffen? Nein. Man könnte und sollte es auch sorgsam kontrollieren.

Und so schließen wir themengemäß mit jenem altbekannten Sprüchlein, das sich hin und wieder bewahrheitet haben soll: Wenn man vom Rathaus kommt, ist man klüger.

Das neue Rathaus von 1989 am Friedensplatz mit Friedenssäule. (Foto: Bernd Berke)

Wird bald umfassend renoviert: das neue Rathaus von 1989 am Friedensplatz mit Friedenssäule. (Foto: Bernd Berke)




Zum 80. Geburtstag des Aktionskünstlers HA Schult: Kurze Erinnerung an einen Auftritt in Dortmund

Waren nach und nach in aller Welt zu sehen: „Trash People" (Müllmenschen) – hier im April 2006 vor dem Kölner Dom. (Foto: Wikimedia Commons / Leonce 49 - Link zur Lizenz:https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/de/deed.en)

Waren nach und nach in aller Welt zu sehen: HA Schults „Trash People“ (Müllmenschen) – hier im April 2006 vor dem Kölner Dom. (Foto: Wikimedia Commons / Leonce 49 – Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/de/deed.en)

Du meine Güte, heute wird HA Schult auch schon 80 Jahre alt! Der Mann also, der recht frühzeitig, in den 1970er Jahren, Vermüllung und Ökologie zum plakativen Thema seiner Aktions- und Installationskunst machte. Offen gesprochen: Gemeinsam mit seiner Gefährtin Elke Koska, die früher stets „Muse“ genannt wurde (heute müsste man da wohl etwas umsichtiger sein), konnte Schult einem – dies- und jenseits seiner Kunstanstrengungen – ganz schön auf die Nerven gehen. Sollte es doch mehr Aktion als Kunst sein, die er betrieben hat?

Heute mal egal. Sein Geburtstag ist Anlass genug für eine kurze, willkürlich herausgegriffene Erinnerung an einen allerdings typischen Auftritt, den er vor rund 23 Jahren gemeinsam mit Elke Koska in Dortmund hatte. Der Text erschien am 6.7.1996 in der Westfälischen Rundschau:

Von Bernd Berke

Dortmund. Da eilte selbst Oberbürgermeister Günter Samtlebe herbei und hielt eine launige Ansprache. Denn nicht alle Tage gibt sich ein so prominenter Aktionskünstler wie HA Schult in Dortmund die Ehre. Mitten in die Empfangshalle des Hauptbahnhofs hat Schult ein Marmor-Auto postiert.

An diesem Kunstwerk werden bis zum 4. August wohl einige Millionen Menschen vorübergehen, denn täglich sind’s im Schnitt rund 120 000, die durch den Bahnhof hasten. Das meiste Aufsehen erregte gestern Schults schrille Muse Elke Koska, die übrigens aus Dortmund stammt und hier das Mallinckrodt-Gymnasium besucht hat. Sinnierte Günter Samtlebe: „Da kann man mal sehen, was aus den Leuten so wird.“

HA Schult 2018 vor seiner „Wall of Freedom" in der Ratingr Straße in Düsseldorf. (Foto: Wikimedia Commons / StagiaireMGIMO - Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/)

HA Schult 2018 vor seiner „Wall of Freedom“ in der Ratinger Straße in Düsseldorf. (Foto: Wikimedia Commons / StagiaireMGIMO – Link zur Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/)

Das gar nicht aus Marmor bestehende, sondern marmorierend bemalte Fahrzeug (besser: „Steh-Zeug“) prangte 1994 als Symbol des politischen Zeitenwandels auf einem Sockel vor dem Marmorpalast in St. Petersburg, wo es einen Panzerwagen Lenins ersetzte. Seither hat das gute Stück eine Tournee durch acht deutsche Städte hinter sich. Nun aber spricht Schult, dem Regionalstolz schmeichelnd: „Das waren nur Fingerübungen, um es endlich in Dortmund zeigen zu können.“

Auch für Nutten und Penner

Warum der Bahnhof? Schult: „Weil hier so viele Leute sind, und weil hier auch Nutten oder Penner meine Kunst sehen können.“ Und die Finanzen? Schult läßt sponsern. Denn sein Auto ist nicht irgendeins, sondern ein Mittelklassemodell aus Kölner Fabrikation, welche mit dem Spruch „Die tun was“ beworben wird. Man muß sie nicht nennen, man kann getrost fortfahren…

Nein, man habe sich mit dem Auto keine Konkurrenz ins Haus geholt, meinte gestern Ernst Liedschulte von der Deutschen Bahn AG. Man begreife das Automobil als sinnvolle „Ergänzung“ zur Schiene. Und Dortmunds Oberbürgermeister Günter Samtlebe befand launig, mit HA Schult und Elke Koska habe man sich ein „Power-Paar“ in die Stadt geholt. Ökologisch korrekt, empfahl er Schult jedoch, bald ein Marmor-Fahrrad herzustellen.

Derweil bildete sich beim Eröffnungs-Zeremoniell eine neugierige Menschenmenge, angelockt auch vom gewohnt schrillen Erscheinungsbild Elke Koskas. Die erschien mit einem großen schwarzen Hund und trug statt eines Handtäschchens einen kleinen Silberkessel. Todschick. Mancher Urlauber machte hier gleich beim Reisestart sein erstes Erinnerungsfoto, und auf die Erläuterungstafel zu „Marmorne Zeit“ (Werktitel) hatte schon einer gekritzelt: „Schult, laß dich nicht unterkriegen, deine Kunst ist klasse“.

Stimmt das? Mal ehrlich: Mag das Auto in St. Petersburg noch von historischer Aura profitiert haben, so wirkt es in Dortmund relativ schlicht. Erst wenn Schult und seine Elke live dazu auftreten, wird s spektakulär. Sie selbst sind das Kunstwerk.




Wie gefährdet ist unsere Demokratie? Eine Diskussion beim Evangelischen Kirchentag in Dortmund

In der Dortmunder Martinskirche (von links): Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow, Moderator Wolfgang Kessler und die Integrationsforscherin Prof. Naika Foroutan aus Berlin. – Verdeckt hinter Ramelow: der Soziloge Prof. Hartmut Rosa aus Jena. (Foto: Bernd Berke)

Auf dem Podium in der Dortmunder Martinskirche (v. li.): Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow, Moderator Wolfgang Kessler und die Integrationsforscherin Prof. Naika Foroutan aus Berlin. – Verdeckt hinter Bodo Ramelow: der Soziologe Prof. Hartmut Rosa aus Jena. (Foto: Bernd Berke)

Nun gut, wenn schon mal der Evangelische Kirchentag in Dortmund gastiert, kann man ja eine der rund 2000 Veranstaltungen aus dem rund 600 Seiten starken Programmkatalog aufsuchen. Wenn die dann noch in der nächstgelegenen katholischen (!) Kirche stattfindet, fällt’s einem wegen des kurzen Weges noch leichter. Zumal ein leibhaftiger Ministerpräsident zugegen war, nämlich Bodo Ramelow (Die Linke) aus Thüringen.

Man debattierte in der Kirche St. Martin über Gefährdungen der Demokratie – und darüber, ob selbige sich allenfalls noch marktkonform, aber nicht mehr wirklich frei entfalten könne. Der Wahrheit die Ehre: Die hier geäußerten Meinungen kamen ziemlich überein, es gab keine harsche Gegenposition, höchstens Nuancen. Und der Wahrheit noch mehr Ehre: Es war leider Gottes eine Veranstaltung mit einem 60-plus-Publikum. Interessieren sich die Jüngeren nicht mehr für solche Fragestellungen? Dabei haben sie sich doch im Zuge der Klimafurcht angeblich so sehr „politisiert“.

Verunsicherung und Vertrauensverlust

Prof. Hartmut Rosa, Soziologe von der Uni Jena, sprach in seiner ersten Diagnose von einer Wutgesellschaft – bis in die Spitzen großer Nationen (USA, Brasilien, Indien, Italien und England) hinein; von einem Vertrauensverlust nicht nur in politische Institutionen, sondern in die Hoffnung, dass man die Welt überhaupt noch gestalten könne. Hier klang – in negativer Wendung – das Leitmotto des gesamten Kirchentags an: „Was für ein Vertrauen“. Freilich ganz so, als müsse man dahinter ein großes Fragezeichen setzen.

Die Welt (oder auch: die Natur, die „zurückschlägt“), so Rosa weiter, werde zunehmend als bedrohlich wahrgenommen. Inzwischen gebe es vielfach geradezu eine Sehnsucht danach, dass die Natur dem Menschen Grenzen setzt. Als Triebkraft hinter all dem Vertrauensverlust machte er den neoliberalistischen Umbau der Wirtschaft mit allen Merkmalen des verschärften Wettbewerbs, der Beschleunigung und des schrankenlosen Wachstums aus – eine Gemengelage, die viele Menschen zutiefst verunsichere.

Wer wollte da auf dem Podium schon groß widersprechen? Eigentlich niemand.

Die andere Meinung einfach mal „aushalten“

Immerhin brachte Prof. Naika Foroutan, aus Berlin angereiste Integrationsforscherin von der Humboldt-Universität, weitere Tönungen ins Spiel. Sie sieht demokratische Institutionen gefährdet, weil sie von ihren Gegnern ausgehöhlt werden könnten. Dass diese Institutionen bislang weitgehend reibungslos funktionieren, besage noch nicht viel. Es gebe inzwischen Anzeichen für eine präfaschistische Entwicklung der Gesellschaft. Besondere Sorge bereitet ihr der harsche Dualismus, der weithin herrsche – entweder die eine Meinung oder die andere. Es werde immer gereizter diskutiert und nicht mehr zugehört, wenn eine andere Auffassung geäußert wird. Man solle jedoch Ambivalenzen und Widersprüche „aushalten“ können. Im Grunde eine Selbstverständlichkeit, die aber zu schwinden droht.

Zum leidigen Thema Integration sagte Frau Foroutan, es gelte, letztlich die gesamte Gesellschaft zu integrieren, nicht nur Migranten, sondern auch (benachteiligte) Deutsche. Es gehe um Teilhabe am gesellschaftlichen und kulturellen Leben für möglichst viele Menschen. Zur AfD-Klientel vermeldete sie Erstaunliches. Bei den Mitgliedern der Rechtspartei handle es sich vielfach um ausgesprochen gut verdienende Leute, längst nicht nur um „Abgehängte“. Und: Die AfD erhalte zwar im Osten mehr Wählerstimmen, werde aber überwiegend von Funktionären aus dem Westen gesteuert.

Zigtausend Hassmails an Ministerpräsident Bodo Ramelow

Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (übrigens gebürtiger Niedersachse), aus sicherlich guten Gründen mit Personenschutz erschienen, ließ das Ausmaß des (durchs Internet befeuerten) Hasses ahnen, der sich – beileibe nicht nur – gegen ihn richtet. Als er kürzlich mit einem Fleischermeister eine Aktion zur koscheren Bratwurst eingeleitet habe, habe er rund 100.000 überwiegend hasserfüllte Botschaften erhalten.

„Trotzdem gehe ich aufrecht durch die Stadt und fahre manchmal auch mit der Straßenbahn“, sagte der Erfurter Regierungschef, der kürzlich – ein absolutes Novum in Deutschland – dafür gesorgt hat, dass ein Thüringer Schloss (Reinhardsbrunn) enteignet werden konnte, weil die Besitzer es verfallen ließen. Er nahm es als ein Beispiel unter vielen, dass man politisch eben doch noch gestalten könne. Noch allgemeiner gefasst: „Wo kommen wir hin, wenn wir an Umverteilung nicht mal mehr denken dürfen?“

Sehnsucht nach dem Guten, Versuchung zum Bösen

Ramelow erwähnte auch einige Nadelstiche, mit denen man Rechtsrock-Veranstaltern in Thüringen das Leben schwer mache. Von Visionen mochte er einstweilen nicht sprechen, es gilt wohl zunächst, die Mühen der Ebene zu bestehen. Auch Ramelow glaubt derweil, dass es eine konkrete faschistische Gefahr im Lande gibt und führte den oft zitierten Brecht-Spruch an: „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.“

Prof. Rosa schwenkte schließlich sozusagen auf die Glaubensspuren des Kirchentags und der Nächstenliebe ein. Es gebe unter den Menschen eine (zuweilen unterdrückte?) Sehnsucht, Gutes zu tun. Demgegenüber machte Prof. Foroutan einen starken Drang zum Bösen aus. Alle Menschen wollten Anerkennung, manche hätten gemerkt, dass sie sich diese auch durch Machtausübung verschaffen könnten… Womit die von Wolfgang Kessler (Ex-Chefredakteur des Publik-Forums) moderierte Debatte auf dem weiten, weiten Felde zwischen Gut und Böse angekommen war. Sage niemand, dass dafür nur die Bibel zuständig sei.

__________________________________

Infos zum Evangelischen Kirchentag in Dortmund: https://www.kirchentag.de/aktuell_2019/




Vom üblen Abwasserkanal zum munteren Bächlein – eine Radtour entlang der Emscher

Impression vom Emscherquellhof in Holzwickede bei Dortmund. (Foto: Gerd Puls)

Impression vom Emscherquellhof in Holzwickede bei Dortmund. (Foto: Gerd Puls)

Gastautor Gerd Puls über den renaturierten Wasserlauf, der früher so dreckig war wie kein anderer:

Unscheinbar, aber idyllisch. Ein Gehöft, ein Quellteich am Rande Holzwickedes. Emscherquellhof. Zuerst ein paar Tropfen, ein Rinnsal bloß, ein schmaler Bach, ein Graben, mehr nicht. Holzwickede, vor den Toren Dortmunds. Tor zum Sauerland nennen manche ihre schmucke Gemeinde. Gerade mal 17.000 Menschen leben hier, viele pendeln zur Arbeit ein. Im Norden der Dortmunder Flughafen, Stadtteil Wickede, wenige Meter von hier zum Holzwickeder Bahnhof.

Zurück zur Emscher, etwas südlich geht es, der Bachlauf schlängelt sich durch den Ort. An der Sparkasse das kleine Denkmal, die Emscher, Quelle und Verlauf, die Orte rechts und links des Flüsschens, ein Schulkind mit Ranzen, hier geboren, hier zu Haus.

Der Holzwickeder Markt. Nur am ersten Adventswochenende findet hier vor dem historischen Rathaus ein rummeliger, dennoch stimmungsvoller Weihnachtsmarkt statt, ausgerichtet von Holzwickeder Vereinen, Schulen, Organisationen. Zusammengehörigkeit, Heimatverbundenheit, hier trifft man sich. Wen es im Laufe seines Lebens woandershin verschlagen hat, der kommt oft extra zum Weihnachtsmarkt von weither angereist.

Schaurig schöne Anblicke, doch es gibt Abwechslung

Der kleine Emscher-Park, der schöne Baumbestand, an der Kirche vorbei, weiter Richtung Westen. Du kannst prima mit dem Rad die Emscher entlang, lautete die Empfehlung. Emscher-Radweg. In Nullkommanix durch Sölderholz, Sölde, alles längst Dortmund, Aplerbeck, und zack, bist du am Phoenixsee. Also versuch ich es und halte die Augen auf. Schön hier, schaurig schön, manchmal ein wenig uniform und trist bei der dichten Bebauung. Doch Abwechslung gibt es, vom Rad aus gut zu registrieren: alte Industrie, neue Logistikflächen, Straßenzüge, Siedlungen, Wohnblocks und schmucke Einfamilienhäuser.

Die Dortmunder Stadtgrenze ist rasch erreicht, Westfalens größte Stadt, flächenmäßig weit vorne bei Deutschlands Städten. Eine ganze Menge Stadtteile, etliche mit dörflichem Charakter. Von Barop, Brackel, Bövinghausen über Lanstrop und Lindenhorst bis Wambel, Wellinghofen, Westerfilde.

Ich radle. Sölde, Sölderholz, Aplerbeck. Als ich in den 1970ern in Dortmund studierte, Kunst und Pädagogik, schanzte mir ein Professor einen kleinen Auftrag zu. Die Kranich-Apotheke in Aplerbeck möchte ein neues Emblem. Für Briefbögen und Schaufenster, kannst du das machen? Also pingelte ich einen stilisierten Kronenkranich hin für 50 Mark, und der Apotheker hatte ein billiges hübsches Erkennungszeichen, heute noch prangt es in Gold prächtig und filigran an Fenster und Fassade.

Früher hieß es: „Der gehört nach Aplerbeck“

Dann die psychiatrische Landesklinik, später im Lehrerberuf hatte ich hin und wieder dort zu tun. Irgendein gemeinsames Gutachten, ein Kind, dem man dort helfen konnte. Als ich selbst Kind war, klang das manchmal gar nicht schön. Der gehört nach Aplerbeck, hieß es, wenn einer mal ein wenig Unsinn gemacht und über die Stränge geschlagen hatte. Toleranz und Akzeptanz sahen anders aus.

Links der Phoenixsee im Stadtteil Hörde, an Wochenenden beliebtes Ausflugsziel. All die Parkplätze dann knüppelvoll. Ruhrgebietsfreizeit, einmal den Rundweg, oder halb und dann ins Eiscafé. Mit der Emscher hat der Phoenixsee nichts zu tun, sie fließt bloß nah vorbei. Sumpfiges Gelände noch vor 200 Jahren. Eine Mulde, Sumpf, Morast und Mücken. Bevor man hier das gigantische Stahlwerk errichtete, das vor ein paar Jahren dem künstlichen Teich seinen Namen gab. Ein flaches Gewässer, das künstlich mit Sauerstoff versorgt werden muss, damit es nicht umkippt. Von der gewaltigen Stahlschmiede steht längst nichts mehr, nur die Thomasbirne an der Promenade als Wahrzeichen und Erinnerungsstück.

Stahlwerk wanderte von Hörde nach China

Das Stahlwerk ist längst demontiert, ab per Schiff, in China wieder aufgebaut. Hörde, Dortmund, das Ruhrgebiet hat es verkraften müssen. Der Niedergang, Verlust von Kohle und Stahl. Die Hörder Burg, direkt am See, das Gebäude der ehemaligen Stiftsbrauerei, damals die biertrinkenden Mönche, sich zuprostend, fett an der Fassade. Der frühere Dortmunder Dreiklang: Kohle, Stahl und Bier.

Ich sehe mich um. Wohin ist die Emscher entschwunden. Verläuft sie unterirdisch? Nachdem das Stahlwerk platt war, hat der See etwas gebracht für den Stadtteil Hörde. Quadratische Häuser säumen das Ufer, hier wohnen Fußballer des BVB und andere Leute, die es sich leisten können. Moderne Architektur, viel Glas nach Süden hin, Sonnensegel und Weinreben gar. Fast wie im Urlaub, Eisdielen locken. Büroflächen, Gewerbeansiedlungen, die Sparkasse hat ein großzügiges Schulungszentrum errichtet.

Rostiger Hochofen als „Tatort“-Kulisse

Weiter die Pedale treten, es geht durch Hördes Zentrum. Die Überreste von Phoenix West, immer noch eindrucksvolle Industrieruine. Endlos die braunen Backsteinmauern, Hallen sind neu zu nutzen. Flächen reichlich, eine neue, überbreite Zubringerstraße, hier sind Ansiedlungen möglich. Die rostigen Streben des letzten Hochofens locken Fotografen an. Schaurig bizarre „Tatort“-Kulisse bei manchem Sonntagskrimi. Zwischendurch dröhnen Motoren bei illegalen Autorennen, surren ferngesteuerte Drohnen hoch in die Dortmunder Luft. Zeichen dafür, dass man alt geworden ist. Damals, in Kindertagen, als die Emscherbrühe dreckig und stinkend in ihrem Kanalbett schwappte, ließen wir harmlose Papierdrachen steigen.

Neu nebenan die kleine Brauereimanufaktur, Bergmann-Bier, alte Tradition. An guten Wochenenden und wenn Borussia spielt, ist der Schankraum proppenvoll. Das Bier schmeckt gut. Ich könnte noch ein Stück weiter radeln durch Dortmunds Süden, Hombruch, Lütgendortmund, bevor die Emscher das Stadtgebiet verlässt, sich nach Norden windet und doch die Richtung hält, nach Westen, zum Rhein hin.

Bitte keine brüllendheißen Sommer

Besser zurück, für heute reicht es. Bewegung an der frischen Luft. Ein Stück Heimat, ein schöner Weg die Emscher entlang. Früher der dreckigste Fluss überhaupt. 80 Kilometer stinkender Abwasserkanal, Kloake, Köttelbecke. Transportvehikel für Schlamm, Dreck, Gestank und Giftmüll, den es überall gab, wo viele Menschen waren, wo mächtig malocht wurde, egal ob Kohle oder Stahl, Chemie oder sonst was, und bei Hochwasser überschwemmte die übel riechende Brühe ganze Stadtteile. Vergangenheit.

Heute ein munterer Bach, die Abwässer unter die Erde verbannt. Renaturiert lautet das Zauberwort, egal ob in Holzwickede, Aplerbeck, Hörde oder den Ruhrgebietsstädten, die bis zur Mündung folgen.

Bleibt nur zu hoffen, dass die Sommer nicht dauernd brüllendheiß und knüppeltrocken werden und die Emscher eines Tages versiegt und verschwindet.

Verlauf der Emscher quer durchs Ruhrgebiet – Hinweistafel der Emschergenossenschaft. (Foto: Gerd Puls)

Verlauf der Emscher und der Radstrecke quer durchs Ruhrgebiet, dargestellt auf einer Hinweistafel der Emschergenossenschaft. (© Emschergenossenschaft / Foto Gerd Puls)

 




Überraschung: Dortmunds Schauspielchef Kay Voges geht ans Wiener Volkstheater

Sein Weg führt von Dortmund nach Wien: Schauspielchef Kay Voges. (Foto: Marcel Urlaub)

Sein Weg führt von Dortmund nach Wien: Schauspielchef Kay Voges. (Foto: Marcel Urlaub)

Das darf man wohl eine Überraschung nennen: Kay Voges, noch amtierender Dortmunder Schauspielchef, geht nicht etwa nach Hamburg oder Berlin, sondern nach Wien. Ab der Saison 2020/21 wird er dort Direktor des Volkstheaters sein – als Nachfolger von Anna Badora.

Laut Pressemitteilung des Dortmunder Schauspiels sagte Voges in einer ersten Stellungnahme zu seinem bevorstehenden Wechsel, er empfinde es als Ehre, die Führung dieses bedeutenden Hauses „in der theater-verrückten Stadt Wien, im theater-verrückten Land Österreich“ übernehmen zu dürfen. Und weiter: „Theater ist die fünfte Macht im Staate und es ist wichtig, dass das Volkstheater die Stellung ein- und wahrnimmt, die dem Haus unter den führenden Bühnen Europas zusteht“. Das klingt beinahe draufgängerisch.

Man kann wohl davon ausgehen, dass Voges bereits den Begriff „Volkstheater“ deutlich fortschrittlicher auslegen wird, als es manche Wiener Bühnenfreunde bevorzugen. Man muss kein Prophet sein, um vorherzusagen: Völlig konfliktfrei wird seine Wiener Tätigkeit mutmaßlich nicht vonstatten gehen. Aber auch das gehört in Wien unbedingt dazu. Es soll dort Leute geben, die dem „Piefke“ Claus Peymann noch heute grollen…

Wie die Wiener Zeitung „Die Presse“ berichtet, hat Voges in ersten Überlegungen angekündigt, ein „niederschwelliges Theater“  anzustreben, eine – so wörtlich – „Factory für Theaterkunst in ästhetischer und politischer Auseinandersetzung mit der Gegenwart“. Auch Performance-Elemente und Musik würden dabei wichtig sein. Zudem dürfte Voges seine in Dortmund so entschieden vorangetriebenen Digitalisierungs-Projekte nicht von heute auf morgen aufgeben.

Kay Voges wird sich schon vor Beginn seiner Wiener Intendanz als Regisseur in der Donaumetropole vorstellen. Am Burgtheater soll er in der ersten Spielzeit unter Martin Kusej eine „Endzeit-Oper“ in Szene setzen. Titel der Produktion: „Dies irae – Tag des Zorns“.

Voges‘ Nachfolge in Dortmund wird – wie mehrfach berichtet – zur nächsten Saison die 34-jährige Julia Wissert antreten.




Onkel Dagoberts Traum: Deutschlands größter Geldspeicher steht neuerdings in Dortmund

Aus der Distanz besehen: der (fast fertige) größte Geldspeicher Deutschlands. (Foto: Bernd Berke)

Aus der Distanz betrachtet: der (fast fertige) größte Geldspeicher Deutschlands. Was man hier nicht sieht, ist der Wassergraben rings um die Gebäude. (Foto: Bernd Berke)

Wo wird in Kürze der größte Geldspeicher Deutschlands eröffnet (wobei „öffnen“ eigentlich nicht das richtige Wort ist)? Gewiss doch in Frankfurt am Main. Nein, falsch. Dann aber in Berlin, Hamburg oder München? Auch nicht. Er steht in einer Stadt, bei deren Nennung man nicht gleich an ungeheure Bargeldmassen denkt: Dortmund.

Hier, genauer an der verkehrsreichen Bundesstraße B 1 (Kreuzung Marsbruchstraße), hat die Deutsche Bundesbank in den letzten Jahren ein Bauensemble hochziehen lassen, das Phantasien weckt: Immer wieder heißt es, hier würde Dagobert Duck seine helle Freude haben, weil er in riesigen Geldhaufen baden könnte.

Auch zeigen sich etliche Medien elektrisiert von der Vorstellung, hier sei ein deutsches „Fort Knox“ aus dem westfälischen Boden gewachsen, ein Pendant zum berühmten US-Goldspeicher also. Da wir nun einmal im Ruhrgebiet sind, fand sich flugs das Kosewort „Pott Knox“. Auch hat die überaus gewitzte Journaille schon den Spruch geprägt, es komme bald endlich wieder „Kohle aus dem Pott“. Hahaha, im übertragenen Sinne, ihr versteht… Zwinker, zwinker! Sozial Bedürftige können sich allerdings nichts dafür kaufen.

Kläglich nüchterne Baulichkeit

Architektonisch ist das ganze, rund 300 Millionen Euro teure Projekt wahrlich kein großer Wurf geworden. Die nicht gerade bitterarme Bundesbank hat es schmählich versäumt, hier – am östlichen Entrée der Stadt – ein Zeichen zu setzen und womöglich renommierte Architekten zum Zuge kommen zu lassen. Wir reden hier nicht von Protzerei, sondern von stilistisch zeitgemäß ansprechender Baulichkeit. Statt dessen wirkt die elf Fußballfelder große Anlage wie ein x-beliebiger Ingenieursbau, geradezu kläglich nüchtern und funktional. Gerade diese Stadt hätte anderes gebrauchen können, als eine solche Wucherung aus Beton.

Natürlich ist alles dem Sicherheitsaspekt untergeordnet. Geradezu überdeutlich steht dafür der rund 1 Kilometer lange Wassergraben, der die Hauptgebäude umschließt wie eine mittelalterliche Trutzburg. Man kann davon ausgehen, dass es viele, viele weitere Sicherheitsmaßnahmen gibt, denn hier werden Abermillionen Euro lagern und umgeschlagen werden.

Prüfen, sortieren, schreddern, neu austeilen

Vor allem Maschinen neuester Bauart sollen in der 10.000 Quadratmeter großen Zentralhalle das angelieferte Geld prüfen, sortieren und dann entweder schreddern oder neu in den Verkehr bringen – auch in Zeiten des anwachsenden elektronischen Zahlungswesens eine keineswegs überflüssige Aufgabe. Der Zuständigkeitsbereich umfasst weite Teile von NRW, rund 12 Millionen Menschen (und zahllose Firmen) befinden sich im Einzugsgebiet, wie man hie und da nachlesen kann.

Apropos Sicherheit: Es wird partout nicht verraten, wo auf dem Gelände sich jener Tresor ungefähr befindet, der mit 23 Metern Höhe und mit einem Volumen, das 25 Einfamilienhäusern entspricht, wahrhaft imposante Ausmaße haben soll. Mag sein, dass da auch manche Ganoven ihre Phantasien spielen lassen. Um indirekt auf Onkel Dagobert zurückzukommen: Die Panzerknacker („Harr, harr!“) sollen an und erst recht in diesem Geldbunker jedoch keine Chance haben.




„Ring frei! Runde drei!“ – Beim Dortmunder Boxer-Stammtisch wird oft auch über Kultur geredet

Beim 150. Boxer-Stammtisch aufgenommen: Gruppenbild mit relativ wenigen Damen.

Gruppenbild mit Damen, beim 150. Boxer-Stammtisch in Dortmund-Hombruch aufgenommen. (Foto: Dieter Schütze / DBS 20/50)

Gastautor Heinrich Peuckmann über einen sehr ungewöhnlichen Stammtisch in Dortmund:

In Dortmund gibt es einen Stammtisch ehemaliger Sportler, der auf seine Weise einmalig ist. Drei- bis viermal im Jahr treffen sie sich und laden dazu Ehrengäste ein, die über ihre Tätigkeiten informieren: zum Beispiel Opernsänger, Schriftsteller, Manager, Politiker, den Ballettchef des Dortmunder Theaters oder erfolgreiche Sportler.

Wenn man fragen würde, welche Sportart diese Stammtischfreunde früher ausgeübt haben, man würde auf alle möglichen kommen, auf Schwimmer vielleicht, Golfer, Tennisspieler, aber es wäre alles falsch. Es sind die Dortmunder Boxer, die früher  in ihrem Vereinslokal „Zum Volmarsteiner Platz“ im Kreuzviertel diese ungewöhnliche Mischung aus Unterhaltung, Information, Kultur und natürlich Austausch von Erinnerungen veranstaltet haben und sich nun in einer Gastwirtschaft in Hombruch treffen. Kürzlich fand bereits der 150. Stammtisch statt.

Gäste mit klingenden Namen

Geleitet werden die Stammtische von Dieter Schumann, Vorsitzender des Vereins „Dortmunder Boxsport 20/50“ und Seele der Dortmunder Boxerszene. Dort kann man sie alle treffen, die mal einen Namen hatten: Ulrich Besken kommt, in den achtziger Jahren mehrfach Deutscher Meister, die Johannpeter-Brüder, Mitglieder einer erfolgreichen Boxerfamilie, sind schon mal Gäste  (sechs der zehn Brüder schafften den Sprung in die Nationalmannschaft) – und Willy Quatuor, ehemaliger Europameister bei den Profis, kam gerne vorbei, solange es die Gesundheit zuließ.

Dieter Schumann leitet diese Sitzungen mit unüberhörbarem Humor, unterbricht den Schriftsteller zum Beispiel bei seiner Lesung, zettelt eine Diskussion an. Wenn die Wogen hoch schlagen über die Beurteilung dieser oder jener Aussage, schlägt er gegen einen Gong und ruft: „Ring frei – Runde drei!“ Dann liest der Schriftsteller weiter aus seinem Roman oder der Opernsänger erklärt seine Rolle in einer neuen Inszenierung.

Meistertitel sind nur Nebensache

Diejenigen, die sich früher im Ring gegenüber standen, sitzen nun friedlich nebeneinander. Sie reden miteinander, haben längst Freundschaft geschlossen und verabreden sich zwischendurch für irgendwelche Zusatztreffen. Dabei spielt es keine Rolle, wer früher mal ein Star war und wer es nur bis zu Kämpfen auf Bezirksebene gebracht hat. Boxer ist Boxer und über die Kämpfe des einen lässt sich im Rückblick genauso viel erzählen wie über die Kämpfe des anderen.

Kein Wunder, dass auch Ehemalige aus anderen Sportarten an diese muntere Truppe Anschluss gefunden haben. Ursula Happe, 1956 Olympiasiegerin im Brustschwimmen, ist regelmäßiger und gern gesehener Gast. Ihr Sohn Thomas, dies nebenbei, gewann 1984 auch eine olympische Medaille, die Silberne, und zwar im Handball. Conny Dietz kommt immer, obwohl sie in zwischen in Köln wohnt. Olympiasiegerin 1992 wurde sie bei der Behindertenolympiade im Goalball. In Peking nahm die nahezu blinde Sportlerin zum sechsten Mal an Olympischen Spielen teil und trug beim Einmarsch der Nationen die deutsche Fahne.

Auch mit Herz und Hirn

Schumann pflegt diese Gruppe, sorgt für gute Laune und achtet darauf, dass niemand nach Hause geht, ohne persönlich angesprochen zu werden. Wer einmal da war, erhält immer wieder Einladungen. So sind längst ehemalige Ehrengäste zu Stammtischmitgliedern geworden und fühlen sich wohl unter den Boxern.

Dies alles folgt dem Motto des Dortmunder Boxvereins: „Nicht nur mit der Hand, auch mit Herz und Hirn!“ Und das ist für Schumann nicht einfach bloßes Versprechen, wie man es aus Sonntagsreden kennt, das wird wirklich gelebt. Da werden die Jugendboxer seines Vereins ins Dortmunder Theater geführt, schauen sich eine Aufführung an und lassen sich später von der Theaterpädagogin über die Hintergründe informieren. Und diese Jugendlichen sind weiß Gott nicht Leute, denen die Nähe zur Kultur in die Wiege gelegt wurde.

Fairness und Respekt im Verein

Mitglieder aus zehn Nationen und von drei Kontinenten gehören zu Schumanns Verein, jeder wird in seiner kulturellen Eigenart respektiert, jeder lernt auch, sich  mit der Kultur des anderen auseinander zu setzen. Grundlage von Training und Wettkampf  sind dabei unumstößlich die Boxregeln, und die zielen auf Fairness und Respekt vor der Leistung des Gegners.

Schumann selbst war ein guter Boxer, allerdings keiner, der Meisterschaften gewann. 25 Kämpfe hat er bestritten, hat 15 davon gewonnen und verließ nur dreimal geschlagen den Ring. Das reicht, um genau zu wissen, worauf er bei seinen Schützlingen achten muss, um sie nicht zu überfordern und auch, um zu erkennen, welcher Trainer der richtige für seine Leute ist und welcher nicht. Vor allem reicht es, um alle, die in der Szene einen Namen haben, zu kennen, und das will etwas heißen in Dortmund, denn die Stadt war über viele Jahre hinweg Hochburg des deutschen Boxsports. Spätestens seit Eröffnung der Westfalenhalle 1952 fanden hier immer wieder große Boxabende statt.

Besonders erfolgreich waren zwischendurch die Schwestern Goda und Ginte Dailydaite, deren Vereinsbeiträge, Trainings- und Boxutensilien von den Seniorenboxern des Vereins bezahlt werden, weil die beiden sonst ihren Sport nicht ausüben könnten. Eine Kleinigkeit, könnte der unkundige Betrachter vielleicht meinen, aber von diesen Kleinigkeiten gibt es jede Menge unter den Dortmunder Boxern. Goda boxte neulich um die Weltmeisterschaft, verlor aber leider. Natürlich kommt auch sie mit ihrer Schwester zum Stammtisch.




Jonathan Meese mit „Lolita“ – und manches mehr: Theater Dortmund stellt sein Programm für die nächste Spielzeit vor

Die Optik betont die Unterschiede. Hier die neuen Programmhefte von Philharmonikern, Schauspiel und Ballett (Foto: Pfeiffer)

Was hat Jonathan Meese mit Dortmund zu tun? Nun, bisher eigentlich nichts. Allerdings hätte sich das in diesem Jahr ja ändern sollen, weil Edwin Jacobs – noch, aber nicht mehr lange Chef des „Dortmunder U“ – den Künstler eingeladen hatte, die Sammlung nach seinem Geschmack neu zu hängen. Daraus wird jedoch nichts.

 

Den Meese soll es aber auf jeden Fall geben, wenn auch im Theater und erst im nächsten Jahr. Für den 15. Februar 2020 plant das Schauspiel die Uraufführung des Stücks „Lolita (R)evolution (Rufschädigendst) – Ihr Alle seid die Lolita Eurer Selbst!“ aus der Feder des nämlichen Artisten. Man ahnt: Das wird konzeptionell. Erste Absichts-Erklärungen waren jetzt im Theater zu hören, bei der Spielplanpräsentation für 2019/2020, im Programmheft kann man sie nachlesen. Wie immer es auch werden mag – Meeses (erhoffter) Auftritt ist fraglos ein Höhepunkt im ansonsten nicht unbedingt prickelnden neuen Programm.

Wolfgang Wendland kommt wieder. Hier ist er noch in „Häuptling Abendwind“ zu sehen, in der neuen Spielzeit erleben wir ihn und seine Kapelle „Die Kassierer“ in der Punk-Operette „Die Kassierer und Die Drei von der Punkstelle“. Das kann ja heiter werden. (Foto: Birgit Hupfeld/Theater Dortmund)

Voges hält Rückschau

Schauspielchef Kay Voges verabschiedet sich mit „PLAY / Abriss einer Reise“ von Dortmund, einer Produktion, in der Rückschau gehalten wird auf fast 10 Jahre Theaterarbeit in dieser Stadt. Uraufführung soll am 11. Oktober sein, und ganz unsentimental wird es dabei wohl nicht abgehen, denn das Ende einer Intendanz bedeutet fast immer auch das Ende für das Ensemble. Mit Spannung sehen wir den Plänen von Julia Wissert entgegen, die Voges’ Nachfolge antreten wird, besonders in Hinblick auf das Bühnenpersonal.

Neuer Schimmelpfennig

Dostojewskis „Dämonen“ kommen auf den Spielplan, ebenso „Hexenjagd“ von Arthur Miller und ein neues Stück von Roland Schimmelpfennig. „Das Reich der Tiere“ erzählt von fünf Schauspielerinnen und Schauspielern, die in einer mäßig erfolgreichen Tier-Show auftreten und sich Sorgen um ihre Zukunft machen. Eine „Komödie mit Live-Musik“, die hervorragend in die Dortmunder Wechselsituation paßt.

Beethoven zum 250. Geburtstag

Die zehn Konzerte der Philharmoniker sind in dieser Spielzeit Weltstädten gewidmet, beginnend mit New York und endend mit (na?) Dortmund und Belgrad. Gegeben wird am 28. Juni 2020 der „Beethoven-Marathon 2020“, alle neun Sinfonien an einem einzigen Tag, weil Ludwig van Beethoven 2020 vor 250 Jahren geboren wurde. Um 10 Uhr fangen die Dortmunder Philharmoniker an, um 20 Uhr schließlich wird die neunte Sinfonie angestimmt. Dann arbeiten die Dortmunder mit den Belgrader Philharmonikern, dem Slowakischen Philharmonischen Chor Bratislava und vier Solisten zusammen. Die Ost-Beziehungen haben ihren Grund darin, daß Dortmunds Generalmusikdirektor Gabriel Feltz auch Chefdirigent der Belgrader Philharmoniker ist.

Die Optik hat sich stark verändert

Was in den unterschiedlichen Sparten gespielt wird, suche man im Internet (www.theaterdo.de). Es steht aber auch in den gedruckten Programmheften, die es jetzt gibt und die beinahe die größte Überraschung der Präsentation sind. Das Theater Dortmund hat seinen medialen Auftritt grundlegend überarbeitet, was dazu führt, daß es jetzt fünf Programmhefte gibt statt eines einzigen dicken Programmbuchs wie bisher, und daß die Sparten Philharmoniker, Ballett, Oper, Schauspiel, Kinder- und Jugendtheater sich nun in ihrem optischen Erscheinungsbild deutlich voneinander unterscheiden.

Geschwundene Liebe zum Orange

Mit unterschiedlichen feinen Serifenschriften auf dem Cover und in den Überschriften präsentieren sich Oper, Philharmoniker und Ballett, während die Theaterabteilungen eine fette serifenlose Typographie bevorzugen. Das knallige Orange, lange Jahre „Logo-Farbe“ des Theaters Dortmund, dominiert nur noch das auf orangefarbenes Papier gedruckte Service-Heft. Übrigens ist es eine gute Idee, so all die Service-Angaben (Kartenvorverkauf, Preise, Aboreihen etc.) zu bündeln und in den Programmheften uneingeschränkten Raum für die Kunst zu lassen. Sinnvoll war überdies, die summa sechs Hefte in einen wertig wirkenden weißen Standschuber zu stecken. Vielleicht etwas teuer, sieht aber wirklich gut aus.




Dünen, Wellen, Windmühlen – Ausstellung im „Dortmunder U“ zeigt den niederländischen Aufbruch in die Moderne

Ferdinand Hart Nibbrig: „Auf den Dünen in Zandvoort", 1892 (Foto: Sammlung Singer Laren, Museum Ostwall)

Ferdinand Hart Nibbrig (1866-1915): „Auf den Dünen in Zandvoort“, 1892 (Foto: Sammlung Singer Laren, Museum Ostwall)

Da haben die beiden Holländer sicher recht: Die Freuden des Sommers genießen viele Deutsche, zumal aus dem Ruhrgebiet, sehr gerne in ihrem schönen Land, in den Dünen, am Strand und in den gemütlichen kleinen Städten. Diese sicherlich nicht ganz neue Erkenntnis hat Edwin Jacobs, (Noch-) Direktor des Dortmunder Kunst- und Kulturzentrums U, und Jan Rudolph de Lorm, Direktor des Museums Singer in Laren, auf die Idee gebracht, Kunst der Niederländischen Moderne sozusagen nach Urlaubsaspekten für eine Ausstellung auszuwählen. Es entstand „Ein Gefühl von Sommer…“, eine hübsche Bilderschau, die jetzt im Dortmunder U, im Museum Ostwall zu sehen ist.

Anton Mauve (1838-1888): Das neugeborene Lamm, um 1884 (Foto: Sammlung Singer Laren, Museum Ostwall)

Ein Deal

Nun ja; etwas nüchterner betrachtet verhält es sich wohl so: Die beiden Museen, eben Ostwall in Dortmund und Singer in Laren, zeigen im jeweils anderen Haus das Beste aus dem eigenen Bestand, ein Tauschgeschäft. Rund 70 Werke aus Dortmund sind derzeit in dem holländischen Museum zu sehen, 110 von dort nun hier. Hintergrund ist (auch) die derzeitige Schließung des Ostwall-Museums wegen (mal wieder) erforderlicher Umbauarbeiten, weshalb „Ein Gefühl von Sommer…“ im 6. Stock gezeigt wird, auf der Sonderausstellungsfläche.

Zeitlicher und thematischer Querschnitt

Sie hätten die von Regina Selter kuratierte Schau natürlich auch anders nennen können, denn präsentiert wird ein munterer zeitlicher und thematischer Querschnitt durch die niederländische Malerei der Jahrhundertwende, der man gut 40 Jahre einräumt. In Dortmund sind die Bilder auf 10 Kabinette verteilt, die Landschaften, Portraits, Modernes Leben usw. zum Schwerpunkt haben.

Es gab, erfahren wir, Vereinigungen wie die Bergener Schule oder den Kunstkreis De Ploeg, an Kunstrichtungen ist zwischen Impressionismus und Neuer Sachlichkeit alles vertreten, was zeitgleich auch in Deutschland wirkte. Die Namen der Künstler indes sind wohl nur wenigen Menschen in Deutschland geläufig, Piet Mondrian immerhin ist dabei, der seinerzeit aber noch durchaus verwechselbar arbeitete, oder Kees van Dongen. Doch mag das zu einem nicht geringen Maße an der nationalen Perspektive liegen, aus der heraus nicht nur in Deutschland die „eigenen“ Künstler bevorzugt werden.

Lou Loeber (1894-1983): Mühle, 1922 (Foto: Sammlung Singer Laren, Museum Ostwall)

Laren und die Künstlerkolonie

Gerade deshalb hat es jedoch seinen Reiz, einmal zu erfahren, wie sich das Kunstgeschehen vor etwa hundert Jahren jenseits der Grenze vollzog, die vielleicht auch damals schon ein bißchen weniger hoch als jene zu anderen Nachbarstaaten war. In Laren, jenem 12000-Seelen-Ort 30 Kilometer östlich von Amsterdam, Standort des Museums Singer Laren, existierte in jener Zeit eine bemerkenswerte Künstlerkolonie. Ihre Blütezeit erlebte sie zwischen den Jahren 1880 und 1920, und bemerkenswert ist zudem, daß sich das Schaffen der Künstlerinnen und Künstler in diesem Zeitraum erheblich modernisierte, sich von traditionellen „holländischen“ Malweisen und Genres zunehmend avantgardistischen Positionen zuwandte.

Gouden Eeuw

A propos holländisch: Denkt man an holländische Malerei, so denkt man an die Kunst des Barock, an das „Gouden Eeuw“, das goldene Zeitalter, das für die Niederlande das 17 Jahrhundert war, als man zu den Weltmächten zählte, international Geschäfte machte, Wohlstand anhäufte und nicht zuletzt die Malerei einen unerhörten Aufschwung erfuhr. Und, die Holländer sind Kaufleute, natürlich auch der Kunsthandel. Holländische Malerei – Landschaften, Stilleben, Seestücke, Portraits usf. – wurde geschäftsmäßig bestellt und geliefert, die Maler jener Zeit, nennen wir als die berühmtesten nur Rembrandt und Rubens, führten Unternehmen mit zahlreichen Angestellten und verdienten klotzig.

Kees van Dongen (1877-1968): Der blaue Hut, 1937 (Foto: Sammlung Singer Laren, Museum Ostwall)

Fahrräder und Telegraphenmasten

An diese Tradition versuchten die Maler der frühen niederländischen Moderne durchaus anzuknüpfen, und die Nachfrage war, glaubt man den Kuratoren, so gut, daß die kleinen Messingschildchen auf den Bilderrahmen für den Export von vornherein in den Sprachen der Empfängerländer verfaßt wurden. Ähnlich wie 200 Jahre zuvor bestimmen Kühe, Weiden, Wolkenhimmel das Erscheinungsbild, auf den ersten Blick wähnt man sich in einem modernisierten 17. Jahrhundert.

Gewiß, manches hat sich geändert, die engen Harmonievorstellungen der Altvorderen werden erschüttert durch harte oder indifferente Lichtführung, engere Bildausschnitte und erste leise Abstraktionen, durch verfremdende Maltechniken wie beispielsweise den Pointillismus, vor allem aber auch durch gewiß nicht ironiefrei eingefügte Elemente der neuen Zeit, durch Fahrräder, Telegraphenmasten oder gar, Schreck laß nach, durch ein Fußballfeld im Hintergrund. Manche Maler ließen es einfach etwas lockerer angehen, hat man den Eindruck, Gelassenheit galt wahrscheinlich damals schon als holländische Nationaltugend.

Maler aus den USA

So. Was und wo Laren ist und warum es zwischen dem kleinen Nest (pardon) und der Westfalenmetropole Dortmund einen so fruchtbaren Kunstaustausch gibt, müßte jetzt klar sein. Bleibt zu erzählen, wer die Singers sind. Der Amerikaner William Henry Singer jr. und seine Frau Anna Singer-Brugh kamen 1902 nach Laren, sammelten die Kunst ihrer Zeit, zeigten sie in ihrer 1911 errichteten Villa De Wilde Zwanen, die Anna Singer 1956 zu einem Museum machte. Singer war selber Maler, überdies Sproß einer überaus reichen Pittsburger Industriellenfamilie. Die Entscheidung des Sammlerehepaares, nach Laren zu gehen, läßt die Bedeutung erahnen, die der Ort, den die holländische Kunst in jenen Jahren hatte.

Albert Neuhuys (1844-1914): Mädchen mit Blume, um 1910 (Foto: Sammlung Singer Laren, Museum Ostwall)

Liebermanns Strandurlaub

Übrigens war die niederländische Kunstszene keineswegs nur eine Parallelveranstaltung zur deutschen, man kannte und man schätzte sich. Max Liebermann, dessen Hollandbilder in Deutschland recht bekannt sind, verbrachte samt Familie neun Sommerurlaube an der holländischen Küste und pflegte, das ist belegt, engen Kontakt mit den dortigen Kollegen, Max Beckmann tat dies ebenso.

Erinnerungen an das alte Laren

Eine Besonderheit der Dortmunder Bilderschau sind übrigens wandgroße Schwarzweiß-Reproduktionen alter Fotografien von Laren und Umgebung. Oft stören solche Elemente ja eher, hier aber, in einer ansonsten streng geordneten Präsentation, ist ihre verortende Wirkung sinnvoll und angenehm. Darüber hinaus vermitteln auch sie „Ein Gefühl von Sommer…“, zumal dann, wenn sie in ihrem ersten Leben Urlaubspostkarten waren.

  • „Ein Gefühl von Sommer… – Niederländische Moderne aus der Sammlung Singer Laren“
  • Museum Ostwall im Dortmunder U, Leonie-Reygers-Terrasse
  • Bis 25. August. Geöffnet Di+Mi 11-18 Uhr, Do+Fr 11-20 Uhr, Sa+So 11-18 Uhr
  • Eintritt 9 EUR, Katalog 24,95 EUR
  • Tel. 0231 / 50 2 47 23
  • Anmeldungen und Buchungen: www.mo.bildung@stadtdo.de
  • museumostwall.dortmund.de



Dortmunder Schriftsteller Wolfgang Körner gestorben

Der Schriftsteller Wolfgang Körner ist mit 81 Jahren in Dortmund gestorben, und zwar bereits am 25. April.

Was bleibt, ist das Werk: Typoskriptseite von Wolfgang Körner, verwahrt im Fritz-Hüser-Institut. (© FHI)

Bleibendes aus dem Nachlass: Typoskriptseite mit handschriftlichen Korrekturen von Wolfgang Körner, verwahrt im Dortmunder Fritz-Hüser-Institut. (© FHI)

Durch bloßen Zufall habe ich diese traurige Nachricht gestern im Facebook-Auftritt des Dortmunder Literaturhauses entdeckt, das wiederum auf einen kurzen Nachruf im Magazin „Buchmarkt“ verwies. Heute kam eine Pressemeldung der Stadt heraus, die zusätzlich darauf abhob, dass das am Ort ansässige Fritz-Hüser-Institut Körners literarischen Nachlass bewahre. Nur gut, dass Körner seinen einst (scherzhaft?) geäußerten Vorsatz („Ich schmeiße alles weg!“) nicht umgesetzt hat.

Umstände und Zeitpunkte der Veröffentlichungen deuten darauf hin, dass der 1937 in Breslau geborene Wahl-Dortmunder Wolfgang Körner längst dem öffentlichen Bewusstsein entglitten war. Das war einmal ganz anders gewesen: Körner hatte der einflussreichen Dortmunder „Gruppe 61″ angehört – u. a. gemeinsam mit Max von der Grün, Günter Wallraff und Erika Runge. Diese Formation hatte sich vor allem die realistische Schilderung des gewöhnlichen Alltags und der Arbeitswelt auf die Fahnen geschrieben. Dazu fügte sich auch ein Roman wie Wolfgang Körners „Versetzung“ (1966), eine auch von Popliteratur inspirierte Ansicht aus der Welt der Angestellten, wie sie damals – viele Jahre etwa vor Wilhelm Genazinos „Abschaffel“-Trilogie – noch keineswegs gängig war.

Aus seinem vielfältigen Werk am bekanntesten wurde der Roman „Nowack“ (1969), eine sozialkritische Auseinandersetzung mit Zuständen im Ruhrgebiet. Via Fernsehen entfaltete Körner, der sich zunehmend auf Satire und Parodie verlegte, auch bundesweite Wirkung – mit seinem Drehbuch zur kultverdächtigen Serie „Büro, Büro“ (1981), quasi einem frühen Vorläufer von „Stromberg“. Bis heute ist die Reihe auf manchen Internet- Plattformen abrufbar. Weithin bekannt wurde auch „Der einzig wahre Opernführer“ (1985), gleichfalls nicht bierernst gemeint und bei Rowohlt immer noch lieferbar.

Leute, die ihn näher gekannt haben, wie etwa der Publizist Klaus Waller, beschreiben Wolfgang Körner als Menschen mit „Ecken und Kanten“, der aber vor allem Humor besessen habe. Körner, so Waller im erwähnten (und oben verlinkten) „Buchmarkt“-Artikel weiter, habe manche Kollegen und andere, die in Not geraten waren, unterstützt. Am irdischen Gütern hing er nicht, denn, so Körners in jedem Sinne gut geerdete Begründung, er müsse „nicht die reichste Leiche auf dem Friedhof sein“.




Julia Wissert (34) soll Schauspielchefin in Dortmund werden

Die designierte Schauspielchefin Julia Wissert. (Foto: Ingo Höhn)

Die designierte Schauspielchefin Julia Wissert. (Foto: Ingo Höhn)

Wie es aussieht, hat Dortmunds Schauspiel seine künftige Chefin gefunden: Julia Wissert (34) käme als eine der jüngsten Intendantinnen der Republik an den Hiltropwall. Zur Spielzeit 2020/21 soll sie Nachfolgerin von Kay Voges werden, der im Januar seinen bevorstehenden Abschied verkündet hatte.

Noch müssen sich die politischen Gremien der Stadt mit der Personalie befassen. Am 14. Mai tagt der Kulturausschuss, am 23. Mai müsste dann der Rat seine Zustimmung geben. Doch dem dürfte wohl nicht viel entgegenstehen.

Julia Wisserts Vita deutet auf etliche Erfahrungen in jungen Jahren hin. Auf der Homepage des Bochumer Theaters werden u. a. diese Stationen aufgeführt: 1984 in Freiburg geboren, studierte sie in London an der University of Surrey Performance, Theater- und Medienproduktion. Es folgten Regieassistenzen in Freiburg und Basel sowie am Staatstheater Oldenburg. Dort inszenierte sie 2010 „Haram“ von Ad de Bont.

Anfang 2013 brachte sie in Göttingen „Das Interview“ von Theo van Gogh auf die Bühne. Von 2011 bis 2014 studierte Julia Wissert am Mozarteum in Salzburg, also dürften auch einige musikalische Aspekte in ihre Theaterarbeit einfließen. Als freie Regisseurin arbeitete sie u. a. am Gorki Theater Berlin, am Theater Brno in Tschechien und am Theater Luzern (Schweiz). Die Frau hat sich also hie und da umgesehen.

„Diversität und Offenheit“

In einer Pressemitteilung der Stadt Dortmund wird Julia Wissert „große Erfahrung im Bereich von Diversifizierung und kultureller Bildung“ nachgesagt. Sie möchte – wie es weiter heißt – das Schauspiel „zu einem offenen Ort machen, der so divers und vielschichtig ist wie die Stadt Dortmund“, auch sollten „die aktuellen Fragen von Diversität und Offenheit in unserer Gesellschaft verhandelt werden“. Kulturdezernent Jörg Stüdemann kündigte außerdem an, Frau Wissert wolle „unter anderem auch sehr starke Frauen“ ins Schauspiel holen.

Was die designierte Schauspielchefin unter dem mehrfach bemühten und recht dehnbaren Begriff der „Diversität“ versteht, wird sich spätestens in ihrer Theaterarbeit zeigen. Um mal ganz ungeschützt drauflos zu vermuten: Mit herkömmlichem Guckkastentheater dürfte ihre Herangehensweise allenfalls bedingt zu tun haben. Eher darf man schon eine gewisse Affinität zu fortschrittlich sich verstehenden politischen und gesellschaftlichen Bewegungen erwarten. Auch wird es wahrscheinlich ausgesprochen multikulturell zugehen. Lassen wir uns überraschen. Konservativen Traditionen verhaftete Gemüter mögen überdies befürchten, es werde ein Übermaß an „politischer Korrektheit“ Einzug halten. Hoffen wir, dass sie Unrecht haben.

„People of Colour“ in der Mehrheit

Von ihren gesellschaftlichen und ästhetischen Positionen kann man sich übrigens auch schon ohne großen Aufwand ein Bild machen: Ganz in der Nähe von Dortmund, am Schauspielhaus Bochum, ist derzeit eine Produktion von Julia Wissert zu sehen, deren Texte sie gemeinsam mit dem Ensemble verfasst hat. In „2069 – Das Ende der Anderen“ geht es um eine zukünftige Welt, in der auch die hiesige Gesellschaft überwiegend aus „People of Colour“ bestehen wird – und eben nicht mehr aus weißen Menschen. Damit ändern sich die Spielregeln des Zusammenlebens. „Schwarz“ und „deutsch“ zu sein, wird nach diesem Verständnis der Normalfall werden, die Rollenvorbilder werden sich grundlegend gewandelt haben.

Gemeinsam mit Julia Wissert soll – als Stellvertreterin und Dramaturgin – Sabine Reichert nach Dortmund kommen. Sie bringt Erfahrungen vom Burgtheater Wien, dem Essener Schauspiel und ebenfalls aus Bochum mit. Mit Kunstprojekten im Stadtraum hat sie sich ebenso beschäftigt wie mit Tanztheater in der Freien Szene.

Zwei andere Spartenleiter der Dortmunder Bühnen sollen unterdessen in ihren Positionen bleiben: Xin Peng Wang als Ballettchef (im Amt seit 2003) und Andreas Gruhn als Leiter des Kinder- und Jugendtheaters (seit 1999). Beide Verträge werden vermutlich bis zum 31. Juli 2025 verlängert.

Nachschrift: Antirassismus-Klausel

Mediales Aufsehen erregte Julia Wissert im Februar, als sie – mit der Rechtsanwältin und Dramaturgin Sonja Laaser – eine Antirassismus-Klausel für Verträge in künstlerischen Berufen, also auch fürs Theater entwarf. Näheres dazu findet sich u. a. in einem Beitrag des Portals Nachtkritik.

An die Klausel knüpfte sich – zumal am Beispiel des Theaters Oberhausen – eine etwas hitzige Debatte darüber, ob hier den Theatern, mithin in aller Regel vergleichsweise liberalen und toleranten Einrichtungen, Neigungen zum Rassismus unterstellt würden. Tatsächlich geht die Klausel von einem „strukturellen“ (tief verwurzelten) Rassismus-Problem in der gesamten Gesellschaft aus.

 




Dortmund im Juni: Kunst, Kultur und Kabarett beim Evangelischen Kirchentag

Wiederkehr zum Kirchentag: Pop Oratorium „Luther", hier eine Szene der Uraufführung in der Dortmunder Westfalenhalle am 31. Oktober 2015 – mit Frank Winkels (Mitte) in der Titelrolle. des Reformators.

Zum Kirchentag wieder zu erleben: das aufwendige Pop-Oratorium „Luther“ – hier eine Szene der Uraufführung in der Dortmunder Westfalenhalle am 31. Oktober 2015, mit Frank Winkels (vorn Mitte) in der Titelrolle des Reformators. (© Stiftung Creative Kirche, Witten)

Vier Bundespräsidenten, neben dem amtierenden drei seiner Vorgänger, die Bundeskanzlerin, der NRW-Ministerpräsident, zahlreiche Bundes- und Landesminister, sie alle haben zwischen dem 19. und 23. Juni Termine in Dortmund. Während der fünf Tage ist die Stadt Gastgeber des 37. Deutschen Evangelischen Kirchentags, der mit geballter Polit-Prominenz aufwartet.

Bundespräsident Frank Walter Steinmeier hält einen der Hauptvorträge und befasst sich mit „Zukunftsvertrauen in der digitalen Moderne“, Bundeskanzlerin Angela Merkel spricht über die Frage „Vertrauen als Grundlage internationaler Politik?“ NRW-Ministerpräsident Armin Laschet findet sich zur Bibelarbeit ein, Bundesaußenminister Maas diskutiert mit Friedensnobelpreisträger Denis Mukwege, wie es sich mit der Verantwortung Deutschlands zum Schutz von Frauen und Kindern verhält – und Arbeitsminister Hubertus Heil erörtert mit Verdi-Chef Frank Bsirske, wie es um den Wert der Arbeit bestellt ist.

Insgesamt 2500 Veranstaltungen

Die Auftritte der Politiker sind Teil eines Programms mit rund 2.500 Veranstaltungen. Täglich werden rund 100.000 Besucher erwartet. Neben Debatten und Podiumsgesprächen gehören Gottesdienste, Workshops und Konzerte ebenso dazu wie Ausstellungen und Installationen. Kulturelle Angebote machen mit rund 600 Veranstaltungen fast ein Viertel des Programms aus. Mit dabei sind z. B. die Schauspielerin und Sängerin Anna Loos, der Musiker und Songwriter Adel Tawil, die Band Culcha Candela und das Bundesjugendjazzorchester. Konzertbühnen werden auf dem Hansa- und Friedensplatz sowie dem Alten Markt stehen.

Das „Depot“ an der Immermannstraße soll zu einer „Kulturkirche“ werden. Die Schwerpunktthemen sind hier Heimat und Kunstfreiheit. Die Schriftstellerin Thea Dorn, der Programmchef des Deutschland Radio Kultur, Hans-Dieter Heimendahl, der Intendant der Ruhrfestspiele, Olaf Kröck, und Johann Hinrich Claussen, Kulturbeauftragter der Evangelischen Kirche Deutschland (EKD), sind zu Gesprächsrunden eingeladen. Das Programmkino des Depots zeigt eine Reihe von aktuellen Filmen, unter anderem „The Cleaners – Im Schatten der Netzwelt“. Die Dokumentation berichtet über die Arbeit Zehntausender von Menschen, die im Auftrag von Internetkonzernen belastende Fotos und Videos auf den Portalen von Facebook, Twitter etc. löschen. Darüber hinaus wird der Regisseur Züli Aladag über seinen Film „Die Opfer – Vergesst mich nicht!“ sprechen, der sich mit den NSU-Morden befasst.

Vertrauen auch als literarisches Thema

Im Freizeitzentrum West (FZW) an der Ritterstraße gibt‘s Kabarett aus der und über die Kirche, die Gruppe Klangwerk aus Bayreuth bringt Deutschpop zu Gehör, der Dortmunder Liedermacher Fred Ape ist zu Gast und zudem wird die Veranstaltungsstätte Ort für einen Techno-Gottesdienst sein, Thema: „Menschenrechte – Gottes Wort!?“ Eine bunte Musikvielfalt bieten zahlreiche Songwriter im „domicil“ an der Hansastraße, in dem auch abends um 22.30 Uhr ein kabarettistischer Tagesrückblick gehalten wird. In den Westfalenhallen wird sich der Kabarettist Serdar Somuncu an einer Runde zur #MeToo-Debatte beteiligen. Eckhardt von Hirschhausen diskutiert mit Jugendlichen über Klima und Umwelt.

Im Industriemuseum Zeche Zollern (Stadtteil Bövinghausen) setzt sich unter dem Leitgedanken „Erinnern, Begegnen, Bedenken“ eine Ausstellung mit der Geschichte des Reviers auseinander. Darüber hinaus sind Aufführungen vorgesehen, die weltweite historische Ereignisse eingehen. Das Hoesch-Museum zeigt eine Ausstellung, die dem Thema „Migration und Religion im Ruhrgebiet“ gewidmet ist.

Da der Kirchentag das Motto „Was für ein Vertrauen“ trägt, steht auch das Literaturfest der Großveranstaltung unter dieser Losung. Zahlreiche Autoren aus der Region lesen aus ihren aktuellen Büchern passende Passagen. Nachmittags ab 15 Uhr sind Kinder eingeladen, sich zu einem Mitmachprogramm einzufinden, Zeit für Erwachsene nehmen sich Frank Goosen, Sarah Meyer-Dietrich, Ralf Thenior und weitere Autoren ab 19 Uhr.

Gewaltiges Pop-Oratorium über Luther

Freunde elektronischer Musik können sich auf die Uraufführung der Kammeroper „Nova – Imperfection Perfection“ des zeitgenössischen Komponisten Franz Danksagmüller freuen. Das Pop-Oratorium „Luther“ mit 2.000 Mitwirkenden erlebt eine weitere Aufführung am 20. Juni in den Westfalenhallen.

Während der gesamten Dauer des Kirchentages ist am Fredenbaumplatz eine Installation aus Klang und Licht zu sehen, die die evangelische Jugend aus dem Osten Berlins geschaffen hat. Die Klanginstallation Kuckucksuhrenorgel des Künstlers Erwin Stache, wird am Donnerstag von 10 bis 22 Uhr zwei Mal pro Stunde an St. Nicolai (Lindemannstraße) zu hören sein. Südkoreanische Künstler stellen ein Projekt vor, das das Thema Frieden in den Fokus rückt. Darüber hinaus öffnen Museen ihre Türen. Im Dortmunder U ist eine interaktive Ausstellung zur Skate-Kultur zu sehen.

Mit drei Gottesdiensten (am Ostentor, auf dem Hansa- und dem Friedensplatz) wird der Kirchentag am 19. Juni eröffnet, gefolgt vom Willkommensfest, das die Stadt und die Evangelische Landeskirche von Westfalen ausrichten. Der Abschluss erfolgt im Westfalenpark und im Westfalenstadion („Signal Iduna-Park“).

Infos unter https://www.kirchentag.de/