Feiertagskinder, der Norden und literarische Hasstiraden – drei Neuerscheinungen von Gewicht

Im Vorfeld der Buchmesse stellen wir drei empfehlenswerte Neuerscheinungen vor:

Man mag Eduard von Keyserling (1855-1918) einsortieren, wie man will: generell als modernen Klassiker, schon etwas spezieller als einen „Impressionisten“ der deutschsprachigen Literatur, persönlich als prägenden Protagonisten der Schwabinger Bohème um 1900 – und was dergleichen Schubladen mehr sind. In Wahrheit überragt er solche Zuschreibungen bei weitem. Dass wir so einen hatten in unserer Literatur, ist ein Glücksfall.

Und so ist es durchaus erfreulich, dass sein Werk jetzt wieder präsent ist, weil der Manesse Verlag die „Schwabinger Ausgabe“ seiner Werke herausbringt; allerdings nicht im sonst verlagsüblichen, handlichen Kleinformat, das von der Inhaltsfülle gesprengt worden wäre.

Mit dem Titel „Landpartie“ über den gesammelten Erzählungen (Zeitrahmen von 1882 bis 1918) bewegt man sich verbal in den Gefilden jener Landlust, wie sie seit Jahren zum Zeitgeist gehört. Eduard von Keyserling hat mit derlei Moden natürlich nichts gemein. Möge der leise Anklang seinem Schaffen nur mehr Leser(innen) zuführen.

Jetzt ist der zweite Band der Ausgabe erschienen, er heißt „Feiertagskinder“ und enthält die späten Romane des Schriftstellers: das hier bereits ausführlicher besprochene Werk „Wellen“ (1911), außerdem „Abendliche Häuser“ (1914), „Fürstinnen“ (1916) und eben „Feiertagskinder“ (posthum 1919); jeder einzelne ein Meisterstück für sich.

Es ist ein Buch von einigem Gewicht und doch im Fortgang von wundervoller Leichtigkeit. Welch eine erlesene Noblesse und Eleganz im Stil, die ungeahnte Nuancen erfasst! Zu gewärtigen ist der wehmütige, freilich mit feinfühliger Distanz gestaltete Abschied von überkommenen Sitten und Werten Europas. Es ist große Literatur einer Dekadenz-Epoche, die im furchtbaren Ersten Weltkrieg mündete. Sage bloß niemand, das alles gehe uns nicht mehr viel an.

Am Schluss des Bandes finden sich – hinter den hilfreichen Anmerkungen – noch ein paar Keyserling-Würdigungen berufener Zeitgenossen, so etwa von Lion Feuchtwanger und Thomas Mann. Letzterer benennt die literarischen „Verwandten“ Keyserlings: allen voran Fontane, sodann Turgenjew und Herman Bang. Wahrlich eine würdige Reihe. Und was schrieb der wunderbare Robert Walser über Keyserling? Diese Zeilen: „Er kam mir vor wie das Prachtexemplar eines Löwen… Der Löwe ist doch König in seinem Reich. Ein aussterbender König. Ein solcher war auch Eduard von Keyserling.“

Eduard von Keyserling: „Feiertagskinder“. Späte Romane (Hrsg.: Horst Lauinger). 720 Seiten, 28 Euro.

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Gleich eine ganze Himmelsrichtung hat sich Bernd Brunner vorgenommen. Sein neues Buch „Die Erfindung des Nordens“ firmiert laut Untertitel als „Kulturgeschichte einer Himmelsrichtung“. Gut möglich, aber nicht wesentlich, dass Brunner beim Verfassen eines früheren Buches („Als die Winter noch Winter waren“) auf die nördliche Idee verfallen ist.

Der Autor beleuchtet das Thema von allen Seiten her. Da kommt etwa der Norden als Phantom früherer Zeiten in Betracht, als die Erde noch nicht „entschleiert“ war und jene Terra incognita dort droben mancherlei Phantasien beflügelte. Es geht um Grundsatzfragen wie die, was und wo überhaupt der Norden sei. Für Goethe hat er bereits nördlich des Brenners begonnen, andere siedeln ihn viel näher am Nordpol an. Die geistigen und geographischen Grenzen sind allemal fließend.

Ferner erfahren wir, wie sich die Idee vom Norden u. a. in Opposition zu den Vorstellungen vom Süden konstituiert und entwickelt hat. Selbstverständlich spielt auch die fatale Ideologie vom „Nordischen“ eine Rolle, die von den Nazis auf die Spitze getrieben wurde. Und schließlich reicht das Spektrum bis hin zum herzzerreißend aufrüttelnden Klimawandel-Inbild aus unseren Tagen: dem Eisbären auf schmelzender Scholle.

Eine Charakteristik der im Norden lebenden Menschen gehört überdies ebenso zum üppigen Lieferumfang wie die Ansichten von Philosophen und Schriftstellern, die sich zum Norden geäußert haben.

Ein äußerst weites Feld also – und ein kundiger Autor mit weitem Horizont, der ähnlich spannende Bücher schreibt wie einst der Historiker Wolfgang Schivelbusch, der beispielsweise bahnbrechende Studien zur Geschichte der Eisenbahnreise, der künstlichen Helligkeit und der Genussmittel verfasst hat.

„Die Erfindung des Nordens“. Kulturgeschichte einer Himmelsrichtung. Verlag Galiani Berlin. 240 Seiten mit Bildteil. 24 Euro.

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Karl Heinz Bohrer dürfte einer der profiliertesten Intellektuellen der Republik sein. Wenn sich dieser Homme de Lettres ein Thema vornimmt, gewinnt es sozusagen wie von selbst Dringlichkeit und Dignität. Sein jüngstes Werk heißt „Mit Dolchen sprechen“ und handelt vom literarischen Hass-Effekt. Der Dolch-Titel leitet sich übrigens von einer Szene in Shakespeares „Hamlet“ her.

In Zeiten des allgegenwärtigen Hate Speech – nicht nur, aber besonders im Internet – kann Bohrers Untersuchung erst recht Aufmerksamkeit beanspruchen. Der Autor geht gleichermaßen mit Inspiration und Gründlichkeit vor. Die Entfaltung der literarischen Hassrede wird von Marlowe und Shakespeare über Baudelaire, Strindberg, Céline und Sartre bis hin zu Rolf Dieter Brinkmann, Thomas Bernhard, Elfriede Jelinek und zum aktuellen Literaturnobelpreisträger Peter Handke verfolgt.

Man ahnt bei dieser Aufzählung schon, dass zumal die neuere österreichische Literatur hier einiges zu bieten hat. Mit Michel Houellebecq schließlich gelangt, wie Bohrer darlegt, das von Hass getriebene Schreiben an einen (vorläufigen) End- oder Wendepunkt.

Man fragt sich, wieso bisher noch niemand dieses zentrale Thema dermaßen genau in den Blick genommen hat. Es wird deutlich, dass der Hass geradezu ein grundlegendes Element des Literarischen ist, welches die Sprache überhaupt (ver)formt und verwandelt. Und immer wieder war zu sehen: Wer sich in einen Hass hineinsteigert, ist auf dem Wege, auch die Ausdruckskraft seiner Sprache zu steigern. Allerdings bedarf es dazu sprachlichen Könnens auf hohem Niveau. Einer, dem nur dumpfe Kraft- und Schimpfworte zu Gebote stünden, der gehörte ganz und gar nicht in solche Zusammenhänge. Fluchen reicht nicht.

Karl Heinz Bohrer: „Mit Dolchen sprechen. Der literarische Hass-Effekt“. Suhrkamp Verlag, 493 Seiten, 28 Euro.

 




Es glitzert das Meer, es funkelt die Seele – Eduard von Keyserlings famoser Roman „Wellen“

Bereits das Baudelaire-Motto, das Eduard von Keyserling (1855-1918) seinem Roman „Wellen“ vorangestellt hat, lässt keinen Zweifel: Das Meer und die Menschenseele, so heißt es da sinngemäß, sind so tief, dass sie ihre Geheimnisse letztlich niemals preisgeben.

Immer wieder spiegeln sich in diesem Roman seelische Regungen in den wechselhaften Erscheinungen des Meeres. Sozusagen jede Farbstufe und jeder neue Lichteinfall werden da sprachlich zum Funkeln gebracht – soweit und so genau, wie es irgend geht. Dieses Werk um des Meeres und der Liebe Wellen darf als Zeugnis des literarischen Impressionismus gelten. In etlichen Passagen fühlt man sich an flirrende Gemälde jener Stilrichtung erinnert. Doch es ist beileibe kein unvermischtes Schwelgen. Schon auf Seite 8 heißt es vielsagend: „Das kränkliche Knabengesicht verzog sich, als täte all dieses Licht ihm weh.“ Tatsächlich wächst der Roman vor allem im höchst individuell geschilderten Leiden seiner Figuren weit über Stil-Attitüden hinaus.

Das bloße Gerüst der Geschichte sieht, flüchtig von heute aus betrachtet, zunächst nach Klischee aus. Aber da täuscht man sich gründlich, so nuanciert und fein schattiert wird hier erzählt, durchaus auf den literarischen Höhen etwa eines Theodor Fontane.

Da ist die ätherisch schöne Doralice, Gattin eines weitaus älteren Mannes von Adel. Als der seine „Erwerbung“ zur Ausschmückung der kostbaren Gemächer malen lässt, bricht sie mit dem Künstler namens Hans Grill aus dem Goldenen Käfig aus und zieht zu ihm. Für damalige Zeiten eine Ungeheuerlichkeit. Der Roman stammt aus dem Jahre 1911.

Die gesellschaftliche Empörung über den Fehltritt wird am Beispiel einer vermeintlich hochwohlanständigen Familie von Rang dargestellt, die sich in Gestalt der präsidierenden Generalin von Palikow als Festung der Moral begreift, deren männliche Vertreter freilich auch insgeheim von jener Doralice doppelmoralisch entzückt sind. Die halbwüchsigen Töchter überlassen sich derweil, wenn sie Doralice nur von fern am Strande wandeln sehen, ebenso unbegriffenen wie verbotenen Träumen von sündhafter Übertretung. Da lodert Gefahr.

Zudem gibt es einige grandios skizzierte Nebenfiguren, die das Geschehen aus der Mittelachse rücken. Im ironischen Sinne besorgt dies mit spitzen kleinen Bemerkungen Fräulein Malwine, die Gesellschafterin der Generalin. Den eher diabolischen Part spielt ein gewisser Herr Knospelius, der nahezu allgegenwärtig das anschwellende Unglück begleitet.

Als die Handlung einsetzt, ist Doralice schon vom einfachen Leben enerviert, das der Maler in flammenden Worten als das einzig wahrhaftige preist. In der Fischerhütte ist es für eine Dame ihrer Herkunft nun einmal nicht bequem, in dieser Kartoffelsuppen-Zweisamkeit hilft kein ideologischer Überbau. Der Sprung in die Freiheit hat ihre Kräfte aufgezehrt. Quälend ist es zu lesen, wie die beiden bereits wieder auseinander driften, Satz für Satz, Wort für Wort. Noch dazu wird sie alsbald von einem feschen Leutnant bestürmt…

Über der Handlung, die zur Sommerfrischenzeit an der Ostsee spielt, liegen eine lastende, somnambule Schwüle, vorgewittrige Stimmung, seelische Überspanntheit und Migräne. Die Zeit erscheint hochsommerlich träge, fast wie angehalten. In diesem Zwischenreich des Ennui könnte schier alles geschehen, die Grundfesten der Gesellschaft könnten erschüttert werden. Könnten. Doch das ist wohl nur glitzernde Sinnestrübung. Auch in solcher Hinsicht bleibt Keyserling, grad zwischen Hoffen und Bangen, Resignation und Heiterkeit, völlig illusionslos.

Eduard von Keyserling: „Wellen“. Roman. Nachwort von Florian Illies. Manesse Verlag, Zürich. 254 Seiten, 19,95 Euro.