Der Tod kommt mit der Haarnadel: Puccinis „Tosca“ in Osnabrück als zeitlose Erzählung über Macht und Einsamkeit

Floria Tosca (Lina Liu) ist entsetzt über die Folgen der Folter bei ihrem Geliebten Cavaradossi (Ricardo Tamura). Im Hintergrund der Polizeichef Scarpia (Rhys Jenkins). Foto: Jörg Landsberg

Floria Tosca (Lina Liu) ist entsetzt über die Folgen der Folter bei ihrem Geliebten Cavaradossi (Ricardo Tamura). Im Hintergrund der Polizeichef Scarpia (Rhys Jenkins). Foto: Jörg Landsberg

„Tosca“ zu inszenieren, ist eine Herausforderung. Giacomo Puccinis politisches Kriminalstück lässt mit seinem eindeutigen fiktiv-historischen Setting wenig Spielraum für eine assoziative Anreicherung. Alle möglichen Varianten, ob radikale Vergegenwärtigung oder bewusste Brüche mit dem Handlungsverlauf, sind schon erprobt und können meist getrost verworfen werden.

Ob Tosca am Ende nicht springt oder Scarpia überlebt, ob die Diva ihrem dominanten Peiniger verfällt oder der Polizeichef sich in den Maler verliebt: Zum Verständnis des Stücks, zur tieferen psychologischen Ausleuchtung der Figuren oder gar zu einer überraschenden neuen Perspektive tragen solche aufgesetzten Gimmicks meist nichts bei.

In Osnabrück haben Regisseurin Mascha Pörzgen und ihr Ausstatter Frank Fellmann nun einen bedachtsamen Weg gewählt, nicht mit Gewalt aktualisierend, aber auch nicht mit Rückgriff auf das Bildrepertoire eines historisierenden Dramas. In neutralem Ambiente – nur die aus einer Wand wachsenden Körperteile erinnern an ein „Jüngstes Gericht“ – arbeitet Cavaradossi an einem raumfüllenden Gemälde.

Alptraumlandschaft statt Engelsburg

Der Palazzo Farnese ist minimalisiert auf eine rote Couchlandschaft, eine düster glänzende Pferdeskulptur, der eine Schirmlampe aus dem Kopf wächst und – einziger Hinweis auf den Schauplatz der „Tosca“ – ein langsam verblassendes Panorama Roms mit der dominierenden Kuppel von S. Pietro. Der Schreibtisch, das Symbol modern, nämlich bürokratisch ausgeübter Macht fehlt. Der dritte Akt zeigt eine zerklüftete Spielfläche, schwarzen Schollen, umstellt von riesigen Staffeleien mit den Bildern der Maddalena, zwischen denen Tosca am Ende in eine unbestimmte Tiefe springt. Ein Bild, das sich vom Realismus der Vorlage entfernt und das Geschehen beinahe in eine (Alp-)Traumlandschaft verlegt.

Eine Puccini-Sängerin, die keine Wünsche offen lässt: Lina Liu als Tosca. Foto: Jörg Landsberg

Eine Puccini-Sängerin, die keine Wünsche offen lässt: Lina Liu als Tosca. Foto: Jörg Landsberg

Diesen Raum nutzt Mascha Pörzgen, um unaufgeregt und ohne aufgesetzte Effekte zu inszenieren. Sie hat schon in anderen Arbeiten – zuletzt ein poetisches „Schlaues Füchslein“ in Hagen – gezeigt, dass sie die Personen genau beobachtet und ihre inneren Motive sprechend ausformen kann. In Osnabrück folgt ihr in dieser Intention vor allem die makellos singende Lina Liu als Floria Tosca. Ihr erster Auftritt in der „Kirche“ (religiöse Bezüge werden weitgehend zurückgenommen) ist eine detailreiche Studie einer kapriziösen Frau, so selbstbewusst wie eifersüchtig-unsicher, auf ihre Gefühle und ihre kleine Kunst-Welt konzentriert, unmittelbar und ohne innere Reflexion oder Distanz reagierend und von daher für den zynischen Strategen Scarpia ein leichtes Opfer.

So geriert sich Liu auch im zweiten Akt: Toscas Zusammenbruch ist vollkommen, sie hat dem gierigen Scarpia nichts entgegenzusetzen und ist ihm schon erlegen, noch bevor er die seelische Folter richtig anlegt. Umso überraschender die Wendung, wenn Tosca in höchster Verzweiflung ihre Frisur rauft und eine der langen, stabilen Haarnadeln in die Hand bekommt …

Scarpia bleibt ein steifer Geselle

Pörzgens Konzept, sich auf die Personen zu konzentrieren, geht bei den anderen Hauptdarstellern nicht so abgründig auf: Rhys Jenkins ist zwar ein glorios singender Scarpia, wenn er nicht gerade das Forte mit Gewalt herausdrückt, aber als Darsteller ein steifer Geselle. Der eiskalt berechnende, überlegen gefährliche Polizeichef wirkt wie ein gemütlicher Bär, der auch einmal ein Abenteuer erleben will. Seine unbeherrschten Ausbrüche sind plump, seine abgründige Autorität glaubt man ihm nicht. Mimik und körperliche Reaktionen zeigt der Mann mit dem wuscheligen grauen Haar so gut wie keine. Die unbeherrschte Aggressivität – er würgt den Boten der Nachricht von der Niederlage der Österreicher in der Schlacht bei Marengo – passt nicht zum subtilen Sadismus: Scarpia weidet sich an den Qualen seiner Opfer, bevor er sich auf sie stürzt. Bei Jenkins bleiben diese Aspekte vordergründig.

Mit Ricardo Tamura hat Osnabrück einen Tenor mit italienischem Timbre, der aber – trotz eines tollen Diminuendos in „E lucevan le stelle“ – mit langsam rollendem Vibrato und mühevoll angestrebter Flexibilität singt. Über viele Farben verfügt seine Stimme nicht, aber die Phrasierung und die melodische Sensibilität seines Singens nehmen für ihn ein. Die übereifrigen Bravo-Rufe, vermutlich eines Claqueurs oder Fans, waren eher peinlich. In den kleineren Rollen lässt Mark Hamman etwas von den Existenzängsten des subalternen Spoletta ahnen, José Gallisa gurgelt sich mit plumpem Auftritt durch die Partie des Angelotti, Gennadijus Bergorulko gibt den Mesner in einem Pullover in den Farben der italienischen Trikolore als den üblichen windelweichen Schelm mit Schluckauf.

Der Traum einer leidenden Seele

Das Zwischenspiel vor dem dritten Akt entwickelt Mascha Pörzgen zu einem sinnreichen Moment innerer Reflexion, aber auch einem Signal der Einsamkeit: Sie inszeniert einen Traum des schlafenden Cavaradossi, in dem der sensibel singende Leander Averdiek statt als Hirtenstimme hinter der Szene eine von Goldlicht überstrahlte Symbolfigur wird: Traum einer glückenden Existenz oder Manifestation einer leidenden Seele, die sich nur jenseits einer brutalen Realität melancholisch ausdrücken kann? Die Waffensegnung im „Te Deum“ dagegen bringt höchstens leere Provokation; der Machtkomplex von Religion und Politik zeigt sich nicht in Uniformen und Gewehren, sondern in der kaum sichtbaren Infiltration der Lebensbereiche: Scarpia ist ein Geheimdienstler, kein General.

Wieder einmal zeigt Andreas Hotz mit dem Osnabrücker Symphonieorchester, wo seine Stärken als Dirigent liegen: Die knappe Einleitung ist in ihrer ganzen Dichte erfasst; Hotz nimmt sie nicht als stimmungsbildendes Entrée, sondern als kompositorische Delikatesse in ihren Sequenzierungen, ihrer scharfen Rhythmik, ihren pointierten Bläsermotiven, ihren Akzenten und dynamischen Nuancen. So nähert er sich der Partitur nicht aus der Sicht eines schwelgerischen Connaisseurs, sondern eines genauen Beobachters und Gestalters.

Faszinierende Farben im Orchester

Hotz interessiert sich auch nicht für knallige Dramatik, sondern hört die lyrischen Aspekte von Puccinis Musik aus. Das führt zu faszinierenden Farben, weil auch das Orchester diesem eher verhaltenen Ansatz folgt. Manchmal wünschte man sich jedoch einen saftigeren Melodiefluss, einen energisch durchgezogenen Bogen und im berühmten, von Glockenklängen durchzogenen römischen Morgengrauen, eine zupackendere Akzentuierung. Die untergründigen Aspekte der Musik bleiben zahnlos.

Sierd Quarré hat Chor und Kinderchor für das „Te Deum“ auf Klarheit und sonore Wucht eingeschworen; die Kinder agieren in Alltagskleidung und betonen so die Zeit- und Ortlosigkeit einer Handlung, die mehr über die subtilen Mechanismen eines politisch-religiösen Machtkomplexes verrät, als die pseudo-historische Einkleidung des Stücks glauben machen will.

Weitere Vorstellungen: 30. Januar; 8., 19., 22. Februar; 1., 16., 28. März; 2., 9., 17., 27. April. Info: www.theater-osnabrueck.de




87 Jahre nach der Premiere: Theater Osnabrück entdeckt Hans Gáls faszinierend vielfältige Oper „Das Lied der Nacht“

Lina Liu in Hans Gáls "Das Lied der Nacht" am Theater Osnabrück. Foto; Jörg Landsberg

Lina Liu in Hans Gáls „Das Lied der Nacht“ am Theater Osnabrück. (Foto: Jörg Landsberg)

Wer sich auf „Das Lied der Nacht“ von Hans Gál einlässt, taucht tief hinab ins Unterbewusste, in die Welt geheimnisvoller Symbole, vieldeutiger Bilder. Schon der Titel öffnet den Raum der Interpretation und Assoziation: Steht das „Lied“ nicht für die Macht der Musik als der „heiligsten“ aller Künste mit ihrer transzendierenden Kraft? Steht die „Nacht“ nicht für das unergründliche Reich, in dem der Romantiker das wahre Wesen der Dinge erfährt, in dem Bergendes und Bedrohendes in ambivalentem Wechsel auf die Seele einwirken? In dem auch die Psychoanalyse und die Traumforschung den innersten Kräften des Menschen auf die Spur zu kommen hoffen?

In der Tat: „Das Lied der Nacht“, das am Theater Osnabrück nun nach 87 Jahren eine heftig applaudierte Wiederaufführung erlebte, lässt sich von mannigfaltigen Standpunkten aus erschließen. Die Geschichte aus einem mythischen sizilianischen Reich, dessen König tot und dessen Prinzessin keinen Gatten wählen will, könnte als Märchen gelesen werden: Eine Schwester der Prinzessin Turandot (Puccinis Oper hatte genau einen Tag nach Hans Gáls Werk Premiere!), die sich dem Mann verweigert und durch die Rettungstat eines geheimnisvollen Unbekannten die Liebe erfährt.

Zu Gast in Osnabrück: Eva Fox Gál, die Tochter des Komponisten. In einem Foyergespräch berichtete sie aus dem Leben ihres Vaters, der 1933 als Direktor der Mainzer Musikhochschule abgesetzt wurde, in seine österreichische Heimat floh und nach dem "Anschluss" 1938 aus Wien nach London emigrieren musste. Hans Gál lebte bis zu seinem Tod 1987 in Edinburgh. Foto: Werner Häußner

Zu Gast in Osnabrück: Eva Fox Gál, die Tochter des Komponisten. In einem Foyergespräch berichtete sie aus dem Leben ihres Vaters, der 1933 als Direktor der Mainzer Musikhochschule abgesetzt wurde, in seine österreichische Heimat floh und nach dem „Anschluss“ 1938 aus Wien nach London emigrieren musste. Hans Gál lebte bis zu seinem Tod 1987 in Edinburgh. (Foto: Werner Häußner)

Oder als Künstleroper über die Macht der Musik, die nur wirkt, wenn sie ein Künstler aus dunkel-schöpferischem Urgrund heraus zum Klingen bringt, aber scheitert, wenn er als konkrete Person ins Licht der Dinge tritt. Der „Name“ des mysteriösen Sängers, der die Prinzessin nachts durch sein Lied bewegt und sie schließlich vor dem gewalttätigen Zugriff eines Freiers rettet, spielt ebenso eine wichtige Rolle wie der Kuss, den der schwarzverhüllte Mann fordert.

„Turandot“ lässt grüßen – wenn auch Gál und Puccini nichts von den Plänen des jeweils anderen gewusst haben dürften: ein Zeichen, wie die Themen damals in der Luft lagen. Im Gegensatz zu Puccinis von ihm unkomponiertem Finale, einer Apotheose der Liebe, geht Hans Gáls Werk tragisch zu Ende. Die Prinzessin ist schockiert, als sich zeigt, wer der „unbekannte Sänger“ in der Realität ist – und dieser tötet sich vor ihren und des ganzen Volkes Augen.

Mascha Pörzgen hat die vielgestaltige Musik und das präzise, manchmal überdeutlich erklärende Libretto des Dichters Karl Michael von Levetzow in einer Inszenierung umgesetzt, die sich auf die gescheiterte Entwicklung eines Mädchens an der Bruchstelle vom Kind zur Erwachsenen konzentriert, aber die romantischen Seiten nicht aus dem Blick verliert.

Konfrontiert mit der Forderung des Staates, ihre Existenz über ihren privaten Raum hinaus zu gestalten – Heirat und Wahl eines Königs –, flüchtet Prinzessin Lianora in den Rückzug. Aber die bergende Aufnahme in ein Kloster wird ihr verweigert: Eine riesenhafte Erscheinung, die „steinerne“ Äbtissin, verweist sie zurück auf „die Nacht“ in ihr selbst und auf das „Erbeben“ – die Wahrnehmung der eigenen Person. Lianora, das ist eine „Raupe“, die sich erst entwickeln muss: Frank Fellmann, der Ausstatter, hat dafür eine szenische Chiffre gefunden – das bunte Kinderkleidchen von Lianora, das sie nicht ablegen wird.

Beziehungsreich symbolhafte Bilder

Mit der nächtlichen Trias von Lied, Rettung und Kuss könnte der unbekannte Sänger Lianora den Schritt zur gefestigten Persönlichkeit, zur bewusst angenommenen Sexualität, zur heilenden Kraft der Liebe öffnen. „Wie anders ist die Welt“, bekennt Lianora. Pörzgen inszeniert den traumversponnenen zweiten Akt in beziehungsreich-symbolhaften Bildern mit genau ausdeutender Sensibilität aus einer souveränen Kenntnis des Werks. Frank Fellmanns Bilder helfen ihr dabei ungemein. Nächtliche Bläue, schlierende Projektionen von Wasser, in dem Schlangen – zwiespältige Tiersymbole der Weisheit wie der Bedrohung – treiben, der Rahmen einer hohen Tür als Zugang, Ausgang, Bildausschnitt: Die Bühne greift tief in das Repertoire des Symbolischen, bleibt aber nicht in der Reproduktion bekannter Chiffren und Bilder stecken, sondern entwickelt eine unangestrengte Kreativität.

Ambivalente Faszination der Nacht: Lina Liu (Lianora) und Ferdinand von Bothmer (Der namenlose Sänger) im zweiten Akt der Oper. Foto: Jörg Landsberg

Ambivalente Faszination der Nacht: Lina Liu (Lianora) und Ferdinand von Bothmer (Der namenlose Sänger) im zweiten Akt der Oper. (Foto: Jörg Landsberg)

Auch im dritten Akt greifen beziehungsreiche Personenregie und bildnerische Symbolik aussagestark ineinander. Jetzt beherrscht ein riesiges Brautkleid den Bühnenraum, das nach der Katastrophe zerbricht und den Zugang zum Kloster öffnet: Diesmal ist der Eintritt für die gescheiterte Prinzessin frei, die Äbtissin auf menschliches Maß geschrumpft. Lianora bekommt den grauen Schleier – auch sie wird wie die mahnende Überfrau versteinern.

Mascha Pörzgens Regie – ein echter Wurf – kommt dem Stück so nahe, weil sie darauf verzichtet, Eindeutigkeit herstellen zu wollen. Sie bewahrt dem Stück seine Offenheit und trifft damit auch die romantische Seite: Denn das Transzendieren der Alltagswelt, für die der Chor mit seinen Bonbonrosa-Schattierungen bei den Damen und knallbunten Hosen bei den Herren steht, ist Chance und Gefahr zugleich: Hinter der Welt der Dinge lockt die Erfüllung, lauert aber auch das Dämonisch-Verderbliche.

Die Osnabrücker Inszenierung lässt die Wege offen, stellt Hans Gáls Oper in einen Zusammenhang mit Werken wie Claude Debussys „Pelléas et Mélisande“, aber auch „Der ferne Klang“ Franz Schrekers, Pietro Mascagnis „Iris“, vielleicht auch Eugen d’Alberts „Die toten Augen“. So erweist sich „Das Lied der Nacht“ als ein Beispiel symbolistischer Spätromantik, die heute eine frische Faszination gewonnen hat.

Moderne Klarheit und sensible Klangfacetten

Für die Musik gilt das umso mehr: Hans Gál ist einer der Verfemten aus der Nazizeit, der nach 1945 im Überschwang und der nachfolgenden dogmatischen Verfestigung der „Neuen Musik“ nachhaltig vergessen wurde. Die Entdeckungswelle der letzten beiden Jahrzehnte hat sein Werk nicht freigelegt, obwohl es mittlerweile eine ganze Anzahl von Aufnahmen seiner Sinfonik, Kammer- und Konzertmusik gibt.

Die "steinerne Äbtissin" (Gritt Gnauck) weist die Prinzessin (Lina Liu) ab. Foto: Jörg Landsberg

Die „steinerne Äbtissin“ (Gritt Gnauck) weist die Prinzessin (Lina Liu) ab. (Foto: Jörg Landsberg)

Wie uneingeschränkt die Musik sich für eine Wiederaufführung empfiehlt, machen GMD Andreas Hotz und das hervorragend disponierte Osnabrücker Symphonieorchester deutlich. Gál verbindet moderne Klarheit und Strenge der Form, die vielleicht an Paul Hindemith erinnert, mit einer sensiblen Auffächerung klanglicher Möglichkeiten. Doch Gál ist nie klangverliebt, verbietet es sich, Farben aus Lust zu schichten und zu mischen. Sicher verleugnet er in der Magie des Orchesterklangs das Erbe Wagners nicht; sicher blitzt in der sprühenden Instrumentation der Funke Richard Strauss` aus der Partitur. Aber Gál wirkt nie epigonisch, bleibt auf seine Art unvergleichlich. Hotz realisiert diese musikalische Sprache mit unendlichem dynamischem Feingefühl, mit Gespür für feine Lasuren und mit einer vom Orchester umgesetzten, staunenswerten Präzision.

Das Theater Osnabrück hat in den letzten Jahren eine Reihe beachtlicher Ausgrabungen gezeigt, von Antonin Dvoraks "Vanda" bis Manfred Gurlitts "Die Soldaten". Foto: Werner Häußner

Das Theater Osnabrück hat in den letzten Jahren eine Reihe beachtlicher Ausgrabungen gezeigt, von Antonin Dvoraks „Vanda“ bis Manfred Gurlitts „Die Soldaten“. (Foto: Werner Häußner)

Auch das Osnabrücker Gesangsensemble gibt sich nicht nur darstellerisch den Herausforderungen des unbekannten Werkes hin: Lina Liu stellt sich bewundernswert ihrer fordernden Rolle als Lianora. Sie muss permanente Präsenz auf der Bühne zeigen, die Facetten des Charakters zwischen verwöhntem Kind und verunsicherter Frau, zwischen Angst und Neugier, Trotz und Erschütterung auch im Singen entwickeln. Das schafft sie mit Charme und Tiefe.

Gritt Gnauck trifft als Äbtissin mit ausgeglichener Sonorität die dunklen Regionen des Alt und die flammende Höhe des Mezzo – eine innere Stimme eher als eine Erscheinung der Außenwelt, die der kindlichen Lianora als ambivalente Autorität begegnet.

Ferdinand von Bothmer verbindet als namenloser Sänger und als Bootsmann Ciullo die inneren und die äußere Sphäre, singt mit sattelfestem Tenor die strömenden Legati der nächtlichen Bezauberungen. Rhys Jenkins betont mit der Stimme, was in seinem bewusst affektiertem Kostüm szenisch schon angelegt ist: Er gehört als berechnender, seine Forderungen mit Gewalt eintreibender Freier Tancred ganz in die Welt der politischen Realitäten, denen Lianora zu entkommen sucht.

José Gallisa demonstriert vibratosatt und dunkel, wie hilflos der Kanzler und Reichsverweser der komplexen Psyche der Prinzessin begegnet; auch Susann Vent-Wunderlich als Hämone, eine Dame des Gefolges, setzt eher auf pragmatische Lösungen: Die Härte ihrer Stimme entspricht dem Charakter; am Ende ist die Kluft zwischen den beiden Frauen offenbar.

Nicht nur der von Markus Lafleur einstudierte Chor, auch die Technik mit Bühnenmeister Dettmar Jankowski und Beleuchtungsmeister Uwe Tepe tragen maßgeblich zu diesem herausragenden Opernabend bei. Früher standen nach einer solchen Aufführung die Intendanten Schlange, um den Erfolg auch an ihr Haus zu holen – heute ist leider eher davon auszugehen, dass eine einmal gemachte Entdeckung fürs Nachspielen uninteressant geworden ist. Schade um Hans Gáls faszinierendes Werk, aber man soll die Hoffnung ja nie aufgeben.

Vorstellungen am 10., 12., 14., 23. und 25. Mai. Karten: Tel. (0541) 76 000 76
Info: http://www.theater-osnabrueck.de/spielplan/spielplandetail.html?stid=174




Philosophische Komödie: Richard Strauss‘ „Der Rosenkavalier“ in Krefeld

Ohne Rücksicht: Baron Ochs auf Lerchenau (Matthias Wippich) hat es auf das "Zoferl" der Marschallin abgesehen (Eva Maria Günschmann, Lydia Easley). Foto: Matthias Stutte

Ohne Rücksicht: Baron Ochs auf Lerchenau (Matthias Wippich) hat es auf das „Zoferl“ der Marschallin abgesehen (Eva Maria Günschmann, Lydia Easley). Foto: Matthias Stutte

An „Rosenkavalieren“ ist in diesem Strauss-Jahr 2014 wahrlich kein Mangel. Die jüngste Premiere ist nun aus Krefeld zu vermelden.

Düsseldorf hatte seine traditionelle Otto-Schenk-Inszenierung im Frühjahr wieder ausgegraben, Gelsenkirchen die 150-Jahrfeier der Geburt Richard Strauss‘ gar schon im Oktober vor einem Jahr begonnen (und jetzt mit der „Frau ohne Schatten“ erfolgreich fortgesetzt). In Dortmund wird die silberne Rose in der Regie des Hausherrn Jens Daniel Herzog ab 25. Januar 2015 überreicht. Und in Kassel, Frankfurt oder Weimar machen sich in den nächsten Monaten prominente Regisseure wie Lorenzo Fioroni, Claus Guth und Vera Nemirova an das oft als konservative Kehre im Wirken Strauss‘ verdächtigte Werk.

Aber das Bild einer vergangenen Zeit, mit „Fleiß und Mühe“ entworfen, hat schon der Librettist Hugo von Hoffmannsthal als Täuschung bezeichnet. Und das gilt auch für die Musik. So wienerisch nett sich die Walzertakte durch die Partitur wiegen: Sie sind doch eher Boten der grellen „Tanzmusi“ eines Gustav Mahler oder der verzerrten Dreiertaktgespenster eines Alban Berg als gemütvoller Rückblich auf Johann Strauß oder Joseph Lanner. Mihkel Kütson beharrt mit den Niederrheinischen Sinfonikern auf dieser sperrigen Lesart. Die Walzerseligkeit schwingt aufgeraut. Kein nostalgischer Goldblick, eher die innere Unruhe einer ins Gären geratenen Zeit.

1911 war ja noch alles „in Ordnung“. Und Strauss, mit der politischen Blindheit des karrierebesessenen Großbürgers geschlagen, ist sicher nicht der Mann, den man zum ausschlagenden Seismographen künftiger Verwerfungen adeln sollte: Er hat weder die Zeitwende 1914/18 erkannt noch bemerkt, wie sich mit dem verachteten und dennoch hofierten braunen Pack die finale Exekution ungebrochenen bürgerlichen Selbstverständnisses anbahnte. Aber bei Hoffmannsthal, da schwingt doch etwas mehr mit als die versonnene Philosophie der Zeit, die der alternder Marschallin so balsamisch von den Lippen fließt.

Die Zeit, das seltsame Ding: Szene aus dem ersten Aufzug der "Rosenkavalier"-Inszenierung von Mascha Pörzgen in Krefeld. Foto: Matthias Stutte

Die Zeit, das seltsame Ding: Szene aus dem ersten Aufzug der „Rosenkavalier“-Inszenierung von Mascha Pörzgen in Krefeld. Foto: Matthias Stutte

Regisseurin Mascha Pörzgen und ihr Bühnenkünstler Frank Fellmann kaprizieren sich nicht auf das Balancieren einer vermeintlich heilen Welt am Rande des Abgrunds. Sie sehen im „Rosenkavalier“ auch die Komödie, selbst wenn sich noch vor Beginn der Handlung ein riesiger Schatten über das halbdunkle Boudoir der Marschallin legt und ein Scheinwerfer nach einer der Uhren auf dem Wandsims fingert. Bestimmendes Element ist eine Kunstuhr, auf der ein Alter eine Stunde markiert, die mit dem zweiten Zeiger, einer güldenen Sonne, nicht vereinbar ist. Auf die Zeit verweist auch ein astronomischer Globus neben dem Bett der Marschallin, der Armillarsphäre Galileo Galileis ähnlich.

Standesdünkel, ins Räumliche gesteigert: Die Bühne von Frank Fellmann für den zweiten Aufzug des Krefelder "Rosenkavalier". Foto: Matthias Stutte

Standesdünkel, ins Räumliche gesteigert: Die Bühne von Frank Fellmann für den zweiten Aufzug des Krefelder „Rosenkavalier“. Foto: Matthias Stutte

Eine Idee von Prater und Jahrmarkt vermitteln die Kulissen im dritten Akt: Bewusst als solche eingesetzt, erinnern sie mit Wölkchen und Putten an die Dekors alter Karussells oder an die Wunderkabinette reisender Scharlatane.

Im zweiten Akt dagegen ist die Komödie von anderer Natur: Der Empfangssalon Faninals, tapeziert mit dem ins Riesige gesteigerten Adelsprädikat Kaiser Franz Josephs, steht für die begrenzte Weltsicht des neu gekürten Edlen. Fellmann bricht das enge Halbrund auf, wenn er für den Auftritt des Rosenkavaliers eine spiegelnd polierte Rampe in die aufklaffenden Wände einfahren lässt. Ein Steg in einen weiten Raum, der die Welt des biederen Faninal – in der Begegnung von Sophie und Octavian – endgültig transzendiert.

Mascha Pörzgen hat die komödiantischen Anteile zwar präsent gesetzt, aber nicht ausgebreitet; es ging ihr nicht um Ochsen-Klamauk und Beisl-Chaos. Gerade im dritten Akt zeigt sie das „Inszenierte“ an der Farce, die dem Baron auf Lerchenau vorgegaukelt wird. Da bemüht sich der junge Graf Rofrano überhaupt nicht, in die Rolle des „Mariandl“ zu schlüpfen, legt seine selbstbewusste Art des Verhaltens und Sprechens nicht ab. Schlechte „Comödi“ eben. Umso sensibler achtet Pörzgen aber auf die Wandlungen und die inneren Spannungen der Personen. Im ersten Akt etwa auf die emotionalen Wechselbäder des „Quin-quin“, zwischen pubertärer Schwärmerei und zu Tode betrübter Desillusionierung. Im dritten enthüllt Pörzgen, dass es dem jugendlichen Liebhaber der Marschallin nicht leicht fällt, auf die erfahrene, ältere Frau zu verzichten: Das Ringen um eine Entscheidung wird ihm nicht abgenommen.

Die Regisseurin hat ihre Arbeit aus den Figuren heraus entwickelt – eine heute nicht mehr selbstverständliche Kunst feiner Andeutungen, ein Verzicht auf allzu plakative Visualisierungen und allzu eindeutige Zuweisungen. So hat der Charakter der Marschallin etwas Schwebendes: Lydia Easley verkörpert eine Frau an einem Scheideweg ihrer Existenz, der sie bewegt, aber nicht haltlos macht. Easley hat im ersten Aufzug Mühe, mitzuhalten; vor allem, wenn sie der Dirigent mit Lautstärke bedrängt und sie einen nicht ausreichend gestützten, soubrettig grundierten Ton einsetzt. Aber mit ihrem Monolog und mit den Schlüsselstellen in den folgenden Akten gelingen Easley überzeugende Momente. Und als Gegenspielerin des Barons ist sie voll selbstbewusster Würde und Entschiedenheit.

Nahezu ideal: Eva Maria Günschmann (rechts) als Octavian, mit Linda Easley als Marschallin. Foto: Matthias Stutte

Nahezu ideal: Eva Maria Günschmann (rechts) als Octavian, mit Linda Easley als Marschallin. Foto: Matthias Stutte

Mit Eva Maria Günschmann hat Krefeld einen nahezu idealen Rosenkavalier; ein körperlich präsenter, gesanglich tadelloser Octavian, fähig zu nuancierter Charakterisierung, gesegnet mit einem exquisiten Timbre und einem leicht strömenden, unaffektierten Mezzo. Sophie Witte ist ihr eine ebenbürtige Partnerin mit ihrem leichten, klanglich erfreulich unverdünnten Sopran. Diese Sophie, das macht Witte mit leuchtender Stimme klar, hat einen unbeugsamen Charakter, mit dem sie dem Geschacher um Stand und Stolz aufrecht entgegentritt.

Für Matthias Wippich ist der Ochs eine Paraderolle. Nicht nur das künstliche Wiener Idiom beherrscht er vortrefflich; er kann auch mit der Tiefe spielen und im Zentrum die Farben seiner Stimme für geflissentlich annektierte Eleganz und sich entladende Grobheit einsetzen. Nur die Höhe dürfte weniger steif klingen, solider fundamentiert sein. Ganz und gar brünstiger Jupiter und von keinen Skrupeln geschlagen, stürzt er sich sogleich auf das „Zoferl“, lässt – auch ohne Rücksicht auf die Marschallin – nicht locker. Und im dritten Akt – hervorzuheben die bildkräftige, gekonnte Deklamation Wippichs – will er bis zum Schluss partout nicht verstehen, was er denn nun falsch gemacht haben könnte: Des Lerchenaus Charakter hat etwas selbstgefällig Brutales, das fürchten macht.

Krefeld muss sich auch in der Besetzung der weniger umfangreichen Partien nicht verstecken, bis hinein in die stumme Rolle des illegitimen Ochsen-Sohns Leopold (Ruben Knors). Markus Heinrich und Satik Tumyan sind ein zwischen Matrone und Mafia angesiedeltes „wälsches“ Gaunerpaar; Hayk Dèinyan ein anständiger Kommissarius, Sun-Myung Kim und James Park zwei geschäftige Haushofmeister. Debra Hays wirkt als Leitmetzerin angemessen schrill; der Sänger Kairschan Scholdybajew, ein goldgesichtiger Automat, wird von seinem Flötisten (Alexander Betov) sorgfältig aufgezogen wie Offenbachs Olympie in „Hoffmanns Erzählungen“. Sein italienischer Schmelz vertrüge allerdings noch etwas Öl. Auch Hans Christoph Begemann könnte als Faninal noch ein paar Facetten mehr ausarbeiten.

GMD Mihkel Kütson meidet mit den Niederrheinischen Sinfonikern den üppigen Wohlklang mit der Folge, dass sich die raffinierten Strauss’schen Klangmischungen eher spröde als magisch einstellen. In den – zu lauten – Eröffnungstakten leisten sich die Bläser merkliche Unsauberkeiten, die sich im ersten Akt immer wieder in belegter oder spitzer Tongebung fortsetzen. Allmählich formt sich der Klang, klärt sich die Balance, ohne freilich zu jenen ausgesuchten Mischungen zu finden, die man, des kühlen Kopfes ungeachtet, in den Momenten verinnerlichter Lyrik doch zu finden wünscht.

Alles in allem ein höchst beachtlicher „Rosenkavalier“, der sich im Vergleich behaupten wird. Das Theater Krefeld-Mönchengladbach hat wieder einmal gezeigt, dass es seinen künstlerischen Anspruch auf solide gesichertem Niveau behaupten kann.

Weitere Informationen:

http://www.theater-kr-mg.de/spielplan/musiktheater/der-rosenkavalier.htm




„Merlin“ – Isaac Albéniz‘ wirrer Opernschinken in Gelsenkirchen

König Arthur (Lars-Oliver Rühl) hält das Schwert des Mächtigen. Foto:MiR/Beu

Endlich mal keine „Carmen“, „Traviata“ oder „Zauberflöte“ – allesamt Opernhits, die landauf, landab heruntergenudelt werden. Dafür bekommen wir „Merlin“. Das ist der Zauberer aus der Artus-Sage. Das ist hehrer Stoff, große Oper, ja großes Kino. Da hat sich schon Richard Wagner prächtig bedient, haben sich unzählige Literaten, später Filmemacher inspirieren lassen.

„Merlin“ also. Das Gelsenkirchener Musiktheater im Revier (MiR) lädt zur Deutschen Erstaufführung einer Oper, die indes schon über 100 Jahre alt ist. Sie stammt von dem Spanier Isaac Albéniz. Geschrieben auf das Libretto eines reichen Briten namens Francis Burdett Money Coutts. Ein exzentrischer Kauz und glühender Wagnerianer, der sich im wahnhaften Wetteifern mit dem Bayreuther Meister an einer Artus-Trilogie abarbeitete.

Albéniz wiederum, als meisterlicher Pianist in Europa eine Größe, als Komponist vor allem mit Klavierwerken glänzend, wollte in den 1890er Jahren die Oper für sich entdecken. Vielleicht war auch da ein wenig Geltungsbedürfnis im Spiel, der unbedingte Wille, als Spanier im Konzert des mitteleuropäischen Musikdramas mitzumischen. In London jedenfalls fanden Albéniz  und der „Literat“ zusammen. Leider: Denn dieser Begegnung bedurfte es in der Musikgeschichte nun wirklich nicht.

Das Ergebnis nämlich war „Merlin“: schrecklich unbeholfen im dramaturgischen Verlauf, unsäglich das Libretto, krude und wüst in der musikalischen Gestaltung. Albéniz serviert uns Wagner light in Verbindung mit übersteigertem Verismo. Eine Melange, die oft in pur Plakativem mündet. Offenbar hatte der Komponist wenig Gespür dafür, die Szenerie klanglich differenziert zu zeichnen. „Merlin“ ist ein wirrer „Schinken“, der an Richard Strauss’ wenig später erschienene „Salome“ nicht mal kratzen kann.

Trotz allem hat sich das MiR an die Ausgrabung gewagt, acht Jahre nach der Uraufführung in Madrid. Hat das Werk mutig eingekürzt auf drei konzentriert gefasste Akte. Und hat sich an diesem „Schatz“ gehörig verhoben. Regisseur Roland Schwab präsentiert Archetypen, keine Charaktere. Ausstatter Frank Fellmann zeigt im wabernden Nebel oder mystischen Blau eine Straße ins Nirgendwo, einen gestrandeten Wagen. Merke: Die Sehnsucht nach dem Sagenhaften ist auch der Moderne nicht fremd.

Blonder Racheengel: Nivian (Petra Schmidt) tötet Merlin (Björn Waag). Foto: MiR/Beu

Die Ritter kommen hingegen ritterlich daher (Kostüme: Renée Listerdal), wenn Artus, wie ein tumber Siegfried, das Schwert aus dem Stein zieht und König wird. Nach dem Krieg mit den Anhängern der grundbösen, verräterischen Morgan sehen wir aufgespießte Köpfe. Im Schlussakt plötzlich Merlins Ende, blutig gerichtet von seiner Sklavin Nivian.

Wahn, überall Wahn. Die Regie hat den Figuren vor allem aufgesetzte, exaltierte Posen verordnet. Bjørn Waag (Merlin), Lars-Oliver Rühl (Arthur) und Majken Bjerno (Morgan) singen überwiegend am oberen Ende der Ausdrucksskala, was den Stimmen nicht bekommt.  Einzig Petra Schmidt (Nivian) verströmt bisweilen lyrische Wärme in differenzierter Dynamik. Dirigent Heiko Mathias Förster wiederum führt Chor und Neue Philharmonie Westfalen einigermaßen unfallfrei durch die wüste Partitur.

Am Ende haben wir gegen zehn Uhr die Oper verlassen und wähnen uns um die Mitternacht. Wir hören „Iberia“ – wunderbarer Albéniz.