Museen geschlossen, Frank Goosen ausverkauft: Ärger und Freude liegen im Kulturbetrieb des Reviers nahe beieinander

Von außen sieht man ihm seine charakteristischen Tütenlampen gar nicht an: das Schauspielhaus Bochum, wo Frank Goosen sein „Silvester Spezial“ zur Aufführung brachte. (Foto: Schauspielhaus Bochum/Martin Steffen)

Frank Goosen, das ist mal klar, Frank Goosen hat uns gerettet. Das „Silvester Spezial“ des Bochumer Kabarettisten, dargebracht im Großen Haus des Bochumer Schauspiels, fügte sich exakt in die Erfordernisse des diesjährigen Besuchsbespaßungsprogramms: Beginn um 20 Uhr und um die zwei Stunden lang, so daß es bis zum Jahreswechsel dann nicht mehr weit war. Die Silvesterparty im Schauspielhaus knickten wir uns und strebten hernach den heimischen Dortmunder Fleischtöpfen zu. Guter Abend, gutes Timing, 2025 konnte kommen.

Ruhrgebietskultur

Warum erzähle ich das eigentlich? Nun, weil die Berliner Verwandtschaft in diesem Jahr bei uns zu Gast war und man dann natürlich einen gewissen Ehrgeiz entwickelt, richtig schöne Ruhrgebietskultur vorzuführen. In vielen Vorjahren war – in Berlin – die Komische Oper ein prominenter verwandtschaftlicher Bespaßungsort, aber die wird ja jetzt umgebaut und Barrie Kosky ist auch nicht mehr da und überhaupt. Also finde mal was, hier im Revier, wenn es nicht traditionelle Operette sein soll. Nun, wir fanden, wie gesagt, ihn, Frank Goosen, den man mit seiner grundsoliden Bochumer Erdung nebst gleichzeitiger, hochgradig anregender intuitiver Beweglichkeit und profundem historischen Spezialwissen auswärtigem Publikum durchaus zumuten kann, ja geradezu: sollte.

Andreas Weißert las in Dortmund

Der Fairneß halber sei ergänzt, daß auch andere Bühnen Jahresausklangsprogramme anboten. So las der geschätzte Schauspieler Andreas Weißert auf der Dortmunder Studiobühne wieder etwas vor, Textpassagen von Fontane, Kästner, Fallada und Bernhard unter dem Titel „Es ist ein hübsches Wort, daß die Kinder ihren Engel haben“ (ein Fontane-Zitat). Nur – um 16 Uhr fing er an und anderthalb Stunden später war er fertig, das ist dann noch verdammt viel Zeit bis Mitternacht.

Volle Hütte

Bei Goosen war das Theater voll, ganz offensichtlich giert das Volk nach Jahresendkultur. Da paßt es – Vorsicht, Ironie! – wunderbar ins Bild, daß die heimischen Museen an den letzten Tagen des Jahres einfach zumachen. Das Dortmunder „U“, zentrale Adresse, blieb zwischen 30. Dezember und 1. Januar, also von Montag bis Mittwoch, drei Tage immerhin, geschlossen, und in etliche anderen Städten hielten kommunale Museen es ebenso. Offensichtlich war hier eine Bürokratie am Werke, die die Welt in Brückentagen denkt und nicht in Publikumsinteresse. Warum sollte man an kalten, nassen Winter-Werktagen „zwischen den Jahren“, die wirklich nicht zu Spaziergängen irgendwelcher Art einladen, Museumsbesuche ermöglichen? Und der Montag ist eh sakrosankt, liege er für das ungeliebte Publikum auch noch so günstig zwischen den Feiertagen. Es macht die Sache übrigens nicht besser, daß wir, wären wir in Berlin gewesen, ebenfalls vor größtenteils geschlossenen Häusern gestanden hätten. Die Ignoranz einer selbstgefälligen kommunalen Bürokratie ist ein bundesweites Phänomen.

Offene Türen beim Schraubenkönig

Private Museen hingegen kennen das Publikumsinteresse und haben ihre Angebote angepaßt. So läßt „Schraubenkönig“ Würth die Tore seiner drei Häuser in und um Künzelsau jeden Tag von 10 bis 18 Uhr öffnen, das Potsdamer Museum Barberini, das SAP-Chef Hasso Plattner gehört, bot am 1. Januar zumindest Führungen durch das Haus an, und ebenso hatte die Duisburger Küppersmühle am 1. Januar geöffnet.

Wenigstens haben wir den Kran gesehen

In Dortmund, wo Tage vor Silvester museal nichts mehr ging, blieb als touristische Aktion schließlich noch eine Stadtrundfahrt mit dem eigenen Auto, Borsigplatz, Westfalenhütte (wo große städtebauliche Veränderungen anstehen), Hoesch-Museum (geschlossen wegen Umbau). Weiter über Malinckrodtstraße und Nordmarkt zum Hafen, wo vis-à-vis vom wilhelminischen Hafenamt der alte Kran zu besichtigen ist, den man weiter unten auf dem Hafengelände abgebaut und hier, auf der Vorzeigemeile, wieder aufgebaut hat. Gut, wenigstens diese Besichtigung hat geklappt, umsonst und draußen, wie es sein soll bei einem Freiluftindustriedenkmal.

Und es ging auch vom Auto aus. Mistwetter, wie gesagt.




Mit allen Sinnen eintauchen: „Kopfüber in die Kunst“

Ferdinand Spindel: Schaumraum, 1969/2024, Ausstellungsansicht aus „Kopfüber in die Kunst“, 2024. (Foto: Roland Baege)

Eines der Zauberworte im Kulturbetrieb lautet seit einigen Jahren so: „immersiv“. Nicht distanzierte, abwägende Kunstbetrachtung ist demnach gefragt, sondern ein spontanes und möglichst tiefes „Eintauchen“ in die Materie, seien es nun musikalische, literarische oder bildnerische Werke. In Dortmund, wo nun Kunst speziell für Kinder und deren Familien aufbereitet wird, sagt man es alltagsnäher: „Kopfüber in die Kunst“, lautet hier die fröhliche Parole. Die „Immersion“ steht im Untertitel.

Stationen der Schau sind acht raumgreifende Environments und Installationen. Solche Arbeiten, durch die man sich bewegen kann, hat das nunmehr 75 Jahre alte Museum Ostwall unter dem damaligen Direktor Eugen Thiemann erstmals gegen Ende der 1960er Jahre gezeigt. Ein Werk von damals, eine rosarote Schaumstoff-Landschaft von Ferdinand Spindel, ist für die jetzige Ausstellung sorgsam rekonstruiert worden. Jetzt dürfen vor allem Kinder die höhlenartige Formation sitzend, liegend, gehend und sonst wie erkunden, sie also aktiv „erobern“. Alles darf dabei berührt werden. Einzige Voraussetzung: Vorher sollen die Schuhe ausgezogen und in bereitgestellten Beuteln verstaut werden.

Wo Kinder das Sagen haben

Den weiteren Parcours darf man dann mit Schuhwerk durchschreiten. Der Rundgang ist ausgesprochen abwechslungsreich. Falls gewünscht, helfen einige Kinder als kundige Erklär-Scouts weiter. Sie haben das Sagen.

Die vielleicht eindrucksvollste Arbeit heißt „Chasing Stars in the Shadow“ (etwa: Sterne im Schatten jagen/fangen, 2022) und stammt vom Koreaner Joon Moon. Buchstäblich wie von Geisterhand bewegen sich virtuelle Figuren, sobald man mit einer kleinen Laterne durch den Raum geht. Obwohl überwiegend Grau in Grau getönt, entfalten sich auf den Wänden, an der Decke und am Boden staunenswert lebendige und überraschend magische Effekte.

Joon Moin: „Chasing Stars in the Shadow“ (Still), 2021. (© Joon Moon)

In eine ganz anders geartete, ungleich hellere Kunst- und Phantasie-Welt führt die Installation „K. E. S.“ (2024) des dreiköpfigen Künstlerinnen-Kollektivs mit dem hübschen Namen „Frau Hermann“. Ausgehend von kunterbunten Kaleidoskop-Bildern, ergibt sich ein Spielraum mit vielen farbigen Röhrenelementen. Schrecksekunden sind womöglich inbegriffen: Mit der Lizenz zum Berühren habe ich eine dieser Röhren angefasst. Sie fiel sogleich zu Boden und ich fürchtete, ich hätte die Kunst irreparabel beschädigt. Die Künstlerinnen (Claudia Terlunen, Sabine Held, Silvia Liebig) standen freilich lachend daneben: „Gar kein Problem!“ Alles lässt sich kinderleicht wieder neu zusammenfügen. Puh!

Sportstunde im Rathaus

Und so geht es munter weiter – u. a. mit einer filmisch dokumentierten Sportstunde, die Christian Jankowski mit Schülerinnen und Schülern der örtlichen Wilhelm-Röntgen-Realschule im frisch renovierten Ratssaal des Dortmunder Rathauses veranstaltet hat. So bewegt ist es dort wohl noch nie zugegangen. Im selben Zusammenhang dürfen jetzt im Museum Hula-Hoop-Reifen erprobt werden – eine Aktion, zu der sich Jankowski in New York inspirieren ließ. Die schwingenden architektonischen Kreisbewegungen des berühmten Guggenheim Museums werden gleichsam nebenbei nachempfunden. So jedenfalls meint es der Künstler.

Jenseits des Alltäglichen

Schnell zeigt sich in der Praxis, dass Kinder tatsächlich unbefangener mit den Aktions-Angeboten solcher Kunst umgehen. Erwachsene können hier allerdings gut und gerne „das Kind in sich“ wiederentdecken. Und es gibt ja auch Arbeiten, die just eher die erwachsenen Gäste ansprechen dürften, beispielsweise das „Environnement Chromointerférent Translucide C“ (1974/2009) von Carlos Cruz-Diez, der auch schon 1968 im Museum Ostwall eine damals neuartige Installation gezeigt hat. Die verblüffenden Effekte beruhen auf wandelbaren Farbinterferenzen, welche durch Projektion auf lichtdurchlässige Leinwände zustande kommen. Da geht man durch eine unwirklich flirrende und verspiegelte Welt, in der sich alles Körperhafte aufzulösen scheint. Eine sinnliche Erfahrung jenseits des Alltäglichen.

August Macke und Fragen zum Zoo

Schließlich hat auch der „Masterstudiengang Szenographie und Kommunikation“ (so etwas gibt’s) der Fachhochschule Dortmund eine Installation erstellt. „un/fenced“ (etwa: un/eingezäunt) bezieht sich auf ein Hauptwerk der Dortmunder Kunstsammlungen, August Mackes Gemälde „Großer Zoologischer Garten“ von 1913, in dem sich Menschen und Tiere sozusagen gleichberechtigt begegnen. Angeregt von kritischen Fragen zur Zoohaltung, sind vor allem monumentale Rundsäulen mit nachgeahmten Tierhäuten (Leopard, Elefant, Schlange etc.) entstanden, denen sich durch Berührung entsprechende Laute entlocken lassen. Nur eine nette Spielerei oder erste Schritte zum anderen Umgang mit Natur?

„Kopfüber in die Kunst. Vom Environment zur Immersion“. Eine Ausstellung für Familien. Museum Ostwall im Dortmunder U, Leonie-Reygers-Terrasse, 44137 Dortmund. Noch bis zum 25. August 2024. Geöffnet Di, Mi, Sa, So und an Feiertagen 11-18 Uhr, Do/Fr 11-20 Uhr.

www.dortmunder-u.de/museum-ostwall/

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Der Beitrag ist zuerst im Kulturmagazin „Westfalenspiegel“ erschienen: www.westfalenspiegel.de




Kehrseiten des Expressionismus – eine nachdrückliche Befragung in Dortmund

Kunstgenuss ist in Dortmund keineswegs ausgeschlossen: Ernst Ludwig Kirchners Gemälde „Sertigweg“, 1924/26, Öl auf Leinwand (Sammlung Horn, Stiftung Rolf Horn / Landesmuseen Schleswig-Holstein, Schloss Gottorf, Schleswig)

Der Expressionismus ist museal vielfach durchbuchstabiert worden. Gibt es da noch Neues zu entdecken? In Dortmund wird es versucht.

Der Reihe nach: Die Sammlung Horn bereichert seit 1988 das schleswig-holsteinische Landesmuseum Schloss Gottorf in Schleswig. Nun wird dort umgebaut, deshalb können die Bestände auf Reisen gehen. Die Tournee hat im Kirchner-Museum zu Davos begonnen, wo man sich – wie meist üblich – auf Künstler-Persönlichkeiten konzentriert hat: Heckel, Kirchner, Schmidt-Rottluff, Pechstein, Rohlfs, Nolde, Jawlensky, Kollwitz.

In Dortmund, wo die Sammlung Horn unter dem Titel „Expressionismus – hier und jetzt!“ gastiert, soll diese Kunst hingegen nicht allein für sich sprechen. Bildergenuss geht hier nur mit Hintergrund. Die Werke werden mit einem Netz aus Theorie überzogen, ja hie und da überfrachtet.

Im Kontext der „Schwarzen deutschen Geschichte“ 

Das rein weibliche Kuratorinnen-Team des Museums Ostwall im „Dortmunder U“ fügt die rund 120 expressionistischen Werke in den Horizont ihrer Entstehungszeit ein, und das heißt – heutigem Zeitgeist gemäß – nicht zuletzt in ein kolonialistisches Umfeld. Besonders der Ko-Kuratorin Natasha A. Kelly ist daran gelegen, den Kontext „Schwarzer deutscher Geschichte“ aufzurufen. Die Expressionisten haben demnach vielfach Modelle mit dunkler Hautfarbe gemalt, allem damaligen Fortschrittsdrang zum Trotz letztlich doch mit „weißem“ Blick und stereotypen Sichtweisen, die freilich erst viel späteren Generationen aufgefallen sind. Bis auf Namen wie Milli und Nelly war bisher kaum Näheres über diese Frauen bekannt. Eine Video-Installation von Anguezomo Mba Bikoros stellt nun einen Bezug zu jener Ära her, als sich schwarze Frauen in der Unterhaltungsindustrie zum Amüsement des europäischen Bürgertums verdingten.

Aneignung „exotischer“ Formensprachen

Bestrebungen der Expressionisten zur Lebensreform mit Natursehnsucht und Freikörperkultur (als Einspruch gegen Industrialisierung) galten als Avantgarde, während die „Naturvölker“, denen sie die vermeintlich paradiesische Körperlichkeit abschauten, als rückständig wahrgenommen wurden. Zugleich eigneten sich Expressionisten die künstlerische Formensprache an, wie sie in Völkerkundemuseen zu finden war oder auf Reisen in exotische Weltregionen erlebt wurde. Grundsätzlich wäre – auch vor dem Hintergrund heutiger Debatten – zu fragen, ob derlei „kulturelle Aneignung“ nur verwerflich ist oder auch dem produktiven Austausch der Kulturen dienen kann.

Beispiel für die theoretische Befragung der Kunst in Dortmund: Moses März‘ Raum mit einer „Kartographie des Expressionismus im Zeitalter des Tout-Monde“. (© Moses März – Foto: Museum Ostwall im Dortmunder U / Roland Baege)

Suche nach gegenläufigen Erzählungen

Die Dortmunder Ausstellung versucht an einigen Stellen, etwa mit Arbeiten der melanesischen Künstlerin Lisa Hill, wirksame „Gegenerzählungen“ zu entwerfen, die dem wohlfeilen Exotismus entgegenstehen. So sollen etwa die Bewohner von Südsee-Regionen ihre Natur und Geschichte aus eigener Perspektive schildern. Außerdem ist Moses März‘ weit ausladende Kartierung komplizierter Zusammenhänge zwischen Expressionismus, Kolonialhistorie und kapitalistischem Kunstmarkt zu sehen. Ein Saal, wie mit lauter Wandzeitungen gespickt, im Prinzip gelehrt und belehrend, doch wildwüchsig verflochten und recht chaotisch wirkend.

Trotz aller kritischen Befragung bietet die Ausstellung auch einen gewissen Überblick zur expressionistischen Kunst – vom harschen Holzschnitt bis zur satten Farbenpracht. Schätze der Sammlung Horn begegnen ausgewählten Stücken des Dortmunder Eigenbesitzes und Leihgaben aus Davos. Doch so „unschuldig“, wie einem diese Kunst bislang erschienen sein mag, soll sie künftig wohl nicht mehr betrachtet werden können. Ob das Publikum diesen sperrigen Zugang goutiert?

„Expressionismus – hier und jetzt!“ Museum Ostwall im Dortmunder U. Noch bis zum 18. Februar 2024. Di, Mi, Sa, So 11-18 Uhr, Do und Fr 11-20 Uhr, 31.12.23 und 1.1.24 geschlossen. www.dortmunder-u.de/museum-ostwall

Eine längere Version des Beitrags ist zuerst im Kulturmagazin „Westfalenspiegel“ erschienen.

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Nachtrag: Die erwähnte Dortmunder Ko-Kuratorin Natasha A. Kelly hat neuerdings an der Universität der Künste in Berlin eine Gastprofessur fürs Studium generale inne. Dort ist sie jüngst auch im Zusammenhang mit entschieden pro-palästinensischen und tendenziell antisemitischen Aktionen in Erscheinung getreten, die sie laut einem Bericht der Frankfurter Allgemeinen Zeitung („Die Politik der Verdammnis“, Autor Claudius Seidl, 27. November 2023) ausdrücklich gutgeheißen hat. Nach einer verqueren Lesart gelten auch Israelis und somit Juden als „weiße Kolonisatoren“, so dass es durchaus ideologische Querverbindungen zu Ansätzen der Dortmunder Ausstellungen geben könnte.




Was uns im Museum blüht: Dortmund zeigt „Flowers!“

Ernst Ludwig Kirchner: „Stillleben mit Früchtekorb“, 1918/19, Öl auf Leinwand, 64 x 80,5 cm (Courtesy Galerie Henze & Ketterer & Triebold, Riehen/Basel – Foto: Courtesy Galerie Henze & Ketterer & Triebold, Riehen/Basel)

Wenn eine Ausstellung „Flowers!“ (nur echt mit dem Ausrufezeichen) heißt und stadtweit blumig plakatiert wird, dann könnten optischer Seelenbalsam, Harmonie und farbenprächtige Idyllen zu erwarten sein. Doch so bruchlos darf man das Thema natürlich (!) längst nicht mehr angehen. Also muss man sich jetzt beim Besuch im Dortmunder Museum Ostwall auch auf irritierende oder gar verstörende Momente gefasst machen.

Feministischer „Feldzug“: Frau zerschlägt mit Blumen-Nachbildung (Fackellilie) als „männlich“ gedachte Autoscheiben. – Momentaufnahme aus: Pipilotti Rist „Ever Is Over All“, 1997, 2-Kanal-Videoinstallation, 4:09 min (Zyklus Smash) bzw. 8:25 min (Zyklus Flower); Farbe. Sound © Anders Guggisberg & Pipilotti Rist, Maße variabel, Edition 1/3 + e. a. (Privatsammlung | © VG Bild Kunst, Bonn 2022, Foto: Ron Amstutz)

Die Schau mit rund 180 Arbeiten von 50 Künstlerinnen und Künstlern spürt der immensen Vielfalt des Blumenmotivs in der Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts nach – kreuz und quer durch die Stilrichtungen seit dem Expressionismus, zudem garniert mit etlichen prominenten Namen von Gabriele Münter, Max Beckmann und Max Ernst über Andy Warhol und David Hockney bis hin zu Gerhard Richter und Pipilotti Rist. Ja, die inspirierte und somit inspirierende Auswahl reicht bis in die unmittelbare Gegenwart, in der auch schon mal „Künstliche Intelligenz“ (KI) zur Genese ungeahnter floraler Erscheinungen eingesetzt wird. Wo soll das alles enden?

Einsatz „Künstlicher Intelligenz“: Hito Steyerl „Power Plants“, 2019, Mehrkanal-HD-Video, Farbe, Loop. Environment: Stahlgerüste, LED-Module, LED-Text-Module, zementbeschichtete MDF-Kästen, Kies (Courtesy die Künstlerin; Neuer Berliner Kunstverein; Andrew Kreps Gallery, New York; Esther Schipper, Berlin – © VG Bild-Kunst, Bonn 2022 – Foto: Neuer Berliner Kunstverein / Jens Ziehe)

Gewiss: Die Ästhetik blüht hier stellenweise prächtig auf, doch stellen sich im Laufe des Rundgangs auch mancherlei ernsthafte und schwerwiegende Fragen, etwa nach dem Spannungsfeld zwischen Künstlichkeit und Natürlichkeit. Kurzum: eine Ausstellung zwischen Augen- und Gedankenlust.

Eine ausführliche Besprechung folgt demnächst im Kulturmagazin Westfalenspiegel (www.westfalenspiegel.de) und später dann auch an dieser Stelle.

„Flowers!“ Blumen in der Kunst des 20. & 21. Jahrhunderts. Museum Ostwall im Dortmunder U, 6. Ebene, Leonie-Reygers-Terrasse, 44137 Dortmund. 30. April bis 25. September 2022. Öffnungszeiten Di/Mi 11-18, Do/Fr 11-20, Sa/So und feiertags 11-18 Uhr. Katalog 29,90 Euro.

Weitere Informationen:

www.dortmund.de/museumostwall
www.dortmunder-u.de




Künstliche Intelligenz gibt es nicht – Ausstellung im Dortmunder „U“ geißelt grenzenlose Computergläubigkeit

Wenn Biometrie die Menschen bewertet, kann auch Unsinn dabei herauskommen. „Decisive Mirror“ von Sebastian Schmieg, 2019 (Bild: Franz Warnhof/HMKV)

Die „Künstliche Intelligenz“, abgekürzt KI, über die Computer neuester Bauart angeblich verfügen sollen, gibt es nicht. Der Begriff ist schlicht falsch. Computer sind genauso intelligent wie, sagen wir mal, ein Gurkenhobel.

Eigentlich haben wir das ja immer gewußt, obwohl die elektronische Datenverarbeitung, bleiben wir für einen Moment bei diesem altehrwürdigen Begriff, heute in Gestalt attraktiver junger Damen wie Alexa daherkommt, die uns richtig gut zu kennen scheinen und ohne bösen Hintersinn bemüht sind, uns jeden Wunsch zu erfüllen. Da kann man natürlich schon ins Grübeln kommen, ob nicht vielleicht doch mehr dahintersteckt als die systematische Anwendung zugegebenermaßen hochkomplexer Algorithmen. Oder?

Vermessenes aus „Hypernormalisation“ von Aram Bartholl von 2021 (Bild: HMKV)

Neue Perspektive

Erstaunlicher als die (eben nicht) erstaunliche Einsicht, daß Computer dumm wie Brot, jedoch keineswegs harmlos sind, ist vielleicht noch der Ort, an dem Erkenntnis dem Publikum zuteil wird. Der Dortmunder Hartware Medienkunstverein, der mit seiner Ausstellungsfläche im dritten Stock des Dortmunder „U“ residiert, ausgerechnet der, hat sich die computerkritische Perspektive zu eigen gemacht und präsentiert nun „künstliche Intelligenz als Phantasma“ in seiner neuen Ausstellung „House of Mirrors“, was sinnvoll mit „Spiegelkabinett“ übersetzt werden kann. Daß die Ausstellung ausgerechnet hier stattfindet ist deshalb erstaunlich, weil der Medienkunstverein bisher doch ein eher positives Verhältnis zur Computerei zu haben schien, zu den Ergänzungen und Weitungen, die der Einsatz elektronisch betriebener Medien letztlich eben auch der Kunst bringen könnte. Ein wirklich Widerspruch ist dies indes nicht, wir wollen fair bleiben. Eher könnte man vielleicht von einem Perspektivwechsel sprechen, der im ganzen großen Themenkontext sicherlich Sinn macht. Außerdem scheint auch ein wenig „Wokeness“ im Spiel zu sein.

Ein Gestell, viele Smartphones: die Arbeit „– human-driven condition“ von Conrad Weise thematisiert die Situation der vielen (menschlichen) Mikroarbeiter, die in stark fragmentierten Arbeitsprozessen für das Funktionieren der „KI“ sorgen (Foto: HMKV)

Alte Datenmuster

Große Spiegel strukturieren den Raum in dieser hübsch aufgebauten Ausstellung; die meisten werfen lediglich das Bild zurück, manche sind aber auch von einer Seite zu durchschauen, wieder andere sind Teile von Kunstobjekten. Warum die Spiegel? Inke Arns, seit etlichen Jahren die rührige Chefin des Medienkunstvereins, erläutert es. Der Prozeß der Spiegelung, wir formulieren frei, verdeutliche den beschränkten Nutzen des Computereinsatzes in vielen Anwendungsbereichen, bei der Erkennung von Personen zum Beispiel (Zollkontrollen, Fahndung) oder von Situationen („autonomes Fahren“ etc.). Gespiegelt wird, was man dem Spiegel zeigt, algorithmische Raster, biometrische Daten, situative Schemata, Statistik.

Was man nicht zeigt, kann auch nicht gespiegelt werden, heißt für den Computerbetrieb: er reagiert nur beim Wiedererkennen hinterlegter Datensätze. Erkennt er das Geschehen nicht, reagiert er nicht oder falsch. Auch mit allergrößten Datenmengen ist die Computerintelligenz also ein menschengemachtes Bewertungskonstrukt, dem ein gerüttelt Maß Subjektivität eigen sein dürfte und das zwangsläufig „computeraufbereitete Realität mit vergangenen Datenmustern erkennen“ (Arns) soll. Wenn aber heutiges Geschehen an den Mustern von gestern abgeglichen wird, hat das normierenden, mitunter gar disziplinierenden Charakter. Von „automatisierter Statistik“ spricht in diesem Zusammenhang Francis Hunger, der die Ausstellung zusammen mit Marie Lechner kuratiert hat.

Hier geht es um die Wahrnehmungen „autonomer“ Fahrzeuge: „VO“ von Nicolas Gourault (2022) (Bild: Courtesy of Le Fresnoy, Studio national des arts contemporains/HMKV)

Viele Bildschirme, viele Projektionsflächen

So viel zunächst einmal zum Ansatz dieser Schau. Wie aber nun macht man aus technischen, soziologischen, politischen, psychologischen Einsichten Kunst? So ganz einfach ist das nicht, denn anders als alles Mechanische ist Elektronisches zunächst einmal sehr unsinnlich. Letztlich, und so auch hier, läuft es darauf hinaus, daß viel Botschaft über Bildschirme und Projektionsflächen läuft, denen (so gut es eben ging) ein paar Requisiten beigegeben wurden. Einige schöne Raumsituationen gibt es gleichwohl, wie das von einem gemütlichen Sofa beherrschte Zimmer Lauren Lee McCarthys, in dem diese eine Woche lang die Funktion von Amazons virtueller Assistentin Alexa übernahm. Das war 2017 und streckenweise recht lustig, wie die Dokumentation zeigt, die auf dem Bildschirm läuft.

Sinnfrei

Ein Großteil der Arbeiten thematisiert Teilaspekte der „KI“. Gleich am Eingang scannt Sebastian Schmiegs „Decisive Mirror“ (2019) Gesichter der Besucher und berechnet dann Sinnfreies: „Zu 42 Prozent noch am Leben“, „zu 65 Prozent imaginär“, „zu 17 Prozent einer von ihnen“ und so weiter. Projiziert werden die Daten auf einen Spiegel, und schon in dieser ersten Installation erahnt man die Respektlosigkeit dessen, was folgen wird.

Neues Gesicht aus dem Computer: „The Zizi Show, Deepfake drag Artist close up“ (2020) von Jake Elwes (Bild: Courtesy of the artist, VG Bild-Kunst/HMKV)

Wunsch und Wirklichkeit

Doch wir beginnen nachdenklich. In der zentral gelegenen Rotunde vergleichen Pierre Cassou-Noguès, Stéphane Degoutin und Gwenola Wagon in ihrer üppigen Videoarbeit „Welcome to Erewhon“ (2019) Wunsch und Wirklichkeit des technischen Fortschritts über Jahrhunderte hinweg. Ausgangspunkt ihrer Betrachtungen ist das Buch „Erewhon; Or, Over the Range“, das ein gewisser Samuel Butler 1872 veröffentlichte und das die Übernahme der Macht durch die Maschinen thematisierte, die sich schneller und effektiver weiterentwickelt hatten als die Menschen. Schließlich zerstörten die Menschen die Maschinen und bauten keine neuen mehr. „Erewhon“ ist übrigens ein Anagramm von nowhere, nirgendwo. Weiterhin gibt es hier auf den Bildschirmen computergesteuerte Haushaltsmaschinen des 21. Jahrhunderts zu sehen, Saug- und Wischroboter etwa, von denen noch keine große Bedrohung auszugehen scheint. Auch eine Performance ist hier dokumentiert, die zeigt, zu welchen Albernheiten eine Bürogemeinschaft fähig ist, wenn die Computer all ihre Arbeit übernommen haben. Es gibt der Aspekte etliche mehr. Eingestimmt und neugierig wandern wir weiter.

Kuh oder Sofa

Simone C Niquilles raumgreifend angelegte Videoinstallation „Sorting Song“ (2021) führt auf großer Leinwand bildmächtig das Dilemma eines überforderten Erkennungsprogramms vor, das den zu bestimmenden Gegenstand mal als Kuh, mal als Sofa identifiziert und abbildet. Anna Ridlers „Laws Of Ordered Form“ (seit 2020) befaßt sich mit elektronischem Bilderkennen und –benennen in enzyklopädischen Dimensionen und vergleicht dies mit traditionellen, nach Stichworten strukturierten Formen der Archivierung. Die „Mikroarbeiter“, Männer wie Frauen natürlich, haben ihren Platz in der Ausstellung, jene vielen tausend Menschen, die isoliert zu Hause und unter oft miserablen Konditionen in der ganzen Welt als „Datenreiniger“ oder „Klickarbeiter“ händisch all das machen, was die „KI“ nicht hinbekommt. Die Italienerin Elisa Giardina Papa, die selber als Datenreinigerin für Unternehmen arbeitete, und der Kölner Conrad Weise erinnern in ihren Arbeiten an sie.

Kein Alter Meister, sondern ein Bild aus der Arbeit „Laws of Ordered Form“ von Anna Ridler (2020), in der es um Bilderkennung geht. (Bild: HMKV)

Diskriminierung

Überhaupt: die Zukurzgekommenen, die Diskriminierten, die rassistisch Ausgegrenzten. Etliche Arbeiten beleuchten diskriminierende Aspekte der Algorithmen – die Diskriminierung dunkler Hautfarbe beispielsweise in Gesichtserkennungs-programmen, die Diskriminierung von ausländischen Akzenten oder „Unterschichtsprache“ in Spracherkennungsprogrammen. „KI“ ist nicht woke, im Gegenteil. Unübersehbar ist es das Anliegen wenn schon nicht dieser Ausstellung, so doch sicherlich etlicher Arbeiten, die diskriminierenden Eigenschaften von „KI“ vor allen im Überwachungswesen herauszuarbeiten. Und dagegen ist auch nichts zu sagen.

Ein weit gefaßter Kunstbegriff

Eher schon könnte man in Nachdenklichkeit verfallen über den hier doch sehr, sehr weit gefaßten Kunstbegriff. In vielen Arbeiten ist schwerlich mehr zu erkennen als das Zitat eines „KI“-typischen Problemfelds. Ein gewisses Unwohlsein hinsichtlich der künstlerischen Valeurs scheinen auch etliche der 21 Teilnehmer zu empfinden, die als Berufsbezeichnung in ihre Biographien zusätzlich „Forscher“ hineingeschrieben haben. Auf jeden Fall jedoch funktioniert diese insgesamt sehr schöne, kompakte, schlüssige Ausstellung durch die Summe der Exponate. Anders ausgedrückt: Wer sich für das Themenfeld interessiert, sollte hingehen. Gut geeignet auch für technikaffine Besucher.

    • „House of Mirrors: Künstliche Intelligenz als Phantasma“
    • HMKV Hartware Medienkunstverein
    • im Dortmunder U, Ebene 3
    • Leonie-Reygers-Terrasse
    • Bis 31 Juli.
    • Geöffnet Di-Mi 11-18 Uhr, Do-Fr 11-20 Uhr, Sa-So 11-18 Uhr
    • Eintritt frei
    • www.hmkv.de

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Eine teilweise ähnlich gelagerte Ausstellung zur „KI“ läuft seit November 2021 und noch bis zum 9. August 2022 in der Dortmunder DASA (Deutsche Arbeitswelt Ausstellung). Hier ein Link zu unserem DASA-Bericht.

 




„Dortmunder U“ im Disco-Rausch: Ausstellung feiert den legendären Club „Studio 54″

Rose Hartman (American, born 1937): Zu Pferde zelebriert Bianca Jagger am 2. Mai 1977 ihren 27. Geburtstag im Studio 54. Auf dieser Aufnahme nicht zu sehen: Ein nackter Mann hielt die Zügel. (Black and white photograph. Courtesy of the artist. © Rose Hartman)

Hört sich doll an: Premiere hatte die Schau in New York, in Toronto fiel sie wegen Corona aus, jetzt ist sie in Dortmund zu sehen – und sonst nirgendwo. Es geht um die legendäre Clubdisco „Studio 54″, deren verbliebene Essenzen nun im „Dortmunder U“ wiederbelebt werden sollen.

Die seinerzeit weltberühmte Kult-Disco an der 54. Straße in Manhattan gab es nur 33 Monate lang, zur Eröffnung im April 1977 kamen Celebrities wie Frank Sinatra, Cher oder auch Donald Trump. Bis zur Schließung im Februar 1980 wogten dort schräge, schrille und rauschhafte Partys mit Stars und Sternchen sonder Zahl. Zu nennen wären beispielsweise Glamour-Gestalten wie Mick und Bianca Jagger, Andy Warhol, Liz Taylor, Michael Jackson, Grace Jones oder Liza Minnelli.

Ausstellungsansicht mit Mode-Beispielen: „Studio54: Night Magic“ (Foto: Roland Baege)

Schrille Mode zur Selbstinszenierung

Stop! Wir müssten nahezu die gesamte damalige Prominenz nennen. In der Ausstellung geben 14 Seiten maschinenschriftliche Gästelisten der Eröffnungs-Nacht eine ungefähre Vorstellung. Sinnlich weitaus eindrucksvoller sind die glitzernden, schillernden Modebeispiele, die damals der Selbstinszenierung auf die Sprünge halfen. Viele Originale aus privaten Kleiderschränken finden sich da, aber auch getreulich Nachgeschneidertes und Entwurfsskizzen. Angesichts etlicher Fotografien oder typischer Relikte und Reliquien (z. B. von Andy Warhol himself gestaltete Eintrittskarten) mag man gleichfalls schwelgen. Es geht ums (Nach)-Erleben, nicht so sehr um eine kritische Würdigung, die eh reichlich verspätet käme. Allerdings darf nicht verschwiegen werden, dass der Club 1980 wegen Steuervergehen schließen musste und die Betreiber in den Knast kamen.

Christian Piper (German, born 1941) for Fiorucci (Italian, founded 1967): Poster zur Eröffnungs-Nacht im Studio 54, 1977. (Printed color poster. Courtesy of The Estate of Antonio Lopez and Juan Ramos)

Die vom renommierten Brooklyn Museum reich bestückte, von Matthew Yokobosky kundig kuratierte Ausstellung ist natürlich keine gewöhnliche Vitrinenschau, sondern setzt einiges in Gang, um die Atmosphäre jener frühen, wilden Disco-Zeiten aufleben zu lassen – beispielsweise mit zahlreichen Lichteffekten, mit den tanzbaren Hits jener Jahre, Bühnenbildern oder einem Rundum-Erlebnis im „360-Grad-Fulldome“. Besucherinnen und Besucher sollen Tanzlust verspüren und sodann – wenn irgend möglich – in die örtliche Clubszene ausschwärmen, die sich gerade wieder aufzurappeln beginnt.

„Unglaublich divers“ muss es sein

Das „Studio 54″ bestand zwar nur recht kurz, hatte aber weit reichende Lifestyle-Auswirkungen, es stand und steht also für ein gehöriges, in gewissen Kreisen global wirksames Stück Kulturgeschichte. Damals war’s nicht leicht, an den Türstehern vorbeizukommen, für die Dortmunder Disco-Schau braucht’s nur eine (nicht ganz billige) Eintrittskarte – und schon geht es rein ins kuratierte Vergnügen, das als „Night Magic“ umschrieben wird.

Ron Galella (American, born 1931): New York City, Studio 54, „Grease“-Premieren-Party, Andy Warhol und Grace Jones, 1978. (Courtesy of the artist. © Ron Galella)

Jede nachfolgende Zeit liest aus Phänomenen wie dem „Studio 54″ ihre eigenen Schwerpunkte heraus. Die deutsche Ko-Kuratorin Christina Danick, die gemeinsam mit Yokobosky und Stefan Heitkemper (Leiter des „U“) die über 450 Exponate aufs Dortmunder Format gebracht hat, schwärmt mit einer gängigen Formel unserer Tage davon: „unglaublich divers“ sei diese Ausstellung. Alle Leute könnten ihr etwas entnehmen, die Älteren sich in ihre Disco-Jahre zurückversetzen, die Jüngeren mit eigenen Club-Erfahrungen vergleichen. Mode- und Popmusikfans würden ebenso angeregt wie Liebhaber künstlerischer Fotografie. Nicht auf einzelne Stücke komme es hierbei an, sondern auf die Gesamtheit der Atmosphäre. Yokobosky spricht schlichtweg von „Mood“. Und diese Stimmung sollte eben jede(r) selbst erfahren.

„Hedonistisches Paradies“

Tatsächlich war das „Studio 54″ Katalysator und Ausdruck einer damals zeittypischen Befreiung – mit Langzeitwirkung. Normen und Zwänge waren weitgehend aufgehoben: Wenn Leute irgendwie zu den Schönen, Schrillen und Reichen gehörten oder zu ihnen passten, spielten Herkunft, Hautfarbe oder sexuelle Orientierung im Club keine Rolle. Nicht zuletzt die Schwulenkultur, seinerzeit noch längst nicht so ausgeprägt wie heute, erhielt hier neue Impulse.

Auf den ersten Blick könnte man meinen, Dortmund setze mit dieser Schau (oder besser: Show) mal wieder alles auf eine populäre Karte – wie 2018/19 mit der in Sachen Besucherandrang und Einnahmen denn doch enttäuschenden „Pink Floyd“-Ausstellung. Doch Kulturdezernent Jörg Stüdemann (er nennt das Studio 54 ein „hedonistisches Paradies“) dämpft allzu hochfliegende Erwartungen. 10.000 Besucher(innen) wären in Ordnung, alles darüber hinaus erfreulich. Allerdings wisse man noch nicht, ob Corona mit der Delta-Mutante einen Strich durch die ganze Rechnung machen werde.

Zusätzlich zur Schau im „U“ werden einige Dortmunder Clubs vom Hartware MedienKunstVerein (HMKV) mit medienkünstlerischen Aktionen bespielt. Unter dem Titel „hello again“ steuert der HMKV auf seiner 2. Ebene im „U“ überdies Impressionen zur lokalen Clubszene bei. Zum umfangreichen Begleitprogramm gehören ferner Cocktail-Mixabende oder DJ-Workshops.

Guy Marineau (French, born 1947): Pat Cleveland on the dance floor during Halston’s disco bash at Studio 54, 1977. (Photo: Guy Marineau / WWD / Shutterstock)

Eine Bühne für den nächtlichen Exzess

Befragt, warum gerade das nicht gar so glamouröse Dortmund die Ausstellung ausrichte, sagt Matthew Yokobosky, die allermeisten Museen wollten sich nicht auf eine solche mutimediale Darbietung einlassen, die der reinen Kunst-Lehre kaum entspreche. Das Dortmunder U sei eine rühmliche Ausnahme. Yokobosky will ja auch keinen Tingeltangel anrichten, sondern eine Synthese aus musealer Würde („dignity“) und aufregenden („exciting“) Elementen. Großen Wert legt er auf zeit- und kulturgeschichtliche Authentizität.

Zwei Jahre haben allein Yokoboskys Recherchen und rund 100 Interviews mit Zeitzeugen gedauert, dabei habe er allmählich herausbekommen, wo die (nunmehr 85) Leihgeber zu finden waren. Der erfahrene Museumsmann erinnert daran, dass das „Studio 54″ in einem vormaligen Opernhaus eingerichtet wurde. Die Menschen tanzten auf der Bühne, in jeder Nacht konnte eine andere Szenerie zur Selbstdarstellung entstehen. Der exzessiven Phantasie waren in diesem Fegefeuer der Eitelkeiten kaum Grenzen gesetzt. Der Ausstellung zum Trotz: Diese Zeiten kommen nicht wieder. Es kommen andere.

„Studio 54: Night Magic“. 26. Juni bis 17. Oktober 2021 im „Dortmunder U“, Leonie-Reygers-Terrasse, 44137 Dortmund. Geöffnet Di, Mi, Sa, So 11-18, Do/fr 11-20 Uhr. Montags geschlossen. Normalticket 18,90 €, ermäßigtes Feierabendticket 11,90 €.

www.studio54.dortmunder-u.de

 




Immer wieder eine Idee voraus: „Totalkünstler“ Timm Ulrichs bereichert die Dortmunder Ostwall-Sammlung

Künstler Timm Ulrichs vor seinem Schaf im Wolfspelz, im Hintergrund Museumsmitarbeiterin Natalie Calkozan. (Foto: Bernd Berke)

Die Namen der deutschen Kunst-Weltberühmtheiten spricht er mit leichtem Befremden aus: Joseph Beuys, Gerhard Richter. Sie seien bei weitem überschätzt, findet der auch nicht gänzlich unbekannte „Totalkünstler“ Timm Ulrichs (81). Wenn er erst einmal ins Plaudern gerät…

Anlass seiner unterhaltsamen, zwischen einem Hauch von Selbstmitleid und gehöriger Selbstironie schwankenden Suada ist ein Konvolut von 23 seiner Arbeiten, die als Neuerwerbungen bzw. Schenkungen in den Besitz des Dortmunder Museums Ostwall (MO) übergehen. 18 davon, vorwiegend aus den 1960er bis 1980er Jahren, sind vom 11. Juni bis zum 18. Juli im MO-Schaufenster auf der 5. Ebene des „Dortmunder U“ zu sehen.

Timm Ulrichs spricht von einem wahren Adrenalinschub, den der erfreulich namhafte Betrag für den Ankauf bei ihm ausgelöst habe. Er sei es nicht gewohnt, mit seiner Kunst finanzielle Erfolge zu erzielen – nicht einmal in seiner Wahlheimat Hannover, „wo ich hängen geblieben bin“. Vor lauter Begeisterung habe er deshalb für Dortmund noch etwas Geschenktes draufgelegt. Seine kleine Auswahl fügt sich jedenfalls zum Fluxus-Schwerpunkt im Dortmunder Haus.

Wie eine geglückte Adoption

In seinem Alter, so der kinderlose Mann (er erwähnt es eigens), müsse man an den Tod und als Künstler an die Nachwirkung denken. Am liebsten sähe er möglichst viele seiner Werke in Museen verwahrt, dort seien sie sicher vor gewinnsüchtigen Käufern und Verkäufern. Die Übergabe ans Museum komme ihm vor wie eine geglückte Adoption der Werke. Ganz in diesem Sinne hat er sich in letzter Zeit sogar daran gemacht, einzelne Arbeiten vom Markt zu nehmen, indem er sie zurückkauft. Kein leichtes Unterfangen, denn Stücke, die es einst für eine Handvoll Deutsche Mark gegeben hat, werden nun doch für Tausende Euro gehandelt.

Timm Ulrichs, der immerhin rund drei Jahrzehnte lang (bis 2005) wohlbestallter Professor an der Kunstakademie Münster gewesen ist, sagt von sich, er habe „nie eine richtige Wohnung gehabt. Ich wohne nicht, ich hause. Als Messie…“ Bevor wir das noch für bare Münze nehmen, wollen wir lieber schauen, was fortan im Dortmunder Museum verbleibt.

All diese kleinen Hauptwerke

Der Künstler selbst bezeichnet die Auswahl als „repräsentativen Querschnitt“ durch sein Oeuvre. Noch das kleinste Objekt gilt ihm, wenn die Idee nur zündet, als Hauptwerk: die rauschenden Muscheln als „Hörspiel“, weitere Muscheln als überdeutliche Anspielung aufs weibliche Geschlecht, die Dose mit einem – Achtung, gelüftetes Geheimnis! – innen drin verborgenen Dosenöffner, sein 1975 auf der Kunstmesse Art Cologne erstelltes Selbstbildnis als Blinder mit dem Titel: „Ich kann keine Kunst mehr sehen!“

Ein paar weitere Beispiele:

Eines der auffälligsten Exponate (präsentiert auf der 4. Ebene) ist die lebensgroße Doppelskulptur „Wolf im Schafspelz – Schaf im Wolfspelz. Ein Verwandlungskunststück“ (2005/2010). Tatsächlich hat der Künstler die Tiere derart präparieren lassen, dass ihre Felle vertauscht sind. Dazu bedurfte es eines kostspieligen Gutachtens, das Ausnahmen vom Artenschutz bescheinigte. Das Ergebnis vermag zu irritieren. Ist es schlimmer, wenn das (vermeintlich) Böse sich als das Harmlose tarnt, oder ist es umgekehrt womöglich noch abgründiger? Tiere sehen dich an und stellen dir Fragen.

Die Sache mit Wolf und Schaf

Ein paar Meter weiter finden sich zwei spielzeuggroße Herden unter dem Titel „Schwarze Schafe“. Doch halt! Es steht zwar in dunkles Tier allein in einer weißen Herde, doch auch ein einzelnes weißes Tier in einer dunklen Herde. Was heißt denn hier Minderheit, was heißt denn hier „verrufen“? Immer wieder gelingt es Ulrichs, mit beinahe unscheinbaren Maßnahmen erhellende Gedankenspiele anzuregen. Mitunter meint man, das Ergebnis nahezu wissenschaftlicher Versuchsanordnungen zu sehen, wie etwa bei jenem schräg stehenden Pendel, auf dessen Realisierung er Jahrzehnte warten musste, weil es vorher keine genügend starken Magneten für solche Zwecke gegeben hat. Timm Ulrichs hat einmal Edison als sein größtes Vorbild bezeichnet, denn der habe 200 Patente aus allen denkbaren Bereichen gehalten. Doch vor und nach aller „Wissenschaft“ dürfte bei Ulrichs eine große Portion Spontanität im Spiele sein.

Noch einmal Timm Ulrichs (81), vor einer Fotografie seiner selbst aus dem Jahre 1975 (Aktion „Ich kann keine Kunst mehr sehen!“ / © Timm Ulrichs). (Foto: Bernd Berke)

Geradezu verlieren kann man sich in den endlos vielen Details der 50-teiligen Fotoreihe „Die Welt im Wohnzimmer. Das Fernsehgerät als Sockel und Hausaltar“ (2001/2008), das so manche vorgestrigen Sonderbarkeiten der Gemütlichkeit aufleben lässt, aber nicht kurzerhand denunziert. Gerade das Gerät, mit dem „die Welt ins Haus“ kommen soll, wird zum Schauplatz höchst privater Reliquien, die sich auf dem Apparat angesammelt haben; in diesem Falle vor allem in slowenischen Seniorenheimen vorgefunden. Eins steht fest: Mit den öden Flachbildschirmen geht so etwas nicht mehr. Flackernd hinter- und doppelsinnig erscheint auch die Arbeit mit einem echten und einem täuschend echt fotografierten Keilrahmen für Leinwände, dem edlen Bildträger der Künste, der hier ins Alltägliche zurückgeholt wird. Wie hieß doch Ulrichs Aktion von 1961: „Werbezentrale für Totalkunst & Banalismus“. Hehr und heilig ist ihm nichts. Und nichts ist selbstverständlich.

Das tätowierte Augenlid

Erstaunlich, wie früh er manche Ideen oder auch Eingebungen gehabt hat! Den Einfall, sein gesamtes Leben von der Geburt bis zum Tod zu filmen, hegte er um 1961 (!), als wirklich noch niemand vom Selfie-Wahn zu phantasieren wagte. Mit Tätowierkunst experimentierte er bereits in den frühen 70ern, als die heute so inflationären Tattoos allenfalls bei Seeleuten und manchen „schweren Jungs“ üblich waren. Just die Einbeziehung des eigenen Körpers, lange hernach im Kunstbetrieb als Neuheit beschrien, hat Ulrichs sehr (vor)zeitig betrieben. Mal ließ er sich so tätowieren, dass er selbst zur Zielscheibe wurde. Ein andermal ließ er sich die Filmabspann-Worte „The End“ aufs Augenlid schreiben. Hintergedanke: Beim allerletzten Schließen der Augen am Lebensende würde der Schriftzug erscheinen. Gelegentlich erklärte sich Timm Ulrichs zum lebenden Kunstwerk und stellte sich auch schon mal als Schlafender aus.

Heute würde man vielleicht flapsig sagen: Der Mann war „ganz weit vorn“. Hätte er auch nur eine dieser Ideen konsequent zu seinem Markenzeichen gemacht, wäre ihm vielleicht lukrativer Kunstmarkt-Erfolg beschieden gewesen. Doch das war seine Sache nicht. Mit immer neuen Ideen, nie so recht zu fassen, irrlichterte er durch die Kunstszene.

Wenn schon nicht Richter (der Ulrichs zufolge notfalls drei Bilder parallel pinseln könnte) oder Beuys („Den habe ich bei den Mutiples längst abgehängt“), wen ließe er denn dann gelten? Seine rigide Auswahl: In der Nachkriegskunst sei lediglich Dieter Roth (1930-1998) „satisfaktionsfähig“, dem übrigens 2016 im Museum Ostwall die Ausstellung „Schöne Scheiße“ gewidmet war. Zu seinen Anregern zählt er auch Dadaisten wie Richard Hülsenbeck (der in Dortmund begraben liegt) und vor allem Raoul Hausmann (1886-1971). Bei aller strengen Auswahl weiß Ulrichs: „Niemand steht für sich allein. Wir alle brauchen Gleichgesinnte.“

„Timm Ulrichs. Willkommen im Museum Ostwall“. 15. Juni bis 18. Juli 2021, geöffnet Di+Mi 11-18, Do+Fr 11-20, Sa+So 11-18 Uhr, Mo geschlossen. Museum Ostwall im Dortmunder U, „Schaufenster“ auf Ebene 5. Leonie-Reygers-Terrasse, 44137 Dortmund, Info-Tel. 0231 / 50-2 47 23.

www.dortmunder-u.de 

 




Jede Menge Licht: Der Dortmunder Filmemacher Adolf Winkelmann wird 75

Adolf Winkelmann vor dem „Dortmunder U“, auf dem seine Film-Installationen laufen. (Foto: Roland Gorecki / Dortmund Agentur)

Sagen wir mal so: Adolf Winkelmann war so klug und weitsichtig, praktisch zeitlebens in Dortmund zu bleiben. In Städten wie Berlin oder Hamburg hätte er sich anfangs wohl gegen viele durchsetzen müssen, hier aber ist er sozusagen gleich singulär hervorgetreten und hat zeitig etwas gegolten. Von hier aus, in der „unaufgeregtesten Großstadt der Republik“ (wie die „Zeit“ mal schrieb), konnte er nach und nach bundesweit bekannt werden. Noch dazu dürfte sein Hiersein stets eine Herzensangelegenheit gewesen sein.

Von nichts kommt nichts: Der Mann, der an diesem Samstag (10. April) 75 Jahre alt wird, verfügt – ganz gleich, an welchem Ort – natürlich über technische und kreative Begabungen, die längst reiche Früchte getragen haben und zu großen Verdiensten angewachsen sind. Dortmunds Kulturdezernent Jörg Stüdemann würdigt ihn so: „Adolf Winkelmann ist ein herausragender Filmemacher, Ausbilder und als Künstler ein Glücksfall für Dortmund“, kurzum: „einer unserer wichtigsten Kulturbotschafter“. Wohl wahr. Wer, wenn nicht er? Wo doch andere große Söhne der Stadt – Peter Rühmkorf, Martin Kippenberger, Norbert Tadeusz usw. – anderswo ihren Weg gemacht haben.

Mit „Die Abfahrer“ (1978) und „Jede Menge Kohle“ (1981) hat Adolf Winkelmann sozusagen d i e authentischen Ruhrgebietsfilme jener Jahre gedreht, gleichermaßen komödiantisch wie präzise und zeitgemäß in der sozialen Beschreibungskraft. Gewiss keine Glorifizierung der Gegend, aber doch Liebe zur Region und ihren Menschen mitsamt allen Brüchen und Verwerfungen. Auch heute noch, beim Wiedersehen, haben diese frühen Filme Bestand. Das Kultpotenzial ist unverwüstlich, legendär zudem das Repertoire an schnoddrig-coolen Haltungen und Sprüchen Marke Revier, allen voran der Klassiker: „Es kommt der Tag, da will die Säge sägen.“

Es folgten kaum minder prägnante Streifen wie „Super“ (1984), „Peng! Du bist tot!“ (1987), „Der Leibwächter“ (1989) und das um den Revierfußball kreisende Werk „Nordkurve“ (1993). 2016 reichte Winkelmann mit der Romanverfilmung „Junges Licht“ (Vorlage von Ralf Rothmann) einen weiteren, alsbald ebenfalls preisgekrönten Ruhrgebietsfilm nach, der im Dortmund der 1960er Jahre spielt und höchst eindringlich die Kinder- und Jugendjahre eines Bergarbeitersohnes schildert. Wenn man so will, ist es eine Vorgeschichte zu den „Abfahrern“ und zu „Jede Menge Kohle“. Und es ist ein grandioser Heimatfilm der ganz anderen Art, der sich einfach „richtig“ anfühlt. Zwischendurch kam – neben etlichen anderen Produktionen – die bewegende und bestürzende Pharma-Skandalchronik „Contergan“ (ARD-Zweiteiler, 2007) heraus.

Mehrfach erhielt der Regisseur den Deutschen Filmpreis, auch der Grimmepreis blieb kein Einzelstück. Aber wir wollen nicht alle Trophäen aufzählen und nur noch kurz erwähnen, dass er 2003 zu den Gründungsmitgliedern der Deutschen Filmakademie gehörte.

Wenn man sich noch einmal vor Augen führt, welche Darsteller(innen) in Winkelmanns Filmen zu sehen waren, so weiß man, dass er mit seinem soliden Können und seinen Stoffen einige der Besten überzeugt hat. Die Skala reicht – um nur wenige Beispiele zu nennen – von Hermann Lause und Martin Lüttge über Günter Lamprecht und Gottfried John bis zu Matthias Brandt, August Zirner und Peter Fitz. Sogar in Nebenrollen (!) traten Größen wie Hannelore Hoger und Ulrich Wildgruber auf. Und selbstverständlich hatte die unvergessene Tana Schanzara mehrmals einen Ehrenplatz im Winkelmann-Kosmos.

Über alle Kinofilme hinaus, hat Winkelmann in Dortmund ein weithin sichtbares Zeichen seines Wirkens setzen können: Zum Ruhrgebiets-Kulturhauptstadtjahr 2010 entwarf er – als Krönung fürs „Dortmunder U“ – die „Fliegenden Bilder“, eine bei Tag und Nacht aufleuchtende Film-Installation hoch droben auf der ehemaligen Brauerei. Seine Arbeit steigert die Aura des ohnehin schon imposanten Dortmunder Wahrzeichens. Inzwischen gehören 150 Filme zum Bestand, darunter Szenen mit meterhohen Tauben (quasi die Wappentiere des einstigen Reviers), schwarzgelber Kickerseligkeit oder schäumendem Bier, doch auch Kreationen, die über regionale Befindlichkeiten hinausweisen. Außerdem gibt es zuweilen tagesaktuelle Bezüge. Um all das fortzuführen, nahm die nicht gerade übermäßig reiche Stadt richtig Geld in die Hände: Ende 2020 wurden die mit rund 6000 LEDs ausgestatteten Lamellen ersetzt und die Technik wurde runderneuert. Kostenpunkt dafür: 2,6 Millionen Euro. Aber wer will da kleinlich sein? So gut wie alle Auto-, Rad-, Bahn- oder Busfahrenden und alle Passantinnen, die seit 2010 in der Dortmunder Innenstadt aufgekreuzt sind, kennen diese Schöpfung aus Licht.

(Nicht nur) das Revier im Visier: Adolf Winkelmanns neues Buch im Verlag Henselowsky Boschmann.

Soeben neu erschienen ist Adolf Winkelmanns Buch „Die Bilder, der Boschmann und ich“ im Bottroper Verlag Henselowsky Boschmann (176 Seiten, 14,90 Euro): Im Gespräch mit dem Verleger Werner Boschmann erzählt Adolf Winkelmann über sein Leben und seine Kunst; eine ausführliche Retrospektive und eine längst nicht nur anekdotische Einführung ins Werk, an der man künftig schwerlich vorbeikommen wird.

Wer darauf wetten sollte, dass Winkelmann gebürtiger Dortmunder sein muss, hätte verloren. Der Filmemacher ist zwar durch und durch von dieser Stadt geprägt, er wurde aber am 10. April 1946 im sauerländischen Hallenberg am Rand des Rothaargebirges geboren. Als er etwa drei Jahre alt war, zogen seine Eltern in die größte Stadt Westfalens: Adolf Winkelmann wuchs in unmittelbarer Nähe zur Dortmunder Union-Brauerei (Jahrzehnte später just das „Dortmunder U“) auf, machte sein Abitur am hiesigen Helmholtz-Gymnasium und studierte von 1965 bis 1968 an der damaligen Werkkunstschule Kassel. Dort muss ihn das Heimweh ergriffen haben, denn danach zog er wieder nach Dortmund und blieb der Stadt treu. Hier hat er rund 40 Jahre lang als Professor für Film-Design an der Fachhochschule gelehrt und dabei Generationen von Filmschaffenden in Feinheiten des Metiers eingeweiht.

Die Stadt Dortmund erinnert in einer Geburtstags-Würdigung an Winkelmanns ersten Experimentalfilm, der vor fast 54 Jahren in Kassel entstanden ist und der da lakonisch heißt: „Adolf Winkelmann, 9.12.1967  11 h 54″. Der Filmemacher, damals 21 Jahre jung, habe größere Irritationen ausgelöst, als er sich beim Spaziergang selbst filmte. Sollte er damit gar das Selfie miterfunden haben?




Schau über den legendären Nachtclub „Studio 54″ – direkt aus New York nach Dortmund

Pat Cleveland auf der Tanzfläche des „Studio 54″ während des „Halston disco bash“, Dezember 1977 (Foto: © Guy Marineau / WWD / Shutterstock)

Würde eine solch mondäne Ausstellung nicht besser nach München oder Berlin passen? Egal. Sie kommt nun mal nach Dortmund, wo man eben zuerst beherzt zugegriffen hat.

Ab 14. August und bis zum 8. November 2020 soll demnach im Dortmunder U eine Ausstellung über den legendären New Yorker Nachtclub „Studio 54″ gezeigt werden, die direkt aus New York kommt. Im dortigen Brooklyn Museum hat sie in wenigen Tagen (13. März) Weltpremiere.

Der Coup erinnert ein wenig ans Zustandekommen der Dortmunder Schau über Pink Floyd, die zwar vom Publikumszuspruch her letztlich enttäuschte, aber Dortmund doch international in die eine oder andere Kultur-Schlagzeile bugsierte. Damals kamen die Exponate aus London (und via Rom), diesmal ist es eben New York. Dortmund hat sich die europäische Premiere gesichert. Immerhin.

Keine Agentur hat das Ereignis vermittelt, sondern die Dortmunder haben direkt mit dem Brooklyn Museum verhandelt. Kurator ist Matthew Yokobosky, in Brooklyn Abteilungsleiter für „Fashion and Material Culture“. Präsentiert und gesponsert wird die Chose übrigens vom Streamingdienst Spotify. Zum Fundus der Ausstellung gehören u. a. Fotografien, Mode-Objekte, Zeichnungen, Filme und Kostüm-Illustrationen.

„Studio 54: Night Magic“ (Arbeitstitel) blättert die nicht nur modisch, sondern auch gesellschaftlich folgenreiche Geschichte jenes (1977 eröffneten und 1986 endgültig geschlossenen) Clubs auf, in dem sich Pop- und Film-Prominenz zuhauf einstellte: beispielsweise Andy Warhol, Diana Ross, Liza Minnelli, Mick Jagger, Michael Jackson, Madonna, Salvador Dalí – und wie sie alle hießen. Zur Eröffnung am 26. April 1977 waren u. a. Frank Sinatra, Margaux Hemingway, Cher, Bianca Jagger und ein gewisser Donald Trump erschienen, damals noch ein ziemlich unbekannter Bauunternehmer. Ach, wäre es mal dabei geblieben…

Um es mal in klischeehaften Stichworten (nicht) zu fassen: Sex, Drogen, Punk und allseitige Toleranz kennzeichneten fortan das Klima des Clubs, dessen Ästhetik auch neue soziale Bewegungen beeinflusst hat. Manches wirkt womöglich bis heute weiter.

Ein Vorbehalt gilt noch: Der Dortmunder Stadtrat müsste dem Unterfangen in seiner Sitzung am 26. März zustimmen. Aber das wird er doch wohl tun.

 




„Body & Soul“: Dortmunds Ostwall-Sammlung mit Leib und Seele abermals neu präsentiert

Kuratorin Nicole Grothe erläutert ein Hauptstück der Sammlung: August Mackes Bild „Großer zoologischer Garten“. (Foto: Bernd Berke)

Ohne englische Titel geht praktisch nichts mehr im Museum Ostwall. Kürzlich eröffnete hier mit „The Other Side“ eine Schau zu neueren Positionen irischer Kunst. Und nun erhält die Präsentation der eigenen Sammlung wieder einen neuen Schub. Titel: „Body & Soul“. Im Dortmunder U, wo die Ostwall-Sammlung sich seit nunmehr 10 Jahren befindet, gibt man sich eben gern weltläufig und popkulturell anschlussfähig.

Aber Moment mal! Hatten wir nicht erst gegen Ende 2017 die Premiere eines ziemlich gründlich umgeschichteten Eigenbesitzes? Richtig. Seinerzeit hießt das Resultat „Fast wie im echten Leben“ und wurde an dieser Stelle gleichfalls gewürdigt. Damals kündigte der inzwischen nach Maastricht gewechselte Direktor Edwin Jacobs an, die Sammlung solle nachhaltig „dynamisiert“ werden. Auch die ersten Anstöße zur jetzigen Ausstellung stammen noch von ihm.

Beim Alltag des Publikums anknüpfen

Abermals werden nun bedeutsame Teile der Kollektion nicht etwa in kunstgeschichtlicher Abfolge, sondern in Form einer Themenausstellung gezeigt, die just Leib und Seele in den Blick nimmt und – so die Leitlinie – möglichst in den Lebenswelten und bei den Alltagserfahrungen des geneigten Publikums anknüpfen soll. Einen Körper und eine Seele haben wir halt alle. Mit solch daseinsnahen Ansätzen will man auch Leute ins Museum holen, die bisher nur selten mit Kunst in Kontakt gekommen sind.

Aus einem Fundus von rund 7500 Arbeiten im Besitz des Ostwall-Museums lässt sich ein derart umfassendes Doppelthema wie Leib und Seele natürlich allemal vielfach vergegenwärtigen. Rund 130 Werke hat die Sammlungsleiterin und Kuratorin Dr. Nicole Grothe mit ihrem Team ausgewählt. Die Präsentation meidet nach Kräften Beliebigkeiten, sie wirkt auch nirgendwo überfüllt oder beengt. Die Kunst hat genügend Platz zum „Atmen“ und Wirken.

Nacktheit, Kleidung, Bewegung, Ernährung, Schlaf und Tod

Der thematische Rundgang beginnt quasi elementar, nämlich mit nackten Körpern, also Aktdarstellungen. In diesen Kontext gehört auch eine „Ikone“ wie Otto Muellers „Drei Badende im Teich“, wie denn überhaupt deutlich wird, dass ein gehöriger Schwerpunkt der Sammlung dem Expressionismus und seinem Umfeld zuzurechnen ist. Damit eröffnet sich, nebenbei sei’s gesagt, eine wunderbare Möglichkeit zum Vergleich mit der Sammlung des Hagener Osthaus-Museums, das derzeit seine nach über vierjähriger Tournee heimgekehrten expressionistischen Schätze zeigt. Dazu demnächst ein paar Zeilen mehr.

Pablo Picasso (1881-1973): „Femme nue couchée“ (Schlafende Nackte), Öl auf Leinwand, 1965 (Bild © VG Bild-Kunst, Bonn 2020 / Foto © Jürgen Spiler)

Doch zurück nach Dortmund: Auch die Relativität von Schönheitsidealen soll sich anhand mancher Körperbilder und Skulpturen zeigen (etwa mit einer rundlich-drallen Frauenfigur oder männlichen Bauchformen als Wandinstallation), ebenso wie die nicht zuletzt durch Kleidung markierte Zuschreibung von Geschlechter-Identitäten, welche – auch unserem waltenden Zeitgeist gemäß – als fließend zu denken sind.

Das Paradies und die Zivilisation

Apropos Kleidung. Ein immer wieder und immer wieder anders hervorgehobenes Hauptstück der Sammlung, August Mackes „Großer zoologischer Garten“, offenbart in diesem Zusammenhang eine zusätzliche Lesart. Bisher galt das Bild meist als Vergegenwärtigung des paradiesischen Gartens Eden, die Zoobesucher tragen jedoch betont modische, zeitgenössische Kleidung, so dass man sie wohl zur gehobenen Gesellschaft rechnen muss. Es geht also nicht nur um Natur, sondern mindestens ebenso sehr um Zivilisation bzw. um das Verhältnis beider Wesenheiten zueinander.

In insgesamt neun Kapiteln kann man etliche Erkenntnisse gewinnen oder zumindest Aha-Momente erleben, so etwa auch zur Beschaffenheit sportlicher und tänzerischer Körper, wobei z. B. Radierungen von Karl Hofer direkt neben Barbara Hlalis Zeichnungen von DJs zu sehen sind. Die Lust an der Bewegung höret demnach quer durch die Generationen nimmer auf; es sei denn: im Tod, der in einer künstlerischen Körper-Ansammlung natürlich nicht übergangen werden kann und auch in Bildern des Schlafes gegenwärtig ist. Dass Sterben und Schlafen miteinander verquickt und verschwistert, ja mitunter kaum unterscheidbar sind, lässt Dieter Kriegs „Weiße liegende Figur“ ahnen.

Thomas Bayrle (*1937): „Super Colgate“, 1965. Holz, Metall, Elektromotor, Ölfarbe – Erworben aus der Sammlung Feelisch (Bild © VG Bild-Kunst, Bonn 2020 / Foto: © Jürgen Spiler)

Was es mit dem Zähneputzen auf sich hat

Auch Aspekte der Ernährung und Körperpflege kommen künstlerisch zum Vorschein, das Spektrum reicht von Willi Repkes konventionell anmutender „Marktfrau“ bis zu Thomas Bayrles Installation „Super Colgate“, die eine Zahncreme-Werbung der 1960er Jahre parodistisch aufgreift. Die lustige oder eben auch putzige Kunst-Maschine sorgt auf Fußschalter-Druck dafür, dass ganz viele Figürchen  sich gleichzeitig die Zähne putzen. Daraus leitet sich auch der Untertitel der gesamten „Body & Soul“-Unternehmung her, welcher da lautet: „Denken, Fühlen, Zähneputzen“. Warum nicht auch mal ein bisschen albern sein?

Ernst Ludwig Kirchner (1880-1938): „Stafelalp bei Mondschein“, 1919, Öl auf Leinwand (Foto © Jürgen Spiler)

Das Seelenleben wird sodann unter anderem am Beispiel von Naturempfindungen erkundet, so mit Ernst Ludwig Kirchners „Stafelalp bei Mondschein“ oder einem mit Angst befrachteten, surrealen Waldbild von Max Ernst („Forêt aux champignons“). Überhaupt ist den Ängsten, den Verletzungen und der Trauer ein weiteres Kapitel gewidmet, das sich existenziell durch die Jahrzehnte zieht. Hier wird vermutlich jede(r) dem persönlichen Dämon begegnen können, sei er nun von Norbert Tadeusz, Ina Barfuss oder anderen Visionären der Kunst imaginiert worden.

Nach eigenen Erinnerungen graben

Die eigenen Erinnerungen entdecken soll man nach dem Willen des Aktionskünstlers Wolf Vostell mit seinem (hier von Gregor Jabs re-inszenierten) Happening „Umgraben“ (1970), dessen Szenarium sich hinter einem Vorhang erstreckt. Das Grabefeld soll man nicht mit eigenen Schuhen, sondern mit bereitgestellten Gummistiefeln betreten – und dann mit dem Umgraben loslegen. Mag schon sein, dass sich dabei ein meditativer Sinn einstellt. Übrigens ist Vostells Arbeit diesmal eines der wenigen Beispiele aus dem Bereich der so genannten Fluxus-Kunst, die ja eigentlich einen weiteren Schwerpunkt der Sammlung ausmacht.

Wolf Vostell (1932-1998): „Umgraben“, Happening von 1970, Re-Inszenierung von Gregor Jabs, 2012 (Bild © VG Bild-Kunst, Bonn 2020 / Foto © Jürgen Spiler)

Mönchsfigur mit Münzeinwurf

Nicht nur explizit religiöse Glaubensfragen sind ein weiteres Feld der hiesigen Seelenkunde. Dabei fällt auch eine Dortmunder Neuerwerbung auf, nämlich Michael Landys Mönchsfigur mit „Donation Box“ (Spendenbox), in die man echte Münzen einwerfen kann. Wofür die etwaigen Einnahmen der Ablasszahlungen verwendet werden (geringfügige Aufstockung des Museumsbudgets?), ist derweil noch nicht ausgemacht.

Und die Schlussakkorde? Sind wiederum betont sanftmütig und tröstlich, denn es werden Werke zum Thema Liebe, Zuneigung, Freundschaft und Fürsorge versammelt. All das, was den Menschen guttut. Auf dass man das Museum heiteren Sinnes verlasse.

Zur anders gewichteten Kunst kommt die neue „Inszenierung“: In Zusammenarbeit mit dem niederländischen Designbüro SODA (Ronald Buiel und Jorrit Noyons aus Arnheim) hat man neue farbliche und architektonische Akzente gesetzt. Wir würden uns ja den Kalauer schenken, die Kunstwerke seien nach den Interventionen von SODA nun einfach so da. Aber jetzt ist er nun einmal heraus und geht auch nicht ganz fehl.

Viel Freiraum für die Kunst: Blick in die neue Sammlungs-Präsentation. Die Figur in der Mitte ist übrigens nicht echt, sondern künstlich, Verzeihung: künstlerisch. (Foto: Bernd Berke)

Orientierung durch neue Farbakzente

Tatsache ist jedenfalls: Die schon auf den Fluren der 4. und 5. Etage dominierende Lachsfarbe soll die Orientierung im riesigen Haus erleichtern. Vordem hatten sich nicht wenige Besucher über labyrinthische Verwirrung beklagt. Mal sehen, ob diese Irritation nun nachlässt. Außerdem verändert: Reflektierende Flächen, die den Blick ablenken konnten, sind weitgehend verschwunden. Architektonische Charakteristika, wie etwa das Deckenraster im Dortmunder U, kommen besser zur Geltung.

Wohlfühl- und Willkommens-Faktor

Überdies wurden auch die alten (vormals dunklen) Sitzbänke hell gestrichen und alle abweisenden Kanten einladend abgerundet. Überhaupt haben die Museumsleute versucht, einen durchgehenden Wohlfühl- und Willkommens-Faktor zu erzeugen. Das reicht von helleren und wärmeren Farben über eine möglichst stets besetzte und auskunftsbereite „Rezeption“ am Eingang bis zu einer kuscheligen Landschaft mit Kissen und Sitzsäcken. Chillen ist nicht nur erlaubt, sondern erwünscht. Auch das geht mit dem Zeitgeist konform.

Aber nun mal ganz ehrlich: Das Farbkonzept mit den verschieden abgemischten Lachstönen hat mich an die etwas weichgespülte Corporate Identity einer schwedischen Bank erinnert, die vor allem auf sanftes Rosa zurückgreift und ihre Bezahlvorgänge als „smooth“ (glatt, seidenweich, problemlos) bezeichnet. Egal. Jedem seine Assoziationen. Und es heißt gewiss nicht, dass die Bilder nicht zur Geltung kämen.

Alle zwei Jahre werden die Werke neu gemischt

Sammlungsleiterin Nicole Grothe möchte den Eigenbesitz auch künftig ungefähr im Zweijahresrhythmus immer wieder neu arrangieren, ihn gleichsam regelmäßig durchlüften und damit wechselnde Zusammenhänge stiften. Relativ kostengünstig sind derlei Schauen aus dem Bestand allemal, es werden keine Leihgebühren fällig, zudem riskiert man keine Transportschäden und muss daher auch keine horrenden Versicherungssummen zahlen.

Doch selbstverständlich hat der Umbau, der sich einige Monate hingezogen hat, ein paar Scheinchen gekostet, genauer: 422.000 Euro. Der Rat der Stadt hatte zu dem Zweck 500.000 Euro gebilligt, der Etat wurde also unterschritten. Es könnte ein gutes Omen sein.

„Body & Soul. Denken, Fühlen, Zähneputzen“. Neue Sammlungspräsentation des Museums Ostwall im Dortmunder U (4. und 5. Ebene), Leonie-Reygers-Terrasse (Navigation: Brinkhoffstraße 4 / Parkhaus).

Update: Ausstellung wird bis November 2022 verlängert

Ursprünglich vom 8. Februar 2020 bis 27. Februar 2022 (verlängert bis zum 13. November 2022).

Geöffnet Di/Mi/Sa/So/Feiertage 11-18 Uhr, Do/Fr 11-20 Uhr.

Tel.: 0231/50 247 23. Mail: info@dortmunder-u.de

Kunstvermittlung/Führungen: 0231/50-277 86 oder 50-277 91.

www.museumostwall.dortmund.de

 




Dünen, Wellen, Windmühlen – Ausstellung im „Dortmunder U“ zeigt den niederländischen Aufbruch in die Moderne

Ferdinand Hart Nibbrig: „Auf den Dünen in Zandvoort", 1892 (Foto: Sammlung Singer Laren, Museum Ostwall)

Ferdinand Hart Nibbrig (1866-1915): „Auf den Dünen in Zandvoort“, 1892 (Foto: Sammlung Singer Laren, Museum Ostwall)

Da haben die beiden Holländer sicher recht: Die Freuden des Sommers genießen viele Deutsche, zumal aus dem Ruhrgebiet, sehr gerne in ihrem schönen Land, in den Dünen, am Strand und in den gemütlichen kleinen Städten. Diese sicherlich nicht ganz neue Erkenntnis hat Edwin Jacobs, (Noch-) Direktor des Dortmunder Kunst- und Kulturzentrums U, und Jan Rudolph de Lorm, Direktor des Museums Singer in Laren, auf die Idee gebracht, Kunst der Niederländischen Moderne sozusagen nach Urlaubsaspekten für eine Ausstellung auszuwählen. Es entstand „Ein Gefühl von Sommer…“, eine hübsche Bilderschau, die jetzt im Dortmunder U, im Museum Ostwall zu sehen ist.

Anton Mauve (1838-1888): Das neugeborene Lamm, um 1884 (Foto: Sammlung Singer Laren, Museum Ostwall)

Ein Deal

Nun ja; etwas nüchterner betrachtet verhält es sich wohl so: Die beiden Museen, eben Ostwall in Dortmund und Singer in Laren, zeigen im jeweils anderen Haus das Beste aus dem eigenen Bestand, ein Tauschgeschäft. Rund 70 Werke aus Dortmund sind derzeit in dem holländischen Museum zu sehen, 110 von dort nun hier. Hintergrund ist (auch) die derzeitige Schließung des Ostwall-Museums wegen (mal wieder) erforderlicher Umbauarbeiten, weshalb „Ein Gefühl von Sommer…“ im 6. Stock gezeigt wird, auf der Sonderausstellungsfläche.

Zeitlicher und thematischer Querschnitt

Sie hätten die von Regina Selter kuratierte Schau natürlich auch anders nennen können, denn präsentiert wird ein munterer zeitlicher und thematischer Querschnitt durch die niederländische Malerei der Jahrhundertwende, der man gut 40 Jahre einräumt. In Dortmund sind die Bilder auf 10 Kabinette verteilt, die Landschaften, Portraits, Modernes Leben usw. zum Schwerpunkt haben.

Es gab, erfahren wir, Vereinigungen wie die Bergener Schule oder den Kunstkreis De Ploeg, an Kunstrichtungen ist zwischen Impressionismus und Neuer Sachlichkeit alles vertreten, was zeitgleich auch in Deutschland wirkte. Die Namen der Künstler indes sind wohl nur wenigen Menschen in Deutschland geläufig, Piet Mondrian immerhin ist dabei, der seinerzeit aber noch durchaus verwechselbar arbeitete, oder Kees van Dongen. Doch mag das zu einem nicht geringen Maße an der nationalen Perspektive liegen, aus der heraus nicht nur in Deutschland die „eigenen“ Künstler bevorzugt werden.

Lou Loeber (1894-1983): Mühle, 1922 (Foto: Sammlung Singer Laren, Museum Ostwall)

Laren und die Künstlerkolonie

Gerade deshalb hat es jedoch seinen Reiz, einmal zu erfahren, wie sich das Kunstgeschehen vor etwa hundert Jahren jenseits der Grenze vollzog, die vielleicht auch damals schon ein bißchen weniger hoch als jene zu anderen Nachbarstaaten war. In Laren, jenem 12000-Seelen-Ort 30 Kilometer östlich von Amsterdam, Standort des Museums Singer Laren, existierte in jener Zeit eine bemerkenswerte Künstlerkolonie. Ihre Blütezeit erlebte sie zwischen den Jahren 1880 und 1920, und bemerkenswert ist zudem, daß sich das Schaffen der Künstlerinnen und Künstler in diesem Zeitraum erheblich modernisierte, sich von traditionellen „holländischen“ Malweisen und Genres zunehmend avantgardistischen Positionen zuwandte.

Gouden Eeuw

A propos holländisch: Denkt man an holländische Malerei, so denkt man an die Kunst des Barock, an das „Gouden Eeuw“, das goldene Zeitalter, das für die Niederlande das 17 Jahrhundert war, als man zu den Weltmächten zählte, international Geschäfte machte, Wohlstand anhäufte und nicht zuletzt die Malerei einen unerhörten Aufschwung erfuhr. Und, die Holländer sind Kaufleute, natürlich auch der Kunsthandel. Holländische Malerei – Landschaften, Stilleben, Seestücke, Portraits usf. – wurde geschäftsmäßig bestellt und geliefert, die Maler jener Zeit, nennen wir als die berühmtesten nur Rembrandt und Rubens, führten Unternehmen mit zahlreichen Angestellten und verdienten klotzig.

Kees van Dongen (1877-1968): Der blaue Hut, 1937 (Foto: Sammlung Singer Laren, Museum Ostwall)

Fahrräder und Telegraphenmasten

An diese Tradition versuchten die Maler der frühen niederländischen Moderne durchaus anzuknüpfen, und die Nachfrage war, glaubt man den Kuratoren, so gut, daß die kleinen Messingschildchen auf den Bilderrahmen für den Export von vornherein in den Sprachen der Empfängerländer verfaßt wurden. Ähnlich wie 200 Jahre zuvor bestimmen Kühe, Weiden, Wolkenhimmel das Erscheinungsbild, auf den ersten Blick wähnt man sich in einem modernisierten 17. Jahrhundert.

Gewiß, manches hat sich geändert, die engen Harmonievorstellungen der Altvorderen werden erschüttert durch harte oder indifferente Lichtführung, engere Bildausschnitte und erste leise Abstraktionen, durch verfremdende Maltechniken wie beispielsweise den Pointillismus, vor allem aber auch durch gewiß nicht ironiefrei eingefügte Elemente der neuen Zeit, durch Fahrräder, Telegraphenmasten oder gar, Schreck laß nach, durch ein Fußballfeld im Hintergrund. Manche Maler ließen es einfach etwas lockerer angehen, hat man den Eindruck, Gelassenheit galt wahrscheinlich damals schon als holländische Nationaltugend.

Maler aus den USA

So. Was und wo Laren ist und warum es zwischen dem kleinen Nest (pardon) und der Westfalenmetropole Dortmund einen so fruchtbaren Kunstaustausch gibt, müßte jetzt klar sein. Bleibt zu erzählen, wer die Singers sind. Der Amerikaner William Henry Singer jr. und seine Frau Anna Singer-Brugh kamen 1902 nach Laren, sammelten die Kunst ihrer Zeit, zeigten sie in ihrer 1911 errichteten Villa De Wilde Zwanen, die Anna Singer 1956 zu einem Museum machte. Singer war selber Maler, überdies Sproß einer überaus reichen Pittsburger Industriellenfamilie. Die Entscheidung des Sammlerehepaares, nach Laren zu gehen, läßt die Bedeutung erahnen, die der Ort, den die holländische Kunst in jenen Jahren hatte.

Albert Neuhuys (1844-1914): Mädchen mit Blume, um 1910 (Foto: Sammlung Singer Laren, Museum Ostwall)

Liebermanns Strandurlaub

Übrigens war die niederländische Kunstszene keineswegs nur eine Parallelveranstaltung zur deutschen, man kannte und man schätzte sich. Max Liebermann, dessen Hollandbilder in Deutschland recht bekannt sind, verbrachte samt Familie neun Sommerurlaube an der holländischen Küste und pflegte, das ist belegt, engen Kontakt mit den dortigen Kollegen, Max Beckmann tat dies ebenso.

Erinnerungen an das alte Laren

Eine Besonderheit der Dortmunder Bilderschau sind übrigens wandgroße Schwarzweiß-Reproduktionen alter Fotografien von Laren und Umgebung. Oft stören solche Elemente ja eher, hier aber, in einer ansonsten streng geordneten Präsentation, ist ihre verortende Wirkung sinnvoll und angenehm. Darüber hinaus vermitteln auch sie „Ein Gefühl von Sommer…“, zumal dann, wenn sie in ihrem ersten Leben Urlaubspostkarten waren.

  • „Ein Gefühl von Sommer… – Niederländische Moderne aus der Sammlung Singer Laren“
  • Museum Ostwall im Dortmunder U, Leonie-Reygers-Terrasse
  • Bis 25. August. Geöffnet Di+Mi 11-18 Uhr, Do+Fr 11-20 Uhr, Sa+So 11-18 Uhr
  • Eintritt 9 EUR, Katalog 24,95 EUR
  • Tel. 0231 / 50 2 47 23
  • Anmeldungen und Buchungen: www.mo.bildung@stadtdo.de
  • museumostwall.dortmund.de



Chef des „Dortmunder U“: Edwin Jacobs hört schon wieder auf und geht nach Maastricht

Künftig Akademie-Leiter in Maastricht: Edwin Jacobs verlässt das „Dortmunder U". (Foto: Patrick Temme)

Künftig Akademie-Leiter in Maastricht: Edwin Jacobs verlässt das „Dortmunder U“. (Foto: Patrick Temme)

Welch eine Überraschung! Edwin Jacobs (58), der vor nicht einmal zweieinhalb Jahren mit großen Ambitionen gestartete Direktor des Kulturzentrums „Dortmunder U“ (und somit auch des Museums Ostwall), gibt diesen Posten schon wieder auf. Er wechselt im Herbst auf eigenen Wunsch nach Maastricht.

Vor wenigen Tagen haben wir noch – durch Utrecht flanierend – im privaten Kreis eher scherzhaft gegrübelt, warum Jacobs seinerzeit wohl diese herrlich pittoreske Stadt gegen das zu weiten Teilen recht ernüchternde Dortmund eingetauscht hat. Jetzt haben sich solche müßigen Grübeleien erübrigt.

Den Niederländer Edwin Jacobs, im Januar 2017 just vom Centraal Museum in Utrecht nach Dortmund gekommen, zieht es beruflich in sein Heimatland zurück, und zwar nicht etwa als Museums-Chef, sondern als Leiter der Kunstakademien in Maastricht. Dort tritt er bereits im September 2019 an. Die Kunstakademien Maastricht sind Teil der Zuyd University of Applied Sciences  – mit Studiengängen u. a. in Bildender Kunst, Design, Architektur und Multimedia-Design.

„Eine sehr persönliche Entscheidung“

Jacobs beginnt also eine akademische Karriere. Eine Pressemeldung der Stadt Dortmund zitiert ihn so: „Es ist eine sehr persönliche Entscheidung. Ich habe das Gefühl, in Museen nun alles erreicht zu haben. Als Leiter einer Kunsthochschule habe ich die großartige Chance, meine Erfahrungen und mein Wissen weitergeben zu können – das ist ein Geschenk.“ In Dortmund, so Jacobs demnach weiter, habe er sich sehr wohl gefühlt, er bleibe dem „U“ und der Stadt weiter verbunden. Was man halt als netter Mensch so zum Abschied sagt.

Defizit mit spektakulärer Schau über „Pink Floyd“

Edwin Jacobs hatte internationales Aufsehen erregt, als er (nach Stationen in London und Rom) die spektakuläre „Pink Floyd Exhibition“ nach Dortmund holte. Doch die groß angekündigte und beworbene Schau lockte deutlich weniger Besucher an als angepeilt. Bis heute liegen dazu offiziell immer noch keine konkreten Zahlen vor. Klar ist aber, dass dabei auch ein nicht unerhebliches finanzielles Defizit entstanden ist. Man mag nun spekulieren, ob Jacobs‘ Rückzug auch damit zu tun hat.

„Gefühl von Sommer“ und Umbau der Sammlung

In wenigen Tag wird Jacobs noch eine weitere Ausstellung präsentieren, die unter seiner Leitung entstanden ist. Unter dem Titel „Ein Gefühl von Sommer…“ wird das Museum Ostwall ab 11. Mai Bilder der niederländischen Moderne aus der Sammlung Singer Laren zeigen. Im Gegenzug sind 70 expressionistische Werke aus der Dortmunder Sammlung im Museum Singer Laren zu sehen. Der Austausch trägt ersichtlich die Handschrift von Jacobs.

Außerdem hat Edwin Jacobs eine grundlegende Neuordnung der Dortmunder Ostwall-Sammlung angestoßen, die gegen Ende dieses Jahres zu besichtigen sein soll – ein durchaus auf Langzeitwirkung angelegtes Projekt. Inwieweit von der Dortmunder Personalie die Zusammenarbeit mit dem künstlerischen Enfant terrible Jonathan Meese berührt ist, wird sich weisen müssen.

Als Interims-Leiter des „U“ wird Stefan Mühlhofer fungieren, der Direktor der Dortmunder Kulturbetriebe. Und schon wird die Suche nach einem Nachfolger oder einer Nachfolgerin eingeleitet. Dazu wird eine Findungskommission gebildet, der man nur Fortune wünschen kann, damit das „U“ nicht abermals für längere Zeit ohne adäquate Leitung bleibt. Das Haus mit den imponierenden Dimensionen braucht eine Perspektive.

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Nachtrag in Sachen „Pink Floyd“ am 10. Mai 2019:

Wie die Ruhrnachrichten heute berichten, hat das lange Schweigen über Besucherzahlen und Einnahmeverluste offenbar Vertragsgründe der geradezu grotesken Art. Demnach durfte die Stadt Dortmund nichts Näheres dazu verraten, weil sie sich auf einen komplizierten Vertrag mit dem New Yorker Unternehmen CPI eingelassen hatte, das die „Pink Floyd“-Ausstellung weltweit vermarktet. Hätte man die Zahlen ohne Genehmigung von CPI verkündet, so Dortmunds Kulturdezernent und Stadtkämmerer Jörg Stüdemann laut Ruhrnachrichten, dann wäre eine Vertragsstrafe von 1,2 Millionen Euro fällig gewesen. Die CPI-Anwälte verstanden in dieser Hinsicht offenbar keinen Spaß.

Auch so sei der finanzielle Verlust schon gehörig. Das Defizit, das die Schau verursacht hat, dürfte laut RN noch weitaus höher liegen, als bisher befürchtet wurde. Demzufolge geht es nicht „nur“ um eine knappe Million Euro, sondern um etwas über zwei Millionen Euro! Rund 60.000 Besucher waren gekommen, mindestens das Doppelte hatte man veranschlagt…

Der Abschied von Edwin Jacobs, so Stüdemann, habe nichts mit diesem Defizit zu tun.




Viele Gründe zum Entsetzen: Dortmunder Ausstellung „Der Alt-Right Komplex – Über Rechtspopulismus im Netz“

Bibliothek des Hasses: Nick Thurston „Hate Library“, 2017 © the artist.

Eine Bibliothek des Hasses: Nick Thurston „Hate Library“, 2017 © the artist

Ungeheure Naturgewalten brechen über die Menschheit herein. Wilde Raubtiere zerreißen ihre Beute. Innere und äußere Feinde zersetzen die ganze Gesellschaft. Immer und immer wieder stürzen solche Szenen einer allseits bedrohten Welt auf die Betrachter ein. Woher stammen sie, was soll das alles? Wer will uns da fürchterlich Angst machen?

Nun, wir sehen auf etlichen Bildschirmen, wie sich ein gewisser Steve Bannon (weltberüchtigter Rechtsaußen und zeitweise höchster Berater von Donald Trump) die Apokalypse vorstellt oder besser: Dieser Mann will durch filmischen Dauerbeschuss erreichen, dass sich möglichst viele Leute das nahende Ende so vorstellen und nach brutal starken Ordnungsmächten rufen. Der niederländische Künstler Jonas Staal hat derlei Untergangs-Phantasien auf ihre optischen Begriffe gebracht, indem er die wiederkehrenden „rhetorischen“ Muster kenntlich macht, mit denen Bannon seine Propaganda betreibt. Ein Lehrstück, fürwahr. Und es bleibt nicht das einzige.

Inke Arns, Leiterin des Dortmunder Hartware MedienKunstVereins (HMKV), hat die neue Ausstellung kuratiert, welche sich anhand von 12 internationalen Kunstprojekten ebenso intensiv wie abwechslungsreich mit dem „Alt-Right Komplex“ befasst.

Ausstellungsplakat zu „Der Alt-Right-Komplex – Über Rechtspopulismus im Netz“ (Design: e o t . essays on typography)

Dröhnende Stimmen: Ausstellungsplakat zu „Der Alt-Right Komplex – Über Rechtspopulismus im Netz“ (Design: e o t . essays on typography)

Eine „Bibliothek“ voller Hasstiraden

So oder so ist gar manches erklärungsbedürftig, sofern man bislang noch nicht tiefer durch jenen globalen Ideologie-Sumpf gewatet ist. „Alt-Right“ steht für die vielfältigen Formen und Auswüchse einer „alternativen Rechten“, insbesondere in den USA. Mehr als nur ein paar Ausläufer reichen freilich auch nach Europa, wo rechte Netzwerke sich in einer Art Kulturkampf anschicken, Demokratie und europäische Einigung zu unterminieren. Auch das virulente Gezerre um den Brexit gehört letztlich in diesen Zusammenhang. Was sich da, vorwiegend im Internet, überaus giftig zusammengebraut hat, lässt den Untertitel der Ausstellung („Über Rechtspopulismus im Netz“) beinahe schon untertrieben erscheinen.

Man blättere nur in den ringsum auf Notenständern verteilten, dickleibigen Büchern der „Hate Library“ (Hass-Bibliothek), die Nick Thurston (England) aus europäischen Netzfunden zusammengestellt hat. Das Elend setzt sich auf Wandtafeln fort. Hier zeigen sich vieltausendfach die Abgründe der so genannten „freien Rede“ im Internet. Selbstredend anonym werden da die niedersten Instinkte ausgekotzt, seien sie rassistisch, sexistisch, antisemitisch, nazistisch oder sonstwie gewaltsam. Der Kontrast dieser Inhalte zu einer kultivierten Gesangs-Partitur ist natürlich schreiend; wenn auch nicht schreiend komisch.

Man fragt sich, warum solche Hetz-Portale und Seiten über Jahre hinweg weitgehend ungehindert bestehen dürfen. Und man könnte schon ob der schieren Menge solcher Entäußerungen depressiv werden – hier sehen wir zwar viele Beispiele, aber doch nur einen kleinen Ausschnitt der wahren Ausmaße. In solchen Foren haben sich auch die Massenmörder von Norwegen und Neuseeland (deren Namen bewusst weggelassen seien) umgetan. Dort haben sie sich mehr und mehr radikalisiert.

Schiere Überwältigung durchs Video-Gewitter

Einen anderen, geradezu entgegengesetzten Weg der Beschäftigung mit rechtsextremen Netz-Phänomenen hat das schweizerisch-österreichische Künstlerduo namens „Ubermorgen“ (sic! – mit „U“) gewählt. Sie setzen auf blanke Überwältigung mit einem rasenden Video-Gewitter aus rechtsradikalen Netz-Quellen. Das ist schwer auszuhalten – und auch die Möglichkeit, das Ganze per Mausklick zu verzerren und zu verlangsamen, schafft keine sonderliche Abhilfe. Die beiden Künstler nennen die Gruppe „Rammstein“ (in diesen Tagen wegen eines Musikvideos mit KZ-Anspielungen viral im Marketing) als einen Haupteinfluss. Diese Gruppe mit ihrem ständigen Reichsparteitags-Gehabe steht ebenfalls für ein Überwältigungs-Konzept. Kann es sein, dass die Gefahr, vom gesammelten Rechtsaußen-Stoff selbst fasziniert zu werden, auch bei „Ubermorgen“ nicht allzu fern liegt? Und zwar nicht erst (über)morgen, sondern schon heute.

Für den Rundgang sollte man sich Zeit nehmen. Hie und da gilt es, Videos möglichst ausgiebig anzuschauen. Selbst ohne Wartezeit in einer etwaigen Schlange dauert das ziemlich. Dieser Hinweis betrifft auch die Arbeit des Schweizer Theaterregisseurs Milo Rau, der die schrecklich ausführliche Gerichtsprozess-Erklärung des erwähnten norwegischen Attentäters ungerührt und geradezu „cool“ (Kaugummi kauend) von einer türkischstämmigen Schauspielerin lesen lässt – 78 quälende Minuten lang. Es erhebt sich die Frage, ob es hier wirklich um einen Wahnsinningen geht – oder nicht vielmehr um einen Überzeugungstäter. Einer von vielen Gründen zum Entsetzen: Hier kehren etliche Vorstellungen wieder, die auf breiter Front im Netz kursieren. Und man kann, ja muss sich ganz auf den Wortlaut konzentrieren. Eine heftige Herausforderung.

Wie nationalistische Aggression konstruiert wird

Paula Bulling und Anne König haben – mit den Mitteln eines Comics oder einer Graphic Novel – die Rolle dreier Frauen im Umkreis des NSU-Prozesses thematisiert. Dazu haben sie auch mit Gamse Kubaşık gesprochen, der Tochter des Dortmunder NSU-Mordopfers Mehmet Kubaşık. Die Arbeit, die bildlichen Spuren des eigentlich Unbegreiflichen folgt, ist eigens für die Dortmunder Ausstellung erweitert worden.

Auf den Spuren eines sonderbaren Flaggenkults: Die serbische Künstlerin Vanja Smiljanic hat sich zu Demonstrations-Zwecken eine Fahnenschwenk-Apparatur umgeschnallt. (Foto: Bernd Berke)

Auf den Spuren eines sonderbaren Flaggenkults: Die serbische Künstlerin Vanja Smiljanic hat sich zu Demonstrations-Zwecken ihre Fahnenschwenk-Apparatur umgeschnallt. (Foto: Bernd Berke)

Auch osteuropäische Positionen sind vertreten: Szabolcs KissPál (Ungarn) untersucht mit Fotografie, Video und Vitrinen-Objekten die Konstruktion eines aggressiven ungarischen Nationalismus‘, dessen Vertreter anno 1919 verlorene Gebiete wie Transsilvanien zurückerobern wollen. Erraten: Viktor Orbán und seine Fidesz-Partei zählen zu den Protagonisten dieser Richtung.

Die Serbin Vanja Smiljanic tritt derweil als „Ministerin“ der Cosmic People (religiös sich gebende UFO-Bewegung) für Ex-Jugoslawien, Portugal und dessen frühere Kolonien auf. Auch spürt sie der Flaggenverehrung in der christlich inspirierten „Flag Nation Society“ nach. Klingt etwas abgedreht? Tja. Was soll man da sagen? Seht selbst.

Die sich aufs Schlimmste gefasst machen

Der neuseeländische Künstler Simon Denny hat sich unterdessen Brettspiele auf den Spuren rechter Welteroberungs-Wünsche ausgedacht. Apropos: In der internationalen „Prepper“-Szene (von to prepare = sich vorbereiten / Leute, die sich aufs Schlimmste gefasst machen, so auch mit Waffenübungen) galt Neuseeland bislang als eine letzte Zuflucht, wenn alles zusammenbricht. Diese eh schon irrwitzige Hoffnung ist nach Christchurch auch gestorben. Die wutschnaubenden „Prepper“-Zurüstungen sind auch Thema im Video „RIP in Pieces America“ des Kanadiers Dominic Gagnon – ebenfalls eine im Grunde unfassbare Ansammlung aus Filmschnipseln, die inzwischen im Netz zumeist gelöscht sind. Aber es kommen ja immer wieder neue Ungeheuerlichkeiten nach.

Das alles verlangt nach übersichtlicher Einordnung. Einen solchen Versuch hat – allerdings wohl nicht im vollen Ernst – das Duo disnovation.org unternommen: Auf einer Art Landkarte haben Maria Roszkowska und Nicolas Maigret (Frankreich/Polen) ideologische (und quasi auch psychologische) Positionen auf den Achsen rechts-links und autoritär-libertär bildlich eingetragen, also verortet. Das reiche Spektrum umfasst auch Memes wie etwa Pepe, den Frosch, das Symboltier der Trump-Anhänger. Dumm nur, dass die wirkliche Welt nicht so ordentlich eingeteilt und somit berechenbar ist. Übrigens darf man einen Plakatdruck der „Landkarte“ kostenlos mit nach Hause nehmen.

Weiterer Erklärungs-Ansatz ist ein hochinteressantes Glossar, das eingangs der Ausstellung einige Begriffe, Plattformen, Symbole, Phantasien, Praktiken und Personen aus dem Alt-Right-Kontext erläutert. Auch da erfährt man Dinge, die man am liebsten gar nicht wissen möchte – wohl aber wissen sollte…

„Der Alt-Right Komplex – Über Rechtspopulismus im Netz“. Vom 30. März bis zum 22. September 2019 (Eröffnung: Freitag, 29. März, 19 bis 22 Uhr). Hartware MedienKunstVerein (HMKV), 3. Etage im „Dortmunder U“, Leonie-Reygers-Terrasse. Geöffnet Di-So 11-18 Uhr, Do/Fr 11-20 Uhr, Mo geschlossen. Eintritt frei. Internet: www.hmkv.de

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Bestandteil der Ausstellungs-Eröffnung: die Verleihung des angesehenen Justus Bier Preises für herausragende kuratorische Leistungen. Ausgezeichnet werden Inke Arns, Igor Chubarow und Sylvia Sasse – für die HMKV-Ausstellung „Sturm auf den Winterpalast – Forensik eines Bildes“.

 

 

 

 




Bilanz mit Mut zur Lücke: Viel Eigenlob für „Pink Floyd“-Ausstellung – doch die Besucherzahl bleibt ein Geheimnis…

Das „Dortmunder U" am 14. September 2018, dem Eröffnungstag der „Pink Floyd"-Schau. (Foto: Bernd Berke)

Das „Dortmunder U“ am 14. September 2018, dem Eröffnungstag der jetzt beendeten „Pink Floyd“-Schau. (Foto: Bernd Berke)

Mit der „Pink Floyd“-Ausstellung (Untertitel „Their Mortal Remains“) wollte man im „Dortmunder U“ das ganz große Rad drehen. Am letzten Sonntag, 10. Februar, ist die mächtig beredete und beworbene Schau nach fünf Monaten zu Ende gegangen. Also war man gespannt, welche Besucherzahl am Schluss vermeldet werden würde. War die (sicherlich mindestens angepeilte) magische Marke von 100.000 erreicht oder übertroffen worden? Hatte man gar die insgeheim erträumten 130.000 bis 150.000 geschafft?

Und tatsächlich: Gleich montags wurde für heute zur bilanzierenden Nachbereitungs-Pressekonferenz eingeladen – mit dieser ausdrücklichen Zusicherung: „Wir möchten Ihnen die Besucherzahlen (…) gerne vorstellen…“ Prima. Als wenn ich etwas geahnt hätte: Den Termin habe ich nicht selbst wahrgenommen, sondern mich auf die städtische Pressemitteilung verlassen.

Und? Sag schon! Wie viele Besucher waren es denn nun? Keine Ahnung. Zwar hat die besagte Pressekonferenz heute stattgefunden, doch eine konkrete Besucherzahl wurde eben nicht verraten. Die Schau habe „Zehntausende Menschen“ angelockt. Das könnten 20.000 oder 60.000 sein. Beispielsweise. Wirklich seltsam, diese auffällige Zurückhaltung. Ist die Wahrheit etwa unangenehm? Ansonsten hieß es, es sei nach verhaltenem Beginn immer besser gelaufen. Gegen Schluss habe es lange Warteschlangen gegeben.

Aber wer braucht denn auch schnöde Besucherzahlen? Höchstens so ein paar neugierige Journalisten. Die Ausstellung und ihre Effekte konnten ja auch so über den grünen Klee gelobt werden. Stadtdirektor Jörg Stüdemann (in Personalunion Kulturdezernent und Stadtkämmerer) und Edwin Jacobs, Direktor des „Dortmunder U“, führten einige Punkte auf, die wohl nicht von der Hand zu weisen sind. Stichwortartig zusammengefasst:

  • Das „Dortmunder U“ sei landes- und bundesweit als Ausstellungsort ins Bewusstsein gerückt, und zwar sozusagen „mit einem Knall“ (Jacobs).
  • Erhoffte, vielleicht auch wahrscheinliche Folgewirkung: Man werde bei Verhandlungen im Vorfeld künftiger Ausstellungen in einer deutlich besseren Position sein.
  • Laut Besucherbefragung waren satte 97 Prozent mit der Schau zufrieden oder sehr zufrieden. Das wäre als Wahl- oder Abstimmungsergebnis schon beinahe unheimlich. Je etwa ein Drittel der Leute kam a) aus Dortmund/dem Ruhrgebiet, b) dem Rest des Landes NRW und c) aus anderen Bundesländern.
  • Organisation und Logistik hätten den Härtetest bestanden, es seien dabei viele neue Erkenntnisse gewonnen worden.

Alles gut und schön. Aber eine klitzekleine Frage hätten wir dann doch noch – auch, wenn es nervt: Wie viele Besucherinnen und Besucher hat die Ausstellung eigentlich gehabt?

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Nachtrag am 15. Februar 2019:

Selbstverständlich geht es nicht nur um die bloße Besucher(innen)zahl, sondern im Gefolge um handfeste Finanzfragen. Das ohnehin – Achtung, Modewort – „eingepreiste“ und dem Rat genannte städtische Finanzrisiko von 1 Million Euro dürfte spürbar überschritten werden. Das berichten u. a. dpa und die Ruhrnachrichten.

Vielleicht haben ja doch die recht hohen Eintrittspreise manche Leute vom Besuch der Ausstellung abgehalten? Der „krumme“ Normalpreis via Eventim betrug immerhin 29,76 Euro. Eine darauf abzielende Frage hatte „U“-Chef Edwin Jacobs bei der Eröffnungs-Pressekonferenz u. a. mit dem Hinweis auf die ungleich höheren Preise für Konzert-Eintrittskarten gekontert.

Ohne es den jetzigen Akteuren anlasten oder einen direkten Bezug herstellen zu wollen: Die Besucherzählung der Dortmunder Kulturbetriebe fürs „Dortmunder U“ war jedenfalls schon vor Jahren durch eine gewisse Eigenwilligkeit aufgefallen – dazu hier ein Bericht von 2016.




2019 beginnt für Dortmund wenig verheißungsvoll: Torhaus ohne Kunst und Musik, Naturkundemuseum bleibt geschlossen

Ansicht des Torhauses im Rombergpark. (Foto: Bernd Berke)

Ansicht des Torhauses im Rombergpark. (Foto: Bernd Berke)

Das schmucke Dortmunder Torhaus Rombergpark, 1681 erbautes Relikt des einst stolzen Schlosses Brünninghausen und immerhin schon seit 1968 Schauplatz kleinerer Kunstausstellungen, kann nicht mehr kulturell genutzt werden. Auch die langjährige Reihe der Gitarrenkonzerte entfällt an diesem Ort. Zudem wird es dort keine Ambiente-Hochzeiten mehr geben.

Dies alles hat offenbar mit Erfordernissen des Brandschutzes zu tun. Im Fall eines Falles wäre die schmale Wendeltreppe, die hinauf zum Ausstellungsraum bzw. hinunter führt, wohl wirklich kein tauglicher Fluchtweg. Man stutzt freilich beim Gedanken, warum der Pressetermin, bei dem das „Aus“ für die genannten Veranstaltungen offiziell verkündet wurde, ausgerechnet im besagten Torhaus stattfinden musste. War’s ein vorerst letztes Mal der „Geist des Ortes“, der da rief?

Jedenfalls hat man zweierlei Ersatz gefunden, jeweils in der Innenstadt. Die Ausstellungen regionaler Künstler ziehen (nach Ende der „Pink Floyd“-Schau) in den neuen Pavillon am „Dortmunder U“, die Gitarristen werden künftig in der Rotunde des Museums für Kunst und Kulturgeschichte auftreten. Ob das denkmalgeschützte Torhaus selbst eines Tages wieder zur Verfügung stehen wird, ist noch ungewiss.

Tags zuvor wurde bekannt, dass die Wiedereröffnung einer weiteren Kultur-Einrichtung sich abermals schmerzlich verzögert. Das 2014 zwecks gründlichen Umbaus geschlossene Naturkundemuseum, vordem eine der bestbesuchten Kulturstätten der Kommune, wird vermutlich erst im Frühjahr 2020 wieder zugänglich sein. Etliche Misshelligkeiten im Verlauf der Bauarbeiten haben das Projekt immer wieder verzögert. Und jetzt bitte keine billigen Vergleichsscherze mit dem schier ewig unfertigen Berliner Flughafen BER.

Bliebe allerdings zu hoffen, dass das noch junge Jahr 2019 der Stadt keine weiteren Kulturnachrichten dieser weniger erfreulichen Sorte beschert.

 




Wo die legendären Alben lebendig werden: Dortmund lockt mit „The Pink Floyd Exhibition“

Blick in die Dortmunder „Pink Floyd"-Ausstellung: Der schreckliche Lehrer bricht durch die Mauer, die dem ungleich größeren Exemplar aus der Konzertreihe „The Wall" nachempfunden ist. (Foto: Bernd Berke)

Blick in die Dortmunder „Pink Floyd“-Ausstellung: Der schreckliche Lehrer durchbricht die Mauer, die dem ungleich größeren Exemplar aus der Konzertreihe „The Wall“ von 1981 nachempfunden ist. (Foto: Bernd Berke)

Ein berühmter Song von Pink Floyd trifft hier und jetzt besonders zu: „Wish You Were Here“, eh schon eine der eingängigsten Schöpfungen der 1965 gegründeten britischen Kultband. Ja, man wünscht sie sich zurück, am liebsten gleich und genau hierher: die alten Zeiten, die eigene Jugend, all die verheißungsvollen Aufbrüche der damaligen Pop- und Rockmusik.

Tatsächlich wird einem jetzt in Dortmund dabei aufgeholfen: „The Pink Floyd Exhibition“ mit dem britisch-sarkastischen Untertitel „Their Mortal Remains“ (Ihre sterblichen Überreste) erweist sich als durchaus anregendes Unterfangen, das so manche Phase und manchen Moment der über 50-jährigen Band-Historie überraschend lebendig werden lässt. Auch jüngeren Besuchern dürfte sich bei der Zeitreise hoch droben auf der sechsten Ebene des „Dortmunder U“ der eine oder andere Zugang zum Werk der Supergruppe eröffnen.

Dritte Station nach London und Rom

Die Abfolge der Ausstellungsstationen klingt geradezu märchenhaft: erst London (Victoria and Albert Museum), dann Rom, jetzt Dortmund. Schon einmal hat Dortmund ziemlich zentral im „Pink Floyd“-Universum gelegen: 1981 gab es in der Westfalenhalle gleich sieben Aufführungen der gigantischen Show „The Wall“. Ansonsten stemmten damals nur Los Angeles, New York und London die ungemein aufwendige Konzertserie.

Schier endlos gespiegelt: das ohnehin schon vielschichtige Cover des „Pink Floyd"-Albums „Ummagumma". (Foto: Bernd Berke)

Schier endlos und überlebensgroß gespiegelt: das irritierende Cover des „Pink Floyd“-Albums „Ummagumma“. (Foto: Bernd Berke)

Auch an diesen Mythos, an den sich etwas ältere Dortmunder noch heute mit leuchtenden Augen erinnern, konnte „U“-Direktor Edwin Jacobs anknüpfen, als er Aubrey Powell (Gestalter vieler legendärer „Pink Floyd“-Plattencover) von einem lohnenden Gastspiel der Schau in Dortmund überzeugte. Powell fungiert denn auch auch Ko-Kurator der Ausstellung. Und wer, wenn nicht er, könnte den Geist der Cover (und somit auch der Musik) gleichsam wieder einfangen und staunenswert neu aufleben lassen?

Auf einmal erhebt sich die Mauer

Hier und da steht man beim Rundgang ganz plötzlich inmitten altbekannter Szenarien; da wird etwa das ohnehin schon rätselhaft vielschichtige Cover von „Ummagumma“ beiderseits endlos gespiegelt. Am spektakulärsten ist jedoch der Effekt, wenn sich auf einmal ein nachempfundenes Stück der Mauer aus den „Wall“-Konzerten vor einem erhebt – mitsamt dem grässlichen Lehrer und dem erbärmlich leidenden Schüler.

Ganz klar: Da erinnern sich Kenner natürlich sogleich an die – zugegeben – auch etwas wohlfeile Zeile „We don’t need no education“ (Wir brauchen keine Erziehung) und den Schlachtruf „Hey! Teachers! Leave them kids alone“ (Ey, Lehrer, lasst die Kinder in Ruhe). Überhaupt ist die Verschränkung von Sound und Bildern in dieser Ausstellung streckenweise besonders stimmig gelungen. Eins hebt das andere hervor, hebt es auf eine neue Stufe.

Die Musiker als Ingenieure und Tüftler

Wer sich entsprechend Zeit nimmt, kann gut und gerne zwei bis drei Stunden durch diese Ausstellung streifen, die eine labyrinthische, abgedunkelt höhlenartige Anmutung hat – fast wie so ein Underground-Club seligen oder auch erschröcklichen Angedenkens.

Reichlich Exponate: Eine von vielen Vitrinen in der Dortmunder „Pink Floyd"-Schau. (Foto: Bernd Berke)

Reichlich Exponate: Eine von vielen gut gefüllten Vitrinen in der Dortmunder „Pink Floyd“-Schau. (Foto: Bernd Berke)

Ziemlich getreulich chronologisch, sozusagen Album für Album (siehe Anhang), kann man hier voranschreiten – von den psychedelischen Anfängen durch alle (über)ambitionierten Klangexperimente und bombastischen Aufgipfelungen von quasi wagnerianischen Gesamtkunstwerk-Ausmaßen, die freilich bei dieser Band mit den Jahren nicht immer mit überbordendem Erfindungsreichtum einher gingen. Dass und wie „Pink Floyd“ auch Anschluss an die Avantgarde der E-Musik suchte, hat längst nicht alle Kritiker gleichermaßen überzeugen können.

Nicht ohne fliegendes Schwein

Die Mannen von Pink Floyd, so zeigt sich hier abermals, waren nicht zuletzt kreative Ingenieure und ehrgeizige Soundtüftler, die stets das jeweils neueste elektronische Equipment bis an die Grenzen austesteten. Zahlreiche Gerätschaften sieht man hier, die heute liebenswert altmodisch und reichlich verwittert aussehen, die zu ihrer Zeit aber der letzte Schrei und State of the Art waren – vom heute vorsintflutlich wirkenden „Azimuth Co-ordinator“ bis zum frühen Synthesizer.

Ein Markenzeichen der Band: schwebendes Schwein im Rolltreppenhaus des „Dortmunder U". (Foto: Bernd Berke)

Ein Markenzeichen der Band: schwebendes Schwein im Rolltreppenhaus des „Dortmunder U“. (Foto: Bernd Berke)

Ansonsten sieht man einen vielfältigen medialen Mix aus Fotografien, Filmausschnitten, Plakaten, Bühnenskizzen, Briefen und weiteren Objekten. Hie und da sind es eher bloße Devotionalien, doch manch ein Stück gibt auch näheren Aufschluss. Und ja: Das fliegende Schwein hat selbstverständlich auch seine gebührenden Auftritte, und zwar erstmals schon ganz unten überm Foyer.

Der Gentleman Nick Mason gab sich die Ehre 

Offenbar hat man sehr zeitig und vorausschauend begriffen, dass es zur sich immer mehr entfaltenden Band-Geschichte jede Menge aufhebenswerte Gegenstände gibt. So gehören denn auch zahlreiche Gitarren zu den Exponaten, aber auch ein im Stile des japanischen Malers Hokusai verziertes Schlagzeug oder gar hübsch aufgefächerte gebrauchte Drumsticks von Nick Mason und ein halb zerfetztes Schlagfell, das er offenbar etwas wuchtiger traktiert hat.

Hübsch aufgefächert: Drumsticks des Schlagzeugers Nick Mason. (Foto: Bernd Berke)

Hübsch aufgefächert: Drumsticks des Schlagzeugers Nick Mason. (Foto: Bernd Berke)

Dabei hat sich dieser Nick Mason, der mitten aus der aktuellen Tournee heraus als einziges Band-Mitglied zur Ausstellung nach Dortmund kam, in der Gruppe musikalisch zumeist vornehm im Hintergrund gehalten, jedoch dem großen Ganzen ein höchst solides rhythmisches Gerüst und Fundament verliehen. Er macht übrigens den sehr angenehmen Eindruck eines feinsinnigen, mit Ironie gesegneten britischen Gentleman. Indeed!

Wechselvolle Bandgeschichte

Die Alphatiere der Gruppe, Roger Waters und David Gilmour, sind – nach allem, was man so hören und lesen kann – hingegen ganz andere, mächtig auftrumpfende Kaliber. Roger Waters, der seit etlichen Jahren im Sinne der dubiosen Organisation BDS für einen rigiden Boykott gegen Israel eintritt, wehrt sich übrigens in einem just heute veröffentlichten Interview der „Süddeutschen Zeitung“ (SZ-Magazin) nochmals gegen den oft erhobenen Vorwurf des Antisemitismus‘. An dieser Stelle genug davon.

Die wechselvolle, oft sehr turbulente Bandgeschichte, die anfangs Syd Barrett früh in den Drogenwahn trieb und später in mancherlei persönliche und juristische Grabenkämpfe mündete, wollen wir hier auch nicht im Detail nachbeten. Teile kann man sich in der Ausstellung erschließen, anderes wird man füglich nachlesen können. Vom optischen und akustischen Genuss des finalen Konzertfilms sollte man sich jedenfalls nicht abhalten lassen.

Von links: Aubrey Powell (häufig Cover-Gestalter für „Pink Floyd" und Kurator der Dortmunder Schau), Dortmunds OB Ullrich Sierau, „Pink Floyd"-Drummer Nick Mason,, Edwin Jacobs (Chef des Dortmunder „U") und Jörg Stüdemann, Dortmunder Stadtkämmerer und Kulturdezernent. (Foto: Bernd Berke)

Von links: Aubrey Powell (häufig Cover-Gestalter für „Pink Floyd“ und Ko-Kurator der Dortmunder Schau), Dortmunds OB Ullrich Sierau, „Pink Floyd“-Drummer Nick Mason, Edwin Jacobs (Chef des Dortmunder „U“) und Jörg Stüdemann, Dortmunder Stadtkämmerer und Kulturdezernent. (Foto: Bernd Berke)

Ob die Schau doch noch eine oder mehrere weitere Stationen ansteuern wird, steht dahin. Gespräche laufen offenbar. Man könnte den Verdacht haben, dass die USA noch an die Reihe kommen werden.

Dortmund aber hat die Exklusivität in ganz West- und Mitteleuropa für sich. Die Besucherzahl könnte und sollte deshalb weit oberhalb der 100.000er-Marke liegen. Viele Gäste werden wohl vor allem aus den Niederlanden, aus Belgien, der Schweiz und Österreich anreisen – und wer weiß, woher sonst noch. Wie schön, wenn die Stadt mal außerhalb der Fußball-Zusammenhänge dermaßen viele Leute anlockt.

„The PINK FLOYD Exhibition. Their Mortal Remains“. Ausstellung im „Dortmunder U“, 6. Ebene, Leonie-Reygers-Terrasse. Tel. 0231 / 50-247 23. www.dortmunder-u.de

15. September 2018 bis 10. Februar 2019. Geänderte Öffnungszeiten: Mo-Mi 10-18, Do/Fr 10-20 Uhr, Sa/So 10-22 Uhr. Letzter Einlass jeweils eine Stunde vor Schließung.

Tickets gibt es im Vorverkauf über die Firma Eventim, die sonst vor allem Konzertkarten anbietet. Die ungewöhnlichen Preise: Normal 29,76 Euro, ermäßigt 23,16 Euro. www.eventim.de Bestell-Hotline 01806 / 57 00 70.

Durch den Rundgang geleitet wird man übrigens von hochmodernen Audioguides, die jeweils die passenden Sounds zu den gerade besehenen Ausstellungsstücken liefern – ganz gleich, wie und in welcher Richtung man sich bewegt.

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Die wichtigsten Alben von Pink Floyd“

The Piper at the Gates of Dawn (1967)
A Saucerful of Secrets (1968)
Ummagumma (1969)
Atom Heart Mother (1970)
Meddle (1971)
The Dark Side of the Moon (1973)
Wish You Were Here (1975)
Animals (1977)
The Wall (1979)
The Final Cut (1983)
A Momentary Lapse of Reason (1987)
The Division Bell (1994)




Begrenzt verfügbar: Wie Dortmund seine Besucher enttäuscht

„Dortmunder U": Auf der Dachterrasse gibt's nicht mal einen Kaffee. (Foto: Bernd Berke)

„Dortmunder U“: Auf der Dachterrasse gibt’s nicht mal einen Kaffee. (Foto: Bernd Berke)

Reisender, kommst du nach Dortmund, so mach dich auf herbe Enttäuschungen gefasst. Und zwar gerade an gewissen Stätten, die der Alteingesessene seinen Gästen von außerhalb eigentlich gerne zeigen möchte. Eigentlich.

Da wäre zum Beispiel der 1959 als Bundesgartenschau eröffnete Westfalenpark. Herrje, wie war man damals stolz auf dieses relativ weitläufige Grün, als der Pott wirklich noch kochte und ungemein rußte. Und heute? Kann man nie sicher sein, dass die paar Hauptattraktionen des Parks zugänglich oder nutzbar sind. Lange, lange Zeit konnte man nicht mit dem Aufzug auf den Florianturm (ein Hauptwahrzeichen der Stadt) fahren, um vom prinzipiell drehbaren Restaurant oder von einer Plattform aus die tatsächlich phänomenale Fernsicht auf Stadt und Land zu genießen.

Ein weiteres Wahrzeichen der Stadt: der Florianturm im Westfalenpark. (Foto: Bernd Berke)

Weiteres Wahrzeichen der Stadt, auch nicht immer zugänglich: Florianturm im Westfalenpark. (Foto: Bernd Berke)

Schlimmer noch: Die Gastronomie zu Füßen des Turms war zuweilen eine schiere Katastrophe, für die man sich bei seinen Gästen entschuldigen musste (obwohl man ja nichts dafür konnte). Und das mächtige Sonnensegel, unter dem früher Konzerte gegeben wurden? Bereits seit 2012 eine für Besucher gesperrte, baulich marode Schadstelle. Immerhin scheint hier nach beiläufig sechs Jahren Abhilfe in Sicht zu sein.

Es herrscht ein starres Schema

Kurze Impression vom letzten Sonntag, vom Wetter her ein geradezu idealer Tag für den Westfalenpark, auf den man auch mal flexibel reagieren müsste, was die Personalplanung angeht. Doch nein, es herrscht allzeit ein starres Schema. Die Seilbahn-Gondeln fahren – wie so oft – gar nicht, das Park-Bimmelbähnchen macht ebenso vor 18 Uhr Schluss wie der Bootsverleih. Peinlich, peinlich. Der 2. September lag zwar nach den Sommerferien, müsste aber doch noch zur Hauptsaison zählen; zumal, wenn die Witterung so einladend ist. Aber hier gelten rigoros begrenzte, servicefeindliche Arbeitszeiten. Obwohl die Kräfte, die da zugegen sind, wohl vielfach nur aushilfsweise arbeiten. Auskünfte simpelster Art können sie jedenfalls oft nicht erteilen.

Seit etlichen Jahren nicht mehr zu sehen: imposantes Sauriermodell im Naturkundemuseum. (Foto vom Januar 2011: Bernd Berke)

Seit etlichen Jahren nicht mehr zu sehen: imposante Sauriermodelle im Naturkundemuseum. (Foto vom Januar 2011: Bernd Berke)

Dann eben ins Naturkundemuseum? Von wegen! Das einst besucherstärkste Museum der Kommune wird seit etlichen Jahren umgebaut. Und umgebaut. Und umgebaut… Im September 2014 wurde das Haus geschlossen, 2016 wollte man es wieder öffnen. Haha, guter Scherz. Zahlreiche Planungs- und Baupannen führten zu Verzögerungen und entsprechenden Kostensteigerungen. Jetzt geht die Rede, dass es im September 2019 also nun aber wirklich so weit sein soll, dass… Warten wir’s ab.

Oh nein, jetzt bitte keine billigen Vergleichs-Scherze über die „Fertigstellung“ des Berliner Flughafens BER am Sankt-Nimmerleinstag. Und bitte auch keine hämischen Anspielungen auf den Slogan „Dortmund überrascht. Dich.“ Der stimmt halt nicht immer so, wie er gedacht war.

Gekonnte Touristen-Abschreckung

Angesichts solcher Flops mögen vielleicht manche erwägen, ihren auswärtigen Besuch dann eben zum Kultur- und Kreativzentrum „Dortmunder U“ zu lotsen, wo man von der Dachterrasse wirklich interessante Blick-Perspektiven auf die gesamte (Innen)-Stadt erhaschen kann. Doch ach, dort fordert eine schnarrende Lautsprecherstimme dringlich dazu auf, den Ausguck spätestens um 18 Uhr zu verlassen. Auch vorher heißt es schon: bitte Thermoskanne, Bütterken oder dergleichen mitbringen. Denn Gastronomie gibt es dort oben nicht. Welch eine Touristen-Abschreckungsmaßnahme, bundesweit vermutlich einzigartig! Immerhin ein Superlativ, wenn auch nicht allzu werbetauglich.

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P.S.: Der Wahrheit die Ehre: Ein paar andere Anziehungspunkte bleiben natürlich noch übrig – Westfalenstadion mit Stadion Rote Erde, Westfalenhalle, Botanischer Garten Rombergpark, Zoo, Industriemuseum Zeche Zollern, Museum Ostwall im Dortmunder U, Museum für Kunst und Kulturgeschichte, Konzerthaus, Oper und Schauspielhaus, Pferderennbahn, Phoenixsee, Hohensyburg, diverse Wasserschlösser und weitere Sehenswürdigkeiten, die nicht in dieser kurzen Aufzählung vorkommen. Oder hakt es da auch irgendwo?




100 Jahre Fake – Dortmunder „Hartware MedienKunstVerein“ zeigt berühmte Fotofälschungen der Russischen Revolution

»Sturm auf den Winterpalast«, unretuschierte Variante und vermutetes Original des theatralen Reenactments auf dem Palastplatz, Sankt Petersburg, 1920, von Regisseur Nikolaj Evreinov u.a. (Foto: HMKV/CGAKFFD SPb, Katalognummer Ar 86597)

Die Oktoberrevolution feiert, wie wohl hinlänglich bekannt, in diesem Jahr ihren 100. Geburtstag, und gerade noch rechtzeitig ist das Thema nun auch im Dortmunder „U“ angekommen – im „Hartware MedienKunstVerein“ (HMKV), der im nämlichen ehemaligen Brauereigebäude residiert und dem man ein gerüttelt Maß an Fleiß nicht absprechen kann, auch wenn Medienkunst, zumal die hier präsentierte, manchmal keinen leichten Zugang gewährt.

Sturm auf den Winterpalast

Nun also, kuratiert von Sylvia Sasse und Inke Arns, der „Sturm auf den Winterpalast“, genauer eine Auseinandersetzung mit dem möglicherweise berühmtesten Fotodokument, das dieses Kernereignis der Oktoberrevolution zum Thema hat. Das Bild ist im „U“ gleich zweimal wandtapetengroß zu sehen, einmal als Original, einmal so retuschiert, daß es den Vorstellungen der Bolschewisten von einer in jeder Hinsicht „richtigen“ Revolution entsprach.

Riesenspektakel

Original und Fälschung? Nun, die Entstehungsgeschichte dieser und etlicher weiterer Fotografien vom Sturm auf den Winterpalast ging im Jubiläumsjahr 2017 kräftig durch die Medien, und so ist wohl relativ bekannt, daß beide Bilder das sind, was wir heute „Fake“ nennen – Fake und retuschierter Fake (ist Fake männlich, grammatisch gesehen?).

Das unretuschierte Bild entstand nämlich keineswegs 1917, sondern erst am 7. November 1920, und es war Bestandteil einer gigantischen Theaterinszenierung anläßlich des dritten Jahrestages der Revolution. Regisseur Nikolaj Evreinov (1879 – 1953) inszenierte das Spektakel vor dem Palast auf drei riesigen Bühnen, und die Zahl der Mitwirkenden schwankt je nach Quelle zwischen 60.000 und 150.000. Ein revolutionärer Film entstand, und die Revolutionäre träumten ihren Traum vom Palaststurm, den es tatsächlich – so oder so ähnlich – nie gegeben hat.

Auch „La liberté raisonnée“ von Christina Lucas  (2009) wird in der Ausstellung „Sturm auf den Winterpalast gezeigt (Foto: HMKV, Courtesy of Cristina Lucas)

Zuschauer stören

Doch Wirklichkeit läßt sich gestalten; das denkt der amerikanische Präsident, und das sahen auch schon die Bolschewisten so. Deshalb wurde der inszenierte Palaststurm – die Noch-einmal-Inszenierung, das „Reenactment“ – per Retusche passend gemacht und in den folgenden Jahrzehnten als authentisches Bilddokument verbreitet. Man entfernte einen hölzernen Regieturm aus dem Bild sowie eine große Gruppe von Zuschauern, weil eine Revolution keine Zuschauer haben darf, sondern nur entschlossen voranstürmende Kämpfer. Die putzige Bezeichnung für diese Art von Historienbild ist „Als-Ob-Reenactment“, also quasi erfundener Fake, sozusagen doppelt gemoppelt. Und warum soll uns das interessieren? und warum interessiert sich ein Museum dafür?

Lästige Wirklichkeit

Nun, weil es hier, bei diesem Weltereignis, um frühe verfremdende Eingriffe am (Modewort!) revolutionären Narrativ geht, um die Erzählung sozusagen, die sich an Wunschvorstellungen eher orientiert als an der lästigen Wirklichkeit. Die Revolution mußte ja den naturwissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten des Marxismus folgen, und die Bilddokumente hatten dies zu belegen. Und möglicherweise, aber das ist natürlich spekulativ, findet sich in diesem unseriösen Umgang mit der Wirklichkeit schon der Keim des Scheiterns. Bezüge zur Gegenwart, zu „alternativen Fakten“ und unseriösen populistischen Verkürzungen liegen auf der Hand. Doch zurück in die Ausstellung des HMKV.

Noch kein Bildjournalismus

Die Dortmunder Ausstellung reichert die Gegenüberstellung der beiden Großabzüge mit vielen detailhaften Fotografien an, Kämpfer, Barrikaden, Kampffahrzeuge usw. – links welchen von der Inszenierung, rechts welchen von der „richtigen“ Revolution. Das ist gut gemeint, offenbart aber schnell das Dilemma, daß die Fotos jener Jahre zwangsläufig fast immer Inszenierungen waren und sich ästhetisch deshalb eigentlich nicht unterscheiden. Das war der damaligen Fototechnik geschuldet, die mit Plattenkameras und wuchtigen Stativen noch wenig geschmeidig war. Ein Bildjournalismus nach heutigem Verständnis etablierte sich erst 10, 20 Jahre später.

Mit dickem Strich

Ein weiterer, großartiger Teil dieser Präsentation indes ist die Wiedergabe von Teilen des revolutionären Films Evreinovs. Vorrevolutionäre Gesellschaft, mit ganz dickem Strich gezeichnet: hungernde Arbeiter, kämpferische Bauern, Plutokraten, die hastig ihre Geldsäcke beiseite schaffen. Es galt, ein Volk, dem wenig Bildung zuteil geworden war, von einer besseren Zukunft im Kommunismus zu überzeugen; dieser Impetus wirkt redlich und rührt an.

Eine Aktion der Gruppe Chto Delat erinnert an die revolutionären Matrosen: „Palastplatz 100 Jahre danach. Film-Vortrag ,Vier Folgen von Zombie'“ (Foto: HMKV/Courtesy of Chto Delat and KOW Berlin)

Die Matrosen sind fort

Angereichert wird die Auseinandersetzung mit dem Winterpalast-Sturm durch einige aktuelle Arbeiten jüngerer Künstler, von denen zwei prominent präsentierte Videos in besonderer Erinnerung bleiben. Das eine stammt von der russischen Gruppe „Chto Delat“, was übersetzt „Was tun“ heißt.

Natürlich stand Lenins kämpferische Schrift gleichen Titels bei der Namensfindung des Künstlerkollektivs Pate, für das sich die Frage „Was tun“ stellte, als es sich auf dem Platz vor der Eremitage in St. Petersburg den alltäglichen Menschenauftrieb anguckte und sich fragte, wo denn die Matrosen geblieben seien – jene, deren Meuterei auf dem Kriegsschiff „Aurora“ am Anfang der Revolution gestanden hatten. In ihrem Video gaben sie den verschwundenen, vergessenen Kämpfern von damals gleichsam als lebenden Toten Gestalt, langsam und wortlos rückwärts den Platz beschreitend. Dabei tragen sie Transparente, auf denen nichts steht. „Palastplatz 100 Jahre danach. Film-Vortrag ,Vier Folgen von Zombie’“ ist der sperrige Titel dieses 34-Minuten-Videos, das so intensiv historische Aufrichtigkeit einfordert, im „U“ seine Deutschlandpremiere erlebt und die Auseinandersetzung mit dem Sturm auf den Winterpalast ganz hervorragend ergänzt.

Pseudo-Parlamentarismus

Das zweite Video stammt von dem Schweizer Milo Rau, der behauptet, der Welt mangle es an demokratischer Repräsentanz, um die wirklich wichtigen Probleme zu behandeln und zu lösen. Deshalb hat er sich ein handverlesenes 60-Personen-Plenum in die Berliner Schaubühne eingeladen und dort Parlament gespielt – stellvertretend für alle, „die von der deutschen Politik betroffen sind, jedoch kein politisches Mitspracherecht haben“. Eine recht autistische Veranstaltung; nur ganz leise und bar jeder Hoffnung auf Verständnis möchte man fragen, wie es denn um die Mandatierung der Abgeordneten steht, ob weltweit agierende NGOs oder die Vereinten Nationen für diesen Künstler nicht existieren. Aber das ist wahrscheinlich sinnlos. Trotzdem paßt diese Arbeit gut in die Ausstellung, weil sie den Pseudo-Parlamentarismus des untergegangenen real existierenden Sozialismus geradezu genial paraphrasiert.

So schon viel zu viel geschrieben. Deshalb muß der Aufsatz über die Winterpalast-Ausstellung jetzt mit dem Hinweis sein Bewenden haben, daß neben dem historischen Komplex insgesamt neun Arbeiten von sechs zeitgenössischen Künstlerinnen und Künstlern zu sehen sind.

Ausstellung „Die Grenze“: Taus Makhatcheva (Rußland), „19 a Day“, Photo 2014, Photograph: Shamil Gadzhidadaev (Foto: HMKV/Taus Makhatcheva)

An der Grenze zu Asien

Neben dem Winterpalast gelangt ein Ausstellungsprojekt des Goethe-Instituts zur Präsentation. Es heißt „Die Grenze“ und behandelt, geographisch wie auch kulturell, die Grenze zwischen Europa und Asien. Die ist nach dem Zerfall der Sowjetunion ja wieder deutlicher hervorgetreten, und das veranlaßte Deutschlands nationales Kulturinstitut, junge Künstler der Region zur Auseinandersetzung mit dem Thema aufzufordern.

Es entstand eine Reihe mehr oder minder origineller Arbeiten, etliche Videos zumal, die sich mit den großen und kleinen regionalen Eigenheiten und mit kultureller Identität beschäftigen. Man begegnet einem „interaktiven“ asiatischen Karaoke-Automaten, texanischen Cowboys in Fernost oder auch Sammeltassen aus Samarkand, die die Moskauer sich als Reisesouvenirs mitbrachten, die aber in einem Kombinat 70 Kilometer von Moskau entfernt gefertigt wurden.

Das Ausstellungsdesign wird beherrscht von blauen hölzernen kubischen Transportkisten mit einer Kantenlänge von etwa einem Meter, und das ist so, weil diese Kisten, wie Kurator Thibaut de Ruyter erläutert, auch für den Transport der Schau verwendet werden. An sechs Orten hat das Goethe-Institut „Die Grenze“ in diesem Jahr bereits gezeigt, Moskau, St. Petersburg, Krasnojarsk, Kiew, Tiflis, Minsk. Dortmund ist die Nummer sieben.

Und außerdem:

Noch bis 3. Dezember steht auf dem Platz vor dem „U“ ein 20-Fuß-Container, in dem der englische Künstler Sam Hopkins (Jahrgang 1979) seine Installation „Ministry of Plastic“ aufgebaut hat. Sie präsentiert in edlen Vitrinen Dinge und Scheußlichkeiten des täglichen Bedarfs und spielt mit dem Gedanken, daß der (heute als minderwertig betrachtete) Kunststoff das Gold der Zukunft sein könnte, edel und wertvoll.

Man ahnt, daß es um Recycling, Upcycling, Ressourcenschonung oder Urban Mining gehen könnte, und damit ist diese Arbeit auch schon recht vollständig erklärt. Während des Klimagipfels stand der Container übrigens vor dem Bonner Kunstmuseum; vor das Dortmunder „U“ hat ihn jetzt die „innogy Stiftung“ gestellt, die jüngst im „U“ tagte und deren Stipendiat Sam Hopkins ist.

  • „Sturm auf den Winterpalast“ und „Die Grenze“
  • Hartware MedienKunstVerein im Dortmunder U, Ebene 6, Leonie-Reygers-Terrasse, Dortmund
  • Bis 8. April 2018
  • Geöffnet tägl. 11-18 Uhr, Do+Fr 11-20 Uhr, Mo geschl.
  • Eintritt 5 Euro
  • Zur Ausstellung „Sturm auf den Winterpalast“ gibt es ein Begleitheft
  • www.hmkv.de/



„Fast wie im echten Leben“: Gründlich umgestaltete Ostwall-Sammlung im Dortmunder „U“ wirkt geradezu erfrischend

Da schau her! Wie hat sich die Präsentation dieser Sammlung verändert! Man erkennt sie streckenweise kaum wieder. Hier gilt’s nicht mehr so sehr der hehren Kunst, die sich vom schnöden Alltag abhebt, sondern im Gegenteil: Die Kernfrage lautet, wie sehr die Werke mit uns und unserem Alltag zu tun haben, wie sie aus ihm hervorgehen und ihn wiederum beeinflussen; selbst noch aus historischem Abstand – und sei’s als Gegenpole. Die gründlich neu gestaltete Sammlung des Museum Ostwall (MO) im Dortmunder „U“ ist im besten Wortsinne „ansprechender“ geworden.

Die Leiterin und Kuratorin der Ostwall-Sammlung, Nicole Grothe, erläutert eine Ansammlung von Arbeiten Bernhard Hoetgers. (Foto: Bernd Berke)

Die Leiterin und Kuratorin der Ostwall-Sammlung, Nicole Grothe, erläutert eine Ansammlung von Arbeiten Bernhard Hoetgers. (Foto: Bernd Berke)

Die alles überwölbende Ausstellungs-Parole heißt denn auch: „Fast wie im echten Leben“. Gleich im neuen Eingangsbereich auf der 5. Etage des „U“-Turms blicken einen lauter andere Ausstellungsbesucher von ehedem frontal an. Das großformatige Tableau mit Schwarzweiß-Fotografien stammt von Jochen Gerz und ist ein geradezu monumentales Relikt seiner groß angelegten Dortmunder Aktion „Das Geschenk“ aus dem Jahr 2000. So wird bereits signalisiert: Das Ganze hier hat vor allem mit Euch zu tun!

Bildnisse der Besucher

Zudem wird man sogleich freundlich ermuntert, selbst zum Zeichenstift zu greifen und sein eigenes, mehr oder weniger verfremdetes Spiegelbild zu entwerfen, womöglich auch inspiriert von einem kleinen Matisse-Bildnis aus Dortmunder Eigenbesitz, das direkt über dem Zeichentisch hängt.

An dieser Stelle darf man sein eigenes Spiegelbildnis zeichnen. (Foto: Bernd Berke)

An dieser Stelle darf man sein eigenes Spiegelbildnis zeichnen. (Foto: Bernd Berke)

Die so entstandenen Selbstporträts sollen täglich gesammelt und an einer freien Wand aufgehängt werden. Auf diese Weise nimmt man also zur Kenntnis, welche Leute vor einem in der Ausstellung waren oder vielleicht noch sind; zumindest erfährt man’s physiognomisch, selbstverständlich ohne alle weiteren Daten. Oder halt gänzlich abstrakt.

Acht weitere dieser Aktionspunkte werden im Laufe des Rundgangs noch folgen. Mal kann man zu mehreren ein Bild kreieren, mal eine Landschaft nach Belieben ergänzen. Wer will, muss jedenfalls nicht passiv und unbeteiligt bleiben.

Partizipation als Leitlinie

Derlei Ansätze fügen sich zum Credo des niederländischen „U“- und Ostwall-Chefs Edwin Jacobs, der entschieden auf Partizipation setzt. Kuratorin Nicole Grothe und ihr Team haben konsequent die Leitlinie verfolgt, die auf Einbeziehung der Besucher(innen) hinausläuft. In eine voluminöse Arbeit, die bei Berührung musikalische Töne von sich gibt, darf man sich gar (vorsichtig) hineinlegen. Trotz alledem macht das Museum jedoch keine Abstriche am Eigenwert der Kunst. Manche Arbeit erscheint einem, derart neu besehen, überraschend anders und wie erfrischt.

Vier farblich deutlich, aber dezent abgegrenzte Bereiche sind nicht chronologisch, sondern thematisch geordnet. So kommt es, dass Beispiele für die Dortmunder Sammlungsschwerpunkte (Expressionismus und Fluxus-Kunst seit den 60er Jahren) miteinander vielfach in direkte Dialoge treten können.

Christian Rohlfs: "Clowngespräch", 1912. Öl und Tempera auf Leinwand. (Museum Ostwall)

Christian Rohlfs: „Clowngespräch“, 1912. Öl und Tempera auf Leinwand. (Museum Ostwall)

Intensiviert werden solche ästhetischen Zwiesprachen durch eine großzügige Öffnung der Räume. Es sind einige Zwischenwände verschwunden, deren Standspuren noch am Boden zu gewärtigen sind. Auch dies hat Methode und soll besagen: Wir sind noch lange nicht fertig. Dies ist ein „work in progress“, es soll beileibe nicht die letzte Veränderung bleiben.

Von einer wünschenswerten „Dynamisierung“ der Sammlung spricht Edwin Jacobs. Die Kunst soll nach seinem Verständnis an- und aufregende Geschichten erzählen und Assoziationen anstoßen. In weiteren Erneuerungs-Schritten sollen auch neue Pfade durch gesamte Haus gezogen werden. Dafür werden noch hochkarätige Museums-Designer gesucht.

Geradezu frappierender Effekt schon zu Beginn: Porträtbüsten und Vorarbeiten des Dortmunder (genauer: Hörder) Lokalmatadors Bernhard Hoetger werden gleichsam en masse und seriell gezeigt, auf einem Regal gestapelt, ohne Sockelgehabe oder sonstige Überhöhung ihrer Entstehungszeit. Damit kontrastiert eine Arbeit von Dieter Roth (1930-1998), der sich und sein Seelenleben – gewiss nicht ohne Selbstironie –  in einem tierischen Turm aus lauter Schokoladen-Löwen dargestellt hat. Auch hier das serielle Moment, doch willentlich vom Künstler ins Werk gesetzt und mit völlig anderer Intention.

Am Beispiel Hoetger lernt man auch gleich, wie die Herrichtung durch Kuratoren künstlerische Arbeiten verändern und in neue Kontexte stellen kann. Apropos: Zum neuen Konzept gehört auch, dass man an einer bestimmten Stelle immer mal wieder Museumsleuten bei der Arbeit über die Schulter schauen und sie dabei ein wenig stören kann. Fragen erwünscht, auch nach dem Motto: „Was machen Sie eigentlich so den ganzen Tag?“

August Macke: "Großer Zoologischer Garten", 1913. Öl auf Leinwand, ehemals Sammlung Gröppel. (Museum Ostwall)

August Macke: „Großer Zoologischer Garten“, 1913. Öl auf Leinwand, ehemals Sammlung Gröppel. (Museum Ostwall)

Die leicht fasslichen Titelzeilen der vier Bereiche lauten: „Du und ich“ (Menschendarstellungen), „Ausflug ins Grüne“ (Natur in allerlei Formen), „Freund oder Feind“ (Kampf, Krieg und Ausgrenzung) sowie „Kunst und Leben“.

Schließlich wird anhand ausgewählter Arbeiten erwogen, wieviel Alltag in der Kunst steckt – und wieviel Kunst im Alltag. Ob das in jedem Einzelfalle schlüssig gelingt, ist eine andere Frage, mit der man sich eingehender befassen muss.

Im Kapitel „Freund oder Feind“ wird unterdessen ausdrücklich an die Gründungsimpulse der Nachkriegszeit erinnert, als das Ostwall-Museum ganz bewusst die von den Nazis als „entartet“ verfemten Künstler rehabilitierte. Die nahezu unterschiedlos dichte „Petersburger Hängung“ an einer Wand führt vor Augen, wie nahezu wahllos und konfus die NS-Machthaber Kunstwerke aussortiert hatten.

Wolf Vostell: "TEK (Thermoelektrischer Kaugummi)", 1970. 5 Lichtquellen, 30 Metallpfähle mit Stacheldraht, 5 Koffer mit Radios und wärmeempfindlichen Mikrophonen, 13000 Löffel und Gabeln. (© VG BIld-Kunst, Bonn 2017)

Wolf Vostell: „TEK (Thermoelektrischer Kaugummi)“, 1970. 5 Lichtquellen, 30 Metallpfähle mit Stacheldraht, 5 Koffer mit Radios und wärmeempfindlichen Mikrophonen, 13000 Löffel und Gabeln. (© VG Bild-Kunst, Bonn 2017)

Die Veränderungen gehen bis ins Detail der Vermittlung. Vermehrt wird mit zusammenfassenden Wandtexten gearbeitet, die einzelnen Exponate werden zusätzlich erklärend beschriftet, und zwar endlich auch durchgehend in englischer Sprache. Warum sollte man denn nicht mit internationalem Publikum rechnen? Als anglophones Markenzeichen klingt das Museum Ostwall (MO) denn auch beinahe pop-verdächtig: „The MO“. Mal versuchshalber so gesagt: Hey, let’s go to the Mo…

Wer in der Sammlung bekannte Künstlernamen sucht, wird nach wie vor an vielen Stellen fündig: hie eine Arbeit von Jörg Immendorff, dort eine raumfüllende Installation von Wolf Vostell, Werke von Otto Piene, Daniel Spoerri, Yves Klein; von Max Beckmann und einigen Expressionisten ganz zu schweigen. Und so weiter.

Doch es kommt laut Nicole Grothe in diesem Zusammenhang weniger auf Prominenz an, sondern darauf, was einen die Kunst angeht und wie sie einen angeht. Selbst ein Stolz der Sammlung wie August Mackes „Großer Zoologischer Garten“ (1913) erstrahlt nicht nur für sich selbst, sondern auch im erhellenden Zusammenspiel mit Landschafts- und Natur-Darstellungen von ganz anderer Art.

Vorläufiges Fazit: Auch und gerade altgediente Kenner der Dortmunder Sammlung können hier das Entdecken und Staunen wieder lernen. Wenn sich das alles herumspricht, darf man wohl auch hoffen, neue Besucherkreise anzuziehen.

„Fast wie im echten Leben“. Museum Ostwall im Dortmunder „U“, Neupräsentation der Sammlung in der 4. und 5. Etage.

14. November 2017 bis 4. März 2018. Öffnungszeiten: Di / Mi 11-18 Uhr, Do / Fr 11-20 Uhr, Sa / So /Feiertage 11-18 Uhr. Eintritt 5 Euro (ermäßigt 2,50), Kinder und Jugendliche unter 18 frei.

Adresse: Leonie-Reygers-Terrasse, 44137 Dortmund. Tel.: 0231 / 50 24 723. Internet: www.museumostwall.dortmund.de

Zeitlich parallel läuft im Ostwall -„Schaufenster“ die kleine Ausstellung „Today I want to show you“ des Kölner Künstlers Bastian Hoffmann, der die Form von Erklärvideos bei YouTube und anderen Plattformen aufgreift. Dabei setzt er sich hintersinnig mit der „Do it yourself“-Bewegung auseinander; zwar humorvoll, aber keineswegs hämisch. Hoffmann ist just zum Träger des Kunstpreises „Follow me Dada and Fluxus“ gekürt worden, der von den Freunden des Museums Ostwall e. V. ausgelobt wird.




Coup fürs „Dortmunder U“: Schau über die legendäre Rockband „Pink Floyd“ kommt aus London

Das ist doch mal eine gelungene Überraschung: Edwin Jacobs, aus Utrecht kommender neuer Chef des „Dortmunder U“ und somit auch des Museums Ostwall, kann bereits den ersten Coup seiner Dortmunder Amtszeit verbuchen; allerdings nicht mit einer klassischen Kunstausstellung, sondern mit einer Schau über die legendäre Rockgruppe „Pink Floyd“.

"Animals" - album cover art, Riger Waters, 1977 (© Pink Floyd Music Ltd. / Victoria and Albert Museum, London)

„Animals“ – album cover art, Roger Waters, 1977 (© Pink Floyd Music Ltd. / Victoria and Albert Museum, London)

Die weltweit erste derartige Retrospektive über die Band startet ihre Tour am kommenden Wochenende im ehrwürdigen Victoria and Albert Museum in London, wo sie vom 13. Mai bis zum 1. Oktober zu sehen sein wird. Der Titel kommt schon gebührend gravitätisch, aber auch ein wenig britisch-ironisch daher: „Pink Floyd: Their Mortal Remains“ („Pink Floyd: Ihre sterblichen Überreste“).

Ab Frühjahr 2018 soll dann Dortmund die einzige Station im deutschsprachigen Raum sein. Schauplatz ist dann die 6. Etage des „Dortmunder U“. Einen weiteren Halt macht die Präsentation in Rom. London – Rom – Dortmund. Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen…

Angekündigt wird eine multimediale Reise durch die rund 50-jährige Geschichte der ungemein einflussreichen Band. Im Mittelpunkt steht zwar vorwiegend, aber nicht nur die Musik – mit den Bandmitgliedern, ihren Songs und Instrumenten, Tourneen und Auftritten. Es geht beispielsweise auch um die visuelle Gestaltung der Alben und der Bühnenbilder – und um persönliche Erinnerungsstücke wie etwa Klassenbuch oder Rohrstock aus Kindertagen. Insgesamt soll die Ausstellung die wandelbare Entwicklung von der anfänglichen psychedelischen Phase bis hin zu den kommerziellen Welterfolgen nachzeichnen.

Schon dieses erste Ausrufezeichen des neuen Museumsdirektors deutet an, dass künftig auch populäre Themen ins Haus geholt werden dürften, die das bisherige Spektrum erweitern. Sicherlich hofft man dabei auf ein Publikum, das über die üblichen Kreise der Museumsbesucher hinaus reicht. Es kann ja wirklich nicht schaden, neue Besucherschichten zu erschließen.

Das „Dortmunder U“ könnte dabei zur temporären Pilgerstätte von zahlreichen „Pink Floyd“-Fans werden, die sich vermutlich auch auf weitere Anreisen begeben . Übrigens war es die Dortmunder Westfalenhalle, wo die Band im Februar 1981 mit der gigantischen Show „The Wall“ einen ihrer wohl spektakulärsten Auftritte hatte. Auch 1977 und 1988 gastierte die Gruppe in Dortmund. Manche Leute schwärmen heute noch davon.

Einen Vorgeschmack auf die Londoner Ausstellung kann man sich auf der Internet-Seite des Victoria and Albert Museums verschaffen: https://www.vam.ac.uk/exhibitions/pink-floyd




Edwin Jacobs, neuer Chef im „Dortmunder U“: „Nicht nur gucken, sondern mitmachen!“

Bei null Grad auf der Dachterrasse des "Dortmunder U": der neue Chef Edwin Jacobs (vorn Mitte) mit Reginal Selter (stellv. Direktorin des Museums Ostwall, links neben ihm), Inke Arns (Leiterin des HMKV, rechts neben Jacobs) und weiteren Akteuren aus dem Team. (Foto: Bernd Berke)

Bei ungefähr null Grad auf der Dachterrasse des „Dortmunder U“: der neue Chef Edwin Jacobs (vorn Mitte) mit Regina Selter (stellv. Direktorin des Museums Ostwall, links neben ihm), Inke Arns (Leiterin des HMKV, rechts neben Jacobs) und weiteren Akteuren aus dem Team. (Foto: Bernd Berke)

Dieses viele Grün in der Stadt. Diese kreativen und aufgeschlossenen Menschen. Diese Offenheit für Zukunft. Diese positive Energie.

Nanu? Von welcher swingenden Metropole ist denn da die nahezu euphorische Rede? Haltet euch fest: von Dortmund! Die Stadt hat sich vor einiger Zeit den Slogan „Dortmund überrascht dich“ gegeben. Scheint ja mal wieder zu stimmen.

Nun aber die Zusatzfrage: Wer spricht denn da eigentlich? Oranje boven: Es ist Edwin Jacobs, der aus Utrecht kommende neue Direktor des „Dortmunder U“ und damit auch Chef des Museums Ostwall, der seit rund sechs Wochen hier ist, offenbar mit Feuereifer ans Werk geht und sein Lob für die Stadt natürlich nicht in atemlosen Stichworten formuliert hat.

Beispiellose Breite des Angebots

Jacobs macht auf Anhieb einen hellwachen und neugierigen Eindruck. Seine Wirkungsstätte preist er, mit charmantem niederländischen Akzent, in ziemlich hohen Tönen. Die Breite des kulturellen Angebots im „Dortmunder U“ sei in ganz Deutschland beispiellos, schwärmt er. Wobei er selbstverständlich auch weiß: „Wir sind hier nicht in Berlin. Auch nicht in München…“

Apropos breites Angebot: Tatsächlich gaben in der heutigen Programm-Pressekonferenz des „U“ nicht weniger als neun Verantwortliche fürs große Ganze und für die unterschiedlichen Sparten skizzenhaft Auskunft. Das auch etwas unübersichtliche Spektrum reicht vom Museum Ostwall (MO) über den Hartware MedienKunstVerein (HMKV) und Dependancen der Dortmunder Hochschulen (TU / FH) bis hin zur Abteilung für Kulturelle Bildung und zum eigenen Kino; nicht zu vergessen die trendige Gastronomie im „View“, diverse Veranstaltungsserien inbegriffen. Da blicke einer sofort durch.

In der Stadtgesellschaft verankern

Zu den Aufgaben von Edwin Jacobs wird es gewiss gehören, die Kräfte all dieser Gliederungen zu bündeln, ohne Vielfalt zu opfern. Ihm schwebt als Leitideal vor allem „Partizipation“ vor, das Publikum soll also „nicht nur gucken“, sondern – wo es irgend geht – auch zum Mitmachen ermuntert werden. Es gelte, rund ums „U“ eine Community zu schaffen und den gigantischen Kreativpalast, der immerhin schon ins (wohl nicht verflixte)  siebte Jahr geht, noch mehr in der Dortmunder Stadtgesellschaft zu verankern. Übrigens wird diese CommUnity in den Broschüren bereits gern mit großem „U“ in der Mitte geschrieben. Markenzeichen-Design muss halt sein.

Schon fast 10000 bei Niki de Saint Phalle

Von einer Pressekonferenz mit „Rückblick und Ausblick“ darf man erfahrungsgemäß nicht allzu viel Konkretes erwarten. So ist es Brauch: Das Bisherige erscheint füglich im vorteilhaften Licht, der Boden für Neues wäre also bereitet.

Ein golden eingefasster Buchstabe krönt das Dortmunder "U", die filmischen Installationen stammen von Adolf Winkelmann. (Foto von Dezeber 2016: Bernd Berke)

Ein golden eingefasster Buchstabe krönt das Dortmunder „U“, die „fliegenden“ filmischen Bilder stammen von Adolf Winkelmann. (Foto von Dezember 2016: Bernd Berke)

Besonders zufrieden zeigt sich der bisherige „U“-Geschäftsführer Kurt Eichler mit der MO-Ausstellung über Niki de Saint Phalle, die auch überregional große Aufmerksamkeit geweckt hat. In der Schau, die seit dem 10. Dezember 2016 läuft und noch bis zum 23. April dauert, wird man in wenigen Tagen den/die 10000. Besucher(in) begrüßen. Immerhin. Für (bisherige) Dortmunder Verhältnisse ist das schon achtbar.

Offenbar zahlt sich dabei auch schon die neue Eintrittspreis-Strategie aus: einmalig fünf Euro zahlen, danach beliebig oft in städtische Museen gehen. Schon nach fünf Wochen hört man von einer Verdoppelung der Besucherzahlen im Jahresvergleich, Genaueres wird noch ermittelt.

„Mindestens eine Top-Ausstellung pro Jahr“

Edwin Jacobs sieht sich derzeit sozusagen noch als DJ, der (allerdings schon etwas anders gemixte) Musik auflegt – und noch nicht als Songwriter oder Komponist. Er kann natürlich 2017 nicht gleich mit einer großen Kunstausstellung eigenen Zuschnitts aufwarten, derlei Unternehmungen brauchen längere Vorlaufzeit. Später möchte er allerdings „mindestens eine Top-Ausstellung pro Jahr“ zeigen.

Es ist nur folgerichtig, dass erst einmal die MO-Sammlung im Fokus steht. Ab 2. September sollen wesentliche Bestände in neuer Form präsentiert werden. Solche Befragungen der eigenen Kollektion dürfte es unter wechselnden Themenstellungen dann öfter geben. Von einer „Dynamisierung“ der Sammlung spricht Edwin Jacobs. Man wird sehen, was darunter zu verstehen ist.

„Warum sind wir hier?“

Die vielen Projekte, die fürs „U“ vorgesehen sind, können und wollen wir hier nicht stur aufzählen (siehe Info-Link zur Homepage des „U“ am Schluss), freilich fällt eines thematisch auf. Der Hartware MedienKunstVerein befasst sich ab April mit dem arg verschrienen „Brutalismus“ in der Architektur und schickt sich offenbar an, diese oft bereitwillig zum Abriss freigegebenen Brachial-Bauten vorsichtig aufzuwerten. Oha!

Womit wir – irgendwie und überhaupt – wieder in Dortmund angekommen wären. Man fragt sich ja schon, wieso Edwin Jacobs das urbane Grachten-Idyll von Utrecht just gegen das vielfach eher wildwüchsige Dortmund eingetauscht hat. Eben solche Sinnfragen will er künftig auch mit seinem Team erörtern: „Warum sind wir hier?“ Warum gerade Dortmund? Auf womöglich wegweisende Antworten darf man hoffnungsvoll gespannt sein.

Infos: www.dortmunder-u.de




Warum es im Dortmunder „U“ nie voll ist

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Stadtbildprägend: Das Dortmunder „U“ mit Adolf Winkelmanns fliegenden Bildern (Foto: rp)

Unter der Internet-Überschrift „Leere im Dortmunder U vor Ort, aber viele Besuche in der Statistik“ arbeitete sich Mitte November der Lokalteil der Dortmunder Zeitungen an dem erstaunlichen Umstand ab, daß die Statistik (in diesem Fall von 2015) einigermaßen tragbare Zahlen liefert, während im Gebäude selbst gähnende Leere herrscht.

Möglicherweise ist dies ein Paradebeispiel für das kreative Führen von Statistiken und als solches fraglos zu geißeln; auf jeden Fall jedoch der ernüchternde Beleg dafür, daß das Dortmunder „U“ für das Publikum ein nur mäßig attraktiver Ort ist. Und das hat Gründe.

Nicht viel zu sehen

1. Im „U“ gibt es nicht viel zu sehen. Der Eigenbestand des Ostwallmuseums (MO) ist von nur mittelmäßiger Schau-Qualität, das ändert sich auch nicht, wenn man – „Sammlung in Bewegung“ – die Präsentation verändert.

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Manchmal ist hier auch abgeschlossen: Der Eingang zum „U“ (Foto: rp)

MO & MuKuK

2. Zudem ist völlig unverständlich, warum die Kunstsammlungen von Ostwall und Museum für Kunst- und Kulturgeschichte (MuKuK) nicht dauerhaft zusammengeführt werden. In der von Gerhard Langemeyer kuratierten Ausstellung „Meisterwerke im Dortmunder U“, in der dies ausnahmsweise geschah, war der qualitative Sprung unübersehbar.

3. Das MO, sicherlich der wichtigste U-Bewohner, ist im Haus äußerst mühsam zu erreichen. Rolltreppe, Rolltreppe, Rolltreppe, oder ein Aufzug, auf den man endlos wartet und der überall hält. Wie wäre es mit einer Lift-Direktverbindung? Oder mit einer Verlagerung des Ostwall-Museums auf die unteren Etagen?

Bescheidene Parkplatzsituation

4. Die Parkplatzsituation ist bescheiden bis feindselig zu nennen. Es gibt keine Tiefgarage, der Parkflächen an der Rheinischen Straße stehen der Öffentlichkeit nicht zur Verfügung. Besucher kommen (kämen) aber gerne mit dem Auto, Politik und Verwaltung sollten nicht versuchen, sie mit Gewalt zur Fahrrad- oder U-Bahn-Nutzung umzuerziehen.

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Selbsterklärend (Foto: rp)

Das Essener Folkwang-Museum, mit dem man sich in einigen Punkten durchaus vergleichen sollte, hat natürlich eine Tiefgarage mit direktem Aufzug zum Foyer.

Künstlerbedarf

5. Die Hochschul-Etagen werden nach meinem Eindruck kaum adäquat bespielt, offensichtlich fehlt es an Geld und personeller Kapazität. Vergessen wir mal für einen kurzen Moment die komplizierte Förderungs- und Finanzierungssituation und fragen: Wie wäre es, zwei Etagen „privat“ zu vermieten, idealerweise an Galeristen oder Geschäfte für Künstlerbedarf, hilfsweise an Läden mit Möbeln oder Wohnaccessoires? Ketzerisch, schon klar, aber das Haus würde definitiv attraktiver. Nur wäre es wohl schwer, die passenden Mieter zu finden.

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Auch selbsterklärend (Foto: rp)

Sonderausstellungen fehlen

6. Sonderausstellungen ziehen Publikum. Aber in den letzten Jahren war da nicht viel Spannendes im „U“ zu sehen. Ein Grund ist fraglos die Unterfinanzierung. Gleichwohl lohnt wiederum ein Blick nach Essen, wo Folkwang-Direktor Tobia Bezzola regelmäßig auch bedeutende Privatsammler präsentiert (Olbricht, Looser usw.), was wenig kostet und dem Jahresprogramm guttut.

Das in Kürze. Daß es in dieser Situation weder Hauptsponsor noch Förderverein gibt, kann nicht verwundern. Ich bin sehr gespannt, ob der designierte Gebäude-Intendant und Ostwall-Museumsdirektor Edwin Jacobs das „U“ im nächsten Jahr auf Kurs bringen wird und wünsche ihm schon jetzt dafür eine glückliche Hand. Leicht wird es nicht werden.




Wo Nanopartikel herrschen: Welten ohne Menschen als Thema im Dortmunder U

Das Plakat zur Ausstellung „Die Welt Ohne Uns. Erzählungen über das Zeitalter der nicht-menschlichen Akteure“ © JAC-Gestaltung

Das Plakat zur Ausstellung „Die Welt Ohne Uns. Erzählungen über das Zeitalter der nicht-menschlichen Akteure“ © JAC-Gestaltung

Autos fahren selbst, Computer kaufen und verkaufen Aktien, Roboter untersuchen und operieren Menschen, Haushaltsgeräte reagieren intelligent auf Veränderungen. Was heute schon in greifbarer Zukunft liegt, könnte sich bald noch weiter entwickeln: Künstliche Intelligenz ist kein Märchen von übermorgen mehr. Eine Welt, bevölkert von nicht-menschlichen Lebensformen, nicht erst seit Stanislaw Lem ein utopischer (Alp-)Traum, ist immerhin denkbar.

Das beliebte „Was wäre, wenn“-Spiel findet derzeit beim Hartware MedienKunstVerein (HMKV) im Dortmunder U statt: „Die Welt Ohne Uns“ ist eine Ausstellung betitelt, die bis 5. März 2017 in Werken internationaler Künstler „Erzählungen über das Zeitalter der nicht menschlichen Akteure“ präsentiert. Sie entwickeln Visionen radikal anderer Welten, in denen sich nicht-menschliche Lebensformen unter Umständen als anpassungsfähiger erweisen als der Mensch selbst.

Die 18 Künstlerinnen und Künstler aus dem Iran, den USA, der Türkei, Frankreich, Kenia, Litauen, Dänemark, Norwegen, Belgien, Italien und Großbritannien thematisieren eine „Ökologie nach dem Menschen“. In diesem „Post-Anthropozän“ haben andere „Lebens“-Formen die Macht übernommen: Algorithmen, KIs, künstlich erzeugte Nanopartikel, gentechnisch veränderte Mikroorganismen und aus heutiger Sicht monströs erscheinende Pflanzen.

Der letzte Mensch? Videostill aus dem Film "Pumzi" (2009) von Wanuri Kahiu.

Der letzte Mensch? Videostill aus dem Film „Pumzi“ (2009) von Wanuri Kahiu.

Die ausgestellten Arbeiten sind zum größten Teil Videos oder Video-Installationen. So zeigt etwa der norwegische Filmemacher und Designer Timo Arnall in „Robot Readable World“ einen Kurzfilm, in dem Roboter unsere Welt und schließlich uns selbst bevölkern. Wanuri Kahiu, Filmregisseurin aus Kenia, lässt in ihrem Film „Pumzi“ eine Wissenschaftlerin in einer post-apokalyptischen Welt nach Lebensspuren suchen. Pinar Yoldas aus der Türkei thematisiert in „The Kitty AI, Artificial Intelligence for Governance“ die Frage nach der Regierbarkeit einer Welt, in der durch den Klimawandel neue Lebens- und Gesellschaftsformen entstehen.

Timo Arnalls "Internet Machine"  ist ein Triptychon über die verborgene  Infrastruktur des Internets. In langsamen Kamerafahrten  führt es durch eines der größten, am besten gesicherten Datencenter der Welt, das von Telefónica im spanischen Alcalá betrieben wird © Timo Arnall

Timo Arnalls „Internet Machine“ ist ein Triptychon über die verborgene Infrastruktur des Internets. In langsamen Kamerafahrten führt es durch eines der größten, am besten gesicherten Datencenter der Welt, das von Telefónica im spanischen Alcalá betrieben wird © Timo Arnall

Weitere Werke stammen von Morehshin Allahyari & Daniel Rourke, LaTurbo Avedon, Will Benedict, David Claerbout, Laurent Grasso, Sidsel Meineche Hansen, Ignas Krunglevicius, Mark Leckey, Eva & Franco Mattes, Yuri Pattison, Julien Prévieux und Suzanne Treister. Kuratiert wird die Schau von Inke Arns.

Die Ausstellung „Die Welt Ohne Uns. Erzählungen über das Zeitalter der nicht-menschlichen Akteure“ ist bis 5. März 2017 im HartwareMedienKunstVerein (HMKV) im Dortmunder U, Ebene 3, zu sehen. Nach der Präsentation im Dortmunder U wird sie vom Aksioma – Center for Contemporary Art in Ljubljana, Slowenien, übernommen, im Juni/Juli 2017 in der Vžigalica Galerie (City Museum) in Ljubljana, Slowenien, und im September 2017 im MMSU/Mali Salon in Rijeka, Kroatien, gezeigt.

Geöffnet ist das „U“ in Dortmund Dienstag, Mittwoch und an Wochenenden und Feiertagen von 11 bis 18 Uhr, am Donnerstag und Freitag von 11 bis 20 Uhr. Der Eintritt kostet 5, ermäßigt 2,50 Euro. Begleitveranstaltungen wie Führungen und Familiensonntage mit freiem Eintritt sowie ein Filmprogramm, beginnend am 10. und 11. November mit dem Science Fiction Film „The Whispering Star“ von Sion Sono, ergänzen die Ausstellung.

Info: www.hmkv.de, www.dortmunder-u.de




Holländer wird Chef im Dortmunder U

Das ist ein veritabler Coup: Pünktlich vor den großen Ferien kann Dortmund Vollzug verkünden. Ein neuer Chef fürs Dortmunder U (und somit auch fürs Museum Ostwall im U) ist endlich gefunden. Er heißt Edwin Jacobs, kommt aus den Niederlanden und ist derzeit Generaldirektor des Centraal Museum in Utrecht.

Als Chef im "U" zugleich auch Direktor des Museums Ostwall: Edwin Jacobs. (Foto: privat)

Als Chef im „U“ zugleich Direktor des Museums Ostwall: Edwin Jacobs. (Foto: privat)

Laut Mitteilung der Stadt Dortmund gilt der 56jährige als Museumreformer, der sich mit experimentellen Ausstellungskonzepten zu profilieren wusste und zudem besonderen Wert auf interkulturelle Prozesse und breitenwirksame Vermittlungsformen legt. Man wird abwarten müssen, wie solche Formeln in die Realität des Reviers umgesetzt werden. Jedenfalls ist Mijnheer Jacobs dabei Fortüne zu wünschen.

Die (wohl zu erwartende) Zustimmung des Stadtrates vorausgesetzt, soll Edwin Jacobs sein neues Amt in Dortmund Anfang 2017 antreten.

Schaut man in Jacobs’ Vita, findet sich als jüngstes Projekt (angekündigt für 2018) eine Auseinandersetzung mit Caravaggio und den (Utrechter) Caravaggisten, die just in Utrecht und in der Alten Pinakothek zu München gezeigt werden soll. Das klingt schon nach gehörigen „Hausnummern“. Vielleicht gelingt ja sogar noch ein Abstecher nach Dortmund…

In früheren Kunstschauen hatte sich Jacobs u. a. mit der Gruppe De Stijl und mit Theo van Doesburg im Zusammenhang der internationalen Avantgarde befasst.

Von Jacobs kuratierte Ausstellungen wurden u. a. vom Marta in Herford, vom ZKM in Karlsruhe und vom Haus der Kulturen der Welt (Berlin) übernommen. Der Mann, der auch schon als niederländischer Ko-Kurator bei der Biennale in Venedig fungiert hat, ist also in Deutschland kein Unbekannter. Mit ihm dürfte Dortmund höchst wünschenswerten Anschluss an internationale Vernetzungen in der Kunst- und Museumsszene finden.

Bevor er das Centraal Museum in Utrecht (zu dem auch ein Kindermuseum gehört) übernommen hat, hatte Jacobs schon das städtische Museum De Lakenhal in Leiden, das Museum Jan Cunen in Oss und das Kunstinstitut in Utrecht geleitet. Zu seinen Ausbildungsstationen zählten (bis 1982) eine Pädagogische Hochschule und (bis 1987) die Fakultät der Bildenden Künste (Universität Tilburg), die er jeweils mit Magisterabschluss verließ.

Mit der Suche nach einem Chef fürs „U“ hatte man sich in Dortmund lange Zeit recht schwer getan. Die Findungskommission zeigte sich so anspruchsvoll, wie der Posten es ja auch verlangt. Jacobs wird als Hausherr nicht nur fürs Museum Ostwall einstehen, sondern z. B. auch für die Uni-Etage und den renommierten Hartware Medienkunstverein.

Halb scherzhaft betrachtet, setzt sich mit der Dortmunder Personalentscheidung die „Hollandisierung“ beträchtlicher Teile des Kulturlebens im Ruhrgebiet zügig fort. Jacobs’ Landsmann Johan Simons leitet bekanntlich noch bis 2017 die RuhrTriennale und wird danach das Bochumer Schauspielhaus übernehmen.




„Schöne Scheiße“ im Dortmunder Museum: Die stets unfertige Welt des Dieter Roth

Es ist kein unflätiger Fluch und auch keine Lüge, wenn man sagt, man habe jetzt im Museum Ostwall (MO) im Dortmunder U „Schöne Scheiße“ zu sehen bekommen. Denn genau so haben die Macherinnen die Ausstellung mit Werken des Schweizers Dieter Roth (1930-1998) genannt.

Dieter Roth: Tagebuchseiten, 1967 (© Dieter Roth Estate, Courtesy hauser & Wirth, Foto: Jürgen Spiler)

Dieter Roth: Tagebuchseiten, 1967 (© Dieter Roth Estate, Courtesy hauser & Wirth, Foto: Jürgen Spiler)

Das Kraftwort mag zunächst haltlos provokant klingen, lässt sich aber immerhin auf Roths Schaffen beziehen. Der manisch-depressive Künstler, der stets zwischen Größenwahn und Selbstverdammung geschwankt haben soll, hat seine eigenen Arbeiten häufig als „Scheiße“ geschmäht und den rüden Ausdruck in zahlreichen Titeln variantenreich verwendet. Und wenn er beispielsweise einen Hasen aus „Hasenkötteln“ geformt hat, wurde Scheiße gar zum Material der Kunst.

Mit der festumrissenen Identität ist das mindestens seit etlichen Jahrzehnten so eine problematische Sache. Damit sind auch die künstlerische Autorschaft und das ganze Genie-Gehabe ins Schwimmen und Schlingern geraten. Dieter Roth hat diese unaufhörliche Unsicherheit auf so manchen Feldern durchgespielt. Er gab die alleinige Urheberschaft nicht nur in Gemeinschaftsarbeiten auf, sondern relativierte sie immerzu.

Meisterschaft im Scheitern

Das „Durchspielen“ darf man sich freilich keinesfalls als leichtfertige Handlung denken. Im Gegenteil. Es sind immer neue Anläufe, nicht selten auch (selbst)quälerische. Vielfach scheint allerdings ein fröhlicher Dilettantismus am Werk zu sein, der seiner selbst bewusst ist und – paradox genug – mit eigensinniger Beharrlichkeit hie und da an eigentlich nicht menschenmögliche Perfektion heranreicht. Aber dann ist es doch wieder nur eine Meisterschaft im Scheitern. Schöne Scheiße eben.

Dieter Roth: "Selbstbild als Hundehauf in Stuttgart am 27.10.73", 1973 (© Dieter Roth Estate, Courtesy Hauser & Wirth, Foto: Jürgen Spiler)

Dieter Roth: „Selbstbild als Hundehauf in Stuttgart am 27.10.73“, 1973 (© Dieter Roth Estate, Courtesy Hauser & Wirth, Foto: Jürgen Spiler)

Fluxus war, ungefähr seit den frühen 1960er Jahren, eine frei flottierende Kunstform, die gleichsam alle Richtung(en) mitsamt gefügten Formen hinter sich ließ und ihre Gegenstände oft genug in schiere Spontanität auflöste. Herkömmliche Vorstellungen von Schönheit wurden dabei wie von selbst obsolet.

Über 200 Dauerleihgaben

Das Dortmunder Museum Ostwall besitzt schon länger eine beachtliche Fluxus-Sammlung, zahlreiche Arbeiten von Roth inbegriffen. So kam es, dass der Dinslakener Horst Spankus seine reichhaltige Kollektion von Arbeiten des Dieter Roth, welcher just der Fluxus-Bewegung zugerechnet wird, schon anno 2003 der damaligen MO-Vizedirektorin Rosemarie Pahlke schmackhaft gemacht hat. Spankus erinnert sich: Schon wenige Tage später habe ihn Pahlke – gemeinsam mit dem Dortmunder Kulturdezernenten Jörg Stüdemann – besucht, um die Bestände näher in Augenschein zu nehmen. Dann aber geriet das Projekt für längere Zeit ins Stocken, weil Dortmund seinerzeit keine ausreichende Klimaanlage bieten konnte.

Dieter Roth: "Schimmelblatt", 1969 (@ Dieter Roth Estate, Courtesy Hauser & Wirth, Foto: Jürgen Spiler)

Dieter Roth: „Schimmelblatt“, 1969 (@ Dieter Roth Estate, Courtesy Hauser & Wirth, Foto: Jürgen Spiler)

Jetzt aber ist es endlich so weit: Über 200 Arbeiten Dieter Roths aus der Sammlung Spankus gehen als Dauerleihgabe ans Museum Ostwall. Das ist natürlich eine Extra-Ausstellung wert. Nicole Grothe und Daniela Ihrig haben die Schau kuratiert. Ohne ihre kundigen Erläuterungen würde man vor manchem Exponat zunächst wie der Ochs vorm Berge stehen. Besucher sollten den Parcours nicht im Schnelldurchgang absolvieren und sich am besten eine Führung gönnen.

Von Kameras beobachtet

Empfangen wird man auf der 6. Ebene des Dortmunder „U“ von einer monumentalen Wand mit 131 Monitoren. Dieter Roth hatte sich an verschiedenen Orten ohne Unterlass von Kameras beobachten lassen – bei der künstlerischen Arbeit, doch auch bei alltäglichen Verrichtungen teils privatester Natur. Hat er da etwa die permanente Selbstausstellung der Generation Facebook vorweggenommen? Mag sein. Aber seine Herangehensweise ist ungleich reflektierter.

Durchweg zerfließen die Grenzen zwischen Kunst und Leben. Im selben Raum finden sich zeichnerische Tagebuch-Skizzen, die das Biographische als nicht-linear, widersprüchlich und chaotisch erscheinen lassen. Restlos entziffern lässt sich das alles selbstverständlich nicht. Die Zurschaustellung erweist sich zugleich als Arbeit im Verborgenen.

Bildmagie mit Wurstscheibe - Dieter Roth: "Kleiner Sonnenuntergang", 1972 (© Dieter Roth Estate, Courtesy Hauser & Wirth, Foto: Jürgen Spiler)

Bildmagie mit Wurstscheibe – Dieter Roth: „Kleiner Sonnenuntergang“, 1972 (© Dieter Roth Estate, Courtesy Hauser & Wirth, Foto: Jürgen Spiler)

Es folgt ein Raum mit Selbstbildnissen. Eigentlich ein klassisches Thema der Malerei, doch bei Roth gerät es zum rätselhaften Vexierspiel. Oft zeigt er sich lediglich von hinten, so dass praktisch nur Ohren und Hut als Charakteristika sichtbar bleiben, sodann stellt er sich etwa als Wolke, Schokoladenlöwe oder Hundehaufen dar und „übersetzt“ sein Selbstgefühl auch schon mal in wilde Kreiselbewegungen. Eine Schlussfolgerung drängt sich auf: Da kreist einer buchstäblich um sich selbst, offenbar immer auf rastloser Suche nach seinem Platz im Dasein. In einer hintersinnigen Arbeit mit Postkarten von deutschen Städten jongliert Roth just mit dem Befund der Ortlosigkeit, indem er Sehenswürdigkeiten gezielt vertauscht.

Soll man es verfaulen lassen?

Konservatoren müssten eigentlich ihre liebe Not mit einigen Schöpfungen von Dieter Roth haben. Wie soll man denn zum Exempel mit allmählich verwitternden Bildern umgehen, auf die er einst Milch gegossen hat? Soll man der Auflösung freien Lauf lassen oder die Stücke erhalten? Der Wille des Künstlers lief wohl langfristig auf Vergänglichkeit und völlige Auflösung hinaus, Fäulnisbakterien und Käfer hat er als willkommene „Mitarbeiter“ begrüßt. Man lernt hier jedenfalls, dass sich mit einem Stück Wurst ein frappantes Sonnenbild zaubern lässt; unbändige Vorstellungskraft und handwerkliches Können gleichermaßen vorausgesetzt.

Doch Sammler und Museen verfolgen andere Interessen. Also sorgt man in Dortmund gewissenhaft dafür, dass die aus Lebensmitteln oder Abfällen bestehenden Exponate nicht weiter faulen und schimmeln. Der Verfallsprozess, der auch an althergebrachte Vanitas-Motive erinnert, soll behutsam angehalten werden. Mitunter muss man auch die zugehörigen Gerüche (z. B. von uraltem Schmelzkäse) versiegeln, sonst wäre es für die Betrachter nicht zum Aushalten.

Dieter Roth: München (aus der Serie "Deutsche Städte"), 1970 (© Dieter Roth Estate, Courtesy Hauser & Wirth, Foto: Jürgen Spiler)

Dieter Roth: München (aus der Serie „Deutsche Städte“), 1970 (© Dieter Roth Estate, Courtesy Hauser & Wirth, Foto: Jürgen Spiler)

Dieter Roth war nicht „nur“ bildender Künstler, er hat sich u. a. auch als Literat und Musiker betätigt. Ist es Versponnenheit oder unnachgiebig bohrendes Fragen, wenn er in zahlreichen Ansätzen zu erfassen sucht, was überhaupt ein Buch sei? Jedenfalls nichts Festgelegtes, wie denn überhaupt dieser Künstler wahrscheinlich niemals bei einer schnöden Festlegung zu ertappen ist. Typisch auch seine zeitweilige verlegerische Arbeit mit einer uferlosen „Zeitschrift für alles“, die wahllos jeden eingesandten Beitrag abdruckte – bis das Journal dermaßen anschwoll, dass es zu teuer wurde.

Katalog mit losen Blättern

Auch Musik war ihm nichts Abgeschlossenes. So gibt es eine Aufnahme von Roth zu hören, in der Gespräche und Geräusche zwischenzeitlichen Alkoholkonsums quasi gleichberechtigt neben den gesetzten Tönen auftauchen. Der Künstler hat auch hier alles offen gehalten. Das kommt einem lebensnäher vor als alles makellos Polierte.

Sogar der Katalog dieser Ausstellung wirkt auf passende Weise „unfertig“ und vorläufig, es ist ein Ordner mit Loseblattsammlung, die man nach Belieben umheften kann. Vorbilder für das allenfalls eingeschränkt regalfreundliche Produkt fanden sich in Roths Buchprojekten.

Also bitte: Wer es aushält oder sogar vorzieht, dass nichts, aber auch gar nichts feststeht, sollte sich diese Ausstellung sowieso anschauen. Alle anderen dürfen sich aber auch verunsichern lassen. Wer weiß, wofür es gut ist.

Dieter Roth: „Schöne Scheiße. Dilettantische Meisterwerke“. Museum Ostwall (MO) im Dortmunder „U“, 6. Etage. 21. Mai bis 28. August. Di/Mi 11-18, Do/Fr 11-20, Sa/So 11-18 Uhr, montags geschlossen. Eintritt 5 Euro, ermäßigt 2,50 Euro. Katalog-Ordner mit Werkverzeichnis 28 Euro. Führungen sonntags 15-16.30 Uhr (nicht am 22. Mai/28. August). Umfangreiches Begleitprogramm. Info-Telefon: 0231/50-247 23. Internet: www.museumostwall.dortmund.de




Kunst und Bier in inniglicher Verbindung – Ausstellung „Dortmunder Neugold“ im U

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Zwei Tonnen Kohle: „Die Trinkenden“ von Alicia Kwade (Foto: Dortmunder U/Olbricht Collection/Roman März)

Der Titel ist eigentlich nicht schlecht. Bier als das neue Gold der Stadt paßt ja rein farblich schon viel besser als Kohle, die man deshalb etwas verschämt auch immer als schwarzes Gold bezeichnete. Wenngleich: Neu ist das Bierthema für Dortmund eher nicht, und dem Bier ging es in der Stadt schon mal deutlich besser. Bedenklich schwankt das Pilsglas auf absteigendem Ast, und die Versuche der Dortmunder Brauereien, wieder mit Export zu punkten, waren in jüngerer Vergangenheit nur von mäßigem Erfolg gekrönt. Doch jetzt gibt es wieder einen Versuch, und die Hoffnung stirbt zuletzt. Nein, der Verfasser dieser (sag es nicht!) goldenen Zeilen hat noch nicht diverse Pilse intus, aber das Thema Bier setzt einfach in hoher Dosis Assoziationen frei. Nun aber: Disziplin!

500 Jahre Reinheitsgebot

Im Dortmunder U gibt es auf der 6. Etage eine hübsche neue Ausstellung zu bestaunen, die „Dortmunder Neugold – Kunst, Bier und Alchemie“ heißt und ihr Entstehen dem deutschen Reinheitsgebot (für Bier) verdankt, das im kommenden Jahr seinen 500. Geburtstag feiert.

Die Ausstellung ist eine Kooperation mit dem Brauerei-Museum und mit der einzigen in der Stadt noch ansässigen Großbrauerei Brinkhoff, die (endlich!) zum Jubiläum ein Union-Bier auf den Markt wirft, mit großem U auf dem Etikett der behäbigen Literflaschen. Auch ist das neue Jubiläumsbier kein Pils, sondern traditionsreiches Exportbier mit viel sättigender Stammwürze und mäßiger Hopfung, und last not least gibt es für jeden Besucher der Ausstellung bei Nachweis der Volljährigkeit ein Schlückchen davon, ist im Eintrittspreis mit drin. Die Marketing-Leute der Brauerei wollen als Reklame für dieses süffige Bierkulturprojekt 20 bis 30 Millionen Bierdeckel mit Werbebotschaften für Bier und Kultur drucken lassen, und alles in allem klingt das doch recht gut. Hier wächst, nicht nur aus der Perspektive des Marketing, endlich zusammen, was zusammengehört. Prost!

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„In der Alchemie wurde der Prozeß der Fermentation und das daraus resultierende Ergebnis unter anderem mit der Geburt des Phoenix illustriert. Die Künstlerin Dörte Kraft verwendet diese Symbole für ihre eigene Interpretation des Prozesses.“ Ohne Titel, 2012, Mischtechnik auf Leinwand, 220 x 200 cm. (Foto: Dortmunder U)

Ernsthaft, nicht bierernst

Vor diesem Hintergrund nun möglicherweise aufkeimende Befürchtungen, auch die Ausstellung selbst sei nur eine Marketingaktion an historischer Stätte und deshalb belanglos, sind unbegründet. Stefan Riekeles, Jahrgang 1976 und Kurator von „Dortmunder Neugold“, hat hier mit gutem Gespür für die Raumwirkung von Bildern und Objekten und mit dankenswertem Mut zur Reduktion eine ernsthafte, nicht aber immer bierernste Kunstschau aufgebaut. Er macht den Aspekt der Wandlung zum zentralen Begriff seiner Konzeption. Für ihn ist die Geschichte von Bier und Stadt und Industrie ein fortlaufender Prozeß des Werdens und Vergehens, der im Baukörper des ehemaligen Kühlhauses mit dem markanten U auf dem Dach ebenso seine Entsprechung erfährt wie im Strukturwandel des Ruhrgebiets. Auch die Entstehung von Bier aus Wasser, Malz und Hopfen könne als Wandlung begriffen werden, einige Kunstwerke greifen diesen Gedanken auf.

Kreislauf des Bieres

So stoßen Besucher gleich im ersten Raum, ganz nahe bei den offenbar unvermeidlichen Säcken mit Hopfen und Braugerste, auf eine konzeptionelle Arbeit von Ayumi Matsuzaka. In „Future Beer Cycle“ thematisiert sie den agrarischen Kreislaufprozeß der Bierproduktion. Aus Urinalen in Dortmund und Berlin sammelte sie Urin, um damit Ackerboden zu düngen und mit Stickstoff anzureichern. Auf dem Boden wuchs Braugerste, die die Künstlerin zu Bier verarbeitete, welches schließlich – der Kreis schließt sich – an die selbstlosen Urinspender ausgeschenkt wurde. Nun ja.

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Alkoholischer Absturz – Foto von Eva Teppe aus der Serie „Shinjuku Twilight“ von 2008 (Foto: Dortmunder U)

Eine Begegnung mit der „Alchemie“, die der Untertitel der Ausstellung verheißt und die man kurz und knapp vielleicht als ein furchtloses Experimentieren in vornaturwissenschaftlicher Zeit bezeichnen kann, gibt es ebenfalls im ersten Raum der Ausstellung. Hier hocken trinkende Frauen, aus weißem Porzellan gebrannt, am Fuß eines tonnenschweren Kohlehaufens und „trinken“ gleichsam von ihm. Kohle ist nicht Bier, gewiß, doch Kohle, sagt uns diese Arbeit von Alicja Kwade von 2011, nährt die Menschen, befriedigt trotz der nicht zu leugnenden Klimaschädlichkeit elementare Bedürfnisse.

Das Material Porzellan, aus dem die Trinkenden (nach einem Entwurf von Ernst Wenck aus dem Jahr 1924) geschaffen wurden, ist so ziemlich das Einzige, was die Alchemie im europäischen Raum an Sinnvollem hervorbrachte. Eigentlich, hallo Hintersinn, wollte man im alchemistischen Labor ja Gold erzeugen. So kommt hier in Raum 1 alles zusammen: Das schwarze Gold des Ruhrgebiets, das flüssige Gold aus Gerste und Malz und schließlich auch noch das richtige Gold, das indes, oh Sprachverwirrung, aus dem Dortmunder Rats-Silber herbeigeschafft wurde.

Prunkleuchter aus Kaisers Zeiten

Zwei goldene Leuchter stehen in den Vitrinen, sehen nach Mittelalter aus, stammen aber aus dem Jahr 1899, als Kaiser Wilhelm II Dortmund besuchte. Die Brauer hatten für dieses Geschenk zusammengeschmissen, und schaut man genauer hin, so sieht man, daß sie sich mit dezenten Prägungen im gelbstrahlenden Metall verewigt haben. Symbolisierte Handwerke rund um die Braukunst, die Stadttore, der heilige Reinoldus und andere Dortmundereien zieren die Stücke, die nach heutigen Geld je um die 150000 Euro kosten würden. Man kann sie kitschig finden oder auch schön und vielleicht einen Gedanken daran verwenden, daß es zur Zeit der Entstehung dieser Kerzenständer auch schon die Impressionisten und Osthaus und fortschrittliches Industriedesign gab. Auf jeden Fall werden sie eindrucksvoll präsentiert, scheinen leicht zu schweben, weil sie auf Glasböden in ihren Vitrinen stehen.

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Michael Sailstorfers „Hang Over“ (2004) ist so etwas wie ein Kronleuchter aus Bierflaschen, Eisen, Neonröhren und Elektronik. (Foto: Dortmunder U/Courtesy Michael Sailstorfer und König Galerie, Gert Elsner)

Prozessuale Elemente, um noch einmal daran anzuknüpfen, sind dem Bier- bzw. Alkoholgenuß ja in besonderer Weise eigen. Trinken erzeugt Rausch und Hochgefühl, späterhin Absturz und Kater, wenn man nicht aufpaßt. Iva Vacheva hat die Freuden der alkoholischen Enthemmung 2009 in Acryl auf bunte Großformate gemalt, die „Auf die Freundschaft“, „Gloria, Gloria!“ und „Kultus“ heißen. Daneben hängt in strengem Schwarzweiß eine Fotoserie von Eva Teppe, die im Tokioter Vergnügungsviertel Shinjuku enstand und im Morgengrauen die Alkoholopfer der Nacht zeigt, wie sie auf Treppenstufen und in Hauseingängen schlafen. Deprimierend und sicherlich nicht nur ein japanisches Phänomen.

Überzeugendes Raumkonzept

Die Veränderung des Raumkonzepts in der 6. Etage des Dortmunder U, die schon der Bestandsausstellung der Dortmunder Museen „Meisterwerke – Caspar David Friedrich bis Max Beckmann“ zugute kam, macht sich auch bei dieser Ausstellung bezahlt: Die Anordnung der Kojen auf der Etage mit zahlreichen Durchgängen und Blickachsen gibt dem Publikum das gute Gefühl, sich gänzlich frei bewegen zu können. Stefan Riekeles nutzt diese Möglichkeiten der Räumlichkeit und ordnet fein die Kunst zusammen, die (mehr oder weniger) zusammengehört, gibt mit gemessener Ironie (wie man wohl vermuten kann) aber auch dem spießigen, vom Gelsenkirchener Barock geprägten „Reich des deutschen Bieres“ Raum und präsentiert die unvermeidlichen Humpen, Gläser und Plakate (einige sogar aus Japan).

DUB-Jubiläumsbier

Endlich am Markt, wenn auch nur für begrenzte Zeit: das U-Bier für die U-Ausstellung. (Foto: Dortmunder U)

Superfritz beim Frauenarzt

Großen Reiz bezieht das „Dortmunder Neugold“ aus einigen burlesken Kunstwerken, die das alkoholischen Thema möglicherweise in besonderer Zahl hervorbringt. Zwar sind Zecherrunden und trinkende Mönche in der Präsentation dankenswert sparsam plaziert, doch trifft man in Koje Nummer 6 – hinter einem Vorhang, der wohl eine gynäkologischen Praxis symbolisieren soll – auf den roh aus Holz zusammengezimmerten „Superfritz“, den der holländische Künstler Dick Verdult geschaffen hat; überlebensgroß liegt er dort auf der Liege, und wenn von Besuchern ein Kontakt ausgelöst wird, erklingt Superfritzens fröhliches Credo, daß er nicht schwanger sei, sondern Bier seinen Leib geformt habe. Anmerken wollen wir noch, daß Dick Verdult an vielen Stellen aktiv ist, unter anderem im Institut für bezahlbaren Wahnsinn (IBW) und im Centro Periferico Internacional, ein bunter Vogel offenbar.

Ein anderer Künstler, der den burlesken, nicht aber hintersinnfreien Auftritt liebt, ist Herbert Achternbusch. Von ihm läuft das Video „Bierkampf“, in welchem er, in eine Polizistenuniform gekleidet, durch ein Bierzelt des Oktoberfestes stolziert und mehr oder minder trunkene Gäste maßregelt. Man ist erstaunt und ein bißchen erschrocken, was mit Uniform und herrischem Auftreten möglich ist.

Ein politischer Herbert Achternbusch

Diese Achterbusch-Arbeit aus dem Jahr 2003 zeigt allerdings auch, was vielen anderen Exponaten der Biergoldschau weitgehend fehlt: das Politische, das Entlarvende, das über einige skeptische ökologische Befunde Hinausgehende. Vielleicht ist das beim Thema Bier aber auch ein bißchen viel verlangt, sozusagen nicht das Bier des Dortmunder Neugolds.

Auf jeden Fall gibt es einiges an passabler, kluger, vorwiegend junger Kunst zu sehen, nicht alles konnte in dieser Besprechung Erwähnung finden. Außerdem haben Besucherinnen und Besucher aus der 6. Etage des Dortmunder U einen sehr schönen Blick auf die Stadt. Von hier oben sieht Dortmund ganz schnuckelig aus, richtig ordentlich und aufgeräumt und sauber.

Nachsatz

Kleine Überlegung noch am Rande: Der Kohlehaufen mit den Trinkenden von Alicja Kwade ist eine Leihgabe aus der Sammlung Olbricht, die vor einigen Jahren im „alten“ Essener Folkwang-Museum präsentiert wurde, bevor dort die Bauarbeiten begannen. Der Privatsammler besitzt viele spannende Spitzenarbeiten der Gegenwartskunst, die man selten in deutschen Museen sieht, weil die so etwas wg. Geldmangel kaum in ihren Beständen haben. Sollte man auf diesem Feld nicht nach Kooperationsmöglichkeiten suchen? Sammlung Olbricht (oder ein anderer Privatsammler von Rang) im Dortmunder U, das wäre eine Attraktion weit über die Stadtgrenzen hinaus. Nur mal so als Idee.

  • „Dortmunder Neugold – Kunst, Bier, Alchemie“, Ausstellung im Dortmunder U, Leonie-Reygers-Terrasse, 44137 Dortmund,
  • Bis 1. Mai 2016.
  • Geöffnet Di+Mi 11-18 Uhr, Do+Fr 11-20 Uhr, Sa+So 11-18 Uhr. Heiligabend, 1. Weihnachtsfeiertag, Silvester und Neujahr geschlossen. Eintritt 6 €
  • www.dortmunder-neugold.de



Dortmunds Meisterwerke bitte länger zeigen!

„Schade, dass Anfang August schon wieder alles vorbei sein soll.“ Das meinte Rolf Pfeiffer Mitte Mai hier in den Revierpassagen, nachdem er die Ausstellung „Meisterwerke im Dortmunder U“ gesehen und beschrieben hatte. Der 9. August wird als letzter Besichtigungstag auf den Plakaten und Handzetteln genannt, und dieser schnelle Schluss wäre wirklich sehr, sehr schade.

Der Komplex "Dortmunder U" (Foto: Pöpsel)

Der Komplex „Dortmunder U“ (Foto: Pöpsel)

Man kann allen kunstliebenden Menschen nur empfehlen, dem Rat von Rolf zu folgen und sich an einem der noch verbleibenden Tage anzusehen, was in den Archiven der Dortmunder Museen an Schätzen schlief, die nun nur noch zwei Wochen zu sehen sein werden – wenn sich die Ausstellungsmacher nicht doch noch entschließen, den Bildern und Skulpturen von Beckmann, Macke, Liebermann und vielen anderen einen Nachschlag zu gewähren.

Noch interessanter wäre allerdings die Idee, den Gedanken einer ständigen „Dortmunder Gemäldegalerie“ wieder aufzugreifen, der im vorigen Jahrhundert zum Grundstein dieser ungewöhnlich reichhaltigen Sammlung führte. Die für die jetzige Ausstellung umgebaute 6. Etage im „U“-Turm zeigt sehr schön, wie ein solches Projekt einmal aussehen könnte.




Ausstellung „Digitale Folklore“: Damals, als das Internet noch eine freie Spielwiese war

Es gibt Gelegenheiten, bei denen man sich ziemlich alt vorkommt, noch besser gesagt: ziemlich weit ab vom (allerdings auch schon längst verflossenen) Hauptstrom des Geschehens.

Mir war jetzt ein solches Gefühl beim Rundgang durch die Dortmunder Ausstellung „Digitale Folklore“ beschieden. Ohne kundige Führung hätte ich wenig von den technischen Details verstanden. Somit war’s auch gleichsam fremdes kulturelles Gelände.

Dabei ging es gar nicht mal um stürmische Avantgarde, sondern um eine neuere Form der Nostalgie, nämlich um wehmütige Rückblicke auf die Zeiten, als es im Internet gemeinhin noch recht wildwüchsig vonstatten ging; als Hunderttausende, zumeist fröhlich dilettierend, vor allem im angloamerikanischen Sprachraum die Möglichkeiten des noch so jungen Mediums erprobten und vielfach erstaunliche Kreativität freisetzten – auch beim freimütig frechen Abkupfern einzelner Elemente aus anderen Webseiten.

"Willkommen" (Bild: One Terabyte of Kilobyte Age Archive, Ausstellung "Digitale Folklore" - © Geocities Research Institute)

„Willkommen“ (Bild: One Terabyte of Kilobyte Age Archive, Ausstellung „Digitale Folklore“ – © Geocities Research Institute)

Wir sprechen von den 1990er Jahren, als geringste Mittel und Speicherplätze für den Online-Auftritt ausreichen mussten. Gerade diese Beschränkungen stachelten offenbar den Erfindergeist an.

Zoomen wir uns noch etwas genauer heran: Die Netzkünstler und Kuratoren Olia Lialina und Dragan Espenschied richten für den HMKV (Hartware MedienKunstVerein) im „Dortmunder U“ eine Schau über jene Relikte aus, die sie vom einstigen Online-Dienst Geocities gerade noch rechtzeitig durch eilige Kopien haben retten können.

Es sind immerhin 28 Millionen Dateien, die sich nunmehr im „One Terabyte of Kilobyte Age Archive“ befinden und allmählich mühsam gesichtet und erschlossen werden. Manche Zeichen und Abläufe kann man mit heutigen Browsern gar nicht mehr darstellen. Also gilt es zu rekonstruieren und zu restaurieren, wie nur je bei herkömmlichen Kunstwerken.

Es ist ein Forschungsprojekt sondergleichen, bei dem Selbstdarstellungen jeder Couleur, zahllose Fan- und Haustierseiten sowie alle denkbaren Formen der Populär- und Alltagskultur in Betracht kommen. Übrigens: Auch niedliche Katzenbildchen zählten in den frühen Jahren schon zum festen Bestand des Mediums. Auch hierbei ist Facebook nur die Nachhut.

Nach den markanten Kostproben in der Ausstellung kann man es sich lebhaft vorstellen: Da sind wohl diverse Sumpfgelände dilettantischer Hervorbringungen zu durchwaten, aber auch manche Schätze zu heben. Mit der Zeit dürfte sich zudem eine Typologie für die Frühzeit des Internets herauskristallisieren, die bei künftigen Forschungen als Leitseil dienen könnte.

Universale Schöpfung (Bild: One Terabyte of KIlobyte Age Archive, Ausstellung "Digitale Folklore - © Geocities Research Institute)

Universale Schöpfung (Bild: One Terabyte of Kilobyte Age Archive, Ausstellung „Digitale Folklore – © Geocities Research Institute)

1994 war die nach Art einer Stadt in Zonen und Viertel gegliederte Geocities-Plattform begründet worden. War man beispielsweise Verschwörungstheoretiker, so siedelte man seine Seite in „Area 51“ an, Fantasy-Freunde gingen hingegen in den Zauberwald.

Doch ach! Die große Freiheit währte nicht allzu lange. 1999 wurde Geocities zum Schrecken vieler Online-Aktivisten an den Konzern Yahoo verkauft, der die virtuelle Globalstadt vernachlässigte und sie 2009 endgültig in den Orkus der Web-Historie stieß, vulgo: löschte. Man darf getrost von einem barbarischen Akt sprechen, bei dem Millionen handgemachter Webseiten verschwunden sind. Von wegen, das Netz vergisst nicht…

Das digitale Archiv, auf dem die flimmernde Ausstellung ausschnitthaft basiert, enthält Überbleibsel von genau 381.934 Geocities-Homepages. In jenen Gründungsjahren nach 1994 war alles noch Experiment. Es gab keine vorgefertigten Tools zum Erstellen von Webauftritten. Die Nutzer bastelten freihändig an neuen Möglichkeiten. Und während heute soziale Netzwerke das Tun und Lassen ihrer User in vorgezeichnete Bahnen lenken, herrschte damals vergleichsweise technische und ästhetische Anarchie.

Besonders die Frames (Rahmensystem, mit dem sich mehrere Dokumente auf eine Seite stellen ließen) und noch mehr die animierten GIFs (Bildformat, dem mehr oder minder trickreich sekundenkurze Bewegung eingehaucht wurde) erwiesen sich als ideale Ausdrucksformen der Pioniertage. Die Ausstellung zeigt frappierende Beispiele dieser Endlosschleifchen, die sich summarisch kaum hinreichend beschreiben lassen. Eines der berühmtesten GIFs war der Peeman (Pinkelmann), der stracks über den Bildschirm lief und hernach auf alles urinierte, was der Netzgemeinde suspekt oder verhasst war – ob nun auf Hitler, die als öde geltende Automarke Ford, Britney Spears oder Geocities selbst…

Es muss eine schier unendlich erscheinende Spielwiese der Improvisationen gewesen sein, die sich da den Amateuren auftat. Allein die immense Vielfalt der „Baustellenschilder“ („under construction“), der Ankündigungen (demnächst neuer Webauftritt) und Abschiede (Website aufgegeben) lässt ahnen, dass hier eine lebendige Netz-Kultur geradezu wucherte, die inzwischen wie weggewischt und fast schon wieder vergessen ist. Insofern kann man wahrhaftig von Medienarchäologie sprechen, die zu restaurieren, zu interpretieren und mit künstlerischen Mitteln anzuverwandeln sucht, was noch übrig ist.

Zusehends haben dann Profis die Definitionsmacht über das Internet an sich gezogen. Sie machten sich im Netz und in Büchern über misslungene Webseiten der Amateure lustig und prangerten sie als Peinlichkeiten an. Heute sehen wir, wofür sie den Boden bereitet haben.

„Digitale Folklore“. 25. Juli bis 27. September beim Hartware MedienKunstVerein, 3. Ebene im „Dortmunder U“ (Leonie-Reygers-Terrasse, 44137 Dortmund). Geöffnet Di/Mi/Sa/So 11-18, Do/Fr 11-20 Uhr. Eintritt frei. Öffentliche Führungen sonn- und feiertags 16 Uhr, donnerstags 18 Uhr. www.hmkv.de




Rascher Rückzug, gespenstisch geräuschlos: Dortmunds Museums-Chef Kurt Wettengl geht

Nicht ohne Verwunderung ist zu berichten vom überraschend plötzlichen, äußerlich nahezu gespenstisch geräuschlosen Abschied des Ostwall-Museumschefs im Dortmunder „U“, Prof. Kurt Wettengl.

Gestern verbreitete die Stadt Dortmund die offenbar brandeilige Nachricht, dass Prof. Wettengl (Jahrgang 1954) seine Museumstätigkeit bereits „Mitte Juni“ beenden werde.

Ohne offizielle Verabschiedung

Schon heute war sein letzter Arbeitstag. Laut „Ruhrnachrichten“ soll es nicht einmal eine offizielle Verabschiedung geben. Seltsam genug. Was wohl hinter den Kulissen geschehen ist? Man muss Konflikte vermuten.

Heute war sein letzter Arbeitstag im Dortmunder "U": Prof. Kurt Wettengl. (Foto: Stadt Dortmund)

Heute war schon sein letzter Arbeitstag im Dortmunder „U“: Prof. Kurt Wettengl. (Foto: Stadt Dortmund)

Wettengl wollte zu dem Vorgang und zu seinen Dortmunder Jahren (fast 100 kleine und größere Ausstellungen an beiden Standorten seit 2005) nicht Stellung nehmen. Wobei man sagen muss, dass er ohnehin kein leichter Interview-Partner war. Im Gegenteil: Es war ungemein schwierig, ihm konkrete Aussagen abzugewinnen. Er wirkte stets übervorsichtig, wenn er sich zu Fragen äußerte, die über die Kunsthistorie hinausreichten.

Künftig kein passender Posten vorhanden?

Die Umstände seiner Demission klingen jedenfalls nach überstürztem Aufbruch, ja beinahe nach Flucht. Die Stadt befindet sich seit einiger Zeit auf der Suche nach einer Persönlichkeit für eine Art „Generalintendanz“ des Dortmunder „U“. Diesem Mann oder dieser Frau wäre Wettengl wohl formal unterstellt gewesen, wenn er denn seine Arbeit fortgesetzt hätte. Oder es wäre gar kein passender Platz mehr für ihn geblieben. Derlei Fährnisse hat jemand gegen Ende seines aktiven Berufslebens doch nicht mehr nötig…

Erbärmlich geringer Etat

Ein weiterer Grund für den raschen Rückzug Kurt Wettengls dürfte der beschämend geringe Ausstellungsetat des Hauses gewesen sein – noch dazu verknüpft mit überzogenen Erwartungen aus dem politischen Raum, was die Besucherzahlen angeht. Apropos: Ausgerechnet die letzte Ausstellung, die Wettengl in Dortmund kuratiert hat („Arche Noah“ – über Mensch und Tier in der Kunst), verbuchte in dieser Hinsicht immerhin einen Achtungserfolg. Nach dieser Genugtuung, so darf man annehmen, fällt Wettengl der Abschied vielleicht etwas leichter. Seinen kunstgeschichtlichen Lehrauftrag an der TU Dortmund wird er übrigens weiterhin wahrnehmen.

Wie sinnvoll war der Umzug ins „U“?

Wettengl suchte aus der finanziellen Schräglage eine Tugend zu machen, indem er den Blick – immer wieder anders fokussiert – auf die Dortmunder Sammlungsbestände richtete. Eigenbesitz ist nun mal am günstigsten vorzuzeigen. Es war jedoch klar, dass ein Schwerpunkt wie Fluxus-Kunst nicht die Massen anziehen würde. Ein bleibendes Verdienst Wettengls ist sicherlich, mit seinem Team den Umzug des Kunstmuseums vom Dortmunder Ostwall ins Dortmunder „U“ bewältigt zu haben.

Allerdings kann man sich rückblickend fragen, ob der dauerhaft und folgenreich kostspielige Umzug in den ehemaligen Brauereiturm überhaupt sinnvoll gewesen ist. Doch diese Entscheidung hat gewiss nicht Kurt Wettengl zu verantworten.

Überstürzt, weil politisch gewollt, musste partout noch im Kulturhaupstadt-Jahr 2010 dieser neue Ort der Kunst und der sogenannten „Kreativwirtschaft“ eröffnet werden. Um es mal zurückhaltend zu formulieren: Nicht durchweg konnte man dabei von sorgfältiger, vorausschauender Planung sprechen.




Ein Traum wird wahr – Dortmunder U zeigt Meisterwerke aus den Magazinen

Andreas Achenbach: „Nordisches Gebirge im Winter“ (Foto: Madeleine Annette Albrecht/Dortmunder U)

Weiße Wände, freie Durchgänge und sinnhafte Sichtachsen; gut diffundiertes Oberlicht für die Gemälde und schummerige Kabinette für empfindliche Papierarbeiten – besser läßt sich Kunst kaum präsentieren, zumal dann, wenn es sich ausschließlich um flache Bilder und wohnraumkompatible Skulpturen handelt.

Die Räume haben Themen und Nummern, das Publikum wandert gleichsam von den magisch-mystischen Sehnsuchtsmotiven eines Caspar David Friedrich durch insgesamt 18 Abteilungen bis zum harten, illusionslosen Spätexpressionismus eines Max Beckmann. Und da eine „Zwangsführung“ nicht installiert wurde, sind Abweichungen in alle anderen Richtungen jederzeit möglich. Eine, warum sollte man es nicht jetzt schon sagen, schöne, kluge Präsentation.

Zu sehen ist die Ausstellungen mit dem Titel „Meisterwerke im Dortmunder U“ vom 14. Mai bis zum 9. Oktober allda in der 6. Etage, auf der so genannten Sonderausstellungsfläche. Die Werke, und das ist schon etwas Besonderes, stammen überwiegend aus den Beständen der beiden Dortmunder Kunstmuseen, also des Museums für Kunst und Kulturgeschichte (MuKuK) an der Hansastraße und des Ostwall-Museums (MO), das seit längerem leider nicht mehr am Ostwall residiert, sondern in der vierten und fünften Etage des Dortmunder U.

Anselm Feuerbach_Bildnis der Nanna_1862_Foto Albrecht

Bildnis der Nanna (1862) von Anselm Feuerbach (Foto: Madeleine Annette Albrecht/Dortmunder U)

Traditionelle Werke im MuKuK, klassische Moderne im Ostwallmuseum: „Die Trennung der Sammlungen um 1900 herum ist wenig sinnvoll“, urteilt Gerhard Langemeyer, der diese Ausstellung als „Gastkurator“ zu verantworten hat und von dem natürlich jeder weiß, daß er in Dortmund auch Museumsdirektor, Kulturdezernent und Oberbürgermeister war.

Jetzt ist Langemeyer Pensionär, mehr oder weniger, und hat sich sozusagen endlich den Traum erfüllt, die Ausstellung zu machen, die er immer schon machen wollte. Beziehungsweise: In einer Ausstellung exemplarisch vorzuführen, wie es aussehen könnte, wenn der Museumsentwicklungsplan der Stadt Wirklichkeit geworden wäre, der seit 2002 existiert und unter anderem die Zusammenführung der beiden städtischen Sammlungen vorsieht.

Warum also nur ausnahmsweise zusammen hängt, was (nicht nur aus kunsthistorischer Sicht) durchaus zusammengehört – das hat auch mit der etwas schmerzhaften Entstehungsgeschichte des Dortmunder U zu tun, die ja noch immer nicht beendet ist. Wir erinnern uns: Rechtzeitig zum Kulturhauptstadtjahr 2010 mußte das ehemalige Sudhaus der Union-Brauerei mit seinem das Stadtbild prägenden leuchtenden U auf der Spitze in seiner neuen Funktion als Kultur- und Ausstellungsgebäude fertig werden – als Attraktion und Wahrzeichen ebenso wie als förderungswürdiges Kulturhauptstadtprojekt.

Die Förderung mit Landesmitteln jedoch war an Auflagen gebunden wie die, hier nicht ausschließlich ein größeres Kunstmuseum entstehen zu lassen sondern ein Kulturzentrum mit vielfältigen Aktivitäten. So zogen unter anderem die Hochschulen der Stadt auf „ihren“ Etagen ein, ohne indes in der Folge durch bemerkenswerte Aktivitäten zu glänzen. Das Ostwall-Museum wurde auf zwei Etagen gequetscht, die Sonderfläche muß Sonderfläche bleiben (und wurde in den vergangenen Jahren mit einigen Themenausstellungen bespielt).

Max Beckmann_Sebstbildnis mit Zigarette_1947_Foto Spiler

Max Beckmann Sebstbildnis mit Zigarette entstand 1947 (Foto: Jürgen Spiler/Dortmunder U)

Für eine Dauerpräsentation der Dortmunder Kunstschätze bedeuteten diese Planungen auf absehbare Zeit das Aus. Zwar war in den Folgejahren das eine oder andere Magazin-Werk im MuKuK zu sehen, werden bedeutende Werke immer wieder einmal an andere Häuser ausgeliehen, doch eine Dauerpräsentation von rund 150 Werken, die jetzt in der Sonderschau zu sehen sind, muß in der Regel Wunschtraum bleiben. Wenigstens jedoch kann Gerhard Langemeyer nun vorführen, wie er sich das damals dachte; und hoffen, daß der künftige, noch unbekannte Intendant des U die Idee der Bestände-Ausstellung in irgendeiner Form aufgreifen wird. (Und selbstverständlich kann der neue Intendant auch weiblichen Geschlechts sein.)

So gilt’s, das vorerst endliche Vergnügen zu preisen. 150 Gemälde, Skulpturen und Grafiken sind, wie gesagt, insgesamt in der Ausstellung zu sehen. 16 Gemälde stammen aus Dortmunder Privatbesitz, zudem eine Druckgraphik-Mappe der Künstlervereinigung „Die Brücke“ mit 16 Blättern. Allein 47 Arbeiten, um auch diese Zahl noch zu nennen, stammen aus dem Depot des Ostwall-Museums.

Caspar David Friedrichs „Junotempel von Agrigent“ – man erinnert sich dunkel an einen Streit vor etlichen Jahren, ob dieser Tempel denn nun er echte sei – ist fraglos eins der kostbarsten Bilder aus dem Dortmunder Bestand und empfängt das Publikum.

In den ersten Abteilungen geht es noch heftig romantisch zu, träumen sich die Künstlerseelen in Gegenden, wo man auch heute noch gern Urlaub machen würde. Junge Männer singen zur Laute, junge Damen lauschen hingebungsvoll; doch steht auch die Portraitkunst in Blüte. Begüterte Bürger lassen sich malen, die Perfektion der Ausführung ist viele Male frappierend, beispielhaft in Friedrich Wilhelm von Schadows „Bildnis einer Dame“ von 1815.

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Lovis Corinth malte die Ostsee 1902 (Foto: Madeleine Annette Albrecht/Dortmunder U)

Der Portraitist Theobald von Oer, der in der Mitte des 19. Jahrhunderts wirkte, erhält breiten Raum; das thematische Spektrum erfährt Weitungen durch Genrebilder (wie Franz Kels’ „Westfälische Bauernhochzeit“, 1856) und herzige Allegorien, Andreas Achenbach als herausragender Vertreter der Düsseldorfer Schule zieht furchtlos hinaus in winterliche nordische Gebirge (1838). Und so fort. Keineswegs ist die vormoderne Malerei langweilig.

Gleichwohl fasziniert die Wandlung in die Moderne, wie sie im Oeuvre des Wahl-Hageners Christian Rohlfs besonders deutlich wird. Mit Hilfe einiger Leihgaben des Hagener Osthaus-Museums kann man ihn in Dortmund prominent präsentieren. Wir sehen einen fast noch klassisch zu nennenden Rückenakt (1879), erfahren von pointillistischen Versuchen im Bild „Das Ruhrtal bei Herdecke“ (um 1902), begegnen dem wütenden Expressionisten (Clownsgespräch, 1912 u.a.) und meinen Vorstufen des Informellen wahrzunehmen, wenn Christian Rohlfs 1937 eine „Glühende Gewitterwolke“ malt.

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Caspar David Friedrichs „Junotempel von Agrigent“ (entstanden nach 1826) zählt zu den prominentesten Dortmunder Bildern. (Foto: Madeleine Annette Albrecht/Dortmunder U)

Und schwuppdiwupp sind wir schon bei den Modernen, bei Emil Nolde, Paula Modersohn-Becker, Macke, Jawlensky, Kirchner, Mueller, Schmidt-Rottluff und all den anderen. Brücke und Blauer Reiter, Liebermann und Berliner Sezessionisten, Lehmbrucks kantige junge Männer und schließlich auch, fast ist man ein wenig dankbar dafür, Ernst Barlachs tief entspannter, selbstvergessener Singender von 1928.

Natürlich hängt und steht hier noch viel mehr Kunst, als hier Erwähnung finden kann. Die Dortmunder Meisterwerke-Schau fühlt sich an wie die Versammlung vieler guter Bekannter, die zwar alle einzeln begrüßt sein wollen, deren Anwesenheit jedoch an sich schon eine Freude ist.

Die zu preisende Ausstellungsarchitektur, die dem von der letzten Ausstellung her noch als eng und verwinkelt erinnerten Räumlichkeiten Luft und Transparenz verleiht, mußte übrigens aufwendig hergestellt werden. Alte Wände wurden eingerissen, neue erstellt, U-Architekt Eckhardt Gerber selbst plante diesen Umbau. Von all den Mühen sieht man nichts, es ist hier oben jetzt gerade so, wie es auch sein müßte. Schade, daß Anfang August schon wieder alles vorbei sein soll.

  •  „Meisterwerke im Dortmunder U – Caspar David Friedrich bis Max Beckmann“
  • 14. Mai bis 9. August 2015
  • www.dortmunder-u.de
  • Ein empfehlenswerter Katalog entstand in Zusammenarbeit mit der Dortmunder Galerie Utermann und kostet 19,90 Euro.

 




„Das mechanische Corps“ – Technik der Jules-Verne-Romane inspiriert Kunst von heute

Ausstellungsansicht, Ausstellung "Das Mechanische Corps", HMKV i

Die Kiste kann wandern, die Lokomotive fahren; bewegliche Kunst auf den Spuren von Jules Verne (Bild: David Brandt, HMKV im Dortmunder U)

Ein Messingobjekt, das in seiner kardanischen Aufhängung einem Schiffskompaß ähnelt, zeigt muntere Bewegung; ebenso sein Gegenüber, dessen Vorbild nicht so ohne Weiteres zu deuten ist, in dem sich etwas dreht, klassisch geradezu angetrieben von einer Technik, die lineare Schub- und Zugbewegungen einer Treibstange in Rotation überführt.

An der Decke bewegen sich rhyhthmisch die Paddel einer Luft-Galeere, weiter hinten hebt und senkt eine verrottete Nähmaschine in völliger Nutzlosigkeit den Nadelschaft. Mit aufgesetzter, zweckentfremdeter Miniaturskulptur der New Yorker Freiheitsstaue fräst eine Kernbohrmaschine ein Loch in die Museumswand, über Monitore laufen Sequenzen aus Filmen, die den Menschen vor rund 100 Jahren stumm erzählten, wie die Zukunft sein würde. All dies, und noch manches mehr, ist jetzt im Dortmunder U zu sehen.

Wenn man der Unterzeile des Ausstellungstitels glauben darf, wandeln die hier vorgestellten, überwiegend noch recht jungen Künstlerinnen und Künstler „auf den Spuren von Jules Verne“. Als „mechanisches Corps“ werden sie vom Kurator Christoph Tannert bezeichnet, der die Ausstellung zusammen mit dem vestorbenen Peter Lang für das Künstlerhaus Bethanien in Berlin realisierte.

Extraschicht zur Ausstellung "Das Mechanische Corps", HMKV im Do

Bild: Stephanie Brysch, HMKV im Dortmunder U

Die Zukunft wird militärisch

„Das mechanische Corps“ ist auch der Titel der Ausstellung, und natürlich geschieht die Verwendung des eigentlich ja militärischen Begriffes Corps mit Hintersinn. Fortschritt, der utopische zumal, nahm in den Phantasien der Schriftsteller des 19. Jahrhunderts oft paramilitärtische Formen an. Zukünftige Gesellschaftsordnungen fußten auf militärischer Disziplin, Maschinen, mit denen Unmögliches möglich werden könnte – in Sonderheit die Reise zum Mond – waren Kanonen, Granaten, Torpedos und Raketen.

Gleichwohl wäre es vermessen, im Kollektiv der ausstellenden Künstler militärisch-elitäre Trends zu suchen. Der Titel der Ausstellung, anders gesagt, greift ein wenig ins Leere. Am ehesten noch eint die Ausstellenden doch die Freude an der (motorisch generierten) Bewegung, an der Nachvollziehbarkeit mechanischer, uhrwerkhafter, sichtbarer Abläufe.

Zwar ist in unserer Zeit fast alles in Bewegung, die Bewegungen der Maschinen indes sind fast unsichtbar geworden. Was bewegt sich noch in einem Kraftwerk, an einer Elektrolok? Bewegung findet im Alltag vieler Menschen größtenteils virtuell auf dem Computerbildschirm statt, ein unbefriedigender Zustand, der die ausstellenden „Retrofuturisten“ (O-Ton Tannert) beflügelt haben mag.

Ausstellungsansicht, Ausstellung "Das Mechanische Corps", HMKV i

Hier darf die Nähmaschine sein, was sie immer schon war: ein kinetisches Objekt (Foto: David Brandt/ HMKV im Dortmunder U)

Dampf verändert alles

Zudem war die quasi-militärische Organisation der Industriearbeit des ausgehenden 19. Jahrhunderts, die die Zukunftsphantasien vieler Autoren prägte, den immer komplexeren Produktionsabläufen geschuldet. Sie ließen sich seinerzeit nur in militärgleich gestalteten Befehlsstrukturen meistern, denn die computergestützte Meß- und Regeltechnik, die heutzutage oft auch Robotern die Arbeit zuteilt und mit ihnen plaudert (Stichwort Industrie 4.0), gab es noch nicht. Leider bleibt dieser Aspekt in der Schau weitgehend unbeachtet.

Aber vielleicht greift das schon zu hoch. Wenn Kurator Tannert die jungen Künstler auf Jules Vernes Spuren wandeln sieht, so auch deshalb, weil dessen Bücher reich bebildert waren und die wunderbar bewegliche Technik des 19. Jahrhunderts so eindrucksvoll in Szene setzten, daß uns das noch heute zu inspirieren vermag.

Neben den Raketen war natürlich der Dampf das Faszinosum jener Zeit, der in immer größeren Kolbenmaschinen mit viel rhythmischer Bewegung arbeitete und die menschliche Zukunft radikaler und ungleich schneller verändern würde als alle Erfindungen zuvor. Auch Reisen, Messen, Berechnen und Beobachten – Letzteres vor allem mit starken Teleskopen – waren andächtige Handlungen in den Illustrationen. Eine sorgfältig zusammengestellte Diaprojektion, übrigens noch mit museumstypischen Karussell-Projektoren und richtigen Dias, zeigt dafür etliche Beispiele.

Florian Mertens, Turbine, 2013, Ausstellung "Das Mechanische Cor

Turbine von Florian Mertens (Foto: David Brandt, HMKV im Dortmunder U)

Steam-Punker lieben es rüschig

Übrigens findet die Science-Fiction-Ästhetik des 19. Jahrhunderts heute ihren jugendkulturellen Ausdruck im düsteren, viktorianisch-rüschigen Steam-Punk, dem einige der Ausstellenden huldigen und der sich als Designvariante in recht kommerziellen Produkten findet, in Armbanduhren im Kapitän-Nemo-Look zum Beispiel oder in hochgradig retromäßigen Computertastaturen mit messingglänzender Registrierkassenoptik. Auch solche Objekte hat Kurator Tannert in die Ausstellung genommen, weil sie das Gesamtbild ergänzen.

Hingegen wirken die kindlich-ungelenken, bunten Bilder von Fluggeräten und Fliegern, die an einer Wand hängen, auf den ersten Blick deplaziert. Sie stammen von Karl Hans Janke, 1909 geboren, 1988 gestorben und bei Wikipedia als Vertreter der „Outsider-Art“ gelistet. Einen Großteil seines Lebens verbrachte er in der Psychiatrie, nachdem man ihm im Krieg Schizophrenie attestiert hatte. Janke hat vor seiner Erkrankung einige patentierte Erfindungen gemacht, sich später an der Konstruktion eines „Schwingenflugzeuges“ erfolglos abgearbeitet. Erfunden hat er bis zuletzt, weshalb man ihm in der Psychiatrie „Erfinderwahn“ bescheinigte. Doch hat er auch zeitlebens den Traum vom Fliegen geträumt, vielleicht, wie verschwommen auch immer, vom Flug in eine bessere Zukunft.

„Das mechanische Corps – Auf den Spuren von Jules Verne“. Hartware Medienkunstverein (HMKV) im Dortmunder U, Leonie-Reygers-Terrasse, Dortmund. Bis 12. Juli 2015. Geöffnet Di+Mi+Sa+So 11-18 Uhr, Do+Fr 11-20 Uhr. Eintritt 5 €. Katalog des Berliner Künstlerhauses Bethanien 29 €. Infos: www.hmkv.de




Ein Platz für Tiere im Kunstmuseum – Ausstellung „Arche Noah“ im Dortmunder U

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Die größte Arbeit dieser Schau ist von Christiane Möbus, 11 Meter lang und heißt „Auf dem Rücken der Tiere“ (Foto: Museum Ostwall/VG Bild-Kunst, Bonn 2014, Helge Mundt, Hamburg)

Groß war sie angekündigt, die Jahresendausstellung im Dortmunder U. „Arche Noah – Über Tier und Mensch in der Kunst“ ist sie überschrieben, der Titel ist – bar jeder Doppeldeutigkeit – redliche Inhaltsangabe. Sucht man nach einem positiven Eigenschaftswort, das die Schau des Ostwall-Museums am trefflichsten kennzeichnet, so fällt einem am ehesten wohl „fleißig“ ein, vielleicht auch „redlich“ oder „korrekt“, mit etwas gutem Willen gar „engagiert“. Jedoch die Superlative haben Pause. Das sollte man wissen und seine Erwartungen entsprechend justieren, wenn man sich diese Tierschau ansehen will.

Aus dem Pressetext zitiert sind dies die Gliederungspunkte von „Arche Noah“: „Mensch – Tier – Stadt“, „Tiere ausstellen“, „Tierstudien“, „Naturidyllen“, „Natur beherrschen (Dressur/Rituelles/Tötung von Tieren)“, „Tier – Kunst – Wissenschaft“, „The Dark Museum“, „Naturzerstörung“, „Tiere als Co-Produzenten“, „Kunst für Tiere“, „Tierische Sounds“, „Annäherung & Transformation“, „Ängste – Träume – Fantasien“, „Tiersymbolik“, „Tierkomik“. Eine Fleißarbeit, wie gesagt. Und sicherlich ist es sinnvoll, das Thema in einer solchen Weise zu systematisieren, wenn man eine Global-Ausstellung wie die Nämliche plant.

Allerdings wäre es schön gewesen, wenn die Ausstellungsmacher in einem der nächsten Schritte dem sinnlichen Erleben mehr Gewicht zugebilligt hätten. Wenn sie einen Blickfang im Eingangsbereich geschaffen hätten, ihm vielleicht auch eine besondere Lichtsituation hätten zukommen lassen. Dann auch stünde die wuchtigste Arbeit, die raumgreifende Installation „Auf dem Rücken der Tiere“ von Christiane Möbus – 12 Ganztierpräparate tragen auf ihren Rücken ein Boot, der Katalog nennt für diese Arbeit die Maße 400x1100x420 cm – vielleicht im Eingangsbereich und nicht erst in einem der letzten Räume der Schau. Eventuell hätte man dafür die Eingangssituation ändern müssen, was aber doch möglich wäre. Jetzt aber startet man den Rundgang mit viel Kleinkram, zwischen dem sogar August Mackes „Großer Zoologischer Garten“ von 1912 verloren wirkt. Dabei ist dies doch ein besonders wertvolles Bild, auf das das Ostwall Museum auch besonders stolz ist (Was würde es wohl bei Christie’s in der Auktion bringen?).

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Eins der bekanntesten Stücke aus dem Eigenbestand paßt hervorragend in die Ausstellung: „Großer zoologischer Garten“ von August Macke aus dem Jahr 1912 (Foto: Museum Ostwall Jürgen Spiler)

 

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Die Skulptur „All you can lose“ von Deborah Sengl (2009) zeigt sehr naturalistisch eine Art Menschenschwein auf dem Heimtrainer und ist ein bißchen zum fürchten (Foto: Museum Ostwall/Courtesy Galerie Deschler, Berlin)

Einige schöne Einzelstücke findet man natürlich schon, zumal im skulpturalen Bereich. Deborah Sengls furchteinflößender Schweinemensch auf dem Heimtrainer („All you can lose“, 2009) gehört dazu, ebenso Patricia Piccininis verstörendes Mädchen mit schwarzer Beinbehaarung, das ein irgendwie anthropomorphes Fleischwesen im Arm hält („The Comforter“, 2010).

Natürlich fehlt in einer Tierausstellung wie dieser nicht die abstoßende Schlachthofarbeit („Schlachthaus Berlin“ von Jörg Knoefel, 1986/88), bestehend aus einem Blechplattenlabyrinth, in welchem unregelmäßig etliche Schwarzweiß- und einige Farbfotos aufgehängt sind, die blutige Details des unappetitlichen Schlachthofgeschehens zeigen. Möglicherweise soll man sich in diesem Blechkorridor fühlen wie das berühmte Lamm auf dem Weg zur Schlachtbank, bzw. das Schwein zur Hinrichtung. Nun denn.

Erwähnenswert ist vieles mehr, doch ersetzt das nicht den Gang durch die Ausstellung, und deshalb soll das Auflisten hier auch sein Ende haben. Lediglich auf das schöne Gemälde „Aquarium“ (2007) von Norbert Tadeusz sei noch verwiesen, immerhin ist Tadeusz ein Sohn der Stadt Dortmund (wenngleich 2011 in Düsseldorf verstorben).

Ein mindestens ebenso bedeutender Dortmunder Künstler ist wohl Martin Kippenberger (gest. 1997), den man hier allerdings vergeblich sucht. Dabei war es ja sozusagen eine tierische Arbeit, nämlich ein gekreuzigter Laubfrosch, mit der der „junge Wilde“ bei Dortmunds katholischer Kirche so tief in Ungnade fiel, daß nach wie vor nicht mal ein kleines Sträßchen in U-Nähe nach ihm heißt. Womit nichts gegen Leonie Reygers gesagt sein soll, die es fraglos verdient, Namenspatronin zu sein. Jedenfalls: Auf dieser Arche kein Kippenberger.

Kein Kippenberger, kein Nitsch-Adept, der mit Tierblut rumsaut, kein Damien Hurst, der einst Kühe in Scheiben schnitt und die Schnitte, mit Formalin haltbar gemacht, in Plexiglasbehältern präsentierte. Keine Provokationen jenseits der politisch korrekten Abscheu in dieser Ausstellung, nichts, das zum Widerspruch reizte.

Dabei ist die Arche eigentlich doch ein Skandalon, Symbol massenhafter Vernichtung von Mensch und Tier, denn wer nicht an Bord durfte, mußte (elendig, wie wir vermuten wollen) ersaufen. Wo in der Ausstellung ist das Mahnmal für all jene Arten, die seit der Sintflut nicht mehr unter uns weilen! Zugegeben: Diese Argumentation streift schon verdächtig am Rand des Humorversuchs entlang. Humor jedoch ist, wenngleich auch mehr oder weniger auf eine Abteilung begrenzt, durch große Künstler der Neuen Frankfurter Schule wie Robert Gernhardt oder Hans Traxler bereits manierlich vertreten.

„Arche Noah“, 15. November 2014 bis 12. April 2015. Museum Ostwall im Dortmunder U, Leonie-Reygers-Terrasse, Dortmund. Geöffnet Di+Mi 11-18 Uhr, Do+Fr 11-20 Uhr, Sa+So 11-18 Uhr. Eintritt 6 Euro.

www.museumostwall.dortmund.de




Herzig und zuversichtlich: Wie der Kulturkanal arte über Dortmund berichtet

Auf den Kulturkanal arte halte ich größere Stücke. Wenn man sich denn aufs Medium Fernsehen einlässt, finden sich hier und bei 3Sat Inseln im Meer der Verdummung. Also habe ich mich jetzt gefreut, dass dort ein Film über Dortmund auf dem Programm stand.

Tatsächlich wurde da gelobhudelt, dass es nur so seine Art hatte und dem Lokalpatrioten schmeichelte. Die hauptsächliche Botschaft des 25 Minuten langen Films: Es gebe in ganz Deutschland wohl keine andere Stadt, die nach Krisen und Katastrophen so oft wieder aufgestanden ist wie Dortmund. Ein idealer Ort also für den Fünfteiler „Eutopia“ über Zukunftsvisionen in Europa, der außerdem nach Krakau, Toulouse, Maastricht und Tallinn führt.

Sarah Schill spricht mit dem Dortmunder Filmemacher Adolf Winkelmann (© Kick Film GmbH / Foto: SR)

Sarah Schill spricht mit dem Dortmunder Filmemacher Adolf Winkelmann (© Kick Film GmbH / Foto: SR)

Gewiss, es wurden auch kurz ein paar Probleme benannt. Schwieriger Strukturwandel, hohe Arbeitslosenzahlen, gesellschaftliche Verwerfungen in der Nordstadt, rechtsradikale Umtriebe. Doch der Grundtenor des Films war ungemein zuversichtlich, so dass der seit jeher hier wohnende Filmemacher Adolf Winkelmann in diesem Rahmen schon als kritischste Stimme gelten musste. Er findet seine Heimatstadt spannend, weil man hier so viel Wirklichkeit spüre wie kaum anderswo im Land, er zweifelt aber am Erfolg der gängigen Zukunftskonzepte.

Der Oberbürgermeister – wer hätte das gedacht?

Geradezu herzig wurde der Film durch die immer und immer wieder ins Bild gerückte Protagonistin: Sarah Schill, in den arte-Pressetexten meist nur liebevoll beim Vornamen genannt, hat alle fünf erwähnten Städte bereist und erzählt in der Ich-Form. Sie wird nicht müde zu betonen, wie sehr Dortmund sie interessiert und wie sie sich auf alle neuen Eindrücke einlassen will. Gefühlte 10 von 25 Filmminuten sieht man ihr allzeit neugieriges und frohgemutes Gesicht.

Sarah Schill radelt mit Dortmund Oberbürgermeister Ullrich Sierau am Phoenix-See (© Kick Film GmbH / Foto: SR)

Sarah Schill radelt mit Dortmunds Oberbürgermeister Ullrich Sierau am Phoenix-See. (© Kick Film GmbH / Foto: SR)

Kaum ist sie in der Stadt angekommen, begibt sich Sarah Schill schnurstracks zum Kulturzentrum „Dortmunder U“ und umarmt zur Begrüßung die Sprecherin des Hauses wie eine alte Freundin. Es ist eine Kronzeugin für Dortmunds Aufbruch zu neuen Ufern. Hingegen kommt kein Kritiker des finanziell ins Schlingern geratenen Großprojekts zu Wort. War’s etwa ein Bericht am Gängelband der Stadtpressestelle?

Nun gut, der Beitrag wurde im arte-Nachmittagsprogramm (Mittwoch ab 15.55 Uhr) versendet, da verlangt man vielleicht keine Höchstleistungen. Man möchte aber auch nicht für dumm verkauft werden. Sarah Schill begegnet beim Radeln rund um den neu angelegten Phoenix-See (der auch nicht nur Befürworter hat) einem Herrn in den mittleren Jahren, der offenbar recht kundig für das Renommier-Gewässer wirbt. Woher er sich denn so gut auskenne, möchte Sarah Schill wissen. Nun, er sei einmal Planungsdezernent gewesen und jetzt sei er Oberbürgermeister. Gestatten, Ullrich Sierau, SPD. Nein, wie überrascht sich Sarah Schill da zeigt. Der Oberbürgermeister! Ja, wer hätte das gedacht? Vielleicht die Redaktion, die das Radlertreffen doch wohl von langer Hand vorbereitet hat?

Übrigens: Am kommenden Sonntag ist in Dortmund nicht nur Europawahl, sondern es werden auch Kommunalwahlen abgehalten – und Ullrich Sierau bewirbt sich erneut um den OB-Posten. Ein Schelm, wer sich dabei was denkt.




Sie lauern überall: Dortmunder Peinlichkeiten

Eigentlich wollte ich – nach diversen miesen Erfahrungen in jüngster Zeit – an dieser Stelle nur über Dortmunder Gaststätten schreiben, die es mit dem Service nicht so haben. Doch dann trug es mich weiter von hinnen. Vielleicht liegt’s ja am Kater nach dem verlorenen Revierderby.

Eines dieser Ausflugslokale liegt an prominentester Stelle im Westfalenpark; dort, wohin viele Dortmunder ihre auswärtigen Gäste mitnehmen. Wie peinlich! Es dürfte weit und breit kaum einen anderen gastronomischen Betrieb geben, in dem derart viele freudlose Dispute zwischen Personal und Gästen anliegen. Allgemeines Kopfschütteln, galgenhumoriges Einverständnis zwischen den Tischen. Berechtige Beschwerden sind hier nicht die Ausnahme, sondern die Regel, ja fast schon Folklore. Da trifft Loriots guter alter Spruch zu: „Herr Ober, dürfen wir I h n e n vielleicht etwas bringen?“

Eine andere Lokalität zehrt vom Ruf als idyllisches Hofcafé, bekommt aber nicht mal eine Zusammenkunft mit knapp 20 Gästen geregelt. Pannen werden dort in absurden Serien produziert, als sei’s dummdreiste Absicht. Ein drittes Haus lockt ebenfalls mit pittoresker Lage in einem Park. Man kann aber an gewissen Tagen von außerordentlichem Glück sprechen, wenn dort binnen 45 Minuten die Bestellung den Weg zum Tisch gefunden hat. Aber wehe, man weist zaghaft auf Fehlleistungen hin…

Oh, ich könnte mich länglich über solche Betriebe auslassen, in denen Unfähigkeit sich mit Hirnrissigkeit und zuweilen auch noch Frechheit vermengt. Halt! Diesen noch! Diesen angemessen peinlichen Kalauer muss ich jetzt noch loswerden, auf dass das letzte Lachen im Ansatz ersterbe: Gastronomie hat hier nichts mit Gast zu tun, sondern mit Gastritis, die man sich vor lauter Ärger zuzieht.

Dortmunder Peinlichkeiten also. Und damit betreten wir ein weites Feld.

Blick vom Florianturm auf den Phoenixsee (Foto: Bernd Berke)

Blick vom Florianturm auf den Phoenixsee (Foto: Bernd Berke)

Beispielsweise die seit Jahrzehnten währende, schier endlose Geschichte um den (Nicht)-Umbau des Hauptbahnhofs, der einer Großstadt nicht würdig ist. „Pommesbude mit Gleisanschluss“ ist beinahe noch gelobhudelt. Neuerdings geht das Gerücht, die Sanierung werde sich womöglich um weitere Jahre verzögern. Ist ja auch egal, ob Behinderte barrierefrei zu den Gleisen kommen oder nicht.

Man muss den jetzigen Zustand mal vergleichen mit den Großmannsträumen, die früher einmal gehegt wurden. Die sehen (auch auf anderen Gebieten) regelmäßig so monströs aus, wie klein Mäxchen sich ungefähr zur Mitte der 60er Jahre Größe und Zukunft vorgestellt hat. Wenn 2014 vis-à-vis vom Bahnhof das Deutsche Fußballmuseum eröffnet (dräuen damit etwa neue Peinlichkeiten?), sollen jährlich Hunderttausende allein deswegen anreisen. Sie werden den Ruhm des Bahnhofs weit hinaus in die Welt tragen.

Beispielsweise die Pfütze namens Phoenixsee. Im Sonnenuntergang mag das überschaubare künstliche Gewässer ja manchmal seine funkelnden Momente haben. Aber das ganze Projekt ist wohl in erster Linie eine Maßnahme, um im Umfeld maximale Immobilienpreise herauszuwuchern. Unterdessen brüstet man sich damit, der See sei größer als die Hamburger Binnenalster. Sprechen wir mal gar nicht von Flair und Tradition, aber wo wäre denn dann das Pendant zur Außenalster? Geradezu lachhaft mutet es an, dass auf diesem Gewässerchen Segelboote fahren dürfen. Kaum sind sie „in See gestochen“, müssen sie schon wieder beidrehen.

Vom sündhaft teuren „Dortmunder U“, das auf Biegen und Brechen noch im Kulturhauptstadtjahr „Ruhr 2010“ eröffnet werden musste, bei dem es aber jetzt immer noch an etlichen Ecken klemmt und hapert, wollen wir nicht weiter reden. Quicklebendiges Kulturzentrum, blühende „Kulturwirtschaft“? Aber nicht doch! Übt euch gefälligst in Geduld!

Hinreichend peinlich auch das Jubiläums-Jubeln der von Anzeigen abhängigen Regionalpresse, die das einjährige Bestehen der Thier-Galerie (Einkaufszentrum mit ca. 160 Geschäften) quasi ohne Gegenstimmen gepriesen hat. Man muss sich nur mal die verwahrlosenden Leerstände bzw. Schlichtläden an den Rändern der City ansehen, um zu ahnen, was hier schleichend vorgeht.

Na und? Dafür haben wir aber den weltgrößten Weihnachtsbaum, freilich zusammengestoppelt aus rund 1700 Fichten, also schlichtweg eine grandiose Sinnestäuschung – auch wenn Japaner, Russen und Holländer das Ding gern fotografieren. Just heute (an diesem sonnigen 22. Oktober) bin ich an der Stelle vorbeigekommen. Und siehe: Sie arbeiten schon wieder am Fundament der Scheußlichkeit (wie es das grässliche, aber mutmaßlich weltexklusive Foto zeigt).

22. Oktober: Hier und heute werkeln sie schon wieder am Fundament für den "weltgrößten Weihnachtsbaum". (Foto: Bernd Berke)

22. Oktober: Hier und heute werkeln sie schon wieder am Fundament für den "weltgrößten Weihnachtsbaum". (Foto: Bernd Berke)

Nun gut. Zugegeben: So gigantische Peinlichkeiten wie Berlin mit seinem Flughafen, Hamburg mit der Elbphilharmonie, Köln mit dem Stadtarchiv oder „Stuttgart 21“, die kriegen wir hier nicht zustande. Aber immerhin! Wir bemühen uns.

P. S.: Jeder beschmutze sein eigenes Nest. Ergo: Wer aus anderen Städten kommt, kehre vor der eigenen Tür. Auch da findet sich eine Menge.




Die Verhältnisse zum Tanzen bringen: Fluxus-Kunst im Dortmunder „U“

Wer Fluxus definieren oder gar fixieren will, dem entgleitet das Phänomen unweigerlich: Diese diffus ungerichtete Kunstrichtung mit Schwerpunkt in den 1960er Jahren war ja gerade aufs Tanzen der Verhältnisse aus, gleichsam auf Verflüssigung aller Handlungen. Und wie sehr hat man auf den Alltag, aufs Leben der Vielen einwirken wollen! Die politische Zeitstimmung hat derlei Aufbrüche gewiss begünstigt.

Nicht nur der Zufall hat es so gefügt, dass das Dortmunder Museum Ostwall (heute im Dortmunder „U“) beim Sammeln der Fluxus-Reliquien und Relikte in Deutschland einen der Spitzenplätze einnimmt und auch international zu beachten ist. Vor allem hat man das dem Remscheider Sammler Wolfgang Feelisch zu danken, der bereits seit 1968 Fluxus-Objekte in die Stadt brachte und sich seither immer wieder zu großzügigen Schenkungen bereit fand. Gleichsam in seinem Windschatten hat Dortmund auch umfangreiche Dauerleihgaben aus der Düsseldorfer Sammlung Hermann Braun/Holger Lieff erhalten. Und schließlich hat der Freundeskreis des Museums einige Mittel beigesteuert.

Ob weite Teile der Bevölkerung davon Kunde haben oder es gar zu schätzen wissen, das ist eine ganz andere Frage. Jetzt wäre jedenfalls Gelegenheit, sich anhand von rund 300 Exponaten mit den Beständen vertraut zu machen, darunter auch wesentliche Neuerwerbungen.

Allan Kaprow: "Taling a Shoe for a Walk", 1989, Activity, presented for "Fluxus. 1962-1989" Bonner Kunstverein, Bonn, Germany, Courtesy Allan Kaprow Estate and Hauser & Wirth (Sammlung Museum Ostwall, erworben aus der Sammlung Feelisch, Foto: Jürgen Spiler)

Allan Kaprow: "Taling a Shoe for a Walk", 1989, Activity, presented for "Fluxus. 1962-1989" Bonner Kunstverein, Bonn, Germany, Courtesy Allan Kaprow Estate and Hauser & Wirth (Sammlung Museum Ostwall, erworben aus der Sammlung Feelisch, Foto: Jürgen Spiler)

Wer nun die Dortmunder Schau „Fluxus. Kunst für alle“ auf der 6. Ebene des Dortmunder „U“ betritt, ist wahrscheinlich frappiert, wenn nicht düpiert, gibt sie sich doch auf den allerersten Blick sperrig, eckig, nahezu abweisend. Man sieht zunächst nur lauter ineinander verschachtelte Holzkisten. Bestenfalls denkt man an Umzug, somit denn doch an Bewegung.

Diese Verschläge enthalten Schriftstücke und Gegenstände aller Art. Es sind just Relikte, Reflexionen oder auch „Partituren“ und Handlungsanweisungen einstiger Fluxus-Aktionen, Restbestände von Happenings und Performances. Das Spektrum reicht vom vollen Aschenbecher bis zum Rollmopsglas, von der Weinflasche bis zum rosigen Sparschwein, vom verfremdeten Kleidungsstück bis zur Papierschwalbe. Genug. Des Aufzählens wäre kein Ende.

Blick in einen Teil der Dortmunder Fluxus-Ausstellung (Foto: Bernd Berke)

Blick in einen Teil der Dortmunder Fluxus-Ausstellung (Foto: Bernd Berke)

Manche Auftritte von damals brachen so entschieden mit eingefahrenen Lebensgewohnheiten, rissen den Erwartungshorizont dermaßen weit auf, dass sie bis heute nachwirken – bis hin zu den flashmobs der Internet-Ära. Alan Kaprow entwarf beispielsweise eine Aktion, bei der ein einzelner Damenschuh quer durch die Stadt gezogen und von Zeit zu Zeit mit Mullbinden und Pflaster versorgt wurde. Auch diesen Schuh darf man hier ehrfürchtig betrachten. Oder auch feixend.

Milan Knížák: "Ein fliegendes Buch" (Flying Book)", 1965/70 (Sammlung Museum Ostwall, erworben aus der Sammlung Feelisch, Remscheid). © VG Bild-Kunst, Bonn 2012, Foto Jürgen Spiler

Milan Knížák: "Ein fliegendes Buch" (Flying Book)", 1965/70 (Sammlung Museum Ostwall, erworben aus der Sammlung Feelisch, Remscheid). © VG Bild-Kunst, Bonn 2012, Foto Jürgen Spiler

Widersprüchlich und irritierend genug: Was damals sehr lebendig und lebensnah dahergekommen sein muss, wirkt heute im Museum (wenn nicht Mausoleum) zunächst zwangsläufig stillgestellt, ja fast starr. Man muss sich das aneignen. Besucher sollten Zeit mitbringen, sie müssen sich vor Vitrinen und an Bildschirmen schon ziemlich intensiv in Einzelheiten versenken, um sich das vitale Geschehen der großen Fluxus-Zeit halbwegs zu vergegenwärtigen. Am besten mag dies mit Hilfe der Filme und Tondokumente gelingen, die die Ausstellung anreichern.

Die Fluxus-Protagonisten waren um 1962 (also vor 50 Jahren) angetreten, zwischen Spiel, Provokation und Ironie „Kunst für alle“ hervorzubringen. Allseitige Offenheit in jedem Moment war eine Leitlinie. Alles ist im Fluss. Ein gewichtiger geistiger Vorvater ist John Cage, der heuer 100 Jahre alt geworden wäre und zu Lebzeiten die Grenzen zwischen den Kunstgattungen sprengte, den (kalkulierten) Zufall als kreative Ur- und Triebkraft fruchtbar machte und alle etwaigen Hierarchien auf diesen Feldern einebnete. Sein „Untitled Event“ (1952) gilt als Grundmuster späterer Experimente. Viele Künstler haben seine Seminare besucht. Es kommt nicht von ungefähr, dass sich auch die Ruhrtriennale dem Nachhall seines Oeuvres widmet und dass das Museum Bochum sich derzeit ebenfalls Fluxus auf die Fahnen schreibt.

Robert Watts: "Chrome Hamburger", 1963 (Dauerleihgabe Sammlung Braun/Lieff, Düsseldorf) © Robert Watts Estate, New York, 1963/2012 / Foto: Jürgen Spiler

Robert Watts: "Chrome Hamburger", 1963 (Dauerleihgabe Sammlung Braun/Lieff, Düsseldorf) © Robert Watts Estate, New York, 1963/2012 / Foto: Jürgen Spiler

Wir werfen mal ein paar Namen aus der Dortmunder Ausstellung in die Luft: Allan Kaprow, Wolf Vostell, Milan Knížák, George Brecht, George Maciunas, Daniel Spoerri, Alison Knowles, Robert Watts, Dick Higgins, Robert Filliou. Sie alle zählten zum internationalen Netzwerk der Künstler, die dem Fluxus zugerechnet wurden und vielfach miteinander befreundet waren. Joseph Beuys gehörte dann irgendwie auch hinzu, geradezu unvermeidlich.

Bemerkenswert: Die meisten von ihnen hatten keine künstlerische Ausbildung im akademischen Sinn, es gab etliche Quereinsteiger wie den ehemaligen Ökonomen, den früheren Ingenieur oder Chemiker. Avanti dilettanti? Nun, das wäre zumindest aus heutiger Sicht eine Beleidigung. Fluxus steht nicht zuletzt für luzide, ausgeklügelte Konzepte.

Der Originalitätsbegriff gerät freilich ins Wanken. Man sieht in Dortmund Bruchstücke von Alan Kaprows früherer Installation „Fresh air“ (Frischluft): Da darf man sich vor einen Tischventilator setzen und sich dabei im Handspiegel betrachten, es soll dabei bewusstes Atmen erfahren werden. Es handelt sich um den teilweisen Nachbau eines Remakes der Ursprungsarbeit, also um ein Re-Remake, wenn man’s so verschachtelt will. Viele Fluxus-Überbleibsel sind so genannte Multiples, also Auflagenkunststücke zu anfangs geringen Einstiegspreisen. Alle sollten sich das leisten können. Hat da jemand Kunstmarkt gesagt? Jaja, ist ja schon gut. Aller Anfang war bescheiden.

Robert Filliou/VICE-Versand, Remscheid: "Optimistic Box No. 4 and 5", 1981 Ausführung; Konzept 1968, Multiple (Sammlung Museum Ostwall, erworben aus der Sammlung Feelisch, Remscheid). © VG Bild-Kunst, Bonn 2012, Foto Jürgen Spiler

Robert Filliou/VICE-Versand, Remscheid: "Optimistic Box No. 4 and 5", 1981 Ausführung; Konzept 1968, Multiple (Sammlung Museum Ostwall, erworben aus der Sammlung Feelisch, Remscheid). © VG Bild-Kunst, Bonn 2012, Foto Jürgen Spiler

Auch bewegen wir uns hier im flirrenden Grenzgelände zwischen erklärter Kunst, Alltag und Banalität. Das „Exit“-Schild hoch droben im Raum ist kein Hinweis auf Fluchtwege, sondern ein Kunstobjekt, das auf ständigen Wandel durch Verlassen einer Situation (doch auch auf den finalen Exitus) verweist. Und der blaue Putzeimer, der in der Ecke steht, stammt von Robert Filliou und trägt am Besenstiel ein Schild, das die Allerheiligste der Tafelbildkunst ironisch degradiert: „Bin in 10 Minuten zurück – Mona Lisa“.

Eine Kunst, die bizarre Objekte mit Tischtennisball kreiert (wird er diesmal rechts oder links herausfallen?) oder etwa der Bohne veritable Aktionsreihen widmet (Alison Knowles), hat eben vielfach befreienden Witz. Selbiger muss allerdings hie und da aus den Relikten erst wieder fleißig herausgekitzelt werden. Weiterer Ansatz: George Brecht und Robert Filliou fußen – wie John Cage – je unterschiedlich auf buddhistischem Gedankengut, das alles scheinbaren Paradoxien auflöst.

Wer nach all dem körperlichen Ausgleich braucht, der begibt sich am besten mit bereitgestellten Gummistiefeln in Wolf Vostells Arbeitsfeld „Umgraben“ und schichtet mit einer Schaufel Erdreich um, dabei seltsame Klänge erzeugend. Vostells Denkanstoß zum Tun: „Gefühl umgraben / Gedächtnis umgraben / Zeit umgraben / Ideen umgraben…“

Dortmunds Ostwall-Museumsdirektor Dr. Kurt Wettengl bei der Erdarbeit in Wolf Vostells Installation "Umgraben". (Foto: Bernd Berke)

Dortmunds Ostwall-Museumsdirektor Dr. Kurt Wettengl bei der Erdarbeit in Wolf Vostells Installation "Umgraben". (Foto: Bernd Berke)

FLUXUS. Kunst für alle! 24. August 2012 (Eröffnung 19 Uhr) bis 6. Januar 2013. Museum Ostwall im Dortmunder U (Leonie-Reygers-Terrasse / Navi: Rheinische Straße 1), Oberlichtsaal auf Geschossebene 6 (weiterer Fluxus-Eigenbesitz in der Dauerausstellung auf den Ebenen 4 und 5). Eintritt 5 Euro, ermäßigt 2,50 Euro. Geöffnet Di, Mi, Sa, So 11-18 Uhr, Do/Fr 11-20 Uhr. Umfangreiches Begleitprogramm/Führungen: www.museumostwall.dortmund.de




Winkelmanns Theaterreise ins Dortmunder U

Sebastian Graf, Luise Heyer und Axel Holst in Winkelmanns Reise ins U. Foto: Birgit HupfeldDie Geschichte des Dortmunder U als Kreativzentrum ist bislang keine ruhmreiche: Erst das ewige Hin und Her um das Konzept, bevor die Fördergelder überhaupt flossen, dann zahlreiche Teileröffnungen, steigende Baukosten, Verzögerungen und das Gefühl, es noch immer mit einer Baustelle zu tun zu haben.

Regisseur Adolf Winkelmann („Contergan“) steckte dank seiner „Fliegenden Bilder“, die nun direkt unter dem goldenen U leuchten, mittendrin im Chaos – und hat seine schrägen Erfahrungen nicht nur in ein Buch, sondern auch in sein erstes Theaterstück gegossen. „Winkelmanns Reise ins U“ feierte im Dortmunder Schauspiel Uraufführung.

Nach den vielen Skandalen um das Dortmunder U wäre vieles möglich gewesen: Ein trockener Einblick in die Wirklichkeit, eine bitterböse Abrechnung, auch eine Selbststilisierung. Es spricht für Adolf Winkelmanns Humor, dass er selbst von einem „erfundenen Tatsachenbericht“ spricht, der sich irgendwo zwischen realen und fiktiven Absurditäten aufhält.

Die Satire tropft nur so aus jeder Szene, als der Künstler Winkelmann (großartig naiv gespielt von Axel Holst) und sein Filmteam ihrer Heimatstadt für den neuen Kreativturm ein filmisches Kunstwerk schenken wollen, das über den Dächern der Stadt leuchten soll. So viel arbeitsame Kreativität ist der Stadtverwaltung und ihrem Senator (Andreas Beck) unheimlich, die vor allem eines will: Finanzkräftige Investoren mit inhaltsleeren Wortwolken („Europäischer Kreativwirtschaftspott“) ködern und den Ruhm dafür einstreichen. Während also Winkelmann ein immer fantastischer werdendes Abenteuer erlebt, mit goldenen Filmstreifen und einer Unterstadt, in der Dortmund gegen seinen Untergang kämpft, baut die Stadt seine Kunst mit einem Krankenkassengebäude zu.

Regisseur Winkelmann macht nicht den Fehler, nur schwarz-weiß zu (über)zeichnen: Den grauen Stadtverwaltern, die jeden Vorgang genehmigt wissen wollen und ihren Lieblingssatz („Das kommt jetzt nicht ins Protokoll“) vor sich hertragen, steht ein chaotisches, überfordertes, konzeptloses Filmteam gegenüber. Seiner Sozialisation trägt Winkelmann durch starke Bilder, die gelungene Verschränkung von Video und Spiel und die filmisch kurzen Szenen Rechnung.

„Winkelmanns Reise ins U“ funktioniert auf mehreren Ebenen: Für jene, die die Protagonisten rund um den U-Turm kennen, sind ihre Bühnenkarikaturen ein herrlich amüsantes Fressen (vor allem, weil einige im Publikum sitzen) – auch deutlich zugespitzter als in seinem Buch. Das Stück aber ist auch eine liebevoll-kritische Bespiegelung des Ruhrgebiets und seiner Selbstzweifel. Und es bietet sich an als satirische Parabel auf das Gipfeltreffen von Kultur und Verwaltung, Kreativität und Bürokratie, wie es sich überall ereignen könnte.

Die Vision für das U ist am Ende grausig: Wegen zu hoher Betriebskosten wird es für die Öffentlichkeit gesperrt und von dem sich mit klugen Dienstplänen befassenden „Amt für Angelegenheiten des Dortmunder U“ besetzt.

(Dieser Text ist zuerst in der Westfälischen Rundschau erschienen).

Foto: Birgit Hupfeld




Die Kunst, die Putzfrau und Kippenbergers Kichern

Lasset uns offen und ehrlich sein: Im Kunst-Diskurs der Republik spielt Dortmund keine tragende Rolle. Jetzt aber berichten die Medien landauf, landab über einen musealen Vorfall, der einem elend bekannt vorkommt. Ja, es scheint sich hierbei um eine der regelmäßig wiederkehrenden urban legends zu handeln, wie sie immer mal wieder – in leicht variierten Formen – durch die Presse geistern.

Machen wir’s kurz, aber nicht schmerzlos: Eine Putzfrau hat ein teures Kunstwerk (Versicherungswert etwa 800 000 Euro) reinigen wollen und dabei offenbar irreversibel beschädigt. Leider geschehen im Dortmunder „U“, wo auch das Ostwall-Museum untergekommen ist.

Diesmal hat es mit dem in Dortmund geborenen Martin Kippenberger (1953-1997) einen Künstler getroffen, der selbst virtuos und artistisch auf dem Grat wanderte, ja tänzelte, welcher Kunst von Nicht-Kunst scheidet – oder eben auch nicht…

Die 1987 entstandene, jetzt gleichsam blitzblank weggeputzte Dauerleihgabe trägt den womöglich ironisch funkelnden Titel „Wenn’s anfängt durch die Decke zu tropfen“, zudem prangen sinnigerweise die Worte „Abstrus“, „Genugtuung“ und „Wiedergutmachung“ auf der Arbeit. Materiell sieht das Ganze so aus: Unter einem hohen Holzgestell steht ein Plastiktrog, dessen Kalkfleck nun verschwunden ist, was die Wahrnehmung natürlich wesentlich verändert. Eine Restauratorin hat bereits wissen lassen, das Werk sei nicht mehr im ursprünglichen Sinne wiederherstellbar. Auf die Reinigungsfirma bzw. deren Versicherung könnte einiges zukommen.

So weit, so glücklos.

Jetzt aber setzt wieder der altbekannte Mechanismus ein. Die überwiegend kunstferne Volksseele hegt nicht nur insgeheim Sympathien mit dem robusten Tun der Putzfrau. Wie, so fragt der immer noch existierende Gesamt-Spießer, soll man denn auch die neuere Kunst vom Unrat unterscheiden. Womit wir bereits bei ganz gefährlichen Positionen angelangt wären, die leicht Anschluss an extreme Umtriebe finden könnten. Beziehungsweise umgekehrt. Demagogen dürften hier einen bestens gedüngten Nährboden vorfinden.

Auch in der gewohnt launigen, heftigst augenzwinkernden Berichterstattung steht man in der Gefahr, niedere Instinkte und Vorurteile zu bedienen. „Ist das Kunst oder kann das weg?“ lautet in solchen Fällen einer der dümmlichen, aber noch harmloseren Standardsätze, die sogleich einrasten. Die stetige Unsicherheit, wie Kunst überhaupt noch zu fassen sei, ist das weit offene Tor, durch das diese Ressentiments Einlass finden.

Da kichert wohlfeil die Nation, da kräht der Stammtisch. Wie einst, als Joseph Beuys‘ Fettecke ein vergleichbares Schicksal zuteil wurde.

Nun gut. Kippenberger hätte über die Angelegenheit wahrscheinlich gefeixt. Die immerzu schwankenden Wertzuweisungen in Sachen Kunst waren gerade ihm bewusst. Just damit hat er ja gespielt wie sonst nur wenige.

Bei uns daheim: Fettecke "für aufs Brot". Und wehe, die macht jemand weg... (Foto: Bernd Berke)

Bei uns daheim: Fettecke "für aufs Brot". Und wehe, die macht jemand weg... (Foto: Bernd Berke)




Ist es im Dortmunder „U“ manchmal etwas unheimlich?

Neulich lag ich im Krankenhaus, als am Sonntagabend ein junger Kosovo-Albaner eingeliefert wurde. Als Bettnachbarn kamen wir ins Gespräch.

Er war beim Fußballspiel am Kopf verletzt und zur nächtlichen Beobachtung in mein Zimmer eingeliefert worden. Der etwa 30-jährige Mann erzählte mir auch von seiner Arbeit. Als Angestellter einer Sicherheitsfirma war er mit seinen Kolleginnen und Kollegen für die Bewachung im Dortmunder „U“ zuständig. Mit Kunst und Kultur in diesem Sinne hatte er nicht so viel am Hut, aber er stellte immerhin fest, dass er als Aufpasser oft ganz allein in den Räumen stehe. Kaum Besucher, und das, wo doch seine Firma so viel Geld für die Bewachung bekomme. Wer das denn wohl alles bezahlen müsse?


Jetzt legten auch die Offiziellen ihre ersten Besucherzahlen vor: Nur etwa die Hälfte der erwarteten Kulturfreunde wollten im vergangenen Jahr ins „U“-Gebäude. Sicher liegt das auch an der Dauerbaustelle, aber nachdenklich macht es trotzdem.

Da ist wohl noch sehr viel zu tun, um den Inhalt dieses architektonisch so attraktiven Projekts an die Frau und den Mann zu bringen.




„Die Chance darf man nicht verspielen“: Architekt Eckhard Gerber im Gespräch – nicht nur über Museumspläne fürs „Dortmunder U“

Von Bernd Berke

Dortmund. Die Pläne für ein großes Kunstmuseum im früheren Brauereiturm „Dortmunder U“ scheinen vorerst gescheitert zu sein. Jetzt will auch die Dortmunder SPD-Fraktion das Projekt aus Finanzgründen zumindest auf Eis legen. Auch über diese neue Entwicklung sprach die WR mit dem Dortmunder Architekten Prof. Eckhard Gerber, dessen Planungen zum Umbau des Turms weit vorangeschritten sind.

KUlturseite der WEstfälischen Rundschau vom 14.7.2006 – Bild: Architekt Prof. Eckhard Gerber mit seinem Modell des „Dortmunder U". (Foto: Bodo Goeke)

Kulturseite der Westfälischen Rundschau (WR) vom 14.7.2006 – Auf dem Bild: Architekt Prof. Eckhard Gerber mit seinem Modell des „Dortmunder U“. (WR-Foto: Bodo Goeke)

Was nun? Ist das Museums-Projekt etwa vom Tisch?

Eckhard Gerber: Ich denke nicht. Klar ist doch: Der „U-Turm“ steht. Es muss etwas mit ihm passieren. Das Museum wäre die beste Lösung. Die Zeit wird es wohl bringen, die Sache muss reifen. Die politische Diskussion darüber hat sich geradezu tragisch entwickelt. Das „U“ wäre doch eine ganz große Chance, ein auffälliges Bild von Dortmund in die Welt zu transportieren. Damit könnte man das Image der Stadt ruckartig verbessern. Eine Stadt wie Dortmund kann und muss so etwas wirtschaftlich verkraften.

Das sehen einige Politiker anders. Ihnen erscheinen Umbau und Folgekosten schlichtweg als zu teuer.

Gerber: Nun, jede Stadt versucht, ihr Image aufzupolieren. In Hamburg wird die Elbphilharmonie gebaut – für 160 Millionen Euro, davon wird etwa die Hälfte aus privatem Geld bestritten. Auch das „Dortmunder U“ müsste zu einer Gemeinschaftsaufgabe der Bürger und der Wirtschaft werden. Die Stadt kann es auch ohne Fördermittel des Landes schaffen, es ist eine Frage der Prioritäten. Das „U“ kostet 35 bis 38 Millionen Euro. Höhere Zahlen sind einfach aus der Luft gegriffen.

Und die Folgekosten?

Gerber: Auch die wird man stemmen können. Das Museum wäre das Dortmunder Highlight zur Kulturhauptstadt Europas 2010. Eine große Chance, die nicht verspielt werden darf.  Nur mit diesem Projekt könnte Dortmund, die siebtgrößte Stadt Deutschlands, seine Position z. B. gegenüber Essen behaupten und über den Fußball hinaus internationale Aufmerksamkeit erreichen. Andernfalls würden wir im provinziellen Schlaf versinken.

Dortmunds CDU und FDP hatten bereits einen Bürgerentscheid gegen die Museumspläne angesteuert.

Gerber: Die Sache darf nicht zum politischen Ränkespiel werden. Man muss den Bürgern vermitteln, dass das Museum im „U“ notwendig ist, um unser Bild in der Welt neu zu formulieren.

Der Dortmunder Fall hat Hintergründe. Jährlich gibt es neue Besucherrekorde beim, „Tag der Architektur“. Zugleich verschärft sich der Wettbewerb der Städte um Wahrzeichen. Ist Baukunst bedeutsamer geworden?

Gerber: Es gibt zwei wichtige Aspekte, die Architektur ausmachen. Zum einen die Bedeutung von Architektur als Imageträger, zum anderen Architektur als uns ständig umgebender Lebensraum: Wir leben stets in und mit Architektur. Sie kann uns motivieren, aber auch traurig machen.

Wie verhält es sich mit der Städte-Konkurrenz?

Gerber: Architektur war immer schon ein Träger von einprägsamen Bildern. Eine Stadt verkörpert sich als „Bild“. Bei Paris denkt man gleich an den Eiffelturm, bei Köln an den Dom, bei Sydney an die Oper, bei Bilbao neuerdings an das GuggenheimMuseum von Frank Gehry. Ein solches Bild von Dortmund gibt es nicht – bestenfalls mit der Westfalenhalle: Auswärtige sehen die Stadt zuerst immer noch als einen Ruhrpott-Ort der Zechen und Stahlwerke. Doch dieser Stadt ist längst ein Ort von High Tech, Dienstleistung, Kultur und viel Grün. Die Wirtschaft muss fähige Menschen in die Städte holen. Dabei ist Kultur ein wichtiger Faktor.

Wie sehen Sie die Entwicklung des Ruhrgebiets?

Gerber: Die Region hat mit dem Niedergang von Kohle und Stahl eine enorme Entwicklung durchgemacht. Die neuen Universitäten waren treibende Kräfte. Trotzdem: Die Revierstädte sind noch zu unscheinbar. Eine Ausnahme wäre Essen mit der Zeche Zollverein, die ursprünglich abgerissen werden sollte. Heute ist sie ein international bekanntes Bild der Stadt, ein Ort der Kultur. Die neue Nutzung alter Industriegebäude stiftet neue Identitäten.

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HINTERGRUND

Es bleibt die Kostenfrage

  • Eckhard Gerber hat u. a. entworfen: Harenberg City-Center und RWE Tower (Dortmund), Stadthalle (Hagen), Marktplatzbereich der Neuen Mitte (Bergkamen, 1993), Neue Messe (Karlsruhe), King Fahad Nationalbibliothek (Riad/Saudi-Arabien).
  • Gerbers Museums-Entwurf fürs „Dortmunder U“ wird von der Stadtspitze favorisiert.
  • Das „U“ sollte nicht nur die Sammlungen des Ostwall-Museums (inklusive Depot) aufnehmen, sondern auch Medienkunst sowie Werke des 19. Jahrhunderts aus der Berliner Stiftung Preußischer Kulturbesitz („Kleine Nationalgalerie“).
  • Bleibt die Kostenfrage: Zum „Dortmunder U“ strebten CDU und FDP letztlich einen Bürgerentscheid gegen die Museumspläne an, für den mindestens 90 000 Stimmen erforderlich wären.
  • Jetzt hat sich auch die SPD-Fraktion festgelegt: Ohne Fördermittel des Landes NRW könne Dortmund das Museum nicht finanzieren, heißt es.
  • Dortmunds Kulturdezernent Jörg Stüdemann, Befürworter des Museums, zur WR: „Da ist eine ungute Konflikt-Dynamik entstanden.“

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KOMMENTAR

Eine Hängepartie

Der Umbau des Dortmunder „U“-Turms zum Museum steht in allen Prospekten zur Revier-Bewerbung als Kulturhauptstadt 2010 – als sei er schon fertig. Mag sein, dass auch dieses ehrgeizige Projekt der Jury in Brüssel imponiert hat.

Bei aller Sympathie für kulturelle Visionen kann man die prekäre Finanzlage der Stadt nicht übersehen. Ohne Fördergeld des Landes und private Mittel dürfte das Großvorhaben kaum zu schultern sein. Beide Geldquellen sind noch nicht aufgetan. Man kann nur hoffen, dass sich dies ändert. Eine Hängepartie. Also Zeit für eine Denkpause.

Natürlich ist der Architekt Eckhard Gerber in diesem Falle auch „Partei“. Ganz klar, dass er das Wort fürs „U“-Museum ergreift. Doch hat der Mann Unrecht?

Eine solche Chance, bundesweit auf sich aufmerksam zu machen, kommt wohl so schnell nicht wieder. Und ein Fußball-Museum als „Ersatz“, von dem manche schon reden? Tja, das würde prima zum althergebrachten Dortmunder Image passen.

                                                                                                                               Bernd Berke

 




Dortmunder „U“: Der Turm, die Stadt und die Kunst – Gespräch mit Kurt Wettengl, dem Direktor des Ostwall-Museums

Dortmund. Die Museumslandschaft Dortmunds steht vor einem folgenschweren Umbruch. Das traditionsreiche Ostwall-Museum soll etwa 2009 oder 2010 in den ehemaligen Brauereiturm „Dortmunder U“ umziehen. Ein Architektenwettbewerb zum Umbau läuft. Bereits im Mai soll eine Jury die besten Entwürfe auswählen, dann muss der Stadtrat über das Großprojekt entscheiden. Ein Gespräch mit Ostwall-Direktor Dr. Kurt Wettengl.

Frage: Sie waren jahrelang in Frankfurt am Main tätig. Damit verglichen ist doch die Dortmunder Museumsszene etwas dürftig, oder?

Kurt Wettengl: Die beiden Städte sind halt sehr unterschiedlich. Es gibt in Frankfurt etwa zehn städtische Museen, die viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen, die sich aber auch gegenseitig Konkurrenz machen. In Dortmund liegen die Dinge klarer: Hier gibt es das historische Museum an der Hansastraße, das naturkundliche Museum und eben das Ostwall-Museum für Kunst, dazu ein paar kleinere Spezialmuseen. Damit sind die wesentlichen Bereiche abgedeckt.

Warum brauchen wir trotzdem das „Dortmunder U“?

Wettengl: Dort hätten wir viel mehr Platz für die Ostwall-Sammlung. Ungefähr 5200 Quadratmeter statt etwa 1600 am jetzigen Standort. Man könnte dann manches aus den Depots hervorholen, beispielsweise Video-Installationen.

Ist denn der fensterlose Brauereiturm als Ausstellungsort für Kunst geeignet?

Wettengl: Ich hab mir die Situation angesehen. Die großen Räume sind im Prinzip sehr gut geeignet. Es kommt natürlich auf die Umbaupläne der Architekten an. Auch darauf, wie das Gelände erschlossen wird. Die Beleuchtung wird nicht ganz einfach sein. Aber wenn alles gelingt, wäre das Haus ein Anziehungspunkt fürs gesamte Ruhrgebiet. Mindestens.

Was geschieht nach einem Umzug mit dem bisherigen Ostwall-Gebäude?

Wettengl: Die Ratsmehrheit hat bereits beschlossen, dass das „U“ Vorrang genießt und dass man die konkurrierende Idee eines Ausbaus am bisherigen Standort nicht weiter verfolgt. Was aus dem jetzigen Haus wird, weiß ich nicht. Das ist eine politische Frage.

Wäre denn ein Verkauf oder gar ein Abriss tatsächlich denkbar? Würde das nicht zu Protesten weit über Dortmund hinaus führen?

Wettengl: Nun, das Gebäude hat eine Geschichte, es ist ein Ort der Erinnerung. Viele Kunstfreunde hängen einfach daran – auch emotional. Das Haus ist nicht zuletzt ein Symbol für den demokratischen Aufbruch in der Nachkriegszeit. Es wäre schon gut, wenn es weiterhin kulturell genutzt würde.

Es gibt Stimmen, die sagen, das Haus könne zu einem „Museum der Sammler“ umgewidmet werden, zu einem Platz für mäzenatische Leihgaben oder Schenkungen.

Wettengl: Mh, davon höre ich jetzt zum ersten Mal. Aber wenn der Beschluss fürs „U“ gefasst ist, wird man sich schon Gedanken machen.

Ist eigentlich noch die Idee lebendig, dass die großen Museen der Region ihre Bestände zeitweise austauschen oder zu einer großen Schau zusammenlegen?

Wettengl: Der Gedanke lebt immer mal wieder auf, ist aber zur Zeit etwas eingeschlafen. Falls Essen und das Ruhrgebiet Europäische Kulturhauptstadt 2010 werden, könnte die Idee zu einem gemeinsamen starken Auftritt allerdings wieder befördert werden.

Woher kommen eigentlich Ihre Besucher am Ostwall?

Wettengl: Manchmal aus Düsseldorf oder Köln. Meistens aber aus Dortmund selbst und aus der näheren Umgebung: Münsterland, Sauerland, Kreis Unna. Mit dem „Dortmunder U“, das sehr nah am Hauptbahnhof liegt, würde sich das Einzugsgebiet wohl erheblich vergrößern.

Wird Ihnen die Fußball-WM mehr Besucher bringen? Oder sind das ganz verschiedene Zielgruppen?

Wettengl: Ich glaube schon, dass auch wir davon profitieren werden. Viele Gäste kommen nicht nur wegen des Fußballs nach Deutschland. Sie wollen auch die WM-Städte und ihre Kultur kennen lernen. Neulich war schon ein Fernsehteam aus dem Teilnehmerland Trinidad-Tobago bei uns im Museum. Wir werden ab 8. Juni einen „WM-Erfrischungspavillon“ haben: eine Ausstellung über Kioske im Revier, unter anderem mit selbst kommentierter Live-Übertragung vom Spiel Brasilien – Japan aus dem Dortmunder Stadion.

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HINTERGRUND

Ein Umzug ins „U“ wird nicht billig

  • Dr. Kurt Wettengl ist seit rund einem Jahr Chef des Dortmunder Museums am Ostwall.
  • Das markante, 1926/27 errichtete „Dortmunder U“ war früher das Gär- und Lagerhaus der Union-Brauerei.
  • Insgesamt könnte der U-Turm auf sechs Geschossen 11000 Quadratmeter Museumsfläche bieten.
  • Neben den Ostwall-Beständen, die um 2010 hierher umziehen sollen, gäbe es noch reichlich Platz für bisher nicht gezeigte Video-Installationen der Ostwall-Sammlung, für die „Kleine Nationalgalerie“ (Kunst des 19. Jahrhunderts / Leihgaben aus Berlin), ein Kindermuseum und Depots.
  • Die Umbaukosten sollen rund 34 Millionen Euro betragen, der Innenausbau dürfte weitere 3 Mio. Euro kosten. Später werden laufende Betriebskosten anfallen.
  • Die Stadt Dortmund hofft auf Zuschüsse vom Land – in Höhe von mindestens 50 Prozent der Baukosten. Bisher gibt es noch keine Zusage aus Düsseldorf.

(Der Beitrag stand in ähnlicher Form am 4. April 2006 in der „Westfälischen Rundschau“, Dortmund)